(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10527
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.06.2015
Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.06.2015
Barthel, Klaus SPD 11.06.2015
Behrens (Börde),
Manfred
CDU/CSU 11.06.2015
Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.06.2015
Ferner, Elke SPD 11.06.2015
Freese, Ulrich SPD 11.06.2015
Hartmann
(Wackernheim),
Michael
SPD 11.06.2015
Ilgen, Matthias SPD 11.06.2015
Karawanskij, Susanna DIE LINKE 11.06.2015
Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 11.06.2015
Nietan, Dietmar SPD 11.06.2015
Post (Minden), Achim SPD 11.06.2015
Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.06.2015
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Rudolf Henke (CDU/CSU)
zu der Abstimmung über den von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Stärkung der Versorgung in der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Ver-
sorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) (Tages-
ordnungspunkt 6 a)
Der Deutsche Bundestag stimmt heute mit voraus-
sichtlich großer Mehrheit der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung zum GKV-Versorgungsstärkungsge-
setz zu. Dies schließt 56 Änderungsanträge ein, die
Union und SPD gestern im federführenden Ausschuss
für Gesundheit beschlossen haben. Damit hat der Aus-
schuss zahlreiche Konsequenzen aus der öffentlichen
Diskussion und den parlamentarischen Beratungen des
Gesetzes gezogen, einschließlich der öffentlichen
Ausschussanhörung. Es liegt in der Natur der Sache,
dass in einem solchen Konvolut nicht alle Aspekte jeden
in gleicher Weise entzücken können. In den bisherigen
Erörterungen des Gesetzes habe ich öffentlich wie nicht-
öffentlich einer Reihe von Punkten aus dem ursprüngli-
chen Entwurf widersprochen.
Zum Teil hat es in diesen Punkten Änderungen des
Entwurfes gegeben, die ich für Verbesserungen halte,
zum Teil ist es zu keinen Änderungen gekommen, und es
gibt auch einzelne Änderungen, die ich für nachteilig
halte. Insgesamt verbessern die beschlossenen Ände-
rungsanträge den Gesetzentwurf beträchtlich. Mit ein-
zelnen Änderungswünschen bin ich in den bisherigen
Beratungen durchgedrungen, mit anderen nicht.
In den heutigen Abstimmungen zum Versorgungsstär-
kungsgesetz stimme ich in dem Sinne ab, wie es die
Arbeitsgruppe Gesundheit meiner Fraktion beschlossen
hat und wie es in der Fraktion verabredet ist.
Dennoch möchte ich von der nach der Geschäftsord-
nung des Deutschen Bundestages gegebenen Möglich-
keit Gebrauch machen, zu einzelnen Punkten in der
Sache Stellung zu nehmen.
Das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten wird
über die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
hinaus auch für stationäre Vorsorgeleistungen und Leis-
tungen zur medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter
gestärkt. Zudem wird die Verhütung von Zahnerkran-
kungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behin-
derungen verbessert. Beides sind gute Entscheidungen
für die Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung.
Das Verfahren zur Erstattung von Fahrtkosten und die
Entgeltfortzahlung für Spender von Organen, Geweben
und Blutstammzellen oder anderen Blutbestandteilen
wird vereinfacht. Das ist gut für die Spendebereitschaft.
Viele offene Fragen des Verfahrens zur Erbringung
von Zweitmeinungen werden durch den entsprechenden
Änderungsantrag geklärt, sonst notwendige langwierige
Beratungen können dadurch abgekürzt werden. Sonst
nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende
besonders erfahrene Ärzte können an der Erbringung
von Zweitmeinungen teilnehmen.
Das als hochkomplex und bürokratisch geltende
Verfahren der Heilmittelversorgung von Versicherten
mit langfristigem Behandlungsbedarf soll durch eine
entsprechende Fristsetzung für den GBA bis zum
30. Juni 2016 vereinfacht werden.
Über die Umsetzung des neu geschaffenen Anspruchs
der Versicherten auf individuelle Beratung und Hilfestel-
lung durch die Krankenkassen zur Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit muss das Bundesministerium für Ge-
Anlagen
10528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
sundheit dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezem-
ber 2018 einen Bericht erstatten. Dann kann auch ge-
prüft werden, ob und wie sich dieser Anspruch auf das
Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten aus-
wirkt.
Probleme, die sich in der Praxis vor allem nach
Wochenenden bei der verspäteten Ausstellung von Ar-
beitsunfähigkeits-Folgebescheinigungen gezeigt haben,
werden gelöst.
Im Fall der umstrittenen Terminservicestellen, deren
zu erwartende Wirkungen ich für sehr bescheiden und
damit stark bürokratieverdächtig halte, findet – erstmals
zum 30. Juni 2017 – eine jährliche Evaluation durch die
Kassenärztliche Bundesvereinigung statt. Das sollte die
künftige Debatte in diesem derzeit stark emotional bela-
denen Punkt in Zukunft versachlichen.
Ich bin sehr froh über die Klarstellung, dass in ambu-
lanter Weiterbildung befindliche Ärztinnen und Ärzte
zukünftig eine dem Tarifgehalt in Krankenhäusern
entsprechende Vergütung erhalten sollen. Nach dem
Gesetzentwurf sollen ambulante Weiterbildungsstellen
verpflichtet werden, den von der Kassenärztlichen Verei-
nigung und den Krankenkassen zur Verfügung gestellten
Förderbetrag auf die im Krankenhaus gezahlte Vergü-
tung anzuheben und an die in Weiterbildung befindli-
chen Ärztinnen und Ärzte auszuzahlen. Das ist klug. Es
muss unbedingt verhindert werden, dass sich Fälle
wiederholen, in denen Weiterbildungsstellen diese För-
dergelder nicht im vollen Umfang an die angestellten
Ärzte ausgezahlt haben. Die gesetzliche Klarstellung ist
notwendig, um diese rechtswidrige Praxis endlich ver-
lässlicher zu unterbinden. Anders als im Krankenhaus
erzielt die Arbeitsleistung der in Weiterbildung befindli-
chen Ärzte in vertragsärztlichen Praxen bisher vielfach
keinen zusätzlichen Erlös. Es ist gut, die Fördergelder
extrabudgetär zur Verfügung zu stellen und die Mittel
nach Tariferhöhungen im Krankenhaus zu dynamisieren.
Besonders hervorzuheben sei die vorgesehene Regelung
in der ÄrzteZulassungsverordnung, die Weiterbildungs-
bereitschaft dadurch zu fördern, dass den Weiterbildern
die Ausweitung des bisherigen Praxisumfangs erlaubt
werde. Je nach Ausgestaltung kann dies die Anreize zur
ambulanten Weiterbildung deutlich erhöhen. Die Verant-
wortung dafür tragen künftig die Kassenärztlichen Verei-
nigungen. Ich hoffe sehr, dass es in diesem Bereich künf-
tig zu direkten Tarifverträgen kommt.
Weiterbildung ist ärztliche Berufsausübung und ent-
sprechend als Arbeitsleistung zu vergüten. Dieser
Grundsatz darf nicht durch falsche Etikettierungen in-
frage gestellt werden. Deshalb sind einige begriffliche
Klarstellungen im Gesetz sehr zu begrüßen. Approbierte
Ärztinnen und Ärzte sind keine Auszubildenden oder
Stipendiaten, sondern gleichberechtigte Kolleginnen und
Kollegen. Versuche, junge Ärzte nach holländischem
Vorbild zu „Arztassistenten“ umzudefinieren, sind ab-
zuzlehnen.
Ich freue mich, dass die Änderungsanträge von Union
und SPD zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz keine
Verpflichtung enthalten, Mittel aus der Förderung der
Weiterbildung in der Allgemeinmedizin zu universitär
angebundenen Kompetenzzentren umzuschichten.
Durch entsprechende Pläne der Umschichtung wären
Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe für 375 Stel-
len in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung ge-
fährdet. Leider ist diese Gefahr noch nicht ganz vom
Tisch; die endgültige Entscheidung liegt in Zukunft bei
dem GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bun-
desvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesell-
schaft.
Nach der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie des G-BA
in der Neufassung vom 22. Januar 2015 ist Kranken-
hausbehandlung notwendig, wenn die Weiterbehandlung
mit den Mitteln des Krankenhauses aus medizinischen
Gründen erfolgen muss. Hier heißt es unter anderem:
„Die Verordnung stationärer Krankenhausbehandlung
kommt allein aus medizinischen Gründen in Betracht.
Alle Beteiligten sollten mitwirken, Belegungen der
Krankenhäuser mit Patientinnen und Patienten zu ver-
meiden, die der Behandlung mit den Mitteln des Kran-
kenhauses nicht bedürfen.“ Die Regelung folgt dem
Grundsatz „ambulant vor stationär“ und setzt darüber
hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V um,
nach dem Leistungen, die nicht notwendig oder unwirt-
schaftlich sind, von den Leistungserbringern nicht be-
wirkt werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich
die Frage, welche Kompetenzen erforderlich sind, um
die Notwendigkeit einer medizinischen Weiterbehand-
lung zu beurteilen. Nach der Krankenhauseinweisungs-
Richtlinie wird den Ärzten die Pflicht auferlegt, vor der
Verordnung einer stationären Krankenhausbehandlung
zunächst abzuwägen, ob die Behandlung unter Einbin-
dung anderer ambulanter Leistungserbringer fortgesetzt
werden kann.
Bei konsequenter Anwendung hätte ein psychologi-
scher Psychotherapeut nicht die Möglichkeit, ohne die
Expertise eines somatisch-psychotherapeutisch tätigen
Arztes zu entscheiden, ob eine medizinische Weiter-
behandlung mit den Mitteln des Krankenhauses indiziert
ist. Diese Möglichkeit hat nur der ärztliche Psychothera-
peut. Darüber hinaus halten Krankenhäuser nahezu
keine Einrichtungen vor, die eine stationäre Weiter-
behandlung des therapeutischen Spektrums der psycho-
logischen Psychotherapeuten vorsehen.
Denkbar wäre die Einweisung in eine psychiatrische
oder auch eine psychosomatische Einrichtung. Ob die je-
weilige Behandlung nur mit den Mitteln des Kranken-
hauses medizinisch möglich ist, kann wiederum nur ein
entsprechend aus- und weitergebildeter Arzt entschei-
den, das heißt, wiederum ist die Expertise etwa eines
Psychiaters oder eines Psychosomatikers erforderlich,
bzw. die ärztliche Einschätzung, ob der Patient durch
diese Fachärzte ambulant weiter versorgt werden kann.
Insbesondere muss die Möglichkeit einer begleiten-
den Pharmakotherapie geprüft werden, bevor der Patient
in die stationäre Behandlung gelangt. Vor diesem Hinter-
grund ist die im Gesetz jetzt enthaltene Neureglung der
Einweisungsbefugnisse für psychologische Psychothera-
peuten in der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie nur
mit einer groben Verletzung von Regeln der Wirtschaft-
lichkeit möglich.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10529
(A) (C)
(D)(B)
Darüber hinaus werden die Patienteninteressen nicht
geschützt, wenn die Möglichkeiten der ambulanten
medizinischen Weiterbehandlung unter Auslassung so-
matischer bzw. pharmakotherapeutischer Expertise ge-
prüft werden. Mit meinem Werben für eine andere Ent-
scheidung bin ich in den Beratungen leider unterlegen.
Für gelungen halte ich dagegen die Änderungen zu
den Antragsberechtigungen für den Innovationsfonds.
Der Kreis der möglichen Antragsteller ist somit nicht
mehr begrenzt.
Die Regelungen zu Zulassungsbeschränkungen und
dem Aufkauf von Arztsitzen sind durch die beschlosse-
nen Änderungsanträge erheblich abgemildert, wenn
auch die Grundlage für die Grenze bei 140 Prozent
ebenso zu hinterfragen ist wie die bei 110 Prozent oder
jede andere. In der Sache führt es vor allem weiter, eine
grundlegende Überarbeitung der Bedarfsplanung in An-
griff zu nehmen.
Gegenüber dem Ursprungsentwurf ist die Rolle der
Hochschulambulanzen für Forschung und Lehre in der
Ausschussfassung des Gesetzes wesentlich verbessert.
Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, die ins Auge
gefasste Wählbarkeitsvoraussetzung für die Vertreter der
Ärzte im beratenden Fachausschuss für Psychotherapie,
überwiegend psychotherapeutisch tätig sein zu müssen,
ersatzlos entfallen zu lassen. Damit wird die Rolle der
Ärztinnen und Ärzte, die eine ganzheitliche Patienten-
versorgung unter Einschluss somatischer wie psychothe-
rapeutischer Aspekte anstreben und verwirklichen, ge-
stärkt. Es gehört zu den Errungenschaften moderner
Medizin, die Abgrenzung in der Betrachtung von kör-
perlicher, seelischer und geistiger Gesundheit zu über-
winden.
Für eine Verbesserung des Ursprungsentwurfes halte
ich ebenfalls, dass es möglich wird, künftig bis zu 1 000
Stellen in der Weiterbildung für in der ambulanten
Grundversorgung tätige Facharztdisziplinen finanziell
zu fördern.
Zu den besonders gelungenen Verbesserungen bereits
im Ursprungsentwurf zähle ich die mit § 119 c SGB V
erfolgende Einführung von Medizinischen Zentren für
Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren
Mehrfachbehinderungen. Mehrere Deutsche Ärztetage
haben die Etablierung dieser Versorgungsform im An-
schluss an die Versorgung in sozialpädiatrischen Zentren
verlangt. Dies ist ein wichtiger Schritt zu einer verbes-
serten und nachhaltigen ärztlich geleiteten Versorgung
von Menschen mit den genannten Einschränkungen. Ich
danke unter anderem Professor Seidel aus Bielefeld und
Helmut Peters aus Mainz für ihr nimmermüdes beharrli-
ches Drängen in dieser Frage.
Mit den aufgeführten Beispielen möchte ich den Weg,
den das Gesetz in den Beratungen genommen hat, etwas
deutlicher werden lassen und meine Einschätzung unter-
streichen, dass es Licht wie Schatten enthält. Im Diskurs
über das Gesetz ist vor allem die Schattenseite betont
worden. Ich hoffe darauf, dass nun vor allem die Licht-
seite wirkt.
Wie bereits ausgeführt, stimme ich in den Abstim-
mungen gemeinsam mit meiner Fraktion und damit der
Ausschussfassung des Gesetzes zu.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Rechtliche Klarstel-
lung der Vertraulichkeit von Äußerungen im
Internet (Tagesordnungspunkt 15)
Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute den
Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema „Rechtliche
Klarstellung der Vertraulichkeit von Äußerungen im
Internet“.
Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung auf-
gefordert werden, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
sicherstellt, dass Äußerungen, die sich im Internet an
einen eingeschränkten Personenkreis richten, als ver-
traulich gelten und somit keine arbeitsrechtlichen Maß-
nahmen nach sich ziehen dürfen. Hiermit sind insbeson-
dere Äußerungen gemeint, die als Schmähkritik und
Formalbeleidigungen zu bezeichnen sind und über Inter-
netplattformen wie zum Beispiel Facebook kommuni-
ziert werden.
Die Fraktion Die Linke beanstandet insbesondere,
dass es zur Definition der Vertraulichkeit in derartigen
Fällen keine einheitliche Auffassung in der Rechtspre-
chung gebe. Sie macht dies an einer Gerichtsentschei-
dung des LAG Hamm vom 10. Oktober 2012 und an
einer Entscheidung des VGH München vom 29. Februar
2012 fest. Beide Entscheidungen widersprächen sich in
dem Umgang mit dem Begriff der „Vertraulichkeit“, so-
dass eine klarstellende gesetzliche Definition erforder-
lich sei.
Schaut man sich jedoch beide Entscheidungen einmal
genau an, so stellt man keinen Widerspruch fest. Der
Unterschied beider Entscheidungen liegt darin, dass die
eine Entscheidung (LAG Hamm) zuungunsten des
Arbeitnehmers und die andere Entscheidung (VGH
München) zugunsten des Arbeitnehmers ausging. Der
Unterschied liegt allerdings auch darin, dass beiden Ent-
scheidungen unterschiedliche Sachverhalte zugrunde
lagen.
In beiden Fällen handelte es sich bei den Äußerungen
des Arbeitnehmers bzw. Auszubildenden um Schmäh-
kritik.
Bezogen auf die Entscheidung des LAG Hamm han-
delte es sich jedoch nicht um „einen bestimmten Freun-
deskreis“ an den das „Posting“ gerichtet war. Hier ist die
von der Fraktion Die Linke vorgenommene Darstellung
des Sachverhalts, der der Entscheidung des LAG Hamm
zugrunde lag, schlichtweg falsch. Es handelte sich bei
dem Eintrag auf der Plattform Facebook um einen Pro-
file-Eintrag, der allgemein zugänglich war und somit
von jedem Nutzer des Internets eingesehen werden
konnte. Auch wenn die Fraktion Die Linke hier vorge-
ben möchte, dass es sich in diesem Fall um einen ver-
10530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
traulichen Facebook-Eintrag handelte, so war dies offen-
sichtlich nicht der Fall.
Die Entscheidung des VGH München wird von der
Fraktion Die Linke auch nicht richtig wiedergegeben.
Das VGH München hat nicht gesagt, dass damit gerech-
net werden darf, dass eine Äußerung über einen Face-
book-Account als vertraulich angesehen werden könne.
Vielmehr hat das VGH München gesagt, dass man nicht
ohne jede Grundlage und insbesondere nicht ohne eine
sachverständige Klärung entscheiden könne, ob es sich
bei einer Äußerung um eine öffentliche oder vertrauliche
Äußerung handelt. Warum hat das Gericht dies so for-
muliert? Weil es sich hier um einen Prozesskostenhil-
feantrag handelte und es hierbei zunächst nur zu einer
summarischen Prüfung des Sachverhalts kommen kann.
Die eigentliche Überprüfung obliegt in derartigen Fällen
dem Hauptsacheverfahren. Damit sagt das Gericht, dass
die Beantwortung der Frage nach der Vertraulichkeit
derartiger Äußerungen immer eine Frage des Einzelfalls
ist. Hier hat das Gericht sämtliche Umstände des jeweili-
gen Falles zu berücksichtigen.
Starre gesetzliche Regelungen werden hier also nicht
weiterhelfen. Damit können beide Entscheidungen nicht
dazu herangezogen werden, eine unzureichende Rechts-
lage zu begründen. Beide Urteile widersprechen sich
nicht.
Darüber hinaus verweist die Fraktion Die Linke in ih-
rem Antrag auf Verhandlungen auf europäischer Ebene
zur sogenannten EU-Datenschutz-Grundverordnung. Sie
soll nach Angaben der Fraktion Die Linke zur gestellten
Frage weitere Hinweise geben. Es bietet sich in meinen
Augen an, diese Verhandlungen zunächst einmal abzu-
warten und dann zu sehen, welche Anhaltspunkte sich
daraus für die hier geführte Diskussion ergeben. Dieses
Verfahren ist schon fortgeschritten und soll nach den mir
derzeit bekannten Angaben bis Ende des Jahres 2015/
Anfang 2016 abgeschlossen sein.
Da die Rechtsprechung nicht derart widersprüchlich
ist, wie es von der antragstellenden Fraktion behauptet
wird, besteht derzeit auch kein dringender gesetzgeberi-
scher Handlungsbedarf, sodass der hier vorliegende
Antrag abzulehnen ist. Es bleibt zunächst das Verfahren
auf europäischer Ebene abzuwarten.
Tobias Zech (CDU/CSU): Dieser doch erstaunlich
kurze Antrag meiner Kollegen der Linken hat in vier
Zeilen zwei entscheidende Komponenten: zum einen
eine inhaltliche, zum anderen eine zeitliche.
Zunächst die positive Nachricht: Inhaltlich sind wir
gar nicht so weit auseinander. Inhaltlich stimme ich mit
Ihnen sogar in einigen Punkten überein. Zeitlich ist er
nur leider vollkommen unpassend.
Aber zunächst zum Inhaltlichen:
Die zurzeit noch bestehende Datenschutzrichtlinie der
EU (Rili 95/46/EG) ist von 1995. Da kann von digitalen
Medien, geschweige denn Facebook oder Twitter noch
gar nicht die Rede gewesen sein. Daher ist es natürlich
wichtig, dass wir diese Richtlinie erneuern. Sie muss
dem Zeitalter der Digitalisierung dringend angepasst
werden.
Und natürlich ist es – wie auch Sie es fordern, meine
Damen und Herren – unsere Aufgabe, den Gerichten mit
Gesetzen das richtige Werkzeug an die Hand zu legen.
Sie brauchen Gesetze, die sie zur Grundlage ihrer Urteile
machen können. Und das haben wir bisher noch nicht
getan. Ich betone: bisher.
Denn nun steht die Datenschutzgrundverordnung der
EU in den letzten Zügen. Und damit komme ich zur zeit-
lichen Komponente.
Wir sind auf dem besten Weg, in Europa ein einheitli-
ches Datenschutzrecht zu schaffen und damit auch den
Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechtssicherheit zu
gewährleisten.
Mit der Datenschutzgrundverordnung und der Daten-
schutzrichtlinie bringen wir ein umfassendes Paket auf
den Weg, das sich nur auf EU-Ebene lösen lässt. Auf der
Ratstagung der Justiz- und Innenminister am 15./16. Juni
2015 wird eine Einigung zum Datenschutzpaket ange-
strebt. Die Verhandlungen zwischen dem Europäischen
Parlament und dem Ministerrat unter Beteiligung der
EU-Kommission über eine endgültige Einigung sollen
noch in diesem Jahr zu Ende gebracht werden. So haben
wir es auch im Koalitionsvertrag beschlossen und wer-
den es auch umsetzen:
Wir wollen europaweit ein einheitliches Schutzniveau
beim Datenschutz garantieren und dabei die strengen
deutschen Standards bewahren.
Facebook, Microsoft, Twitter oder LinkedIn, sie alle
haben ihre europäischen Hauptquartiere in Irland aufge-
schlagen – und das nicht ohne Grund!
Mit der Datenschutzgrundverordnung wäre das
Schutzniveau auf einen Schlag überall gleich, das heißt,
die Software-Riesen könnten kein Cherry-Picking mehr
betreiben.
Natürlich sind diese unterschiedlichen Rechtslagen
nicht von heute auf morgen angeglichen; EU-weit gelten
extrem unterschiedliche Bedingungen.
Bezüglich der von Ihnen angesprochenen arbeits-
rechtlichen Maßnahmen bei vertraulichen Äußerungen
an einen eingeschränkten Personenkreis wird Artikel 82
der Datenschutz-Grundverordnung den Staaten die Mög-
lichkeiten geben, im Rahmen nationaler arbeitsrechtli-
cher Vorschriften entsprechend zu handeln.
Dann – und erst dann – werden wir uns mit den ent-
scheidenden Fragen beschäftigen: Was sind in der heuti-
gen digitalen Medienwelt öffentliche Meinungsäußerun-
gen? Was sind private Meinungsäußerungen? Wie
definiert sich ein geschützter Personenkreis? Ist dabei
derjenige überhaupt schützenswert, der seine Arbeit auf
Facebook als „dämliche Scheiße“ bezeichnet? Und sei-
nen Arbeitgeber als „Sklaventreiber“? Wie kann eine
Aussage über Facebook, die sich „nur“ an den Freundes-
kreis richtet, vertraulich sein? In diesem „Freundeskreis“
befinden sich gerne mal 3 000 sogenannte Freunde, bes-
tenfalls auch alle Kollegen. Das ist doch nicht vertrau-
lich.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10531
(A) (C)
(D)(B)
Facebook gibt es seit 2004, Twitter seit 2006. Dass es
zu dieser heutigen massenhaften Nutzung kommt bezie-
hungsweise für ein Beschäftigungsverhältnis relevant
sein kann, steckt noch in den Kinderschuhen.
Wir müssen daher einige bisher ausreichende Vor-
schriften vom Offline- in den Onlinemodus erweitern.
Aber das können wir nur gemeinsam mit der EU, da es
andernfalls viel zu viele Möglichkeiten gibt, nationale
Regelungen durch Verlegung von Firmensitzen etc. zu
umgehen. Diesbezüglich sind wir auf dem besten Wege.
Die CDU/CSU-Fraktion wird den Antrag der Linken
zum jetzigen Zeitpunkt daher ablehnen.
Markus Paschke (SPD): Das Problem mit dem
rechtlichen Umgang mit Äußerungen im Internet haben
Sie zutreffend benannt: Die unterschiedliche Rechtspre-
chung spricht für einen Regelungsbedarf.
Nehmen wir das Beispiel einer Auszubildenden, die
auf ihrer Facebook-Seite postete; „Ab zum Arzt und
dann Koffer packen“. Sie hatte sich krankschreiben las-
sen und reiste anschließend nach Mallorca. Sie postete
zudem Fotos ihrer Reise auf ihrer Facebook-Seite. Der
Arbeitgeber kündigte ihr. Das Arbeitsgericht Düsseldorf
hätte dem Arbeitgeber recht gegeben. Da beide Parteien
vorher jedoch zu einem Vergleich kamen, kam es nicht
mehr zu einem Urteil.
Anderes Beispiel, anderes Urteil:
Ein Mitarbeiter äußerte sich unter einem Alias-Na-
men in einem Internetforum über die schlechte medizi-
nisch-technische Ausstattung seines Arbeitsgebers. Ein
Kollege hatte daraufhin dem Arbeitgeber einen Tipp ge-
geben. Da der betreffende Mitarbeiter Betriebsratsmit-
glied war, hätte ihm nur außerordentlich und fristlos ge-
kündigt werden dürfen, was der Arbeitgeber auch tat.
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschied
jedoch, dass die Äußerung kein Grund für eine außeror-
dentliche Kündigung darstelle.
Allein diese zwei Beispiele zeigen die unterschiedli-
che Handhabung mit Äußerungen im Internet.
Ich bin aber auch der Meinung, dass es viel mehr zu
bedenken gibt, als das, was Sie in Ihrem Antrag formu-
liert haben. Es stellt sich doch vielmehr die grundsätzli-
che Frage: Welche Daten darf ein Arbeitgeber sammeln,
erstellen und verwenden? Und diese Frage betrifft nicht
nur mögliche Daten im Internet, sondern muss generell
geklärt werden.
Das Internet, soziale Netzwerke und neue Kommuni-
kationsformen bedeuten besondere Herausforderungen
für den Gesetzgeber. Und der gesetzliche Regelungsbe-
darf in diesen Bereichen geht weit über das hinaus, was
Ihr Antrag forderte.
Also ja: Da müssen wir ran. Aber ist jetzt der richtige
Zeitpunkt? Ich sage nein und möchte auch kurz erklären,
warum:
Derzeit – Sie wissen das – wird in Brüssel die Daten-
schutzgrundverordnung verhandelt. In diesem Zusam-
menhang brauchen wir eine Öffnungsklausel, die den
Mitgliedstaaten eigene, weiter gehende Regelungen im
Umgang mit Beschäftigtendaten ermöglicht.
Ich begrüße sehr, dass die Reform der EU-Daten-
schutzverordnung endlich vorankommt. Anfang nächs-
ter Woche sollen die Verhandlungen des Rates der EU
beendet werden. Daran anschließend kann dann endlich
der Trilog zwischen Kommission, EU-Parlament und
Rat aufgenommen werden.
Unsere vornehmliche Aufgabe sehe ich deshalb darin,
gemeinsam unsere Anstrengungen darauf zu verwenden,
auf EU-Ebene Handlungsspielräume zu schaffen und zu
sichern, Handlungsspielräume für einen besseren Daten-
schutz.
Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind nun
aufgefordert, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in
diesen Prozess einzubringen. Solange die Beratungen
noch in Gang sind, macht es für mich keinen Sinn, mög-
lichen Ergebnissen vorzugreifen. Erst wenn geklärt ist,
was für Rahmenbedingungen die EU-Datenschutzgrund-
verordnung ermöglicht, können wir uns an die Defini-
tion machen, was wann und wie vertraulich ist.
Denn ganz so einfach ist das ja auch nicht. Wenn ich
mich beispielsweise mit meinem Nachbarn über
schlechte Arbeitsbedingungen im Betrieb unterhalte, ist
das grundsätzlich vertraulich.
Aber ist es auch vertraulich, wenn ich das an meine
2 635 Facebook-Freunde poste? Was passiert denn,
wenn ich ein Häkchen falsch gesetzt habe und statt mei-
ner Familie die ganze Welt über meinen Stress auf der
Arbeit informiere? Was ist ein eingeschränkter Perso-
nenkreis? Nach meinem Verständnis beschreibt das so-
wohl zwei Chatteilnehmer, wie auch eine von mir ausge-
wählte Gruppe von 423 Personen.
Was für Äußerungen sollen vertraulich behandelt
werden können?
Unter „Äußerungen im Internet“ kann ich Chats ge-
nauso fassen wie auch Kommentare, neudeutsch „posts“
genannt. Ist es wirklich als vertraulich einzustufen, wenn
ich eine Bemerkung an einer virtuellen Pinnwand hinter-
lasse? Spielt es eine Rolle, ob jeder die Pinnwand einse-
hen kann, oder gilt es schon als geschlossene Gruppe,
wenn ich mich mit Namen und Kennwort anmelden
muss?
Genau betrachtet werden muss auch der Bereich „Äu-
ßerungen in sozialen Netzwerken bzw. Internetforen“.
Nicht alle sozialen Netzwerke sind gleich, schon gar
nicht in der Ausrichtung ihrer Mitglieder. Heute wurde
schon mehrfach Facebook genannt, aber was ist mit
Netzwerken, die auf berufliche Vernetzung angelegt
sind, wie zum Beispiel Xing oder LinkedIn? Kann und
muss hier der gleiche Vertrauensschutz gelten? Eine Äu-
ßerung dort hat eine ganz andere Reichweite, schon al-
lein wegen der Ausrichtung als geschäftliches Netzwerk.
Noch eine Überlegung dazu: Wie verhält es sich mit
noch spezifischeren Netzwerken wie dem IG-Metall-
Netzwerk ZOOM für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter?
Wäre hier nicht besonderer Schutz vor Sanktionen bei
Äußerungen geboten?
10532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
All das fällt unter „Äußerungen, die sich im Internet
an einen eingeschränkten Personenkreis richten“. Sie se-
hen also, hier liegt eine Menge Arbeit vor uns.
Da wir unsere Gesetze nicht jedes Jahr ändern wollen
und können, müssen wir auch klären, wie wir zukünftige
Entwicklungen in der Kommunikation berücksichtigen.
Das ist deutlich mehr Arbeit, als der Antrag auf den
ersten Blick vermuten lässt. Aber wir werden die He-
rausforderung anpacken, deshalb wurden wir ja gewählt.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wer kennt das
nicht? Sich einen Moment so richtig geärgert, und schon
rutscht einem ein böses Wort über die Lippen. In einigen
Fällen war dies vielleicht ein böses Wort über den eige-
nen Arbeitgeber. Konsequenzen mussten Sie natürlich
keine fürchten, denn solange Sie dieses böse Wort nicht
in ein Mikrofon vor Tausenden Leuten brüllten, konnten
Sie darauf vertrauen, dass Ihre Äußerung als privat galt
und somit keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie
beispielsweise eine Kündigung nach sich ziehen konnte.
Genauso schnell, wie ein böses Wort gesagt ist, ist ein
böses Wort getippt. Zum Beispiel in ein soziales Netz-
werk wie beispielsweise Facebook. Und hier beginnen
die Probleme.
Nun kann man natürlich entgegnen: Selber schuld!
Was schreibt man auch so einen Unsinn in ein soziales
Netzwerk. – Damit verkennt man aber, dass Nutzerinnen
und Nutzer zum großen Teil soziale Netzwerke wie
Facebook nicht als eine öffentliche Plattform für Ver-
kündigungen verstehen – ich weiß, gerade Politiker ver-
stehen Facebook fälschlicherweise genau so –, sondern
ganz privat für sich nutzen, um mit Freundinnen und
Freunden in Kontakt zu bleiben und sie an ihrem persön-
lichen Leben teilhaben zu lassen. Niemand – so hoffe ich
doch – würde hier auf die Idee kommen, dass ein böses
Wort über den Arbeitgeber im Freundeskreis eine
fristlose Kündigung rechtfertigt. Warum soll dann eine
Äußerung, die im Freundeskreis eines sozialen Netz-
werks getätigt wird, eine Kündigung rechtfertigen?
Trotz dieser berechtigten Frage wurden Kündigungen
wegen Äußerungen in einem sozialen Netzwerk von
Gerichten bestätigt. So urteilte das Landesarbeitsgericht
Hamm am 10. Oktober 2012, dass auch dann keine
Vertraulichkeit gegeben ist, wenn ein Posting nur einem
bestimmten Freundeskreis zugänglich ist. Doch einheit-
lich ist die Rechtsprechung nicht. Der Verwaltungs-
gerichtshof München urteilte am 29. Februar 2012 in ei-
nem anderen Fall, dass ein Benutzer selbst dann, wenn er
über seinen privaten Facebook-Account eine Äußerung
verbreitet, damit rechnen darf, dass diese vertraulich be-
handelt wird. Es geht hierbei im Übrigen nicht immer
um Beleidigungen. Es geht auch um Geheimnisverrat
und Ähnliches.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt also
die Unsicherheit, was in einem sozialen Netzwerk ge-
postet werden darf und was besser nicht. Es ist dringend
an der Zeit, diese Unsicherheit zu beenden. Leider haben
unsere Kleinen Anfragen zu dem Thema nur ergeben,
dass die Große Koalition keinerlei Handlungsbedarf
sieht. Das kann es aber nicht sein. Dazu sind die bekann-
ten Urteile zu unterschiedlich, dazu betrifft es zu viele
Menschen.
Wir von der Linken haben deshalb einen Antrag ein-
gebracht und sind der Auffassung, dass eine im Internet
getätigte Äußerung dann als vertraulich gelten soll,
wenn sie sich an einen eingeschränkten Personenkreis
richtet. Das kann unseres Erachtens dann der Fall sein,
wenn sie beispielsweise in einer begrenzten Facebook-
Gruppe fällt oder sich an einen begrenzten Freundeskreis
innerhalb des sozialen Netzwerks richtet. Mit Absicht
haben wir die Frage offengelassen, in welchem Rahmen
sich dieser Personenkreis bewegen darf, um noch als be-
grenzt zu gelten. Darauf habe ich persönlich selbst noch
keine Antwort. Vielleicht finden wir gemeinsam eine.
Sehen Sie unseren Antrag also als Anfang einer dringend
notwendigen Diskussion und nicht als Ende.
Es ist klar, dass verbindliche Regeln geschaffen wer-
den müssen, um Rechtssicherheit für Äußerungen von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herzustellen. Es
ist an der Zeit, Regeln zu finden, die der Lebenswelt von
Nutzerinnen und Nutzern in sozialen Netzwerken ent-
sprechen. Das kann nur heißen, dass nicht jedes Face-
book-Posting gleich als öffentlich abgestempelt wird,
nur weil es theoretisch hundert Freundinnen und
Freunde lesen können. Und das kann nur heißen, dass ei-
nem nicht gleich die Kündigung droht, weil man mal im
Affekt ein böses Wort über den Arbeitgeber auf Face-
book schreibt.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn es
darum geht, Arbeitnehmerrechte zu stärken, bin ich im-
mer gerne dabei.
Aber was ihr da jetzt aufgeschrieben habt, ist wirklich
nicht ansatzweise durchdacht. Bei allem Respekt!
Ob ein Gesprächskreis vertraulich ist oder nicht, kann
doch nicht der Gesetzgeber entscheiden. Jeder Mensch
und auch jeder Arbeitnehmer muss sich überlegen und
entscheiden, welche Art von Äußerungen er in welchem
Gesprächskreis und in welchem Umfeld tätigen will und
kann. Das ist in der analogen Welt nicht anders als in der
digitalen Welt.
Ein uralter deutscher Rechtssatz lautet: Trau, schau,
wem! Und wenn ich im Netz kommuniziere, ohne meine
Gesprächspartner vor Augen zu haben, sind die Sorg-
faltspflichten eher noch höher als bei einer Kommunika-
tion von Angesicht zu Angesicht. Da kann der Gesetzge-
ber keinen Freibrief erteilen. Es gibt schließlich auch
kein Gesetz, das besagt, dass ich an meinem Küchen-
tisch ungestraft jede Schmähkritik und Beleidigung äu-
ßern darf. Es weiß ja schließlich keiner, wie groß meine
Küche ist und ob nicht gerade ein Empfang mit hundert
Leuten in meiner Küche stattfindet. Gleiches gilt für Fo-
ren mit eingeschränktem Personenkreis. Da kommt es
eben auch darauf an, wie genau ich diese Personen
kenne und einschätzen kann und wie viele Personen es
sind.
Einen Zusammenhang mit der Datenschutzverord-
nung sehe ich nicht, denn bei den Kündigungsfällen geht
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10533
(A) (C)
(D)(B)
es nicht darum, dass der Arbeitgeber auf Daten des Ar-
beitnehmers zugreift, sondern alleine darum, dass ruf-
schädigende Äußerungen den Kreis derer verlassen, für
die sie bestimmt waren. Das ist aber keine Folge einer
Rechtsunsicherheit, sondern einer Fehleinschätzung über
die Vertraulichkeit der Kommunikation.
Da muss ich leider mal der Bundesregierung recht ge-
ben, wenn sie in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage
schreibt:
Eine Beurteilung kann im Übrigen nur anhand des
konkreten Einzelfalls erfolgen. Die Größe des
Empfängerkreises, das Ziel und der Zweck des
Kommunikationsforums oder die soziale Akzep-
tanz und Ortsüblichkeit stellen weitere Kriterien für
die Beurteilung dar.
Dem habe ich wenig hinzuzufügen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Das Europäische Semester stärken,
besser umsetzen und weiterentwickeln
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Nationales Reformprogramm 2015 –
Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU
ernst nehmen und Investitionen stärken
(Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Die Kompetenz, über die
Wirtschaftspolitik zu entscheiden, liegt grundsätzlich bei
den EU-Mitgliedstaaten. Das ist im Vertrag über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union geregelt. Die Mit-
gliedstaaten betrachten die Wirtschaftspolitik als eine
Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordi-
nieren sie im Rat.
Um unsere Wirtschaft steht es wirklich gut. Die Er-
werbstätigkeit liegt auf Rekordniveau, die Arbeitslosig-
keit sinkt und die Löhne steigen. Auch in diesem Jahr
wird der Bundeshaushalt annähernd ausgeglichen sein
und strukturell einen leichten Überschuss ausweisen.
Insbesondere die Vervollständigung des Binnenmark-
tes sowie die Einführung des Euros haben jedoch ver-
stärkt die Notwendigkeit einer besseren wirtschaftspoli-
tischen Koordinierung auf europäischer Ebene gezeigt.
Jahrelang wurde der Fokus seitens der EU lediglich
auf die Überwachung der Schulden und Defizite gelegt;
im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist dann die
Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken deut-
lich verstärkt worden. Euro-Plus-Pakt, Fiskalvertrag,
Six-Pack und Two-Pack sind hier einige Schlagworte.
Im Jahr 2010 wurde schließlich das Europäische Se-
mester als Instrument der wirtschafts-, finanz- und be-
schäftigungspolitischen Koordinierung eingeführt. Die
Ergebnisse der letzten Europäischen Semester haben ge-
zeigt, dass die ergriffenen Reformen bereits zu einer
verbesserten Koordinierung geführt haben. Allerdings
erweist sich die Umsetzung der länderspezifischen Emp-
fehlungen weiterhin als Schwierigkeit des Europäischen
Semesters. Im Jahr 2013 wurden 10 Prozent vollständig
umgesetzt, bei 45 Prozent der länderspezifischen Emp-
fehlungen war nur eine eingeschränkte oder überhaupt
keine Umsetzung festzustellen.
Frei nach dem letzten Finanzminister unseres Koali-
tionspartners zur Abgeltungsteuer: „10 Prozent von x ist
besser als nix“, dürfen wir hier nicht verfahren und uns
zufriedengeben. Es liegt in unserem Interesse, die Sicht-
barkeit, Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Europäi-
schen Semesters zu verbessern.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kommission im
Rahmen des Europäischen Semesters eine Aufgabe erle-
digt, die ihr die Mitgliedstaaten selbst übertragen haben.
Ihre Empfehlungen sollten nicht ignoriert werden, son-
dern zum Wohle der europäischen Bevölkerung umge-
setzt werden. Mit dem vorliegenden Antrag werden wir
dieser Zielsetzung gerecht.
Wir wollen das Europäische Semester stärken, für
eine bessere Umsetzung sorgen und die Koordinierung
weiterentwickeln.
Eine offenere politische Debatte, engere Abstimmung
mit den nationalen Parlamenten sowie mehr Transparenz
werden zu einer größeren Akzeptanz der Empfehlungen
in den Mitgliedstaaten führen.
Dabei muss die Kommission ihre Stellungnahmen
und Empfehlungen nach objektiven Kriterien und ohne
politische Intervention der Mitgliedstaaten erarbeiten.
Eine weitere entscheidende Grundlage für die Akzep-
tanz und bessere Umsetzung der länderspezifischen
Empfehlungen ist die Qualität und Vergleichbarkeit der
erhobenen statistischen Daten.
Deswegen fordern wir in dem Antrag auch, dass den
Empfehlungen konsentierte und belastbare statistische
Daten der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt werden. Als
Beispiel sei hier der Leistungsbilanzüberschuss in
Deutschland genannt.
In den länderspezifischen Empfehlungen für Deutsch-
land fordert die Kommission erneut, den Leistungs-
bilanzüberschuss zu verringern. Dabei muss man beach-
ten, dass der Überschuss insbesondere durch eine große
Nachfrage nach Produkten aus Deutschland erzielt wor-
den ist. Wir sind stolz darauf und wollen, dass es so
bleibt.
Weitere Gründe für den Überschuss sind auch die op-
timale Konjunkturlage in wichtigen Abnehmerländern
sowie der schwache Euro und die niedrigen Erdölkosten.
Außerdem geht der Überschuss überwiegend aus den
Geschäften mit außereuropäischen Handelspartnern her-
vor.
Nichtsdestotrotz müssen auch wir uns kritisch mit den
Empfehlungen auseinandersetzen. Mit dem Leistungs-
bilanzüberschuss werden die niedrigen öffentlichen und
privaten Importe kritisiert. Die nominalen öffentlichen
10534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
Bruttoinvestitionen sind zwar in den vergangenen Jahren
gestiegen. Dennoch soll die Struktur der öffentlichen
Haushalte noch stärker auf Investitionen ausgerichtet
werden.
Da in Deutschland die Investitionen nicht nur durch
den Bund, sondern insbesondere auch von Ländern und
Kommunen getätigt werden, war es richtig und wichtig,
hier eine entsprechende Unterstützung auf den Weg zu
bringen, um Investitionsreize auf allen Ebenen zu setzen.
Diese Politik werden wir fortsetzen und mit dem
Europäischen Semester die bestmögliche globale Wett-
bewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften
schaffen.
Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Antrag Union: Wir
wollen die Koordinierung der europäischen Wirtschafts-
politik weiter stärken. Das europäische Semester kann
ganz wesentlich dazu beitragen. Die Koalitionsfraktio-
nen haben hierzu einen entsprechenden Antrag auf den
Weg gebracht. Zunächst ist es wichtig, Transparenz im
Verfahren zu schaffen.
Grundlage der Empfehlungen der Kommission müs-
sen belastbare statistische Daten aus den Mitgliedstaaten
sein. Zur Stärkung der Akzeptanz muss bei der Umset-
zung der Maßnahmen das Parlament von Beginn an
beteiligt werden. Ziel des europäischen Semesters muss
es sein, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der
Mitgliedstaaten zu stärken. Dazu wurde es 2010 als In-
strument eingeführt. Durch die Stärkung der wirtschafts-,
finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung
wird dieses Ziel verfolgt.
Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Euro-
päischen Union sind Strukturreformen in genau diesen
Politikfeldern notwendig. Zudem braucht Europa zusätz-
liche Investitionen in Forschung, Bildung und Infra-
struktur.
Wir nutzen so das Reformprogramm, um die europäi-
sche und die deutsche Wirtschaft voranzubringen.
Antrag Bündnis 90/Die Grünen: Bündnis 90/Die Grü-
nen stellen ebenso wieder einmal einen Antrag zum eu-
ropäischen Semester.
Außenhandel: Darin kritisieren Sie die Außenhan-
delsüberschüsse.
Applaus! Diese sind jedoch ein Zeichen der hohen
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Von der
deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren die gesam-
ten EU-Länder:
58 Prozent aller deutschen Importe stammen aus an-
deren EU-Mitgliedstaaten. Das schafft Beschäftigung
und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den
anderen EU-Ländern.
Hier muss noch einmal klar betont werden, dass die
Kommission für Deutschland eben gerade keine „zu-
kunfts- und stabilitätsgefährdenden“ Ungleichgewichte
sieht.
Binnenkonsum: Sie bemängeln in Ihrem Antrag die
zu geringe Binnennachfrage.
Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzuwachs von
3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent,
die größte Zunahme seit 2010.
2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig
sein – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bun-
desrepublik.
Auf diese Entwicklung können wir stolz sein.
Deutschland hat im Hinblick auf die Europa-2020-Ziele
in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armut alle
Zielwerte übererfüllt.
So lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jäh-
rigen mit 78,1 Prozent 2014 deutlich über der Zielmarke
von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist
zwischen 2008 und 2012 um rund 40 Prozent gesunken.
Akademikerquote: Sie bemängeln, dass Deutschland
beim EU-2020-Ziel bei der Quote der Hochschulab-
solventen hinterherhinke, so wörtlich. Man sieht hier
einmal mehr, wo Sie Ihre Prioritäten setzen.
Wir wissen, was wir an der beruflichen Bildung ha-
ben. Auch die OECD, die Deutschland lange wegen der
im Vergleich niedrigen Akademikerrate kritisiert hatte,
erkennt dies mittlerweile an. Nur Sie nicht!
Sie fordern einen Ausbau der Kinderbetreuung – das
machen wir bereits, wir investieren 6 Milliarden Euro in
die Bildung und Betreuung. Wir wollen Wahlfreiheit für
die Eltern – Sie wollen Bevormundung.
Investitionen: Wir setzen die Schwerpunkte bei den
öffentlichen Investitionen gezielt in den Erhalt und den
Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, den Breitbandaus-
bau, aber auch bei der CO2-Minderung. Außerdem ent-
lasten wir die Kommunen. Diese zusätzlichen Investitio-
nen werden ohne neue Schulden geleistet – wir setzen
die Sanierung der öffentlichen Haushalte konsequent
fort.
Wir legen also die Grundlagen für eine weiterhin
positive Entwicklung und schaffen Stabilität für Investi-
tionen.
Schönen Gruß an die Frau Dröge, die ja ihre ganze
geistige Kapazität in die Anträge der Grünen zu diesem
Thema steckte – diese ist, glaube ich, schon im Mutter-
schutz, das ist ja auch wichtig.
Ihren Antrag müssen wir dennoch ablehnen.
Christian Petry (SPD): Bevor ich auf die jeweiligen
Anträge zu sprechen komme, möchte ich einige grund-
sätzliche Worte zum Europäischen Semester sagen. Ziel
des 2011 erstmals durchgeführten Semesters ist eine
engere und verbindlichere Abstimmung der bislang rein
national geregelten Wirtschaftspolitik innerhalb der
Europäischen Union. Auf Grundlage der von der Euro-
päischen Kommission jährlich vorgelegten länderspezi-
fischen Empfehlungen erlassen hierbei alle EU-
Mitgliedstaaten nationale Reformprogramme, um den
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10535
(A) (C)
(D)(B)
wirtschaftspolitischen Vorschlägen der Kommission
nachzukommen.
Seit Schaffung des Europäischen Semesters wird die-
ses kritisch begleitet. Zu unverbindlich und einseitig
seien die wirtschaftspolitischen Empfehlungen, ist ein
oft geäußerter Kritikpunkt. Man darf bei all dieser Kritik
jedoch nicht verkennen, dass das Europäische Semester
ein ganz wesentlicher Schritt hin zu einer besseren und
effektiveren Abstimmung der nationalen Wirtschafts-
politik innerhalb der Europäischen Union ist. Unter die-
sem Gesichtspunkt kommt dem Europäischen Semester
ein immenser Stellenwert zu.
Mit dem Semester wurden folglich die richtigen Leh-
ren aus der Krise der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion gezogen: Eine supranational organi-
sierte Währungspolitik braucht weitere, einheitlich gere-
gelte Politikbereiche, die sie flankiert und somit unter-
stützt. Eine gemeinsame Währung innerhalb eines
heterogenen Wirtschaftsraums kann langfristig nur
bestehen, wenn sie von einer echten Wirtschaftsunion
begleitet wird. So gesehen ist die Schaffung des Euro-
päischen Semester mit einem Paradigmenwechsel inner-
halb der europäischen Wirtschaftspolitik gleichzusetzen.
Das Europäische Semester ist seit der Einführung
teils harscher Kritik ausgesetzt. Wichtig ist dabei: Es
handelt sich um ein junges, in der Entwicklung befindli-
ches Instrument. Daher ist die 2014 von der Europäi-
schen Kommission vorgeschlagene Verbesserung des
Semesters nur zu begrüßen.
In unserem Antrag hat die Regierungskoalition zen-
trale Anforderungen an das Europäische Semester für
die kommenden Jahre formuliert. Ich finde, dass mit den
neun vorgelegten inhaltlichen Punkten viel von dem auf-
genommen wurde, was in der parlamentarischen Debatte
– oftmals berechtigt – kritisch am Europäischen Semes-
ter hinterfragt wurde.
Beginnen möchte ich mit dem Brief der Bundesminis-
ter Gabriel und Schäuble aus dem Oktober 2014, in dem
EU-Kommissar Katainen zu einer noch engeren Abstim-
mung zwischen Rat und Kommission auf der einen Seite
und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite
aufgefordert wurde. Ich glaube, dass die europäischen
Institutionen durch ein frühes Einbeziehen der nationa-
len Parlamente viele politische Konflikte umgehen kön-
nen. Exemplarisch ist das Konsultationsverfahren im
Rahmen der Kapitalmarktunion durch Kommissar Hill
zu nennen. Dieser hat frühzeitig alle relevanten Akteure
zu Stellungnahmen ermuntert. Der Deutsche Bundestag
ist dem nachgekommen. Ich finde, dass das ein gutes
Beispiel für die Zusammenarbeit von nationalen und eu-
ropäischen Institutionen ist.
Für das Europäische Semester und seine Legitimation
in der Bevölkerung ist es unabdingbar, dass nationale
Regierungen die Stellungnahmen der Kommission aner-
kennen und nicht als unerlaubten Eingriff in ihre Souve-
ränität verstehen. Die Mitgliedstaaten haben schließlich
die Kommission eigenständig aufgefordert, diese Stel-
lungnahmen abzugeben. Die Kommission kommt damit
ihrem Arbeitsauftrag nach und darf nicht aufgrund natio-
nalpolitischer Erwägungsgründe an ihrer Arbeit gehin-
dert werden.
Ein weiterer zentraler Punkt des Antrags ist die
Einbeziehung sozialer Indikatoren bei der Analyse der
länderspezifischen Situationen – eine ursozialdemokrati-
sche Forderung, die sich im Antrag wiederfindet. Neben
makroökonomischen und fiskalischen Indikatoren
müssen soziale Indikatoren zukünftig mehr Berücksich-
tigung im Semester finden. Ergänzend hierzu sollte die
Kommission ihre für die Nationalstaaten vorgeschlage-
nen Reformen immer auch unter dem Gesichtspunkt der
sozialen Verträglichkeit prüfen. Ich bin überzeugt, dass
dies dann auch bei den länderspezifischen Empfehlun-
gen zu einer höheren Umsetzungswahrscheinlichkeit in
den nationalen Parlamenten führen wird.
Als letzten inhaltlichen Punkt möchte ich noch auf die
Investitionsoffensive der Kommission eingehen. Ich
denke dabei im Besonderen an den Europäischen Fonds
für strategische Investitionen, EFSI. Natürlich kann man
über die Ausgestaltung dieses Fonds im Detail streiten.
Doch eines müssen wir doch alle anerkennen: Die Zeit
der einseitigen Sparpolitik ist vorbei. Die Kommission
unter Jean-Claude Juncker hat einen Paradigmenwechsel
eingeläutet, über den wir Sozialdemokraten uns beson-
ders freuen. Die Investitionsoffensive mit ihrem Fonds
und ihrem Projektverzeichnis ist ein entscheidendes
Werkzeug, um nationalen Staaten Möglichkeiten aufzu-
zeigen, die im Europäischen Semester geforderten wirt-
schaftspolitischen Maßnahmen schneller und effizienter
umsetzen zu können.
Ich glaube, dass wir mit der heutigen Verabschiedung
des Koalitionsantrags einen wichtigen Schritt zur Wei-
terentwicklung des Europäischen Semesters gehen. Der
Deutsche Bundestag steht zu diesem europäischen Koor-
dinierungsinstrument und hat klare Vorstellungen von
dessen zukünftiger Ausgestaltung. Das ist ein Signal an
die europäischen Institutionen, aber auch eine Aufforde-
rung, das bestehende Instrument zu verbessern.
Thomas Lutze (DIE LINKE): Bei der Einführung
des Euro hat die damalige PDS kritisiert, dass eine Wäh-
rungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion nicht
funktionieren werde. Wie zutreffend sich diese Kritik im
Nachhinein erweist, erleben wir seit nunmehr mehreren
Jahren in Form der europäischen Banken- und Wäh-
rungskrise.
Dass es in der Europäischen Union kein Zuviel, son-
dern ein Zuwenig an wirtschaftspolitischer Koordination
gibt, hat sich seit einigen Jahren nun auch anderswo he-
rumgesprochen. Im Jahr 2010 wurde der Europäischen
Kommission deshalb mit dem sogenannten Europäi-
schen Semester ein Instrument zur Koordinierung der
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Mitglied-
staaten an die Hand gegeben. Im Prinzip wäre das begrü-
ßenswert. In der Realität erweist sich das Europäische
Semester als ein weiteres Instrument zur Angleichung
von Löhnen und Sozialleistungen nach unten. Deshalb
wird es als Mittel der wirtschaftlichen Koordinierung
von der Linken abgelehnt.
10536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
Die maßgebliche Ursache für das wirtschaftliche
Ungleichgewicht in Europa liegt in der Dominanz der
deutschen Exportwirtschaft und des gleichzeitigen ge-
waltigen Investitionsstaus unter dem Dogma von Schul-
denbremse und schwarzer Null. Dieser Logik folgt die
Kommission auch im Europäischen Semester: In ihren
Empfehlungen für die nationalen Reformprogramme
fordert sie Anhebungen im Renteneintrittsalter, Bindung
der Löhne an die Produktivität oder die Ausrichtung von
Wissenschaft und Forschung auf die Bedürfnisse der
Wirtschaft. Dabei sind es genau diese neoliberalen
Irrwege, die Europa zusammen mit einem völlig unterre-
gulierten Bankensektor in die derzeitige Krise geführt
haben.
Was Deutschland und Europa statt weiterer Spar-
programme und Privatisierungswellen brauchten, ist
eine umfassende Investitionsoffensive in den Bereichen
Infrastruktur, Bildung, Steigerung der Energieeffizienz,
Förderung von erneuerbaren Energien, öffentlicher Nah-
verkehr, Barrierefreiheit und öffentliche Beschäftigung.
Damit können wir hierzulande anfangen, indem wir un-
sere Autobahnen und bröckelnden Brücken sanieren,
den Investitionsstau an den Universitäten und in den
Kommunen auflösen, für ausreichend Personal im
Pflege- und Gesundheitsbereich sorgen und diese Men-
schen auch noch angemessen bezahlen. Da kleckern Sie
nur. Angesichts der Milliardenspielräume, die uns der
Haushalt bietet, wäre Klotzen angesagt. Damit könnten
wir wirkliche Impulse für Wachstum und Beschäftigung
hier und in ganz Europa schaffen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Meine Fraktion bleibt bei der Feststel-
lung: Das Europäische Semester muss gestärkt und wei-
terentwickelt werden. Mit dem Antrag der Regierungs-
fraktionen wird das aber wohl nicht passieren. Zum Teil
geht er zwar in die richtige Richtung, zum Teil wider-
spricht er sogar der aktuellen Politik der Bundesregie-
rung, zum Beispiel in Bezug auf den Investitionsplan der
Europäischen Union, den EFSI. So wird in dem Antrag
die Finanzierung durch das Forschungsprogramm Hori-
zon 2020 kritisiert, und es soll geprüft werden, ob der
EFSI dadurch gestärkt werden kann, dass die Bundesre-
gierung zusätzliches Geld in den Fonds einzahlt. Würde
das passieren, würden wir das begrüßen. Denn ohne den
Fonds durch zusätzliche nationale Mittel aufzustocken,
droht der Investitionsplan zu scheitern. Deshalb fordern
wir, dass sich Deutschland mit zusätzlichen 12 Milliar-
den Euro an dem Fonds beteiligt, um damit auch Vorbild
für andere Länder zu sein. Die Bundesregierung hat dies
aber schon jetzt kategorisch abgelehnt und sich auch bei
der Finanzierung nicht für die im Antrag der Regie-
rungskoalitionen genannten Forderungen eingesetzt.
Dieser Antrag der Koalition interessiert die Regierung
also nicht und ist somit nur ein Beschluss für den Papier-
korb – zumal die Vorschläge in dem Koalitionsantrag
kaum über Schlagwörter und Prüfaufträge hinausgehen.
Unser grüner Antrag ist da viel konkreter. Für uns
sind insbesondere folgende Punkte wichtig:
Erstens. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung so-
wohl der nationalen Parlamente wie des Europaparla-
ments. Die einzelnen Schritte müssen in den Ausschüssen
beraten und auch im Plenum des Deutschen Bundestages
debattiert werden.
Zweitens mangelt es den länderspezifischen Emp-
fehlungen an Beachtung. Bisher wird nur ein sehr kleiner
Teil der länderspezifischen Empfehlungen umgesetzt –
und Deutschland gehört hier zu den Schlusslichtern. Wir
fordern, dass die Empfehlungen entweder umgesetzt
werden oder bei Nichtberücksichtigung eine Erklärung
dazu erfolgen muss – statt wie bisher die Empfehlungen
einfach weitgehend zu ignorieren.
Drittens ist uns wichtig, dass geeignete Maßnahmen
ergriffen werden, um die Ziele der EU-2020-Strategie
auch wirklich zu erreichen. Denn dieser Aspekt wird zu
oft übersehen: Das Europäische Semester und die Erstel-
lung des jährlichen Nationalprogrammes sind Instru-
mente der Europa-2020-Strategie, bei der es neben öko-
nomischen auch um ökologische und soziale Ziele geht.
Wir fordern unter anderem, dass die europäischen Ziele
auf nationale Ziele heruntergebrochen werden, die so
ausgestaltet sein müssen, dass in der Gesamtsumme das
europäische Ziel auch erreicht wird. Eines der fünf
Hauptziele ist die Senkung der armutsgefährdeten Perso-
nen in der EU um 20 Millionen bis 2020. Auch wenn wir
uns ein ambitionierteres Ziel hätten vorstellen können,
ist es gut, dass es ein quantifiziertes Ziel auf der Basis
von gemeinsamen Indikatoren gibt. Sinnvoll wäre gewe-
sen, dieses Ziel von 20 Millionen auf die einzelnen Län-
der aufzuteilen. Der größte Teil davon wäre dann alleine
wegen der Größe auf Deutschland entfallen. Was hat
aber die deutsche Regierung gemacht? Sie hat gesagt:
Wir akzeptieren die europäischen Indikatoren nicht und
suchen uns selbst einen Indikator aus – bei dem dann
rein „zufälligerweise“ das Ziel schon erreicht ist. Ganz
abgesehen davon, dass das vom Verfahren her eine Un-
verschämtheit ist – man stelle sich mal vor, wie die deut-
sche Regierung reagieren würde, wenn Griechenland
sich so verhalten würde –, wird damit das Gesamtziel
fast unmöglich gemacht. Das muss dringend geändert
werden.
Wir brauchen nicht weniger, sondern wir brauchen
mehr Europa; deshalb muss das Europäische Semester
gestärkt werden. Die Bundesregierung muss endlich im
eigenen sowie im europäischen Interesse aufhören, die
von der EU gemachten Vorschläge und Ziele zu ignorie-
ren. Es ist ja schön, dass von den Regierungsfraktionen ein
Antrag mit Verbesserungsvorschlägen kommt – aber ge-
gen das Glaubwürdigkeitsproblem, Spar- und Re-
formmaßnahmen und den Defizitabbau von den Krisenlän-
dern zu verlangen und selbst nur zu den Schlusslichtern
bei der Umsetzung der länderspezifischen Reformemp-
fehlungen zu gehören, hilft er nicht. Ein Lösungsvor-
schlag liegt vor Ihnen. Er fordert mehr Transparenz,
mehr Debatten, Beschlüsse des Bundestages zu den na-
tionalen Reformprogrammen und konkrete Vorschläge,
wie die länderspezifischen Empfehlungen besser umge-
setzt und die EU-2020-Ziele besser erreicht werden kön-
nen. Ich bitte deswegen um die Zustimmung zu unserem
Antrag.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10537
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Steuerfreie Risikoaus-
gleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016 (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Und täglich
grüßt das Murmeltier, so könnte man sagen, wenn man
sieht, dass die Kollegen von der Linken ihren bereits im
Jahr 2012 gestellten Antrag im Dezember 2014 noch-
mals eingebracht haben.
Mit dem Antrag soll zur Entlastung der Landwirt-
schaft ein weiterer steuerlicher Subventionstatbestand
ausschließlich für Landwirte geschaffen werden: eine
steuerfreie Ausgleichsrücklage für Agrarbetriebe, die
aufgrund zunehmend extremerer Witterungsbedingun-
gen, eingeschleppter neuer Tierseuchen und Ähnlichem
besonderen Risiken ausgesetzt sind.
Wir haben im Finanzausschuss den Antrag im April
2015 abschließend beraten und sind zu dem Ergebnis ge-
kommen, dass wir mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der Fraktion der Grünen den Antrag ableh-
nen. Wir empfehlen dem Hohen Haus, sich unserem
Votum anzuschließen.
Letztlich würde mit diesem Antrag ein weiterer Sub-
ventionstatbestand eingeführt, der nur der Landwirt-
schaft dient. Was ist denn dann aber mit anderen Bran-
chen der Wirtschaft, die auch stark von schwankenden
Witterungsbedingungen abhängen: der Tourismusbran-
che, die im Winter unter Schneemangel leiden kann, der
Schaustellerbranche, die Einbußen durch verregnete
Sommer erleiden kann, oder den Biergärten und Braue-
reien, die ebenfalls unter schlechtem Wetter leiden kön-
nen, um nur einige wenige Branchen aufzuzählen. Den
teilweise extrem schwankenden Witterungsbedingungen
ausgesetzt zu sein, ist kein Alleinstellungsmerkmal der
Landwirtschaft, und eine Ungleichbehandlung anderer
Branchen wird auch nicht durch die Sicherstellung der
Ernährung der Bevölkerung durch die Landwirtschaft
gerechtfertigt.
Im übrigen ist ja eine Glättung von schwankenden Er-
trägen in der Landwirtschaft in einzelnen Jahren schon
durch eine Besonderheit bei den steuerlichen Vorschrif-
ten für die Landwirtschaft gegeben, denn im Gegensatz
zu gewerblichen Unternehmen werden bei der Einkom-
mensermittlung jeweils zwei Wirtschaftsjahre des land-
wirtschaftlichen Betriebes je zur Hälfte berücksichtigt.
Dies alleine glättet die Schwankungen bereits in ziemli-
chem Umfang.
In einem Gutachten der Universität Hohenheim für
das Landwirtschaftsministerium wurde nachgewiesen,
dass der Effekt einer Ausgleichsrücklage gerade für die
Betriebe, die es am nötigsten brauchen würden, wirklich
eher gering wäre. Er beläuft sich im Durchschnitt gerade
einmal auf 174 Euro pro Jahr.
30 Prozent der Betriebe würden überhaupt nicht be-
günstigt, und weitere 30 Prozent erhielten gerade einmal
100 bis 500 Euro pro Jahr. Besonders begünstigt wären
große und ertragsstarke landwirtschaftliche Unterneh-
men, die von dieser Ausgleichsrücklage überproportio-
nal profitieren würden. Auf 10 Prozent der Betriebe
würde etwa die Hälfte der zu erwartenden gesamten Ent-
lastung entfallen. Also wären 10 Prozent der Betriebe,
also die, die sowieso schon besonders ertrags- und kapi-
talstark sind, mit einem Wort: die Großbetriebe, begüns-
tigt. Sie würden diese Unterstützung sicher gerne mit-
nehmen, aber nicht wirklich benötigen, während die
kleinen Betriebe, die es vielleicht bräuchten, keinen oder
nur geringen Nutzen daraus ziehen könnten.
Mit dieser Risikorücklage wäre also nicht nur die
Landwirtschaft gegenüber anderen Branchen privile-
giert, sondern es käme auch noch innerhalb der Land-
wirtschaft zu erheblichen Verwerfungen zwischen gro-
ßen und kleinen Betrieben.
Schließlich gibt es zahlreiche Ausnahmeregelungen
im Steuerrecht, die für alle Betriebe gelten. Ich nenne
hier nur die Ansparabschreibung, die allerdings reform-
bedürftig ist, und die Rücklage nach § 6 b EStG, die lei-
der vom EuGH gerade als nicht europarechtskonform
bewertet wurde und die deshalb möglichst bald europa-
rechtskonform ausgestaltet werden muss.
Der mit dieser von der Linken geforderten Rücklage
verbundene bürokratische Aufwand steht auch in keinem
Verhältnis zu dem erreichbaren Nutzen.
An welche Bedingungen sollen denn die Bildung und
die Auflösung der Rücklage geknüpft werden? Wer defi-
niert und kontrolliert denn die entsprechende Ertrags-
minderung?
Es würde noch einmal eine weitere erhebliche büro-
kratische Belastung unserer landwirtschaftlichen Be-
triebe bedeuten, die durch andere endlose bürokratische
Auflagen schon besonders gestraft sind.
Neben dem Finanzausschuss haben auch der Haus-
haltsausschuss und der Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft in ihren jeweiligen Sitzungen empfoh-
len, den Antrag abzulehnen. Ich bitte deshalb das Hohe
Haus, unseren Beschlussempfehlungen zu folgen und
den Antrag ebenfalls abzulehnen.
Rita Stockhofe (CDU/CSU): Wir beraten heute zum
zweiten Mal den Antrag der Fraktion Die Linke zur
„Steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbe-
triebe ab 2016“, und dadurch ist der Antrag auch nicht
besser geworden.
Die Fraktion Die Linke will landwirtschaftliche Be-
triebe durch Vorsorge vor ökonomischen Risiken besser
schützen und fordert dazu auf, im Entwurf für das Jah-
ressteuergesetz 2016 für Agrarbetriebe die Bildung einer
steuerfreien betrieblichen Risikoausgleichsrücklage zu
ermöglichen. Die Höhe der Rücklage solle sich aus den
betrieblichen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirt-
schaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des durch-
schnittlichen Jahresumsatzes betragen.
Das ist doch ein Aufguss an alten Ideen, was die
Linksfraktion hier beantragt. An sich ist der Grundge-
10538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
danke einer Risikoausgleichsrücklage nicht verkehrt,
und das haben wir auch immer wieder betont. Wir haben
uns innerhalb der CDU/CSU-Fraktion intensiv mit dem
Thema auseinandergesetzt und sind der Ansicht, dass
eine Risikoausgleichsrücklage jedoch in der Praxis
schwer umzusetzen sein würde.
Allein schon die Tatsache, dass man eine Bilanz
mehrere Jahre offenhalten muss, führt doch zu Planungs-
unsicherheiten. Dann müssten die Landwirte so lange
warten, weil sie das Geld, welches sie in die Rücklage
eingezahlt haben, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro Jahr
versteuern müssten. Darüber freuen könnten sich in ers-
ter Linie die Steuerberater, denn die schicken den Land-
wirten später ihre Rechnung.
Natürlich sind die Landwirte zunehmend Risiken aus-
gesetzt, die sie kaum beeinflussen können; aber das sind
andere Saisonbetriebe doch auch. Außerdem hat es in
der Landwirtschaft immer schon Ergebnisschwankungen
gegeben. Wenn wir mit der Risikoausgleichsrücklage ei-
nen Ausnahmetatbestand für die Landwirtschaft schaf-
fen würden, müssten wir doch andere mittelständische
Unternehmen, die ebenfalls wetterabhängig sind, ge-
nauso berücksichtigen. Wir müssten Regelungen schaf-
fen für Betreiber von Skiliften, Gartencafés oder Aus-
flugsschiffen.
In der Landwirtschaft besteht seit jeher das Prinzip
der Eigenvorsorge, und es bestehen vielschichtige
Möglichkeiten wie beispielsweise eine innerbetriebliche
Vorhaltung ausreichender Vermögenspositionen und
Finanzmittel. Passend dazu möchte ich an die alte Bau-
ernweisheit „Eine Ernte auf dem Halm, eine in der
Scheune und eine auf dem Konto“ erinnern.
Zahlreiche Versicherungslösungen wie beispielsweise
eine Hagelversicherung stehen den Agrarbetrieben zur
Verfügung oder des Weiteren Absicherung über außer-
landwirtschaftliche Marktteilnehmer wie zum Beispiel
Warenterminbörsen.
Die Risikoausgleichsrücklage bietet auch keine Ge-
währ dafür, dass bei Schadensereignissen auf zusätzliche
Hilfspakete immer verzichtet werden kann. Ich möchte
hier auf das Gutachten der Universität Hohenheim hin-
weisen, das zu dem Ergebnis kommt, dass eine Risiko-
ausgleichsrücklage die in sie gesetzten Erwartungen
nicht erfüllt. Die Untersuchung ergibt, dass eine steuer-
freie Risikoausgleichsrücklage keinen wesentlichen Bei-
trag zur Abfederung von markt- und wetterbedingten
Risiken in der Landwirtschaft leisten könne. Zusammen-
fassend stellt das Gutachten fest, dass circa 30 Prozent
der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rücklage ziehen
würden, bei weiteren 30 Prozent läge der Vorteil ledig-
lich bei 100 bis 500 Euro und nur 10 Prozent der Agrar-
betriebe erhielten die Hälfte der prognostizierten Entlas-
tungen. Also nur einige Betriebe würden von einer
Einführung profitieren, und das wären in erster Linie die
großen und ertragreichen und nicht die kleineren,
schutzbedürftigen Agrarbetriebe. Und für die präsentie-
ren Sie auch keine Lösung.
Auch der Wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik hat
sich kritisch zur Risikoausgleichsrücklage geäußert.
Es ist ja nicht so, dass wir die Risikoausgleichsrück-
lage nur ablehnen und uns nicht der besonderen Situa-
tion der Landwirte annehmen. Natürlich trägt der Land-
wirt zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei,
und wenn es der Landwirtschaft nicht gut geht, merken
wir das alle und nicht nur das einzelne Unternehmen.
Wir sind doch schon aktiv, sei es, dass wir in § 13 a
Einkommensteuergesetz die Ermittlung des Gewinns aus
Land- und Forstwirtschaft pauschaliert haben. Diesen
besonderen Schutz für Kleinstbetriebe haben wir darüber
hinaus vor wenigen Monaten auch noch verbessert.
Unabhängig von der Diskussion über die Risikoaus-
gleichsrücklage wurden bereits zum 1. Januar 2013 die
Steuersätze bei Mehrgefahrenversicherungen für Ele-
mentarschäden in der Landwirtschaft, dem Garten- und
Weinbau auf einheitlich 0,03 Prozent abgesenkt und
hierdurch die Möglichkeiten der betrieblichen Risiko-
vorsorge spürbar verbessert.
Und in besonderen Notfällen helfen wir auch unbüro-
kratisch: Mehrgefahrenversicherungen zu Sonderkondi-
tionen werden begünstigt. Davon haben zuletzt die
Forstwirte bei den letzten großen Sturmschäden profi-
tiert.
Ein besseres Modell, den Landwirten zu helfen, ist
vielmehr eine Ansparrücklage. Hier hat die Bundes-
regierung beschlossen, bei der Regelung zum Investi-
tionsabzugsbetrag in § 7 g Einkommensteuergesetz
künftig auf das Vorabbenennungserfordernis zu verzich-
ten. Dieser Verzicht schafft Flexibilität und kommt den
betrieblichen Bedürfnissen mehr entgegen als eine Risi-
koausgleichsrücklage.
Zusammenfassend möchte ich noch einmal klarstel-
len: Die Schaffung der steuerfreien betrieblichen Risiko-
ausgleichsrücklage ist kein geeignetes Instrument zur
Unterstützung der Landwirte und trägt auch nicht zur
Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei. Deshalb
lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Einfüh-
rung der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für
Agrarbetriebe wurde schon mehrfach gefordert. Den ers-
ten Vorstoß machte die damalige Landwirtschaftsminis-
terin Ilse Aigner, CSU, im Jahr 2009. Es folgte die Linke
mit einer Initiative im Jahr 2012. Der vorliegende An-
trag stellt nur den dritten Versuch dar.
Die Initiatoren wechseln, der Inhalt bleibt im Wesent-
lichen gleich. Eine Risikoausgleichsrücklage würde Er-
gebnisschwankungen zwischen ertragsstarken und er-
tragsschwachen Jahren reduzieren. Die Folge wäre eine
Verschiebung der Gewinnbesteuerung in die Zukunft
und eine besondere Förderung einiger starker Betriebe.
Betriebe in anderen Branchen gingen leer aus.
Die vorgetragenen Gründe für die Risikoausgleichs-
rücklage überzeugen heute so wenig wie in der Vergan-
genheit. Ergebnisschwankungen sind kein besonderes
Problem der Land- und Forstwirtschaft, sondern können
jede unternehmerische Tätigkeit treffen. Auch andere
Branchen müssen Risiken eingehen und unterliegen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10539
(A) (C)
(D)(B)
Marktschwankungen. Die Risikoausgleichsrücklage
würde somit der Land- und Forstwirtschaft einen Steuer-
vorteil verschaffen, der anderen Unternehmen nicht zur
Verfügung steht. Diese müssten dann im Unterschied zu
den landwirtschaftlichen Betrieben weiterhin die Vor-
sorge für ihre Risiken aus dem versteuerten Einkommen
treffen.
Ein im Jahr 2011 im Auftrag des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Forschung von Pro-
fessor Dr. Enno Bahrs vorgelegtes Gutachten zeigt, dass
die Risikoausgleichsrücklage im Bereich der Land- und
Forstwirtschaft zu recht ungleichen Entlastungen führen
würde. Knapp die Hälfte des gesamten Steuervorteils
– 47 Prozent – würde auf 10 Prozent der Betriebe ent-
fallen. Weitere 44 Prozent der Entlastung würden auf
32 Prozent der Betriebe entfallen. Die übrigen 58 Pro-
zent der Betriebe würden sich die restliche Entlastung
von 9 Prozent teilen. Die Risikoausgleichsrücklage
würde somit vor allem einen kleinen Teil der land- und
forstwirtschaftlichen Betriebe begünstigen. Die meisten
Betriebe hätten nur geringe Vorteile.
Ich zitiere Professor Dr. Enno Bahrs vom Institut für
Landwirtschaftliche Betriebslehre an der Universität Ho-
henheim aus dem Abschlussbericht an Bundesanstalt für
Landwirtschaft und Ernährung: „Diskussion und Bewer-
tung der möglichen Einführung einer Risikoausgleichs-
rücklage zum Ausgleich von wetter- und marktbedingten
Risiken in der Landwirtschaft – Modellanalyse und Auf-
zeigen von Alternativen in Anlehnung an die steuerfreie
Rücklage nach § 3 Forstschäden-Ausgleichsgesetz
(ForstSchAusglG)“. Auf Seite 52 finden wir unter der
Überschrift: „6.4.5 Vorzüglichkeit der Risikoausgleichs-
rücklage für unterschiedliche Betriebsgruppen“:
Für die Entscheidung über die Einführung einer
Risikoausgleichsrücklage ist neben dem gesamtsek-
toralen Effekt auch die Verteilung auf unterschiedli-
che betriebswirtschaftliche Ausrichtungen von Be-
deutung. … So profitieren Veredelungsbetriebe im
Vergleich zu Futterbaubetrieben um das 3,5fache.
Die Einführung der Risikoausgleichsrücklage
würde für nahezu ein Drittel der Veredelungsbe-
triebe zu einer jährlichen Steuerersparnis von über
500 Euro führen. Futterbaubetriebe, die den größten
Anteil der Betriebe im Datensatz stellen, können
hingegen nur vergleichsweise wenig von der Ein-
führung profitieren.
Den besonderen witterungsbedingten Einflüssen in
der Land- und Forstwirtschaft wird außerdem bereits
durch das vom Kalenderjahr abweichende Wirtschafts-
jahr und die Aufteilung des Gewinns auf zwei Veranla-
gungszeiträume Rechnung getragen. Hierdurch wird
eine Progressionsglättung erreicht, die es bei anderen be-
trieblichen Einkünften nicht gibt.
Darüber hinaus gelten die allgemeinen Verlustver-
rechnungsvorschriften des § 10 d EStG natürlich auch
für land- und forstwirtschaftliche Betriebe.
Für den Verlustrücktrag gilt:
Negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Ge-
samtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen wer-
den, sind bis zu einem Betrag von 1 000 000 Euro
… vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittel-
bar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vor-
rangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen
Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzu-
ziehen.
Für den Verlustvortrag gilt:
Nicht ausgeglichene negative Einkünfte … sind in
den folgenden Veranlagungszeiträumen bis zu ei-
nem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Million
Euro unbeschränkt, darüber hinaus bis zu 60 Pro-
zent des 1 Million Euro übersteigenden Gesamtbe-
trags der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben,
außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Ab-
zugsbeträgen abzuziehen.
Sie profitieren somit von dem dort geregelten Verlust-
vortrag und Verlustrücktrag, der ebenfalls Ergebnis-
schwankungen ausgleicht.
Der dritte Anlauf zur Einführung einer Risikoaus-
gleichsabgabe begegnet deshalb den bisher schon beste-
henden und wiederholt vorgetragenen Bedenken: Die
Risikoausgleichsrücklage lässt sich ordnungspolitisch
nicht begründen. Sie würde nur einen kleinen Teil der
land- und forstwirtschaftlichen Betriebe spürbar begüns-
tigen, während der Großteil kaum profitieren würde. Au-
ßerdem bestehen mit dem vom Kalenderjahr abweichen-
den Wirtschaftsjahr und den allgemeinen Regelungen
zum Verlustvor- und Verlustrücktrag bereits Mechanis-
men, die Ertragsschwankungen ausgleichen.
Last but not least sind die Steuerausfälle in den Blick
zu nehmen. Ich zitiere nochmals Professor Dr. Enno
Bahrs:
Anhand der ermittelten Werte aus dem Datensatz
lassen sich die Steuerausfälle für den Staat hoch-
rechnen. Unter der Annahme, dass der gewichtete
Datensatz weitgehend repräsentativ für die deut-
sche Landwirtschaft ist, ergeben sich mittels einer
Hochrechnung auf 165 000 buchführende und der
Einkommensteuer unterliegende Betriebe (Statis-
tisches Jahrbuch, 2009) Steuerausfälle gegenüber
der jetzigen Regelung (§ 4a EStG) von jährlich
29,4 Millionen Euro beim angenommenen zehnjäh-
rigen Glättungszeitraum unter Berücksichtigung
der DBV-Restriktionen. Ohne Restriktionen erhöht
sich der Steuerausfall auf 32,7 Millionen Euro.
Ein zu hoher Preis für eine solch ungerechte Förde-
rung wie die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für
Agrarbetriebe. Deshalb ist es klug, den Antrag auch
heute abzulehnen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nein, die
steuerfreie Risikorücklage ist keine Erfindung der Lin-
ken, sondern wir greifen eine Forderung auf, die uns seit
Jahren auf nahezu jeder Veranstaltung vorgetragen wird –
von der Landwirtschaft über den Gartenbau bis hin zu
den Baumschulen. Das allein ist natürlich noch kein
Grund, sie im Bundestag zu beantragen, sondern wir hal-
10540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
ten diese Forderung aus agrarpolitischer Sicht für not-
wendig und aus finanzpolitischer Sicht für klug.
Ja, wir würden damit zunächst auf Steuereinnahmen
verzichten. Das ist auch das Hauptargument bei Union,
SPD und Grünen gegen unseren heutigen Antrag – wenn
Sie ehrlich sind. Aber das ist entweder sehr kurzsichtig
– denn es geht um die Vermeidung von großen steuer-
finanzierten Hilfspaketen durch vorsorgende Hilfe zur
Selbsthilfe – oder Sie haben den Antrag nicht verstanden
und hätten besser Ihren agrarpolitischen Fachleuten zu-
hören sollen. Das Mantra der „schwarzen Null“ ignoriert
nämlich die realen Ängste und Sorgen in den Betrieben.
Und wenn Sie schon unserem Antrag nicht zustimmen:
Wo sind denn Ihre Vorschläge zur besseren Risikoabsi-
cherung?
Aktuell klagen die Betriebe wieder über eine wochen-
lange, nun schon fast traditionelle Frühsommertrocken-
heit. Wenn es nicht bald regnet, sind Rufe nach staatli-
cher Unterstützung doch absehbar. Das kostet dann doch
auch Steuergelder und wird vermutlich sogar noch teu-
rer, als Vorsorge zu treffen, zum Beispiel um andere Sor-
ten zu probieren oder Anbautechniken.
Die Grünen sind doch eigentlich für eine steuerfreie
Risikoausgleichsrücklage. Ihr baden-württembergischer
Agrarminister, Alexander Bonde, betont sogar, wie wich-
tig sie wäre. Aber während Sie sich im Agrarausschuss
des Bundestages wenigstens noch heroisch der Stimme
enthalten haben, gab es im federführenden Finanzaus-
schuss doch ein Nein. Und die Union: in den Wahlkrei-
sen dafür – hier im Bundestag dagegen. Und auch über
den Bauernverband kann ich mich nur wundern. Sonst
sind sie alles andere als zurückhaltend mit Lobbybriefen
für oder gegen bestimmte Gesetzesvorhaben oder An-
träge. Wenn aber die Linksfraktion eine ihrer jahrelan-
gen Forderungen in den Bundestag einbringt, schweigt
die DBV-Chefetage. Entweder ist ihnen die Forderung
dann doch nicht so wichtig oder der Friede mit der
Union ist ihnen noch wichtiger. Auf Kosten der betroffe-
nen Betriebe!
Dabei haben wir gerade jede Menge neue Argumente
für unseren Antrag auf dem Tisch.
Das Umweltbundesamt hat im „Monitoringbericht
zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawan-
del“ ein ganzes Paket von Gründen dokumentiert, wa-
rum eine Abfederung der Risiken, für Vorsorge und für
Notfallpläne im Bereich der Agrarwirtschaft dringend
erforderlich ist. Denn es wird tendenziell wärmer. Das
Wetter wird extremer – es gibt entweder viel zu viel oder
viel zu wenig Regen. Das allein erhöht schon die Anbau-
risiken erheblich. Darauf kann und muss sich die Land-
wirtschaft einstellen, durch andere Anbaumethoden und
-konzepte, andere Sorten und Rassen, mehr Vielfalt auf
dem Acker und im Stall. Das bedeutet auch mehr For-
schung, mehr Züchtung, mehr Ausprobieren.
Um ein paar konkrete Beispiele aus dem Bericht für
wachsende Risiken durch Klimaveränderungen zu zitie-
ren:
Erstens. Der Blühbeginn schwankt zunehmend zwi-
schen den einzelnen Jahren, Tendenz eher früher als spä-
ter. Im Vergleich zu den 1970er-Jahren blühen der Apfel
und der Raps heute ganze zwanzig Tage früher. Hört sich
für Laien nicht so schlimm an, erhöht aber zum Beispiel
das Risiko von Spätfrostschäden. Viele Obstbaubetriebe
müssen zu Frostschutzberegnungen greifen, um die
Pflanzen vor der Kälte zu schützen. Das kostet zusätzli-
ches Geld.
Zweitens. Auch die Qualität der Ernteprodukte verän-
dert sich witterungsabhängig. Beim Wein zum Beispiel
sind Zuckergehalt, Säuregrad und Vorstufen diverser
Aromastoffe sehr witterungsabhängig. Aber zu hohe Al-
koholgehalte sind ebenso unerwünscht wie säurearme
Rieslingweine.
Drittens. Witterungsextreme werden häufiger: zum
Beispiel die unterdessen fast regelmäßige Frühsommer-
trockenheit. In Brandenburg gab es dieses Jahr im März
und April nur 40 Prozent des normalen Niederschlags. In
meinem Wahlkreis bauen einige Betriebe schon gar kein
Sommergetreide mehr an, weil der Regen zur Saatzeit
immer häufiger ausfällt. Im Trockenjahr 2003 lag der
Weizenertrag im Bundesdurchschnitt wetterbedingt
12 bis 13 Prozent unter dem erwarteten Ertrag. Immer-
hin haben Wetterextreme 470 Millionen Euro Schäden in
den vergangenen 15 Jahren in der Pflanzenproduktion
verursacht, die Hälfte davon durch Trockenheit und
Dürre. Extremwitterungsschäden aber werden in der Re-
gel nur bei Hagel durch Versicherungen abgedeckt. Das
sind nur 20 Prozent aller Schäden, und nur 60 Prozent
der Anbaufläche sind überhaupt gegen Hagel versichert,
weil sich die Betriebe das leisten wollen und können.
Eine Mehrgefahrenversicherung gibt es nicht. Und das
in Zeiten, in denen man sich sogar gegen das Verpassen
der Champions-League-Teilnahme versichern kann. Und
bezahlbar wäre sie auch nur mit öffentlichen Zuschüs-
sen, die vermutlich eher in die Taschen der Versicherer
umgeleitet werden.
Viertens. Klimaveränderungen und weltweite Waren-
ströme erhöhen den Schädlingsdruck. Aktuell bereitet
zum Beispiel die Einschleppung der aus Japan stammen-
den Kirschessigfliege vielen Obstbauern und Winzern
Sorgen. Auch der Rapsglanzkäfer profitiert von wärme-
ren Wintern und trockenen Frühjahren.
Diese Liste der aktuell neuen oder steigenden Risi-
ken, auf die sich Landwirtschaft, Gartenbau und Baum-
schulen einstellen müssen, ließe sich beliebig fortsetzen.
Natürlich steigen nicht nur die Risiken, es gibt auch
Chancen. Die Sojabohne bekommt auch in Mitteleuropa
eine Chance, und auch die Rotweinsorten Merlot oder
Cabernet Sauvignon dürften profitieren.
Aber auch das heißt für die Betriebe in der Konse-
quenz, dass sie sich neuen, schwieriger werdenden na-
türlichen und gesellschaftlichen Bedingungen stellen
müssen, und wir sollten sie dabei unterstützen. Dabei
geht es uns vor allem um die Sicherung der öffentlichen
Interessen, denn hier geht es – anders als in Industrie und
Handwerk – um unsere Lebensgrundlage Nahrung und
Natur.
Die Linke will kein Rundum-sorglos-Paket für die
Landwirtschaft, sondern wir wollen eine Unterstützung
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10541
(A) (C)
(D)(B)
bei der Vorsorge statt große staatliche Hilfsprogramme,
wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Rolle als
Wohltäter in der Not mag für manchen vielleicht verfüh-
rerisch sein. Vernünftiger und nachhaltiger ist es aber,
die Betriebe dabei zu unterstützen, gar nicht erst in diese
Lage zu kommen. Die Finanzpolitikerinnen und -politi-
ker meiner Fraktion haben verstanden, dass das mittel-
und langfristig sogar Geld sparen kann. Deshalb kann
man unserem Antrag eigentlich nur zustimmen.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Fraktion Die Linke hat anscheinend ihr Herz
für die Agrarindustrie entdeckt. Nur so kann ich mir er-
klären, warum sie ordnungspolitisch derart verfehlt eine
neue steuerliche Sonderregelung fordert, von der in ers-
ter Linie die Agrargroßbetriebe profitieren. Die bäuerli-
che Landwirtschaft und dort die kleineren und mittleren
Betriebe hätte wohl wenig von diesem Vorschlag einer
steuerfreien Risikoausgleichsrücklage, der – und das ist
nicht unschwer zu erkennen – ursprünglich einmal aus
der Feder des Deutschen Bauernverbandes stammt.
Dazu frage ich mich, wie das geforderte Steuerge-
schenk gleichzeitig gegen unwetterbedingte Ernteaus-
fälle, die Folgen des Freihandelsabkommens TTIP oder
vermehrt auftretende Tierseuchen helfen soll, wie es zu-
mindest in der Begründung des Antrags nachzulesen ist.
Allein aus dieser Aufzählung können Sie schließen, was
an dem Vorschlag der Fraktion Die Linke falsch ist: Er
ist alles andere als zielgenau.
Gegen Unwetterschäden können sich landwirtschaftli-
che Betriebe versichern, dazu gab es in der Vergangenheit
durchaus stärkere Anreize, etwa über starke Ermäßigun-
gen bei der Versicherungsteuer auf Mehrgefahrenversi-
cherungen. Außerdem gibt es immer wieder Hilfen von
Bund und Ländern, die etwa die Folgen sehr starker
Unwetter abfedern; die Unterstützungen im Rahmen der
Beseitigung der Schäden durch das Elbehochwasser ha-
ben das gezeigt.
Wer negative Folgen aus Freihandelsabkommen ver-
hindern will, muss an dieser Stelle klar benennen, was er
will. Bei TTIP sind wir uns mit der Fraktion Die Linke ja
einig, dass zum Beispiel Konkurrenz durch gentechnisch
veränderte Industrielebensmittel kein Weg ist, den freien
Handel im atlantischen Raum zu verbessern. Dagegen
wehren wir uns. Und wir organisieren damit den Wider-
stand gegen TTIP, eine Einfuhr von gentechnisch
veränderten Futtermitteln, und betreiben damit die Ur-
sachenbekämpfung an der Quelle. Eine steuerfreie Risi-
korücklage aber hat nun wirklich gar nichts mit dem
Thema Freihandel zu tun.
Und zuletzt die Tierseuchen: Das Problem an dieser
Stelle ist ganz eindeutig unsere Art der Fleischproduk-
tion, die immer weiter expandiert und auf Massentierhal-
tung setzt. Hier kämpfen wir gegen eine Ausweitung
dieser Form des „Immer-Mehr“. Auch hier muss es da-
rum gehen, die Quelle des Übels zu bekämpfen und
nicht die möglichen negativen Auswirkungen. Die steu-
erfreie Risikoausgleichsrücklage macht auch hier keinen
Sinn, außer dass vorwiegend Großbetriebe ein bisschen
weniger Steuern zahlen werden.
Nicht zuletzt will ich den bürokratischen Aufwand
einer solchen steuerlichen Risikoausgleichsrücklage
benennen. Beklagen sich nicht die Landwirte – in vielen
Fällen aus gutem Grund – über den Aufwand gerade
auch im steuerlichen Bereich. Hier sollten wir weniger
statt mehr machen!
Ich kann es an dieser Stelle kurz machen: Ihr Vor-
schlag ist schlicht nicht geeignet, um die durchaus vor-
handenen Probleme in der Landwirtschaft zu lösen. Und
dazu ist er ordnungspolitisch falsch. Das wiegt bei wei-
tem nicht die Vorteile auf, die für einige wenige land-
wirtschaftliche Betriebe mit der Steuerrücklage erreicht
werden könnten. Deswegen lehnen wir den Vorschlag
ab.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie über alternative
Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten
und zur Durchführung der Verordnung über
Online-Streitbeilegung in Verbraucherangele-
genheiten (Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Die
Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beile-
gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Än-
derung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der
Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L165 vom 18.6.2013,
S.63) verpflichtet die Mitgliedstaaten in Artikel 25, bis
zum 9. Juli 2015 die Rechtsvorschriften zu erlassen, die
erforderlich sind, um der Richtlinie 2013/11/EU nachzu-
kommen. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaa-
ten dafür sorgen, dass Verbrauchern bei Streitigkeiten
mit Unternehmern außergerichtliche Streitbeilegungs-
stellen zur Verfügung stehen. Die Verpflichtung bezieht
sich auf Streitigkeiten aus „Kaufverträgen“ oder
„Dienstleistungsverträgen“ im Sinne der Richtlinie
2013/11/EU.
Die Streitbeilegungsstellen müssen bestimmte Anfor-
derungen zu Fachwissen, Unparteilichkeit, Unabhängig-
keit und Transparenz und zum Ablauf des Streitbeile-
gungsverfahrens erfüllen. Die Einhaltung der
Anforderungen ist durch staatliche Stellen zu prüfen.
Zudem sieht die Richtlinie 2013/11/EU die Verpflich-
tung von Unternehmern vor, Verbraucher über die zu-
ständige Streitbeilegungsstelle zu informieren und sich
bei der Ablehnung einer Verbraucherbeschwerde da-
rüber zu erklären, ob sie zur Durchführung eines Streit-
beilegungsverfahrens bereit sind.
Artikel 7 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 22 Ab-
satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 524/2013 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über
die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkei-
ten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/
2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 165 vom
18.6.2013, S. 1) verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum
10542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
9. Juli 2015 eine Kontaktstelle zu benennen, die als in-
nerstaatliche Anlaufstelle für Verbraucher, Unternehmer
und Streitbeilegungsstellen in grenzübergreifenden Kon-
flikten aus online geschlossenen Verträgen zur Verfü-
gung steht.
Die Europäische Kommission wird eine internetge-
stützte Plattform mit einer Datenbank der anerkannten
Streitbeilegungsstellen in der Europäischen Union ein-
richten. Die deutsche Kontaktstelle soll den Zugang zu
der Schlichtungsplattform erleichtern.
Zweitens. Die Richtlinie über alternative Streitbeile-
gung in Verbraucherangelegenheiten bietet den Mit-
gliedstaaten eine Chance für die konsensuale Streitbeile-
gung in Verbraucherangelegenheiten, die grundsätzlich
auch von der Justiz als unterstützenswert angesehen
wird, ein für alle Beteiligten sinnvolles, sachgerechtes
und bedarfsorientiertes Konzept zu entwickeln.
Ziel der Umsetzung der Richtlinie kann es nicht sein,
ein aus Steuermitteln finanziertes Parallelsystem zu den
Gerichten zu schaffen. Vielmehr sollten primär die Vor-
teile nichtförmlicher Verfahren, größerer Flexibilität
nicht streng rechtsorientierter Lösungen und hoher Spe-
zialisierung der alternativen Streitbeilegungsstellen be-
darfsorientiert und daher branchenspezifisch nutzbar ge-
macht werden. Somit könnten sowohl Verbraucherinnen
und Verbraucher als auch die Unternehmen davon profi-
tieren. Dies stellt eine gemeinsame Aufgabe einerseits
der Wirtschaft, des Verbraucherschutzes und der Justiz
und andererseits von Bund und Ländern dar, die eine
enge Abstimmung der Beteiligten erfordert.
Ziel der Umsetzung muss es sein, dass in vielen Be-
reichen bereits vorhandene Schlichtungsangebot zu er-
halten und soweit erforderlich an die Anforderungen der
Alternativen-Streitbeilegungs-Richtlinie anzupassen. In
den Bereichen, in denen noch kein Schlichtungsangebot
besteht, sollten branchenspezifische und möglichst bun-
deseinheitliche Schlichtungsstellen geschaffen werden,
die zumindest auch von der Wirtschaft mitgetragen wer-
den sollten. Die nur durch branchenspezifische und bun-
deseinheitliche alternative Streitbeilegungsstellen zu er-
reichende Spezialisierung der Streitmittler wird eine
hohe Akzeptanz sowohl bei Verbraucherinnen und Ver-
brauchern als auch bei Unternehmen fördern. Die dann
noch zu schaffende Auffangschlichtungsstelle sollte ei-
nen engen Anwendungsbereich haben, bundeseinheitlich
tätig sein und in Bundeszuständigkeit geschaffen wer-
den. Nur so kann die erforderliche Fallzahl erreicht wer-
den, um innerhalb der Stelle Möglichkeiten der Speziali-
sierung zu schaffen und die Fallkosten im Rahmen zu
halten. Ferner kann nur eine einheitliche Stelle den für
eine sinnvolle Aufgabenerledigung nötigen Bekannt-
heitsgrad erreichen.
Mit der Verabschiedung des Mediationsgesetzes ha-
ben wir in der vergangenen Legislaturperiode die richti-
gen Weichen gestellt, die Mediation in Deutschland zu
fördern. Leider steht der Erlass der Mediationsausbil-
dungsverordnung immer noch aus. Hier wird das Bun-
desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
aber sicher bald eine Lösung vorstellen.
Wir müssen aber darauf achten, dass wir nicht zu
viele Parallelstrukturen schaffen. Für die Verbraucherin-
nen und Verbraucher muss klar sein, an welche Stelle Sie
sich wenden können. Es darf keinen Streitbeilegungs-
dschungel geben. Insbesondere sollten die bereits vor-
handenen guten Mediatorinnen und Mediatoren in ihrer
Arbeit weiter gestärkt werden.
Drittens. Im Gegensatz zum Referentenentwurf wer-
den unter anderem Verfahrensrechte von Verbrauchern
und Unternehmern angeglichen. Der Referentenentwurf
sah ein starkes Ungleichgewicht der Verfahrensrechte
zulasten von Unternehmern vor. Unternehmer sollen nun
richtigerweise, etwa ebenso wie Verbraucher, jederzeit
berechtigt sein, das Verfahren abzubrechen.
Keine Gleichbehandlung erfahren Unternehmer jedoch
nach wie vor hinsichtlich der Gebührenlast. Während die
Verfahrensbeteiligung für Verbraucher grundsätzlich kos-
tenlos ist, sollen Unternehmer mit unverhältnismäßig
hohen Verfahrensgebühren die Finanzierung der ADR-
Stellen sicherstellen. Wenn der Unternehmer 190 Euro
zu zahlen hat, obwohl der Streitwert lediglich bis zu
100 Euro beträgt, ist ersichtlich, dass ADR-Verfahren
für Unternehmer unwirtschaftlich sind und in der Praxis
keine Akzeptanz finden werden.
Auch hinsichtlich der Umsetzungsverantwortung be-
steht nach wie vor Handlungsbedarf. Es steht außer
Frage, dass die Verantwortung zur Einrichtung von
ADR-Stellen nicht allein der Wirtschaft auferlegt wer-
den darf.
Verbraucherschutz ist von allgemeinem Interesse und
kann deshalb nicht einseitig von Unternehmen, Wirt-
schaftsverbänden oder öffentlichen Einrichtungen der
gewerblichen Wirtschaft getragen werden. Handwerks-
organisationen beispielsweise haben den gesetzlichen
Auftrag, die Interessen des Handwerks und der Hand-
werksbetriebe zu vertreten. Die Finanzierung von ver-
braucherschützenden ADR-Verfahren mit Beitragsmit-
teln der Handwerksbetriebe wäre insoweit zweckwidrig.
Ähnliches gilt für andere Verbände.
Die im Referentenentwurf noch eindeutig zum Aus-
druck gebrachte Intention, unter anderem die Selbstver-
waltungskörperschaften in die Pflicht zur Einrichtung
von ADR-Stellen zu nehmen, findet sich im Gesetzent-
wurf der Bundesregierung nicht mehr explizit wieder.
Um Rechtssicherheit zu schaffen, sollte aber eine ent-
sprechende Klarstellung erfolgen, dass die Kammern
und Innungen hierzu auch nicht verpflichtet werden dür-
fen.
Ebenso wie der Referentenentwurf überträgt auch der
Gesetzentwurf den Ländern die Verantwortung, ein flä-
chendeckendes Angebot an ADR-Stellen zu gewährleis-
ten, wenn sich nicht genügend freiwillige Träger finden.
Hier ist zu prüfen, ob die Schaffung einer einzigen, bun-
desweit zuständigen Universalschlichtungsstelle nicht
personell und finanziell leichter umzusetzen wäre.
Letztlich ist auch zu fragen, ob die Einführung einer
Schutzgebühr hilfreich wäre. Hier könnte ein kleiner Be-
trag in Höhe von etwa 50 Euro dafür sorgen, dass die Ef-
fizienz der Schlichtungsstellen auf Dauer erhalten bleibt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10543
(A) (C)
(D)(B)
Die Missbrauchsgebühr wird sicher nur in den seltensten
Fällen Anwendung finden und daher zu keiner Entlas-
tung führen.
Viertens. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält be-
reits viele begrüßenswerte Regelungen. In den anstehen-
den parlamentarischen Beratungen werden wir sicher
noch diskutieren und verändern müssen. Ich bin aber da-
von überzeugt, dass wir so zu einem guten Gesetzesab-
schluss finden werden.
Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Das Leitbild un-
serer Verbraucherschutzpolitik ist der Verbraucher auf
Augenhöhe, auf Augenhöhe mit der Wirtschaft und den
Dienstleistern. Wenn wir die Verbraucher befähigen, im
Binnenmarkt zu agieren, und mit entsprechenden Rech-
ten ausstatten, dann müssen sie diese Rechte auch durch-
setzen können.
Ein Weg ist das gerichtliche Verfahren als klassische
Form der Rechtsdurchsetzung. Es gibt aber auch noch
einen anderen Weg. Die USA und Kanada zeigen, dass
die außergerichtliche Streitbeilegung gut funktionieren
kann.
Bevor ich hier in den Bundestag gekommen bin,
durfte ich als Europaabgeordnete miterleben, wie die
Richtlinie über die alternative Streitbeilegung in Ver-
braucherangelegenheiten entstanden ist. Und ich glaube,
dass uns mit dieser Richtlinie etwas Zukunftsweisendes
gelungen ist. Denn die Richtlinie ermöglicht eine einfa-
che, schnelle, kostengünstige und effektive Art der Bei-
legung von Streitigkeiten. Und sie orientiert sich an der
Lebenswirklichkeit, indem sie den Onlinehandel mit ein-
schließt.
Aktuell haben wir den Entwurf für das Verbraucher-
streitbeilegungsgesetz vorliegen. Die Frist für die Um-
setzung der EU-Richtlinie endet am 9. Juli. Es besteht
kein Zweifel daran, dass wir es nicht schaffen werden,
fristgerecht umzusetzen. Daher möchte ich an Sie appel-
lieren: Lassen Sie uns dieses Gesetz ordentlich diskutie-
ren, offene Fragen klären und Baustellen beseitigen. Ein
paar Wochen mehr oder weniger sollten nun auch keine
Rolle mehr spielen.
Eine strittige Frage betrifft die Kostenverteilung. Ver-
braucher können sich laut Gesetzentwurf direkt und vor
allem kostenfrei an die einzurichtenden Schlichtungs-
stellen wenden. Nur wenn die Verbraucherin oder der
Verbraucher das Verfahren missbräuchlich in Anspruch
genommen hat, soll sie oder er zur Kasse gebeten wer-
den. Von den Unternehmen hingegen wird ein angemes-
senes Entgelt eingefordert. An dieser Stelle werden wir
noch einmal diskutieren müssen, ob der Wirtschaft die
alleinige Kostenverantwortung aufgebürdet wird. Bei
Universalschlichtungsstellen fallen Gebühren von bis zu
380 Euro für die einzelnen Betriebe an. Dies birgt das
Risiko, dass die außergerichtliche Streitschlichtung unat-
traktiv für die Betriebe wird, zumal die Betriebe nicht
verpflichtet sind, am Schlichtungsverfahren teilzuneh-
men. Die alternative Streitbeilegung funktioniert aber
nur, wenn sie von den Betrieben angenommen wird und
möglichst viele Verbraucherstreitigkeiten über dieses In-
strument abgewickelt werden. Auch gebe ich zu beden-
ken, dass mit einer einseitigen Finanzierung durch die
Wirtschaft die Prinzipien der alternativen Streitbeile-
gung, nämlich die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit
sowie Transparenz und Fairness, infrage gestellt werden
könnten.
Längst haben sich auch bei uns Alternativen zum
klassischen gerichtlichen Verfahren etabliert. Ich denke
hier zum Beispiel an die Ombudsleute, die schon heute
von einigen Branchen, wie Banken, Energieversor-
gungsunternehmen oder Versicherungen, auf freiwilliger
Basis eingerichtet wurden. Auch die Kammern bieten
kostenfreie Schlichtungsverfahren zwischen Kammer-
mitgliedern und den Verbrauchern an. In der letzten Le-
gislaturperiode wurde das Mediationsgesetz auf den
Weg gebracht. Allerdings ist es bislang nicht gelungen,
eine Ausbildungsordnung für die Schlichter zu verab-
schieden.
Sie sehen, die Vielfalt der offenen Fragen ist groß. Ich
würde mir wünschen, dass wir das Verbraucherstreitbei-
legungsgesetz auch dazu nutzen, diese Vielfalt zu sortie-
ren und zu harmonisieren. Damit ist nicht nur den Ver-
brauchern geholfen, sondern auch der Wirtschaft.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Ich begrüße, dass
jede Verbraucherin und jeder Verbraucher zukünftig in
allen Branchen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – Zu-
gang zu einer Schlichtungsstelle bekommen und damit
die Chance besteht, dass es für sie/ihn im konkreten
Streitfall eine schnelle, kostenlose und unbürokratische
Lösung geben kann.
Erinnern Sie sich? An gleicher Stelle haben wir in der
letzten Wahlperiode über die Einführung einer Schlich-
tungsstelle im Luftverkehr gestritten. Lange wollten die
großen Airlines da nicht mitmachen. Und an der bereits
bestehenden Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
sonenverkehr, söp, wollten sie sich gleich gar nicht be-
teiligen. Inzwischen haben sich die Wellen geglättet,
viele Airlines arbeiten nun doch mit der söp zusammen,
und die konnte im Jahr 2014 allein im Bereich Flug etwa
3 500 Fälle abschließen. Na also!
Dank der EU-Richtlinie über die alternative Beile-
gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten müssen wir
heute nicht über die Frage, ob wir alternative Streit-
schlichtung einführen wollen, diskutieren. In dem Fall
war die EU einen Schritt schneller: Die EU-Mitglied-
staaten müssen dafür sorgen, dass Verbrauchern bei
Streitigkeiten mit Unternehmen, die aus Kaufverträgen
bzw. Dienstleistungsverträgen entstehen, außergerichtli-
che Streitbeilegungsstellen zur Verfügung stehen.
Leider mauert diesmal wieder ein Großteil der Wirt-
schaft. Schade! Warum orientieren sie sich nicht an den
erfolgreichen Modellen der Banken, Versicherer und
Verkehrsunternehmen? Schnell, unbürokratisch und kos-
tengünstig Lösungen im Streitfall zu finden, motiviert in
der Regel Kunden eher, dem Unternehmen treu zu blei-
ben, als eine Klärung der Streitigkeiten durch das Ge-
richt oder eine Auffangschlichtungsstelle.
10544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
Um entsprechendes Vertrauen für die Beteiligung an
einer Schlichtung sowohl bei den Verbrauchern als auch
bei den Unternehmen aufzubauen, muss natürlich ge-
währleistet sein, dass die Streitmittler unabhängig sind,
über entsprechende Rechtskenntnisse verfügen und die
Schlichtungsstellen selbst durch die zuständige Behörde
anerkannt und regelmäßig überprüft werden. Bei Letzte-
rem habe ich allerdings meine Zweifel, wenn ich sehe,
wie verschieden die einzelnen Bundesländer die Lebens-
mittelkontrolle durchführen.
Besondere Aufmerksamkeit bei Umsetzung der ADR-
Richtlinie verdient meiner Meinung nach der elektroni-
sche Geschäftsverkehr. Der sogenannte Onlineschlichter,
eine hierauf spezialisierte Schlichtungsstelle, sollte da-
her – wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung an-
gekündigt – bundesweite Zuständigkeit bekommen. Da
über das Internet alle möglichen Arten von Kauf- und
Dienstleistungsverträgen zwischen Unternehmern und
Verbrauchern abgeschlossen werden, scheint der Online-
schlichter auch besonders geeignet, die Aufgabe einer
Universalschlichtungsstelle nach § 29 des Regierungsent-
wurfs zu übernehmen – das heißt die sektorübergreifend
zuständig ist, sofern es keine speziellere Schlichtungs-
stelle gibt. Ich verweise hier auf die guten Erfahrungen
beim Onlineschlichter des Europäischen Verbraucher-
zentrums in Kehl.
Ein Problem sehe ich allerdings im Gesetzentwurf
noch nicht gelöst. Die Ansprüche der Verbraucher dür-
fen während des Schlichtungsverfahrens nicht verjähren.
Hier unterstütze ich voll und ganz die Forderung des
vzbv.
Mein Fazit: Der Grundgedanke, einen Zugang zu
Schlichtungsstellen für jeden in jeder Branche zu schaf-
fen, ist gut. Ich möchte, dass sich eine Schlichtungskul-
tur in Deutschland durchsetzt. Lassen Sie uns gemein-
sam den guten Entwurf im Sinne der Verbraucherinnen
und Verbraucher verbessern.
Dennis Rohde (SPD): Die außergerichtliche
Schlichtung ist in Deutschland bereits seit Jahrzehnten
ein Erfolgsmodell. Sie sorgt dafür, dass Konflikte ent-
schärft werden können, statt zu eskalieren – und entlastet
durch die einvernehmliche Lösung von Streitigkeiten
unsere Gerichte. Zudem bieten Schlichtungsstellen eine
Streitbeilegung, die oft günstigere und schnellere Ergeb-
nisse erbringt als der klassische Rechtsweg. Es über-
rascht daher kaum, dass es neben den traditionellen
Schiedsämtern eine zunehmende Zahl von Schlichtungs-
stellen gibt, die Verbraucher und Unternehmer an einen
Tisch bringen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
diese Entwicklung vorantreiben. Mit der Umsetzung der
EU-Richtlinie zur alternativen Streitbeilegung sorgen
wir dafür, dass jede Verbraucherin und jeder Verbraucher
in Deutschland Zugang zu einer Schlichtungsstelle er-
hält. Das erreichen wir, indem wir verbindliche Stan-
dards für bestehende, etwa von Branchenverbänden ge-
tragene Schlichtungsstellen setzen – und durch die
Länder dort ergänzende Universalschlichtungsstellen
einrichten, wo das Angebot noch nicht ausreichend ist.
Wichtig ist dabei, dass wir die Gerichte entlasten und
ihre Arbeit ergänzen wollen – nicht aber Parallelstruktu-
ren aufbauen. Der Rechtsweg steht jederzeit offen, einen
Ausschluss des Gangs zu regulären Gerichten in den
Verfahrensordnungen der Schlichtungsstellen verbieten
wir ausdrücklich. Zugleich setzen wir konsequent auf
Einigung und guten Willen – und deswegen auf Freiwil-
ligkeit: Weder Verbraucher noch Unternehmer werden
gezwungen, teilzunehmen, und eine Beendigung des
Schlichtungsverfahrens oder eine Ablehnung des
Schlichtungsvorschlags steht den Parteien jederzeit frei.
Die Teilnahme an einem Schlichtungsverfahren soll
für die Verbraucherinnen und Verbraucher kostenlos
sein. Dennoch werden die laufenden Kosten zu einem
großen Teil durch Einnahmen durch Gebühren gedeckt:
Für Schlichtungsverfahren an den behördlichen Univer-
salschlichtungsstellen zahlen die Unternehmen nämlich
eine nach dem Streitwert gestaffelte Gebühr. So wollen
wir auch einen Anreiz setzen, zügig zur Anerkennung
der Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern
zu kommen.
Unternehmen müssen künftig auf ihrer Homepage
und in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auswei-
sen, ob sie an der Schlichtung teilnehmen. Damit kann
jeder klar sehen, ob ein Unternehmen Verbraucherrechte
ernst nimmt und Vertrauen verdient – oder eben nicht.
Durch diese Regelung zur Transparenz wollen wir errei-
chen, dass die Bereitschaft zur Schlichtung auch zum
Wettbewerbsfaktor zwischen den Unternehmen wird –
damit es für Unternehmen ein Vorteil wird, mehr für
Verbraucherrechte zu tun.
Transparenz wollen wir auch in den Schlichtungsstel-
len selbst erreichen. In ihren jährlichen Tätigkeitsberich-
ten müssen die Schlichter aufzeigen, welche Art von
Verträgen oft zu Verfahren führt – und damit, welche
Geschäftsmodelle tendenziell öfter problematisch oder
konfliktträchtig sind. So bauen wir das Netzwerk der
Marktbeobachtung aus und gehen konsequent den Weg
weiter, den wir mit dem Aufbau der Marktwächter ein-
geschlagen haben. Denn je mehr Transparenz auf den
Märkten herrscht, desto besser funktionieren sie im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Das parlamentarische Verfahren steht mit der heuti-
gen ersten Lesung erst am Anfang. Im Austausch mit
Verbraucherschützern, Branchenverbänden und den
Ländern wollen wir nun die Einzelheiten des Gesetzent-
wurfs erörtern und die Meinung der Experten einholen.
Dem sehe ich persönlich freudig entgegen. Mit dem hier
vorgestellten Gesetzentwurf ist ein großer Schritt dazu
getan, die Schlichtung in Deutschland weiter voranzu-
bringen und so bessere Voraussetzungen zur Durchset-
zung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher
zu schaffen.
Caren Lay (DIE LINKE): Die Idee ist ja grundsätz-
lich nicht schlecht: Statt bei einem Streit mit einem Un-
ternehmen erst immer den komplizierten und langwieri-
gen Rechtsweg beschreiten zu müssen, soll es bald ein
unbürokratisches und online durchführbares Schlich-
tungsverfahren geben. Viele Verbraucherinnen und Ver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10545
(A) (C)
(D)(B)
braucher lassen es bekanntermaßen auf sich beruhen, ge-
rade wenn es sich nicht um gravierende Fehler seitens
der Unternehmen handelt. Eine Klage wird laut aktuel-
len Studien oftmals erst ab einem Wert von 2 000 Euro
angestrebt. Eine gerichtliche Klage kostet Zeit, Nerven
und auch Geld. Klar, dass die Unternehmen auch darauf
spekulieren. Nicht selten wird sogar mit Angriff auf Be-
schwerden reagiert, wenn Kundinnen und Kunden bei-
spielsweise Geld einbehalten. Dann wird anstatt mit Ko-
operation mit einschüchternden Inkassobriefen oder gar
im Streitfall der Kündigung einer wichtigen Dienstleis-
tung reagiert und darauf gesetzt, dass die Verbraucherin-
nen und Verbraucher einfach aufgeben.
Leider war es mal wieder nicht die Idee der Bundesre-
gierung, ein Schlichtungsgesetz vorzulegen, sondern es
handelt sich um die Umsetzung einer EU-Richtlinie.
Und leider ist die Idee auch nur grundsätzlich gut,
denn sie hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler:
Die Umsetzung ist für die Unternehmen völlig freiwillig
und mal wieder eine der berühmten Selbstverpflichtun-
gen, welche die Bundesregierung gerne mal als angebli-
chen Handlungsnachweis erlässt. Das kennen wir ja bei-
spielsweise aus dem Hause Maas schon von anderen
Vorhaben, beispielsweise den Dispozinsen, wo Sie auf
Warnhinweise statt auf Deckelung setzen wollen. Das
Muster schleift sich scheinbar bei Ihnen ein.
Dahin gehend ist es auch heuchlerisch, dass die Wirt-
schaft sich jetzt darüber beklagt, dass sie selbst die Kos-
ten der Schlichtungen grundsätzlich übernehmen soll
und nur im Falle von Missbräuchlichkeit maximal
30 Euro Kosten auf die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher zukommen werden. Denn: Sie brauchen ja gar nicht
mitzumachen.
Welchen Anreiz haben die Unternehmen, freiwillig an
einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen? Wenn sie
sich sicher sind, dass sie gewinnen, werden sie sowieso
immer den juristischen Weg gehen. Maximal interessant
wäre so ein Verfahren für die Unternehmen, wenn sie ei-
nem öffentlichkeitswirksamen Verfahren aus dem Weg
gehen können, um einen Imageschaden zu vermeiden.
Das kann aber bereits heute schon durch ein Kulanzan-
gebot seitens der Unternehmen ausgeglichen werden.
Es gibt bereits einige branchenbezogene Schlich-
tungsstellen wie zum Beispiel die Schlichtungsstelle der
Fahrgastbranche oder der Versicherungsunternehmen.
Die Teilnahme daran ist für das Unternehmen verpflich-
tend. Dies haben sich die Unternehmen nicht selbst aus-
gedacht oder im Rahmen der berühmten freiwilligen
Selbstverpflichtung umgesetzt. Auch diese Schlich-
tungsstellen musste man zum Jagen tragen. Warum sollte
dies bei anderen Unternehmen anders sein? Werden, was
zu erwarten ist, nicht ausreichend Schlichtungsstellen
von privater Seite eingerichtet, haben die Bundesländer
regionale Auffangschlichtungsstellen einzurichten. Der
geschätzte Kostenaufwand für die Länder beträgt jähr-
lich circa 4,919 Millionen plus einem Einmalaufwand
von 9 Millionen. Da die Teilnahme der Unternehmen
freiwillig ist, wird entgegen der Vermutung in dem Ge-
setzentwurf kaum von einem nennenswerten Rückfluss
aus Teilnahmegebühren und schon gar nicht von einer
kostendeckenden Gebührenfinanzierung auszugehen
sein. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Länder, die
die personelle und sachliche Ausstattung der Auffang-
schlichtungsstellen vorzufinanzieren haben, schlicht
wieder einmal Geld verbrennen. Wie soll so halbherzig
das Vertrauen in den Binnenmarkt gestärkt werden?
Außerdem vergessen Sie hier eine nicht unwichtige
Zielgruppe: Die Nonliner, also Menschen ohne Internet
oder Internetaffinität. Gerade ältere Menschen werden
von einer Onlineschlichtung, wenn sie denn stattfindet,
nicht profitieren.
Sie haben es in der Hand, ein wirksames Gesetz zu
verabschieden – wenn Sie nachbessern und vor allem die
Freiwilligkeit aus diesem Entwurf streichen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
vorliegende Gesetzentwurf für das Verbraucherstreitbei-
legungsgesetz, VSBG, setzt eine EU-Richtlinie um. Das
ist gut so, denn die Vorteile von Schlichtung liegen auf
der Hand. Einige davon möchte ich hier kurz benennen:
Schlichtungen können im Vergleich zu Gerichtsver-
fahren Zeit und Geld sparen; sie werden in der Regel zü-
gig abgewickelt und sind mit keinen oder nur geringen
Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher ver-
bunden. Es besteht eine realistische Chance für eine güt-
liche Einigung. Man kann die Schlichtung auch im Falle
eines geringen Streitwertes nutzen, bei dem Verbrauche-
rinnen und Verbraucher den Gang zum Gericht eher
scheuen würden. Außerdem bleibt die Vertraulichkeit
von privaten und geschäftlichen Angelegenheiten ge-
wahrt, wenn eine öffentliche Gerichtsverhandlung ver-
mieden wird.
Es gibt derzeit rund 60 000 Streitbeilegungsanträge
von Verbraucherinnen und Verbrauchern bei den beste-
henden Schlichtungsstellen in den Bereichen Versiche-
rung, Energieversorgung, öffentlicher Personenverkehr,
Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. Das
zeigt, dass die Schlichtung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher durchaus eine Alternative zu den wesentlich
aufwendigeren Gerichtsverfahren darstellen kann.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass die alternative
Verbraucherstreitbeilegung hohen Standards unterliegt,
damit Schlichtung zu einem Erfolgsmodell werden kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf hat hier noch erhebli-
chen Nachholbedarf. Folgende Punkte bedürfen meiner
Meinung nach einer Überarbeitung:
Erstens: Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit
von Schlichtungsstellen sind die wichtigste Vorausset-
zung, damit das niedrigschwellige Instrument der
Schlichtung von den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern auch akzeptiert und angenommen wird. Deshalb
müssen die Beteiligungsrechte klarer definiert sein. Ver-
braucherverbände sollten die gleichen Beteiligungs-
rechte erhalten wie Branchenverbände.
Zweitens: Der Gesetzentwurf setzt auf die Freiwillig-
keit der Unternehmen. Wenn sich in Deutschland die
Schlichtung als Alternative zum Gerichtsgang etablieren
soll, müssen auch möglichst viele Unternehmen mitma-
10546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
chen. Bisher sieht der Gesetzentwurf das aber nicht vor,
denn Unternehmen müssen sich keiner Schlichtung un-
terwerfen.
Besser wäre es, wenn sich Unternehmen in Wirt-
schaftsbereichen, in denen dies besonders relevant ist,
wie zum Beispiel im Telekommunikationsbereich, einer
Branchenschlichtungsstelle anschließen müssten, damit
eine hohe Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit gewähr-
leistet ist.
Vorbild könnten bereits existierende und gut funktio-
nierende Branchenschlichtungsstellen sein wie beispiels-
weise die Schlichtungsstelle des öffentlichen Personen-
verkehrs, söp. Eine solche Form eines unabhängigen
Trägervereinsmodells hätte zudem den Vorteil, dass sie
paritätisch von Verbraucher- und Wirtschaftsvertretern
besetzt wäre.
Ich frage mich, wie die Bundesregierung die Unter-
nehmen in Zukunft auf freiwilliger Basis überhaupt dazu
bewegen will, weitere Schlichtungsstellen einzurichten.
Drittens: Auch die vorgesehene Lösung von Univer-
salschlichtungsstellen auf Länderebene ist kontrapro-
duktiv, denn wir brauchen branchenspezialisierte
Schlichter. Hier hätte die Bundesregierung eine bundes-
weite Auffangschlichtung vorsehen sollen, damit sich
bundesweite Branchenlösungen durchsetzen können, an-
statt die Verantwortung den Ländern zuzuschieben.
Vierter Punkt: Schlichtung kann eine Rechtsprechung
nicht ersetzen und darf sie auch nicht gefährden. Bisher
haben die Schlichtungsstellen nur Berichtspflichten ge-
genüber den zuständigen Aufsichtsbehörden. Es ist je-
doch wichtig, dass die Schlichtungsstellen ihre Entschei-
dungen – selbstverständlich unter Wahrung des
Anonymitätsgrundsatzes – möglichst transparent ma-
chen. Denn nur so können die Verbraucherverbände ihre
Klagebefugnis wahrnehmen, wenn Schlichtungsverfah-
ren nicht weiterführen, noch offene Rechtsfragen beste-
hen oder Verbraucherverbände Musterklagen anstreben
wollen in Fällen, bei denen wiederholt gegen Verbrau-
cherrechte verstoßen wird.
Ein weiterer relevanter Punkt ist die Qualifikation der
Schlichter. Hier brauchen wir klare Vorgaben. Damit die
Schlichtung eine ernst zu nehmende Alternative zum
Gerichtsverfahren darstellt, müssen die Schlichter auch
über einen entsprechenden juristischen Abschluss verfü-
gen.
Ich möchte abschließend ausdrücklich vor einer
Schlichtung light warnen, die bei den Verbraucherinnen
und Verbrauchern falsche Hoffnungen weckt. Wir brau-
chen hohe Anforderungen und Standards, damit sich das
Instrument der alternativen Streitbeilegung etablieren
kann und hält, was es verspricht. Dazu gehört auch die
Änderung der derzeitigen Verjährungsregelung. Ver-
braucherinnen und Verbraucher müssen sich darauf ver-
lassen können, dass Schlichtungsverfahren auch kurz
vor der Verjährung sinnvoll sind. Deshalb muss der
Schlichtungsantrag die Verjährung der Forderung hem-
men.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Zugang und Teil-
habe ermöglichen – Die Dekade für Alphabeti-
sierung in Deutschland umsetzen (Tagesord-
nungspunkt 19)
Xaver Jung (CDU/CSU): 7,5 Millionen Menschen
in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.
Seit 2010 ist diese Zahl, die die leo. – Level-One Studie
veröffentlichte, bekannt. Auch immer noch herrscht eine
große Ungläubigkeit darüber, dass 14 Prozent der er-
werbstätigen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht richtig
lesen und schreiben können. 2012 bestätigte eine weitere
Studie, PIACC, dass die Grundbildung und Lesekompe-
tenzen der Menschen in Deutschland unter dem OECD-
Durchschnitt liegen.
Knapp jeder sechste Mensch in Deutschland kann
nicht richtig lesen und schreiben? Das kann nicht sein!
Dass dieser Fakt so unbekannt ist, bestätigt einmal mehr:
Analphabetismus ist noch ein Tabuthema in unserer Ge-
sellschaft. Und viele Betroffene, die sich Vermeidungs-
strategien angeeignet haben, leben mit viel Angst, ent-
deckt zu werden.
Analphabetismus ist in unserer heutigen Gesellschaft
ein großes Problem. Aber es ist leider immer noch mit
großer Angst vonseiten der Betroffenen besetzt und wird
tabuisiert. Auch wenn das „wissende Umfeld“, also enge
Verwandtschaft und Kollegen, vielleicht Bescheid wis-
sen – wie eine Studie der Stiftung Lesen 2014 ergab –, so
wird die Alphabetisierung dennoch oftmals nicht ange-
gangen, denn zu groß ist die Scham, sich Blöße zu ge-
ben.
2012 haben sich Bund und Länder auf eine Nationale
Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Er-
wachsener geeinigt. Viele Kooperationspartner haben
sich diesem Bündnis angeschlossen und versuchen seit-
dem, die Initiativen für Grundbildung in die Breite zu
tragen und den Betroffenen zu helfen. Daraus haben sich
viele gute Kurse und Netzwerke gebildet, die bereits
jetzt schon einen wichtigen Teil des Weiterbildungs-
systems in Deutschland bilden. Auch der vom BMBF
initiierte Alphabund leistet gute Arbeit mit dem bundes-
weiten ALFA-Telefon und der Sensibilisierung der Öf-
fentlichkeit.
Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen wir aber
mehr. Wir wollen eine nachhaltige Dekade für die Al-
phabetisierung initiieren. Die Zahl der Betroffenen soll
nachhaltig reduziert werden, und die Prävention und
Sprach- und Schreibförderung soll verbessert werden.
Besonders wichtig ist die Öffnung der Gesellschaft ge-
genüber diesem Thema. Denn Analphabetismus betrifft
die ganze Gesellschaft, besonders vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung und des Fachkräfte-
mangels.
In der Dekade sollen die bestehenden Bündnisse in
die Breite getragen und weitere Allianzpartner gefunden
werden. Dies kann nur geschehen, wenn regelmäßig
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10547
(A) (C)
(D)(B)
Konferenzen zum Austausch und zur Vernetzung der
Partner stattfinden.
Wir haben die Senkung der Zahl der Analphabeten im
Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die
18. Wahlperiode festgeschrieben. Um dies nachhaltig
garantieren zu können, soll eine an das Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung angegliederte Stelle ge-
schaffen werden: Hier soll die Koordination stattfinden.
Der Bund investiert bereits insgesamt 19,5 Millionen
Euro in Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbil-
dung. Das ist viel Geld, aber es muss auch dort ankom-
men, wo es gebraucht wird. Die Koordinierungsstelle
soll die weitere strategische Arbeit erledigen wie
Schwerpunkte festsetzen, Maßnahmen fördern und die
Öffentlichkeitsarbeit betreuen. Besonders das „wissende
Umfeld“ und Arbeitgeber sollen gestärkt werden, An-
reize zu schaffen.
Gemeinsam mit den Bildungszentren und Koordinie-
rungsstellen sollen die Alphabetisierungsangebote und
besonders die personelle Ausstattung weiter erhöht
werden. Darüber hinaus soll es passgenaue, nieder-
schwellige Angebote geben, die für die Betroffenen am
Arbeitsplatz, im Alltag und familiären Umfeld auch Ver-
wendung finden können. Nur so können dauerhaft die
Teilnehmerzahlen in den Alphabetisierungskursen auch
erhöht werden. Es müssen auch andere Ressorts und
Ministerien, wie zum Beispiel das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales, und die Bundesarbeitsagenturen
mehr Unterstützung darbieten. Nur wer die Grundkom-
petenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Mathematik und
den Umgang mit Informations- und Kommunikations-
technologien auch wirklich beherrscht, kann vollum-
fänglich in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Eine weitere wichtige Arbeit dieser Koordinierungs-
stelle ist die Auswertung und das Zusammenführen der
vorliegenden Daten. In den vergangenen Jahren sind im-
mer wieder Förderschwerpunkte und Projekte durchge-
führt worden, die sich mit der Didaktik und dem
Umgang mit Analphabetismus beschäftigt haben. Nicht
zuletzt, weil hier noch Bedarf für die Praxis besteht,
müssen diese Daten weiter ausgewertet werden.
Auch um die Auswirkungen dieser Bemühungen
sichtbar zu machen, wollen wir, dass diese Daten in die
weitere Bildungsberichterstattung mit aufgenommen
werden. Wir wollen die gesamte Gesellschaft ermutigen,
sich für Alphabetisierung einzusetzen. Helfen Sie uns
dabei!
Sven Volmering (CDU/CSU): Die Boxlegende Mu-
hammed Ali hat nach seiner Karriere gesagt, dass er sein
bekanntes Gesicht unter anderem für den Kampf gegen
den Analphabetismus einsetzen möchte. Das ist jetzt
über 30 Jahre her. Ali hat viele Kämpfe alleine gewon-
nen. Beim Kampf für die Alphabetisierung brauchen wir
neben prominenten Gesichtern jedoch viele Mitstreiter
in den Kitas, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und
Betrieben. Das Erfreuliche an der heutigen Debatte ist,
dass wir uns fraktionsübergreifend einig sind, Analpha-
betismus zu bekämpfen, damit den betroffenen Men-
schen ein selbstbestimmtes Leben in und Teilhabe an
unserer Gesellschaft ermöglicht werden kann. Wenn
7,5 Millionen Menschen vom funktionalen Analphabe-
tismus betroffen sind, dann ist dies eine gesellschaftliche
Herausforderung. Es muss uns, die wir uns gerne mit
dem Ehrentitel „Volk der Denker und Dichter“ schmü-
cken, nachdenklich stimmen, dass die Lesekompetenz
der Deutschen unter dem OECD-Durchschnitt liegt.
Trotz vieler guter Maßnahmen ist Analphabetismus für
noch zu viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen
tabubehaftet. Deshalb ist es richtig, dass die Koalitions-
fraktionen mit einer Reihe von Vorschlägen eine Dekade
für Alphabetisierung und Grundbildung einfordern. Der
auch in dieser Debatte wieder von der Opposition ge-
brachte Hinweis auf das Kooperationsverbot im Schul-
bereich läuft meines Erachtens bei diesem Thema doch
ziemlich ins Leere. Natürlich ist es ein Bildungsthema,
über das wir heute debattieren. Aber die Auswirkungen
und notwendigen Maßnahmen erstrecken sich doch über
die Familien-, die Integrations-, die Wirtschafts- bis hin
zur Arbeitsmarktpolitik. Deshalb ist es sinnvoll, dass die
Themen Alphabetisierung und Grundbildung stärker als
Querschnittsaufgabe verstanden werden müssen, wobei
es gut ist, dass das BMBF die Federführung bei der
Koordinierung der entsprechenden Aktivitäten der
Ministerien erhalten soll. Genauso wichtig ist, dass die
gesellschaftlich relevanten Akteure, Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände, Kirchen, Volkshochschulen sich
noch stärker als bisher engagieren und das bestehende
Netzwerk ausgebaut wird. Wenn es gelingt, den Kampf
gegen Analphabetismus besser zu koordinieren, um die
vielfältigen Angebote bekannter zu machen, dann wer-
den auch die Teilnehmerzahlen erhöht werden. Es gibt
keine Alternative zu dem Ansatz, die Förderung der
Lese- und Schreibfähigkeit immer mit Grundbildung in
anderen Bereichen zu verbinden. Dazu müssen zwei
Punkte stärker als bisher berücksichtigt werden. Zum ei-
nen müssen die bestehenden Angebote noch stärker mit
der Lebenswirklichkeit und dem -umfeld der Betroffe-
nen verbunden werden. Zum anderen müssen wir neue
Anreize dafür schaffen, dass Kurse und Maßnahmen bis
zum Ende durchgeführt und besucht werden. Deshalb ist
es wichtig, wie im Antrag angesprochen, die Qualitäts-
debatte zu führen. Wenn die zielgruppengerechte Quali-
tät der Maßnahmen ausgezeichnet ist und als Mehrwert
angesehen wird, der dem Kursteilnehmer etwas bringt
und sogar Spaß macht, dann kommen wir ein gutes
Stückchen bei dieser Daueraufgabe weiter. Und es ist
auch ehrlich, zu sagen, dass diese Aufgabe mehr Zeit in
Anspruch nehmen wird als zwei Legislaturperioden, zu-
mal sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im-
mer ändern. Als ich mich auf diese Rede vorbereitet
habe, habe ich festgestellt, dass die Digitalisierung, drü-
cken wir es vorsichtig aus, in den Debatten der letzten
Legislaturperiode zu diesem Thema fraktionsübergrei-
fend eher eine untergeordnete Rolle spielte. Als Bericht-
erstatter für Digitale Bildung freue ich mich sehr, dass
die Bedeutung der Informations- und Kommunikations-
technologien und digitaler Medienkompetenz an ver-
schiedenen Stellen des Antrags deutlich hervorgehoben
wird. Wenn wir sagen, es ist wichtig, die Lebenswirk-
lichkeit der Menschen einzubeziehen, dann gehören
dazu selbstverständlich Aktivitäten am Arbeitsplatz, in
10548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
der Aus-, Fort- und Weiterbildung, im Mehrgeneratio-
nenhaus oder im Sportverein.
Nichtsdestoweniger müssen wir auch die Chancen
nutzen, die Blended- und Mobile-Learning-Angebote
bieten. Gerade beim Thema Analphabetismus, das bei
vielen Betroffenen mit Angst und Scham besetzt ist, weil
sie aus unterschiedlichen Gründen bislang den Zugang zur
Schrift und zum Lesen verpasst haben, bieten E-Learning-
Angebote wie ich-will-lernen.de und ich-will-deutsch-
lernen.de ausgezeichnete Möglichkeiten, zeit- und
ortsunabhängig mit über 31 000 kostenlosen Übungen zu
lernen, ohne dass man gleich immer das Gefühl haben
muss, da ist jetzt ständig einer dabei, der alle meine Feh-
ler sieht.
Bedanken möchte ich mich bei der Bundesregierung
für die wirklich sehr lesenswerte und ausführliche Be-
antwortung der Grünen-Anfrage. Es wird in beeindru-
ckender Weise dargestellt, wie viele gute Aktivitäten
bereits durchgeführt werden. Exemplarisch nenne ich
bspw. die Projekte Alpha PlusJob, ABC+ oder SESAM,
dessen NRW-Sitz in meinem Wahlkreis in Bottrop ist,
oder „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Es ist
schön, zu sehen, dass viele Länder das Bundesprogramm
„Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ mit eigenen
Maßnahmen flankieren und den alltagsintegrierten
Sprachprozess verstärken.
Besonders loben möchte ich zum Ende meiner Rede
noch einmal das Projekt Lesestart der Stiftung Lesen.
Die 26 Millionen Euro des Bundes sind wirklich sehr gut
investiertes Geld. In Dorsten, Gladbeck und Bottrop
konnte ich sehen, mit wie viel Herzblut die Stadtbiblio-
thek, die Lebendige Bibliothek, der Leseclub „anne Em-
scher“ und die Kitas St. Marien und „die Initiative“ die
Lesestart-Sets verteilen, kindgerechte Veranstaltungen
durchführen und Kindern aus allen Bevölkerungsschich-
ten Lust auf Bücher und aufs Lesen machen. Diese prä-
ventiven Maßnahmen sind eine gute Basis, auf der eine
vernünftige Lese- und Schreibförderung in den Schulen
zwingend aufbauen muss. Deshalb ist es auch richtig,
sich in dem Antrag an die Länder zu wenden.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich mich bei den
Berichterstattern Xaver Jung und Rainer Stiering für die
Erarbeitung des Antrags bedanken. Dies ist immer mit
viel Arbeit verbunden und sollte an dieser Stelle daher
auch gewürdigt werden. In diesem Sinne freue ich mich
auf die Fortführung der Diskussion im Ausschuss.
Oliver Kaczmarek (SPD): 2011 hat die leo. – Level-
One Studie der Universität Hamburg das ganze Ausmaß
des funktionalen Analphabetismus in Deutschland zum
Ausdruck gebracht. 7,5 Millionen Menschen in Deutsch-
land zwischen 18 und 64 Jahren gelten als funktionale
Analphabeten. Wir kennen nicht alle Ursachen dafür.
Aber wir wissen seitdem, dass funktionaler Analphabe-
tismus nicht nur gesellschaftliche Ränder betrifft, son-
dern bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein zu fin-
den ist. Über 56 Prozent der funktionalen Analphabeten
haben einen Beruf, Deutsch ist bei über 58 Prozent der
Betroffenen die Muttersprache, und über 70 Prozent ha-
ben einen Schulabschluss.
Deshalb eine Anmerkung gleich zu Beginn: Es ist gut,
dass die Bundesregierung entschieden hat, die leo. – Le-
vel-One Studie zu wiederholen und zu verstetigen. Es ist
nicht nur wichtig, dass wir mehr über das Ausmaß erfah-
ren, sondern auch über die Ursachen und die Kontexte
des funktionalen Analphabetismus. leo liefert unver-
zichtbares Wissen, mit dem wir politisch noch genauer
gegensteuern können.
Seit dem Alpha-Schock ist eine Menge in Bewegung
geraten. Im Jahr 2011 hat die Bundesregierung gemein-
sam mit den Ländern die Nationale Strategie für Alpha-
betisierung und Grundbildung entwickelt. Neben Bund
und Ländern sind zahlreiche weitere Verbände, Organi-
sationen und Institutionen dem Bündnis beigetreten, wie
der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Kirchen, der
Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Bundesagen-
tur für Arbeit, der Bundesverband Alphabetisierung, der
Deutsche Volkshochschul-Verband oder die Stiftung
Lesen. In die Vereinbarung der Partner der nationalen
Strategie wurden Initiativen und weiter gehende For-
schungsmaßnahmen aufgenommen. Auf regelmäßigen
Treffen hat man sich über Aktivitäten und Ergebnisse
ausgetauscht. Das Bundesbildungsministerium hat mit
weiteren Maßnahmen wie dem Förderschwerpunkt Ar-
beitsplatzorientierte Grundbildung und der öffentlich-
keitswirksamen Kampagne „Mein Schlüssel zur Welt –
Lerne Lesen und Schreiben“ den Kampf gegen Analpha-
betismus verstärkt. Mit der Einführung der Nationalen
Dekade, die die SPD im Koalitionsvertrag mit CDU/
CSU verankern konnte, geht es nun darum, die Zusam-
menarbeit zwischen den Partnern und die unterschiedli-
chen Maßnahmen stärker als bisher zu koordinieren,
weiterzuentwickeln und nachhaltig zu verankern. Dieses
Ziel spiegelt sich auch in den Haushaltsmitteln wider,
die im Laufe der Jahre erhöht wurden. 2011 lagen die
Mittel bei 5,7 Millionen Euro. 2015 wurden insgesamt
19,5 Millionen Euro eingeplant.
Zum Glück gibt es bereits seit Jahrzehnten in
Deutschland engagierte Menschen, die sich für den
Kampf gegen Analphabetismus einsetzen. Wichtige
Träger der Alphabetisierungsarbeit sind unter anderem
der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung,
der Deutsche Volkshochschul-Verband und die Stiftung
Lesen.
Ich freue mich besonders darüber, dass sich seit
Bekanntwerden der Studie deutschlandweit zahlreiche
lokale und regionale Bündnisse und Pakte für Alphabeti-
sierung und Grundbildung gegründet haben, so auch in
meinem Wahlkreis im Kreis Unna. Viele Landesregie-
rungen haben Initiativen und Maßnahmen aufgelegt, um
im Kampf gegen Analphabetismus Erfolge zu erzielen.
An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an diese zahl-
reichen engagierten Menschen zum Ausdruck bringen.
Mit der Einführung der Nationalen Dekade für Alpha-
betisierung und Grundbildung leisten wir als Bund unse-
ren Beitrag und übernehmen Verantwortung im Kampf
gegen Analphabetismus. Die nächsten zehn Jahre lang
wird die Bundesregierung ihre bisherigen Maßnahmen
verstärken, erweitern und in Absprache mit den Ländern
koordinieren. Zentrale Ziele der auf Nachhaltigkeit ab-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10549
(A) (C)
(D)(B)
zielenden Dekade sind unter anderem: erstens der Aus-
bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen
Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit,
zweitens die Schaffung von dauerhaften und tragfähigen
Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsar-
beit als Teil des Weiterbildungssystems in Deutschland,
drittens die weitere Sensibilisierung des unmittelbaren
Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffentlichkeit
für das Thema.
Wenn wir nun von der Strategie gegen Analphabetis-
mus zur Dekade kommen, dann handelt es sich nicht nur
um eine Umetikettierung, sondern um einen substanziel-
len Beitrag des Bundes im Kampf gegen den funktiona-
len Analphabetismus und einen deutlichen Schritt nach
vorne. Anhand der Mittelausstattung hatte ich das vorhin
schon ausgeführt. Unsere Erwartungen als Deutscher
Bundestag sind aber noch weiter gehend. Denn wir un-
terstützen die Bundesregierung dabei, Probleme anzuge-
hen, die bisher nicht oder nur unzureichend angegangen
sind.
Erstens: Nach wie vor ist beispielsweise die Wirt-
schaft noch sehr zurückhaltend mit einem eigenen Bei-
trag zur Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus
in Deutschland. Zwar gibt es Unternehmen, die sich dan-
kenswerterweise intensiv für das Thema einsetzen, aber
die großen Wirtschaftsverbände scheuen bisher mit Hin-
weis auf die staatliche Zuständigkeit für Bildung eine
aktive Teilnahme an den unterschiedlichen Maßnahmen.
Ich bin der Meinung, wir sollten bei diesem Thema nicht
locker lassen, denn es geht um die sinnvolle und absolut
notwendige Einbeziehung des Themas Alphabetisierung
und Grundbildung am Arbeitsplatz.
Zweitens: Wenn wir über Alphabetisierung sprechen,
sollten wir zudem unseren Blick erweitern und die
Grundbildung ebenfalls benennen. Denn Lesen und
Schreiben sind Schlüsselkompetenzen, aber wir wollen
insgesamt Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermög-
lichen. Dazu gehört neben Lesen, Schreiben und Rech-
nen auch die Verfügbarkeit von Alltagskompetenzen.
Die Grundbildung ist nicht von der Alphabetisierung zu
trennen.
Drittens: Die Maßnahmen zur Förderung von Grund-
bildung in den einzelnen Bundesländern sind unter-
schiedlich ausgeprägt. In Berlin gibt es beispielweise ein
eigenes Grundbildungszentrum, einen Arbeitskreis
Orientierungs- und Bildungshilfe und zahlreiche Mo-
dellprojekte wie Grundbildungskurse in Moscheen.
Auch die Zahl der Kursplätze an Volkshochschulen
wurde deutlich erhöht. In anderen Bundesländern ist da-
gegen noch keine breit angelegte Strategie im Kampf ge-
gen Analphabetismus erkennbar. Dieses Nord-Süd- und
Stadt-Land-Gefälle müssen wir aufbrechen. Jedes Land
muss seinen Beitrag leisten.
Viertens: Eine aktuelle Herausforderung, auf die wir
auch im Themenfeld Alphabetisierung und Grundbil-
dung stoßen, ist die Einbeziehung von Flüchtlingen. Für
die betroffenen Flüchtlinge, die als funktionale Analpha-
beten gelten, müssen zielgruppenspezifische und ad-
äquate Angebote in ausreichender Weise geschaffen
werden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, lesen und
schreiben zu lernen.
Fünftens: Aus meiner Sicht ist die Einbeziehung der
Verbände in der Dekade gegenüber der Strategie deutlich
zu verbessern. Wir wollen eine Alpha-Dekade, die nicht
allein die Sache von Regierungen und gesellschaftlichen
Großverbänden ist. Wir wollen, dass die vorhandene
Expertise der verschiedenen erfahrenen Akteure der Al-
phabetisierungsarbeit wie beispielsweise des Volkshoch-
schul Verbandes und des Bundesverbandes Alphabetisie-
rung besser abgerufen und personell wie institutionell
eingebunden ist. Es wäre töricht, wenn wir bei den ambi-
tionierten Zielen der Dekade auf die teilweise seit Jahr-
zehnten gewonnenen Erfahrungen in der Alphabetisie-
rungs- und Grundbildungsarbeit verzichten würden.
Ich bin überzeugt, dass wir mit der Einführung dieser
Dekade einen wichtigen Schritt nach vorne gehen und
ein Zeichen dafür setzen, dass wir die betroffenen Men-
schen brauchen und stärker unterstützen.
Marianne Schieder (SPD): Können Sie sich vorstel-
len, in unserer Gesellschaft zu bestehen, am gesellschaft-
lichen Leben teilhaben und Ihren Alltag bewältigen zu
können, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu
können? Wohl kaum!
In dieser Lage aber, so belegen zuverlässige Untersu-
chungen, befinden sich in Deutschland 7,5 Millionen
Menschen. Die Erkenntnis ist nicht neu und die Suche
nach Wegen, um die Lage zu verbessern, auch nicht. Es
gibt bereits eine Vereinbarung zwischen Bund und Län-
dern zu einer nationalen Strategie für Alphabetisierung
und Grundbildung und auch schon eine Reihe von Maß-
nahmen und Aktivitäten.
Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ein An-
trag von SPD und CDU/CSU mit dem Titel „Zugang und
Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisie-
rung in Deutschland umsetzen“, hat das Ziel, die Proble-
matik noch intensiver und nachhaltiger anzugehen, um
eine deutliche Verbesserung der Lage zu erreichen.
Bevor ich aber auf den Antrag eingehe, möchte ich
dem Berichterstatter der CDU/CSU Fraktion, meinem
Kollegen Xaver Jung, sehr herzlich für die offene und
konstruktive Zusammenarbeit danken. Wir haben mit
dem nun vorliegenden Antrag eine sehr gute Basis für
eine Dekade für Alphabetisierung geschaffen.
7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen oder
schreiben können, das sind 14 Prozent der erwerbsfähi-
gen Bevölkerung. Menschen ohne Schulabschluss, in
prekärer Beschäftigung und über 50 gehören zu den be-
sonders gefährdeten Risikogruppen. Insgesamt sind rund
57 Prozent der funktionalen Analphabetinnen und An-
alphabeten berufstätig, häufig als un- oder angelernte
Arbeitskräfte. Deutsch ist bei 58 Prozent der Betroffenen
die Muttersprache, und über 80 Prozent haben einen
Schulabschluss. Wie die Zahlen deutlich zeigen, durch-
dringt der funktionale Analphabetismus die gesamte Ge-
sellschaft.
10550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
Bis heute ist das Thema Analphabetismus aber leider
weitgehend noch mit Angst und Scham besetzt. So ha-
ben sich Betroffene Vermeidungsstrategien von „Prü-
fungssituationen“ angeeignet, in denen sie lesen oder
schreiben müssen. Defizite werden meist erst angegan-
gen, wenn die Betroffenen Kinder haben.
Die Koalitionsfraktionen der 18. Wahlperiode haben
sich darauf geeinigt, die „Nationale Strategie für Alpha-
betisierung und Grundbildung“ in eine „Dekade für Al-
phabetisierung und Grundbildung“ zu überführen.
Hierbei sollen vorhandene und etablierte Instrumente
fortgeführt werden und neue dazu kommen. Außerdem
wird der Bund sich mit wesentlich mehr finanziellen
Mitteln einbringen. Im Haushalt 2015 stehen jetzt fast
20 Millionen Euro zur Verfügung. Damit soll der Aus-
bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen
Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit vor-
angetrieben werden.
Wir streben die Schaffung von dauerhaften und trag-
fähigen Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbil-
dungsarbeit als Teil des Weiterbildungssystems in
Deutschland an.
Über die Gründung einer Monitoring- und Koordinie-
rungsstelle soll die Zusammenarbeit verbessert und in-
tensiviert werden.
Wir brauchen die weitere Sensibilisierung des unmit-
telbaren Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffent-
lichkeit für das Thema.
Ziel muss es sein, die Zahl der Betroffenen aller „Al-
pha-Levels“ so stark wie möglich zu reduzieren. Um
einen verstetigenden Lernprozess und eine langfristige
Beratung zu garantieren, wird mit der Alphabetisie-
rungsdekade ein angemessener Rahmen gesetzt.
Wer am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sei-
nen Alltag gut bewältigen will, braucht ein Mindestmaß
an Lese- und Schreibfähigkeiten, verbunden mit einem
Mindestmaß an Grundbildung. Explizit zu nennen sind
dabei: Rechenfähigkeit, Grundfähigkeit im IT-Bereich,
Gesundheitsbildung, finanzielle Grundbildung, soziale
Grundkompetenzen und kulturelle Grundbildung.
Diese Kompetenzen sind von entscheidender Bedeu-
tung für die Chancengleichheit und notwendig für die
Teilhabe auf der gesellschaftlichen, beruflichen, politi-
schen, digitalen, kulturellen und sozialen Ebene. Vor dem
Hintergrund der demografischen Entwicklung und des
Fachkräftemangels begründen auch wirtschaftliche
Gründe den Handlungsbedarf.
Das Thema ist sehr komplex, die Angebote müssen
sehr zielgruppenspezifisch und passgenau und oft auch
sehr niedrigschwellig sein, um die Betroffenen wirklich
zu erreichen und zur Mitarbeit zu bewegen.
Entscheidend für die erfolgreiche Teilnahme an Al-
phabetisierungsangeboten sind die Qualität der angebo-
tenen Lernmaterialien und vor allem die Kursleiterinnen
und Kursleiter selbst. Die Qualitätsentwicklung und Pro-
fessionalisierung in der Alphabetisierungsarbeit muss
weiter unterstützt werden. Rahmencurricula und Unter-
richtsleitfäden sind zu modernisieren. Erarbeitete Kon-
zepte zur Ausweitung und Verdichtung der Weiterbil-
dung für Kursleitungen leisten hierfür unter anderem
einen wichtigen Beitrag. Es ist grundsätzlich von Bund
und Ländern darauf zu achten, dass bei den jeweiligen
Maßnahmen und Angeboten das Weiterbildungspersonal
angemessen honoriert wird.
Ich gehe davon aus, dass die Kolleginnen und Kolle-
gen der Opposition unserem sehr guten, differenzierten
und umfangreichen Antrag zustimmen werden.
Denn wir sind uns doch alle einig: Der Kampf gegen
Bildungsarmut in Deutschland ist nicht auf das Kindes-
und Jugendalter beschränkt. Alphabetisierung ist altersun-
abhängig der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit
und Teilhabe.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Der Deutsche
Bundestag beschäftigt sich heute wiederholt mit dem
Thema „Analphabetismus wirksam bekämpfen und eine
gute Grundbildung für alle sichern“, und das ist auch
richtig so. Denn: Nach wie vor wissen wir zu wenig über
die Ursachen von Analphabetismus; nach wie vor verlas-
sen zu viele junge Menschen die Schule nicht nur ohne
Schulabschluss, sondern auch mit unzureichenden Lese-
und Schreibfähigkeiten. Nach wie vor ahnen wir nur,
wann und warum Menschen im Laufe ihres Berufslebens
das Lesen und Schreiben wieder verlernen. Nach wie vor
kommen zu wenige in die Alphabetisierungskurse. Und
Analphabetismus wird immer noch als Tabu behandelt.
Die in der vergangenen Wahlperiode beschlossene
„Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbil-
dung“ soll mit dem nun vorliegenden Antrag in eine De-
kade für Alphabetisierung und Grundbildung überführt
werden. Das ist folgerichtig und erfüllt so – zwar verspä-
tet, aber immerhin! – auch eine Forderung der Linken.
Schon in unserem Antrag „Niemanden abschreiben –
Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbil-
dung für alle sichern“ aus der vergangenen Wahlperiode
haben wir die damalige Bundesregierung aufgefordert,
ein Zehnjahresprogramm aufzulegen. Dem entsprechen
Sie jetzt – dass hätte schon früher sein können und müs-
sen.
Offensichtlich sind Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Koalition, selber nicht wirklich von den Erfolgen
der bisherigen Nationalen Strategie überzeugt. Sie schrei-
ben in Ihrem Antrag ja selber von nur – ich zitiere –
„punktuell bereits bewährten Strategien“. Dabei mangelt
es nicht an Förderprogrammen, Aufklärungskampagnen,
Aufrufen und Aufforderungen von Bund und Ländern.
Auch die Arbeitsplatzorientierung ist nun Thema,
nachdem wir in der Anhörung im Ausschuss damals et-
was Ratlosigkeit und wenig Problembewusstsein auf der
Arbeitgeberseite konstatieren mussten. Doch es muss
auch darauf geachtet werden, dass die nun beabsichtig-
ten Maßnahmen zum Beispiel der Bundesagentur nicht
zu neuen Hinderungsgründen für eine erfolgreiche Ar-
beitsaufnahme werden, weil Sie sie zur Voraussetzung
machen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10551
(A) (C)
(D)(B)
Neben einer sensiblen bundesweiten Informationskam-
pagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt“,
neben einigen Förderprogrammen zur arbeitsplatzorien-
tierten Alphabetisierung und Grundbildung und den damit
verbundenen Beratungs- und Schulungsangeboten, neben
Onlinelernportalen und ersten entwickelten Curricula und
Unterrichtsleitfäden beschreiben die nackten Zahlen
noch immer die Misere: 300 000 Menschen in Deutsch-
land können nicht einmal ihren Namen schreiben, circa
2,3 Millionen erwachsene und erwerbsfähige Menschen
in Deutschland sind Analphabetinnen und Analphabeten
im engeren Sinne, das heißt, sie unterschreiten die „Sat-
zebene“, und 7,5 Millionen Menschen können nicht rich-
tig lesen und schreiben und gelten somit als funktionale
Analphabetinnen und Analphabeten.
Es gibt noch einen gravierenden Unterschied zu den
Forderungen der Linken: Wir wollten zumindest so viele
Mittel aufwenden, wie es Großbritannien gelingt. Sie da-
gegen schaffen zwar fast die Mindestforderung der SPD
von damals – mindestens 20 Millionen sollten es sein,
19,5 Millionen stehen dieses Jahr im Haushalt –, aber es
ist sonnenklar, dass das nicht reicht. Auch hier ist Ihnen
die „schwarze Null“ wieder näher als die Lese- und
Schreibkompetenz der Menschen in unserem Land.
Wir brauchen eine andere, nämlich nachhaltige Finan-
zierung der Bildungsaufgaben auf allen Ebenen und in
ganz Deutschland. Die Sicherung gleicher Bildungsteil-
habemöglichkeiten für alle ist eine Aufgabe öffentlicher
Daseinsvorsorge von gesamtgesellschaftlicher Dimen-
sion. Sie muss deshalb in gesamtstaatliche Verantwor-
tung.
Ich glaube überhaupt, der größte Erfolg Ihres Antrags
ist, dass das Thema nicht wieder unter den Tisch gekehrt
wird und es so am „Köcheln“ bleibt. Ich frage mich aber,
warum Sie den Antrag gerade jetzt stellen. Kennen Sie
die Ergebnisse der nächsten Level-One Studie schon und
bauen vor? Arbeitet die Bundesregierung zu langsam
oder zu wenig ergebnisorientiert, und Sie müssen ihr auf
die Sprünge helfen? Finden Sie in Ihren eigenen Regie-
rungskreisen zu wenig Gehör?
Ihre vier beschriebenen Handlungsfelder für die Alpha-
betisierungsdekade – Strukturierung, zielgruppendifferen-
zierte Förderung und Kurse, Umfeldsensibilisierung und
niedrigschwellige Angebote sowie die Qualitätsentwick-
lung und Professionalisierung – machen deutlich, dass es
noch ein weiter Weg ist, wenn es uns gelingen soll, dass
die Zahl der Betroffenen aller Alphalevels so stark wie
möglich reduziert wird und so alle Menschen ein Min-
destmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten verbunden mit
einer guten Grundbildung erhalten können.
Gerade das letztgenannte Handlungsfeld, die Qualitäts-
entwicklung und Professionalisierung, ist das wichtigste
hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Grundbildungs- und
Alphabetisierungsangebote – und das in Ihrem Antrag
dünnste. Ganze zehn magere Zeilen bieten Sie hierfür
auf. Halbherzig wird das Thema behandelt, und vage
werden Maßnahmen und Aktionen umrissen. Ist nicht
manches auch Aktionismus, und das Geld wäre an-
derswo besser angelegt?
Überhaupt fällt mir auf, dass wieder an den unbe-
streitbar vorhandenen Symptomen herumgedoktert wird
und die Bekämpfung der Ursachen aus dem Blick gerät.
Ein halbherziger Appell an die Länder ist da deutlich zu
wenig. Sie betreiben eine nachsorgende Bildungspolitik,
weil Sie sich für die Vorsorge nicht für zuständig halten.
Uns Linken fehlt weiterhin ein nachhaltiges Konzept
lebensbegleitenden Lernens, dass Fragen der Weiterbil-
dung außerhalb der Institutionen der Weiterbildung nicht
vernachlässigt. Gilt das schon für die berufliche Weiter-
bildung, so gilt das noch mehr für die allgemeine Weiter-
bildung. Hier aber wäre der Ort für eine wirksame Ge-
genstrategie zur fehlenden oder verloren gegangenen
Grundbildung.
Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten kann aber auch
nicht erreicht werden, wenn man in der öffentlichen all-
gemeinen und beruflichen Schulbildung weitermacht
wie bisher. Es muss gelingen, die Zahlen der Absolven-
tinnen und Absolventen, die ohne Schulabschluss und
ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten die
Schule verlassen, drastisch zu reduzieren.
Die Fraktion Die Linke fordert darum, das Augen-
merk auf die Verbesserung der Schulbildung zu legen.
Mehr Ursachenforschung ist nötig, auch darüber wie und
warum funktionaler Analphabetismus selbst nach erfolg-
reichem Schulabschluss im Lebenslauf entsteht. Es geht
nicht nur um Nachsorge, sondern um bessere Vorsorge.
Und es muss deutlich mehr Geld ins System, in Bund
und Ländern. Die Programme müssen finanziell besser
ausgestaltet werden. Die Weiterbildnerinnen und Weiter-
bildner müssen besser bezahlt werden. Die Bundesagen-
tur für Arbeit darf keine Weiterbildungsleistungen
vergeben, deren Träger nicht Tarif zahlen. Die Kür-
zungsabsichten der Arbeitsministerin gerade in diesem
Bereich sind dafür aber kontraproduktiv. Wir brauchen
immer noch eine neue Offenheit, mit Analphabetismus
umzugehen, um ihn zu überwinden. Dafür müssen
diagnostische Fähigkeiten in der Lehramtsaus- und -wei-
terbildung verbessert werden. Dabei bleibt zu bedenken,
dass es für Analphabetismus sehr unterschiedliche Ursa-
chen, sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt und dass
es notwendigerweise auch unterschiedliche Gegenstrate-
gien geben muss. Die Forderung des Bundesverbandes
Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach qualifi-
zierten Alphabetisierungs- und Grundbildungspädago-
gen mit Beratungs- und Förderfunktion in SEK I und be-
rufsbildenden Schulen ist richtig und findet unsere
Unterstützung.
Und natürlich wissen wir: Grundbildung umfasst
mehr. Es geht um all das, was Menschen brauchen, um
sich in dieser Gesellschaft Teilhabe zu sichern. Dazu ge-
hören also nicht nur die einschlägigen Kulturtechniken,
sondern auch ein Grundverständnis von demokratischen
Zusammenhängen und Mitwirkungsmöglichkeiten.
Ich glaube, es ist Zeit für eine erneute Anhörung im
Ausschuss. Insofern freue ich mich auf die Beratungen.
10552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
(A) (C)
(D)(B)
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In un-
serem Land, wohlgemerkt einem der reichsten Länder
dieser Welt, sind 7,5 Millionen Menschen zwischen
18 und 64 Jahren nicht in der Lage, einfache Texte zu le-
sen und zu verstehen. Jeder siebte Mensch im erwerbsfä-
higen Alter ist hierzulande ein sogenannter funktionaler
Analphabet; er oder sie kann nicht richtig lesen und
schreiben – die Tür zur Teilhabe am sozialen, berufli-
chen, ökonomischen und kulturellen Leben bleibt für ihn
oder sie damit verschlossen.
Es war deshalb richtig und wichtig, dass sich alle
Fraktionen infolge der 2011 veröffentlichten Level-One-
Studie darauf verständigt haben, das Thema Analphabe-
tismus aus der Tabuzone zu holen und entsprechende
Anstrengungen zu unternehmen, um funktionalem An-
alphabetismus wirksam zu begegnen und mehr Men-
schen Teilhabe zu ermöglichen.
Leider ist diesbezüglich – insbesondere in den öffent-
lichen Debatten – der Drive etwas verloren gegangen
und auch die Bundesregierung agiert nach wohlbekann-
ter Art: Sie versteckt sich hinter wohlklingenden Ankün-
digungen oder föderaler Nichtzuständigkeit.
Dies hat nicht zuletzt die Antwort der Bundesregie-
rung auf unsere Kleine Anfrage – Drucksache 18/4910 –
„Analphabetismus und Grundbildung in Deutschland“
sehr deutlich gezeigt. Im Wesentlichen besteht diese
Antwort aus schönen Überschriften, wohlklingenden
Ankündigungen und jeder Menge PR. Das reicht nicht
aus und hilft den Betroffenen in keiner Weise.
Da soll zum Beispiel die „Nationale Strategie“ in eine
„Dekade“ überführt werden – wie Sie es jetzt ja auch in
ihrem Antrag fordern –. Details werden diesbezüglich
aber ausgespart. Kernaussage ist, dass der Abstim-
mungsprozess auch noch nicht abgeschlossen sei.
Mit dem Geld nimmt es das BMBF leider auch nicht
so genau. Die 19,5 Millionen Euro, die das BMBF für
Präventionsmaßnahmen ausgibt, stimmen zwar, die zu-
sätzlichen 6 Millionen Euro – ursprünglich waren ja
13,5 Millionen Euro vorgesehen – sollen im Jahr 2015
aber auch die Allianz für Aus- und Weiterbildung mitfi-
nanzieren.
Im Haushalt 2016 werden dann keine Mittel zu finden
sein, im Wahljahr 2017 wird diese Bundesregierung
dann vermutlich mit „unfassbaren“ Steigerungsraten
punkten wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Angeschmiert sind dabei aber diejenigen, die in die-
sem und im nächsten Jahr auf mehr Unterstützung ge-
hofft hatten.
Wie immer erfolgt auch der Verweis auf die föderale
Zuständigkeit: „Verantwortungsbereich der Länder“,
„Obliegenheit der Länder und Kommunen“ usw. Es ist
wie immer: Wenn es konkret wird, macht sich die Bun-
desregierung einen schlanken Fuß.
So scheint die Bundesregierung auch das Projekt „al-
phabund“ nach zwei Förderperioden von je vier Jahren
auslaufen lassen zu wollen. Dieses Projekt hat immerhin
dafür gesorgt, dass in dieser Zeit 8 000 Multiplikatorin-
nen und Multiplikatoren geschult und 4 000 Lehrkräfte
qualifiziert wurden. Das ist ein zentrales Instrument. Das
ist gut und wichtig. Eine Weiterfinanzierung ist daher
dringend notwendig.
Trotz der Level-One-Studie fehlt uns noch ganz viel
Wissen über die Gründe von Analphabetismus. Eine
neue Studie zum Analphabetismus tut deshalb dringend
not. Seit 2010, als die letzte Studie durchgeführt wurde,
ist viel geschehen. Diese Bundesregierung rühmt sich,
mit der Bildungsforschung einen wichtigen Beitrag zur
Qualitätssteigerung unseres Bildungssystems zu leisten.
Auf unsere Frage, ob denn eine neue Studie zum An-
alphabetismus von Erwachsenen in Auftrag gegeben
werden soll, weicht das BMBF jedoch aus. Damit bricht
das BMBF die Vereinbarung zur Nationalen Strategie
vom 7. September 2012. Dort haben Bund und Länder
explizit die Wiederholung der Level-One Studie be-
schlossen – davon ist nun nicht mehr die Rede. Das ist
absolut enttäuschend und so nicht akzeptabel.
Wenn sich diese Bundesregierung doch so sicher ist,
dass ihre Anstrengungen hinsichtlich der Alphabetisie-
rung und Grundbildung erfolgreich waren und sind
– und vor allem auch ausreichend sind –, dann dürfte sie
sich eigentlich nicht vor einer neuen Studie fürchten.
Misstraut diese Bundesregierung da etwa sich selbst?
Wir Grüne sind gespannt auf den Bericht, den die
Partner der Nationalen Strategie noch in diesem Monat
vorlegen wollen. Sie wollten ja scheinbar, dass wir hier
schon vorher Ihre dünnen Vorschläge debattieren. Dem-
nächst debattieren wir dann aber den Bericht und die
Schlüsse, die wir daraus ziehen. Und wir debattieren ja
dann bald auch schon wieder den Haushalt. Ich hoffe,
dass die Menschen, denen das Schreiben und Lesen
schwerfällt, davon mehr haben werden, als Ihr Antrag
bisher erwarten lässt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Zukunftsweisende
Kulturpolitik im demografischen Wandel –
Stärkung der Kultur im ländlichen Raum (Ta-
gesordnungspunkt 20)
Ute Bertram (CDU/CSU): Die Schlagworte des de-
mografischen Wandels sind einprägsam: weniger, älter,
bunter. Die knackigen Adjektive beschreiben eine ge-
sellschaftliche Veränderung, die eine Mischung aus
niedrigen Geburtenraten, hoher Lebenserwartung und
vermehrter Zuwanderung ist.
Mit diesen Veränderungen sind teils gravierende Pro-
bleme verknüpft, die besonders die Bereiche Wirtschafts-,
Arbeits-, und Gesundheitspolitik betreffen: Fachkräfte-
mangel, Pflegenotstand, Landflucht dominieren die
Schlagzeilen, wenn vom demografischen Wandel die
Rede ist.
Im Koalitionsvertrag ist der demografische Wandel
als tiefgreifende Herausforderung beschrieben. Die De-
mografiestrategie der Bundesregierung, die 2012 vorge-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10553
(A) (C)
(D)(B)
legt wurde, soll weiterentwickelt werden. Es sollen
Ideen erarbeitet und umgesetzt werden, die das Zusam-
menleben in Deutschland unter den neuen Bedingungen
gestalten. Wir als Große Koalition wollen mit unserem
Antrag einen kulturpolitischen Beitrag zur Demografie-
diskussion leisten.
In der Kulturpolitik hat der demografische Wandel
bisher weniger Beachtung gefunden. Doch er ist ein
wichtiger kulturpolitischer Aspekt, nicht so sehr in Städ-
ten und Metropolen. Nach Berlin werden weiterhin viele
– vor allem junge – Menschen strömen. Touristen und
Zugezogene aus aller Welt wollen die Museen, Clubs
und Theater der Hauptstadt erleben. Staatsoper und
Deutsches Theater, Bode-Museum und Kulturforum
werden weiterhin gut besucht sein und exzellente Insze-
nierungen und Ausstellungen auf die Beine stellen kön-
nen.
Wie aber sieht es im ländlichen Bereich aus? Wie
kann in einem Umfeld, das von Landflucht und Überal-
terung geprägt ist, ein lebendiges kulturelles Leben ge-
deihen? Wie können die Menschen, die in ihrer Heimat
bleiben, ein anspruchsvolles Kulturleben genießen? Und
wie können sich Theater, Museen und Kinos trotz
schwindender Publikumszahlen gute Schauspieler und
Kuratoren leisten? Bei all diesen Fragen sind wir uns als
Große Koalition einig, dass alle Akteure gefordert sind,
zusammenzuarbeiten.
Wir fordern daher die Bundesregierung nach ihren im
Rahmen stehenden Haushaltsmitteln auf, ihre Demogra-
fiepolitik gemeinsam mit den Ländern und Kommunen
weiterzuentwickeln, um neue Arbeitsformen und Ko-
operationsmodelle zu unterstützen. Dazu gehört auch die
Prüfung auf Vereinfachung des Antrags- und Vergabe-
systems für Kulturförderung. Oftmals wissen die Kultur-
schaffenden gar nicht, wie und wo sie Anträge für ihre
Projekte stellen können.
Besonders hervorheben wollen wir das bürgerschaftli-
che Ehrenamt in Kultureinrichtungen. Der persönliche
Bezug der Menschen zu ihren kulturellen Institutionen
kann von besonderer Bindungskraft sein und spielt für
den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine wichtige
Rolle.
Auch hier fordern wir die Bundesregierung auf, zu
prüfen, wie die Rahmenbedingungen für bürgerschaftli-
ches Engagement weiter verbessert werden können.
Doch nicht nur das klassische Kulturangebot ist für
die Identifikation mit der Gemeinde oder Region bedeut-
sam. Geht es doch nicht nur um die schönen Künste,
sondern auch um sehr praktische und existenzielle Fra-
gen, wenn wir hier über die kulturpolitische Dimension
des demografischen Wandels sprechen. Besonders Un-
ternehmen profitieren von einem lebendigen kulturellen
Umfeld, das für Arbeitnehmer attraktiv ist. Daher ist
nicht nur die Kulturpolitik für ein attraktives Kulturan-
gebot in der Pflicht, sondern auch Unternehmer sollten
noch stärker auf die Bedeutung von Kulturförderung
aufmerksam gemacht werden. Denn Kulturpolitik ist
mittlerweile auch Standortpolitik geworden.
Unternehmertum und Industrie waren schon in der
Vergangenheit wichtige Triebfedern für kulturelles Le-
ben. Im Januar habe ich hier im Plenum zum Bauhaus-
Jubiläum gesprochen und auch das Fagus-Werk in mei-
ner Heimatstadt Alfeld erwähnt. Seit 2011 gehört die
markante Fabrikhalle von Walter Gropius zum Weltkul-
turerbe. Der Schuhleistenfabrikant Carl Benscheidt war
damals Pionier, als er dem jungen Bauhaus-Architekten
1911 den Auftrag für ein Gebäude erteilte, das noch
heute eine unglaubliche Modernität ausstrahlt und An-
ziehungspunkt für viele Tausende Besucher im Jahr ist.
Natürlich hat nicht jeder Ort ein Kulturangebot von
Weltbedeutung. Aber Veränderung erfordert Kreativität!
Uns Kulturpolitikern ist wichtig, dass weiter gedacht
wird als nur an den Erhalt von Theatern, Orchestern und
Museen – die auch wichtig sind! Kulturelle Identifika-
tion zum Beispiel kann auch über die Geschichte des
Heimat- bzw. Wohnortes erfolgen, der industriell ge-
prägt ist, wie zum Beispiel die vogtländische Textil-
industrie im sächsischen Plauen und Reichenbach oder
der Steinkohleabbau in Nordrhein-Westfalen zeigen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Antrag
ein positives Signal senden, dass die Kultur im ländli-
chen Raum Zukunft hat.
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir alle wis-
sen, wie schwer es sein kann, für einen Verein einen
neuen ehrenamtlichen Vorsitzenden zu finden. Wir alle
wissen, wie viel Mühe sich Vereine und Initiativen in-
zwischen geben, um Nachwuchs an sich zu binden. Und
wir alle wissen, wie viel Arbeit hinter der Organisation
einer Ausstellung, eines Konzerts oder eines Diskussi-
onsabends steckt und wie gering gelegentlich die Reso-
nanz ist.
All das sind Ausflüsse eines veränderten Arbeits- und
Freizeitverhaltens, es sind auch die Konsequenzen ver-
änderter Familienstrukturen – aber es sind eben auch
ganz stark die Folgen des demografischen Wandels.
Es sind eben nicht nur Fachkräfteengpässe in einigen
Branchen und die Stabilität unserer Sozialversicherungs-
systeme, die uns umtreiben müssen. Es geht auch um
Veränderungen – und ich sage ganz bewusst: nicht um
Verschlechterungen – im kulturellen Bereich.
Fest steht: Bevor die Bevölkerung der Großstädte alt
wird, wird sie in den kleinen Städten und Dörfern alt –
und weniger. Hier wird man den demografischen Wandel
zuerst und am deutlichsten spüren – vielerorts ist er
schon jetzt deutlich zu sehen und zu spüren: Die Jugend-
abteilungen in den Sport- und Musikvereinen werden
immer kleiner, die Konkurrenz um den Nachwuchs zwi-
schen den Vereinen nimmt zu. Es fehlen die Jungen.
Diese Veränderungen mögen auch in der Kulturpoli-
tik auf den ersten Blick wie Probleme aussehen. Doch
Veränderungen können politisch so begleitet werden,
dass sie gar nicht erst zu Problemen werden.
Wir haben in unserem Antrag Projekte aufgezeigt, die
heute bereits dazu beitragen: der von Staatsministerin
Grütters ins Leben gerufene Preis für inhabergeführte
10554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015
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Buchhandlungen etwa oder die Unterstützung kleiner
Kinos bei der Digitalisierung. Auch das Programm
„Invest Ost“, das die Kultureinrichtungen in den vom
demografischen Wandel besonders früh betroffenen ost-
deutschen Bundesländern stärkt, ist hier hervorzuheben.
Das alles sind tolle Projekte, die an der richtigen Stelle
ansetzen.
Der wohl wichtigste Schritt ist aber eine weitere
Stärkung des ehrenamtlichen Engagements. Die ehren-
amtlichen Kulturakteure sind das Fundament der Brei-
tenkultur. Und im ländlichen Raum ist das Engagement
im Kulturbereich besonders groß. In Blasmusikvereinen,
Theater- und Schauspielgruppen, in Heimatvereinen,
Chören und Orchestern engagieren sich in Deutschland
viele Millionen Menschen.
Diese Breitenkultur ist es, die Identität schafft, die
Heimat fühlbar macht. Ohne die Breitenkultur gäbe es
im Übrigen auch keine Hochkultur.
Wir müssen also die Rahmenbedingungen dafür
schaffen, dass bürgerschaftliches Engagement „einfa-
cher“ wird. Dass Bürokratie und Verpflichtungen weni-
ger werden. Man sollte nicht Verwaltungswissenschaften
studiert haben müssen, um Fördergelder für sein Kultur-
projekt beantragen zu können. Durch eine neue Einfach-
heit könnten noch mehr Menschen für ein ehrenamtli-
ches Kulturschaffen gewonnen werden. Denn: Der
demografische Wandel führt zwar dazu, dass es weniger
„jungen“ Nachwuchs gibt. Er führt aber auch dazu, dass
es mehr Rentner und Pensionäre geben wird – potenziel-
len „alten“ Nachwuchs also. Diese Gruppe bringt etwas
mit, was die Jungen so nicht haben – Erfahrung und vor
allem Zeit! Für ehrenamtliches Engagement ist das einer
der wichtigsten Faktoren. Der demografische Wandel
verschafft uns also auch Chancen. Wir müssen sie nur
ergreifen. Unser Antrag geht hier in die richtige Rich-
tung.
Der demografische Wandel betrifft aber nicht nur die
Kulturakteure. Auch das Kulturangebot wird die spezifi-
schen Bedürfnisse der älteren Generation stärker berück-
sichtigen müssen – das ist keine Frage. Doch bei aller
Dominanz der Älteren muss auch ein Kulturangebot für
Kinder und Jugendliche bestehen bleiben, muss die Kul-
turarbeit mit ihnen auf einem hohen Niveau erhalten und
ihre kulturelle Bildung gefördert werden. Eine verstärkte
Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen mit Schulen
und Kindergärten ist einer der Wege.
Sie sehen also, wie vielschichtig die Veränderungen
durch den demografischen Wandel für die Kulturpolitik
im ländlichen Raum sind. Mit dem vorliegenden Antrag
möchten wir sie zum Thema eines großen politischen
Diskurses machen. Denn damit aus den Veränderungen
Chancen werden und keine Probleme, müssen sehr viele
Akteure mit anpacken. Ressortübergreifend müssen
Städte und Gemeinden, Länder und Bund zusammenar-
beiten.
Wir müssen die Vielfalt unserer Kultur gerade im
ländlichen Raum bewahren. Sie bildet den Kern unserer
Identität. Sie gibt uns Orientierung und Heimat.
Burkhard Blienert (SPD): „Älter, bunter, weniger“ –
diese griffige Formel versucht die unterschiedlichen
Dimensionen des demografischen Wandels auf den
Punkt zu bringen.
Aber damit beschreiben wir nur holzschnittartig einen
komplexen Prozess.
Es geht nicht nur darum, dass der Anteil der über
60-Jährigen in unserer Gesellschaft weiter rapide zu-
nimmt. Es geht auch nicht nur um eine schrumpfende
Bevölkerung, weil die Menschen aus bestimmten Regio-
nen abwandern oder weil die Geburtenraten die Sterbe-
zahlen seit langem nicht mehr ausgleichen. Es geht auch
darum, dass wir mehr denn je ein Einwanderungsland
sind. Die weiter zunehmenden Flüchtlingsströme wer-
den diese Tendenz noch verstärken, und unsere Gesell-
schaft wird sich nachhaltig verändern.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass sich der
Wandel ganz unterschiedlich darstellt. Während die Bal-
lungszentren Bevölkerungszuwächse verzeichnen und
der Anteil des migrationsbedingten Wandels besonders
groß ist, konzentrieren sich die Schrumpfungs- und
Überalterungsprozesse eher auf die ländlichen Regio-
nen.
Aber auch hier muss man genau hinschauen. Denn
auch im ländlichen Raum ist die Entwicklung nicht ein-
heitlich.
Festzuhalten bleibt, dass der demografische Wandel
die öffentliche Daseinsfürsorge gerade in den ländlich
strukturierten Gebieten vor enorme Herausforderungen
stellt. Der Blick auf die Einnahmeseite der entsprechen-
den kommunalen Haushalte macht das unübersehbar.
Und in der Folge wird es immer schwieriger, Infrastruk-
turen aufrechtzuerhalten. Wenn es sich dann noch – wie
bei der Kultur – um eine freiwillige Leistung handelt,
sieht es ganz schlecht aus.
Überall, wo öffentliche Infrastrukturen bereitgestellt
werden, muss die Politik auf die veränderten Bedingun-
gen reagieren und Anpassungen vornehmen. Das gilt für
die Bereiche Mobilität, Kommunikation, Bildung oder
Gesundheitsversorgung genauso wie für das kulturelle
Leben.
Im September veranstaltet die Bundesregierung be-
reits den dritten Demografiegipfel, auf dem sich Bund,
Länder, Kommunen, Verbände, Sozialpartner, die Wis-
senschaft und Vertreter der Zivilgesellschaft auf geeig-
nete Strategien verständigen wollen, mit denen dem de-
mografischen Wandel zu begegnen ist. Zudem haben
Bund und Länder zahlreiche Förderprogramme für den
ländlichen Raum aufgelegt. Uns kommt es darauf an,
dass der Kulturbereich bei diesen Bemühungen ange-
messen Berücksichtigung findet.
Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf
die Kultur ländlicher Regionen erschöpfen sich nicht in
der Frage der künftigen Finanzierbarkeit von Angebo-
ten. Wir haben es auch mit einem veränderten Publikum
zu tun. Kulturelle Interessen und die Fähigkeit zur Mobi-
lität wandeln sich genauso wie die zur Verfügung ste-
hende Kaufkraft. Auch die Möglichkeit und Bereit-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10555
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schaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, stellt sich
anders dar.
Auf all diese Aspekte muss die Politik reagieren und
dabei ein Mehrfaches leisten: Sie muss ein kulturelles
Angebot auf dem Land sicherstellen, und zugleich muss
sie die Chancen ergreifen, die mit dem Bevölkerungs-
wandel verbunden sind.
Zusätzlich gilt es, den Mehrwert der kulturellen An-
gebote zu erkennen und nutzbar zu machen. Denn ein
lebendiges kulturelles Leben schafft nicht nur Lebens-
qualität und Heimatbindung. Es ist zugleich ein Stand-
ortfaktor, der Unternehmen in der Region hält und
Neuansiedlungen bringt. Schließlich kann ein gutes kul-
turelles Angebot die Grundlage für Kulturtourismus
sein, der Wertschöpfung und Wirtschaftskraft in die Re-
gion bringt.
Für ganz entscheidend halte ich es, mit welcher Wahr-
nehmung wir an die demografischen Veränderungen he-
rangehen. Es macht einen großen Unterschied, ob wir
den Bevölkerungswandel nur als Krise und Bedrohung
erleben oder ob wir die damit verbundenen Chancen und
Potenziale erkennen. Denn davon hängt es ab, ob wir uns
auf ein Krisenmanagement beschränken oder ob wir den
Wandel aktiv gestalten.
Leere Kassen und schrumpfende Nachfrage nach kul-
turellen Angeboten machen es schwierig bis unmöglich,
gewachsene kulturelle Angebote auf Dauer unverändert
aufrechtzuerhalten. Mehr denn je wird es darauf ankom-
men, sich auf die lokalen Stärken zu konzentrieren und
Lücken im Angebot durch Kooperationen zu ersetzen.
Regionale Partnerschaften müssen aufgebaut und wo es
sie bereits gibt müssen sie verstärkt werden.
Zahlreiche Möglichkeiten zu Kooperationen bleiben
– nicht nur in den Regionen – bisher allerdings unge-
nutzt. So könnte ein stärker kooperativ orientierter Kul-
turföderalismus das kulturfördernde Engagement des
Bundes in der Fläche verstärken und beim Erhalt der
Einrichtungen und Angebote helfen. Bisher gab und gibt
es vereinzelte Programme, die im Zusammenwirken mit
Länderförderungen bereits viel bewirkt haben, beispiels-
weise die Kinodigitalisierungsförderung des Bundes.
Damit ist es gelungen, unsere Kinolandschaft weitge-
hend unbeschadet ins digitale Zeitalter mitzunehmen.
Gerade die kleinen Kinos in den ländlich strukturierten
Regionen haben profitiert, weil sie mit den Kosten der
digitalen Umrüstung alleine überfordert wären. Im Er-
gebnis bleibt für viele Menschen mit dem Kino der oft-
mals einzige soziokulturelle Begegnungs- und Erlebnis-
ort erhalten. Bei mir im Wahlkreis konnten so zwei
Lichtspielhäuser gerettet werden. Besonders erfreulich:
Diese Kinos werden von engagierten Fördervereinen ge-
tragen. Hier hat öffentliche Förderung also zusätzlich
bewirkt, das kulturelle Engagement der Bürger für ihr
Kino zu unterstützen und am Leben zu halten.
Ein weiteres Beispiel ist der Preis für inhabergeführte
Buchhandlungen, der im Herbst erstmals vom Bund ver-
geben wird. Buchläden beleben unsere Innenstädte und
sind Garanten für Vielfalt auf dem Buchmarkt. Mit dem
Preis wollen wir Mut machen, die eigenen Stärken wei-
terzuentwickeln und innovative Geschäftsmodelle vo-
ranzutreiben. Ich bin sicher, auch diese Maßnahme wird
dazu beitragen, die kulturelle Infrastruktur gerade in den
kleineren Orten zu stärken.
Diesen Förderaktivitäten des Bundes sind durch den
Kulturförderalismus enge Grenzen gesetzt. Mehr Ko-
operation zwischen Bund und Ländern könnte hier ge-
rade im Bereich der kulturellen Bildung noch mehr be-
wirken. Auch dieses Potenzial müssen wir stärker
nutzen.
Ein lebendiges kulturelles Leben hängt nicht nur da-
von ab, wie viel Geld gerade in der Kasse ist. Vielmehr
kommt es darauf an, dass wir auch die Chancen des
Wandels erkennen.
So birgt der höhere Anteil an Älteren ein großes
Potenzial für mehr bürgerschaftliches Engagement auch
im kulturellen Leben. Die älteren Mitbürger, die nicht
mehr im Berufsleben und in der Verantwortung für die
Familie stehen, haben mehr freie Zeit zur Verfügung.
Der Monitoring-Bericht des BMFSJ belegt, dass die
über 65-Jährigen beim bürgerschaftlichen Engagement
bisher unterrepräsentiert sind. Aber – und das ist die gute
Nachricht – sie engagieren sich mit stark zunehmender
Tendenz. Es wäre ein sträfliches Versäumnis, wenn wir
diesen Trend jetzt nicht mit den geeigneten Maßnahmen
fördern und verstärken.
Aber nicht nur die Älteren müssen wir für die Kultur-
arbeit mobilisieren. Schon bei den Jungen müssen wir
ansetzen: nicht nur über die direkte Einbindung in die
Kultur- und Heimatvereine vor Ort, auch durch eine ver-
stärkte kulturelle Bildung, die den besonderen Wert der
Kultur für das Zusammenleben vermittelt. Und nicht zu
vergessen: durch kulturelle Angebote, die sich gezielt an
die Jüngeren richten. Das schafft Bindung an die Heimat
und beugt Abwanderung in die Ballungszentren vor.
Bei meinen Veranstaltungen zum Thema höre ich im-
mer wieder, dass sich die kulturell Ehrenamtlichen al-
leingelassen fühlen, wenn es darum geht, Förderanträge
zu stellen oder andere bürokratische Hürden zu nehmen.
Für viele ist das Anlass, ihr Engagement zurückzufahren
oder es sogar ganz einzustellen. Und viele hält es davon
ab, sich überhaupt einzusetzen. Damit bleibt ein großes
Potenzial ungenutzt.
Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen nicht nach-
lassen, die Bedingungen für ehrenamtliches Engagement
weiter zu verbessern. Neben der Vereinfachung von An-
tragsverfahren müssen wir den Engagierten vor allem
Hauptamtliche an die Seite stellen, die mit Beratung,
Unterstützung und Professionalisierung unterstützen
können und die Mut machen, wenn die Projekte ins Sto-
cken geraten.
Eine weitere Chance bietet der migrationsbedingte
Wandel. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen
ihre ganz eigenen kulturellen Themen und Ausdrucks-
formen mit.
Das ist die beste Gelegenheit für interkulturellen Aus-
tausch, der das eigene kulturelle Verständnis befruchten
und bereichern kann. Austausch bietet Anlass, sich über
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eigene Sichtweisen klar zu werden, und ist die Voraus-
setzung für Verständigung und Integration.
Wir müssen die Menschen, die migrationsbedingt zu
uns kommen, zur Teilhabe an unserem kulturellen Leben
einladen, uns auf ihre kulturelle Mitgift einlassen und sie
als Bereicherung begreifen und schätzen lernen.
Gerade im Wandel kann sich die besondere Kraft des
Kulturellen für die Gesellschaft bewähren. Gerade in
Umbruchzeiten vermag Kultur Orientierung zu geben
und Identität zu stiften. Kultur kann kreative Ideen zur
Bewältigung der Probleme beisteuern. Und sie bietet
Raum und Gelegenheit zur Kommunikation und Aus-
einandersetzung.
Kulturelle Vermittlung kann die Menschen zum En-
gagement mobilisieren. Und kulturelles Miteinander
kann integrieren und die Gemeinschaft festigen. Alles
gute Gründe, damit wir den demografischen Wandel ge-
rade auch in den ländlichen Regionen mit Zuversicht an-
packen.
Sigrid Hupach (DIE LINKE): Ich freue mich sehr,
dass wir – leider zu wenig prominenter Stunde und viel
zu kurz – über das so wichtige und drängende Thema der
Kultur im ländlichen Raum reden – noch dazu unter den
besonderen Herausforderungen des demografischen
Wandels. Immerhin, mehr als jeder zweite Mensch in
Deutschland lebt in ländlichen Regionen. Es geht hier
also um Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, für
die wir gleichwertige Lebensverhältnisse sichern müs-
sen.
Eine zukunftsweisende Kulturpolitik zur Stärkung des
ländlichen Raumes ist dringend notwendig – der Titel
des Antrags ist also richtig gewählt und auch Ihre Situa-
tionsbeschreibung trifft in vielem zu. Jedoch: Schwach
ist der Antrag bei den Schlussfolgerungen. Hier zeigt
sich auch die konzeptionelle Leerstelle.
Die von Ihnen im „Belobigungsteil“ genannten Pro-
jekte und Vorhaben sind – jedes für sich genommen –
gut und wichtig. Aber: Genau an diesem Aktionismus,
an dieser Projekteritis ohne Abstimmung krankt nach
Ansicht der Linken die Kulturpolitik im ländlichen
Raum. Hier braucht es langfristige Planungsmöglichkei-
ten, Überlegungen zur Nachhaltigkeit und eine Abstim-
mung der verschiedenen Ebenen.
Wir fordern einen von Bund, Ländern und Kommu-
nen gemeinsam betriebenen und ressortübergreifenden
Aufschlag. Gerade für den ländlichen Raum sind alle
Politikbereiche gefragt – und warum Sie just bei der nun
wirklich ressortübergreifenden kulturellen Bildung ex-
plizit auf die Grenzen zwischen den Ressorts verweisen,
wird wohl Ihr Geheimnis bleiben.
Kultur ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Kultur ist eine
Querschnittsaufgabe. Dieser Ansatz fehlt in Ihrem An-
trag völlig. Dies könnte auch im Rahmen der Demogra-
fiestrategie der Bundesregierung in Angriff genommen
werden. Kultur dient hier bisher nur als Mittel zur Ge-
winnung internationaler Arbeitskräfte. Ihr stattdessen
eine aktive Rolle bei der Gestaltung der gesellschaftli-
chen Wandlungsprozesse zuzuordnen, ihr Potenzial beim
Stellen neuer Fragen, beim Eröffnen neuer Perspektiven
auszuloten, das wäre doch mal eine schöne Forderung
für Ihren Antrag – erst recht in einem Einwanderungs-
land!
Damit bin ich auch bei einem weiteren Kritikpunkt:
Ihrem pathologischen Blick auf die Regionen, in denen
die Menschen „weniger, älter, bunter“ werden, und in
denen die Kommunen den Erhalt der kulturellen Infra-
struktur finanziell nicht mehr schultern können. Sie stel-
len die Frage, wie wir die Strukturen so anpassen kön-
nen, um mit dem wenigen Geld auszukommen. Wie
können wir für mehr Geld in den Kommunen sorgen? –
Das wäre doch die eigentlich spannende Fragestellung.
Die kulturelle Vielfalt in Deutschland wird gerade
von der Vielfalt in den Regionen gespeist – geschützt ist
die kulturelle Substanz insbesondere in Ostdeutschland
auch durch Artikel 35 des Einigungsvertrags. Hier
braucht es eine umfassende und gesellschaftlich breit ge-
tragene Diskussion darüber, was wir uns als Gesellschaft
vor Ort leisten müssen – nicht: noch leisten können. Eine
rein fiskalische Betrachtung wird uns teuer zu stehen
kommen.
Sich hier an eine Kulturentwicklungskonzeption des
Bundes zu wagen, ein Berichtwesen zu etablieren, die
Kulturförderung des Bundes neu aufzustellen, die ge-
wandelten Rahmenbedingungen, zu denen auch der de-
mografische Wandel gehört, und die realen Praktiken
kultureller Arbeit in die Überlegungen einzubeziehen,
die Aufhebung des Kooperationsverbots zu thematisie-
ren oder auch nur über das Staatsziel Kultur nachzuden-
ken, das alles wäre eine gute Zielrichtung.
Bürgerschaftliches Engagement, ein Schwerpunkt Ih-
res Antrags, ist wichtig. Es stiftet auch Identität – aber es
darf nie die staatliche Verantwortung ersetzen.
Am Donnerstag vergangener Woche war ich in Senf-
tenberg zu einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stif-
tung zum Thema „Provinz versus Provinzialität“. Zu er-
leben war dort nicht nur das Theater Neue Bühne mit
seinen generationenspezifischen und generationenüber-
greifenden Angeboten, sondern auch viele kleine Initia-
tiven – übrigens auch aus der Verwaltung heraus –, die in
den unterschiedlichsten Bereichen das kulturelle Leben
in den abgelegensten Regionen gestalten.
Manchmal ist es ja auch die Not, die erfinderisch
macht – das will ich gar nicht verhehlen –, oder der
Raum frei von bürokratischen Hürden, der Neues entste-
hen lässt. Wenn wir mit Neugier schauen, was es an
Ideen und Projekten gibt, dann haben wir die im Antrag
gewünschten Modellprojekte schon und auch Anregun-
gen genug, wie wir wirklich konzeptionell an die He-
rausforderungen des demografischen Wandels im ländli-
chen Raum herangehen könnten.
Das Theater am Rand im Oderbruch, am gefühlten
Ende der Welt, macht erlebbar, was Kultur als Moment
einer nachhaltigen Regionalentwicklung leisten kann.
Die Uckermärkischen Bühnen in Schwedt bespielen ei-
nen 800-Personen-Saal und haben ganz spannende Wege
in der interkulturellen Ausrichtung und so auch in der
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Einbeziehung des polnischen Publikums eingeschlagen.
Oder die obersorbische Gemeinde Nebelschütz in der
Nähe von Bautzen kauft selbst Land an, um damit wie-
der Gestaltungsmacht über das Gemeindeleben zu ge-
winnen.
Was ich mit den wenigen Beispielen aus dem Osten
des Landes – denn hier hat der demografische Wandel
schon längst zugeschlagen – illustrieren will, ist: Es gibt
sehr innovative Ansätze, wie Kunst und Kultur den ge-
sellschaftlichen Wandlungsprozess mitgestalten, andere
Fragen stellen, neue Perspektiven eröffnen – und nicht
nur Opfer der demografischen Entwicklung sind.
Ich fürchte, dass wir auch im Kulturausschuss nicht
die Gelegenheit haben werden, uns mit diesen modell-
haften Ansätzen zu beschäftigen. Sie von der Koalition
wollen das Thema mit diesem Antrag für sich reklamie-
ren. Mit den aufgemachten Forderungen werden Sie sich
aber nicht wirklich darum kümmern können – weil Sie
sich nicht an die Rahmenbedingungen wagen. Das ist
sehr schade.
Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bibliotheken, Theater, Archive und Museen sind Orte
der Begegnung und tragen so elementar zur sozialen
Teilhabe und Lebensqualität bei. Sie prägen die Identität
einer Region und müssen deshalb als Gemeinschaftsgut
erhalten und weiterentwickelt werden. Gerade Dörfer in
abgelegenen Regionen spüren den demografischen Wan-
del schon lange: Ihre Einwohnerzahl sinkt, der Alters-
durchschnitt steigt. Insbesondere in strukturschwachen
ländlichen Kommunen sind deshalb öffentliche Kunst-,
Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie die Freie Szene
in ihrer Existenz bedroht. Denn angesichts leerer Haus-
haltskassen wird zuerst bei den freiwilligen Leistungen
gespart, und Kultureinrichtungen, die erst einmal ge-
schlossen sind, bleiben es meist auch.
Notwendig ist deshalb eine nachhaltige Sicherstel-
lung der kulturellen Infrastruktur, auch in der sogenann-
ten Provinz. Sachsen oder Nordrhein-Westfalen haben
mit ihren Kulturraum- und Kulturfördergesetzen gezeigt,
wie langfristige Kulturförderung in Ländern und Kom-
munen verbindlich gestaltet werden kann. Zur Sicherung
der kulturellen Infrastruktur im ländlichen Raum brau-
chen wir aber auch gute Unterstützungsangebote von der
Bundesebene. Zeitlich begrenzte Förderprogramme bei-
spielsweise zur Unterstützung kleiner Kinos oder ein
Preis für Spielstätten sind gut gemeinte Initiativen, stel-
len aber keine nachhaltige Unterstützung kultureller An-
gebote im ländlichen Raum sicher.
Außerdem sollten wir die vorhandenen kreativen
Potenziale im ländlichen Raum gezielter nutzen und stär-
ken. Gerade sogenannte kreative Raumpionierinnen aus
der Kulturwirtschaft können trotz oder gerade aufgrund
von Schrumpfungsprozessen mit innovativen Ideen zum
Erhalt des kulturellen Angebots beitragen. Ein gutes
Beispiel ist etwa das „Kulturmobil“, das in die Dörfer
fährt und jährlich neue Produktionen aus den unter-
schiedlichen Sparten Theater, Musiktheater, Musik, Lite-
ratur oder Film präsentiert. Bewohnerinnen und Bewoh-
ner des ländlichen Raums erhalten so ein innovatives
Kulturangebot, ohne in die weit entfernten Städte fahren
zu müssen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Neuausrichtung
von Kultureinrichtungen auf die demografischen Verän-
derungen und neue Zielgruppen im ländlichen Raum. Ju-
gendliche benötigen Rückzugsorte und Abwechslung im
Freizeitbereich. Jugendkulturzentren und Jugendkultur-
ringe müssen in ländlichen Gebieten beispielsweise
durch eine Ausweitung der Soziokulturförderung ge-
stärkt werden und erhalten bleiben. Die Bereitstellung
von Räumlichkeiten ist ein wesentlicher Faktor zur För-
derung des kreativen Potenzials junger Menschen. Hier
kann das Modell der „Wächterhäuser“ in Sachsen als Vor-
bild dienen: „Hauserhalt durch Nutzung“ ist für Kreative
wie für Eigentümer ein Win-Win-Modell.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag
sprechen Sie viele wichtige Aspekte an. Das Ziel, kultu-
relle Angebote in Zeiten begrenzter finanzieller Ressour-
cen im ländlichen Raum zu fördern, ist grundsätzlich
richtig. Aber viele kulturpolitische Förderungen bleiben
weiterhin kleinteilig und zeitlich befristet. Eine Modell-
förderung hier, ein Wettbewerb da – das setzt keine
nachhaltigen Anreize, neue Projekte und Kooperationen
ins Leben zu rufen. Die Kulturfinanzierung vor Ort ist
vielfach weiterhin prekär. Darüber kann man nicht hin-
wegsehen. Auch bürgerschaftliches Engagement und
Kooperationsmodelle allein können die Zukunft der Kul-
tur im ländlichen Raum nicht sichern.
Um die kulturelle Infrastruktur angesichts knapper
Kassen auch in Zukunft im ländlichen Raum aufrechter-
halten zu können, ist eine abgestimmte Gesamtstrategie
unter Einbeziehung aller politischen Ebenen und Sekto-
ren dringend erforderlich. Denn die Nutzung von Kultur-
angeboten im ländlichen Raum kann ohne gute Mobili-
tätsansätze nicht sinnvoll gewährleistet werden. Und die
Forderung nach mehr kultureller Bildung muss mit den
aktuellen Entwicklungen im Schulbereich im struktur-
schwachen ländlichen Raum gut zusammengedacht wer-
den. Neues, innovatives und vor allem ressortübergrei-
fendes Denken und Handeln ist von allen Akteurinnen
und Akteuren gefordert, damit auch unter veränderten
Bedingungen weiterhin ein lebendiges kulturelles Leben
auf dem Lande möglich ist. Showveranstaltungen wie
der Demografiegipfel im Kanzleramt verpuffen aber bis-
her, ohne wirkliche politische Impulse zu setzen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Transparenzrichtlinie-Änderungs-
richtlinie (Tagesordnungspunkt 22)
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Auch wenn
einige Jahre vergangen sind, erinnert man sich noch
lebhaft an die Übernahmeversuche Porsche/VW und
Schaeffler/Continental. Damals haben Porsche und
Schaeffler nur teilweise offen am Markt agiert. Melde-
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pflichtige Aktien wurden nur wenige gekauft. Die we-
sentlichen Zugriffsrechte auf Aktien sicherte man sich
über nicht meldepflichtige Finanzinstrumente, soge-
nannte Swaps. Schaeffler hatte – ohne das der BaFin
melden zu müssen – plötzlich Zugriff auf 36 Prozent der
Anteile. Man hatte sich „angeschlichen“, ohne dass an-
dere Marktteilnehmer das bemerken konnten.
Porsche steuerte mit circa 40 Prozent Aktien und
30 Prozent Optionen offenbar über Monate den Kurs der
VW-Aktie, ohne dass der Markt darüber informiert war.
Schließlich kam es zu irrationalen Kursausschlägen, so-
dass die VW-Aktie an einem Tag mit über 1 000 Euro
die teuerste Aktie der Welt war. Für das Vertrauen gerade
der Kleinanleger in einen transparenten und fairen Kapi-
talmarkt war das ein maximaler Schaden.
Für die Arbeitsplätze bei VW und bei Conti waren
diese Aktionen zudem eine Bedrohung, weil die „An-
schleicher“ auf Übernahmen spekulierten, bei denen sie
die Kasse des Zielunternehmens „nutzen“ wollten.
Um derartige Fälle zu verhindern, haben wir bereits
im Jahr 2011 mit dem Gesetz zur Stärkung des Anleger-
schutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des
Kapitalmarkts die Meldebestimmungen für den Kauf
von Aktien und anderen Finanzinstrumenten deutlich
verschärft. Damit wurde Transparenz für einen fairen
Markt und für ein faires Übernahmerecht geschaffen.
Zu begrüßen ist nun, dass mit der zur Umsetzung an-
stehenden Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie die
Meldepflichten in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU
weiter angeglichen werden. Wir haben ein großes Inte-
resse daran, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen für
börsennotierte Unternehmen in Deutschland und den an-
deren Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten.
Um Verstöße gegen die Transparenzregelungen zu
vermeiden, bedarf es aber auch eines effizienten Sank-
tionsregimes. Bisher konnte ein Verstoß gegen die
Transparenzvorschriften des Wertpapierhandelsgesetz
mit einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet wer-
den – eine geringe Summe, wenn man die immensen
Werte bedenkt, um die es bei solchen Übernahmen geht.
Bei einer Milliardenübernahme wird ein Millionenbuß-
geld nicht abschrecken. Mit der Erhöhung des Bußgeld-
rahmens und der regelmäßigen Veröffentlichung von
Verwaltungsmaßnahmen und Sanktionen kann nun die
abschreckende Wirkung der Sanktionen gesteigert wer-
den. Auch der Stimmrechtsverlust ist ein effektives Mit-
tel.
Allerdings gilt es auch bei diesem Umsetzungsvorha-
ben wieder zu berücksichtigen, dass wir Übernahmen
nicht erschweren oder gar verhindern wollen. Übernah-
men gehören zu einer gesunden Marktwirtschaft. Die
Regelungen müssen deshalb klar, berechenbar und hand-
habbar sein. Es darf keine eilfertigen „Kriminalisierun-
gen“ geben. Alle Beteiligten müssen erkennen können,
wie sie sich zu verhalten haben. Andererseits aber muss
sichergestellt sein, dass „Anschleichen“, wie bei
Schaeffler/Conti oder Porsche/VW, passé ist. – Übernah-
men muss es weiter geben. Die Schritte dazu aber müs-
sen transparent stattfinden.
Christian Petry (SPD): Mit der Richtlinie zur Har-
monisierung der Transparenzanforderungen im Bereich
der Wertpapiermärkte haben wir innerhalb der Europäi-
schen Union im Jahr 2004 eine Anpassung der nationa-
len Vorschriften über die Pflichten von Aktienemittenten
und Wertpapierhaltern festgelegt. Emittenten werden
durch die Richtlinienumsetzung verpflichtet, ihre Anle-
ger mehrmals im Jahr über aktuelle Geschäftszahlen zu
unterrichten. Aktionäre hingegen müssen Aktienemit-
tenten über bedeutende Aktienkäufe und Aktienverkäufe
informieren. Aus diesen Anforderungen entstand ein re-
gelmäßiger und laufender Informationsfluss, der europa-
weit zu einem erhöhten Anlegerschutzniveau geführt
hat.
Überarbeitung der Transparenzrichtlinie:
Heute behandeln wir nun in erster Lesung den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der
Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie in nationales
Recht.
Ziel der Überarbeitung der Transparenzrichtlinie ist
die Aktualisierung der Informations- und Transparenz-
anforderungen für Wertpapieremittenten und Aktionäre.
Unter anderem sollen durch die Änderungsrichtlinie
bestimmte Pflichten für Wertpapieremittenten verein-
facht werden. Dies soll die Aufnahme von Kapital in Eu-
ropa vereinfachen.
Ich möchte nun auf einige zentrale Änderungen des
Gesetzentwurfs zu sprechen kommen.
Sieht man in der Ankurbelung der Investitionstätig-
keit in Europa einen der Hauptgründe für die Überarbei-
tung der Transparenzrichtlinie, so ist in diesem Zusam-
menhang der Wegfall der bisherigen quartalsbezogenen
Veröffentlichung von Geschäftszahlen einzuordnen. In
den letzten Jahren wurde vermehrt kritisiert, dass das
Aktualisieren und Veröffentlichen der Zahlen pro Quar-
tal zu erheblichen Bürokratiekosten für kleinere Unter-
nehmen führt.
Als weiteres wichtiges Ziel der Änderungsrichtlinie
ist die Verbesserung der bestehenden Transparenzrege-
lungen zu nennen: Die Erhöhung des Bußgeldrahmens
bei Verstößen gegen die Richtlinie ist hierbei ebenso zu
begrüßen wie die im Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung vorgeschlagene Neuerung, Bußgelder für juristi-
sche Personen und Personenvereinigungen verbindlich
zu regeln.
Die öffentlichkeitswirksame Auflistung von Verwal-
tungsmaßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gegen
die Richtlinie wird für die Akteure am Wertpapiermarkt
zusätzlich eine abschreckende Wirkung haben.
Um eine angemessene und zeitnahe Information der
Marktakteure sicherzustellen, ist es zudem mehr als
überfällig, elektronische Meldeverfahren bei der BaFin
zuzulassen. Auch dies ist eine ganz wesentliche Verbes-
serung zu der bislang bestehenden Rechtslage.
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Transparenzrichtlinie und Kapitalmarktunion als gro-
ßes Ganzes sehen:
Mit Blick auf die Forderungen der Änderungsrichtli-
nie lässt sich sagen, dass elf Jahre nach Verabschiedung
der ursprünglichen Richtlinie europaweit etwas ganz
Wesentliches verinnerlicht wurde: Nur durch eine euro-
paeinheitlich geregelte Informationspflicht für Anleger
und Emittenten von Wertpapieren ist sichergestellt, dass
sich der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleis-
tungen effizient zur Kapitalallokation und folglich zu
wirtschaftlichem Wachstum entwickelt.
Die Markttransparenz wird durch die vorliegende Än-
derungsrichtlinie erneut verbessert; zudem wird der von
Kommissar Hill angekündigte europäische Binnenmarkt
für Kapital dazu führen, das Vertrauen der Anlegerinnen
und Anleger in die europäischen Märkte zusätzlich zu
stärken.
Versteht man die Transparenzrichtlinie und die Kapi-
talmarktunion als Teil eines großen Ganzen, so lässt sich
sagen, dass die gezielte Harmonisierung der europäi-
schen Kapitalmärkte zusätzliche grenzüberschreitende
Finanzierungsquellen für Unternehmen schaffen kann.
Die Transparenzrichtlinie und die Kapitalmarktunion
können als sich ergänzende Regelungen mit ihren um-
fangreichen neuen Finanzierungsmöglichkeiten Wirt-
schaftswachstum und Beschäftigungszuwachs in Europa
zu generieren.
Die überarbeiteten Transparenzanforderungen am
Wertpapiermarkt und der sie zukünftig flankierende eu-
ropäische Binnenmarkt für Kapital sind damit vor allem
eines: weitere Schritte hin zu einer noch engeren Verzah-
nung mit unseren europäischen Nachbarn.
Somit ist die Überarbeitung der Transparenzanforde-
rungen an Akteure am Wertpapiermarkt nur zu begrü-
ßen. Wir verbessern damit die Grundlage für einen noch
stärker integrierten Binnenmarkt für Wertpapiere.
Dies ist sowohl im Sinne des Anlegerschutzes als
auch ganz grundlegend im Sinne der Effizienz der global
vernetzten Märkte.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die EU hat vor zwei
Jahren die Veröffentlichungspflichten von Unternehmen
neu geregelt. Nach der Bilanzrichtlinie muss nun auch
die Transparenzrichtlinie noch in nationales Gesetz um-
gesetzt werden. Während die Bilanzrichtlinie Regeln für
alle Unternehmen setzt, legt die Transparenzrichtlinie
Veröffentlichungspflichten für börsennotierte Unterneh-
men fest.
Warum ist das wichtig? Unternehmen greifen relevant
in unser Leben ein. Wir kaufen ihre Produkte, viele
Menschen arbeiten für sie, und überhaupt kommen wir
ständig mit Aktivitäten von Unternehmen in Berührung.
Ein Hauptzweck börsennotierter Unternehmen ist es,
Gewinne für die Anteilseigner zu erwirtschaften. Aktio-
näre und Investoren haben logischerweise ein berechtig-
tes Interesse an Unternehmensinformationen. Dafür die-
nen die besagten Transparenzregeln, die etwa Vorgaben
für Jahresabschlüsse und Quartalsberichte machen. Aber
Kunden, Mitarbeiter, Geschäftspartner und andere soge-
nannte Stakeholder haben ebenfalls ein berechtigtes In-
teresse daran, was Unternehmen so treiben. Als Politiker
haben wir die Pflicht, auch dazu Informationspflichten
zu schaffen. Das klingt banal, ist aber alles andere als
selbstverständlich.
Von daher ist es erfreulich, dass die EU dem jahrelan-
gen Drängen von NGOs nachgegeben hat und Rohstoff-
firmen weiter gehende Offenlegungspflichten auferlegt
hat. Die Bundesregierung hat sich lange dagegen ge-
sperrt. Zukünftig müssen Unternehmen aus dem Berg-
bau, der Öl- und Gasindustrie und des Holzeinschlags
– Stichwort Regenwälder – länder- und projektbasiert
Zahlungen an staatliche Stellen offenlegen. Dazu gehö-
ren Steuern und Zahlungen für Schürfrechte und andere
Lizenzen. Das soll Korruption, Umweltzerstörung und
Menschenrechtsverletzungen erschweren, die in den
rohstoffreichen Entwicklungsländern alltäglich sind.
Schätzungen zufolge werden allein in Afrika jedes
Jahr Bodenschätze im Wert von einer Viertelbillion Euro
abgebaut und exportiert. Nach Annahmen der UNO ver-
liert Afrika durch illegale Geldabflüsse – also etwa
durch Preismanipulation bei Handelsgeschäften, Steuer-
hinterziehung oder Korruption – jährlich bis zu 50 Mil-
liarden Dollar. Diese Verluste zu begrenzen, ist ange-
sichts der großen Armut ein Gebot der Menschlichkeit.
Es wäre schön, wenn Europa dabei Vorreiter wäre und
nicht erst, nachdem die USA 2012 sich entsprechende
Transparenzregeln gegeben haben, nachgezogen hätte.
Die EU-Richtlinie ist sehr eng definiert. Als Bundes-
tag haben wir bei ihrer Umsetzung nur wenig Spielraum,
etwa bei der Veröffentlichung der Daten und bei den
Bußgeldern. Wir werden ein Augenmerk darauf werfen,
dass die Daten möglichst gut zugänglich sein werden
und die Sanktionen für Zuwiderhandlungen auch wirk-
lich abschreckend wirken.
Die Transparenzrichtlinie darf aber nicht das Ende der
Fahnenstange sein. Ganz elementar ist es, die länder-
und projektbezogene Offenlegung auch auf weitere Sek-
toren auszudehnen. Damit ist es aber natürlich nicht ge-
tan. Ziel muss sein, dass in Deutschland möglichst keine
Waren verkauft oder eingeführt werden, die unter un-
menschlichen oder umweltzerstörerischen Bedingungen
in armen Ländern abgebaut, geerntet oder produziert
wurden.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der vorliegende Gesetzentwurf soll die Transpa-
renzrichtlinie-Änderungsrichtlinie der EU umsetzen.
Dabei wird das Transparenzregime börsengehandelter
Wertpapiere weiter harmonisiert. Zudem soll der Kapi-
talmarkt durch vereinfachte Berichtspflichten für kleine
und mittlere Emittenten attraktiver gemacht werden.
Schließlich wird mit diesem Gesetz eine Transparenz-
pflicht für die börsennotierte Rohstoffindustrie und
Forstwirtschaft eingeführt. Diese Unternehmen müssen
künftig Zahlungen an staatliche Stellen länderbezogen
offenlegen. Für die nichtbörsennotierten Unternehmen
aus diesen Branchen haben wir vergleichbare Offenle-
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gungspflichten im Rahmen des Bilanzrichtlinien-Umset-
zungsgesetzes bereits vor einigen Wochen hier im Ple-
num diskutiert.
Auf den Punkt der länderbezogenen Offenlegungs-
pflichten für Unternehmen möchte ich mich heute kon-
zentrieren. Denn das vorliegende Gesetz ist einerseits
ein Grund zu großer Freude – andererseits eine verpasste
Chance. Große Freude, weil damit ein wichtiger und
überfälliger Schritt gegen Korruption in den rohstoffrei-
chen Ländern gelungen ist. Die Zivilgesellschaft vor Ort
kann so ihre Regierungen deutlich besser kontrollieren.
Aber in der vorliegenden Form ist das Gesetz auch
eine verpasste Chance, weil die länderbezogenen Offen-
legungspflichten nicht für alle Branchen eingeführt wur-
den. Denn neben der richtigen Transparenzanforderung
für die Rohstoff- und Holzindustrie gibt es ein weiteres
drängendes Problem: Große internationale Konzerne
entziehen sich durch Steuergestaltung systematisch ihrer
Steuerpflicht und verweigern damit den einzelnen Staa-
ten ihren Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Nach
einer Studie für das Europäische Parlament entgehen
Deutschland jährlich Steuereinnahmen von circa 150
Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Steuer-
vermeidung – in der gesamten EU rund eine Billion
Euro.
Die Finanzminister der G 20 und kürzlich erst wieder
der G 7 bei ihrer Sitzung in Dresden haben der Bekämp-
fung von Steuergestaltung höchste Priorität gegeben.
Dann müsste doch eigentlich klar sein, dass wir erhöhte
Transparenzforderungen für alle Unternehmen brauchen,
um zukünftig Steuergestaltung zu unterbinden. Dies
kann nur durch länderbezogene Offenlegungspflichten
für Steuerzahlungen erreicht werden, allgemein bekannt
unter dem Namen „Country-by-Country-Reporting“.
Und um da gleich einem Hauptargument gegen diesen
Transparenzforderungen zu begegnen: Es geht nicht da-
rum, detaillierte Steuererklärungen öffentlich zu ma-
chen, die in der Interpretation schwierig sind und in
wettbewerbsschädlichem Maße Details aus den Unter-
nehmen offenbaren würden. Es geht darum, eine Be-
richtspflicht für aggregierte Steuerzahlungen und rele-
vante Wirtschaftsdaten auf nationaler Ebene
einzuführen, die es der Öffentlichkeit transparent ma-
chen, ob ein Unternehmen seinen Beitrag zur öffentli-
chen Daseinsvorsorge leistet oder sich dieser Pflicht ent-
zieht. Und es ist schlicht Humbug zu behaupten, dass
dies nicht in eine vernünftige Transparenzanforderung
zu packen wäre.
Die Bundesregierung betreibt bei länderbezogenen
Transparenzpflichten leider eine massive Blockadepoli-
tik. Dabei sind Transparenzpflichten wie das Country-
by-Country-Reporting eines der entscheidenden Instru-
mente, um Steuergestaltung nachhaltig einzudämmen.
Zu dieser Einsicht sind viele politische Akteure gekom-
men, nachdem – nicht zuletzt durch Skandale wie Lux-
Leaks – immer deutlicher wurde, in welch hohem Um-
fang Steuergestaltung möglich war und teilweise auch
gezielt von einzelnen Ländern zur Exportförderung der
eigenen Industrie oder zum Anlocken von Unternehmen
eingesetzt wurde.
So fordert das Europäische Parlament in seinem Jah-
ressteuerbericht von diesem Frühjahr parteiübergreifend
die Ausweitung der länderbezogenen Offenlegungs-
pflichten auf alle Branchen. Die EU-Kommission hat in
ihrem letzten Maßnahmenpaket in Auftrag gegeben,
dass das Country-by-Country-Reporting für alle Bran-
chen noch mal geprüft wird. Unzählige Nichtregierungs-
organisationen auf der ganzen Welt kämpfen seit vielen
Jahren für steuerliche Transparenz.
Aus dem deutschen Finanzministerium ist aber nur zu
hören: Wir sind dagegen. Man würde die Unternehmen
sonst in eine Verteidigungsposition bringen. Die Daten
sollen maximal zwischen den Finanzbehörden ausge-
tauscht werden, so wie es das aktuelle OECD-Projekt
vorsieht. Die Öffentlichkeit aber soll nichts erfahren.
Die Einstellung der Bundesregierung ist fatal, denn
die Bürgerinnen und Bürger, NGOs und Parlamente
müssen wissen, wo und in welcher Höhe multinationale
Unternehmen Steuern zahlen und wie dies im Verhältnis
steht zur ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivität an
diesem Ort.
Nur durch die Öffentlichkeit entsteht Druck zu nach-
haltiger Veränderung: zum einen auf die entsprechenden
Unternehmen, die sich ihrem Anteil an der Finanzierung
des Gemeinwesens entziehen, zum anderen – und das ist
entscheidend – auf die Nationalstaaten, die sich zum
Beispiel darauf einigen müssen, schädliche steuerliche
Sonderregime wie Patentboxen nicht mehr anzubieten.
Länderbezogene Offenlegungspflichten allein können
die Steuergestaltungen multinationaler Unternehmen na-
türlich nicht eindämmen. Aber sie werden ein stärkeres
gesellschaftliches Bewusstsein dafür schaffen, dass in-
ternationale Zusammenarbeit gegen Steuerdumping not-
wendig ist und Steuergesetze verändert werden müssen.
Zudem helfen die Informationen uns Parlamentariern, zu
sehen, wo genau Handlungsbedarf bei den Gesetzen be-
steht.
Und ein ganz gewichtiges Argument noch zum
Schluss: Steuergestaltung führt zu einer gewaltigen
Wettbewerbsverzerrung. Nicht umsonst legen viele Staa-
ten einen großen Wert auf eine Überwachung des Wett-
bewerbs. Denn sie wissen, dass nur im fairen Wettbe-
werb wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sich entwickelt.
Wer also eine Verzerrung des Wettbewerbs zulässt, han-
delt gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Und
das sollte diese Bundesregierung nicht zulassen.
Ich fordere die Bundesregierung zum wiederholten
Mal auf: Hören Sie auf, Transparenz weiter zu blockie-
ren! Machen Sie den Weg frei für länderbezogene Offen-
legungspflichten für alle Branchen in der EU. Wir brau-
chen dieses Instrument, um Steuergestaltung wirksam
und nachhaltig zu bekämpfen.
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Transparenz ist ein wesentli-
cher Faktor in einem funktionierenden Kapitalmarkt, vor
allem wenn die Komplexität in den Märkten – wie in den
letzten Jahren zu beobachten – angesichts einer Vielzahl
neuer Handelsplätze, neuer Produkte und nicht zuletzt
immer ausgefeilterer technologischer Innovationen ste-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10561
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tig zunimmt. Letztlich geht es um eine Stärkung des An-
legervertrauens und um die Gewährleistung eines fairen
Wettbewerbs.
Im Bereich der börsengehandelten Wertpapiere regelt
die EU-Transparenzrichtlinie die wesentlichen Transpa-
renzvorgaben.
Erstens. EU-Transparenzrichtlinie und aktuelle Ände-
rungsrichtlinie:
In ihrer heutigen Form trat die EU-Transparenzrichtli-
nie im Jahr 2004 in Kraft. Die nun zur Umsetzung in na-
tionales Recht anstehende Änderungsrichtlinie vom
27. November 2013 baut auf der bestehenden Regelung
auf und passt diese an die Marktentwicklungen der letz-
ten Jahre an.
Beabsichtigt ist zum einen, die Kapitalmärkte zugäng-
licher zu machen, vor allem für kleinere und mittlere Un-
ternehmen, indem etwa Berichtspflichten vereinfacht
werden. Zum anderen soll die EU-weite Harmonisierung
des Transparenzregimes auf hohem Niveau weiter vor-
angetrieben werden, insbesondere mit Blick auf die Ver-
hinderung des verdeckten Aufbaus wesentlicher Unter-
nehmensbeteiligungen – sogenanntes „Anschleichen an
Unternehmen“. Hierzu gehört auch die Einführung von
verbindlichen Mindestvorgaben zur Schaffung wirksa-
mer und abschreckender Sanktionen bei Verstößen ge-
gen die Vorgaben der Transparenzrichtlinie.
Die Bundesregierung hat am 29. April 2015 den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzricht-
linie-Änderungsrichtlinie beschlossen, der heute dem
Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegt. Die Bun-
desregierung kommt damit ihrer Verpflichtung nach, die
Neuerungen bei den Vorgaben der EU-Transparenzricht-
linie im deutschen Recht nachzuvollziehen. Die Richtli-
nie sieht eine Umsetzung bis Ende November 2015 vor.
Zweitens. Wichtigste Punkte des Gesetzes:
Zu den wichtigsten Änderungen im Gesetzentwurf
gehören die folgenden:
Überarbeitung der Regeln zur Meldung von Stimm-
rechten zur besseren Erkennung des Aufbaus von Betei-
ligungen durch Einsatz von Finanzinstrumenten – „An-
schleichen an Unternehmen“. In Deutschland bestehen
bereits sehr wirksame Vorgaben in dieser Hinsicht, so-
dass hier nur punktuelle Anpassungen erforderlich sind.
Aufhebung der gesetzlichen Verpflichtung von Emit-
tenten zur Erstellung unterjähriger Zwischenmitteilun-
gen; dies entlastet insbesondere kleine und mittlere Un-
ternehmen.
Einführung von jährlichen Berichtspflichten für Emit-
tenten im Rohstoffsektor über Zahlungen an staatliche
Stellen, um auch in diesem Bereich größtmögliche Trans-
parenz zu gewinnen.
Verschärfung der Sanktionen für Verstöße gegen
Transparenzvorgaben. Für juristische Personen sind
Geldbußen bis zu 10 Millionen Euro oder bis zu 5 Pro-
zent des Jahresumsatzes beziehungsweise des Zweifa-
chen der erlangten Vorteile möglich.
Verpflichtung der BaFin zur grundsätzlichen Veröf-
fentlichung verhängter Sanktionen beziehungsweise
anderer Maßnahmen bei Rechtsverstößen, wobei in Aus-
nahmefällen ein zeitlicher Aufschub oder eine Anonymi-
sierung vorgesehen ist.
Drittens. Erleichterungen für Wirtschaft und Verwal-
tungsvereinfachung:
Die neuen Regeln werden unter dem Strich für alle
Marktteilnehmer spürbare Erleichterungen bewirken,
auch im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr.
Nicht nur verbessern sich die Transparenz und der Zu-
gang zu Informationen auf den Märkten noch weiter, es
kommt zugleich auch zu einer deutlichen Verringerung
des Verwaltungsaufwands, sowohl für die verpflichteten
Unternehmen als auch die BaFin.
Auf der Kostenseite rechnen wir etwa – ungeachtet
eines gewissen einmaligen Umstellungsaufwands (circa
15 Millionen Euro) – mit einer dauerhaften Entlastung
der Wirtschaft um jährlich circa 31 Millionen Euro.
Hinzu kommen zahlreiche Vereinfachungen auf der
Ebene der Verwaltungsverfahren, insbesondere durch
die noch konsequentere Nutzung von Onlineverfahren,
etwa bei der Meldung wesentlicher Unternehmensbetei-
ligungen. Von einzelnen Marktteilnehmern haben wir
bereits gehört, dass sich der administrative Meldeauf-
wand infolge der geplanten Änderungen für sie voraus-
sichtlich mindestens halbieren wird.
Viertens. Einordnung in weitere EU-Kaptialmarkt-
Reformen:
Die eben dargestellten Änderungen infolge der Über-
arbeitung der EU-Transparenzrichtlinie stellen nur den
Auftakt dar zu einer ganzen Reihe von kapitalmarkt-
rechtlichen Gesetzgebungsvorhaben, welche die Bun-
desregierung zusammen mit ihren europäischen Partnern
auf der Ebene der EU in den letzten Jahren auf den Weg
gebracht hat und die in dieser Legislaturperiode zur Um-
setzung in nationales Recht anstehen.
Weiter zu nennen sind hier etwa die fünfte Novellie-
rung der Richtlinie zur Regelung offener Wertpapier-
fonds, OGAW V, die Überarbeitung der EU-Finanzmarkt-
richtlinie, MiFiD 2, die neue EU-Marktmissbrauchs-
Verordnung und die EU-Zentralverwahrerverordnung.
Über die aktuellen Vorhaben hinaus werden am Horizont
bereits die Grundlagen für eine europäische Kapital-
marktunion gelegt, bei deren Erarbeitung Deutschland
als einer der treibenden Akteure aktiv mitwirkt.
Fünftens. Schluss:
Zusammen mit den jüngsten Gesetzesänderungen im
Bereich der Banken und der Versicherungen zeichnet
sich eine umfassende Neuordnung des EU-Finanzmarkt-
rechts ab, die den Lehren der Krisenjahre Rechnung
trägt. – Die Zusage von Frau Bundeskanzlerin, keinen
Finanzplatz, keinen Akteur und kein Produkt unreguliert
zu lassen, wird damit auch auf europäischer Ebene
Schritt für Schritt verwirklicht.
Deutschland hat sich auf diesem Weg stets als verläss-
licher Partner im Kreis der EU-Mitgliedstaaten erwiesen;
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der
überarbeiteten EU-Transparenzrichtlinie können wir
dies ein weiteres Mal unterstreichen.
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
109. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Bürokratieentlastungsgesetz
TOP 4 Arbeitsmarktpolitik für Asylsuchende
TOP 5 Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses 2014
ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 30, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zu dem Thema „Ehe für alle“
TOP 6 Gesundheitsversorgung
TOP 7 Exportüberschüsse
TOP 8 Gesunde Ernährung
TOP 9 Rüstungsexportkontrolle
TOP 10 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR)
TOP 11 Leistungsschutzrecht für Presseverleger
TOP 12 Bundeswehreinsatz in Mali (MINUSMA)
TOP 13 Abkommen mit Westafrikanischer Wirtschaftsunion
TOP 14 Bundeswehreinsatz in Libanon (UNIFIL)
TOP 15 Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet
TOP 16 Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU
TOP 17 Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe
TOP 18 Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten
TOP 19 Alphabetisierung in Deutschland
TOP 20 Stärkung der Kultur im ländlichen Raum
TOP 22 Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie
Anlagen