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ID1810901500

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    Plenarprotokoll 18/109 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 109. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Hans-Christian Ströbele . . . . . . . . . . . 10375 A Wahl des Abgeordneten Harald Petzold (Ha- velland) als persönliches stellvertretendes Mitglied eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates . . . . . . . . . . . . . 10375 A Wahl der Abgeordneten Hans-Werner Kammer als ordentliches Mitglied und Matthias Lietz als persönliches stellvertre- tendes Mitglied des Eisenbahninfrastruk- turbeirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10375 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10375 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 21 und 29 10376 A Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 10376 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Büro- kratie (Bürokratieentlastungsgesetz) Drucksache 18/4948 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Dieter Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bürokratie gezielt abbauen statt Still- stand manifestieren Drucksache 18/4693 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 B Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 C Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10378 A Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10380 C Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10382 C Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10383 B Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10384 C Dr. Helge Braun, Staatsminister BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10385 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10387 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10388 C Helmut Nowak (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10390 B Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10392 B Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: In die Zukunft investieren – Asylsuchende auf ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen Drucksache 18/5095 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10393 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10394 A Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 10395 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10397 A Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10398 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10400 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10401 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10403 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10405 A Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10406 D Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 10408 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10409 A Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10409 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10410 C Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10411 C Kai Whittaker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10412 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10413 C Tagesordnungspunkt 5: Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag – Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2014 Drucksache 18/4990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10415 A Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10415 B Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10417 C Kerstin Kassner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10418 C Martina Stamm-Fibich (SPD) . . . . . . . . . . . . 10419 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10420 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10421 D Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10422 A Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10423 C Dr. Simone Raatz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10424 C Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10425 D Antje Lezius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10426 C Annette Sawade (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10427 C Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) . . . . . . 10428 C Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10429 C Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10430 C Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen Drucksache 18/5046 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10432 C b) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kinder- und Jugendhilfe – Betei- ligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften ein- führen Drucksache 18/5103 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10432 D Tagesordnungspunkt 30: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung: Bau- kulturbericht 2014/15 der Bundesstif- tung Baukultur und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/3020, 18/4850 . . . . . . . . 10433 A b) Beratung der Dritten Beschlussempfeh- lung und des Berichts des Wahlprüfungs- ausschusses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 8. Europäi- schen Parlament am 25. Mai 2014 Drucksache 18/5050 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10433 A c)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 190, 191, 192, 193, 194, 195 und 196 zu Petitionen Drucksachen 18/4953, 18/4954, 18/4955, 18/4956, 18/4957, 18/4958, 18/4959 . . . . 10434 B Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 10433 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- schlag einer EU-Datenschutzverordnung – KOM(2012) 11 – hier: Stellungnahme ge- genüber der Bundesregierung gemäß Arti- kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog sicher- stellen Drucksache 18/5102 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10435 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Ehe für alle . . . . . . . . . . . . . . . 10435 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10435 B Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10436 D Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10438 B Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10439 D Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10440 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 III Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 10442 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 10443 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10444 D Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10445 D Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10447 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10448 B Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 10449 C Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versor- gungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) Drucksachen 18/4095, 18/5123 . . . . . . 10451 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/5124 . . . . . . . . . . . . . . 10451 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Wohnortnahe Ge- sundheitsversorgung durch bedarfs- orientierte Planung sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein- Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheitsversorgung umfassend verbessern – Patienten und Kommu- nen stärken, Strukturdefizite behe- ben, Qualitätsanreize ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein- Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Transparenz der Selbstver- waltung im Gesundheitswesen Drucksachen 18/4187, 18/4153, 18/1462, 18/5123 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10451 D Hermann Gröhe, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10452 A Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10453 C Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10454 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10456 A Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10457 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10458 D Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10459 D Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10460 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10461 B Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10462 A Dirk Heidenblut (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10463 B Reiner Meier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10463 D Sabine Dittmar (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10464 D Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exportüberschüsse abbauen – Wende in der Lohnpolitik einleiten Drucksache 18/4837 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10466 C Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10466 C Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10467 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 10469 A Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . 10470 A Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) . . . . . . 10470 D Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10471 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10473 C Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung und Landwirtschaft – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD: Gesunde Ernährung stärken – Lebensmittel wertschätzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Ernährung für alle Drucksachen 18/3726, 18/3730, 18/3733, 18/5008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10475 A Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10475 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10476 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Jeannine Pflugradt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10477 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10478 D Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10480 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10481 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10481 D Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10482 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10482 C Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10483 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz Drucksache 18/4940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10484 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10484 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10486 B Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10487 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10488 D Bernd Westphal (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10489 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10490 B Helmut Nowak (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10491 A Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . . . . . . . . . . . . 10492 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10492 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10493 D Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der in- ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Drucksache 18/5052 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10494 C Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10494 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 10496 B Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10497 C Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10498 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . 10499 A Dirk Vöpel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10499 C Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10500 B Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10501 C Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordne- ten Tabea Rößner, Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf- hebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Leistungsschutz- rechtsaufhebungsgesetz – LSR-AufhG) Drucksachen 18/3269, 18/4987 . . . . . . . . . . . 10502 C Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10502 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10503 D Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10504 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10505 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10506 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen In- tegrierten Stabilisierungsmission der Ver- einten Nationen in Mali (MINUSMA) auf Grundlage der Resolution 2100 (2013) und 2164 (2014) des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen vom 25. April 2013 und 25. Juni 2014 Drucksache 18/5053 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10507 C Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10507 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10509 B Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10510 B Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10511 B Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10512 A Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Katharina Dröge, Claudia Roth (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Ab- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 V geordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirtschafts- partnerschaftsabkommen mit der West- afrikanischen Wirtschaftsunion dem Bun- destag zur Abstimmung vorlegen Drucksache 18/5096 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10512 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10513 A Charles M. Huber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10513 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10515 B Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10516 A Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations Inte- rim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und nachfolgender Verlän- gerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2172 (2014) vom 26. August 2014 Drucksache 18/5054 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10517 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10518 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10519 B Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10520 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10521 A Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10522 B Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit von Äuße- rungen im Internet Drucksache 18/2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10523 A Tagesordnungspunkt 16: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln Drucksachen 18/4426, 18/5071 . . . . . . . . . 10523 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationales Reformpro- gramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken Drucksachen 18/4464, 18/4717 . . . . . . . . 10523 C Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbe- triebe ab 2016 Drucksachen 18/3415, 18/4729 . . . . . . . . . . . 10523 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- linie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durch- führung der Verordnung über Online- Streitbeilegung in Verbraucherangelegen- heiten Drucksache 18/5089 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland umsetzen Drucksache 18/5090 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 B Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Ute Bertram, Yvonne Magwas, Michael Kretschmer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Burkhard Blienert, Marco Bülow, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum Drucksache 18/5091 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie- Änderungsrichtlinie Drucksache 18/5010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10525 C VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10527 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rudolf Henke (CDU/CSU) zu der Abstim- mung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stär- kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstär- kungsgesetz – GKV-VSG) (Tagesordnungs- punkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10527 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche Klarstellung der Ver- traulichkeit von Äußerungen im Internet (Ta- gesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10529 C Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10529 C Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10530 B Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10531 A Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . 10532 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10532 D Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Nationales Reformprogramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b) . . . . . . 10533 A Uwe Feiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10533 B Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10534 A Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10534 D Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10535 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 10536 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Steuerfreie Risikoausgleichs- rücklage für Agrarbetriebe ab 2016 (Tages- ordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10537 A Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . 10537 A Rita Stockhofe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10537 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . 10538 D Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . 10539 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10541 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online- Streitbeilegung in Verbraucherangelegenhei- ten (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . 10541 C Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 10541 C Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . 10543 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . 10543 C Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10544 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 10544 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10545 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisierung in Deutsch- land umsetzen (Tagesordnungspunkt 19) . . . . 10546 C Xaver Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10546 C Sven Volmering (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10547 B Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10548 B Marianne Schieder (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10549 C Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . 10550 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10552 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum (Tagesordnungs- punkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10552 D Ute Bertram (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10552 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . 10553 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10554 C Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10556 A Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10557 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 VII Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (Ta- gesordnungspunkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10557 D Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . 10557 D Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10558 C Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10559 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10559 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10560 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10375 (A) (C) (D)(B) 109. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Beginn: 9.02 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10527 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Barthel, Klaus SPD 11.06.2015 Behrens (Börde), Manfred CDU/CSU 11.06.2015 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Ferner, Elke SPD 11.06.2015 Freese, Ulrich SPD 11.06.2015 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 11.06.2015 Ilgen, Matthias SPD 11.06.2015 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 11.06.2015 Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 11.06.2015 Nietan, Dietmar SPD 11.06.2015 Post (Minden), Achim SPD 11.06.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rudolf Henke (CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurf eines Ge- setzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Ver- sorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) (Tages- ordnungspunkt 6 a) Der Deutsche Bundestag stimmt heute mit voraus- sichtlich großer Mehrheit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GKV-Versorgungsstärkungsge- setz zu. Dies schließt 56 Änderungsanträge ein, die Union und SPD gestern im federführenden Ausschuss für Gesundheit beschlossen haben. Damit hat der Aus- schuss zahlreiche Konsequenzen aus der öffentlichen Diskussion und den parlamentarischen Beratungen des Gesetzes gezogen, einschließlich der öffentlichen Ausschussanhörung. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem solchen Konvolut nicht alle Aspekte jeden in gleicher Weise entzücken können. In den bisherigen Erörterungen des Gesetzes habe ich öffentlich wie nicht- öffentlich einer Reihe von Punkten aus dem ursprüngli- chen Entwurf widersprochen. Zum Teil hat es in diesen Punkten Änderungen des Entwurfes gegeben, die ich für Verbesserungen halte, zum Teil ist es zu keinen Änderungen gekommen, und es gibt auch einzelne Änderungen, die ich für nachteilig halte. Insgesamt verbessern die beschlossenen Ände- rungsanträge den Gesetzentwurf beträchtlich. Mit ein- zelnen Änderungswünschen bin ich in den bisherigen Beratungen durchgedrungen, mit anderen nicht. In den heutigen Abstimmungen zum Versorgungsstär- kungsgesetz stimme ich in dem Sinne ab, wie es die Arbeitsgruppe Gesundheit meiner Fraktion beschlossen hat und wie es in der Fraktion verabredet ist. Dennoch möchte ich von der nach der Geschäftsord- nung des Deutschen Bundestages gegebenen Möglich- keit Gebrauch machen, zu einzelnen Punkten in der Sache Stellung zu nehmen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten wird über die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation hinaus auch für stationäre Vorsorgeleistungen und Leis- tungen zur medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter gestärkt. Zudem wird die Verhütung von Zahnerkran- kungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behin- derungen verbessert. Beides sind gute Entscheidungen für die Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung. Das Verfahren zur Erstattung von Fahrtkosten und die Entgeltfortzahlung für Spender von Organen, Geweben und Blutstammzellen oder anderen Blutbestandteilen wird vereinfacht. Das ist gut für die Spendebereitschaft. Viele offene Fragen des Verfahrens zur Erbringung von Zweitmeinungen werden durch den entsprechenden Änderungsantrag geklärt, sonst notwendige langwierige Beratungen können dadurch abgekürzt werden. Sonst nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende besonders erfahrene Ärzte können an der Erbringung von Zweitmeinungen teilnehmen. Das als hochkomplex und bürokratisch geltende Verfahren der Heilmittelversorgung von Versicherten mit langfristigem Behandlungsbedarf soll durch eine entsprechende Fristsetzung für den GBA bis zum 30. Juni 2016 vereinfacht werden. Über die Umsetzung des neu geschaffenen Anspruchs der Versicherten auf individuelle Beratung und Hilfestel- lung durch die Krankenkassen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit muss das Bundesministerium für Ge- Anlagen 10528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) sundheit dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezem- ber 2018 einen Bericht erstatten. Dann kann auch ge- prüft werden, ob und wie sich dieser Anspruch auf das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten aus- wirkt. Probleme, die sich in der Praxis vor allem nach Wochenenden bei der verspäteten Ausstellung von Ar- beitsunfähigkeits-Folgebescheinigungen gezeigt haben, werden gelöst. Im Fall der umstrittenen Terminservicestellen, deren zu erwartende Wirkungen ich für sehr bescheiden und damit stark bürokratieverdächtig halte, findet – erstmals zum 30. Juni 2017 – eine jährliche Evaluation durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung statt. Das sollte die künftige Debatte in diesem derzeit stark emotional bela- denen Punkt in Zukunft versachlichen. Ich bin sehr froh über die Klarstellung, dass in ambu- lanter Weiterbildung befindliche Ärztinnen und Ärzte zukünftig eine dem Tarifgehalt in Krankenhäusern entsprechende Vergütung erhalten sollen. Nach dem Gesetzentwurf sollen ambulante Weiterbildungsstellen verpflichtet werden, den von der Kassenärztlichen Verei- nigung und den Krankenkassen zur Verfügung gestellten Förderbetrag auf die im Krankenhaus gezahlte Vergü- tung anzuheben und an die in Weiterbildung befindli- chen Ärztinnen und Ärzte auszuzahlen. Das ist klug. Es muss unbedingt verhindert werden, dass sich Fälle wiederholen, in denen Weiterbildungsstellen diese För- dergelder nicht im vollen Umfang an die angestellten Ärzte ausgezahlt haben. Die gesetzliche Klarstellung ist notwendig, um diese rechtswidrige Praxis endlich ver- lässlicher zu unterbinden. Anders als im Krankenhaus erzielt die Arbeitsleistung der in Weiterbildung befindli- chen Ärzte in vertragsärztlichen Praxen bisher vielfach keinen zusätzlichen Erlös. Es ist gut, die Fördergelder extrabudgetär zur Verfügung zu stellen und die Mittel nach Tariferhöhungen im Krankenhaus zu dynamisieren. Besonders hervorzuheben sei die vorgesehene Regelung in der ÄrzteZulassungsverordnung, die Weiterbildungs- bereitschaft dadurch zu fördern, dass den Weiterbildern die Ausweitung des bisherigen Praxisumfangs erlaubt werde. Je nach Ausgestaltung kann dies die Anreize zur ambulanten Weiterbildung deutlich erhöhen. Die Verant- wortung dafür tragen künftig die Kassenärztlichen Verei- nigungen. Ich hoffe sehr, dass es in diesem Bereich künf- tig zu direkten Tarifverträgen kommt. Weiterbildung ist ärztliche Berufsausübung und ent- sprechend als Arbeitsleistung zu vergüten. Dieser Grundsatz darf nicht durch falsche Etikettierungen in- frage gestellt werden. Deshalb sind einige begriffliche Klarstellungen im Gesetz sehr zu begrüßen. Approbierte Ärztinnen und Ärzte sind keine Auszubildenden oder Stipendiaten, sondern gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen. Versuche, junge Ärzte nach holländischem Vorbild zu „Arztassistenten“ umzudefinieren, sind ab- zuzlehnen. Ich freue mich, dass die Änderungsanträge von Union und SPD zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz keine Verpflichtung enthalten, Mittel aus der Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin zu universitär angebundenen Kompetenzzentren umzuschichten. Durch entsprechende Pläne der Umschichtung wären Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe für 375 Stel- len in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung ge- fährdet. Leider ist diese Gefahr noch nicht ganz vom Tisch; die endgültige Entscheidung liegt in Zukunft bei dem GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesell- schaft. Nach der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie des G-BA in der Neufassung vom 22. Januar 2015 ist Kranken- hausbehandlung notwendig, wenn die Weiterbehandlung mit den Mitteln des Krankenhauses aus medizinischen Gründen erfolgen muss. Hier heißt es unter anderem: „Die Verordnung stationärer Krankenhausbehandlung kommt allein aus medizinischen Gründen in Betracht. Alle Beteiligten sollten mitwirken, Belegungen der Krankenhäuser mit Patientinnen und Patienten zu ver- meiden, die der Behandlung mit den Mitteln des Kran- kenhauses nicht bedürfen.“ Die Regelung folgt dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ und setzt darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V um, nach dem Leistungen, die nicht notwendig oder unwirt- schaftlich sind, von den Leistungserbringern nicht be- wirkt werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Kompetenzen erforderlich sind, um die Notwendigkeit einer medizinischen Weiterbehand- lung zu beurteilen. Nach der Krankenhauseinweisungs- Richtlinie wird den Ärzten die Pflicht auferlegt, vor der Verordnung einer stationären Krankenhausbehandlung zunächst abzuwägen, ob die Behandlung unter Einbin- dung anderer ambulanter Leistungserbringer fortgesetzt werden kann. Bei konsequenter Anwendung hätte ein psychologi- scher Psychotherapeut nicht die Möglichkeit, ohne die Expertise eines somatisch-psychotherapeutisch tätigen Arztes zu entscheiden, ob eine medizinische Weiter- behandlung mit den Mitteln des Krankenhauses indiziert ist. Diese Möglichkeit hat nur der ärztliche Psychothera- peut. Darüber hinaus halten Krankenhäuser nahezu keine Einrichtungen vor, die eine stationäre Weiter- behandlung des therapeutischen Spektrums der psycho- logischen Psychotherapeuten vorsehen. Denkbar wäre die Einweisung in eine psychiatrische oder auch eine psychosomatische Einrichtung. Ob die je- weilige Behandlung nur mit den Mitteln des Kranken- hauses medizinisch möglich ist, kann wiederum nur ein entsprechend aus- und weitergebildeter Arzt entschei- den, das heißt, wiederum ist die Expertise etwa eines Psychiaters oder eines Psychosomatikers erforderlich, bzw. die ärztliche Einschätzung, ob der Patient durch diese Fachärzte ambulant weiter versorgt werden kann. Insbesondere muss die Möglichkeit einer begleiten- den Pharmakotherapie geprüft werden, bevor der Patient in die stationäre Behandlung gelangt. Vor diesem Hinter- grund ist die im Gesetz jetzt enthaltene Neureglung der Einweisungsbefugnisse für psychologische Psychothera- peuten in der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie nur mit einer groben Verletzung von Regeln der Wirtschaft- lichkeit möglich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10529 (A) (C) (D)(B) Darüber hinaus werden die Patienteninteressen nicht geschützt, wenn die Möglichkeiten der ambulanten medizinischen Weiterbehandlung unter Auslassung so- matischer bzw. pharmakotherapeutischer Expertise ge- prüft werden. Mit meinem Werben für eine andere Ent- scheidung bin ich in den Beratungen leider unterlegen. Für gelungen halte ich dagegen die Änderungen zu den Antragsberechtigungen für den Innovationsfonds. Der Kreis der möglichen Antragsteller ist somit nicht mehr begrenzt. Die Regelungen zu Zulassungsbeschränkungen und dem Aufkauf von Arztsitzen sind durch die beschlosse- nen Änderungsanträge erheblich abgemildert, wenn auch die Grundlage für die Grenze bei 140 Prozent ebenso zu hinterfragen ist wie die bei 110 Prozent oder jede andere. In der Sache führt es vor allem weiter, eine grundlegende Überarbeitung der Bedarfsplanung in An- griff zu nehmen. Gegenüber dem Ursprungsentwurf ist die Rolle der Hochschulambulanzen für Forschung und Lehre in der Ausschussfassung des Gesetzes wesentlich verbessert. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, die ins Auge gefasste Wählbarkeitsvoraussetzung für die Vertreter der Ärzte im beratenden Fachausschuss für Psychotherapie, überwiegend psychotherapeutisch tätig sein zu müssen, ersatzlos entfallen zu lassen. Damit wird die Rolle der Ärztinnen und Ärzte, die eine ganzheitliche Patienten- versorgung unter Einschluss somatischer wie psychothe- rapeutischer Aspekte anstreben und verwirklichen, ge- stärkt. Es gehört zu den Errungenschaften moderner Medizin, die Abgrenzung in der Betrachtung von kör- perlicher, seelischer und geistiger Gesundheit zu über- winden. Für eine Verbesserung des Ursprungsentwurfes halte ich ebenfalls, dass es möglich wird, künftig bis zu 1 000 Stellen in der Weiterbildung für in der ambulanten Grundversorgung tätige Facharztdisziplinen finanziell zu fördern. Zu den besonders gelungenen Verbesserungen bereits im Ursprungsentwurf zähle ich die mit § 119 c SGB V erfolgende Einführung von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen. Mehrere Deutsche Ärztetage haben die Etablierung dieser Versorgungsform im An- schluss an die Versorgung in sozialpädiatrischen Zentren verlangt. Dies ist ein wichtiger Schritt zu einer verbes- serten und nachhaltigen ärztlich geleiteten Versorgung von Menschen mit den genannten Einschränkungen. Ich danke unter anderem Professor Seidel aus Bielefeld und Helmut Peters aus Mainz für ihr nimmermüdes beharrli- ches Drängen in dieser Frage. Mit den aufgeführten Beispielen möchte ich den Weg, den das Gesetz in den Beratungen genommen hat, etwas deutlicher werden lassen und meine Einschätzung unter- streichen, dass es Licht wie Schatten enthält. Im Diskurs über das Gesetz ist vor allem die Schattenseite betont worden. Ich hoffe darauf, dass nun vor allem die Licht- seite wirkt. Wie bereits ausgeführt, stimme ich in den Abstim- mungen gemeinsam mit meiner Fraktion und damit der Ausschussfassung des Gesetzes zu. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche Klarstel- lung der Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet (Tagesordnungspunkt 15) Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema „Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet“. Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung auf- gefordert werden, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass Äußerungen, die sich im Internet an einen eingeschränkten Personenkreis richten, als ver- traulich gelten und somit keine arbeitsrechtlichen Maß- nahmen nach sich ziehen dürfen. Hiermit sind insbeson- dere Äußerungen gemeint, die als Schmähkritik und Formalbeleidigungen zu bezeichnen sind und über Inter- netplattformen wie zum Beispiel Facebook kommuni- ziert werden. Die Fraktion Die Linke beanstandet insbesondere, dass es zur Definition der Vertraulichkeit in derartigen Fällen keine einheitliche Auffassung in der Rechtspre- chung gebe. Sie macht dies an einer Gerichtsentschei- dung des LAG Hamm vom 10. Oktober 2012 und an einer Entscheidung des VGH München vom 29. Februar 2012 fest. Beide Entscheidungen widersprächen sich in dem Umgang mit dem Begriff der „Vertraulichkeit“, so- dass eine klarstellende gesetzliche Definition erforder- lich sei. Schaut man sich jedoch beide Entscheidungen einmal genau an, so stellt man keinen Widerspruch fest. Der Unterschied beider Entscheidungen liegt darin, dass die eine Entscheidung (LAG Hamm) zuungunsten des Arbeitnehmers und die andere Entscheidung (VGH München) zugunsten des Arbeitnehmers ausging. Der Unterschied liegt allerdings auch darin, dass beiden Ent- scheidungen unterschiedliche Sachverhalte zugrunde lagen. In beiden Fällen handelte es sich bei den Äußerungen des Arbeitnehmers bzw. Auszubildenden um Schmäh- kritik. Bezogen auf die Entscheidung des LAG Hamm han- delte es sich jedoch nicht um „einen bestimmten Freun- deskreis“ an den das „Posting“ gerichtet war. Hier ist die von der Fraktion Die Linke vorgenommene Darstellung des Sachverhalts, der der Entscheidung des LAG Hamm zugrunde lag, schlichtweg falsch. Es handelte sich bei dem Eintrag auf der Plattform Facebook um einen Pro- file-Eintrag, der allgemein zugänglich war und somit von jedem Nutzer des Internets eingesehen werden konnte. Auch wenn die Fraktion Die Linke hier vorge- ben möchte, dass es sich in diesem Fall um einen ver- 10530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) traulichen Facebook-Eintrag handelte, so war dies offen- sichtlich nicht der Fall. Die Entscheidung des VGH München wird von der Fraktion Die Linke auch nicht richtig wiedergegeben. Das VGH München hat nicht gesagt, dass damit gerech- net werden darf, dass eine Äußerung über einen Face- book-Account als vertraulich angesehen werden könne. Vielmehr hat das VGH München gesagt, dass man nicht ohne jede Grundlage und insbesondere nicht ohne eine sachverständige Klärung entscheiden könne, ob es sich bei einer Äußerung um eine öffentliche oder vertrauliche Äußerung handelt. Warum hat das Gericht dies so for- muliert? Weil es sich hier um einen Prozesskostenhil- feantrag handelte und es hierbei zunächst nur zu einer summarischen Prüfung des Sachverhalts kommen kann. Die eigentliche Überprüfung obliegt in derartigen Fällen dem Hauptsacheverfahren. Damit sagt das Gericht, dass die Beantwortung der Frage nach der Vertraulichkeit derartiger Äußerungen immer eine Frage des Einzelfalls ist. Hier hat das Gericht sämtliche Umstände des jeweili- gen Falles zu berücksichtigen. Starre gesetzliche Regelungen werden hier also nicht weiterhelfen. Damit können beide Entscheidungen nicht dazu herangezogen werden, eine unzureichende Rechts- lage zu begründen. Beide Urteile widersprechen sich nicht. Darüber hinaus verweist die Fraktion Die Linke in ih- rem Antrag auf Verhandlungen auf europäischer Ebene zur sogenannten EU-Datenschutz-Grundverordnung. Sie soll nach Angaben der Fraktion Die Linke zur gestellten Frage weitere Hinweise geben. Es bietet sich in meinen Augen an, diese Verhandlungen zunächst einmal abzu- warten und dann zu sehen, welche Anhaltspunkte sich daraus für die hier geführte Diskussion ergeben. Dieses Verfahren ist schon fortgeschritten und soll nach den mir derzeit bekannten Angaben bis Ende des Jahres 2015/ Anfang 2016 abgeschlossen sein. Da die Rechtsprechung nicht derart widersprüchlich ist, wie es von der antragstellenden Fraktion behauptet wird, besteht derzeit auch kein dringender gesetzgeberi- scher Handlungsbedarf, sodass der hier vorliegende Antrag abzulehnen ist. Es bleibt zunächst das Verfahren auf europäischer Ebene abzuwarten. Tobias Zech (CDU/CSU): Dieser doch erstaunlich kurze Antrag meiner Kollegen der Linken hat in vier Zeilen zwei entscheidende Komponenten: zum einen eine inhaltliche, zum anderen eine zeitliche. Zunächst die positive Nachricht: Inhaltlich sind wir gar nicht so weit auseinander. Inhaltlich stimme ich mit Ihnen sogar in einigen Punkten überein. Zeitlich ist er nur leider vollkommen unpassend. Aber zunächst zum Inhaltlichen: Die zurzeit noch bestehende Datenschutzrichtlinie der EU (Rili 95/46/EG) ist von 1995. Da kann von digitalen Medien, geschweige denn Facebook oder Twitter noch gar nicht die Rede gewesen sein. Daher ist es natürlich wichtig, dass wir diese Richtlinie erneuern. Sie muss dem Zeitalter der Digitalisierung dringend angepasst werden. Und natürlich ist es – wie auch Sie es fordern, meine Damen und Herren – unsere Aufgabe, den Gerichten mit Gesetzen das richtige Werkzeug an die Hand zu legen. Sie brauchen Gesetze, die sie zur Grundlage ihrer Urteile machen können. Und das haben wir bisher noch nicht getan. Ich betone: bisher. Denn nun steht die Datenschutzgrundverordnung der EU in den letzten Zügen. Und damit komme ich zur zeit- lichen Komponente. Wir sind auf dem besten Weg, in Europa ein einheitli- ches Datenschutzrecht zu schaffen und damit auch den Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechtssicherheit zu gewährleisten. Mit der Datenschutzgrundverordnung und der Daten- schutzrichtlinie bringen wir ein umfassendes Paket auf den Weg, das sich nur auf EU-Ebene lösen lässt. Auf der Ratstagung der Justiz- und Innenminister am 15./16. Juni 2015 wird eine Einigung zum Datenschutzpaket ange- strebt. Die Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat unter Beteiligung der EU-Kommission über eine endgültige Einigung sollen noch in diesem Jahr zu Ende gebracht werden. So haben wir es auch im Koalitionsvertrag beschlossen und wer- den es auch umsetzen: Wir wollen europaweit ein einheitliches Schutzniveau beim Datenschutz garantieren und dabei die strengen deutschen Standards bewahren. Facebook, Microsoft, Twitter oder LinkedIn, sie alle haben ihre europäischen Hauptquartiere in Irland aufge- schlagen – und das nicht ohne Grund! Mit der Datenschutzgrundverordnung wäre das Schutzniveau auf einen Schlag überall gleich, das heißt, die Software-Riesen könnten kein Cherry-Picking mehr betreiben. Natürlich sind diese unterschiedlichen Rechtslagen nicht von heute auf morgen angeglichen; EU-weit gelten extrem unterschiedliche Bedingungen. Bezüglich der von Ihnen angesprochenen arbeits- rechtlichen Maßnahmen bei vertraulichen Äußerungen an einen eingeschränkten Personenkreis wird Artikel 82 der Datenschutz-Grundverordnung den Staaten die Mög- lichkeiten geben, im Rahmen nationaler arbeitsrechtli- cher Vorschriften entsprechend zu handeln. Dann – und erst dann – werden wir uns mit den ent- scheidenden Fragen beschäftigen: Was sind in der heuti- gen digitalen Medienwelt öffentliche Meinungsäußerun- gen? Was sind private Meinungsäußerungen? Wie definiert sich ein geschützter Personenkreis? Ist dabei derjenige überhaupt schützenswert, der seine Arbeit auf Facebook als „dämliche Scheiße“ bezeichnet? Und sei- nen Arbeitgeber als „Sklaventreiber“? Wie kann eine Aussage über Facebook, die sich „nur“ an den Freundes- kreis richtet, vertraulich sein? In diesem „Freundeskreis“ befinden sich gerne mal 3 000 sogenannte Freunde, bes- tenfalls auch alle Kollegen. Das ist doch nicht vertrau- lich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10531 (A) (C) (D)(B) Facebook gibt es seit 2004, Twitter seit 2006. Dass es zu dieser heutigen massenhaften Nutzung kommt bezie- hungsweise für ein Beschäftigungsverhältnis relevant sein kann, steckt noch in den Kinderschuhen. Wir müssen daher einige bisher ausreichende Vor- schriften vom Offline- in den Onlinemodus erweitern. Aber das können wir nur gemeinsam mit der EU, da es andernfalls viel zu viele Möglichkeiten gibt, nationale Regelungen durch Verlegung von Firmensitzen etc. zu umgehen. Diesbezüglich sind wir auf dem besten Wege. Die CDU/CSU-Fraktion wird den Antrag der Linken zum jetzigen Zeitpunkt daher ablehnen. Markus Paschke (SPD): Das Problem mit dem rechtlichen Umgang mit Äußerungen im Internet haben Sie zutreffend benannt: Die unterschiedliche Rechtspre- chung spricht für einen Regelungsbedarf. Nehmen wir das Beispiel einer Auszubildenden, die auf ihrer Facebook-Seite postete; „Ab zum Arzt und dann Koffer packen“. Sie hatte sich krankschreiben las- sen und reiste anschließend nach Mallorca. Sie postete zudem Fotos ihrer Reise auf ihrer Facebook-Seite. Der Arbeitgeber kündigte ihr. Das Arbeitsgericht Düsseldorf hätte dem Arbeitgeber recht gegeben. Da beide Parteien vorher jedoch zu einem Vergleich kamen, kam es nicht mehr zu einem Urteil. Anderes Beispiel, anderes Urteil: Ein Mitarbeiter äußerte sich unter einem Alias-Na- men in einem Internetforum über die schlechte medizi- nisch-technische Ausstattung seines Arbeitsgebers. Ein Kollege hatte daraufhin dem Arbeitgeber einen Tipp ge- geben. Da der betreffende Mitarbeiter Betriebsratsmit- glied war, hätte ihm nur außerordentlich und fristlos ge- kündigt werden dürfen, was der Arbeitgeber auch tat. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschied jedoch, dass die Äußerung kein Grund für eine außeror- dentliche Kündigung darstelle. Allein diese zwei Beispiele zeigen die unterschiedli- che Handhabung mit Äußerungen im Internet. Ich bin aber auch der Meinung, dass es viel mehr zu bedenken gibt, als das, was Sie in Ihrem Antrag formu- liert haben. Es stellt sich doch vielmehr die grundsätzli- che Frage: Welche Daten darf ein Arbeitgeber sammeln, erstellen und verwenden? Und diese Frage betrifft nicht nur mögliche Daten im Internet, sondern muss generell geklärt werden. Das Internet, soziale Netzwerke und neue Kommuni- kationsformen bedeuten besondere Herausforderungen für den Gesetzgeber. Und der gesetzliche Regelungsbe- darf in diesen Bereichen geht weit über das hinaus, was Ihr Antrag forderte. Also ja: Da müssen wir ran. Aber ist jetzt der richtige Zeitpunkt? Ich sage nein und möchte auch kurz erklären, warum: Derzeit – Sie wissen das – wird in Brüssel die Daten- schutzgrundverordnung verhandelt. In diesem Zusam- menhang brauchen wir eine Öffnungsklausel, die den Mitgliedstaaten eigene, weiter gehende Regelungen im Umgang mit Beschäftigtendaten ermöglicht. Ich begrüße sehr, dass die Reform der EU-Daten- schutzverordnung endlich vorankommt. Anfang nächs- ter Woche sollen die Verhandlungen des Rates der EU beendet werden. Daran anschließend kann dann endlich der Trilog zwischen Kommission, EU-Parlament und Rat aufgenommen werden. Unsere vornehmliche Aufgabe sehe ich deshalb darin, gemeinsam unsere Anstrengungen darauf zu verwenden, auf EU-Ebene Handlungsspielräume zu schaffen und zu sichern, Handlungsspielräume für einen besseren Daten- schutz. Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind nun aufgefordert, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in diesen Prozess einzubringen. Solange die Beratungen noch in Gang sind, macht es für mich keinen Sinn, mög- lichen Ergebnissen vorzugreifen. Erst wenn geklärt ist, was für Rahmenbedingungen die EU-Datenschutzgrund- verordnung ermöglicht, können wir uns an die Defini- tion machen, was wann und wie vertraulich ist. Denn ganz so einfach ist das ja auch nicht. Wenn ich mich beispielsweise mit meinem Nachbarn über schlechte Arbeitsbedingungen im Betrieb unterhalte, ist das grundsätzlich vertraulich. Aber ist es auch vertraulich, wenn ich das an meine 2 635 Facebook-Freunde poste? Was passiert denn, wenn ich ein Häkchen falsch gesetzt habe und statt mei- ner Familie die ganze Welt über meinen Stress auf der Arbeit informiere? Was ist ein eingeschränkter Perso- nenkreis? Nach meinem Verständnis beschreibt das so- wohl zwei Chatteilnehmer, wie auch eine von mir ausge- wählte Gruppe von 423 Personen. Was für Äußerungen sollen vertraulich behandelt werden können? Unter „Äußerungen im Internet“ kann ich Chats ge- nauso fassen wie auch Kommentare, neudeutsch „posts“ genannt. Ist es wirklich als vertraulich einzustufen, wenn ich eine Bemerkung an einer virtuellen Pinnwand hinter- lasse? Spielt es eine Rolle, ob jeder die Pinnwand einse- hen kann, oder gilt es schon als geschlossene Gruppe, wenn ich mich mit Namen und Kennwort anmelden muss? Genau betrachtet werden muss auch der Bereich „Äu- ßerungen in sozialen Netzwerken bzw. Internetforen“. Nicht alle sozialen Netzwerke sind gleich, schon gar nicht in der Ausrichtung ihrer Mitglieder. Heute wurde schon mehrfach Facebook genannt, aber was ist mit Netzwerken, die auf berufliche Vernetzung angelegt sind, wie zum Beispiel Xing oder LinkedIn? Kann und muss hier der gleiche Vertrauensschutz gelten? Eine Äu- ßerung dort hat eine ganz andere Reichweite, schon al- lein wegen der Ausrichtung als geschäftliches Netzwerk. Noch eine Überlegung dazu: Wie verhält es sich mit noch spezifischeren Netzwerken wie dem IG-Metall- Netzwerk ZOOM für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter? Wäre hier nicht besonderer Schutz vor Sanktionen bei Äußerungen geboten? 10532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) All das fällt unter „Äußerungen, die sich im Internet an einen eingeschränkten Personenkreis richten“. Sie se- hen also, hier liegt eine Menge Arbeit vor uns. Da wir unsere Gesetze nicht jedes Jahr ändern wollen und können, müssen wir auch klären, wie wir zukünftige Entwicklungen in der Kommunikation berücksichtigen. Das ist deutlich mehr Arbeit, als der Antrag auf den ersten Blick vermuten lässt. Aber wir werden die He- rausforderung anpacken, deshalb wurden wir ja gewählt. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wer kennt das nicht? Sich einen Moment so richtig geärgert, und schon rutscht einem ein böses Wort über die Lippen. In einigen Fällen war dies vielleicht ein böses Wort über den eige- nen Arbeitgeber. Konsequenzen mussten Sie natürlich keine fürchten, denn solange Sie dieses böse Wort nicht in ein Mikrofon vor Tausenden Leuten brüllten, konnten Sie darauf vertrauen, dass Ihre Äußerung als privat galt und somit keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie beispielsweise eine Kündigung nach sich ziehen konnte. Genauso schnell, wie ein böses Wort gesagt ist, ist ein böses Wort getippt. Zum Beispiel in ein soziales Netz- werk wie beispielsweise Facebook. Und hier beginnen die Probleme. Nun kann man natürlich entgegnen: Selber schuld! Was schreibt man auch so einen Unsinn in ein soziales Netzwerk. – Damit verkennt man aber, dass Nutzerinnen und Nutzer zum großen Teil soziale Netzwerke wie Facebook nicht als eine öffentliche Plattform für Ver- kündigungen verstehen – ich weiß, gerade Politiker ver- stehen Facebook fälschlicherweise genau so –, sondern ganz privat für sich nutzen, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben und sie an ihrem persön- lichen Leben teilhaben zu lassen. Niemand – so hoffe ich doch – würde hier auf die Idee kommen, dass ein böses Wort über den Arbeitgeber im Freundeskreis eine fristlose Kündigung rechtfertigt. Warum soll dann eine Äußerung, die im Freundeskreis eines sozialen Netz- werks getätigt wird, eine Kündigung rechtfertigen? Trotz dieser berechtigten Frage wurden Kündigungen wegen Äußerungen in einem sozialen Netzwerk von Gerichten bestätigt. So urteilte das Landesarbeitsgericht Hamm am 10. Oktober 2012, dass auch dann keine Vertraulichkeit gegeben ist, wenn ein Posting nur einem bestimmten Freundeskreis zugänglich ist. Doch einheit- lich ist die Rechtsprechung nicht. Der Verwaltungs- gerichtshof München urteilte am 29. Februar 2012 in ei- nem anderen Fall, dass ein Benutzer selbst dann, wenn er über seinen privaten Facebook-Account eine Äußerung verbreitet, damit rechnen darf, dass diese vertraulich be- handelt wird. Es geht hierbei im Übrigen nicht immer um Beleidigungen. Es geht auch um Geheimnisverrat und Ähnliches. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt also die Unsicherheit, was in einem sozialen Netzwerk ge- postet werden darf und was besser nicht. Es ist dringend an der Zeit, diese Unsicherheit zu beenden. Leider haben unsere Kleinen Anfragen zu dem Thema nur ergeben, dass die Große Koalition keinerlei Handlungsbedarf sieht. Das kann es aber nicht sein. Dazu sind die bekann- ten Urteile zu unterschiedlich, dazu betrifft es zu viele Menschen. Wir von der Linken haben deshalb einen Antrag ein- gebracht und sind der Auffassung, dass eine im Internet getätigte Äußerung dann als vertraulich gelten soll, wenn sie sich an einen eingeschränkten Personenkreis richtet. Das kann unseres Erachtens dann der Fall sein, wenn sie beispielsweise in einer begrenzten Facebook- Gruppe fällt oder sich an einen begrenzten Freundeskreis innerhalb des sozialen Netzwerks richtet. Mit Absicht haben wir die Frage offengelassen, in welchem Rahmen sich dieser Personenkreis bewegen darf, um noch als be- grenzt zu gelten. Darauf habe ich persönlich selbst noch keine Antwort. Vielleicht finden wir gemeinsam eine. Sehen Sie unseren Antrag also als Anfang einer dringend notwendigen Diskussion und nicht als Ende. Es ist klar, dass verbindliche Regeln geschaffen wer- den müssen, um Rechtssicherheit für Äußerungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herzustellen. Es ist an der Zeit, Regeln zu finden, die der Lebenswelt von Nutzerinnen und Nutzern in sozialen Netzwerken ent- sprechen. Das kann nur heißen, dass nicht jedes Face- book-Posting gleich als öffentlich abgestempelt wird, nur weil es theoretisch hundert Freundinnen und Freunde lesen können. Und das kann nur heißen, dass ei- nem nicht gleich die Kündigung droht, weil man mal im Affekt ein böses Wort über den Arbeitgeber auf Face- book schreibt. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn es darum geht, Arbeitnehmerrechte zu stärken, bin ich im- mer gerne dabei. Aber was ihr da jetzt aufgeschrieben habt, ist wirklich nicht ansatzweise durchdacht. Bei allem Respekt! Ob ein Gesprächskreis vertraulich ist oder nicht, kann doch nicht der Gesetzgeber entscheiden. Jeder Mensch und auch jeder Arbeitnehmer muss sich überlegen und entscheiden, welche Art von Äußerungen er in welchem Gesprächskreis und in welchem Umfeld tätigen will und kann. Das ist in der analogen Welt nicht anders als in der digitalen Welt. Ein uralter deutscher Rechtssatz lautet: Trau, schau, wem! Und wenn ich im Netz kommuniziere, ohne meine Gesprächspartner vor Augen zu haben, sind die Sorg- faltspflichten eher noch höher als bei einer Kommunika- tion von Angesicht zu Angesicht. Da kann der Gesetzge- ber keinen Freibrief erteilen. Es gibt schließlich auch kein Gesetz, das besagt, dass ich an meinem Küchen- tisch ungestraft jede Schmähkritik und Beleidigung äu- ßern darf. Es weiß ja schließlich keiner, wie groß meine Küche ist und ob nicht gerade ein Empfang mit hundert Leuten in meiner Küche stattfindet. Gleiches gilt für Fo- ren mit eingeschränktem Personenkreis. Da kommt es eben auch darauf an, wie genau ich diese Personen kenne und einschätzen kann und wie viele Personen es sind. Einen Zusammenhang mit der Datenschutzverord- nung sehe ich nicht, denn bei den Kündigungsfällen geht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10533 (A) (C) (D)(B) es nicht darum, dass der Arbeitgeber auf Daten des Ar- beitnehmers zugreift, sondern alleine darum, dass ruf- schädigende Äußerungen den Kreis derer verlassen, für die sie bestimmt waren. Das ist aber keine Folge einer Rechtsunsicherheit, sondern einer Fehleinschätzung über die Vertraulichkeit der Kommunikation. Da muss ich leider mal der Bundesregierung recht ge- ben, wenn sie in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage schreibt: Eine Beurteilung kann im Übrigen nur anhand des konkreten Einzelfalls erfolgen. Die Größe des Empfängerkreises, das Ziel und der Zweck des Kommunikationsforums oder die soziale Akzep- tanz und Ortsüblichkeit stellen weitere Kriterien für die Beurteilung dar. Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Nationales Reformprogramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b) Uwe Feiler (CDU/CSU): Die Kompetenz, über die Wirtschaftspolitik zu entscheiden, liegt grundsätzlich bei den EU-Mitgliedstaaten. Das ist im Vertrag über die Ar- beitsweise der Europäischen Union geregelt. Die Mit- gliedstaaten betrachten die Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordi- nieren sie im Rat. Um unsere Wirtschaft steht es wirklich gut. Die Er- werbstätigkeit liegt auf Rekordniveau, die Arbeitslosig- keit sinkt und die Löhne steigen. Auch in diesem Jahr wird der Bundeshaushalt annähernd ausgeglichen sein und strukturell einen leichten Überschuss ausweisen. Insbesondere die Vervollständigung des Binnenmark- tes sowie die Einführung des Euros haben jedoch ver- stärkt die Notwendigkeit einer besseren wirtschaftspoli- tischen Koordinierung auf europäischer Ebene gezeigt. Jahrelang wurde der Fokus seitens der EU lediglich auf die Überwachung der Schulden und Defizite gelegt; im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist dann die Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken deut- lich verstärkt worden. Euro-Plus-Pakt, Fiskalvertrag, Six-Pack und Two-Pack sind hier einige Schlagworte. Im Jahr 2010 wurde schließlich das Europäische Se- mester als Instrument der wirtschafts-, finanz- und be- schäftigungspolitischen Koordinierung eingeführt. Die Ergebnisse der letzten Europäischen Semester haben ge- zeigt, dass die ergriffenen Reformen bereits zu einer verbesserten Koordinierung geführt haben. Allerdings erweist sich die Umsetzung der länderspezifischen Emp- fehlungen weiterhin als Schwierigkeit des Europäischen Semesters. Im Jahr 2013 wurden 10 Prozent vollständig umgesetzt, bei 45 Prozent der länderspezifischen Emp- fehlungen war nur eine eingeschränkte oder überhaupt keine Umsetzung festzustellen. Frei nach dem letzten Finanzminister unseres Koali- tionspartners zur Abgeltungsteuer: „10 Prozent von x ist besser als nix“, dürfen wir hier nicht verfahren und uns zufriedengeben. Es liegt in unserem Interesse, die Sicht- barkeit, Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Europäi- schen Semesters zu verbessern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters eine Aufgabe erle- digt, die ihr die Mitgliedstaaten selbst übertragen haben. Ihre Empfehlungen sollten nicht ignoriert werden, son- dern zum Wohle der europäischen Bevölkerung umge- setzt werden. Mit dem vorliegenden Antrag werden wir dieser Zielsetzung gerecht. Wir wollen das Europäische Semester stärken, für eine bessere Umsetzung sorgen und die Koordinierung weiterentwickeln. Eine offenere politische Debatte, engere Abstimmung mit den nationalen Parlamenten sowie mehr Transparenz werden zu einer größeren Akzeptanz der Empfehlungen in den Mitgliedstaaten führen. Dabei muss die Kommission ihre Stellungnahmen und Empfehlungen nach objektiven Kriterien und ohne politische Intervention der Mitgliedstaaten erarbeiten. Eine weitere entscheidende Grundlage für die Akzep- tanz und bessere Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen ist die Qualität und Vergleichbarkeit der erhobenen statistischen Daten. Deswegen fordern wir in dem Antrag auch, dass den Empfehlungen konsentierte und belastbare statistische Daten der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt werden. Als Beispiel sei hier der Leistungsbilanzüberschuss in Deutschland genannt. In den länderspezifischen Empfehlungen für Deutsch- land fordert die Kommission erneut, den Leistungs- bilanzüberschuss zu verringern. Dabei muss man beach- ten, dass der Überschuss insbesondere durch eine große Nachfrage nach Produkten aus Deutschland erzielt wor- den ist. Wir sind stolz darauf und wollen, dass es so bleibt. Weitere Gründe für den Überschuss sind auch die op- timale Konjunkturlage in wichtigen Abnehmerländern sowie der schwache Euro und die niedrigen Erdölkosten. Außerdem geht der Überschuss überwiegend aus den Geschäften mit außereuropäischen Handelspartnern her- vor. Nichtsdestotrotz müssen auch wir uns kritisch mit den Empfehlungen auseinandersetzen. Mit dem Leistungs- bilanzüberschuss werden die niedrigen öffentlichen und privaten Importe kritisiert. Die nominalen öffentlichen 10534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Bruttoinvestitionen sind zwar in den vergangenen Jahren gestiegen. Dennoch soll die Struktur der öffentlichen Haushalte noch stärker auf Investitionen ausgerichtet werden. Da in Deutschland die Investitionen nicht nur durch den Bund, sondern insbesondere auch von Ländern und Kommunen getätigt werden, war es richtig und wichtig, hier eine entsprechende Unterstützung auf den Weg zu bringen, um Investitionsreize auf allen Ebenen zu setzen. Diese Politik werden wir fortsetzen und mit dem Europäischen Semester die bestmögliche globale Wett- bewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften schaffen. Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Antrag Union: Wir wollen die Koordinierung der europäischen Wirtschafts- politik weiter stärken. Das europäische Semester kann ganz wesentlich dazu beitragen. Die Koalitionsfraktio- nen haben hierzu einen entsprechenden Antrag auf den Weg gebracht. Zunächst ist es wichtig, Transparenz im Verfahren zu schaffen. Grundlage der Empfehlungen der Kommission müs- sen belastbare statistische Daten aus den Mitgliedstaaten sein. Zur Stärkung der Akzeptanz muss bei der Umset- zung der Maßnahmen das Parlament von Beginn an beteiligt werden. Ziel des europäischen Semesters muss es sein, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Dazu wurde es 2010 als In- strument eingeführt. Durch die Stärkung der wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung wird dieses Ziel verfolgt. Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Euro- päischen Union sind Strukturreformen in genau diesen Politikfeldern notwendig. Zudem braucht Europa zusätz- liche Investitionen in Forschung, Bildung und Infra- struktur. Wir nutzen so das Reformprogramm, um die europäi- sche und die deutsche Wirtschaft voranzubringen. Antrag Bündnis 90/Die Grünen: Bündnis 90/Die Grü- nen stellen ebenso wieder einmal einen Antrag zum eu- ropäischen Semester. Außenhandel: Darin kritisieren Sie die Außenhan- delsüberschüsse. Applaus! Diese sind jedoch ein Zeichen der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren die gesam- ten EU-Länder: 58 Prozent aller deutschen Importe stammen aus an- deren EU-Mitgliedstaaten. Das schafft Beschäftigung und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den anderen EU-Ländern. Hier muss noch einmal klar betont werden, dass die Kommission für Deutschland eben gerade keine „zu- kunfts- und stabilitätsgefährdenden“ Ungleichgewichte sieht. Binnenkonsum: Sie bemängeln in Ihrem Antrag die zu geringe Binnennachfrage. Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent, die größte Zunahme seit 2010. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig sein – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bun- desrepublik. Auf diese Entwicklung können wir stolz sein. Deutschland hat im Hinblick auf die Europa-2020-Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armut alle Zielwerte übererfüllt. So lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jäh- rigen mit 78,1 Prozent 2014 deutlich über der Zielmarke von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zwischen 2008 und 2012 um rund 40 Prozent gesunken. Akademikerquote: Sie bemängeln, dass Deutschland beim EU-2020-Ziel bei der Quote der Hochschulab- solventen hinterherhinke, so wörtlich. Man sieht hier einmal mehr, wo Sie Ihre Prioritäten setzen. Wir wissen, was wir an der beruflichen Bildung ha- ben. Auch die OECD, die Deutschland lange wegen der im Vergleich niedrigen Akademikerrate kritisiert hatte, erkennt dies mittlerweile an. Nur Sie nicht! Sie fordern einen Ausbau der Kinderbetreuung – das machen wir bereits, wir investieren 6 Milliarden Euro in die Bildung und Betreuung. Wir wollen Wahlfreiheit für die Eltern – Sie wollen Bevormundung. Investitionen: Wir setzen die Schwerpunkte bei den öffentlichen Investitionen gezielt in den Erhalt und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, den Breitbandaus- bau, aber auch bei der CO2-Minderung. Außerdem ent- lasten wir die Kommunen. Diese zusätzlichen Investitio- nen werden ohne neue Schulden geleistet – wir setzen die Sanierung der öffentlichen Haushalte konsequent fort. Wir legen also die Grundlagen für eine weiterhin positive Entwicklung und schaffen Stabilität für Investi- tionen. Schönen Gruß an die Frau Dröge, die ja ihre ganze geistige Kapazität in die Anträge der Grünen zu diesem Thema steckte – diese ist, glaube ich, schon im Mutter- schutz, das ist ja auch wichtig. Ihren Antrag müssen wir dennoch ablehnen. Christian Petry (SPD): Bevor ich auf die jeweiligen Anträge zu sprechen komme, möchte ich einige grund- sätzliche Worte zum Europäischen Semester sagen. Ziel des 2011 erstmals durchgeführten Semesters ist eine engere und verbindlichere Abstimmung der bislang rein national geregelten Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union. Auf Grundlage der von der Euro- päischen Kommission jährlich vorgelegten länderspezi- fischen Empfehlungen erlassen hierbei alle EU- Mitgliedstaaten nationale Reformprogramme, um den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10535 (A) (C) (D)(B) wirtschaftspolitischen Vorschlägen der Kommission nachzukommen. Seit Schaffung des Europäischen Semesters wird die- ses kritisch begleitet. Zu unverbindlich und einseitig seien die wirtschaftspolitischen Empfehlungen, ist ein oft geäußerter Kritikpunkt. Man darf bei all dieser Kritik jedoch nicht verkennen, dass das Europäische Semester ein ganz wesentlicher Schritt hin zu einer besseren und effektiveren Abstimmung der nationalen Wirtschafts- politik innerhalb der Europäischen Union ist. Unter die- sem Gesichtspunkt kommt dem Europäischen Semester ein immenser Stellenwert zu. Mit dem Semester wurden folglich die richtigen Leh- ren aus der Krise der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gezogen: Eine supranational organi- sierte Währungspolitik braucht weitere, einheitlich gere- gelte Politikbereiche, die sie flankiert und somit unter- stützt. Eine gemeinsame Währung innerhalb eines heterogenen Wirtschaftsraums kann langfristig nur bestehen, wenn sie von einer echten Wirtschaftsunion begleitet wird. So gesehen ist die Schaffung des Euro- päischen Semester mit einem Paradigmenwechsel inner- halb der europäischen Wirtschaftspolitik gleichzusetzen. Das Europäische Semester ist seit der Einführung teils harscher Kritik ausgesetzt. Wichtig ist dabei: Es handelt sich um ein junges, in der Entwicklung befindli- ches Instrument. Daher ist die 2014 von der Europäi- schen Kommission vorgeschlagene Verbesserung des Semesters nur zu begrüßen. In unserem Antrag hat die Regierungskoalition zen- trale Anforderungen an das Europäische Semester für die kommenden Jahre formuliert. Ich finde, dass mit den neun vorgelegten inhaltlichen Punkten viel von dem auf- genommen wurde, was in der parlamentarischen Debatte – oftmals berechtigt – kritisch am Europäischen Semes- ter hinterfragt wurde. Beginnen möchte ich mit dem Brief der Bundesminis- ter Gabriel und Schäuble aus dem Oktober 2014, in dem EU-Kommissar Katainen zu einer noch engeren Abstim- mung zwischen Rat und Kommission auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite aufgefordert wurde. Ich glaube, dass die europäischen Institutionen durch ein frühes Einbeziehen der nationa- len Parlamente viele politische Konflikte umgehen kön- nen. Exemplarisch ist das Konsultationsverfahren im Rahmen der Kapitalmarktunion durch Kommissar Hill zu nennen. Dieser hat frühzeitig alle relevanten Akteure zu Stellungnahmen ermuntert. Der Deutsche Bundestag ist dem nachgekommen. Ich finde, dass das ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von nationalen und eu- ropäischen Institutionen ist. Für das Europäische Semester und seine Legitimation in der Bevölkerung ist es unabdingbar, dass nationale Regierungen die Stellungnahmen der Kommission aner- kennen und nicht als unerlaubten Eingriff in ihre Souve- ränität verstehen. Die Mitgliedstaaten haben schließlich die Kommission eigenständig aufgefordert, diese Stel- lungnahmen abzugeben. Die Kommission kommt damit ihrem Arbeitsauftrag nach und darf nicht aufgrund natio- nalpolitischer Erwägungsgründe an ihrer Arbeit gehin- dert werden. Ein weiterer zentraler Punkt des Antrags ist die Einbeziehung sozialer Indikatoren bei der Analyse der länderspezifischen Situationen – eine ursozialdemokrati- sche Forderung, die sich im Antrag wiederfindet. Neben makroökonomischen und fiskalischen Indikatoren müssen soziale Indikatoren zukünftig mehr Berücksich- tigung im Semester finden. Ergänzend hierzu sollte die Kommission ihre für die Nationalstaaten vorgeschlage- nen Reformen immer auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verträglichkeit prüfen. Ich bin überzeugt, dass dies dann auch bei den länderspezifischen Empfehlun- gen zu einer höheren Umsetzungswahrscheinlichkeit in den nationalen Parlamenten führen wird. Als letzten inhaltlichen Punkt möchte ich noch auf die Investitionsoffensive der Kommission eingehen. Ich denke dabei im Besonderen an den Europäischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI. Natürlich kann man über die Ausgestaltung dieses Fonds im Detail streiten. Doch eines müssen wir doch alle anerkennen: Die Zeit der einseitigen Sparpolitik ist vorbei. Die Kommission unter Jean-Claude Juncker hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet, über den wir Sozialdemokraten uns beson- ders freuen. Die Investitionsoffensive mit ihrem Fonds und ihrem Projektverzeichnis ist ein entscheidendes Werkzeug, um nationalen Staaten Möglichkeiten aufzu- zeigen, die im Europäischen Semester geforderten wirt- schaftspolitischen Maßnahmen schneller und effizienter umsetzen zu können. Ich glaube, dass wir mit der heutigen Verabschiedung des Koalitionsantrags einen wichtigen Schritt zur Wei- terentwicklung des Europäischen Semesters gehen. Der Deutsche Bundestag steht zu diesem europäischen Koor- dinierungsinstrument und hat klare Vorstellungen von dessen zukünftiger Ausgestaltung. Das ist ein Signal an die europäischen Institutionen, aber auch eine Aufforde- rung, das bestehende Instrument zu verbessern. Thomas Lutze (DIE LINKE): Bei der Einführung des Euro hat die damalige PDS kritisiert, dass eine Wäh- rungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion nicht funktionieren werde. Wie zutreffend sich diese Kritik im Nachhinein erweist, erleben wir seit nunmehr mehreren Jahren in Form der europäischen Banken- und Wäh- rungskrise. Dass es in der Europäischen Union kein Zuviel, son- dern ein Zuwenig an wirtschaftspolitischer Koordination gibt, hat sich seit einigen Jahren nun auch anderswo he- rumgesprochen. Im Jahr 2010 wurde der Europäischen Kommission deshalb mit dem sogenannten Europäi- schen Semester ein Instrument zur Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Mitglied- staaten an die Hand gegeben. Im Prinzip wäre das begrü- ßenswert. In der Realität erweist sich das Europäische Semester als ein weiteres Instrument zur Angleichung von Löhnen und Sozialleistungen nach unten. Deshalb wird es als Mittel der wirtschaftlichen Koordinierung von der Linken abgelehnt. 10536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Die maßgebliche Ursache für das wirtschaftliche Ungleichgewicht in Europa liegt in der Dominanz der deutschen Exportwirtschaft und des gleichzeitigen ge- waltigen Investitionsstaus unter dem Dogma von Schul- denbremse und schwarzer Null. Dieser Logik folgt die Kommission auch im Europäischen Semester: In ihren Empfehlungen für die nationalen Reformprogramme fordert sie Anhebungen im Renteneintrittsalter, Bindung der Löhne an die Produktivität oder die Ausrichtung von Wissenschaft und Forschung auf die Bedürfnisse der Wirtschaft. Dabei sind es genau diese neoliberalen Irrwege, die Europa zusammen mit einem völlig unterre- gulierten Bankensektor in die derzeitige Krise geführt haben. Was Deutschland und Europa statt weiterer Spar- programme und Privatisierungswellen brauchten, ist eine umfassende Investitionsoffensive in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Steigerung der Energieeffizienz, Förderung von erneuerbaren Energien, öffentlicher Nah- verkehr, Barrierefreiheit und öffentliche Beschäftigung. Damit können wir hierzulande anfangen, indem wir un- sere Autobahnen und bröckelnden Brücken sanieren, den Investitionsstau an den Universitäten und in den Kommunen auflösen, für ausreichend Personal im Pflege- und Gesundheitsbereich sorgen und diese Men- schen auch noch angemessen bezahlen. Da kleckern Sie nur. Angesichts der Milliardenspielräume, die uns der Haushalt bietet, wäre Klotzen angesagt. Damit könnten wir wirkliche Impulse für Wachstum und Beschäftigung hier und in ganz Europa schaffen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Meine Fraktion bleibt bei der Feststel- lung: Das Europäische Semester muss gestärkt und wei- terentwickelt werden. Mit dem Antrag der Regierungs- fraktionen wird das aber wohl nicht passieren. Zum Teil geht er zwar in die richtige Richtung, zum Teil wider- spricht er sogar der aktuellen Politik der Bundesregie- rung, zum Beispiel in Bezug auf den Investitionsplan der Europäischen Union, den EFSI. So wird in dem Antrag die Finanzierung durch das Forschungsprogramm Hori- zon 2020 kritisiert, und es soll geprüft werden, ob der EFSI dadurch gestärkt werden kann, dass die Bundesre- gierung zusätzliches Geld in den Fonds einzahlt. Würde das passieren, würden wir das begrüßen. Denn ohne den Fonds durch zusätzliche nationale Mittel aufzustocken, droht der Investitionsplan zu scheitern. Deshalb fordern wir, dass sich Deutschland mit zusätzlichen 12 Milliar- den Euro an dem Fonds beteiligt, um damit auch Vorbild für andere Länder zu sein. Die Bundesregierung hat dies aber schon jetzt kategorisch abgelehnt und sich auch bei der Finanzierung nicht für die im Antrag der Regie- rungskoalitionen genannten Forderungen eingesetzt. Dieser Antrag der Koalition interessiert die Regierung also nicht und ist somit nur ein Beschluss für den Papier- korb – zumal die Vorschläge in dem Koalitionsantrag kaum über Schlagwörter und Prüfaufträge hinausgehen. Unser grüner Antrag ist da viel konkreter. Für uns sind insbesondere folgende Punkte wichtig: Erstens. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung so- wohl der nationalen Parlamente wie des Europaparla- ments. Die einzelnen Schritte müssen in den Ausschüssen beraten und auch im Plenum des Deutschen Bundestages debattiert werden. Zweitens mangelt es den länderspezifischen Emp- fehlungen an Beachtung. Bisher wird nur ein sehr kleiner Teil der länderspezifischen Empfehlungen umgesetzt – und Deutschland gehört hier zu den Schlusslichtern. Wir fordern, dass die Empfehlungen entweder umgesetzt werden oder bei Nichtberücksichtigung eine Erklärung dazu erfolgen muss – statt wie bisher die Empfehlungen einfach weitgehend zu ignorieren. Drittens ist uns wichtig, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Ziele der EU-2020-Strategie auch wirklich zu erreichen. Denn dieser Aspekt wird zu oft übersehen: Das Europäische Semester und die Erstel- lung des jährlichen Nationalprogrammes sind Instru- mente der Europa-2020-Strategie, bei der es neben öko- nomischen auch um ökologische und soziale Ziele geht. Wir fordern unter anderem, dass die europäischen Ziele auf nationale Ziele heruntergebrochen werden, die so ausgestaltet sein müssen, dass in der Gesamtsumme das europäische Ziel auch erreicht wird. Eines der fünf Hauptziele ist die Senkung der armutsgefährdeten Perso- nen in der EU um 20 Millionen bis 2020. Auch wenn wir uns ein ambitionierteres Ziel hätten vorstellen können, ist es gut, dass es ein quantifiziertes Ziel auf der Basis von gemeinsamen Indikatoren gibt. Sinnvoll wäre gewe- sen, dieses Ziel von 20 Millionen auf die einzelnen Län- der aufzuteilen. Der größte Teil davon wäre dann alleine wegen der Größe auf Deutschland entfallen. Was hat aber die deutsche Regierung gemacht? Sie hat gesagt: Wir akzeptieren die europäischen Indikatoren nicht und suchen uns selbst einen Indikator aus – bei dem dann rein „zufälligerweise“ das Ziel schon erreicht ist. Ganz abgesehen davon, dass das vom Verfahren her eine Un- verschämtheit ist – man stelle sich mal vor, wie die deut- sche Regierung reagieren würde, wenn Griechenland sich so verhalten würde –, wird damit das Gesamtziel fast unmöglich gemacht. Das muss dringend geändert werden. Wir brauchen nicht weniger, sondern wir brauchen mehr Europa; deshalb muss das Europäische Semester gestärkt werden. Die Bundesregierung muss endlich im eigenen sowie im europäischen Interesse aufhören, die von der EU gemachten Vorschläge und Ziele zu ignorie- ren. Es ist ja schön, dass von den Regierungsfraktionen ein Antrag mit Verbesserungsvorschlägen kommt – aber ge- gen das Glaubwürdigkeitsproblem, Spar- und Re- formmaßnahmen und den Defizitabbau von den Krisenlän- dern zu verlangen und selbst nur zu den Schlusslichtern bei der Umsetzung der länderspezifischen Reformemp- fehlungen zu gehören, hilft er nicht. Ein Lösungsvor- schlag liegt vor Ihnen. Er fordert mehr Transparenz, mehr Debatten, Beschlüsse des Bundestages zu den na- tionalen Reformprogrammen und konkrete Vorschläge, wie die länderspezifischen Empfehlungen besser umge- setzt und die EU-2020-Ziele besser erreicht werden kön- nen. Ich bitte deswegen um die Zustimmung zu unserem Antrag. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10537 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Steuerfreie Risikoaus- gleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016 (Ta- gesordnungspunkt 17) Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Und täglich grüßt das Murmeltier, so könnte man sagen, wenn man sieht, dass die Kollegen von der Linken ihren bereits im Jahr 2012 gestellten Antrag im Dezember 2014 noch- mals eingebracht haben. Mit dem Antrag soll zur Entlastung der Landwirt- schaft ein weiterer steuerlicher Subventionstatbestand ausschließlich für Landwirte geschaffen werden: eine steuerfreie Ausgleichsrücklage für Agrarbetriebe, die aufgrund zunehmend extremerer Witterungsbedingun- gen, eingeschleppter neuer Tierseuchen und Ähnlichem besonderen Risiken ausgesetzt sind. Wir haben im Finanzausschuss den Antrag im April 2015 abschließend beraten und sind zu dem Ergebnis ge- kommen, dass wir mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der Fraktion der Grünen den Antrag ableh- nen. Wir empfehlen dem Hohen Haus, sich unserem Votum anzuschließen. Letztlich würde mit diesem Antrag ein weiterer Sub- ventionstatbestand eingeführt, der nur der Landwirt- schaft dient. Was ist denn dann aber mit anderen Bran- chen der Wirtschaft, die auch stark von schwankenden Witterungsbedingungen abhängen: der Tourismusbran- che, die im Winter unter Schneemangel leiden kann, der Schaustellerbranche, die Einbußen durch verregnete Sommer erleiden kann, oder den Biergärten und Braue- reien, die ebenfalls unter schlechtem Wetter leiden kön- nen, um nur einige wenige Branchen aufzuzählen. Den teilweise extrem schwankenden Witterungsbedingungen ausgesetzt zu sein, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Landwirtschaft, und eine Ungleichbehandlung anderer Branchen wird auch nicht durch die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung durch die Landwirtschaft gerechtfertigt. Im übrigen ist ja eine Glättung von schwankenden Er- trägen in der Landwirtschaft in einzelnen Jahren schon durch eine Besonderheit bei den steuerlichen Vorschrif- ten für die Landwirtschaft gegeben, denn im Gegensatz zu gewerblichen Unternehmen werden bei der Einkom- mensermittlung jeweils zwei Wirtschaftsjahre des land- wirtschaftlichen Betriebes je zur Hälfte berücksichtigt. Dies alleine glättet die Schwankungen bereits in ziemli- chem Umfang. In einem Gutachten der Universität Hohenheim für das Landwirtschaftsministerium wurde nachgewiesen, dass der Effekt einer Ausgleichsrücklage gerade für die Betriebe, die es am nötigsten brauchen würden, wirklich eher gering wäre. Er beläuft sich im Durchschnitt gerade einmal auf 174 Euro pro Jahr. 30 Prozent der Betriebe würden überhaupt nicht be- günstigt, und weitere 30 Prozent erhielten gerade einmal 100 bis 500 Euro pro Jahr. Besonders begünstigt wären große und ertragsstarke landwirtschaftliche Unterneh- men, die von dieser Ausgleichsrücklage überproportio- nal profitieren würden. Auf 10 Prozent der Betriebe würde etwa die Hälfte der zu erwartenden gesamten Ent- lastung entfallen. Also wären 10 Prozent der Betriebe, also die, die sowieso schon besonders ertrags- und kapi- talstark sind, mit einem Wort: die Großbetriebe, begüns- tigt. Sie würden diese Unterstützung sicher gerne mit- nehmen, aber nicht wirklich benötigen, während die kleinen Betriebe, die es vielleicht bräuchten, keinen oder nur geringen Nutzen daraus ziehen könnten. Mit dieser Risikorücklage wäre also nicht nur die Landwirtschaft gegenüber anderen Branchen privile- giert, sondern es käme auch noch innerhalb der Land- wirtschaft zu erheblichen Verwerfungen zwischen gro- ßen und kleinen Betrieben. Schließlich gibt es zahlreiche Ausnahmeregelungen im Steuerrecht, die für alle Betriebe gelten. Ich nenne hier nur die Ansparabschreibung, die allerdings reform- bedürftig ist, und die Rücklage nach § 6 b EStG, die lei- der vom EuGH gerade als nicht europarechtskonform bewertet wurde und die deshalb möglichst bald europa- rechtskonform ausgestaltet werden muss. Der mit dieser von der Linken geforderten Rücklage verbundene bürokratische Aufwand steht auch in keinem Verhältnis zu dem erreichbaren Nutzen. An welche Bedingungen sollen denn die Bildung und die Auflösung der Rücklage geknüpft werden? Wer defi- niert und kontrolliert denn die entsprechende Ertrags- minderung? Es würde noch einmal eine weitere erhebliche büro- kratische Belastung unserer landwirtschaftlichen Be- triebe bedeuten, die durch andere endlose bürokratische Auflagen schon besonders gestraft sind. Neben dem Finanzausschuss haben auch der Haus- haltsausschuss und der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft in ihren jeweiligen Sitzungen empfoh- len, den Antrag abzulehnen. Ich bitte deshalb das Hohe Haus, unseren Beschlussempfehlungen zu folgen und den Antrag ebenfalls abzulehnen. Rita Stockhofe (CDU/CSU): Wir beraten heute zum zweiten Mal den Antrag der Fraktion Die Linke zur „Steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbe- triebe ab 2016“, und dadurch ist der Antrag auch nicht besser geworden. Die Fraktion Die Linke will landwirtschaftliche Be- triebe durch Vorsorge vor ökonomischen Risiken besser schützen und fordert dazu auf, im Entwurf für das Jah- ressteuergesetz 2016 für Agrarbetriebe die Bildung einer steuerfreien betrieblichen Risikoausgleichsrücklage zu ermöglichen. Die Höhe der Rücklage solle sich aus den betrieblichen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirt- schaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des durch- schnittlichen Jahresumsatzes betragen. Das ist doch ein Aufguss an alten Ideen, was die Linksfraktion hier beantragt. An sich ist der Grundge- 10538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) danke einer Risikoausgleichsrücklage nicht verkehrt, und das haben wir auch immer wieder betont. Wir haben uns innerhalb der CDU/CSU-Fraktion intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und sind der Ansicht, dass eine Risikoausgleichsrücklage jedoch in der Praxis schwer umzusetzen sein würde. Allein schon die Tatsache, dass man eine Bilanz mehrere Jahre offenhalten muss, führt doch zu Planungs- unsicherheiten. Dann müssten die Landwirte so lange warten, weil sie das Geld, welches sie in die Rücklage eingezahlt haben, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro Jahr versteuern müssten. Darüber freuen könnten sich in ers- ter Linie die Steuerberater, denn die schicken den Land- wirten später ihre Rechnung. Natürlich sind die Landwirte zunehmend Risiken aus- gesetzt, die sie kaum beeinflussen können; aber das sind andere Saisonbetriebe doch auch. Außerdem hat es in der Landwirtschaft immer schon Ergebnisschwankungen gegeben. Wenn wir mit der Risikoausgleichsrücklage ei- nen Ausnahmetatbestand für die Landwirtschaft schaf- fen würden, müssten wir doch andere mittelständische Unternehmen, die ebenfalls wetterabhängig sind, ge- nauso berücksichtigen. Wir müssten Regelungen schaf- fen für Betreiber von Skiliften, Gartencafés oder Aus- flugsschiffen. In der Landwirtschaft besteht seit jeher das Prinzip der Eigenvorsorge, und es bestehen vielschichtige Möglichkeiten wie beispielsweise eine innerbetriebliche Vorhaltung ausreichender Vermögenspositionen und Finanzmittel. Passend dazu möchte ich an die alte Bau- ernweisheit „Eine Ernte auf dem Halm, eine in der Scheune und eine auf dem Konto“ erinnern. Zahlreiche Versicherungslösungen wie beispielsweise eine Hagelversicherung stehen den Agrarbetrieben zur Verfügung oder des Weiteren Absicherung über außer- landwirtschaftliche Marktteilnehmer wie zum Beispiel Warenterminbörsen. Die Risikoausgleichsrücklage bietet auch keine Ge- währ dafür, dass bei Schadensereignissen auf zusätzliche Hilfspakete immer verzichtet werden kann. Ich möchte hier auf das Gutachten der Universität Hohenheim hin- weisen, das zu dem Ergebnis kommt, dass eine Risiko- ausgleichsrücklage die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die Untersuchung ergibt, dass eine steuer- freie Risikoausgleichsrücklage keinen wesentlichen Bei- trag zur Abfederung von markt- und wetterbedingten Risiken in der Landwirtschaft leisten könne. Zusammen- fassend stellt das Gutachten fest, dass circa 30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rücklage ziehen würden, bei weiteren 30 Prozent läge der Vorteil ledig- lich bei 100 bis 500 Euro und nur 10 Prozent der Agrar- betriebe erhielten die Hälfte der prognostizierten Entlas- tungen. Also nur einige Betriebe würden von einer Einführung profitieren, und das wären in erster Linie die großen und ertragreichen und nicht die kleineren, schutzbedürftigen Agrarbetriebe. Und für die präsentie- ren Sie auch keine Lösung. Auch der Wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik hat sich kritisch zur Risikoausgleichsrücklage geäußert. Es ist ja nicht so, dass wir die Risikoausgleichsrück- lage nur ablehnen und uns nicht der besonderen Situa- tion der Landwirte annehmen. Natürlich trägt der Land- wirt zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei, und wenn es der Landwirtschaft nicht gut geht, merken wir das alle und nicht nur das einzelne Unternehmen. Wir sind doch schon aktiv, sei es, dass wir in § 13 a Einkommensteuergesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft pauschaliert haben. Diesen besonderen Schutz für Kleinstbetriebe haben wir darüber hinaus vor wenigen Monaten auch noch verbessert. Unabhängig von der Diskussion über die Risikoaus- gleichsrücklage wurden bereits zum 1. Januar 2013 die Steuersätze bei Mehrgefahrenversicherungen für Ele- mentarschäden in der Landwirtschaft, dem Garten- und Weinbau auf einheitlich 0,03 Prozent abgesenkt und hierdurch die Möglichkeiten der betrieblichen Risiko- vorsorge spürbar verbessert. Und in besonderen Notfällen helfen wir auch unbüro- kratisch: Mehrgefahrenversicherungen zu Sonderkondi- tionen werden begünstigt. Davon haben zuletzt die Forstwirte bei den letzten großen Sturmschäden profi- tiert. Ein besseres Modell, den Landwirten zu helfen, ist vielmehr eine Ansparrücklage. Hier hat die Bundes- regierung beschlossen, bei der Regelung zum Investi- tionsabzugsbetrag in § 7 g Einkommensteuergesetz künftig auf das Vorabbenennungserfordernis zu verzich- ten. Dieser Verzicht schafft Flexibilität und kommt den betrieblichen Bedürfnissen mehr entgegen als eine Risi- koausgleichsrücklage. Zusammenfassend möchte ich noch einmal klarstel- len: Die Schaffung der steuerfreien betrieblichen Risiko- ausgleichsrücklage ist kein geeignetes Instrument zur Unterstützung der Landwirte und trägt auch nicht zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei. Deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Einfüh- rung der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe wurde schon mehrfach gefordert. Den ers- ten Vorstoß machte die damalige Landwirtschaftsminis- terin Ilse Aigner, CSU, im Jahr 2009. Es folgte die Linke mit einer Initiative im Jahr 2012. Der vorliegende An- trag stellt nur den dritten Versuch dar. Die Initiatoren wechseln, der Inhalt bleibt im Wesent- lichen gleich. Eine Risikoausgleichsrücklage würde Er- gebnisschwankungen zwischen ertragsstarken und er- tragsschwachen Jahren reduzieren. Die Folge wäre eine Verschiebung der Gewinnbesteuerung in die Zukunft und eine besondere Förderung einiger starker Betriebe. Betriebe in anderen Branchen gingen leer aus. Die vorgetragenen Gründe für die Risikoausgleichs- rücklage überzeugen heute so wenig wie in der Vergan- genheit. Ergebnisschwankungen sind kein besonderes Problem der Land- und Forstwirtschaft, sondern können jede unternehmerische Tätigkeit treffen. Auch andere Branchen müssen Risiken eingehen und unterliegen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10539 (A) (C) (D)(B) Marktschwankungen. Die Risikoausgleichsrücklage würde somit der Land- und Forstwirtschaft einen Steuer- vorteil verschaffen, der anderen Unternehmen nicht zur Verfügung steht. Diese müssten dann im Unterschied zu den landwirtschaftlichen Betrieben weiterhin die Vor- sorge für ihre Risiken aus dem versteuerten Einkommen treffen. Ein im Jahr 2011 im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forschung von Pro- fessor Dr. Enno Bahrs vorgelegtes Gutachten zeigt, dass die Risikoausgleichsrücklage im Bereich der Land- und Forstwirtschaft zu recht ungleichen Entlastungen führen würde. Knapp die Hälfte des gesamten Steuervorteils – 47 Prozent – würde auf 10 Prozent der Betriebe ent- fallen. Weitere 44 Prozent der Entlastung würden auf 32 Prozent der Betriebe entfallen. Die übrigen 58 Pro- zent der Betriebe würden sich die restliche Entlastung von 9 Prozent teilen. Die Risikoausgleichsrücklage würde somit vor allem einen kleinen Teil der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe begünstigen. Die meisten Betriebe hätten nur geringe Vorteile. Ich zitiere Professor Dr. Enno Bahrs vom Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre an der Universität Ho- henheim aus dem Abschlussbericht an Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: „Diskussion und Bewer- tung der möglichen Einführung einer Risikoausgleichs- rücklage zum Ausgleich von wetter- und marktbedingten Risiken in der Landwirtschaft – Modellanalyse und Auf- zeigen von Alternativen in Anlehnung an die steuerfreie Rücklage nach § 3 Forstschäden-Ausgleichsgesetz (ForstSchAusglG)“. Auf Seite 52 finden wir unter der Überschrift: „6.4.5 Vorzüglichkeit der Risikoausgleichs- rücklage für unterschiedliche Betriebsgruppen“: Für die Entscheidung über die Einführung einer Risikoausgleichsrücklage ist neben dem gesamtsek- toralen Effekt auch die Verteilung auf unterschiedli- che betriebswirtschaftliche Ausrichtungen von Be- deutung. … So profitieren Veredelungsbetriebe im Vergleich zu Futterbaubetrieben um das 3,5fache. Die Einführung der Risikoausgleichsrücklage würde für nahezu ein Drittel der Veredelungsbe- triebe zu einer jährlichen Steuerersparnis von über 500 Euro führen. Futterbaubetriebe, die den größten Anteil der Betriebe im Datensatz stellen, können hingegen nur vergleichsweise wenig von der Ein- führung profitieren. Den besonderen witterungsbedingten Einflüssen in der Land- und Forstwirtschaft wird außerdem bereits durch das vom Kalenderjahr abweichende Wirtschafts- jahr und die Aufteilung des Gewinns auf zwei Veranla- gungszeiträume Rechnung getragen. Hierdurch wird eine Progressionsglättung erreicht, die es bei anderen be- trieblichen Einkünften nicht gibt. Darüber hinaus gelten die allgemeinen Verlustver- rechnungsvorschriften des § 10 d EStG natürlich auch für land- und forstwirtschaftliche Betriebe. Für den Verlustrücktrag gilt: Negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Ge- samtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen wer- den, sind bis zu einem Betrag von 1 000 000 Euro … vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittel- bar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vor- rangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzu- ziehen. Für den Verlustvortrag gilt: Nicht ausgeglichene negative Einkünfte … sind in den folgenden Veranlagungszeiträumen bis zu ei- nem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Million Euro unbeschränkt, darüber hinaus bis zu 60 Pro- zent des 1 Million Euro übersteigenden Gesamtbe- trags der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Ab- zugsbeträgen abzuziehen. Sie profitieren somit von dem dort geregelten Verlust- vortrag und Verlustrücktrag, der ebenfalls Ergebnis- schwankungen ausgleicht. Der dritte Anlauf zur Einführung einer Risikoaus- gleichsabgabe begegnet deshalb den bisher schon beste- henden und wiederholt vorgetragenen Bedenken: Die Risikoausgleichsrücklage lässt sich ordnungspolitisch nicht begründen. Sie würde nur einen kleinen Teil der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe spürbar begüns- tigen, während der Großteil kaum profitieren würde. Au- ßerdem bestehen mit dem vom Kalenderjahr abweichen- den Wirtschaftsjahr und den allgemeinen Regelungen zum Verlustvor- und Verlustrücktrag bereits Mechanis- men, die Ertragsschwankungen ausgleichen. Last but not least sind die Steuerausfälle in den Blick zu nehmen. Ich zitiere nochmals Professor Dr. Enno Bahrs: Anhand der ermittelten Werte aus dem Datensatz lassen sich die Steuerausfälle für den Staat hoch- rechnen. Unter der Annahme, dass der gewichtete Datensatz weitgehend repräsentativ für die deut- sche Landwirtschaft ist, ergeben sich mittels einer Hochrechnung auf 165 000 buchführende und der Einkommensteuer unterliegende Betriebe (Statis- tisches Jahrbuch, 2009) Steuerausfälle gegenüber der jetzigen Regelung (§ 4a EStG) von jährlich 29,4 Millionen Euro beim angenommenen zehnjäh- rigen Glättungszeitraum unter Berücksichtigung der DBV-Restriktionen. Ohne Restriktionen erhöht sich der Steuerausfall auf 32,7 Millionen Euro. Ein zu hoher Preis für eine solch ungerechte Förde- rung wie die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Deshalb ist es klug, den Antrag auch heute abzulehnen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nein, die steuerfreie Risikorücklage ist keine Erfindung der Lin- ken, sondern wir greifen eine Forderung auf, die uns seit Jahren auf nahezu jeder Veranstaltung vorgetragen wird – von der Landwirtschaft über den Gartenbau bis hin zu den Baumschulen. Das allein ist natürlich noch kein Grund, sie im Bundestag zu beantragen, sondern wir hal- 10540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) ten diese Forderung aus agrarpolitischer Sicht für not- wendig und aus finanzpolitischer Sicht für klug. Ja, wir würden damit zunächst auf Steuereinnahmen verzichten. Das ist auch das Hauptargument bei Union, SPD und Grünen gegen unseren heutigen Antrag – wenn Sie ehrlich sind. Aber das ist entweder sehr kurzsichtig – denn es geht um die Vermeidung von großen steuer- finanzierten Hilfspaketen durch vorsorgende Hilfe zur Selbsthilfe – oder Sie haben den Antrag nicht verstanden und hätten besser Ihren agrarpolitischen Fachleuten zu- hören sollen. Das Mantra der „schwarzen Null“ ignoriert nämlich die realen Ängste und Sorgen in den Betrieben. Und wenn Sie schon unserem Antrag nicht zustimmen: Wo sind denn Ihre Vorschläge zur besseren Risikoabsi- cherung? Aktuell klagen die Betriebe wieder über eine wochen- lange, nun schon fast traditionelle Frühsommertrocken- heit. Wenn es nicht bald regnet, sind Rufe nach staatli- cher Unterstützung doch absehbar. Das kostet dann doch auch Steuergelder und wird vermutlich sogar noch teu- rer, als Vorsorge zu treffen, zum Beispiel um andere Sor- ten zu probieren oder Anbautechniken. Die Grünen sind doch eigentlich für eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage. Ihr baden-württembergischer Agrarminister, Alexander Bonde, betont sogar, wie wich- tig sie wäre. Aber während Sie sich im Agrarausschuss des Bundestages wenigstens noch heroisch der Stimme enthalten haben, gab es im federführenden Finanzaus- schuss doch ein Nein. Und die Union: in den Wahlkrei- sen dafür – hier im Bundestag dagegen. Und auch über den Bauernverband kann ich mich nur wundern. Sonst sind sie alles andere als zurückhaltend mit Lobbybriefen für oder gegen bestimmte Gesetzesvorhaben oder An- träge. Wenn aber die Linksfraktion eine ihrer jahrelan- gen Forderungen in den Bundestag einbringt, schweigt die DBV-Chefetage. Entweder ist ihnen die Forderung dann doch nicht so wichtig oder der Friede mit der Union ist ihnen noch wichtiger. Auf Kosten der betroffe- nen Betriebe! Dabei haben wir gerade jede Menge neue Argumente für unseren Antrag auf dem Tisch. Das Umweltbundesamt hat im „Monitoringbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawan- del“ ein ganzes Paket von Gründen dokumentiert, wa- rum eine Abfederung der Risiken, für Vorsorge und für Notfallpläne im Bereich der Agrarwirtschaft dringend erforderlich ist. Denn es wird tendenziell wärmer. Das Wetter wird extremer – es gibt entweder viel zu viel oder viel zu wenig Regen. Das allein erhöht schon die Anbau- risiken erheblich. Darauf kann und muss sich die Land- wirtschaft einstellen, durch andere Anbaumethoden und -konzepte, andere Sorten und Rassen, mehr Vielfalt auf dem Acker und im Stall. Das bedeutet auch mehr For- schung, mehr Züchtung, mehr Ausprobieren. Um ein paar konkrete Beispiele aus dem Bericht für wachsende Risiken durch Klimaveränderungen zu zitie- ren: Erstens. Der Blühbeginn schwankt zunehmend zwi- schen den einzelnen Jahren, Tendenz eher früher als spä- ter. Im Vergleich zu den 1970er-Jahren blühen der Apfel und der Raps heute ganze zwanzig Tage früher. Hört sich für Laien nicht so schlimm an, erhöht aber zum Beispiel das Risiko von Spätfrostschäden. Viele Obstbaubetriebe müssen zu Frostschutzberegnungen greifen, um die Pflanzen vor der Kälte zu schützen. Das kostet zusätzli- ches Geld. Zweitens. Auch die Qualität der Ernteprodukte verän- dert sich witterungsabhängig. Beim Wein zum Beispiel sind Zuckergehalt, Säuregrad und Vorstufen diverser Aromastoffe sehr witterungsabhängig. Aber zu hohe Al- koholgehalte sind ebenso unerwünscht wie säurearme Rieslingweine. Drittens. Witterungsextreme werden häufiger: zum Beispiel die unterdessen fast regelmäßige Frühsommer- trockenheit. In Brandenburg gab es dieses Jahr im März und April nur 40 Prozent des normalen Niederschlags. In meinem Wahlkreis bauen einige Betriebe schon gar kein Sommergetreide mehr an, weil der Regen zur Saatzeit immer häufiger ausfällt. Im Trockenjahr 2003 lag der Weizenertrag im Bundesdurchschnitt wetterbedingt 12 bis 13 Prozent unter dem erwarteten Ertrag. Immer- hin haben Wetterextreme 470 Millionen Euro Schäden in den vergangenen 15 Jahren in der Pflanzenproduktion verursacht, die Hälfte davon durch Trockenheit und Dürre. Extremwitterungsschäden aber werden in der Re- gel nur bei Hagel durch Versicherungen abgedeckt. Das sind nur 20 Prozent aller Schäden, und nur 60 Prozent der Anbaufläche sind überhaupt gegen Hagel versichert, weil sich die Betriebe das leisten wollen und können. Eine Mehrgefahrenversicherung gibt es nicht. Und das in Zeiten, in denen man sich sogar gegen das Verpassen der Champions-League-Teilnahme versichern kann. Und bezahlbar wäre sie auch nur mit öffentlichen Zuschüs- sen, die vermutlich eher in die Taschen der Versicherer umgeleitet werden. Viertens. Klimaveränderungen und weltweite Waren- ströme erhöhen den Schädlingsdruck. Aktuell bereitet zum Beispiel die Einschleppung der aus Japan stammen- den Kirschessigfliege vielen Obstbauern und Winzern Sorgen. Auch der Rapsglanzkäfer profitiert von wärme- ren Wintern und trockenen Frühjahren. Diese Liste der aktuell neuen oder steigenden Risi- ken, auf die sich Landwirtschaft, Gartenbau und Baum- schulen einstellen müssen, ließe sich beliebig fortsetzen. Natürlich steigen nicht nur die Risiken, es gibt auch Chancen. Die Sojabohne bekommt auch in Mitteleuropa eine Chance, und auch die Rotweinsorten Merlot oder Cabernet Sauvignon dürften profitieren. Aber auch das heißt für die Betriebe in der Konse- quenz, dass sie sich neuen, schwieriger werdenden na- türlichen und gesellschaftlichen Bedingungen stellen müssen, und wir sollten sie dabei unterstützen. Dabei geht es uns vor allem um die Sicherung der öffentlichen Interessen, denn hier geht es – anders als in Industrie und Handwerk – um unsere Lebensgrundlage Nahrung und Natur. Die Linke will kein Rundum-sorglos-Paket für die Landwirtschaft, sondern wir wollen eine Unterstützung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10541 (A) (C) (D)(B) bei der Vorsorge statt große staatliche Hilfsprogramme, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Rolle als Wohltäter in der Not mag für manchen vielleicht verfüh- rerisch sein. Vernünftiger und nachhaltiger ist es aber, die Betriebe dabei zu unterstützen, gar nicht erst in diese Lage zu kommen. Die Finanzpolitikerinnen und -politi- ker meiner Fraktion haben verstanden, dass das mittel- und langfristig sogar Geld sparen kann. Deshalb kann man unserem Antrag eigentlich nur zustimmen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Fraktion Die Linke hat anscheinend ihr Herz für die Agrarindustrie entdeckt. Nur so kann ich mir er- klären, warum sie ordnungspolitisch derart verfehlt eine neue steuerliche Sonderregelung fordert, von der in ers- ter Linie die Agrargroßbetriebe profitieren. Die bäuerli- che Landwirtschaft und dort die kleineren und mittleren Betriebe hätte wohl wenig von diesem Vorschlag einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage, der – und das ist nicht unschwer zu erkennen – ursprünglich einmal aus der Feder des Deutschen Bauernverbandes stammt. Dazu frage ich mich, wie das geforderte Steuerge- schenk gleichzeitig gegen unwetterbedingte Ernteaus- fälle, die Folgen des Freihandelsabkommens TTIP oder vermehrt auftretende Tierseuchen helfen soll, wie es zu- mindest in der Begründung des Antrags nachzulesen ist. Allein aus dieser Aufzählung können Sie schließen, was an dem Vorschlag der Fraktion Die Linke falsch ist: Er ist alles andere als zielgenau. Gegen Unwetterschäden können sich landwirtschaftli- che Betriebe versichern, dazu gab es in der Vergangenheit durchaus stärkere Anreize, etwa über starke Ermäßigun- gen bei der Versicherungsteuer auf Mehrgefahrenversi- cherungen. Außerdem gibt es immer wieder Hilfen von Bund und Ländern, die etwa die Folgen sehr starker Unwetter abfedern; die Unterstützungen im Rahmen der Beseitigung der Schäden durch das Elbehochwasser ha- ben das gezeigt. Wer negative Folgen aus Freihandelsabkommen ver- hindern will, muss an dieser Stelle klar benennen, was er will. Bei TTIP sind wir uns mit der Fraktion Die Linke ja einig, dass zum Beispiel Konkurrenz durch gentechnisch veränderte Industrielebensmittel kein Weg ist, den freien Handel im atlantischen Raum zu verbessern. Dagegen wehren wir uns. Und wir organisieren damit den Wider- stand gegen TTIP, eine Einfuhr von gentechnisch veränderten Futtermitteln, und betreiben damit die Ur- sachenbekämpfung an der Quelle. Eine steuerfreie Risi- korücklage aber hat nun wirklich gar nichts mit dem Thema Freihandel zu tun. Und zuletzt die Tierseuchen: Das Problem an dieser Stelle ist ganz eindeutig unsere Art der Fleischproduk- tion, die immer weiter expandiert und auf Massentierhal- tung setzt. Hier kämpfen wir gegen eine Ausweitung dieser Form des „Immer-Mehr“. Auch hier muss es da- rum gehen, die Quelle des Übels zu bekämpfen und nicht die möglichen negativen Auswirkungen. Die steu- erfreie Risikoausgleichsrücklage macht auch hier keinen Sinn, außer dass vorwiegend Großbetriebe ein bisschen weniger Steuern zahlen werden. Nicht zuletzt will ich den bürokratischen Aufwand einer solchen steuerlichen Risikoausgleichsrücklage benennen. Beklagen sich nicht die Landwirte – in vielen Fällen aus gutem Grund – über den Aufwand gerade auch im steuerlichen Bereich. Hier sollten wir weniger statt mehr machen! Ich kann es an dieser Stelle kurz machen: Ihr Vor- schlag ist schlicht nicht geeignet, um die durchaus vor- handenen Probleme in der Landwirtschaft zu lösen. Und dazu ist er ordnungspolitisch falsch. Das wiegt bei wei- tem nicht die Vorteile auf, die für einige wenige land- wirtschaftliche Betriebe mit der Steuerrücklage erreicht werden könnten. Deswegen lehnen wir den Vorschlag ab. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangele- genheiten (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Die Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beile- gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Än- derung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L165 vom 18.6.2013, S.63) verpflichtet die Mitgliedstaaten in Artikel 25, bis zum 9. Juli 2015 die Rechtsvorschriften zu erlassen, die erforderlich sind, um der Richtlinie 2013/11/EU nachzu- kommen. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaa- ten dafür sorgen, dass Verbrauchern bei Streitigkeiten mit Unternehmern außergerichtliche Streitbeilegungs- stellen zur Verfügung stehen. Die Verpflichtung bezieht sich auf Streitigkeiten aus „Kaufverträgen“ oder „Dienstleistungsverträgen“ im Sinne der Richtlinie 2013/11/EU. Die Streitbeilegungsstellen müssen bestimmte Anfor- derungen zu Fachwissen, Unparteilichkeit, Unabhängig- keit und Transparenz und zum Ablauf des Streitbeile- gungsverfahrens erfüllen. Die Einhaltung der Anforderungen ist durch staatliche Stellen zu prüfen. Zudem sieht die Richtlinie 2013/11/EU die Verpflich- tung von Unternehmern vor, Verbraucher über die zu- ständige Streitbeilegungsstelle zu informieren und sich bei der Ablehnung einer Verbraucherbeschwerde da- rüber zu erklären, ob sie zur Durchführung eines Streit- beilegungsverfahrens bereit sind. Artikel 7 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 22 Ab- satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 524/2013 des Europäi- schen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkei- ten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/ 2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 165 vom 18.6.2013, S. 1) verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum 10542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) 9. Juli 2015 eine Kontaktstelle zu benennen, die als in- nerstaatliche Anlaufstelle für Verbraucher, Unternehmer und Streitbeilegungsstellen in grenzübergreifenden Kon- flikten aus online geschlossenen Verträgen zur Verfü- gung steht. Die Europäische Kommission wird eine internetge- stützte Plattform mit einer Datenbank der anerkannten Streitbeilegungsstellen in der Europäischen Union ein- richten. Die deutsche Kontaktstelle soll den Zugang zu der Schlichtungsplattform erleichtern. Zweitens. Die Richtlinie über alternative Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten bietet den Mit- gliedstaaten eine Chance für die konsensuale Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten, die grundsätzlich auch von der Justiz als unterstützenswert angesehen wird, ein für alle Beteiligten sinnvolles, sachgerechtes und bedarfsorientiertes Konzept zu entwickeln. Ziel der Umsetzung der Richtlinie kann es nicht sein, ein aus Steuermitteln finanziertes Parallelsystem zu den Gerichten zu schaffen. Vielmehr sollten primär die Vor- teile nichtförmlicher Verfahren, größerer Flexibilität nicht streng rechtsorientierter Lösungen und hoher Spe- zialisierung der alternativen Streitbeilegungsstellen be- darfsorientiert und daher branchenspezifisch nutzbar ge- macht werden. Somit könnten sowohl Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Unternehmen davon profi- tieren. Dies stellt eine gemeinsame Aufgabe einerseits der Wirtschaft, des Verbraucherschutzes und der Justiz und andererseits von Bund und Ländern dar, die eine enge Abstimmung der Beteiligten erfordert. Ziel der Umsetzung muss es sein, dass in vielen Be- reichen bereits vorhandene Schlichtungsangebot zu er- halten und soweit erforderlich an die Anforderungen der Alternativen-Streitbeilegungs-Richtlinie anzupassen. In den Bereichen, in denen noch kein Schlichtungsangebot besteht, sollten branchenspezifische und möglichst bun- deseinheitliche Schlichtungsstellen geschaffen werden, die zumindest auch von der Wirtschaft mitgetragen wer- den sollten. Die nur durch branchenspezifische und bun- deseinheitliche alternative Streitbeilegungsstellen zu er- reichende Spezialisierung der Streitmittler wird eine hohe Akzeptanz sowohl bei Verbraucherinnen und Ver- brauchern als auch bei Unternehmen fördern. Die dann noch zu schaffende Auffangschlichtungsstelle sollte ei- nen engen Anwendungsbereich haben, bundeseinheitlich tätig sein und in Bundeszuständigkeit geschaffen wer- den. Nur so kann die erforderliche Fallzahl erreicht wer- den, um innerhalb der Stelle Möglichkeiten der Speziali- sierung zu schaffen und die Fallkosten im Rahmen zu halten. Ferner kann nur eine einheitliche Stelle den für eine sinnvolle Aufgabenerledigung nötigen Bekannt- heitsgrad erreichen. Mit der Verabschiedung des Mediationsgesetzes ha- ben wir in der vergangenen Legislaturperiode die richti- gen Weichen gestellt, die Mediation in Deutschland zu fördern. Leider steht der Erlass der Mediationsausbil- dungsverordnung immer noch aus. Hier wird das Bun- desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz aber sicher bald eine Lösung vorstellen. Wir müssen aber darauf achten, dass wir nicht zu viele Parallelstrukturen schaffen. Für die Verbraucherin- nen und Verbraucher muss klar sein, an welche Stelle Sie sich wenden können. Es darf keinen Streitbeilegungs- dschungel geben. Insbesondere sollten die bereits vor- handenen guten Mediatorinnen und Mediatoren in ihrer Arbeit weiter gestärkt werden. Drittens. Im Gegensatz zum Referentenentwurf wer- den unter anderem Verfahrensrechte von Verbrauchern und Unternehmern angeglichen. Der Referentenentwurf sah ein starkes Ungleichgewicht der Verfahrensrechte zulasten von Unternehmern vor. Unternehmer sollen nun richtigerweise, etwa ebenso wie Verbraucher, jederzeit berechtigt sein, das Verfahren abzubrechen. Keine Gleichbehandlung erfahren Unternehmer jedoch nach wie vor hinsichtlich der Gebührenlast. Während die Verfahrensbeteiligung für Verbraucher grundsätzlich kos- tenlos ist, sollen Unternehmer mit unverhältnismäßig hohen Verfahrensgebühren die Finanzierung der ADR- Stellen sicherstellen. Wenn der Unternehmer 190 Euro zu zahlen hat, obwohl der Streitwert lediglich bis zu 100 Euro beträgt, ist ersichtlich, dass ADR-Verfahren für Unternehmer unwirtschaftlich sind und in der Praxis keine Akzeptanz finden werden. Auch hinsichtlich der Umsetzungsverantwortung be- steht nach wie vor Handlungsbedarf. Es steht außer Frage, dass die Verantwortung zur Einrichtung von ADR-Stellen nicht allein der Wirtschaft auferlegt wer- den darf. Verbraucherschutz ist von allgemeinem Interesse und kann deshalb nicht einseitig von Unternehmen, Wirt- schaftsverbänden oder öffentlichen Einrichtungen der gewerblichen Wirtschaft getragen werden. Handwerks- organisationen beispielsweise haben den gesetzlichen Auftrag, die Interessen des Handwerks und der Hand- werksbetriebe zu vertreten. Die Finanzierung von ver- braucherschützenden ADR-Verfahren mit Beitragsmit- teln der Handwerksbetriebe wäre insoweit zweckwidrig. Ähnliches gilt für andere Verbände. Die im Referentenentwurf noch eindeutig zum Aus- druck gebrachte Intention, unter anderem die Selbstver- waltungskörperschaften in die Pflicht zur Einrichtung von ADR-Stellen zu nehmen, findet sich im Gesetzent- wurf der Bundesregierung nicht mehr explizit wieder. Um Rechtssicherheit zu schaffen, sollte aber eine ent- sprechende Klarstellung erfolgen, dass die Kammern und Innungen hierzu auch nicht verpflichtet werden dür- fen. Ebenso wie der Referentenentwurf überträgt auch der Gesetzentwurf den Ländern die Verantwortung, ein flä- chendeckendes Angebot an ADR-Stellen zu gewährleis- ten, wenn sich nicht genügend freiwillige Träger finden. Hier ist zu prüfen, ob die Schaffung einer einzigen, bun- desweit zuständigen Universalschlichtungsstelle nicht personell und finanziell leichter umzusetzen wäre. Letztlich ist auch zu fragen, ob die Einführung einer Schutzgebühr hilfreich wäre. Hier könnte ein kleiner Be- trag in Höhe von etwa 50 Euro dafür sorgen, dass die Ef- fizienz der Schlichtungsstellen auf Dauer erhalten bleibt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10543 (A) (C) (D)(B) Die Missbrauchsgebühr wird sicher nur in den seltensten Fällen Anwendung finden und daher zu keiner Entlas- tung führen. Viertens. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält be- reits viele begrüßenswerte Regelungen. In den anstehen- den parlamentarischen Beratungen werden wir sicher noch diskutieren und verändern müssen. Ich bin aber da- von überzeugt, dass wir so zu einem guten Gesetzesab- schluss finden werden. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Das Leitbild un- serer Verbraucherschutzpolitik ist der Verbraucher auf Augenhöhe, auf Augenhöhe mit der Wirtschaft und den Dienstleistern. Wenn wir die Verbraucher befähigen, im Binnenmarkt zu agieren, und mit entsprechenden Rech- ten ausstatten, dann müssen sie diese Rechte auch durch- setzen können. Ein Weg ist das gerichtliche Verfahren als klassische Form der Rechtsdurchsetzung. Es gibt aber auch noch einen anderen Weg. Die USA und Kanada zeigen, dass die außergerichtliche Streitbeilegung gut funktionieren kann. Bevor ich hier in den Bundestag gekommen bin, durfte ich als Europaabgeordnete miterleben, wie die Richtlinie über die alternative Streitbeilegung in Ver- braucherangelegenheiten entstanden ist. Und ich glaube, dass uns mit dieser Richtlinie etwas Zukunftsweisendes gelungen ist. Denn die Richtlinie ermöglicht eine einfa- che, schnelle, kostengünstige und effektive Art der Bei- legung von Streitigkeiten. Und sie orientiert sich an der Lebenswirklichkeit, indem sie den Onlinehandel mit ein- schließt. Aktuell haben wir den Entwurf für das Verbraucher- streitbeilegungsgesetz vorliegen. Die Frist für die Um- setzung der EU-Richtlinie endet am 9. Juli. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir es nicht schaffen werden, fristgerecht umzusetzen. Daher möchte ich an Sie appel- lieren: Lassen Sie uns dieses Gesetz ordentlich diskutie- ren, offene Fragen klären und Baustellen beseitigen. Ein paar Wochen mehr oder weniger sollten nun auch keine Rolle mehr spielen. Eine strittige Frage betrifft die Kostenverteilung. Ver- braucher können sich laut Gesetzentwurf direkt und vor allem kostenfrei an die einzurichtenden Schlichtungs- stellen wenden. Nur wenn die Verbraucherin oder der Verbraucher das Verfahren missbräuchlich in Anspruch genommen hat, soll sie oder er zur Kasse gebeten wer- den. Von den Unternehmen hingegen wird ein angemes- senes Entgelt eingefordert. An dieser Stelle werden wir noch einmal diskutieren müssen, ob der Wirtschaft die alleinige Kostenverantwortung aufgebürdet wird. Bei Universalschlichtungsstellen fallen Gebühren von bis zu 380 Euro für die einzelnen Betriebe an. Dies birgt das Risiko, dass die außergerichtliche Streitschlichtung unat- traktiv für die Betriebe wird, zumal die Betriebe nicht verpflichtet sind, am Schlichtungsverfahren teilzuneh- men. Die alternative Streitbeilegung funktioniert aber nur, wenn sie von den Betrieben angenommen wird und möglichst viele Verbraucherstreitigkeiten über dieses In- strument abgewickelt werden. Auch gebe ich zu beden- ken, dass mit einer einseitigen Finanzierung durch die Wirtschaft die Prinzipien der alternativen Streitbeile- gung, nämlich die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit sowie Transparenz und Fairness, infrage gestellt werden könnten. Längst haben sich auch bei uns Alternativen zum klassischen gerichtlichen Verfahren etabliert. Ich denke hier zum Beispiel an die Ombudsleute, die schon heute von einigen Branchen, wie Banken, Energieversor- gungsunternehmen oder Versicherungen, auf freiwilliger Basis eingerichtet wurden. Auch die Kammern bieten kostenfreie Schlichtungsverfahren zwischen Kammer- mitgliedern und den Verbrauchern an. In der letzten Le- gislaturperiode wurde das Mediationsgesetz auf den Weg gebracht. Allerdings ist es bislang nicht gelungen, eine Ausbildungsordnung für die Schlichter zu verab- schieden. Sie sehen, die Vielfalt der offenen Fragen ist groß. Ich würde mir wünschen, dass wir das Verbraucherstreitbei- legungsgesetz auch dazu nutzen, diese Vielfalt zu sortie- ren und zu harmonisieren. Damit ist nicht nur den Ver- brauchern geholfen, sondern auch der Wirtschaft. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Ich begrüße, dass jede Verbraucherin und jeder Verbraucher zukünftig in allen Branchen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – Zu- gang zu einer Schlichtungsstelle bekommen und damit die Chance besteht, dass es für sie/ihn im konkreten Streitfall eine schnelle, kostenlose und unbürokratische Lösung geben kann. Erinnern Sie sich? An gleicher Stelle haben wir in der letzten Wahlperiode über die Einführung einer Schlich- tungsstelle im Luftverkehr gestritten. Lange wollten die großen Airlines da nicht mitmachen. Und an der bereits bestehenden Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per- sonenverkehr, söp, wollten sie sich gleich gar nicht be- teiligen. Inzwischen haben sich die Wellen geglättet, viele Airlines arbeiten nun doch mit der söp zusammen, und die konnte im Jahr 2014 allein im Bereich Flug etwa 3 500 Fälle abschließen. Na also! Dank der EU-Richtlinie über die alternative Beile- gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten müssen wir heute nicht über die Frage, ob wir alternative Streit- schlichtung einführen wollen, diskutieren. In dem Fall war die EU einen Schritt schneller: Die EU-Mitglied- staaten müssen dafür sorgen, dass Verbrauchern bei Streitigkeiten mit Unternehmen, die aus Kaufverträgen bzw. Dienstleistungsverträgen entstehen, außergerichtli- che Streitbeilegungsstellen zur Verfügung stehen. Leider mauert diesmal wieder ein Großteil der Wirt- schaft. Schade! Warum orientieren sie sich nicht an den erfolgreichen Modellen der Banken, Versicherer und Verkehrsunternehmen? Schnell, unbürokratisch und kos- tengünstig Lösungen im Streitfall zu finden, motiviert in der Regel Kunden eher, dem Unternehmen treu zu blei- ben, als eine Klärung der Streitigkeiten durch das Ge- richt oder eine Auffangschlichtungsstelle. 10544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Um entsprechendes Vertrauen für die Beteiligung an einer Schlichtung sowohl bei den Verbrauchern als auch bei den Unternehmen aufzubauen, muss natürlich ge- währleistet sein, dass die Streitmittler unabhängig sind, über entsprechende Rechtskenntnisse verfügen und die Schlichtungsstellen selbst durch die zuständige Behörde anerkannt und regelmäßig überprüft werden. Bei Letzte- rem habe ich allerdings meine Zweifel, wenn ich sehe, wie verschieden die einzelnen Bundesländer die Lebens- mittelkontrolle durchführen. Besondere Aufmerksamkeit bei Umsetzung der ADR- Richtlinie verdient meiner Meinung nach der elektroni- sche Geschäftsverkehr. Der sogenannte Onlineschlichter, eine hierauf spezialisierte Schlichtungsstelle, sollte da- her – wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung an- gekündigt – bundesweite Zuständigkeit bekommen. Da über das Internet alle möglichen Arten von Kauf- und Dienstleistungsverträgen zwischen Unternehmern und Verbrauchern abgeschlossen werden, scheint der Online- schlichter auch besonders geeignet, die Aufgabe einer Universalschlichtungsstelle nach § 29 des Regierungsent- wurfs zu übernehmen – das heißt die sektorübergreifend zuständig ist, sofern es keine speziellere Schlichtungs- stelle gibt. Ich verweise hier auf die guten Erfahrungen beim Onlineschlichter des Europäischen Verbraucher- zentrums in Kehl. Ein Problem sehe ich allerdings im Gesetzentwurf noch nicht gelöst. Die Ansprüche der Verbraucher dür- fen während des Schlichtungsverfahrens nicht verjähren. Hier unterstütze ich voll und ganz die Forderung des vzbv. Mein Fazit: Der Grundgedanke, einen Zugang zu Schlichtungsstellen für jeden in jeder Branche zu schaf- fen, ist gut. Ich möchte, dass sich eine Schlichtungskul- tur in Deutschland durchsetzt. Lassen Sie uns gemein- sam den guten Entwurf im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern. Dennis Rohde (SPD): Die außergerichtliche Schlichtung ist in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ein Erfolgsmodell. Sie sorgt dafür, dass Konflikte ent- schärft werden können, statt zu eskalieren – und entlastet durch die einvernehmliche Lösung von Streitigkeiten unsere Gerichte. Zudem bieten Schlichtungsstellen eine Streitbeilegung, die oft günstigere und schnellere Ergeb- nisse erbringt als der klassische Rechtsweg. Es über- rascht daher kaum, dass es neben den traditionellen Schiedsämtern eine zunehmende Zahl von Schlichtungs- stellen gibt, die Verbraucher und Unternehmer an einen Tisch bringen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diese Entwicklung vorantreiben. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zur alternativen Streitbeilegung sorgen wir dafür, dass jede Verbraucherin und jeder Verbraucher in Deutschland Zugang zu einer Schlichtungsstelle er- hält. Das erreichen wir, indem wir verbindliche Stan- dards für bestehende, etwa von Branchenverbänden ge- tragene Schlichtungsstellen setzen – und durch die Länder dort ergänzende Universalschlichtungsstellen einrichten, wo das Angebot noch nicht ausreichend ist. Wichtig ist dabei, dass wir die Gerichte entlasten und ihre Arbeit ergänzen wollen – nicht aber Parallelstruktu- ren aufbauen. Der Rechtsweg steht jederzeit offen, einen Ausschluss des Gangs zu regulären Gerichten in den Verfahrensordnungen der Schlichtungsstellen verbieten wir ausdrücklich. Zugleich setzen wir konsequent auf Einigung und guten Willen – und deswegen auf Freiwil- ligkeit: Weder Verbraucher noch Unternehmer werden gezwungen, teilzunehmen, und eine Beendigung des Schlichtungsverfahrens oder eine Ablehnung des Schlichtungsvorschlags steht den Parteien jederzeit frei. Die Teilnahme an einem Schlichtungsverfahren soll für die Verbraucherinnen und Verbraucher kostenlos sein. Dennoch werden die laufenden Kosten zu einem großen Teil durch Einnahmen durch Gebühren gedeckt: Für Schlichtungsverfahren an den behördlichen Univer- salschlichtungsstellen zahlen die Unternehmen nämlich eine nach dem Streitwert gestaffelte Gebühr. So wollen wir auch einen Anreiz setzen, zügig zur Anerkennung der Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu kommen. Unternehmen müssen künftig auf ihrer Homepage und in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auswei- sen, ob sie an der Schlichtung teilnehmen. Damit kann jeder klar sehen, ob ein Unternehmen Verbraucherrechte ernst nimmt und Vertrauen verdient – oder eben nicht. Durch diese Regelung zur Transparenz wollen wir errei- chen, dass die Bereitschaft zur Schlichtung auch zum Wettbewerbsfaktor zwischen den Unternehmen wird – damit es für Unternehmen ein Vorteil wird, mehr für Verbraucherrechte zu tun. Transparenz wollen wir auch in den Schlichtungsstel- len selbst erreichen. In ihren jährlichen Tätigkeitsberich- ten müssen die Schlichter aufzeigen, welche Art von Verträgen oft zu Verfahren führt – und damit, welche Geschäftsmodelle tendenziell öfter problematisch oder konfliktträchtig sind. So bauen wir das Netzwerk der Marktbeobachtung aus und gehen konsequent den Weg weiter, den wir mit dem Aufbau der Marktwächter ein- geschlagen haben. Denn je mehr Transparenz auf den Märkten herrscht, desto besser funktionieren sie im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das parlamentarische Verfahren steht mit der heuti- gen ersten Lesung erst am Anfang. Im Austausch mit Verbraucherschützern, Branchenverbänden und den Ländern wollen wir nun die Einzelheiten des Gesetzent- wurfs erörtern und die Meinung der Experten einholen. Dem sehe ich persönlich freudig entgegen. Mit dem hier vorgestellten Gesetzentwurf ist ein großer Schritt dazu getan, die Schlichtung in Deutschland weiter voranzu- bringen und so bessere Voraussetzungen zur Durchset- zung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu schaffen. Caren Lay (DIE LINKE): Die Idee ist ja grundsätz- lich nicht schlecht: Statt bei einem Streit mit einem Un- ternehmen erst immer den komplizierten und langwieri- gen Rechtsweg beschreiten zu müssen, soll es bald ein unbürokratisches und online durchführbares Schlich- tungsverfahren geben. Viele Verbraucherinnen und Ver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10545 (A) (C) (D)(B) braucher lassen es bekanntermaßen auf sich beruhen, ge- rade wenn es sich nicht um gravierende Fehler seitens der Unternehmen handelt. Eine Klage wird laut aktuel- len Studien oftmals erst ab einem Wert von 2 000 Euro angestrebt. Eine gerichtliche Klage kostet Zeit, Nerven und auch Geld. Klar, dass die Unternehmen auch darauf spekulieren. Nicht selten wird sogar mit Angriff auf Be- schwerden reagiert, wenn Kundinnen und Kunden bei- spielsweise Geld einbehalten. Dann wird anstatt mit Ko- operation mit einschüchternden Inkassobriefen oder gar im Streitfall der Kündigung einer wichtigen Dienstleis- tung reagiert und darauf gesetzt, dass die Verbraucherin- nen und Verbraucher einfach aufgeben. Leider war es mal wieder nicht die Idee der Bundesre- gierung, ein Schlichtungsgesetz vorzulegen, sondern es handelt sich um die Umsetzung einer EU-Richtlinie. Und leider ist die Idee auch nur grundsätzlich gut, denn sie hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler: Die Umsetzung ist für die Unternehmen völlig freiwillig und mal wieder eine der berühmten Selbstverpflichtun- gen, welche die Bundesregierung gerne mal als angebli- chen Handlungsnachweis erlässt. Das kennen wir ja bei- spielsweise aus dem Hause Maas schon von anderen Vorhaben, beispielsweise den Dispozinsen, wo Sie auf Warnhinweise statt auf Deckelung setzen wollen. Das Muster schleift sich scheinbar bei Ihnen ein. Dahin gehend ist es auch heuchlerisch, dass die Wirt- schaft sich jetzt darüber beklagt, dass sie selbst die Kos- ten der Schlichtungen grundsätzlich übernehmen soll und nur im Falle von Missbräuchlichkeit maximal 30 Euro Kosten auf die Verbraucherinnen und Verbrau- cher zukommen werden. Denn: Sie brauchen ja gar nicht mitzumachen. Welchen Anreiz haben die Unternehmen, freiwillig an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen? Wenn sie sich sicher sind, dass sie gewinnen, werden sie sowieso immer den juristischen Weg gehen. Maximal interessant wäre so ein Verfahren für die Unternehmen, wenn sie ei- nem öffentlichkeitswirksamen Verfahren aus dem Weg gehen können, um einen Imageschaden zu vermeiden. Das kann aber bereits heute schon durch ein Kulanzan- gebot seitens der Unternehmen ausgeglichen werden. Es gibt bereits einige branchenbezogene Schlich- tungsstellen wie zum Beispiel die Schlichtungsstelle der Fahrgastbranche oder der Versicherungsunternehmen. Die Teilnahme daran ist für das Unternehmen verpflich- tend. Dies haben sich die Unternehmen nicht selbst aus- gedacht oder im Rahmen der berühmten freiwilligen Selbstverpflichtung umgesetzt. Auch diese Schlich- tungsstellen musste man zum Jagen tragen. Warum sollte dies bei anderen Unternehmen anders sein? Werden, was zu erwarten ist, nicht ausreichend Schlichtungsstellen von privater Seite eingerichtet, haben die Bundesländer regionale Auffangschlichtungsstellen einzurichten. Der geschätzte Kostenaufwand für die Länder beträgt jähr- lich circa 4,919 Millionen plus einem Einmalaufwand von 9 Millionen. Da die Teilnahme der Unternehmen freiwillig ist, wird entgegen der Vermutung in dem Ge- setzentwurf kaum von einem nennenswerten Rückfluss aus Teilnahmegebühren und schon gar nicht von einer kostendeckenden Gebührenfinanzierung auszugehen sein. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Länder, die die personelle und sachliche Ausstattung der Auffang- schlichtungsstellen vorzufinanzieren haben, schlicht wieder einmal Geld verbrennen. Wie soll so halbherzig das Vertrauen in den Binnenmarkt gestärkt werden? Außerdem vergessen Sie hier eine nicht unwichtige Zielgruppe: Die Nonliner, also Menschen ohne Internet oder Internetaffinität. Gerade ältere Menschen werden von einer Onlineschlichtung, wenn sie denn stattfindet, nicht profitieren. Sie haben es in der Hand, ein wirksames Gesetz zu verabschieden – wenn Sie nachbessern und vor allem die Freiwilligkeit aus diesem Entwurf streichen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf für das Verbraucherstreitbei- legungsgesetz, VSBG, setzt eine EU-Richtlinie um. Das ist gut so, denn die Vorteile von Schlichtung liegen auf der Hand. Einige davon möchte ich hier kurz benennen: Schlichtungen können im Vergleich zu Gerichtsver- fahren Zeit und Geld sparen; sie werden in der Regel zü- gig abgewickelt und sind mit keinen oder nur geringen Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher ver- bunden. Es besteht eine realistische Chance für eine güt- liche Einigung. Man kann die Schlichtung auch im Falle eines geringen Streitwertes nutzen, bei dem Verbrauche- rinnen und Verbraucher den Gang zum Gericht eher scheuen würden. Außerdem bleibt die Vertraulichkeit von privaten und geschäftlichen Angelegenheiten ge- wahrt, wenn eine öffentliche Gerichtsverhandlung ver- mieden wird. Es gibt derzeit rund 60 000 Streitbeilegungsanträge von Verbraucherinnen und Verbrauchern bei den beste- henden Schlichtungsstellen in den Bereichen Versiche- rung, Energieversorgung, öffentlicher Personenverkehr, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. Das zeigt, dass die Schlichtung für die Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus eine Alternative zu den wesentlich aufwendigeren Gerichtsverfahren darstellen kann. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die alternative Verbraucherstreitbeilegung hohen Standards unterliegt, damit Schlichtung zu einem Erfolgsmodell werden kann. Der vorliegende Gesetzentwurf hat hier noch erhebli- chen Nachholbedarf. Folgende Punkte bedürfen meiner Meinung nach einer Überarbeitung: Erstens: Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit von Schlichtungsstellen sind die wichtigste Vorausset- zung, damit das niedrigschwellige Instrument der Schlichtung von den Verbraucherinnen und Verbrau- chern auch akzeptiert und angenommen wird. Deshalb müssen die Beteiligungsrechte klarer definiert sein. Ver- braucherverbände sollten die gleichen Beteiligungs- rechte erhalten wie Branchenverbände. Zweitens: Der Gesetzentwurf setzt auf die Freiwillig- keit der Unternehmen. Wenn sich in Deutschland die Schlichtung als Alternative zum Gerichtsgang etablieren soll, müssen auch möglichst viele Unternehmen mitma- 10546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) chen. Bisher sieht der Gesetzentwurf das aber nicht vor, denn Unternehmen müssen sich keiner Schlichtung un- terwerfen. Besser wäre es, wenn sich Unternehmen in Wirt- schaftsbereichen, in denen dies besonders relevant ist, wie zum Beispiel im Telekommunikationsbereich, einer Branchenschlichtungsstelle anschließen müssten, damit eine hohe Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit gewähr- leistet ist. Vorbild könnten bereits existierende und gut funktio- nierende Branchenschlichtungsstellen sein wie beispiels- weise die Schlichtungsstelle des öffentlichen Personen- verkehrs, söp. Eine solche Form eines unabhängigen Trägervereinsmodells hätte zudem den Vorteil, dass sie paritätisch von Verbraucher- und Wirtschaftsvertretern besetzt wäre. Ich frage mich, wie die Bundesregierung die Unter- nehmen in Zukunft auf freiwilliger Basis überhaupt dazu bewegen will, weitere Schlichtungsstellen einzurichten. Drittens: Auch die vorgesehene Lösung von Univer- salschlichtungsstellen auf Länderebene ist kontrapro- duktiv, denn wir brauchen branchenspezialisierte Schlichter. Hier hätte die Bundesregierung eine bundes- weite Auffangschlichtung vorsehen sollen, damit sich bundesweite Branchenlösungen durchsetzen können, an- statt die Verantwortung den Ländern zuzuschieben. Vierter Punkt: Schlichtung kann eine Rechtsprechung nicht ersetzen und darf sie auch nicht gefährden. Bisher haben die Schlichtungsstellen nur Berichtspflichten ge- genüber den zuständigen Aufsichtsbehörden. Es ist je- doch wichtig, dass die Schlichtungsstellen ihre Entschei- dungen – selbstverständlich unter Wahrung des Anonymitätsgrundsatzes – möglichst transparent ma- chen. Denn nur so können die Verbraucherverbände ihre Klagebefugnis wahrnehmen, wenn Schlichtungsverfah- ren nicht weiterführen, noch offene Rechtsfragen beste- hen oder Verbraucherverbände Musterklagen anstreben wollen in Fällen, bei denen wiederholt gegen Verbrau- cherrechte verstoßen wird. Ein weiterer relevanter Punkt ist die Qualifikation der Schlichter. Hier brauchen wir klare Vorgaben. Damit die Schlichtung eine ernst zu nehmende Alternative zum Gerichtsverfahren darstellt, müssen die Schlichter auch über einen entsprechenden juristischen Abschluss verfü- gen. Ich möchte abschließend ausdrücklich vor einer Schlichtung light warnen, die bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern falsche Hoffnungen weckt. Wir brau- chen hohe Anforderungen und Standards, damit sich das Instrument der alternativen Streitbeilegung etablieren kann und hält, was es verspricht. Dazu gehört auch die Änderung der derzeitigen Verjährungsregelung. Ver- braucherinnen und Verbraucher müssen sich darauf ver- lassen können, dass Schlichtungsverfahren auch kurz vor der Verjährung sinnvoll sind. Deshalb muss der Schlichtungsantrag die Verjährung der Forderung hem- men. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zugang und Teil- habe ermöglichen – Die Dekade für Alphabeti- sierung in Deutschland umsetzen (Tagesord- nungspunkt 19) Xaver Jung (CDU/CSU): 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Seit 2010 ist diese Zahl, die die leo. – Level-One Studie veröffentlichte, bekannt. Auch immer noch herrscht eine große Ungläubigkeit darüber, dass 14 Prozent der er- werbstätigen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht richtig lesen und schreiben können. 2012 bestätigte eine weitere Studie, PIACC, dass die Grundbildung und Lesekompe- tenzen der Menschen in Deutschland unter dem OECD- Durchschnitt liegen. Knapp jeder sechste Mensch in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben? Das kann nicht sein! Dass dieser Fakt so unbekannt ist, bestätigt einmal mehr: Analphabetismus ist noch ein Tabuthema in unserer Ge- sellschaft. Und viele Betroffene, die sich Vermeidungs- strategien angeeignet haben, leben mit viel Angst, ent- deckt zu werden. Analphabetismus ist in unserer heutigen Gesellschaft ein großes Problem. Aber es ist leider immer noch mit großer Angst vonseiten der Betroffenen besetzt und wird tabuisiert. Auch wenn das „wissende Umfeld“, also enge Verwandtschaft und Kollegen, vielleicht Bescheid wis- sen – wie eine Studie der Stiftung Lesen 2014 ergab –, so wird die Alphabetisierung dennoch oftmals nicht ange- gangen, denn zu groß ist die Scham, sich Blöße zu ge- ben. 2012 haben sich Bund und Länder auf eine Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Er- wachsener geeinigt. Viele Kooperationspartner haben sich diesem Bündnis angeschlossen und versuchen seit- dem, die Initiativen für Grundbildung in die Breite zu tragen und den Betroffenen zu helfen. Daraus haben sich viele gute Kurse und Netzwerke gebildet, die bereits jetzt schon einen wichtigen Teil des Weiterbildungs- systems in Deutschland bilden. Auch der vom BMBF initiierte Alphabund leistet gute Arbeit mit dem bundes- weiten ALFA-Telefon und der Sensibilisierung der Öf- fentlichkeit. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen wir aber mehr. Wir wollen eine nachhaltige Dekade für die Al- phabetisierung initiieren. Die Zahl der Betroffenen soll nachhaltig reduziert werden, und die Prävention und Sprach- und Schreibförderung soll verbessert werden. Besonders wichtig ist die Öffnung der Gesellschaft ge- genüber diesem Thema. Denn Analphabetismus betrifft die ganze Gesellschaft, besonders vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräfte- mangels. In der Dekade sollen die bestehenden Bündnisse in die Breite getragen und weitere Allianzpartner gefunden werden. Dies kann nur geschehen, wenn regelmäßig Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10547 (A) (C) (D)(B) Konferenzen zum Austausch und zur Vernetzung der Partner stattfinden. Wir haben die Senkung der Zahl der Analphabeten im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die 18. Wahlperiode festgeschrieben. Um dies nachhaltig garantieren zu können, soll eine an das Bundesministe- rium für Bildung und Forschung angegliederte Stelle ge- schaffen werden: Hier soll die Koordination stattfinden. Der Bund investiert bereits insgesamt 19,5 Millionen Euro in Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbil- dung. Das ist viel Geld, aber es muss auch dort ankom- men, wo es gebraucht wird. Die Koordinierungsstelle soll die weitere strategische Arbeit erledigen wie Schwerpunkte festsetzen, Maßnahmen fördern und die Öffentlichkeitsarbeit betreuen. Besonders das „wissende Umfeld“ und Arbeitgeber sollen gestärkt werden, An- reize zu schaffen. Gemeinsam mit den Bildungszentren und Koordinie- rungsstellen sollen die Alphabetisierungsangebote und besonders die personelle Ausstattung weiter erhöht werden. Darüber hinaus soll es passgenaue, nieder- schwellige Angebote geben, die für die Betroffenen am Arbeitsplatz, im Alltag und familiären Umfeld auch Ver- wendung finden können. Nur so können dauerhaft die Teilnehmerzahlen in den Alphabetisierungskursen auch erhöht werden. Es müssen auch andere Ressorts und Ministerien, wie zum Beispiel das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, und die Bundesarbeitsagenturen mehr Unterstützung darbieten. Nur wer die Grundkom- petenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Mathematik und den Umgang mit Informations- und Kommunikations- technologien auch wirklich beherrscht, kann vollum- fänglich in den Arbeitsmarkt integriert werden. Eine weitere wichtige Arbeit dieser Koordinierungs- stelle ist die Auswertung und das Zusammenführen der vorliegenden Daten. In den vergangenen Jahren sind im- mer wieder Förderschwerpunkte und Projekte durchge- führt worden, die sich mit der Didaktik und dem Umgang mit Analphabetismus beschäftigt haben. Nicht zuletzt, weil hier noch Bedarf für die Praxis besteht, müssen diese Daten weiter ausgewertet werden. Auch um die Auswirkungen dieser Bemühungen sichtbar zu machen, wollen wir, dass diese Daten in die weitere Bildungsberichterstattung mit aufgenommen werden. Wir wollen die gesamte Gesellschaft ermutigen, sich für Alphabetisierung einzusetzen. Helfen Sie uns dabei! Sven Volmering (CDU/CSU): Die Boxlegende Mu- hammed Ali hat nach seiner Karriere gesagt, dass er sein bekanntes Gesicht unter anderem für den Kampf gegen den Analphabetismus einsetzen möchte. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Ali hat viele Kämpfe alleine gewon- nen. Beim Kampf für die Alphabetisierung brauchen wir neben prominenten Gesichtern jedoch viele Mitstreiter in den Kitas, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Betrieben. Das Erfreuliche an der heutigen Debatte ist, dass wir uns fraktionsübergreifend einig sind, Analpha- betismus zu bekämpfen, damit den betroffenen Men- schen ein selbstbestimmtes Leben in und Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglicht werden kann. Wenn 7,5 Millionen Menschen vom funktionalen Analphabe- tismus betroffen sind, dann ist dies eine gesellschaftliche Herausforderung. Es muss uns, die wir uns gerne mit dem Ehrentitel „Volk der Denker und Dichter“ schmü- cken, nachdenklich stimmen, dass die Lesekompetenz der Deutschen unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Trotz vieler guter Maßnahmen ist Analphabetismus für noch zu viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen tabubehaftet. Deshalb ist es richtig, dass die Koalitions- fraktionen mit einer Reihe von Vorschlägen eine Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung einfordern. Der auch in dieser Debatte wieder von der Opposition ge- brachte Hinweis auf das Kooperationsverbot im Schul- bereich läuft meines Erachtens bei diesem Thema doch ziemlich ins Leere. Natürlich ist es ein Bildungsthema, über das wir heute debattieren. Aber die Auswirkungen und notwendigen Maßnahmen erstrecken sich doch über die Familien-, die Integrations-, die Wirtschafts- bis hin zur Arbeitsmarktpolitik. Deshalb ist es sinnvoll, dass die Themen Alphabetisierung und Grundbildung stärker als Querschnittsaufgabe verstanden werden müssen, wobei es gut ist, dass das BMBF die Federführung bei der Koordinierung der entsprechenden Aktivitäten der Ministerien erhalten soll. Genauso wichtig ist, dass die gesellschaftlich relevanten Akteure, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Kirchen, Volkshochschulen sich noch stärker als bisher engagieren und das bestehende Netzwerk ausgebaut wird. Wenn es gelingt, den Kampf gegen Analphabetismus besser zu koordinieren, um die vielfältigen Angebote bekannter zu machen, dann wer- den auch die Teilnehmerzahlen erhöht werden. Es gibt keine Alternative zu dem Ansatz, die Förderung der Lese- und Schreibfähigkeit immer mit Grundbildung in anderen Bereichen zu verbinden. Dazu müssen zwei Punkte stärker als bisher berücksichtigt werden. Zum ei- nen müssen die bestehenden Angebote noch stärker mit der Lebenswirklichkeit und dem -umfeld der Betroffe- nen verbunden werden. Zum anderen müssen wir neue Anreize dafür schaffen, dass Kurse und Maßnahmen bis zum Ende durchgeführt und besucht werden. Deshalb ist es wichtig, wie im Antrag angesprochen, die Qualitäts- debatte zu führen. Wenn die zielgruppengerechte Quali- tät der Maßnahmen ausgezeichnet ist und als Mehrwert angesehen wird, der dem Kursteilnehmer etwas bringt und sogar Spaß macht, dann kommen wir ein gutes Stückchen bei dieser Daueraufgabe weiter. Und es ist auch ehrlich, zu sagen, dass diese Aufgabe mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als zwei Legislaturperioden, zu- mal sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im- mer ändern. Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich festgestellt, dass die Digitalisierung, drü- cken wir es vorsichtig aus, in den Debatten der letzten Legislaturperiode zu diesem Thema fraktionsübergrei- fend eher eine untergeordnete Rolle spielte. Als Bericht- erstatter für Digitale Bildung freue ich mich sehr, dass die Bedeutung der Informations- und Kommunikations- technologien und digitaler Medienkompetenz an ver- schiedenen Stellen des Antrags deutlich hervorgehoben wird. Wenn wir sagen, es ist wichtig, die Lebenswirk- lichkeit der Menschen einzubeziehen, dann gehören dazu selbstverständlich Aktivitäten am Arbeitsplatz, in 10548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) der Aus-, Fort- und Weiterbildung, im Mehrgeneratio- nenhaus oder im Sportverein. Nichtsdestoweniger müssen wir auch die Chancen nutzen, die Blended- und Mobile-Learning-Angebote bieten. Gerade beim Thema Analphabetismus, das bei vielen Betroffenen mit Angst und Scham besetzt ist, weil sie aus unterschiedlichen Gründen bislang den Zugang zur Schrift und zum Lesen verpasst haben, bieten E-Learning- Angebote wie ich-will-lernen.de und ich-will-deutsch- lernen.de ausgezeichnete Möglichkeiten, zeit- und ortsunabhängig mit über 31 000 kostenlosen Übungen zu lernen, ohne dass man gleich immer das Gefühl haben muss, da ist jetzt ständig einer dabei, der alle meine Feh- ler sieht. Bedanken möchte ich mich bei der Bundesregierung für die wirklich sehr lesenswerte und ausführliche Be- antwortung der Grünen-Anfrage. Es wird in beeindru- ckender Weise dargestellt, wie viele gute Aktivitäten bereits durchgeführt werden. Exemplarisch nenne ich bspw. die Projekte Alpha PlusJob, ABC+ oder SESAM, dessen NRW-Sitz in meinem Wahlkreis in Bottrop ist, oder „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Es ist schön, zu sehen, dass viele Länder das Bundesprogramm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ mit eigenen Maßnahmen flankieren und den alltagsintegrierten Sprachprozess verstärken. Besonders loben möchte ich zum Ende meiner Rede noch einmal das Projekt Lesestart der Stiftung Lesen. Die 26 Millionen Euro des Bundes sind wirklich sehr gut investiertes Geld. In Dorsten, Gladbeck und Bottrop konnte ich sehen, mit wie viel Herzblut die Stadtbiblio- thek, die Lebendige Bibliothek, der Leseclub „anne Em- scher“ und die Kitas St. Marien und „die Initiative“ die Lesestart-Sets verteilen, kindgerechte Veranstaltungen durchführen und Kindern aus allen Bevölkerungsschich- ten Lust auf Bücher und aufs Lesen machen. Diese prä- ventiven Maßnahmen sind eine gute Basis, auf der eine vernünftige Lese- und Schreibförderung in den Schulen zwingend aufbauen muss. Deshalb ist es auch richtig, sich in dem Antrag an die Länder zu wenden. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich mich bei den Berichterstattern Xaver Jung und Rainer Stiering für die Erarbeitung des Antrags bedanken. Dies ist immer mit viel Arbeit verbunden und sollte an dieser Stelle daher auch gewürdigt werden. In diesem Sinne freue ich mich auf die Fortführung der Diskussion im Ausschuss. Oliver Kaczmarek (SPD): 2011 hat die leo. – Level- One Studie der Universität Hamburg das ganze Ausmaß des funktionalen Analphabetismus in Deutschland zum Ausdruck gebracht. 7,5 Millionen Menschen in Deutsch- land zwischen 18 und 64 Jahren gelten als funktionale Analphabeten. Wir kennen nicht alle Ursachen dafür. Aber wir wissen seitdem, dass funktionaler Analphabe- tismus nicht nur gesellschaftliche Ränder betrifft, son- dern bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein zu fin- den ist. Über 56 Prozent der funktionalen Analphabeten haben einen Beruf, Deutsch ist bei über 58 Prozent der Betroffenen die Muttersprache, und über 70 Prozent ha- ben einen Schulabschluss. Deshalb eine Anmerkung gleich zu Beginn: Es ist gut, dass die Bundesregierung entschieden hat, die leo. – Le- vel-One Studie zu wiederholen und zu verstetigen. Es ist nicht nur wichtig, dass wir mehr über das Ausmaß erfah- ren, sondern auch über die Ursachen und die Kontexte des funktionalen Analphabetismus. leo liefert unver- zichtbares Wissen, mit dem wir politisch noch genauer gegensteuern können. Seit dem Alpha-Schock ist eine Menge in Bewegung geraten. Im Jahr 2011 hat die Bundesregierung gemein- sam mit den Ländern die Nationale Strategie für Alpha- betisierung und Grundbildung entwickelt. Neben Bund und Ländern sind zahlreiche weitere Verbände, Organi- sationen und Institutionen dem Bündnis beigetreten, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Kirchen, der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Bundesagen- tur für Arbeit, der Bundesverband Alphabetisierung, der Deutsche Volkshochschul-Verband oder die Stiftung Lesen. In die Vereinbarung der Partner der nationalen Strategie wurden Initiativen und weiter gehende For- schungsmaßnahmen aufgenommen. Auf regelmäßigen Treffen hat man sich über Aktivitäten und Ergebnisse ausgetauscht. Das Bundesbildungsministerium hat mit weiteren Maßnahmen wie dem Förderschwerpunkt Ar- beitsplatzorientierte Grundbildung und der öffentlich- keitswirksamen Kampagne „Mein Schlüssel zur Welt – Lerne Lesen und Schreiben“ den Kampf gegen Analpha- betismus verstärkt. Mit der Einführung der Nationalen Dekade, die die SPD im Koalitionsvertrag mit CDU/ CSU verankern konnte, geht es nun darum, die Zusam- menarbeit zwischen den Partnern und die unterschiedli- chen Maßnahmen stärker als bisher zu koordinieren, weiterzuentwickeln und nachhaltig zu verankern. Dieses Ziel spiegelt sich auch in den Haushaltsmitteln wider, die im Laufe der Jahre erhöht wurden. 2011 lagen die Mittel bei 5,7 Millionen Euro. 2015 wurden insgesamt 19,5 Millionen Euro eingeplant. Zum Glück gibt es bereits seit Jahrzehnten in Deutschland engagierte Menschen, die sich für den Kampf gegen Analphabetismus einsetzen. Wichtige Träger der Alphabetisierungsarbeit sind unter anderem der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband und die Stiftung Lesen. Ich freue mich besonders darüber, dass sich seit Bekanntwerden der Studie deutschlandweit zahlreiche lokale und regionale Bündnisse und Pakte für Alphabeti- sierung und Grundbildung gegründet haben, so auch in meinem Wahlkreis im Kreis Unna. Viele Landesregie- rungen haben Initiativen und Maßnahmen aufgelegt, um im Kampf gegen Analphabetismus Erfolge zu erzielen. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an diese zahl- reichen engagierten Menschen zum Ausdruck bringen. Mit der Einführung der Nationalen Dekade für Alpha- betisierung und Grundbildung leisten wir als Bund unse- ren Beitrag und übernehmen Verantwortung im Kampf gegen Analphabetismus. Die nächsten zehn Jahre lang wird die Bundesregierung ihre bisherigen Maßnahmen verstärken, erweitern und in Absprache mit den Ländern koordinieren. Zentrale Ziele der auf Nachhaltigkeit ab- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10549 (A) (C) (D)(B) zielenden Dekade sind unter anderem: erstens der Aus- bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit, zweitens die Schaffung von dauerhaften und tragfähigen Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsar- beit als Teil des Weiterbildungssystems in Deutschland, drittens die weitere Sensibilisierung des unmittelbaren Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffentlichkeit für das Thema. Wenn wir nun von der Strategie gegen Analphabetis- mus zur Dekade kommen, dann handelt es sich nicht nur um eine Umetikettierung, sondern um einen substanziel- len Beitrag des Bundes im Kampf gegen den funktiona- len Analphabetismus und einen deutlichen Schritt nach vorne. Anhand der Mittelausstattung hatte ich das vorhin schon ausgeführt. Unsere Erwartungen als Deutscher Bundestag sind aber noch weiter gehend. Denn wir un- terstützen die Bundesregierung dabei, Probleme anzuge- hen, die bisher nicht oder nur unzureichend angegangen sind. Erstens: Nach wie vor ist beispielsweise die Wirt- schaft noch sehr zurückhaltend mit einem eigenen Bei- trag zur Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Zwar gibt es Unternehmen, die sich dan- kenswerterweise intensiv für das Thema einsetzen, aber die großen Wirtschaftsverbände scheuen bisher mit Hin- weis auf die staatliche Zuständigkeit für Bildung eine aktive Teilnahme an den unterschiedlichen Maßnahmen. Ich bin der Meinung, wir sollten bei diesem Thema nicht locker lassen, denn es geht um die sinnvolle und absolut notwendige Einbeziehung des Themas Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Zweitens: Wenn wir über Alphabetisierung sprechen, sollten wir zudem unseren Blick erweitern und die Grundbildung ebenfalls benennen. Denn Lesen und Schreiben sind Schlüsselkompetenzen, aber wir wollen insgesamt Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermög- lichen. Dazu gehört neben Lesen, Schreiben und Rech- nen auch die Verfügbarkeit von Alltagskompetenzen. Die Grundbildung ist nicht von der Alphabetisierung zu trennen. Drittens: Die Maßnahmen zur Förderung von Grund- bildung in den einzelnen Bundesländern sind unter- schiedlich ausgeprägt. In Berlin gibt es beispielweise ein eigenes Grundbildungszentrum, einen Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe und zahlreiche Mo- dellprojekte wie Grundbildungskurse in Moscheen. Auch die Zahl der Kursplätze an Volkshochschulen wurde deutlich erhöht. In anderen Bundesländern ist da- gegen noch keine breit angelegte Strategie im Kampf ge- gen Analphabetismus erkennbar. Dieses Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle müssen wir aufbrechen. Jedes Land muss seinen Beitrag leisten. Viertens: Eine aktuelle Herausforderung, auf die wir auch im Themenfeld Alphabetisierung und Grundbil- dung stoßen, ist die Einbeziehung von Flüchtlingen. Für die betroffenen Flüchtlinge, die als funktionale Analpha- beten gelten, müssen zielgruppenspezifische und ad- äquate Angebote in ausreichender Weise geschaffen werden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, lesen und schreiben zu lernen. Fünftens: Aus meiner Sicht ist die Einbeziehung der Verbände in der Dekade gegenüber der Strategie deutlich zu verbessern. Wir wollen eine Alpha-Dekade, die nicht allein die Sache von Regierungen und gesellschaftlichen Großverbänden ist. Wir wollen, dass die vorhandene Expertise der verschiedenen erfahrenen Akteure der Al- phabetisierungsarbeit wie beispielsweise des Volkshoch- schul Verbandes und des Bundesverbandes Alphabetisie- rung besser abgerufen und personell wie institutionell eingebunden ist. Es wäre töricht, wenn wir bei den ambi- tionierten Zielen der Dekade auf die teilweise seit Jahr- zehnten gewonnenen Erfahrungen in der Alphabetisie- rungs- und Grundbildungsarbeit verzichten würden. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Einführung dieser Dekade einen wichtigen Schritt nach vorne gehen und ein Zeichen dafür setzen, dass wir die betroffenen Men- schen brauchen und stärker unterstützen. Marianne Schieder (SPD): Können Sie sich vorstel- len, in unserer Gesellschaft zu bestehen, am gesellschaft- lichen Leben teilhaben und Ihren Alltag bewältigen zu können, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu können? Wohl kaum! In dieser Lage aber, so belegen zuverlässige Untersu- chungen, befinden sich in Deutschland 7,5 Millionen Menschen. Die Erkenntnis ist nicht neu und die Suche nach Wegen, um die Lage zu verbessern, auch nicht. Es gibt bereits eine Vereinbarung zwischen Bund und Län- dern zu einer nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung und auch schon eine Reihe von Maß- nahmen und Aktivitäten. Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ein An- trag von SPD und CDU/CSU mit dem Titel „Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisie- rung in Deutschland umsetzen“, hat das Ziel, die Proble- matik noch intensiver und nachhaltiger anzugehen, um eine deutliche Verbesserung der Lage zu erreichen. Bevor ich aber auf den Antrag eingehe, möchte ich dem Berichterstatter der CDU/CSU Fraktion, meinem Kollegen Xaver Jung, sehr herzlich für die offene und konstruktive Zusammenarbeit danken. Wir haben mit dem nun vorliegenden Antrag eine sehr gute Basis für eine Dekade für Alphabetisierung geschaffen. 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen oder schreiben können, das sind 14 Prozent der erwerbsfähi- gen Bevölkerung. Menschen ohne Schulabschluss, in prekärer Beschäftigung und über 50 gehören zu den be- sonders gefährdeten Risikogruppen. Insgesamt sind rund 57 Prozent der funktionalen Analphabetinnen und An- alphabeten berufstätig, häufig als un- oder angelernte Arbeitskräfte. Deutsch ist bei 58 Prozent der Betroffenen die Muttersprache, und über 80 Prozent haben einen Schulabschluss. Wie die Zahlen deutlich zeigen, durch- dringt der funktionale Analphabetismus die gesamte Ge- sellschaft. 10550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Bis heute ist das Thema Analphabetismus aber leider weitgehend noch mit Angst und Scham besetzt. So ha- ben sich Betroffene Vermeidungsstrategien von „Prü- fungssituationen“ angeeignet, in denen sie lesen oder schreiben müssen. Defizite werden meist erst angegan- gen, wenn die Betroffenen Kinder haben. Die Koalitionsfraktionen der 18. Wahlperiode haben sich darauf geeinigt, die „Nationale Strategie für Alpha- betisierung und Grundbildung“ in eine „Dekade für Al- phabetisierung und Grundbildung“ zu überführen. Hierbei sollen vorhandene und etablierte Instrumente fortgeführt werden und neue dazu kommen. Außerdem wird der Bund sich mit wesentlich mehr finanziellen Mitteln einbringen. Im Haushalt 2015 stehen jetzt fast 20 Millionen Euro zur Verfügung. Damit soll der Aus- bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit vor- angetrieben werden. Wir streben die Schaffung von dauerhaften und trag- fähigen Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbil- dungsarbeit als Teil des Weiterbildungssystems in Deutschland an. Über die Gründung einer Monitoring- und Koordinie- rungsstelle soll die Zusammenarbeit verbessert und in- tensiviert werden. Wir brauchen die weitere Sensibilisierung des unmit- telbaren Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffent- lichkeit für das Thema. Ziel muss es sein, die Zahl der Betroffenen aller „Al- pha-Levels“ so stark wie möglich zu reduzieren. Um einen verstetigenden Lernprozess und eine langfristige Beratung zu garantieren, wird mit der Alphabetisie- rungsdekade ein angemessener Rahmen gesetzt. Wer am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sei- nen Alltag gut bewältigen will, braucht ein Mindestmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten, verbunden mit einem Mindestmaß an Grundbildung. Explizit zu nennen sind dabei: Rechenfähigkeit, Grundfähigkeit im IT-Bereich, Gesundheitsbildung, finanzielle Grundbildung, soziale Grundkompetenzen und kulturelle Grundbildung. Diese Kompetenzen sind von entscheidender Bedeu- tung für die Chancengleichheit und notwendig für die Teilhabe auf der gesellschaftlichen, beruflichen, politi- schen, digitalen, kulturellen und sozialen Ebene. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels begründen auch wirtschaftliche Gründe den Handlungsbedarf. Das Thema ist sehr komplex, die Angebote müssen sehr zielgruppenspezifisch und passgenau und oft auch sehr niedrigschwellig sein, um die Betroffenen wirklich zu erreichen und zur Mitarbeit zu bewegen. Entscheidend für die erfolgreiche Teilnahme an Al- phabetisierungsangeboten sind die Qualität der angebo- tenen Lernmaterialien und vor allem die Kursleiterinnen und Kursleiter selbst. Die Qualitätsentwicklung und Pro- fessionalisierung in der Alphabetisierungsarbeit muss weiter unterstützt werden. Rahmencurricula und Unter- richtsleitfäden sind zu modernisieren. Erarbeitete Kon- zepte zur Ausweitung und Verdichtung der Weiterbil- dung für Kursleitungen leisten hierfür unter anderem einen wichtigen Beitrag. Es ist grundsätzlich von Bund und Ländern darauf zu achten, dass bei den jeweiligen Maßnahmen und Angeboten das Weiterbildungspersonal angemessen honoriert wird. Ich gehe davon aus, dass die Kolleginnen und Kolle- gen der Opposition unserem sehr guten, differenzierten und umfangreichen Antrag zustimmen werden. Denn wir sind uns doch alle einig: Der Kampf gegen Bildungsarmut in Deutschland ist nicht auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt. Alphabetisierung ist altersun- abhängig der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute wiederholt mit dem Thema „Analphabetismus wirksam bekämpfen und eine gute Grundbildung für alle sichern“, und das ist auch richtig so. Denn: Nach wie vor wissen wir zu wenig über die Ursachen von Analphabetismus; nach wie vor verlas- sen zu viele junge Menschen die Schule nicht nur ohne Schulabschluss, sondern auch mit unzureichenden Lese- und Schreibfähigkeiten. Nach wie vor ahnen wir nur, wann und warum Menschen im Laufe ihres Berufslebens das Lesen und Schreiben wieder verlernen. Nach wie vor kommen zu wenige in die Alphabetisierungskurse. Und Analphabetismus wird immer noch als Tabu behandelt. Die in der vergangenen Wahlperiode beschlossene „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbil- dung“ soll mit dem nun vorliegenden Antrag in eine De- kade für Alphabetisierung und Grundbildung überführt werden. Das ist folgerichtig und erfüllt so – zwar verspä- tet, aber immerhin! – auch eine Forderung der Linken. Schon in unserem Antrag „Niemanden abschreiben – Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbil- dung für alle sichern“ aus der vergangenen Wahlperiode haben wir die damalige Bundesregierung aufgefordert, ein Zehnjahresprogramm aufzulegen. Dem entsprechen Sie jetzt – dass hätte schon früher sein können und müs- sen. Offensichtlich sind Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- gen der Koalition, selber nicht wirklich von den Erfolgen der bisherigen Nationalen Strategie überzeugt. Sie schrei- ben in Ihrem Antrag ja selber von nur – ich zitiere – „punktuell bereits bewährten Strategien“. Dabei mangelt es nicht an Förderprogrammen, Aufklärungskampagnen, Aufrufen und Aufforderungen von Bund und Ländern. Auch die Arbeitsplatzorientierung ist nun Thema, nachdem wir in der Anhörung im Ausschuss damals et- was Ratlosigkeit und wenig Problembewusstsein auf der Arbeitgeberseite konstatieren mussten. Doch es muss auch darauf geachtet werden, dass die nun beabsichtig- ten Maßnahmen zum Beispiel der Bundesagentur nicht zu neuen Hinderungsgründen für eine erfolgreiche Ar- beitsaufnahme werden, weil Sie sie zur Voraussetzung machen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10551 (A) (C) (D)(B) Neben einer sensiblen bundesweiten Informationskam- pagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt“, neben einigen Förderprogrammen zur arbeitsplatzorien- tierten Alphabetisierung und Grundbildung und den damit verbundenen Beratungs- und Schulungsangeboten, neben Onlinelernportalen und ersten entwickelten Curricula und Unterrichtsleitfäden beschreiben die nackten Zahlen noch immer die Misere: 300 000 Menschen in Deutsch- land können nicht einmal ihren Namen schreiben, circa 2,3 Millionen erwachsene und erwerbsfähige Menschen in Deutschland sind Analphabetinnen und Analphabeten im engeren Sinne, das heißt, sie unterschreiten die „Sat- zebene“, und 7,5 Millionen Menschen können nicht rich- tig lesen und schreiben und gelten somit als funktionale Analphabetinnen und Analphabeten. Es gibt noch einen gravierenden Unterschied zu den Forderungen der Linken: Wir wollten zumindest so viele Mittel aufwenden, wie es Großbritannien gelingt. Sie da- gegen schaffen zwar fast die Mindestforderung der SPD von damals – mindestens 20 Millionen sollten es sein, 19,5 Millionen stehen dieses Jahr im Haushalt –, aber es ist sonnenklar, dass das nicht reicht. Auch hier ist Ihnen die „schwarze Null“ wieder näher als die Lese- und Schreibkompetenz der Menschen in unserem Land. Wir brauchen eine andere, nämlich nachhaltige Finan- zierung der Bildungsaufgaben auf allen Ebenen und in ganz Deutschland. Die Sicherung gleicher Bildungsteil- habemöglichkeiten für alle ist eine Aufgabe öffentlicher Daseinsvorsorge von gesamtgesellschaftlicher Dimen- sion. Sie muss deshalb in gesamtstaatliche Verantwor- tung. Ich glaube überhaupt, der größte Erfolg Ihres Antrags ist, dass das Thema nicht wieder unter den Tisch gekehrt wird und es so am „Köcheln“ bleibt. Ich frage mich aber, warum Sie den Antrag gerade jetzt stellen. Kennen Sie die Ergebnisse der nächsten Level-One Studie schon und bauen vor? Arbeitet die Bundesregierung zu langsam oder zu wenig ergebnisorientiert, und Sie müssen ihr auf die Sprünge helfen? Finden Sie in Ihren eigenen Regie- rungskreisen zu wenig Gehör? Ihre vier beschriebenen Handlungsfelder für die Alpha- betisierungsdekade – Strukturierung, zielgruppendifferen- zierte Förderung und Kurse, Umfeldsensibilisierung und niedrigschwellige Angebote sowie die Qualitätsentwick- lung und Professionalisierung – machen deutlich, dass es noch ein weiter Weg ist, wenn es uns gelingen soll, dass die Zahl der Betroffenen aller Alphalevels so stark wie möglich reduziert wird und so alle Menschen ein Min- destmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten verbunden mit einer guten Grundbildung erhalten können. Gerade das letztgenannte Handlungsfeld, die Qualitäts- entwicklung und Professionalisierung, ist das wichtigste hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Grundbildungs- und Alphabetisierungsangebote – und das in Ihrem Antrag dünnste. Ganze zehn magere Zeilen bieten Sie hierfür auf. Halbherzig wird das Thema behandelt, und vage werden Maßnahmen und Aktionen umrissen. Ist nicht manches auch Aktionismus, und das Geld wäre an- derswo besser angelegt? Überhaupt fällt mir auf, dass wieder an den unbe- streitbar vorhandenen Symptomen herumgedoktert wird und die Bekämpfung der Ursachen aus dem Blick gerät. Ein halbherziger Appell an die Länder ist da deutlich zu wenig. Sie betreiben eine nachsorgende Bildungspolitik, weil Sie sich für die Vorsorge nicht für zuständig halten. Uns Linken fehlt weiterhin ein nachhaltiges Konzept lebensbegleitenden Lernens, dass Fragen der Weiterbil- dung außerhalb der Institutionen der Weiterbildung nicht vernachlässigt. Gilt das schon für die berufliche Weiter- bildung, so gilt das noch mehr für die allgemeine Weiter- bildung. Hier aber wäre der Ort für eine wirksame Ge- genstrategie zur fehlenden oder verloren gegangenen Grundbildung. Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in den kommenden Jahren und Jahrzehnten kann aber auch nicht erreicht werden, wenn man in der öffentlichen all- gemeinen und beruflichen Schulbildung weitermacht wie bisher. Es muss gelingen, die Zahlen der Absolven- tinnen und Absolventen, die ohne Schulabschluss und ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten die Schule verlassen, drastisch zu reduzieren. Die Fraktion Die Linke fordert darum, das Augen- merk auf die Verbesserung der Schulbildung zu legen. Mehr Ursachenforschung ist nötig, auch darüber wie und warum funktionaler Analphabetismus selbst nach erfolg- reichem Schulabschluss im Lebenslauf entsteht. Es geht nicht nur um Nachsorge, sondern um bessere Vorsorge. Und es muss deutlich mehr Geld ins System, in Bund und Ländern. Die Programme müssen finanziell besser ausgestaltet werden. Die Weiterbildnerinnen und Weiter- bildner müssen besser bezahlt werden. Die Bundesagen- tur für Arbeit darf keine Weiterbildungsleistungen vergeben, deren Träger nicht Tarif zahlen. Die Kür- zungsabsichten der Arbeitsministerin gerade in diesem Bereich sind dafür aber kontraproduktiv. Wir brauchen immer noch eine neue Offenheit, mit Analphabetismus umzugehen, um ihn zu überwinden. Dafür müssen diagnostische Fähigkeiten in der Lehramtsaus- und -wei- terbildung verbessert werden. Dabei bleibt zu bedenken, dass es für Analphabetismus sehr unterschiedliche Ursa- chen, sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt und dass es notwendigerweise auch unterschiedliche Gegenstrate- gien geben muss. Die Forderung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach qualifi- zierten Alphabetisierungs- und Grundbildungspädago- gen mit Beratungs- und Förderfunktion in SEK I und be- rufsbildenden Schulen ist richtig und findet unsere Unterstützung. Und natürlich wissen wir: Grundbildung umfasst mehr. Es geht um all das, was Menschen brauchen, um sich in dieser Gesellschaft Teilhabe zu sichern. Dazu ge- hören also nicht nur die einschlägigen Kulturtechniken, sondern auch ein Grundverständnis von demokratischen Zusammenhängen und Mitwirkungsmöglichkeiten. Ich glaube, es ist Zeit für eine erneute Anhörung im Ausschuss. Insofern freue ich mich auf die Beratungen. 10552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In un- serem Land, wohlgemerkt einem der reichsten Länder dieser Welt, sind 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren nicht in der Lage, einfache Texte zu le- sen und zu verstehen. Jeder siebte Mensch im erwerbsfä- higen Alter ist hierzulande ein sogenannter funktionaler Analphabet; er oder sie kann nicht richtig lesen und schreiben – die Tür zur Teilhabe am sozialen, berufli- chen, ökonomischen und kulturellen Leben bleibt für ihn oder sie damit verschlossen. Es war deshalb richtig und wichtig, dass sich alle Fraktionen infolge der 2011 veröffentlichten Level-One- Studie darauf verständigt haben, das Thema Analphabe- tismus aus der Tabuzone zu holen und entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, um funktionalem An- alphabetismus wirksam zu begegnen und mehr Men- schen Teilhabe zu ermöglichen. Leider ist diesbezüglich – insbesondere in den öffent- lichen Debatten – der Drive etwas verloren gegangen und auch die Bundesregierung agiert nach wohlbekann- ter Art: Sie versteckt sich hinter wohlklingenden Ankün- digungen oder föderaler Nichtzuständigkeit. Dies hat nicht zuletzt die Antwort der Bundesregie- rung auf unsere Kleine Anfrage – Drucksache 18/4910 – „Analphabetismus und Grundbildung in Deutschland“ sehr deutlich gezeigt. Im Wesentlichen besteht diese Antwort aus schönen Überschriften, wohlklingenden Ankündigungen und jeder Menge PR. Das reicht nicht aus und hilft den Betroffenen in keiner Weise. Da soll zum Beispiel die „Nationale Strategie“ in eine „Dekade“ überführt werden – wie Sie es jetzt ja auch in ihrem Antrag fordern –. Details werden diesbezüglich aber ausgespart. Kernaussage ist, dass der Abstim- mungsprozess auch noch nicht abgeschlossen sei. Mit dem Geld nimmt es das BMBF leider auch nicht so genau. Die 19,5 Millionen Euro, die das BMBF für Präventionsmaßnahmen ausgibt, stimmen zwar, die zu- sätzlichen 6 Millionen Euro – ursprünglich waren ja 13,5 Millionen Euro vorgesehen – sollen im Jahr 2015 aber auch die Allianz für Aus- und Weiterbildung mitfi- nanzieren. Im Haushalt 2016 werden dann keine Mittel zu finden sein, im Wahljahr 2017 wird diese Bundesregierung dann vermutlich mit „unfassbaren“ Steigerungsraten punkten wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Angeschmiert sind dabei aber diejenigen, die in die- sem und im nächsten Jahr auf mehr Unterstützung ge- hofft hatten. Wie immer erfolgt auch der Verweis auf die föderale Zuständigkeit: „Verantwortungsbereich der Länder“, „Obliegenheit der Länder und Kommunen“ usw. Es ist wie immer: Wenn es konkret wird, macht sich die Bun- desregierung einen schlanken Fuß. So scheint die Bundesregierung auch das Projekt „al- phabund“ nach zwei Förderperioden von je vier Jahren auslaufen lassen zu wollen. Dieses Projekt hat immerhin dafür gesorgt, dass in dieser Zeit 8 000 Multiplikatorin- nen und Multiplikatoren geschult und 4 000 Lehrkräfte qualifiziert wurden. Das ist ein zentrales Instrument. Das ist gut und wichtig. Eine Weiterfinanzierung ist daher dringend notwendig. Trotz der Level-One-Studie fehlt uns noch ganz viel Wissen über die Gründe von Analphabetismus. Eine neue Studie zum Analphabetismus tut deshalb dringend not. Seit 2010, als die letzte Studie durchgeführt wurde, ist viel geschehen. Diese Bundesregierung rühmt sich, mit der Bildungsforschung einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssteigerung unseres Bildungssystems zu leisten. Auf unsere Frage, ob denn eine neue Studie zum An- alphabetismus von Erwachsenen in Auftrag gegeben werden soll, weicht das BMBF jedoch aus. Damit bricht das BMBF die Vereinbarung zur Nationalen Strategie vom 7. September 2012. Dort haben Bund und Länder explizit die Wiederholung der Level-One Studie be- schlossen – davon ist nun nicht mehr die Rede. Das ist absolut enttäuschend und so nicht akzeptabel. Wenn sich diese Bundesregierung doch so sicher ist, dass ihre Anstrengungen hinsichtlich der Alphabetisie- rung und Grundbildung erfolgreich waren und sind – und vor allem auch ausreichend sind –, dann dürfte sie sich eigentlich nicht vor einer neuen Studie fürchten. Misstraut diese Bundesregierung da etwa sich selbst? Wir Grüne sind gespannt auf den Bericht, den die Partner der Nationalen Strategie noch in diesem Monat vorlegen wollen. Sie wollten ja scheinbar, dass wir hier schon vorher Ihre dünnen Vorschläge debattieren. Dem- nächst debattieren wir dann aber den Bericht und die Schlüsse, die wir daraus ziehen. Und wir debattieren ja dann bald auch schon wieder den Haushalt. Ich hoffe, dass die Menschen, denen das Schreiben und Lesen schwerfällt, davon mehr haben werden, als Ihr Antrag bisher erwarten lässt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum (Ta- gesordnungspunkt 20) Ute Bertram (CDU/CSU): Die Schlagworte des de- mografischen Wandels sind einprägsam: weniger, älter, bunter. Die knackigen Adjektive beschreiben eine ge- sellschaftliche Veränderung, die eine Mischung aus niedrigen Geburtenraten, hoher Lebenserwartung und vermehrter Zuwanderung ist. Mit diesen Veränderungen sind teils gravierende Pro- bleme verknüpft, die besonders die Bereiche Wirtschafts-, Arbeits-, und Gesundheitspolitik betreffen: Fachkräfte- mangel, Pflegenotstand, Landflucht dominieren die Schlagzeilen, wenn vom demografischen Wandel die Rede ist. Im Koalitionsvertrag ist der demografische Wandel als tiefgreifende Herausforderung beschrieben. Die De- mografiestrategie der Bundesregierung, die 2012 vorge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10553 (A) (C) (D)(B) legt wurde, soll weiterentwickelt werden. Es sollen Ideen erarbeitet und umgesetzt werden, die das Zusam- menleben in Deutschland unter den neuen Bedingungen gestalten. Wir als Große Koalition wollen mit unserem Antrag einen kulturpolitischen Beitrag zur Demografie- diskussion leisten. In der Kulturpolitik hat der demografische Wandel bisher weniger Beachtung gefunden. Doch er ist ein wichtiger kulturpolitischer Aspekt, nicht so sehr in Städ- ten und Metropolen. Nach Berlin werden weiterhin viele – vor allem junge – Menschen strömen. Touristen und Zugezogene aus aller Welt wollen die Museen, Clubs und Theater der Hauptstadt erleben. Staatsoper und Deutsches Theater, Bode-Museum und Kulturforum werden weiterhin gut besucht sein und exzellente Insze- nierungen und Ausstellungen auf die Beine stellen kön- nen. Wie aber sieht es im ländlichen Bereich aus? Wie kann in einem Umfeld, das von Landflucht und Überal- terung geprägt ist, ein lebendiges kulturelles Leben ge- deihen? Wie können die Menschen, die in ihrer Heimat bleiben, ein anspruchsvolles Kulturleben genießen? Und wie können sich Theater, Museen und Kinos trotz schwindender Publikumszahlen gute Schauspieler und Kuratoren leisten? Bei all diesen Fragen sind wir uns als Große Koalition einig, dass alle Akteure gefordert sind, zusammenzuarbeiten. Wir fordern daher die Bundesregierung nach ihren im Rahmen stehenden Haushaltsmitteln auf, ihre Demogra- fiepolitik gemeinsam mit den Ländern und Kommunen weiterzuentwickeln, um neue Arbeitsformen und Ko- operationsmodelle zu unterstützen. Dazu gehört auch die Prüfung auf Vereinfachung des Antrags- und Vergabe- systems für Kulturförderung. Oftmals wissen die Kultur- schaffenden gar nicht, wie und wo sie Anträge für ihre Projekte stellen können. Besonders hervorheben wollen wir das bürgerschaftli- che Ehrenamt in Kultureinrichtungen. Der persönliche Bezug der Menschen zu ihren kulturellen Institutionen kann von besonderer Bindungskraft sein und spielt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine wichtige Rolle. Auch hier fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, wie die Rahmenbedingungen für bürgerschaftli- ches Engagement weiter verbessert werden können. Doch nicht nur das klassische Kulturangebot ist für die Identifikation mit der Gemeinde oder Region bedeut- sam. Geht es doch nicht nur um die schönen Künste, sondern auch um sehr praktische und existenzielle Fra- gen, wenn wir hier über die kulturpolitische Dimension des demografischen Wandels sprechen. Besonders Un- ternehmen profitieren von einem lebendigen kulturellen Umfeld, das für Arbeitnehmer attraktiv ist. Daher ist nicht nur die Kulturpolitik für ein attraktives Kulturan- gebot in der Pflicht, sondern auch Unternehmer sollten noch stärker auf die Bedeutung von Kulturförderung aufmerksam gemacht werden. Denn Kulturpolitik ist mittlerweile auch Standortpolitik geworden. Unternehmertum und Industrie waren schon in der Vergangenheit wichtige Triebfedern für kulturelles Le- ben. Im Januar habe ich hier im Plenum zum Bauhaus- Jubiläum gesprochen und auch das Fagus-Werk in mei- ner Heimatstadt Alfeld erwähnt. Seit 2011 gehört die markante Fabrikhalle von Walter Gropius zum Weltkul- turerbe. Der Schuhleistenfabrikant Carl Benscheidt war damals Pionier, als er dem jungen Bauhaus-Architekten 1911 den Auftrag für ein Gebäude erteilte, das noch heute eine unglaubliche Modernität ausstrahlt und An- ziehungspunkt für viele Tausende Besucher im Jahr ist. Natürlich hat nicht jeder Ort ein Kulturangebot von Weltbedeutung. Aber Veränderung erfordert Kreativität! Uns Kulturpolitikern ist wichtig, dass weiter gedacht wird als nur an den Erhalt von Theatern, Orchestern und Museen – die auch wichtig sind! Kulturelle Identifika- tion zum Beispiel kann auch über die Geschichte des Heimat- bzw. Wohnortes erfolgen, der industriell ge- prägt ist, wie zum Beispiel die vogtländische Textil- industrie im sächsischen Plauen und Reichenbach oder der Steinkohleabbau in Nordrhein-Westfalen zeigen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Antrag ein positives Signal senden, dass die Kultur im ländli- chen Raum Zukunft hat. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir alle wis- sen, wie schwer es sein kann, für einen Verein einen neuen ehrenamtlichen Vorsitzenden zu finden. Wir alle wissen, wie viel Mühe sich Vereine und Initiativen in- zwischen geben, um Nachwuchs an sich zu binden. Und wir alle wissen, wie viel Arbeit hinter der Organisation einer Ausstellung, eines Konzerts oder eines Diskussi- onsabends steckt und wie gering gelegentlich die Reso- nanz ist. All das sind Ausflüsse eines veränderten Arbeits- und Freizeitverhaltens, es sind auch die Konsequenzen ver- änderter Familienstrukturen – aber es sind eben auch ganz stark die Folgen des demografischen Wandels. Es sind eben nicht nur Fachkräfteengpässe in einigen Branchen und die Stabilität unserer Sozialversicherungs- systeme, die uns umtreiben müssen. Es geht auch um Veränderungen – und ich sage ganz bewusst: nicht um Verschlechterungen – im kulturellen Bereich. Fest steht: Bevor die Bevölkerung der Großstädte alt wird, wird sie in den kleinen Städten und Dörfern alt – und weniger. Hier wird man den demografischen Wandel zuerst und am deutlichsten spüren – vielerorts ist er schon jetzt deutlich zu sehen und zu spüren: Die Jugend- abteilungen in den Sport- und Musikvereinen werden immer kleiner, die Konkurrenz um den Nachwuchs zwi- schen den Vereinen nimmt zu. Es fehlen die Jungen. Diese Veränderungen mögen auch in der Kulturpoli- tik auf den ersten Blick wie Probleme aussehen. Doch Veränderungen können politisch so begleitet werden, dass sie gar nicht erst zu Problemen werden. Wir haben in unserem Antrag Projekte aufgezeigt, die heute bereits dazu beitragen: der von Staatsministerin Grütters ins Leben gerufene Preis für inhabergeführte 10554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Buchhandlungen etwa oder die Unterstützung kleiner Kinos bei der Digitalisierung. Auch das Programm „Invest Ost“, das die Kultureinrichtungen in den vom demografischen Wandel besonders früh betroffenen ost- deutschen Bundesländern stärkt, ist hier hervorzuheben. Das alles sind tolle Projekte, die an der richtigen Stelle ansetzen. Der wohl wichtigste Schritt ist aber eine weitere Stärkung des ehrenamtlichen Engagements. Die ehren- amtlichen Kulturakteure sind das Fundament der Brei- tenkultur. Und im ländlichen Raum ist das Engagement im Kulturbereich besonders groß. In Blasmusikvereinen, Theater- und Schauspielgruppen, in Heimatvereinen, Chören und Orchestern engagieren sich in Deutschland viele Millionen Menschen. Diese Breitenkultur ist es, die Identität schafft, die Heimat fühlbar macht. Ohne die Breitenkultur gäbe es im Übrigen auch keine Hochkultur. Wir müssen also die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass bürgerschaftliches Engagement „einfa- cher“ wird. Dass Bürokratie und Verpflichtungen weni- ger werden. Man sollte nicht Verwaltungswissenschaften studiert haben müssen, um Fördergelder für sein Kultur- projekt beantragen zu können. Durch eine neue Einfach- heit könnten noch mehr Menschen für ein ehrenamtli- ches Kulturschaffen gewonnen werden. Denn: Der demografische Wandel führt zwar dazu, dass es weniger „jungen“ Nachwuchs gibt. Er führt aber auch dazu, dass es mehr Rentner und Pensionäre geben wird – potenziel- len „alten“ Nachwuchs also. Diese Gruppe bringt etwas mit, was die Jungen so nicht haben – Erfahrung und vor allem Zeit! Für ehrenamtliches Engagement ist das einer der wichtigsten Faktoren. Der demografische Wandel verschafft uns also auch Chancen. Wir müssen sie nur ergreifen. Unser Antrag geht hier in die richtige Rich- tung. Der demografische Wandel betrifft aber nicht nur die Kulturakteure. Auch das Kulturangebot wird die spezifi- schen Bedürfnisse der älteren Generation stärker berück- sichtigen müssen – das ist keine Frage. Doch bei aller Dominanz der Älteren muss auch ein Kulturangebot für Kinder und Jugendliche bestehen bleiben, muss die Kul- turarbeit mit ihnen auf einem hohen Niveau erhalten und ihre kulturelle Bildung gefördert werden. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen mit Schulen und Kindergärten ist einer der Wege. Sie sehen also, wie vielschichtig die Veränderungen durch den demografischen Wandel für die Kulturpolitik im ländlichen Raum sind. Mit dem vorliegenden Antrag möchten wir sie zum Thema eines großen politischen Diskurses machen. Denn damit aus den Veränderungen Chancen werden und keine Probleme, müssen sehr viele Akteure mit anpacken. Ressortübergreifend müssen Städte und Gemeinden, Länder und Bund zusammenar- beiten. Wir müssen die Vielfalt unserer Kultur gerade im ländlichen Raum bewahren. Sie bildet den Kern unserer Identität. Sie gibt uns Orientierung und Heimat. Burkhard Blienert (SPD): „Älter, bunter, weniger“ – diese griffige Formel versucht die unterschiedlichen Dimensionen des demografischen Wandels auf den Punkt zu bringen. Aber damit beschreiben wir nur holzschnittartig einen komplexen Prozess. Es geht nicht nur darum, dass der Anteil der über 60-Jährigen in unserer Gesellschaft weiter rapide zu- nimmt. Es geht auch nicht nur um eine schrumpfende Bevölkerung, weil die Menschen aus bestimmten Regio- nen abwandern oder weil die Geburtenraten die Sterbe- zahlen seit langem nicht mehr ausgleichen. Es geht auch darum, dass wir mehr denn je ein Einwanderungsland sind. Die weiter zunehmenden Flüchtlingsströme wer- den diese Tendenz noch verstärken, und unsere Gesell- schaft wird sich nachhaltig verändern. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass sich der Wandel ganz unterschiedlich darstellt. Während die Bal- lungszentren Bevölkerungszuwächse verzeichnen und der Anteil des migrationsbedingten Wandels besonders groß ist, konzentrieren sich die Schrumpfungs- und Überalterungsprozesse eher auf die ländlichen Regio- nen. Aber auch hier muss man genau hinschauen. Denn auch im ländlichen Raum ist die Entwicklung nicht ein- heitlich. Festzuhalten bleibt, dass der demografische Wandel die öffentliche Daseinsfürsorge gerade in den ländlich strukturierten Gebieten vor enorme Herausforderungen stellt. Der Blick auf die Einnahmeseite der entsprechen- den kommunalen Haushalte macht das unübersehbar. Und in der Folge wird es immer schwieriger, Infrastruk- turen aufrechtzuerhalten. Wenn es sich dann noch – wie bei der Kultur – um eine freiwillige Leistung handelt, sieht es ganz schlecht aus. Überall, wo öffentliche Infrastrukturen bereitgestellt werden, muss die Politik auf die veränderten Bedingun- gen reagieren und Anpassungen vornehmen. Das gilt für die Bereiche Mobilität, Kommunikation, Bildung oder Gesundheitsversorgung genauso wie für das kulturelle Leben. Im September veranstaltet die Bundesregierung be- reits den dritten Demografiegipfel, auf dem sich Bund, Länder, Kommunen, Verbände, Sozialpartner, die Wis- senschaft und Vertreter der Zivilgesellschaft auf geeig- nete Strategien verständigen wollen, mit denen dem de- mografischen Wandel zu begegnen ist. Zudem haben Bund und Länder zahlreiche Förderprogramme für den ländlichen Raum aufgelegt. Uns kommt es darauf an, dass der Kulturbereich bei diesen Bemühungen ange- messen Berücksichtigung findet. Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Kultur ländlicher Regionen erschöpfen sich nicht in der Frage der künftigen Finanzierbarkeit von Angebo- ten. Wir haben es auch mit einem veränderten Publikum zu tun. Kulturelle Interessen und die Fähigkeit zur Mobi- lität wandeln sich genauso wie die zur Verfügung ste- hende Kaufkraft. Auch die Möglichkeit und Bereit- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10555 (A) (C) (D)(B) schaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, stellt sich anders dar. Auf all diese Aspekte muss die Politik reagieren und dabei ein Mehrfaches leisten: Sie muss ein kulturelles Angebot auf dem Land sicherstellen, und zugleich muss sie die Chancen ergreifen, die mit dem Bevölkerungs- wandel verbunden sind. Zusätzlich gilt es, den Mehrwert der kulturellen An- gebote zu erkennen und nutzbar zu machen. Denn ein lebendiges kulturelles Leben schafft nicht nur Lebens- qualität und Heimatbindung. Es ist zugleich ein Stand- ortfaktor, der Unternehmen in der Region hält und Neuansiedlungen bringt. Schließlich kann ein gutes kul- turelles Angebot die Grundlage für Kulturtourismus sein, der Wertschöpfung und Wirtschaftskraft in die Re- gion bringt. Für ganz entscheidend halte ich es, mit welcher Wahr- nehmung wir an die demografischen Veränderungen he- rangehen. Es macht einen großen Unterschied, ob wir den Bevölkerungswandel nur als Krise und Bedrohung erleben oder ob wir die damit verbundenen Chancen und Potenziale erkennen. Denn davon hängt es ab, ob wir uns auf ein Krisenmanagement beschränken oder ob wir den Wandel aktiv gestalten. Leere Kassen und schrumpfende Nachfrage nach kul- turellen Angeboten machen es schwierig bis unmöglich, gewachsene kulturelle Angebote auf Dauer unverändert aufrechtzuerhalten. Mehr denn je wird es darauf ankom- men, sich auf die lokalen Stärken zu konzentrieren und Lücken im Angebot durch Kooperationen zu ersetzen. Regionale Partnerschaften müssen aufgebaut und wo es sie bereits gibt müssen sie verstärkt werden. Zahlreiche Möglichkeiten zu Kooperationen bleiben – nicht nur in den Regionen – bisher allerdings unge- nutzt. So könnte ein stärker kooperativ orientierter Kul- turföderalismus das kulturfördernde Engagement des Bundes in der Fläche verstärken und beim Erhalt der Einrichtungen und Angebote helfen. Bisher gab und gibt es vereinzelte Programme, die im Zusammenwirken mit Länderförderungen bereits viel bewirkt haben, beispiels- weise die Kinodigitalisierungsförderung des Bundes. Damit ist es gelungen, unsere Kinolandschaft weitge- hend unbeschadet ins digitale Zeitalter mitzunehmen. Gerade die kleinen Kinos in den ländlich strukturierten Regionen haben profitiert, weil sie mit den Kosten der digitalen Umrüstung alleine überfordert wären. Im Er- gebnis bleibt für viele Menschen mit dem Kino der oft- mals einzige soziokulturelle Begegnungs- und Erlebnis- ort erhalten. Bei mir im Wahlkreis konnten so zwei Lichtspielhäuser gerettet werden. Besonders erfreulich: Diese Kinos werden von engagierten Fördervereinen ge- tragen. Hier hat öffentliche Förderung also zusätzlich bewirkt, das kulturelle Engagement der Bürger für ihr Kino zu unterstützen und am Leben zu halten. Ein weiteres Beispiel ist der Preis für inhabergeführte Buchhandlungen, der im Herbst erstmals vom Bund ver- geben wird. Buchläden beleben unsere Innenstädte und sind Garanten für Vielfalt auf dem Buchmarkt. Mit dem Preis wollen wir Mut machen, die eigenen Stärken wei- terzuentwickeln und innovative Geschäftsmodelle vo- ranzutreiben. Ich bin sicher, auch diese Maßnahme wird dazu beitragen, die kulturelle Infrastruktur gerade in den kleineren Orten zu stärken. Diesen Förderaktivitäten des Bundes sind durch den Kulturförderalismus enge Grenzen gesetzt. Mehr Ko- operation zwischen Bund und Ländern könnte hier ge- rade im Bereich der kulturellen Bildung noch mehr be- wirken. Auch dieses Potenzial müssen wir stärker nutzen. Ein lebendiges kulturelles Leben hängt nicht nur da- von ab, wie viel Geld gerade in der Kasse ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir auch die Chancen des Wandels erkennen. So birgt der höhere Anteil an Älteren ein großes Potenzial für mehr bürgerschaftliches Engagement auch im kulturellen Leben. Die älteren Mitbürger, die nicht mehr im Berufsleben und in der Verantwortung für die Familie stehen, haben mehr freie Zeit zur Verfügung. Der Monitoring-Bericht des BMFSJ belegt, dass die über 65-Jährigen beim bürgerschaftlichen Engagement bisher unterrepräsentiert sind. Aber – und das ist die gute Nachricht – sie engagieren sich mit stark zunehmender Tendenz. Es wäre ein sträfliches Versäumnis, wenn wir diesen Trend jetzt nicht mit den geeigneten Maßnahmen fördern und verstärken. Aber nicht nur die Älteren müssen wir für die Kultur- arbeit mobilisieren. Schon bei den Jungen müssen wir ansetzen: nicht nur über die direkte Einbindung in die Kultur- und Heimatvereine vor Ort, auch durch eine ver- stärkte kulturelle Bildung, die den besonderen Wert der Kultur für das Zusammenleben vermittelt. Und nicht zu vergessen: durch kulturelle Angebote, die sich gezielt an die Jüngeren richten. Das schafft Bindung an die Heimat und beugt Abwanderung in die Ballungszentren vor. Bei meinen Veranstaltungen zum Thema höre ich im- mer wieder, dass sich die kulturell Ehrenamtlichen al- leingelassen fühlen, wenn es darum geht, Förderanträge zu stellen oder andere bürokratische Hürden zu nehmen. Für viele ist das Anlass, ihr Engagement zurückzufahren oder es sogar ganz einzustellen. Und viele hält es davon ab, sich überhaupt einzusetzen. Damit bleibt ein großes Potenzial ungenutzt. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen nicht nach- lassen, die Bedingungen für ehrenamtliches Engagement weiter zu verbessern. Neben der Vereinfachung von An- tragsverfahren müssen wir den Engagierten vor allem Hauptamtliche an die Seite stellen, die mit Beratung, Unterstützung und Professionalisierung unterstützen können und die Mut machen, wenn die Projekte ins Sto- cken geraten. Eine weitere Chance bietet der migrationsbedingte Wandel. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen ihre ganz eigenen kulturellen Themen und Ausdrucks- formen mit. Das ist die beste Gelegenheit für interkulturellen Aus- tausch, der das eigene kulturelle Verständnis befruchten und bereichern kann. Austausch bietet Anlass, sich über 10556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) eigene Sichtweisen klar zu werden, und ist die Voraus- setzung für Verständigung und Integration. Wir müssen die Menschen, die migrationsbedingt zu uns kommen, zur Teilhabe an unserem kulturellen Leben einladen, uns auf ihre kulturelle Mitgift einlassen und sie als Bereicherung begreifen und schätzen lernen. Gerade im Wandel kann sich die besondere Kraft des Kulturellen für die Gesellschaft bewähren. Gerade in Umbruchzeiten vermag Kultur Orientierung zu geben und Identität zu stiften. Kultur kann kreative Ideen zur Bewältigung der Probleme beisteuern. Und sie bietet Raum und Gelegenheit zur Kommunikation und Aus- einandersetzung. Kulturelle Vermittlung kann die Menschen zum En- gagement mobilisieren. Und kulturelles Miteinander kann integrieren und die Gemeinschaft festigen. Alles gute Gründe, damit wir den demografischen Wandel ge- rade auch in den ländlichen Regionen mit Zuversicht an- packen. Sigrid Hupach (DIE LINKE): Ich freue mich sehr, dass wir – leider zu wenig prominenter Stunde und viel zu kurz – über das so wichtige und drängende Thema der Kultur im ländlichen Raum reden – noch dazu unter den besonderen Herausforderungen des demografischen Wandels. Immerhin, mehr als jeder zweite Mensch in Deutschland lebt in ländlichen Regionen. Es geht hier also um Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, für die wir gleichwertige Lebensverhältnisse sichern müs- sen. Eine zukunftsweisende Kulturpolitik zur Stärkung des ländlichen Raumes ist dringend notwendig – der Titel des Antrags ist also richtig gewählt und auch Ihre Situa- tionsbeschreibung trifft in vielem zu. Jedoch: Schwach ist der Antrag bei den Schlussfolgerungen. Hier zeigt sich auch die konzeptionelle Leerstelle. Die von Ihnen im „Belobigungsteil“ genannten Pro- jekte und Vorhaben sind – jedes für sich genommen – gut und wichtig. Aber: Genau an diesem Aktionismus, an dieser Projekteritis ohne Abstimmung krankt nach Ansicht der Linken die Kulturpolitik im ländlichen Raum. Hier braucht es langfristige Planungsmöglichkei- ten, Überlegungen zur Nachhaltigkeit und eine Abstim- mung der verschiedenen Ebenen. Wir fordern einen von Bund, Ländern und Kommu- nen gemeinsam betriebenen und ressortübergreifenden Aufschlag. Gerade für den ländlichen Raum sind alle Politikbereiche gefragt – und warum Sie just bei der nun wirklich ressortübergreifenden kulturellen Bildung ex- plizit auf die Grenzen zwischen den Ressorts verweisen, wird wohl Ihr Geheimnis bleiben. Kultur ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Kultur ist eine Querschnittsaufgabe. Dieser Ansatz fehlt in Ihrem An- trag völlig. Dies könnte auch im Rahmen der Demogra- fiestrategie der Bundesregierung in Angriff genommen werden. Kultur dient hier bisher nur als Mittel zur Ge- winnung internationaler Arbeitskräfte. Ihr stattdessen eine aktive Rolle bei der Gestaltung der gesellschaftli- chen Wandlungsprozesse zuzuordnen, ihr Potenzial beim Stellen neuer Fragen, beim Eröffnen neuer Perspektiven auszuloten, das wäre doch mal eine schöne Forderung für Ihren Antrag – erst recht in einem Einwanderungs- land! Damit bin ich auch bei einem weiteren Kritikpunkt: Ihrem pathologischen Blick auf die Regionen, in denen die Menschen „weniger, älter, bunter“ werden, und in denen die Kommunen den Erhalt der kulturellen Infra- struktur finanziell nicht mehr schultern können. Sie stel- len die Frage, wie wir die Strukturen so anpassen kön- nen, um mit dem wenigen Geld auszukommen. Wie können wir für mehr Geld in den Kommunen sorgen? – Das wäre doch die eigentlich spannende Fragestellung. Die kulturelle Vielfalt in Deutschland wird gerade von der Vielfalt in den Regionen gespeist – geschützt ist die kulturelle Substanz insbesondere in Ostdeutschland auch durch Artikel 35 des Einigungsvertrags. Hier braucht es eine umfassende und gesellschaftlich breit ge- tragene Diskussion darüber, was wir uns als Gesellschaft vor Ort leisten müssen – nicht: noch leisten können. Eine rein fiskalische Betrachtung wird uns teuer zu stehen kommen. Sich hier an eine Kulturentwicklungskonzeption des Bundes zu wagen, ein Berichtwesen zu etablieren, die Kulturförderung des Bundes neu aufzustellen, die ge- wandelten Rahmenbedingungen, zu denen auch der de- mografische Wandel gehört, und die realen Praktiken kultureller Arbeit in die Überlegungen einzubeziehen, die Aufhebung des Kooperationsverbots zu thematisie- ren oder auch nur über das Staatsziel Kultur nachzuden- ken, das alles wäre eine gute Zielrichtung. Bürgerschaftliches Engagement, ein Schwerpunkt Ih- res Antrags, ist wichtig. Es stiftet auch Identität – aber es darf nie die staatliche Verantwortung ersetzen. Am Donnerstag vergangener Woche war ich in Senf- tenberg zu einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stif- tung zum Thema „Provinz versus Provinzialität“. Zu er- leben war dort nicht nur das Theater Neue Bühne mit seinen generationenspezifischen und generationenüber- greifenden Angeboten, sondern auch viele kleine Initia- tiven – übrigens auch aus der Verwaltung heraus –, die in den unterschiedlichsten Bereichen das kulturelle Leben in den abgelegensten Regionen gestalten. Manchmal ist es ja auch die Not, die erfinderisch macht – das will ich gar nicht verhehlen –, oder der Raum frei von bürokratischen Hürden, der Neues entste- hen lässt. Wenn wir mit Neugier schauen, was es an Ideen und Projekten gibt, dann haben wir die im Antrag gewünschten Modellprojekte schon und auch Anregun- gen genug, wie wir wirklich konzeptionell an die He- rausforderungen des demografischen Wandels im ländli- chen Raum herangehen könnten. Das Theater am Rand im Oderbruch, am gefühlten Ende der Welt, macht erlebbar, was Kultur als Moment einer nachhaltigen Regionalentwicklung leisten kann. Die Uckermärkischen Bühnen in Schwedt bespielen ei- nen 800-Personen-Saal und haben ganz spannende Wege in der interkulturellen Ausrichtung und so auch in der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10557 (A) (C) (D)(B) Einbeziehung des polnischen Publikums eingeschlagen. Oder die obersorbische Gemeinde Nebelschütz in der Nähe von Bautzen kauft selbst Land an, um damit wie- der Gestaltungsmacht über das Gemeindeleben zu ge- winnen. Was ich mit den wenigen Beispielen aus dem Osten des Landes – denn hier hat der demografische Wandel schon längst zugeschlagen – illustrieren will, ist: Es gibt sehr innovative Ansätze, wie Kunst und Kultur den ge- sellschaftlichen Wandlungsprozess mitgestalten, andere Fragen stellen, neue Perspektiven eröffnen – und nicht nur Opfer der demografischen Entwicklung sind. Ich fürchte, dass wir auch im Kulturausschuss nicht die Gelegenheit haben werden, uns mit diesen modell- haften Ansätzen zu beschäftigen. Sie von der Koalition wollen das Thema mit diesem Antrag für sich reklamie- ren. Mit den aufgemachten Forderungen werden Sie sich aber nicht wirklich darum kümmern können – weil Sie sich nicht an die Rahmenbedingungen wagen. Das ist sehr schade. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bibliotheken, Theater, Archive und Museen sind Orte der Begegnung und tragen so elementar zur sozialen Teilhabe und Lebensqualität bei. Sie prägen die Identität einer Region und müssen deshalb als Gemeinschaftsgut erhalten und weiterentwickelt werden. Gerade Dörfer in abgelegenen Regionen spüren den demografischen Wan- del schon lange: Ihre Einwohnerzahl sinkt, der Alters- durchschnitt steigt. Insbesondere in strukturschwachen ländlichen Kommunen sind deshalb öffentliche Kunst-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie die Freie Szene in ihrer Existenz bedroht. Denn angesichts leerer Haus- haltskassen wird zuerst bei den freiwilligen Leistungen gespart, und Kultureinrichtungen, die erst einmal ge- schlossen sind, bleiben es meist auch. Notwendig ist deshalb eine nachhaltige Sicherstel- lung der kulturellen Infrastruktur, auch in der sogenann- ten Provinz. Sachsen oder Nordrhein-Westfalen haben mit ihren Kulturraum- und Kulturfördergesetzen gezeigt, wie langfristige Kulturförderung in Ländern und Kom- munen verbindlich gestaltet werden kann. Zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur im ländlichen Raum brau- chen wir aber auch gute Unterstützungsangebote von der Bundesebene. Zeitlich begrenzte Förderprogramme bei- spielsweise zur Unterstützung kleiner Kinos oder ein Preis für Spielstätten sind gut gemeinte Initiativen, stel- len aber keine nachhaltige Unterstützung kultureller An- gebote im ländlichen Raum sicher. Außerdem sollten wir die vorhandenen kreativen Potenziale im ländlichen Raum gezielter nutzen und stär- ken. Gerade sogenannte kreative Raumpionierinnen aus der Kulturwirtschaft können trotz oder gerade aufgrund von Schrumpfungsprozessen mit innovativen Ideen zum Erhalt des kulturellen Angebots beitragen. Ein gutes Beispiel ist etwa das „Kulturmobil“, das in die Dörfer fährt und jährlich neue Produktionen aus den unter- schiedlichen Sparten Theater, Musiktheater, Musik, Lite- ratur oder Film präsentiert. Bewohnerinnen und Bewoh- ner des ländlichen Raums erhalten so ein innovatives Kulturangebot, ohne in die weit entfernten Städte fahren zu müssen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Neuausrichtung von Kultureinrichtungen auf die demografischen Verän- derungen und neue Zielgruppen im ländlichen Raum. Ju- gendliche benötigen Rückzugsorte und Abwechslung im Freizeitbereich. Jugendkulturzentren und Jugendkultur- ringe müssen in ländlichen Gebieten beispielsweise durch eine Ausweitung der Soziokulturförderung ge- stärkt werden und erhalten bleiben. Die Bereitstellung von Räumlichkeiten ist ein wesentlicher Faktor zur För- derung des kreativen Potenzials junger Menschen. Hier kann das Modell der „Wächterhäuser“ in Sachsen als Vor- bild dienen: „Hauserhalt durch Nutzung“ ist für Kreative wie für Eigentümer ein Win-Win-Modell. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag sprechen Sie viele wichtige Aspekte an. Das Ziel, kultu- relle Angebote in Zeiten begrenzter finanzieller Ressour- cen im ländlichen Raum zu fördern, ist grundsätzlich richtig. Aber viele kulturpolitische Förderungen bleiben weiterhin kleinteilig und zeitlich befristet. Eine Modell- förderung hier, ein Wettbewerb da – das setzt keine nachhaltigen Anreize, neue Projekte und Kooperationen ins Leben zu rufen. Die Kulturfinanzierung vor Ort ist vielfach weiterhin prekär. Darüber kann man nicht hin- wegsehen. Auch bürgerschaftliches Engagement und Kooperationsmodelle allein können die Zukunft der Kul- tur im ländlichen Raum nicht sichern. Um die kulturelle Infrastruktur angesichts knapper Kassen auch in Zukunft im ländlichen Raum aufrechter- halten zu können, ist eine abgestimmte Gesamtstrategie unter Einbeziehung aller politischen Ebenen und Sekto- ren dringend erforderlich. Denn die Nutzung von Kultur- angeboten im ländlichen Raum kann ohne gute Mobili- tätsansätze nicht sinnvoll gewährleistet werden. Und die Forderung nach mehr kultureller Bildung muss mit den aktuellen Entwicklungen im Schulbereich im struktur- schwachen ländlichen Raum gut zusammengedacht wer- den. Neues, innovatives und vor allem ressortübergrei- fendes Denken und Handeln ist von allen Akteurinnen und Akteuren gefordert, damit auch unter veränderten Bedingungen weiterhin ein lebendiges kulturelles Leben auf dem Lande möglich ist. Showveranstaltungen wie der Demografiegipfel im Kanzleramt verpuffen aber bis- her, ohne wirkliche politische Impulse zu setzen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zung der Transparenzrichtlinie-Änderungs- richtlinie (Tagesordnungspunkt 22) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Auch wenn einige Jahre vergangen sind, erinnert man sich noch lebhaft an die Übernahmeversuche Porsche/VW und Schaeffler/Continental. Damals haben Porsche und Schaeffler nur teilweise offen am Markt agiert. Melde- 10558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) pflichtige Aktien wurden nur wenige gekauft. Die we- sentlichen Zugriffsrechte auf Aktien sicherte man sich über nicht meldepflichtige Finanzinstrumente, soge- nannte Swaps. Schaeffler hatte – ohne das der BaFin melden zu müssen – plötzlich Zugriff auf 36 Prozent der Anteile. Man hatte sich „angeschlichen“, ohne dass an- dere Marktteilnehmer das bemerken konnten. Porsche steuerte mit circa 40 Prozent Aktien und 30 Prozent Optionen offenbar über Monate den Kurs der VW-Aktie, ohne dass der Markt darüber informiert war. Schließlich kam es zu irrationalen Kursausschlägen, so- dass die VW-Aktie an einem Tag mit über 1 000 Euro die teuerste Aktie der Welt war. Für das Vertrauen gerade der Kleinanleger in einen transparenten und fairen Kapi- talmarkt war das ein maximaler Schaden. Für die Arbeitsplätze bei VW und bei Conti waren diese Aktionen zudem eine Bedrohung, weil die „An- schleicher“ auf Übernahmen spekulierten, bei denen sie die Kasse des Zielunternehmens „nutzen“ wollten. Um derartige Fälle zu verhindern, haben wir bereits im Jahr 2011 mit dem Gesetz zur Stärkung des Anleger- schutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts die Meldebestimmungen für den Kauf von Aktien und anderen Finanzinstrumenten deutlich verschärft. Damit wurde Transparenz für einen fairen Markt und für ein faires Übernahmerecht geschaffen. Zu begrüßen ist nun, dass mit der zur Umsetzung an- stehenden Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie die Meldepflichten in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU weiter angeglichen werden. Wir haben ein großes Inte- resse daran, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen für börsennotierte Unternehmen in Deutschland und den an- deren Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten. Um Verstöße gegen die Transparenzregelungen zu vermeiden, bedarf es aber auch eines effizienten Sank- tionsregimes. Bisher konnte ein Verstoß gegen die Transparenzvorschriften des Wertpapierhandelsgesetz mit einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet wer- den – eine geringe Summe, wenn man die immensen Werte bedenkt, um die es bei solchen Übernahmen geht. Bei einer Milliardenübernahme wird ein Millionenbuß- geld nicht abschrecken. Mit der Erhöhung des Bußgeld- rahmens und der regelmäßigen Veröffentlichung von Verwaltungsmaßnahmen und Sanktionen kann nun die abschreckende Wirkung der Sanktionen gesteigert wer- den. Auch der Stimmrechtsverlust ist ein effektives Mit- tel. Allerdings gilt es auch bei diesem Umsetzungsvorha- ben wieder zu berücksichtigen, dass wir Übernahmen nicht erschweren oder gar verhindern wollen. Übernah- men gehören zu einer gesunden Marktwirtschaft. Die Regelungen müssen deshalb klar, berechenbar und hand- habbar sein. Es darf keine eilfertigen „Kriminalisierun- gen“ geben. Alle Beteiligten müssen erkennen können, wie sie sich zu verhalten haben. Andererseits aber muss sichergestellt sein, dass „Anschleichen“, wie bei Schaeffler/Conti oder Porsche/VW, passé ist. – Übernah- men muss es weiter geben. Die Schritte dazu aber müs- sen transparent stattfinden. Christian Petry (SPD): Mit der Richtlinie zur Har- monisierung der Transparenzanforderungen im Bereich der Wertpapiermärkte haben wir innerhalb der Europäi- schen Union im Jahr 2004 eine Anpassung der nationa- len Vorschriften über die Pflichten von Aktienemittenten und Wertpapierhaltern festgelegt. Emittenten werden durch die Richtlinienumsetzung verpflichtet, ihre Anle- ger mehrmals im Jahr über aktuelle Geschäftszahlen zu unterrichten. Aktionäre hingegen müssen Aktienemit- tenten über bedeutende Aktienkäufe und Aktienverkäufe informieren. Aus diesen Anforderungen entstand ein re- gelmäßiger und laufender Informationsfluss, der europa- weit zu einem erhöhten Anlegerschutzniveau geführt hat. Überarbeitung der Transparenzrichtlinie: Heute behandeln wir nun in erster Lesung den Ge- setzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie in nationales Recht. Ziel der Überarbeitung der Transparenzrichtlinie ist die Aktualisierung der Informations- und Transparenz- anforderungen für Wertpapieremittenten und Aktionäre. Unter anderem sollen durch die Änderungsrichtlinie bestimmte Pflichten für Wertpapieremittenten verein- facht werden. Dies soll die Aufnahme von Kapital in Eu- ropa vereinfachen. Ich möchte nun auf einige zentrale Änderungen des Gesetzentwurfs zu sprechen kommen. Sieht man in der Ankurbelung der Investitionstätig- keit in Europa einen der Hauptgründe für die Überarbei- tung der Transparenzrichtlinie, so ist in diesem Zusam- menhang der Wegfall der bisherigen quartalsbezogenen Veröffentlichung von Geschäftszahlen einzuordnen. In den letzten Jahren wurde vermehrt kritisiert, dass das Aktualisieren und Veröffentlichen der Zahlen pro Quar- tal zu erheblichen Bürokratiekosten für kleinere Unter- nehmen führt. Als weiteres wichtiges Ziel der Änderungsrichtlinie ist die Verbesserung der bestehenden Transparenzrege- lungen zu nennen: Die Erhöhung des Bußgeldrahmens bei Verstößen gegen die Richtlinie ist hierbei ebenso zu begrüßen wie die im Gesetzentwurf der Bundesregie- rung vorgeschlagene Neuerung, Bußgelder für juristi- sche Personen und Personenvereinigungen verbindlich zu regeln. Die öffentlichkeitswirksame Auflistung von Verwal- tungsmaßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gegen die Richtlinie wird für die Akteure am Wertpapiermarkt zusätzlich eine abschreckende Wirkung haben. Um eine angemessene und zeitnahe Information der Marktakteure sicherzustellen, ist es zudem mehr als überfällig, elektronische Meldeverfahren bei der BaFin zuzulassen. Auch dies ist eine ganz wesentliche Verbes- serung zu der bislang bestehenden Rechtslage. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10559 (A) (C) (D)(B) Transparenzrichtlinie und Kapitalmarktunion als gro- ßes Ganzes sehen: Mit Blick auf die Forderungen der Änderungsrichtli- nie lässt sich sagen, dass elf Jahre nach Verabschiedung der ursprünglichen Richtlinie europaweit etwas ganz Wesentliches verinnerlicht wurde: Nur durch eine euro- paeinheitlich geregelte Informationspflicht für Anleger und Emittenten von Wertpapieren ist sichergestellt, dass sich der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleis- tungen effizient zur Kapitalallokation und folglich zu wirtschaftlichem Wachstum entwickelt. Die Markttransparenz wird durch die vorliegende Än- derungsrichtlinie erneut verbessert; zudem wird der von Kommissar Hill angekündigte europäische Binnenmarkt für Kapital dazu führen, das Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger in die europäischen Märkte zusätzlich zu stärken. Versteht man die Transparenzrichtlinie und die Kapi- talmarktunion als Teil eines großen Ganzen, so lässt sich sagen, dass die gezielte Harmonisierung der europäi- schen Kapitalmärkte zusätzliche grenzüberschreitende Finanzierungsquellen für Unternehmen schaffen kann. Die Transparenzrichtlinie und die Kapitalmarktunion können als sich ergänzende Regelungen mit ihren um- fangreichen neuen Finanzierungsmöglichkeiten Wirt- schaftswachstum und Beschäftigungszuwachs in Europa zu generieren. Die überarbeiteten Transparenzanforderungen am Wertpapiermarkt und der sie zukünftig flankierende eu- ropäische Binnenmarkt für Kapital sind damit vor allem eines: weitere Schritte hin zu einer noch engeren Verzah- nung mit unseren europäischen Nachbarn. Somit ist die Überarbeitung der Transparenzanforde- rungen an Akteure am Wertpapiermarkt nur zu begrü- ßen. Wir verbessern damit die Grundlage für einen noch stärker integrierten Binnenmarkt für Wertpapiere. Dies ist sowohl im Sinne des Anlegerschutzes als auch ganz grundlegend im Sinne der Effizienz der global vernetzten Märkte. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die EU hat vor zwei Jahren die Veröffentlichungspflichten von Unternehmen neu geregelt. Nach der Bilanzrichtlinie muss nun auch die Transparenzrichtlinie noch in nationales Gesetz um- gesetzt werden. Während die Bilanzrichtlinie Regeln für alle Unternehmen setzt, legt die Transparenzrichtlinie Veröffentlichungspflichten für börsennotierte Unterneh- men fest. Warum ist das wichtig? Unternehmen greifen relevant in unser Leben ein. Wir kaufen ihre Produkte, viele Menschen arbeiten für sie, und überhaupt kommen wir ständig mit Aktivitäten von Unternehmen in Berührung. Ein Hauptzweck börsennotierter Unternehmen ist es, Gewinne für die Anteilseigner zu erwirtschaften. Aktio- näre und Investoren haben logischerweise ein berechtig- tes Interesse an Unternehmensinformationen. Dafür die- nen die besagten Transparenzregeln, die etwa Vorgaben für Jahresabschlüsse und Quartalsberichte machen. Aber Kunden, Mitarbeiter, Geschäftspartner und andere soge- nannte Stakeholder haben ebenfalls ein berechtigtes In- teresse daran, was Unternehmen so treiben. Als Politiker haben wir die Pflicht, auch dazu Informationspflichten zu schaffen. Das klingt banal, ist aber alles andere als selbstverständlich. Von daher ist es erfreulich, dass die EU dem jahrelan- gen Drängen von NGOs nachgegeben hat und Rohstoff- firmen weiter gehende Offenlegungspflichten auferlegt hat. Die Bundesregierung hat sich lange dagegen ge- sperrt. Zukünftig müssen Unternehmen aus dem Berg- bau, der Öl- und Gasindustrie und des Holzeinschlags – Stichwort Regenwälder – länder- und projektbasiert Zahlungen an staatliche Stellen offenlegen. Dazu gehö- ren Steuern und Zahlungen für Schürfrechte und andere Lizenzen. Das soll Korruption, Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen erschweren, die in den rohstoffreichen Entwicklungsländern alltäglich sind. Schätzungen zufolge werden allein in Afrika jedes Jahr Bodenschätze im Wert von einer Viertelbillion Euro abgebaut und exportiert. Nach Annahmen der UNO ver- liert Afrika durch illegale Geldabflüsse – also etwa durch Preismanipulation bei Handelsgeschäften, Steuer- hinterziehung oder Korruption – jährlich bis zu 50 Mil- liarden Dollar. Diese Verluste zu begrenzen, ist ange- sichts der großen Armut ein Gebot der Menschlichkeit. Es wäre schön, wenn Europa dabei Vorreiter wäre und nicht erst, nachdem die USA 2012 sich entsprechende Transparenzregeln gegeben haben, nachgezogen hätte. Die EU-Richtlinie ist sehr eng definiert. Als Bundes- tag haben wir bei ihrer Umsetzung nur wenig Spielraum, etwa bei der Veröffentlichung der Daten und bei den Bußgeldern. Wir werden ein Augenmerk darauf werfen, dass die Daten möglichst gut zugänglich sein werden und die Sanktionen für Zuwiderhandlungen auch wirk- lich abschreckend wirken. Die Transparenzrichtlinie darf aber nicht das Ende der Fahnenstange sein. Ganz elementar ist es, die länder- und projektbezogene Offenlegung auch auf weitere Sek- toren auszudehnen. Damit ist es aber natürlich nicht ge- tan. Ziel muss sein, dass in Deutschland möglichst keine Waren verkauft oder eingeführt werden, die unter un- menschlichen oder umweltzerstörerischen Bedingungen in armen Ländern abgebaut, geerntet oder produziert wurden. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der vorliegende Gesetzentwurf soll die Transpa- renzrichtlinie-Änderungsrichtlinie der EU umsetzen. Dabei wird das Transparenzregime börsengehandelter Wertpapiere weiter harmonisiert. Zudem soll der Kapi- talmarkt durch vereinfachte Berichtspflichten für kleine und mittlere Emittenten attraktiver gemacht werden. Schließlich wird mit diesem Gesetz eine Transparenz- pflicht für die börsennotierte Rohstoffindustrie und Forstwirtschaft eingeführt. Diese Unternehmen müssen künftig Zahlungen an staatliche Stellen länderbezogen offenlegen. Für die nichtbörsennotierten Unternehmen aus diesen Branchen haben wir vergleichbare Offenle- 10560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) gungspflichten im Rahmen des Bilanzrichtlinien-Umset- zungsgesetzes bereits vor einigen Wochen hier im Ple- num diskutiert. Auf den Punkt der länderbezogenen Offenlegungs- pflichten für Unternehmen möchte ich mich heute kon- zentrieren. Denn das vorliegende Gesetz ist einerseits ein Grund zu großer Freude – andererseits eine verpasste Chance. Große Freude, weil damit ein wichtiger und überfälliger Schritt gegen Korruption in den rohstoffrei- chen Ländern gelungen ist. Die Zivilgesellschaft vor Ort kann so ihre Regierungen deutlich besser kontrollieren. Aber in der vorliegenden Form ist das Gesetz auch eine verpasste Chance, weil die länderbezogenen Offen- legungspflichten nicht für alle Branchen eingeführt wur- den. Denn neben der richtigen Transparenzanforderung für die Rohstoff- und Holzindustrie gibt es ein weiteres drängendes Problem: Große internationale Konzerne entziehen sich durch Steuergestaltung systematisch ihrer Steuerpflicht und verweigern damit den einzelnen Staa- ten ihren Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Nach einer Studie für das Europäische Parlament entgehen Deutschland jährlich Steuereinnahmen von circa 150 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Steuer- vermeidung – in der gesamten EU rund eine Billion Euro. Die Finanzminister der G 20 und kürzlich erst wieder der G 7 bei ihrer Sitzung in Dresden haben der Bekämp- fung von Steuergestaltung höchste Priorität gegeben. Dann müsste doch eigentlich klar sein, dass wir erhöhte Transparenzforderungen für alle Unternehmen brauchen, um zukünftig Steuergestaltung zu unterbinden. Dies kann nur durch länderbezogene Offenlegungspflichten für Steuerzahlungen erreicht werden, allgemein bekannt unter dem Namen „Country-by-Country-Reporting“. Und um da gleich einem Hauptargument gegen diesen Transparenzforderungen zu begegnen: Es geht nicht da- rum, detaillierte Steuererklärungen öffentlich zu ma- chen, die in der Interpretation schwierig sind und in wettbewerbsschädlichem Maße Details aus den Unter- nehmen offenbaren würden. Es geht darum, eine Be- richtspflicht für aggregierte Steuerzahlungen und rele- vante Wirtschaftsdaten auf nationaler Ebene einzuführen, die es der Öffentlichkeit transparent ma- chen, ob ein Unternehmen seinen Beitrag zur öffentli- chen Daseinsvorsorge leistet oder sich dieser Pflicht ent- zieht. Und es ist schlicht Humbug zu behaupten, dass dies nicht in eine vernünftige Transparenzanforderung zu packen wäre. Die Bundesregierung betreibt bei länderbezogenen Transparenzpflichten leider eine massive Blockadepoli- tik. Dabei sind Transparenzpflichten wie das Country- by-Country-Reporting eines der entscheidenden Instru- mente, um Steuergestaltung nachhaltig einzudämmen. Zu dieser Einsicht sind viele politische Akteure gekom- men, nachdem – nicht zuletzt durch Skandale wie Lux- Leaks – immer deutlicher wurde, in welch hohem Um- fang Steuergestaltung möglich war und teilweise auch gezielt von einzelnen Ländern zur Exportförderung der eigenen Industrie oder zum Anlocken von Unternehmen eingesetzt wurde. So fordert das Europäische Parlament in seinem Jah- ressteuerbericht von diesem Frühjahr parteiübergreifend die Ausweitung der länderbezogenen Offenlegungs- pflichten auf alle Branchen. Die EU-Kommission hat in ihrem letzten Maßnahmenpaket in Auftrag gegeben, dass das Country-by-Country-Reporting für alle Bran- chen noch mal geprüft wird. Unzählige Nichtregierungs- organisationen auf der ganzen Welt kämpfen seit vielen Jahren für steuerliche Transparenz. Aus dem deutschen Finanzministerium ist aber nur zu hören: Wir sind dagegen. Man würde die Unternehmen sonst in eine Verteidigungsposition bringen. Die Daten sollen maximal zwischen den Finanzbehörden ausge- tauscht werden, so wie es das aktuelle OECD-Projekt vorsieht. Die Öffentlichkeit aber soll nichts erfahren. Die Einstellung der Bundesregierung ist fatal, denn die Bürgerinnen und Bürger, NGOs und Parlamente müssen wissen, wo und in welcher Höhe multinationale Unternehmen Steuern zahlen und wie dies im Verhältnis steht zur ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivität an diesem Ort. Nur durch die Öffentlichkeit entsteht Druck zu nach- haltiger Veränderung: zum einen auf die entsprechenden Unternehmen, die sich ihrem Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens entziehen, zum anderen – und das ist entscheidend – auf die Nationalstaaten, die sich zum Beispiel darauf einigen müssen, schädliche steuerliche Sonderregime wie Patentboxen nicht mehr anzubieten. Länderbezogene Offenlegungspflichten allein können die Steuergestaltungen multinationaler Unternehmen na- türlich nicht eindämmen. Aber sie werden ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein dafür schaffen, dass in- ternationale Zusammenarbeit gegen Steuerdumping not- wendig ist und Steuergesetze verändert werden müssen. Zudem helfen die Informationen uns Parlamentariern, zu sehen, wo genau Handlungsbedarf bei den Gesetzen be- steht. Und ein ganz gewichtiges Argument noch zum Schluss: Steuergestaltung führt zu einer gewaltigen Wettbewerbsverzerrung. Nicht umsonst legen viele Staa- ten einen großen Wert auf eine Überwachung des Wett- bewerbs. Denn sie wissen, dass nur im fairen Wettbe- werb wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sich entwickelt. Wer also eine Verzerrung des Wettbewerbs zulässt, han- delt gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Und das sollte diese Bundesregierung nicht zulassen. Ich fordere die Bundesregierung zum wiederholten Mal auf: Hören Sie auf, Transparenz weiter zu blockie- ren! Machen Sie den Weg frei für länderbezogene Offen- legungspflichten für alle Branchen in der EU. Wir brau- chen dieses Instrument, um Steuergestaltung wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Transparenz ist ein wesentli- cher Faktor in einem funktionierenden Kapitalmarkt, vor allem wenn die Komplexität in den Märkten – wie in den letzten Jahren zu beobachten – angesichts einer Vielzahl neuer Handelsplätze, neuer Produkte und nicht zuletzt immer ausgefeilterer technologischer Innovationen ste- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10561 (A) (C) (D)(B) tig zunimmt. Letztlich geht es um eine Stärkung des An- legervertrauens und um die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs. Im Bereich der börsengehandelten Wertpapiere regelt die EU-Transparenzrichtlinie die wesentlichen Transpa- renzvorgaben. Erstens. EU-Transparenzrichtlinie und aktuelle Ände- rungsrichtlinie: In ihrer heutigen Form trat die EU-Transparenzrichtli- nie im Jahr 2004 in Kraft. Die nun zur Umsetzung in na- tionales Recht anstehende Änderungsrichtlinie vom 27. November 2013 baut auf der bestehenden Regelung auf und passt diese an die Marktentwicklungen der letz- ten Jahre an. Beabsichtigt ist zum einen, die Kapitalmärkte zugäng- licher zu machen, vor allem für kleinere und mittlere Un- ternehmen, indem etwa Berichtspflichten vereinfacht werden. Zum anderen soll die EU-weite Harmonisierung des Transparenzregimes auf hohem Niveau weiter vor- angetrieben werden, insbesondere mit Blick auf die Ver- hinderung des verdeckten Aufbaus wesentlicher Unter- nehmensbeteiligungen – sogenanntes „Anschleichen an Unternehmen“. Hierzu gehört auch die Einführung von verbindlichen Mindestvorgaben zur Schaffung wirksa- mer und abschreckender Sanktionen bei Verstößen ge- gen die Vorgaben der Transparenzrichtlinie. Die Bundesregierung hat am 29. April 2015 den Ent- wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzricht- linie-Änderungsrichtlinie beschlossen, der heute dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegt. Die Bun- desregierung kommt damit ihrer Verpflichtung nach, die Neuerungen bei den Vorgaben der EU-Transparenzricht- linie im deutschen Recht nachzuvollziehen. Die Richtli- nie sieht eine Umsetzung bis Ende November 2015 vor. Zweitens. Wichtigste Punkte des Gesetzes: Zu den wichtigsten Änderungen im Gesetzentwurf gehören die folgenden: Überarbeitung der Regeln zur Meldung von Stimm- rechten zur besseren Erkennung des Aufbaus von Betei- ligungen durch Einsatz von Finanzinstrumenten – „An- schleichen an Unternehmen“. In Deutschland bestehen bereits sehr wirksame Vorgaben in dieser Hinsicht, so- dass hier nur punktuelle Anpassungen erforderlich sind. Aufhebung der gesetzlichen Verpflichtung von Emit- tenten zur Erstellung unterjähriger Zwischenmitteilun- gen; dies entlastet insbesondere kleine und mittlere Un- ternehmen. Einführung von jährlichen Berichtspflichten für Emit- tenten im Rohstoffsektor über Zahlungen an staatliche Stellen, um auch in diesem Bereich größtmögliche Trans- parenz zu gewinnen. Verschärfung der Sanktionen für Verstöße gegen Transparenzvorgaben. Für juristische Personen sind Geldbußen bis zu 10 Millionen Euro oder bis zu 5 Pro- zent des Jahresumsatzes beziehungsweise des Zweifa- chen der erlangten Vorteile möglich. Verpflichtung der BaFin zur grundsätzlichen Veröf- fentlichung verhängter Sanktionen beziehungsweise anderer Maßnahmen bei Rechtsverstößen, wobei in Aus- nahmefällen ein zeitlicher Aufschub oder eine Anonymi- sierung vorgesehen ist. Drittens. Erleichterungen für Wirtschaft und Verwal- tungsvereinfachung: Die neuen Regeln werden unter dem Strich für alle Marktteilnehmer spürbare Erleichterungen bewirken, auch im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr. Nicht nur verbessern sich die Transparenz und der Zu- gang zu Informationen auf den Märkten noch weiter, es kommt zugleich auch zu einer deutlichen Verringerung des Verwaltungsaufwands, sowohl für die verpflichteten Unternehmen als auch die BaFin. Auf der Kostenseite rechnen wir etwa – ungeachtet eines gewissen einmaligen Umstellungsaufwands (circa 15 Millionen Euro) – mit einer dauerhaften Entlastung der Wirtschaft um jährlich circa 31 Millionen Euro. Hinzu kommen zahlreiche Vereinfachungen auf der Ebene der Verwaltungsverfahren, insbesondere durch die noch konsequentere Nutzung von Onlineverfahren, etwa bei der Meldung wesentlicher Unternehmensbetei- ligungen. Von einzelnen Marktteilnehmern haben wir bereits gehört, dass sich der administrative Meldeauf- wand infolge der geplanten Änderungen für sie voraus- sichtlich mindestens halbieren wird. Viertens. Einordnung in weitere EU-Kaptialmarkt- Reformen: Die eben dargestellten Änderungen infolge der Über- arbeitung der EU-Transparenzrichtlinie stellen nur den Auftakt dar zu einer ganzen Reihe von kapitalmarkt- rechtlichen Gesetzgebungsvorhaben, welche die Bun- desregierung zusammen mit ihren europäischen Partnern auf der Ebene der EU in den letzten Jahren auf den Weg gebracht hat und die in dieser Legislaturperiode zur Um- setzung in nationales Recht anstehen. Weiter zu nennen sind hier etwa die fünfte Novellie- rung der Richtlinie zur Regelung offener Wertpapier- fonds, OGAW V, die Überarbeitung der EU-Finanzmarkt- richtlinie, MiFiD 2, die neue EU-Marktmissbrauchs- Verordnung und die EU-Zentralverwahrerverordnung. Über die aktuellen Vorhaben hinaus werden am Horizont bereits die Grundlagen für eine europäische Kapital- marktunion gelegt, bei deren Erarbeitung Deutschland als einer der treibenden Akteure aktiv mitwirkt. Fünftens. Schluss: Zusammen mit den jüngsten Gesetzesänderungen im Bereich der Banken und der Versicherungen zeichnet sich eine umfassende Neuordnung des EU-Finanzmarkt- rechts ab, die den Lehren der Krisenjahre Rechnung trägt. – Die Zusage von Frau Bundeskanzlerin, keinen Finanzplatz, keinen Akteur und kein Produkt unreguliert zu lassen, wird damit auch auf europäischer Ebene Schritt für Schritt verwirklicht. Deutschland hat sich auf diesem Weg stets als verläss- licher Partner im Kreis der EU-Mitgliedstaaten erwiesen; mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der überarbeiteten EU-Transparenzrichtlinie können wir dies ein weiteres Mal unterstreichen. Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 109. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Bürokratieentlastungsgesetz TOP 4 Arbeitsmarktpolitik für Asylsuchende TOP 5 Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses 2014 ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 30, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 4 Aktuelle Stunde zu dem Thema „Ehe für alle“ TOP 6 Gesundheitsversorgung TOP 7 Exportüberschüsse TOP 8 Gesunde Ernährung TOP 9 Rüstungsexportkontrolle TOP 10 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR) TOP 11 Leistungsschutzrecht für Presseverleger TOP 12 Bundeswehreinsatz in Mali (MINUSMA) TOP 13 Abkommen mit Westafrikanischer Wirtschaftsunion TOP 14 Bundeswehreinsatz in Libanon (UNIFIL) TOP 15 Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet TOP 16 Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU TOP 17 Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe TOP 18 Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten TOP 19 Alphabetisierung in Deutschland TOP 20 Stärkung der Kultur im ländlichen Raum TOP 22 Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie Anlagen
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Kerstin Andreae


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

    Frau Staatssekretärin! Wir kritisieren gar nicht, was im
    Gesetz steht. Entlastungen und Erleichterungen bei Mel-
    depflichten, Grenzbeträgen und Schwellenwerten sind
    richtig. Eine Entlastung der Wirtschaft um 744 Millio-
    nen Euro pro Jahr, von der Sie gesprochen haben, ist
    auch richtig. Das alles kritisieren wir nicht. Aber wir kri-
    tisieren, was nicht drinsteht. Sie hätten viele Möglichkei-
    ten. Wenn Sie sagen, dass es der erste Schritt ist, dann
    hoffe ich auf die Beratungen nach der ersten Lesung.
    Wir stellen ja einen eigenen Antrag zur Debatte. Darin
    sind Vorschläge. Nehmen Sie sie mit auf. Dann kommen
    Sie einen deutlichen Schritt weiter.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Der Normenkontrollrat spricht von 200 bis 300 Mil-
    liarden Euro Belastung pro Jahr. In Relation zu 200 bis
    300 Milliarden sind 744 Millionen Euro nicht wirklich
    viel. Sie haben ja auch in den ersten anderthalb Jahren
    deutlich Bürokratie aufgebaut. Sie haben fast 2 000 neue
    Verordnungen auf den Weg gebracht. Jetzt wird Ihnen
    selber ein bisschen mulmig.

    Jetzt nenne ich Ihnen einmal ein erstes Beispiel und
    mache damit auch gleich einen ersten „One out“-Vor-
    schlag. „One in, one out“ kann ja durchaus positiv sein:
    Die Pkw-Maut für Ausländer ist das erste Beispiel.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

    Lassen Sie sie einfach, machen Sie etwas anderes, dann
    haben Sie ein „One out“ und Möglichkeiten zu einem
    neuen „One in“. Finanziell ist die Maut ja ein Desaster.
    Sie sprechen von Einnahmen in Höhe von 500 Millionen
    Euro. Unsere Studie hat errechnet, dass sie maximal
    140 Millionen Euro einbringt. Demgegenüber stehen
    laut Normenkontrollrat 164 Millionen Euro Verwaltungs-
    kosten und 32 Millionen Euro für Kontrollen. Selbst wenn
    wir Ihre 500 Millionen Euro nehmen, dann haben wir
    200 Millionen Euro Verwaltungs- und Kontrollkosten.
    Dazu sagt der Normenkontrollrat in seiner üblichen Be-
    scheidenheit und in seiner diplomatischen Form, er habe
    „gegenüber dem Ressort seine Bedenken hinsichtlich der
    Relation zwischen dem anfallenden Erfüllungsaufwand
    und den zu erwartenden Einnahmen geäußert“. Tempera-
    mentvoll geht zwar anders, aber sie sagen ganz klar: Das
    ist Unfug. Lasst diese CSU-Maut!


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


    Wir haben noch einen Vorschlag für „One out“, betref-
    fend das Mehrwertsteuersystem. Sie haben in der letzten
    Legislatur den Unfug mit den Hotelübernachtungen, der
    sogenannten Mövenpick-Steuer, gemacht: 7 Prozent für
    Übernachtungen, 19 Prozent für Frühstück – hochkom-
    pliziert. Auf gepressten Fruchtsaft wird eine Mehrwert-
    steuer in Höhe von 19 Prozent fällig, auf pürierten
    Fruchtsaft – das musste ich auch lernen – in Höhe von
    7 Prozent, für den Arbeitsesel werden 7 Prozent fällig,
    für den Hausesel 19 Prozent – eine weitere Unterschei-
    dung gibt es, ob er tot und lebendig ist –, für Currywurst
    zum Mitnehmen 7 Prozent, für Vor-Ort-Verzehr 19 Pro-
    zent. Wann endlich fangen Sie an, das Mehrwertsteuer-
    system zu reformieren? Wann endlich fangen Sie damit
    an?


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


    Dass Gesetzestexte verständlich und für alle Bürge-
    rinnen und Bürger nachvollziehbar sein sollen, ist
    manchmal ein Fernziel, aber sie sollten doch wenigstens
    logisch sein. Das sind sie hier nicht. Überhaupt ist im
    Bereich der Steuervereinfachung einiges zu tun.

    Herr Fuchs, man muss ehrlicherweise zur Steuerge-
    setzgebung auch sagen: Es ist der Versuch, auf der einen
    Seite Gerechtigkeit herzustellen und den Anliegen, die
    an uns als Gesetzgeber herangetragen werden, gerecht
    zu werden und auf der anderen Seite ein einfaches und
    verständliches Steuersystem zu schaffen. Die Steuer-
    erklärung auf dem Bierdeckel ist zu Recht überhaupt
    nicht goutiert worden, weil niemandem eingeleuchtet
    hat, was daran gerecht sein soll, drei Steuersätze auf al-
    les zu erheben und dann alles laufen zu lassen. Ein biss-
    chen mehr Anforderungen sollten wir an das Steuersys-
    tem stellen, zum Beispiel, dass es auch gerecht besteuert.
    Diesen Anspruch sollten wir haben, aber es spricht
    nichts gegen Steuervereinfachungen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Sie sagen, Sie würden jetzt etwas für die Existenz-
    gründer machen. Da wollen wir mal genauer hinschauen.
    Wir haben in Deutschland eine Gründungsmisere. Es





    Kerstin Andreae


    (A) (C)



    (D)(B)

    gibt nach wie vor große Hemmnisse, sich selbst als
    kleiner Gründer, als kleine Gründerin auf den Weg zu
    machen. Die von Sigmar Gabriel eingesetzte Experten-
    kommission hat Ihnen ja mitgegeben, dass der Abbau
    bürokratischer Hemmnisse für Gründer eine der wesent-
    lichen Innovationsbedingungen für Deutschland ist. Ich
    bin mal gespannt, was Sie dann tatsächlich machen.

    Wir haben Ihnen vorgeschlagen, Lotsen einzuführen
    und die Idee von One-Stop-Shops weiterzuentwickeln,
    dass also ein Gründer von einem Lotsen durch unser
    System geführt wird und er sich nicht selbst bei sämtli-
    chen Stellen melden muss. Überlegen Sie, wie Sie die
    Arbeitsstättenverordnung etwas smoother gestalten kön-
    nen. Überlegen Sie, ob Gründer unbedingt von Anfang
    an eine monatliche Umsatzsteuervoranmeldung vorneh-
    men müssen. Da gäbe es einiges zu tun, um einem Grün-
    der Luft und Raum zu geben, seine Ideen zu entwickeln,
    anstatt gleich mit der deutschen Bürokratiekeule zu
    kommen und ihn damit zu erschlagen.

    Sie alle haben gesagt, dass entsprechende Regelungen
    im Gesetzestext stehen. Ehrlich gesagt: Wir haben sie
    nicht gefunden. Das steht da nicht drin. Wenn wir uns
    hier darauf einigen können, dass dies die erste Lesung ist
    und sich bis zur zweiten Lesung noch etwas verändert,
    dann ist das wunderbar. Wir machen in unserem Antrag
    Vorschläge, wie man dem Gründungsgeschehen in
    Deutschland Raum geben kann. Ich hoffe sehr, dass Sie
    da den einen oder anderen Vorschlag übernehmen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Jetzt zum Zankapfel Mindestlohn. Für uns ist der
    Mindestlohn nicht zu diskutieren. Ich bin froh – wir hat-
    ten ja auch zugestimmt –, dass wir jetzt in Deutschland
    den Mindestlohn haben. Wir haben aber an einer Stelle
    immer Kritik geübt, und zwar haben wir gefragt, warum
    die Dokumentationspflicht beim Mindestlohn, die nun
    mal auch Bürokratie nach sich zieht, weil die Unterneh-
    men aufschreiben müssen, wann ein Arbeitnehmer ange-
    fangen und aufgehört hat zu arbeiten, bis zu einem Ein-
    kommen des Beschäftigten von 2 958 Euro pro Monat
    besteht. Das entspricht im Falle des Mindestlohns einer
    Arbeitszeit von 348 Stunden im Monat, ungefähr 15 pro
    Werktag. Der Vorschlag war: Setzen Sie doch die Ein-
    kommensgrenze herunter. Dann erfassen Sie immer
    noch jeden Einzelnen, der Anspruch auf Mindestlohn
    hat; aber Sie entlasten an einer Stelle, an der Bürokratie
    wirklich unnötig ist. Diese Bürokratie ist im wahrsten
    Sinne des Wortes nicht nötig.

    Ihre Bundeskanzlerin


    (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Unsere!)


    hat am 21. Januar 2015 gesagt: „Wir schauen uns das
    jetzt drei Monate an …“ – Dazu steht aber nichts in Ih-
    rem Gesetzentwurf. Ich bin gespannt, ob Sie es sich
    wirklich mal anschauen, ob Sie wirklich sagen: Ja, an
    der Stelle können wir entlasten, ohne auch nur einen
    Deut am Mindestlohn zu rütteln. – Wir werden nicht zu-
    lassen, dass Sie am Mindestlohn rütteln. Aber wenn Sie
    unnötige Bürokratie abbauen, haben Sie uns an Ihrer
    Seite.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


    Schließlich will ich, weil meine Redezeit abgelaufen
    ist, ganz kurz unsere Forderungen benennen: eine Steu-
    ergutschrift für Forschungs- und Entwicklungsausgaben
    kleiner Unternehmen einführen, Möglichkeiten für junge
    Asylsuchende schaffen, ihre Ausbildung hier mit einem
    sicheren Status durchzuführen, E-Government konse-
    quent einführen, die Grenze für die Abschreibung ge-
    ringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1 000 Euro anheben,
    Sozialausgaben so auszahlen, dass das Ganze an einem
    Tag terminiert ist, im Sinne eines One-Stop-Shops eine
    einzige Anlaufstelle für Gründerinnen einführen.

    Ja, es gäbe viel zu tun. Ich hoffe, dass wir in der De-
    batte hier ein Stück weiterkommen. Wir haben viele Vor-
    schläge für „One out“, aber wir haben auch viele Vor-
    schläge für „One in“.

    Vielen Dank.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Für die SPD-Fraktion hat jetzt Andrea Wicklein das

Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Andrea Wicklein


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


    Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

    Kollegen! Bürokratie durchdringt unser Leben. Egal ob
    wir einen Kredit oder Pflegeleistungen für unsere Eltern
    beantragen, eine Firma gründen oder einen Baum fällen
    wollen, ob wir Fördermittel oder BAföG in Anspruch
    nehmen oder eine Wohnung mieten wollen – alles hat
    mit Bürokratie zu tun.

    Fast jedes neue Gesetz, das wir beschließen, schafft
    neue Bürokratie. Es erfordert in seiner Durchführung
    Verwaltungsaufwand, Kontrollaufwand oder Beantra-
    gungsaufwand, Informations- oder Nachweispflichten.
    Egal, ob wir den Mindestlohn einführen, höhere Stan-
    dards für Lebensmittel oder Vorschriften für Arbeitsstät-
    ten oder den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
    nehmern erlassen – alles ist mit Bürokratie verbunden.

    Bürokratie ist notwendig; denn Gerechtigkeit in unse-
    rem Land erfordert klare Regeln und Vorgaben.


    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])


    Wir sollten uns deshalb, bevor wir von Bürokratieabbau
    sprechen, den hohen Stellenwert von notwendiger Büro-
    kratie bewusst machen.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr froh,
    dass wir heute die Gelegenheit haben, über die Themen
    „überflüssige Bürokratie“ und „bessere Rechtsetzung“
    im Plenum zu prominenter Zeit zu sprechen. Das ist ein
    gutes Signal; denn es zeigt, dass der Deutsche Bundestag
    die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmerinnen
    und Unternehmer ernst nimmt, wenn sie bestimmte Re-
    gelungen oder deren Vollzug als Belastung empfinden:





    Andrea Wicklein


    (A) (C)



    (D)(B)

    nämlich dann, wenn Anträge zu kompliziert oder zu lang
    und von Einzelnen kaum noch zu bewältigen sind oder
    aber Berichts- und Informationspflichten zu viel Arbeits-
    und Lebenszeit in Anspruch nehmen – oder auch, wenn
    Gesetze zu schwer verständlich sind und in ihrer Umset-
    zung einen zu hohen Verwaltungsaufwand erfordern.
    Genau darum geht es heute bei der Einbringung des Bü-
    rokratieentlastungsgesetzes.


    (Beifall bei der SPD)


    Wir freuen uns sehr, dass der Bundeswirtschafts-
    minister Sigmar Gabriel mit frischem Wind dieses
    Thema, welches schon in der letzten Großen Koalition
    eine hohe Priorität für uns hatte, nach vorne bringt. Er
    hat 21 konkrete Vorhaben vorgelegt, von denen heute
    mehrere im Gesetzentwurf stehen. Der Bürokratieabbau
    hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf neuen Schub
    bekommen, und wir sind an dieser Stelle ganz an der
    Seite unseres Wirtschaftsministers.


    (Beifall bei der SPD)


    Wir freuen uns insbesondere über das Entlastungsvolu-
    men, das erreicht werden konnte. Davon werden gerade
    der Mittelstand und Start-ups profitieren. Die Schwellen-
    werte für Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
    sowie für Meldepflichten für Existenzgründer und junge
    Unternehmen werden angehoben. Damit wird der Auf-
    wand für rund 150 000 Unternehmen reduziert. Hinzu
    kommen weitere Vereinfachungen beim Lohnsteuerab-
    zug für Ehegatten bzw. Lebenspartner und eine Anhe-
    bung der Pauschalisierungsgrenze für kurzfristig Be-
    schäftigte. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf
    werden wir unsere Wirtschaft um rund 744 Millionen
    Euro im Jahr entlasten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber hi-
    naus hat die Bundesregierung weitere Vorschläge be-
    schlossen, die nicht mit diesem Gesetz geregelt werden
    müssen; wir haben heute schon viel darüber gehört.
    Wichtig ist auch aus meiner Sicht die „One in, one out“-
    Regelung, weil sie die Bundesregierung verpflichtet,
    dann, wenn durch neue Regelungen Belastungen für die
    Wirtschaft aufgebaut werden, an anderer Stelle Belas-
    tungen abzubauen. Deshalb kann ich die Kritik der Grü-
    nen und der Linken an dieser Stelle nicht verstehen. Die
    Bürokratiebremse ist in Wahrheit ein Riesenerfolg. Das
    wissen auch Sie und sollten ihn nicht kleinreden.


    (Beifall bei der SPD)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist es an dieser
    Stelle wichtig, noch über einen anderen Punkt zu reden,
    den die SPD-Fraktion sehr gerne mit dem vorliegenden
    Gesetzentwurf geregelt hätte. Es handelt sich um die
    steuerliche Behandlung geringwertiger Wirtschaftsgüter.
    Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung
    der Schwellenwerte einen dringenden, längst überfälli-
    gen Handlungsbedarf.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Wer sich als Selbstständiger ein Diensthandy, einen
    Farblaserdrucker oder einen Bürostuhl kauft, übersteigt
    schnell den bisherigen Schwellenwert von 410 Euro
    netto. Nur bis zu dieser Höhe, die übrigens seit Jahrzehn-
    ten unverändert ist, ist es aktuell möglich, Wirtschafts-
    güter im Jahr der Anschaffung vollständig abzuschrei-
    ben. Wir schlagen deshalb eine deutliche Anhebung der
    Schwellenwerte für die sofortige Abschreibung gering-
    wertiger Wirtschaftsgüter


    (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo?)


    und gleichzeitig die Abschaffung der Poolabschreibung
    vor. Das würde zu einer steuerlichen Entlastung führen
    und gleichzeitig eine substanzielle Vereinfachung der
    Buchführung mit sich bringen und damit die Unterneh-
    men in mehrfacher Hinsicht deutlich entlasten.


    (Beifall bei der SPD)


    Leider gibt es da noch den Widerstand vom Bundes-
    finanzminister. Ich hoffe, dass er noch einlenkt.

    An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich meinem
    Kollegen Helmut Nowak von der CDU/CSU-Fraktion
    für die gute Zusammenarbeit danken. Wir sind uns einig,
    dass in diesem Punkt dringender Handlungsbedarf be-
    steht.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird in der
    Koalition beim Abbau unnötiger Bürokratie entschlos-
    sen die nächsten Schritte gehen. Wir sind dazu in regem
    Austausch mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden
    und Vertretern der Wirtschaft. Wir brauchen auch dabei
    das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Bringen
    Sie sich ein! Machen Sie Vorschläge, wie wir gemein-
    sam weiter vorankommen! Ich bin sicher, diese Anstren-
    gungen lohnen sich.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)