Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.Es gibt einige Umstellungen in der Tagesordnung,auf die ich Sie gerne aufmerksam machen möchte. Diezusätzlich aufgesetzten Punkte sind in der Zusatzpunkt-liste aufgeführt:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und SPD:BND und NSA – Notwendigkeit und Grenzender internationalen Zusammenarbeit
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Marieluise Beck , VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN50 Jahre deutsch-israelische diplomatischeBeziehungen – Einmaligkeit und Herausfor-derungDrucksache 18/4818ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Erste Beratung des von den AbgeordnetenAnnette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,Annalena Baerbock, Marieluise Beck ,weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes über die Rechtsstellung undAufgaben des Deutschen Instituts für Men-schenrechte
Drucksache 18/4798Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDzum GrünbuchSchaffung einer KapitalmarktunionKOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-sultationsverfahrens der Europäischen Kom-missionDrucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten SteffiLemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchutz der Meere weltweit verankernDrucksache 18/4814ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten RalphLenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEMeeresumweltschutz national und internatio-nal stärkenDrucksache 18/4809Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, wie üblich abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 19 a – hier geht es um dieBeratung des Antrags mit dem Titel „Für eine fairefinanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme undVersorgung von Flüchtlingen“ – soll zusammen mit demTagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden. Die Tages-ordnungspunkte 19 b und 19 c – hier geht es um Anträge
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer undzu einer geforderten Umkehr in der Asylpolitik – werdenabgesetzt.Die Tagesordnungspunkte 14 und 22 tauschen unterBeibehaltung der vereinbarten Redezeiten ihre Plätze.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkt-liste aufmerksam:Der am 24. April 2015 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Recht und Verbraucherschutz
zur Mitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er-neuerbare-Energien-GesetzesDrucksache 18/4683Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussIch frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dannhaben wir das so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung wasser- und naturschutzrechtlicherVorschriften zur Untersagung und zur Risi-kominimierung bei den Verfahren der Fra-cking-TechnologieDrucksache 18/4713Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Gesundheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus-dehnung der Bergschadenshaftung auf denBohrlochbergbau und KavernenDrucksache 18/4714Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, CarenLay, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEVerbot von Fracking in DeutschlandDrucksache 18/4810Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Gesundheitd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden,Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUrteil des Bundesverfassungsgerichts ernstnehmen – Bundesberggesetz unverzüglich re-formierenDrucksachen 18/848, 18/1124Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazuhöre ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Frau Dr. Hendricks.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Lassen Sie mich abweichend von der Tagesordnungkurz auf die erfolgreiche Trilog-Verabredung eingehen,die vorgestern Abend in Brüssel zur Reform des europäi-schen Emissionshandels getroffen worden ist. Wenn-gleich es nicht unmittelbar zu unseren Tagesordnungs-punkten gehört, so hängt es doch zusammen, nämlich inder Frage der Energienutzung und unserer zukünftigenEnergiepolitik. Ich kann es nur als großen Erfolg derBundesregierung insgesamt bezeichnen, dass es uns ge-lungen ist, die entsprechenden Regelungen so auf dieSchiene zu setzen, dass sie, beginnend mit dem Jahr2019, positiv wirken werden und wir damit den Emis-sionshandel wieder auf eine vernünftige Grundlage stel-len, sodass er seine Wirkung erzielen kann.
Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte kann manin diesem Zusammenhang sagen: Wir brauchen keineneuen fossilen Energiequellen.
Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien, meinelieben Kolleginnen und Kollegen.
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Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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– Ja, genau, Herr Krischer.
Weil wir es uns nicht so leicht machen wie Sie, werdeich Ihnen jetzt begründen, warum wir Ihnen gleichwohleinen Gesetzesvorschlag vorlegen – genau genommenist es ein Gesetzespaket, also mehrere Vorschläge –, mitdem das Fracking in Deutschland geregelt werden sollund mit dem dem Fracking in Deutschland sehr engeGrenzen gesetzt werden sollen. Das haben wir nämlichbisher nicht. Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnenund Bürger sehr ernst. Unsere erste Priorität ist selbst-verständlich der Schutz des Trinkwassers und damit derGesundheit der Bürgerinnen und Bürger.Es handelt sich hier um eine offene Debatte – daswerden wir heute in der Debatte mitbekommen –, in derauch in den verschiedenen Fraktionen durchaus unter-schiedliche Positionen deutlich werden. Ich will Ihnensagen – das ist sowieso das Recht des Deutschen Bun-destages –: Ich bin sehr offen für weiter gehende Vor-schläge, die meinen Intentionen noch mehr entsprechenund die gleichwohl Rechtssicherheit nicht vermissen las-sen. Deswegen bin ich gespannt auf die Debatte, mit derwir es zu tun haben, die heute im Deutschen Bundestageingeleitet wird und die wir dann vor der Sommerpausegemeinsam beenden werden.
Es ist selbstverständlich klar, dass das Parlament sei-nen Einfluss wahrnimmt. Das zeigt, dass wir alle ge-meinsam die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernstnehmen. Deshalb bitte ich darum, dass wir im parlamen-tarischen Verfahren eine ehrliche Debatte führen, eineDiskussion mit offenem Visier. Wie gesagt: Für weitergehende Vorschläge bin ich selbstverständlich offen.Gestatten Sie mir, zur Einbringung des Gesetzent-wurfs auf einige Punkte hinzuweisen.Wir beenden nach vielen Jahren einen Zustand, indem das Fracking auf einer unzureichenden rechtlichenGrundlage steht. Wir führen sehr strenge Regeln ein, wobislang keine klaren Regeln gegolten haben. Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen, wir ermöglichen ebennichts, was bislang verboten gewesen wäre, sondern imGegenteil: Wir verbieten vieles, was bislang nichtrechtssicher verboten werden konnte.
Die heutige Rechtslage ist so, dass jedes Unterneh-men, das einen Antrag bei der zuständigen Bergbehördeeines Landes gestellt hätte, diesen Antrag im Zweifels-fall vor den Verwaltungsgerichten positiv hätte durch-fechten können, weil wir praktisch keine Begrenzungenhaben. Das ist die Situation, von der wir ausgehen, unddas müssen wir uns bitte alle noch einmal vergegenwär-tigen.
Deshalb: Es wird in Zukunft ein weitreichendes Verbotin schützenswerten Gebieten geben, insbesondere in al-len Trinkwassergewinnungsgebieten.
– Doch. Sie haben vielleicht den Entwurf noch nichtrichtig gelesen.Es wird weiter gehende Möglichkeiten der Länder ge-ben, weitere Schutzgebiete auszuweisen, und das unkon-ventionelle Fracking wird zunächst nur für Probebohrun-gen unter strengen Voraussetzungen zugelassen. Das istder Gegenstand dieses Gesetzes. Die Bergbau- und dieWasserbehörden sind gemeinsam verantwortlich, müs-sen also diese Probebohrungen einvernehmlich geneh-migen. Wenn es denn dann später einmal zu kommer-ziellen Bohrungen käme, müssten sie gemeinsam, alsoeinvernehmlich, genehmigen.
Wir führen erstmals eine verpflichtende Umweltver-träglichkeitsprüfung ein, und zwar für das schon seit lan-gem bestehende konventionelle Fracking genauso wiefür das unkonventionelle Fracking.
– Ja. Bestreiten Sie es bitte nicht! Lesen Sie doch einfachden Gesetzentwurf!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich bingerne bereit, auf weiter gehende Monita und Petita ein-zugehen. Versuchen Sie dann aber bitte, zunächst in Ih-rer Fraktion zu klären, was Ihre Fraktion im Gesetzge-bungsverfahren einvernehmlich noch einbringen will.Wenn es da eine Verständigung gibt mit der anderen Ko-alitionsfraktion, werden Sie in mir sicherlich keine Geg-nerin finden. Aber die erste Voraussetzung ist, dass sichdie Union unter sich klar darüber wird, was sie möchte.
Wir führen eine strenge Überwachung und ein inten-sives Grund- und Oberflächenwassermonitoring ein.Verboten – lieber Kollege Mattfeldt, auch wenn Sie dasGegenteil behaupten – wird die unterirdische Verpres-sung von Lagerstättenwasser beim konventionellenFracking, was es bisher gab. Es wird verboten, auchwenn Sie bisher das Gegenteil gesagt haben.
Außerdem führen wir die Umkehr der Beweislast beiBergschäden ein. Auch das kommt den Bürgerinnen und
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Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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Bürgern, insbesondere in den Regionen, in denen es jaschon lange das konventionelle Fracking gibt, entgegen;denn das wird ja auf jeden Fall weiter stattfinden. Davongehen wir, wie ich annehme, gemeinsam aus.Des Weiteren: Wir wollen, dass an dem gesetzlichenRahmen eben nicht juristisch gerüttelt werden kann. Wirwollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Ganzsicher kann man natürlich nie sein; das wissen wir alle.Aber wir wollen möglichst Rechtssicherheit herbeifüh-ren. Wir müssen uns fragen: Soll der Staat Technologienpauschal verbieten, selbst wenn sie nicht ausreichend er-forscht sind? Es ist doch so – wir alle sind daran gebun-den –: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss imAuge behalten werden. Fracking findet zum Beispielauch – daran sind viele von Ihnen ja auch interessiert –im Bereich der Geothermie statt; denn geothermischeMethoden ohne Fracking gibt es gar nicht. Man brauchtes auch zur Erschließung von Heilquellen. Da gibt esauch wieder völlig auf der Hand liegende Interessen,dass man das in diesem Zusammenhang nicht verbietenwill. Die Technologie als solche ist also nicht einfachverbietungsfähig. Dann müssten Sie sich auch von Heil-quellenerschließung und von Geothermie verabschieden.Die Technologie als solche ist nicht verbietungsfähig.
– Das ist nicht unter meinem Niveau. Sie, liebe FrauGöring-Eckardt, müssen sich klar werden, dass Geother-mie nur mit Frack-Vorgängen überhaupt erschlossenwerden kann
und dass auch Heilquellenerschließung nur mit Frack-Vorgängen erfolgen kann. Mehr habe ich nicht gesagt.Die Technologie als solche kann unter diesem Gesichts-punkt nicht vollständig verboten werden. Wir müssen sieregeln, und genau das ist der Ansatz dieses Gesetzes.
Unser Vorschlag ist also, das in einem sehr engenRahmen, in Forschungsvorhaben, zu ermöglichen, damitwir die Grundlage für politische Entscheidungen verbes-sern können. Es geht nicht darum, Technik zu verbieten,weil Politiker oder der Staat meinten, sie seien die besse-ren Wissenschaftler.
Unsere Aufgabe ist es, feste Regeln, die einen größtmög-lichen und zugleich rechtssicheren Schutz unserer Um-welt gewährleisten, hier miteinander zu verabreden. Diesschlagen wir vor.Als Klimaministerin darf ich durchaus noch ergänzen:Ich habe große Zweifel daran, dass wir diese Technikunter energiepolitischen Gesichtspunkten brauchen.
Wir werden sicherlich in absehbarer Zeit – vielleichtwerden wir das nicht alle erleben – das Zeitalter der fos-silen Rohstoffe beenden. Ich bin auch nicht sicher, ob dieFracking-Technologie im kommerziellen Sinn tatsäch-lich eine Zukunft in Deutschland hat, ob es ein kommer-zielles Interesse daran gibt, sie überhaupt in dem unkon-ventionellen Bereich zur Anwendung zu bringen.Gleichwohl: Wir haben jetzt einen unsicheren Rechtszu-stand, und mir liegt daran, die Bürgerinnen und Bürgerzu schützen und deswegen klare Regeln einzuziehen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Zdebel für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Auch ich freue mich auf eine ergebnisoffene Debattehier über das Thema Fracking. Wir werden im Laufe derweiteren Beratungen sehen, inwieweit die Koalition tat-sächlich bereit ist, die Debatte ergebnisoffen zu führen,wie es auch Frau Ministerin Hendricks gerade einleitendeingefordert hat.Fracking ist eine Gefahr für Mensch und Natur.Fracking verunreinigt das Grund- und Trinkwasserdurch Chemikalien, aufsteigendes Methan und Lager-stättenwasser. Fracking und die Verpressung von Lager-stättenwasser können Erdbeben hervorrufen, wie jüngstin den USA wissenschaftlich nachgewiesen worden ist.Die Entsorgung des mit radioaktiven Isotopen, Quecksil-ber und Benzol belasteten Flowbacks, der gefährlichenMischung aus Lagerstättenwasser und Frack-Flüssigkei-ten, ist ungeklärt. Die Klimabilanz von gefracktem Erd-gas ist miserabel, teilweise sogar miserabler als die vonBraunkohle.Ähnlich wie bei der Atomenergie ist mit hohen Folge-kosten zu rechnen, etwa für Erdbebenschäden, verseuch-tes Grundwasser, zerstörte Ökosysteme und die Mond-landschaften durch Fracking-Bohrungen auf engstemRaum, ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Ri-siken, die von Fracking ausgehen. Das zeigen insbeson-dere die Erfahrungen in den USA, wo es tatsächlich, imGegensatz zu Deutschland, schon wissenschaftliche For-schung und Ergebnisse auf diesem Gebiet gibt.Angesichts dieser Risiken wäre es unverantwortlich,Fracking selbst unter Einsatz ungefährlicher Frack-Flüs-sigkeiten und unter verschärften Auflagen zu erlauben.
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Hubertus Zdebel
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Daher fordert die Linke ein gesetzliches Fracking-Verbotohne Ausnahmen.
Wir stehen damit nicht allein. Nicht nur die Kommu-nen, in denen zahlreiche Bürgerinitiativen Entscheidun-gen gegen Fracking herbeigeführt haben – einige Kom-munen haben dies sogar selber per Ratsbeschluss getan –,sondern auch die Länder Nordrhein-Westfalen, Schles-wig-Holstein und Bremen überzeugt der Regierungsent-wurf nicht. Auf Initiative dieser Länder hat der Umwelt-ausschuss des Bundesrates ebenfalls ein konsequentesFracking-Verbot beantragt. Das können wir nur unter-stützen.
Anders als Sie, Frau Ministerin Hendricks, ständigbehaupten, ist ein gesetzliches Fracking-Verbot sehrwohl möglich. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftli-chen Dienstes des Bundestages aus dem Jahre 2011 warbereits zu lesen – ich zitiere mit Genehmigung des Präsi-denten –:Ein Verbotsgesetz … könnte aber gerechtfertigtsein, wenn der Gesetzgeber zur Eindämmung ausseiner Sicht bestehender Risiken des Fracking einVerbot zum Schutz von Mensch und Umwelt für er-forderlich hielte.Ich denke, das ist klar genug: Es ist gesetzlich möglich,Fracking ohne Ausnahmen zu verbieten. Die Frage ist:Warum passiert es nicht?
Es sind ausgerechnet die beiden sozialdemokrati-schen Minister, Frau Umweltministerin Hendricks undHerr Wirtschaftsminister Gabriel, die jetzt dieser Fra-cking-Lobby ein Geschenk machen wollen; auch dasmuss deutlich werden.
Entgegen den Behauptungen der Minister hat die Bun-desregierung jetzt einen Entwurf für ein reines Pro-Fra-cking-Gesetz vorgelegt. Durch dieses Gesetz soll Fra-cking auf drei Vierteln der Fläche Deutschlands möglichsein, und zwar – das wird häufig gar nicht erwähnt – un-eingeschränkt für die Erdöl- und Metallgewinnung.Auch die Gasförderung im Sandgestein – es geht umdas sogenannte Tight Gas – wird ausdrücklich und injeder Tiefe erlaubt, obwohl es nie ein systematischesUmweltmonitoring der bisher durchgeführten Vorhaben– wie zum Beispiel in Niedersachsen, worauf ja immerwieder abgehoben wird – gegeben hat. Warum machenSie nicht erst einmal dort die Forschung über Jahre?Dann können wir sehen, wie es damit aussieht. Insofernentlarvt sich auch das dauernde Fordern von For-schungsmaßnahmen als das, was es ist: Es soll davon ab-lenken, dass hier ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetzdurch den Bundestag gebracht werden soll.
Außerdem, Frau Ministerin Hendricks, erfinden Siekurzerhand den Fantasiebegriff des „konventionellenFrackings“, wohlwissend, dass Technik und Risiken desFrackings unabhängig von Gesteinsformation und Tiefedie gleichen sind. Tiefer als 3 000 Meter soll ohnehinjegliches Fracking erlaubt werden. Dabei verschweigenSie, Frau Ministerin, öfter, manchmal systematisch, dasses gerade unterhalb von 3 000 Metern jede Menge Erd-gas zu fracken gibt. Oberhalb dieser willkürlich festge-legten 3 000-Meter-Grenze soll Fracking im Schieferge-stein oder in Kohlenflözen angeblich untersagt werden.Doch auch diese Behauptung der Bundesregierung zer-platzt bei genauerem Hinschauen wie eine Seifenblase;denn mit der geplanten Durchführung angeblich wissen-schaftlich begleitender Probebohrungen in diesen Berei-chen wird die kommerzielle Nutzung vorbereitet. Beidiesen „wissenschaftlichen“ Bohrungen dürfte es sich inder Regel um gewöhnliche Aufsuchungsbohrungen han-deln, den ersten Schritt zur kommerziellen Nutzung. Voneinem Fracking-Verbot kann also keine Rede sein.Die kommerzielle Schiefer- und Kohlenflözgewin-nung oberhalb von 3 000 Metern stellen Sie unter denVorbehalt einer sechsköpfigen Kommission, deren Zu-stimmung jedoch als sicher gilt. Viele von den Vertre-tern, die da benannt werden sollen, sind als industrienahbekannt. Die Umweltverbände und andere Vertreter derZivilgesellschaft, welche die Interessen der Bürgerinnenund Bürger vertreten, sind hier nicht vertreten. Ich finde,das ist ein absoluter Skandal, und sage: Diese Kommis-sion muss auf jeden Fall weg.
Wenn das so kommen sollte mit dieser Kommission,könnten ab Ende 2018 sämtliche Arten von Erdgaslager-stätten in allen Tiefen durch Fracking kommerziell er-schlossen werden.Insofern darf es nicht wundern, dass der Bundesver-band der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bun-desverband der Deutschen Industrie die von der Bundes-regierung vorgelegten Gesetz- und Verordnungsentwürfezum Fracking begrüßen,
und das aus gutem Grund: Mit dem Regelungspaket wirdfür die Konzerne erst die Rechtssicherheit hergestellt,um gegen den erklärten Willen der Bevölkerung frackenzu können; denn was Sie auch gerne nicht erwähnen, ist,dass die existierenden Ländermoratorien durch das ge-plante Recht ausgehebelt werden. Die Möglichkeit, dassein Unternehmen vor einem Verwaltungsgericht pro-blemlos eine Genehmigung für Fracking erstreitet, wirddurch Ihre Pläne erst geschaffen, Frau Hendricks. Bisherklagt ja keiner. Warum wohl? Wenn jetzt Rechtssicher-heit hergestellt wird, kann geklagt werden.Außerdem ist zu bemängeln und festzuhalten, dassdie Folgekosten wieder einmal sozialisiert werden sol-
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Hubertus Zdebel
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len; denn entgegen Ihrer Beteuerung, Frau Ministerin,gibt es bei den Änderungen des Bergschadensrechts ge-rade keine wirksame Beweislastumkehr. Es kann nachwie vor durchaus passieren, dass zum Beispiel Erdbebenentstehen. Die Erdbebenregelung, die in den ursprüngli-chen Entwürfen noch vorgesehen war, ist im Laufe desweiteren Verfahrens inzwischen wieder herausgestrichenworden.Man könnte über geostrategische Zusammenhängeund Ähnliches noch viel sagen. Dafür wird in den Aus-schussberatungen Zeit sein. Diese Fragen, auch der Nie-dergang des Frackings in den USA und Ähnliches, spie-len eine Rolle.
Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Diskussionen.Viele von Ihnen, insbesondere diejenigen, die in ihrenWahlkreisen versprochen haben, dass sie sich im Bun-destag gegen Fracking einsetzen werden, stehen schonunter genauerer Beobachtung der Bürgerinitiativen undder Parteibasis. Das gilt für die Abgeordneten der CDU/CSU genauso wie für die der SPD.
Herr Kollege.
Ich bin neugierig auf die von Ihnen angekündigten
Anträge, Herr Mattfeldt und Herr Schwabe. Bisher liegt
ja noch nichts vor.
Wir sagen zusammenfassend: Kein Fracking! Ohne
Ausnahmen! Wir stehen an der Seite der Bürgerinitiati-
ven vor Ort, die sich gegen Fracking ausgesprochen ha-
ben, für ein Fracking-Verbot ohne Ausnahmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man hier dieLinken und auch die Grünen hört
– die Zwischenrufe von Herrn Krischer waren nicht zuüberhören; Sie äußern sich ja auch im Vorfeld, außerhalbdes Hauses –, dann kann man den Eindruck gewinnen:Fracking ist ein Selbstzweck. – Deshalb ist es vielleichtganz gut, einmal eine Einordnung vorzunehmen, um wases eigentlich geht.Auch wenn wir den Umbau der Energieversorgung inDeutschland erreichen – mit Energieeffizienz, mit Ener-gieeinsparung um 50 Prozent bis 2050; der Restbedarfsoll möglichst mit erneuerbaren Energien gedeckt wer-den –, werden konventionelle Energien sowohl imStrom- als auch im Gebäudebereich, bei der Heizung,und im Verkehrsbereich weiterhin eine Rolle spielen.Wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint,brauchen wir, um die Grundlast zu decken, auch weiter-hin konventionelle Energien.Schauen wir uns die Klimabilanz an: Es ist so, dassGas im Grundsatz eine deutlich bessere CO2-Bilanz hatals andere konventionelle Energien. Wenn wir Gas inDeutschland haben, dann sind wir, glaube ich, gut bera-ten, uns zu überlegen, ob wir diese Potenziale auch inZukunft nutzen.Wie ist die Situation weltweit? Die USA wurden an-gesprochen. In der Tat hat dort eine Revolution stattge-funden, und zwar nicht in der konventionellen Gasför-derung, sondern in der nichtkonventionellen, in derunkonventionellen Schiefergasförderung. Die USA sindvom größten Energieimporteur zum Selbstversorger undjetzt zum Energieexporteur geworden. In diesem Jahrwerden die USA beginnen, Gas aus unkonventionellenLagerstätten in die Welt zu exportieren. Nach jetzigemStand ist es so, dass sie damit über Jahrzehnte, wennnicht über hundert Jahre – das zeigen neueste Untersu-chungen – energieunabhängig werden.Auch wir in Deutschland haben Potenziale. Anfangder 90er-Jahre haben wir noch ein Viertel unseres Gas-bedarfs von rund 100 Milliarden Kubikmeter aus heimi-scher Förderung gedeckt. Heute sind es nur noch 10 Pro-zent. Wenn wir uns jetzt anschauen, was wir ankonventionellen Reserven haben, dann erkennen wir: Essind gerade mal noch 150 Milliarden Kubikmeter. Anunkonventionellen Potenzialen gibt es in Deutschland1 300 Milliarden Kubikmeter. Das heißt, wir könnten13 Jahre eine Vollversorgung aus heimischen Quellen si-cherstellen oder den jetzigen Bedarf oder die jetzige Ei-genförderung für 130 Jahre gewährleisten. Deshalb sindwir, glaube ich, gut beraten, nicht von vornherein Tech-nologien und Potenziale auszuschließen, sondern uns dieganz genau anzuschauen.
Wie ist die Situation? Es wird davon gesprochen, dasswir Rechtsunsicherheit hätten. Wir haben im Momentkeine Rechtsunsicherheit. Wir haben ein Bergrecht – dasist die heutige Rechtslage –, das Fracking sowohl imkonventionellen Bereich als auch im nichtkonventionel-len Bereich ermöglicht. Das ist die Situation.
Alles andere, was behauptet wird, etwa, dass dies einFracking-Ermöglichungs-Gesetz wäre, ist falsch, ist einebewusste Falschbehauptung der Linken und der Grünen,
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Dr. Joachim Pfeiffer
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die sie in den Raum stellen, um die Leute in die Irre zuführen.
Das Gegenteil ist der Fall.Mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, verschärfenwir massiv die Anforderungen gegenüber dem, was bis-herige Rechtslage ist. Was wird entsprechend unternom-men? Im konventionellen Bereich, bei der Gewinnungvon Tight Gas, gab es übrigens seit Anfang der 60er-Jahre – das Fracking in Niedersachsen ist erwähnt wor-den; der zuständige niedersächsische Wirtschaftsminis-ter ist hier – über 300 Fälle von Fracking. Im Moment istfestzustellen, dass die Förderung in Niedersachsen zu-rückgeht, weil auch im Bereich des Tight Gas im Mo-ment keine neuen Vorhaben umgesetzt werden.
Wir schaffen jetzt Rechtssicherheit im konventionel-len Bereich, verbleiben aber nicht beim Status quo. Auchim konventionellen Bereich wird der Rechtsrahmen er-heblich ausgeweitet: Die Ausschlussgebiete werden aus-geweitet. Zukünftig werden bergrechtliche Genehmigun-gen nur im Einvernehmen mit der Wasserbehördeerfolgen; die Ministerin hat es angesprochen. Der Was-serschutz ist für uns nicht verhandelbar und hat oberstePriorität. Deshalb verschärfen wir auch im konventionel-len Bereich die geltende Rechtslage, auch was den Um-gang mit Lagerstättenwasser, Bergschadensrecht und an-derem anbelangt.Was machen wir jetzt im unkonventionellen Bereich,im Schiefergasbereich? Da wir, anders als in den USA,wo nicht nur geforscht wird, sondern das entsprechendeVerfahren großtechnisch angewendet wird – Tausende,Zehntausende von Fracking-Maßnahmen und -Projektensind dort im Gange, ohne dass dort größere Schäden ein-getreten sind – –
– Ja, ich war schon dort; es waren auch Grüne dabei. VorOrt wollen Sie es dann nicht wahrhaben. Aber wie auchimmer! – Trotzdem sagen wir: Wir wollen in der jetzigenSituation nicht, dass in Deutschland konventionell ge-frackt wird, sondern wir wollen jetzt in Deutschland er-proben und die geologischen Formationen untersuchen,um herauszufinden, ob hier Fracking unbedenklich ist.Deshalb gibt es hier den Vorschlag, in den nächsten dreiJahren entsprechende Erprobungsmaßnahmen durchzu-führen. Wir als Unionsfraktion können uns vorstellen,dass wir die Erprobungen in den weiteren Verhandlun-gen auf bestimmte geologische Schichten und auch aufeine bestimmte Zahl begrenzen – da sind wir offen, da-rüber können wir sprechen –,
damit deutlich wird: Es geht um Erforschung, es geht umWissenschaft, es geht darum, im Land der Tüftler undDenker keine Denkverbote zu erlassen, keine Technolo-gieverbote zu erlassen, sondern mit Maß und Ziel in allerRuhe zu erproben, ob Fracking auch im nichtkonventio-nellen Bereich, also im Schiefergasbereich, in Deutsch-land unbedenklich und möglich ist.
Dafür nehmen wir uns die entsprechende Zeit.Wir begleiten dies mit einer Expertenkommission.Die Expertenkommission entscheidet aber nicht, ob zu-künftig in Deutschland kommerziell Schiefergas geför-dert wird oder nicht. Vielmehr begleitet die Experten-kommission den Forschungsprozess der nächsten Jahre.
Diese Expertenkommission ist, wie die Zusammenset-zung zeigt, sicherlich nicht verdächtig, von vornhereinpro Fracking zu sein. Ganz im Gegenteil: Das Umwelt-bundesamt und andere, die darin vertreten sind, habensich schon anders eingelassen. Es sind selbstverständlichauch die Wasserbehörden und diejenigen, die sich wis-senschaftlich damit befassen, mit dabei. Es ist klar, dassauch die Bergrechtskompetenz darin vertreten sein muss.Diese Kommission gibt lediglich eine wissenschaftlicheEinschätzung ab, ob die Probebohrungen, ob das Fra-cking in bestimmten Gesteinsformationen – davon gibtes in Deutschland verschiedene, deshalb muss man anverschiedenen Stellen Probebohrungen durchführen –unbedenklich sind oder nicht.Wenn sich dann herausstellen sollte, dass sie unbe-denklich sind – wenn sie bedenklich sind, dann wird eskeine kommerziellen Vorhaben geben –, dann treten dierechtsstaatlichen Regelungen in Kraft. Dann erfolgt einnormales Genehmigungsverfahren nach Bergrecht, inZukunft im Einvernehmen mit den Wasserbehörden, wiein jedem anderen Planfeststellungsverfahren im Ener-gie-, Rohstoff- oder Verkehrsbereich auch. Das ist keinSkandal. Im Gegenteil: Das ist das Normalste der Welt.
Wir nehmen die Bedenken und die Ängste unsererBürger ernst.
Wir nehmen sie ernst, indem wir diesen Ängsten nachge-hen, indem wir versuchen, diese Bedenken zu objekti-vieren. Wenn sich herausstellt, dass Fracking unbedenk-lich ist, dann kann man mit sachlichen Argumentenüberzeugen.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Ich erwarte von allen hier im Haus, auch von denGrünen und von den Linken, dass sie sich dem Abwä-gungsprozess objektiv stellen
und es akzeptieren, wenn das Ergebnis positiv ausfällt.Es geht nicht, dass Sie von vornherein, ohne das Ergeb-nis zu kennen, ohne zu wissen, was erprobt werden sollund wo erprobt werden soll, sagen: Wir machen dasnicht. – Das machen wir von der Union nicht mit. Wirnehmen die Befürchtungen der Bürger ernst, aber wirkanalisieren sie, wir gehen ihnen objektiv nach.
Erst nachdem die Abwägungen vorgenommen wurden,kann das normale Genehmigungsverfahren durchgeführtwerden. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, beimThema Fracking so emotional und so unsachlich zu agie-ren.Wir freuen uns auf eine konstruktive Beratung in denAusschüssen und auf die weitere Diskussion. Wir wollenDeutschland, auch aus Gründen der Versorgungssicher-heit, fit machen.
Fracking und die unkonventionelle Gasförderung sindhier eine Möglichkeit, die man mit den erneuerbarenEnergien durchaus sinnvoll kombinieren kann.
Herr Kollege, das hatten Sie schon einmal vorgetra-
gen.
Ob kommerzielles Fracking zugelassen wird – die
Ministerin hat es angesprochen –, hängt neben der Prü-
fung der Unbedenklichkeit davon ab, ob es sich wirt-
schaftlich rechnet. Aber dies wissen wir noch nicht, und
deshalb wollen wir es erproben.
Vielen Dank.
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Pfeiffer, Sie haben zwar immer Grüne und Linkeangesprochen, aber ich habe den Eindruck: Das war eineRede an Ihre eigene Fraktion. Denn der Widerstand ge-gen das Fracking kommt doch aus Wahlkreisen IhrerFraktion.
Wenn ich in unserem Land unterwegs bin, dann erlebeich, dass schwarze Bürgermeister bei ihrem Widerstandgegen Fracking sogar kritischer als die Greenpeace-Ak-tivisten sind und diese links überholen.
Sie müssen in Ihre eigenen Reihen gucken. Tun Sie nichtso, als sei das ein Problem der Opposition!Fracking ist eine Risikotechnologie, die eine unsererwichtigsten natürlichen Ressourcen, unser Trinkwasser,in unverantwortlicher Weise gefährdet.
In den USA – das ist schon mehrfach angesprochen wor-den – kann sich jeder und jede ansehen, zu welchen Um-weltzerstörungen Fracking führt. Man muss kein Pro-phet sein, um festzustellen, dass die USA diesenkurzfristigen Gasboom noch teuer bezahlen werden,dass sie im wörtlichen Sinne den Giftmix ausbaden oderim schlimmsten Falle sogar austrinken müssen. Das gehtzulasten der nachfolgenden Generationen. Das wollenwir in Deutschland und in Europa nicht.
Fracking ist die neue Eskalationsstufe der fossilenEnergiegewinnung.
Auch wegen der miesen Klimabilanz ist es keine Optionfür eine nachhaltige Energieversorgung. Das ist dieRolle rückwärts ins fossile Zeitalter. Wir brauchen keineInvestitionen in Fracking, wir brauchen Investitionen inerneuerbare Energien und Energieeffizienz.
Nun könnte man denken, dass im EnergiewendelandDeutschland diese Entscheidung klar ausfällt und dassman, wie es die Umweltministerin selber sagt, keine In-vestitionen mehr in fossile Energiegewinnung braucht,die nicht zukunftsfähig ist. Aber was passiert? SigmarGabriel und Frau Hendricks legen hier einen Entwurf fürein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz vor, durch das aufmindestens zwei Drittel der Landesfläche Fracking zu-gelassen wird, durch das sogar erlaubt wird, unter Natio-nalparks und Naturschutzgebieten zu fracken. Das istkein Fracking-Verbot, Frau Hendricks, sondern das ex-akte Gegenteil.
Ich sage Ihnen: Es ist doch ein Treppenwitz, dassSigmar Gabriel und die Bundesregierung die Biogas-branche aus dem Land treiben, aber dem Giftcocktailvon Exxon Mobil die Tür öffnen, sodass er zur Gasge-winnung in den Untergrund gepresst werden kann. Dasist nicht nachhaltig. Das ist nicht zukunftsfähig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9787
Oliver Krischer
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Wenn hier immer auf das Ausland verwiesen wird,dann muss man einmal in das europäische Auslandschauen. Seit Jahren versucht Polen, Fracking zu ermög-lichen. Was ist das Ergebnis? In Polen gibt es bis heutekeine einzige kommerzielle Fracking-Bohrung. Nir-gendwo in Europa wird bisher Fracking durchgeführt.Die Mehrzahl der Staaten hat entschieden, dass daskeine Zukunftsoption ist, auch deshalb, weil die geologi-schen Verhältnisse in Europa andere sind als in denUSA. Auch die Ansichten der Bevölkerung und die na-turräumlichen Gegebenheiten sind anders. Das Vorgehenin den USA kann für uns daher kein Modell sein.
Der allergrößte Witz war ja, was wir eben von FrauHendricks gehört haben. Sie haben das tatsächlich wie-derholt. Ich hatte ja gedacht, Sie hätten sich da einmalversprochen, aber Sie haben hier jetzt wieder gesagt:Fracking ist energiepolitisch bedeutungslos.
Warum beschäftigen Sie uns dann mit diesem Unsinn?Warum machen Sie das dann?
Sagen Sie als Umweltministerin doch einfach Nein zumFracking.Ehrlich gesagt, eine Aussage – auch diese haben Siejetzt wiederholt – haut mich wirklich vom Stuhl. Sie alsUmweltministerin sagen: Wir müssen das Fracking-Er-möglichungs-Gesetz machen, weil Konzerne sonst kla-gen können. – Dass sich eine Umweltministerin inDeutschland danach richtet und die Gesetze so gemachtwerden, dass die Konzerne nicht dagegen klagen kön-nen, ist doch ein Skandal. Das ist der Vorgriff auf dieKonzernjustiz von TTIP und CETA, die Sie im vorausei-lenden Gehorsam einführen wollen.
Wenn Fracking keine Bedeutung hat und die Men-schen im Land es nicht wollen – in den Kommunen ha-ben wir überall dort, wo es ein Thema ist, einstimmigeablehnende Resolutionen über alle Parteigrenzen hinweg –,dann frage ich mich: Warum tragen Sie mit diesem Ge-setz die Konflikte in die Regionen? Warum tun Sie das?Ist Deutschland so arm an energiepolitischen Konflikten,dass wir Kapazitäten und Langeweile haben, um uns inden Regionen auch noch damit auseinanderzusetzen, obFracking zugelassen wird? Wir haben viel Wichtigereszu tun und viel größere Probleme zu lösen.
Ich sage Ihnen: Die Bundesländer – darauf ist schonhingewiesen worden – haben mit großer Mehrheit be-griffen, worum es an dieser Stelle geht. Das sieht man,wenn man die Anträge im Bundesrat betrachtet.Hannelore Kraft, Horst Seehofer, Winfried Kretschmannund Bodo Ramelow sind nun wirklich Ministerpräsiden-ten unterschiedlichsten Typs, aber in einem sind sie sichvöllig einig. Sie sagen klipp und klar: Wir wollen keinFracking. Ich sage Ihnen: Wenn diese Ministerpräsiden-ten unterschiedlichsten Typs dies so klar sagen, dann fol-gen Sie dem. Lassen Sie sich nicht auf diesen unsinnigenund blödsinnigen Konflikt ein, mit dem Sie Fracking insLand tragen. Das kann doch nicht sein.
Eines will ich Ihnen auch sagen – gleich wird ja HerrMattfeldt reden –: Wenn ich vor Ort unterwegs bin, er-lebe ich immer wieder, dass CDU-Abgeordnete diegrößten Kritiker auf den Podien sind; die überholenGreenpeace noch links auf der ökologischen Seite. Esgeht nicht an, dass man in den Wahlkreisen vor Ort sagt,dass man Fracking ablehnt, hier aber am Ende die Posi-tion von Herrn Pfeiffer – er hat hier eine Fracking-Jubel-rede gehalten – beschlossen wird. Wir werden sehr ge-nau darauf schauen, was Sie an dieser Stelle machen. Eskann nicht sein, dass Sie sich in den Wahlkreisen dage-gen aussprechen, aber hier in Berlin ein Fracking-Er-möglichungs-Gesetz machen.
Sie haben jetzt die Aufgabe, Ihren Ankündigungenhier in Berlin und vor Ort Taten folgen zu lassen und ausdiesem Fracking-Ermöglichungs-Gesetz von SigmarGabriel und Barbara Hendricks ein Fracking-Verbot zumachen. Das ist Ihr Job. Da müssen Sie liefern. WennSie diesen Weg gehen – das kann ich Ihnen sagen –,dann werden wir uns konstruktiv daran beteiligen. Dawerden wir Sie unterstützen.
Herr Kollege.
Wenn Sie das aber nur einfach so durchwinken, wie
Herr Pfeiffer es hier ankündigt, dann können Sie mit un-
serem härtesten Widerstand rechnen.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Landesminister Olaf Lies. –
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute steht ein Thema mit großer öffentlicherDiskussion auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich da-
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9788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Minister Olaf Lies
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her in fünf Punkten die Position des Landes Niedersach-sen dazu deutlich machen.Erstens. Die kritische öffentliche Debatte, die wir ha-ben, ist gut, weil sie Öffentlichkeit und Politik natürlichzwingt, genau hinzusehen, welche Technologien inDeutschland angewendet werden können, welche Risi-ken bestehen und wie man verhindert, dass Gefahren fürMensch und Umwelt, insbesondere natürlich für dasTrinkwasser, entstehen. Aber, meine Damen und Herren,es geht auch um die Verantwortung für den Technologie-und Industriestandort Deutschland, über den wir hierheute reden. Themen wie Trink- und Grundwasser-schutz, Natur- und Landschaftsschutz und Erhalt der Le-bensqualität der Bürgerinnen und Bürger stehen für unsals Landesregierung in Niedersachsen auf einer Stufemit den Interessen der Rohstoffgewinnung aus heimi-schen Lagerstätten.
Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, die rechtli-chen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und dieBürgerinnen und Bürger auch von der Beherrschbarkeitder Risiken bei der Erdöl- und Erdgasgewinnung zuüberzeugen.
Niedersachsen ist nicht nur mit Blick auf die Wind-energie das Energieland Nummer eins. 95 Prozent desErdgases aus deutscher Förderung kommen aus Nieder-sachsen, und rund ein Drittel der deutschen Erdölför-derung findet in Niedersachsen statt. Das Erdgas ausNiedersachsen deckt immerhin rund 10 Prozent des bun-desdeutschen Gesamtbedarfs. Niedersachsen ist alsoauch Erdgasland Nummer eins. Deswegen, meine Da-men und Herren: Wir haben seit drei Jahren ein freiwilli-ges Moratorium der Förderunternehmen. Das ist keineGrundlage für die Zukunft. Wir brauchen jetzt einerechtliche Absicherung im Hinblick auf die Verlässlich-keit des Schutzes von Umwelt und Natur, aber auch imHinblick auf die Verlässlichkeit für die Industrie inDeutschland.
Übrigens, meine Damen und Herren: Das hat auch et-was mit Beschäftigung zu tun. Heute haben wir gehört:Es droht die Entlassung von 200 Fachkräften in diesemBereich in Celle. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze,sondern auch um Know-how in unserem Land,
um die technologische Weiterentwicklung in Deutsch-land voranzutreiben.
Wichtig ist für uns, auch und gerade in Niedersach-sen, die Unterscheidung zwischen der Förderung auskonventionellen Lagerstätten und aus unkonventionellenLagerstätten. „Konventionelle Lagerstätte“ heißt jahr-zehntelange Erfahrung in Niedersachsen. „Unkonventio-nelle Lagerstätte“ heißt, es gibt keine Erfahrungen, dieeine Grundlage sind, um an diesem Thema in Nieder-sachsen weiterzuarbeiten. Es ist wichtig, auch an eineranderen Stelle zu unterscheiden: Für das eine – davonsind wir überzeugt – können wir eine Akzeptanz schaf-fen, weil man es kennt und weil es in der Frage der kon-ventionellen Erdgasförderung Verlässlichkeit gibt, wäh-rend es bei dem anderen große Vorbehalte gibt. DieTrennung der beiden Themen sorgt dafür, dass wir inNiedersachsen eine gute Grundlage haben, die Förde-rung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten fort-zusetzen.
Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich: Warum wirdErdgasförderung in Deutschland gebraucht? Die Ener-giewende ist das Ziel in Deutschland, die Energiewendeist das Ziel in Niedersachsen. Aber ohne fossile Energie-träger wird uns dieser Übergang nicht gelingen.
Daher ist auch Erdgas eine ganz wichtige Brücke zur Er-reichung der Ziele, die wir uns für 2050 vorgenommenhaben.
Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich aber un-weigerlich die Frage: Wie können wir die Erdgasversor-gung in Deutschland langfristig sicherstellen? Geopoliti-sche Stresstests, die Ukraine- und die Russland-Krisezeigen uns die aktuelle Situation. Die Erdgasimporte ausden Förderländern Norwegen und Niederlande gehen zu-rück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Im-port von Gas befreit uns nicht von der Debatte, auf wel-chen Grundlagen, auch hinsichtlich des Schutzes vonNatur und Mensch, dort Erdgas gefördert wird. Auch dastehen wir in der Verantwortung. Wir können dies nichteinfach abspeisen und sagen: Wir importieren nur dasnotwendige Erdgas.
Diese Umweltstandards können wir hier in Deutsch-land erarbeiten. Wir können Vorreiter im Bereich derUmweltstandards bei der Förderung von Erdgas sein.Diese können wir dann auf andere Länder übertragen.Damit schaffen wir es, die Erdgasförderung insgesamtsicherer zu machen und einen anderen Standard zuschaffen.Ein Weiter-so – das ist Punkt drei – kann es nicht ge-ben. Die Kernforderungen unserer Landesregierung sinddeutlich. Wir haben an verschiedenen Stellen über Bun-desratsinitiativen, aber, wie ich glaube, auch mit viel Zu-arbeit berg-, wasser- und naturschutzrechtliche Bestim-mungen auf den Weg gebracht. Es steckt also ganz vielErfahrung aus Niedersachsen – 95 Prozent der Erdgas-förderung finden in Niedersachsen statt – in den aus mei-ner Sicht ausgewogenen Gesetzentwürfen.Ein paar wichtige Eckpunkte: Technisch und wirt-schaftlich gewinnbare Erdgaspotenziale liegen in Nie-dersachsen in tief liegenden geologischen Sandsteinla-
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Minister Olaf Lies
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gerschichten. Genau darum geht es: Dort ist der Einsatzder Frack-Technologie in den letzten 30 Jahren 300-maldurchgeführt und auch ausgewertet worden. Es liegt alsoErfahrung vor. Die Aussage, es gebe keine Erfahrungund es komme zu einer Verunreinigung des Trinkwas-sers, stimmt an dieser Stelle nicht. Insofern müssen wirzumindest eine offene und ehrliche Debatte darüber füh-ren.
Deswegen, meine Damen und Herren, muss Erdgas-förderung aus diesen konventionellen Lagerstätten wei-ter möglich sein, aber – anders als bisher – unter der Be-rücksichtigung sehr viel strengerer Umweltauflagen undunter Durchführung maximaler transparenter Genehmi-gungsverfahren, also von Planfeststellungsverfahren mitUmweltverträglichkeitsprüfung, wie wir es auch von an-deren Verfahren kennen. Das ist auch hier dringend not-wendig.Klar ist dabei auch: Zurückgeförderte Frack-Flüssig-keiten sind aufzubereiten, sie dürfen nicht versenktwerden. Die Versenkung von Lagerstättenwasser darfnur in den ehemaligen Förderhorizonten und auch daerst nach Planfeststellungsverfahren und Umweltver-träglichkeitsprüfung unter Einbindung der zuständigenWasserbehörden – all das spielt eine Rolle – erfolgen.Wasserschutzgebiete, Heilquellenschutzgebiete, Trink-und Mineralwassergewinnungsgebiete stehen für einebergbauliche Nutzung, also Fracking- oder Lagerstätten-wasserverpressung, nicht zur Verfügung; dies als klareAussage.Abschließend: Das Bergschadensrecht ist zu novellie-ren. Die Umkehr der Beweislast ist unabdingbar. Dasschafft auch wieder ein Stück weit mehr Vertrauen in dieheimische Erdgasförderung. Das ist wichtig für eine Ak-zeptanz in Deutschland.Deswegen der Punkt vier: Die Entscheidungen sindjetzt notwendig, und ich bin dankbar für die intensiveDiskussion. Wenn wir nicht handeln, läuft das Morato-rium aus. Dann gelten die alten Bedingungen, das heißt:ein Anspruch auf Erdgasförderung, ein Anspruch aufFracking. Das muss allen Beteiligten klar sein, die sichhier kritisch zu diesem Gesetzentwurf äußern.
Allein in Niedersachsen sind es 20 000 Fachkräfte,die wir brauchen, die wir dringend erhalten müssen, da-mit wir neue Technologien entwickeln können. Deswe-gen dürfen wir kein generelles Technologieverbot haben.Die weitreichende Ausweitung von Ausschlussgebietensowie die Einführung von unverhältnismäßigen Prüf-maßstäben wie dem Besorgnisgrundsatz erhöhen nichtdas Schutzniveau, sondern führen dazu, dass es ein kurz-fristiges Ende der Erdgasproduktion in Deutschland in-nerhalb der nächsten fünf Jahre gibt. Damit geht einWegbrechen der Fachkräfte und der Fachkompetenz inunserem Land einher.Deswegen komme ich abschließend zum Punkt fünf:Es ist keine einfache, aber eine dringend notwendigeEntscheidung. Es ist, glaube ich, für die öffentliche Dis-kussion wichtig. Daher sage ich es noch einmal: Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf ermöglichen wir nichtneue Wege der Erdgasförderung oder des Frackings,
sondern wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür,dass wir es begrenzen, dass wir es auf die Bereiche redu-zieren, bei denen wir es für umweltverträglich und auchfür zulässig halten.
Das ist der entscheidende Grundsatz dieses Gesetzent-wurfs, den wir an dieser Stelle dringend brauchen.Lassen Sie uns deswegen diesen Weg gemeinsam ge-hen: Sicherung einer verantwortungsvollen Energiever-sorgung, umfassender Umwelt- und Trinkwasserschutz,transparente Bürgerbeteiligung genauso wie die Siche-rung des Technologiestandorts Deutschland und der Ar-beitsplätze, Chancen für die Industrie zur Entwicklungumweltschonender Verfahren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutigeDiskussion ist keine Diskussion allein über die Fragevon Erdgasförderung oder Fracking, sondern es gehtauch um die Frage, ob wir in Deutschland bereit sind,Technologien anzuwenden und weiterzuentwickeln, oderob es in Deutschland in Zukunft die Entwicklung neuerTechnologien nicht mehr gibt.Ich bin mir sicher: Mit dem Gesetzentwurf schaffenwir es, den Schutz von Mensch und Natur mit einer si-cheren Erdgasgewinnung in Einklang zu bringen.Herzlichen Dank.
Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Fähigkeit, das Wort „nein“ auszusprechen, istder erste Schritt zur Freiheit.Das Zitat stammt aus der Zeit der Aufklärung in Frank-reich.
Was hat Fracking mit Freiheit und Frankreich zu tun?Die Linke ist so frei und aufgeklärt, zum Fracking-Er-möglichungs-Gesetz Nein zu sagen,
aus vernünftigen Gründen im Sinne des Allgemein-wohls, nicht im Sonderinteresse von US-Fracking-Fir-men wie Chevron und Exxon, für die die Bundesregie-rung ein Türöffnergesetz plant, sondern im Interesse derBürgerinnen und Bürger.
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9790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Eva Bulling-Schröter
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Ihr Genosse in Paris, Frau Hendricks und HerrGabriel, Frankreichs Präsident Hollande, war im Übri-gen auch so frei: Hollande hat Nein gesagt zu Fracking,und Frankreichs Verfassungsgericht hat das Verbotjüngst bestätigt.
Wir brauchen auch in Deutschland kein Fracking. Esmacht keinen Sinn, weder energie- noch klima- oder um-weltpolitisch. Wir setzen wirklich auf die Energiewende,auf Wind und Sonne, nicht auf neue Öl- und Gasförde-rung mit riesigen Methanemissionen und zerstörter Um-welt.Wenn wir heute über Fracking-Technologie sprechen,dann auch über die Freiheit des Marktes, die Natur auf-zureißen – das bedeutet nämlich Fracking. Wir sprechendarüber, wie unfrei die Gesellschaft geworden ist, Neinzu Gas, Kohle und Öl sagen zu können. Der Widerstandgegen die Klimaabgabe für alte Braunkohlekraftwerkezeigt das in aller Klarheit.Natürlich geht es um Interessen großer Energieunter-nehmen. Fünf der sechs umsatzstärksten Unternehmender Welt sind schließlich Energieunternehmen.
Jetzt sprechen wir einmal über Demokratie und da-rüber, wie Politik gemacht wird.
Viele Bürgerinnen und Bürger können die Fracking-De-batte wegen des hohen fachlichen Niveaus nur schwernachvollziehen. Die Skepsis gegenüber dem Experten-tum ist groß, und das Vertrauen in Gutachten von For-schungsinstituten, die oft Verbindungen in die Wirtschafthaben, schwindet – und damit das Vertrauen in die De-mokratie, die auf verlässliches Wissen angewiesen ist.Das wissen Sie ja auch.Schauen Sie sich die Expertenkommission an, dieüber Fracking-Vorhaben entscheiden soll. Diese Exper-tenkommission hat eine personelle Schlagseite. Fast alleMitglieder sind Fracking-Befürworter; nicht ein Mit-glied kommt aus der Zivilgesellschaft. In einem Gre-mium, das keiner von uns gewählt hat, gilt das Mehr-heitsprinzip. Wir brauchen aber die direkte Entscheidungder Betroffenen vor Ort.
Wenn Tausende Nein sagen, dann muss das auch gelten.So funktioniert nämlich Demokratie.Auch die Art und Weise, wie die BundesregierungGesetzentwürfe in die Öffentlichkeit bringt, schadet demVertrauen in die Demokratie. Fracking soll durch dieTäuschung, man wolle ihm einen Riegel vorschieben,eingeführt werden. Öl und Gas werden gegenüber demgeltenden Recht aber neue Privilegien verschafft.Jetzt komme ich zu den Beispielen.Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absolu-ten Vorrang.So steht es im Koalitionsvertrag auf Seite 44 zum Fra-cking. Es gelte der „Besorgnisgrundsatz des Wasser-haushaltsgesetzes“. Das klingt super.
Wir haben aber nicht nur Trinkwasser, sondern auchGrundwasser. Wasser wird nicht nur als Trinkwasser ge-nutzt, sondern auch für Lebensmittel, für Tiere und fürGetränke entnommen. Auch dieses Wasser ist vom Fra-cking bedroht. Das gilt auch für das Wasser für das baye-rische Bier, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCSU,
und natürlich brauchen wir auch anständige Heilquellen –auch in Bayern. Das wissen Sie doch.Der Besorgnisgrundsatz gilt zwar uneingeschränkt,die Große Koalition spricht aber nur vom Trinkwasser,weicht den Besorgnisgrundsatz hinterrücks auf undschaufelt Fracking den Weg frei. Auch das Bergrechtbleibt fracking-freundlich. Die Unternehmen haben einenRechtsanspruch auf Aufsuchung und Betriebszulassung.Die Rohstoffsicherungsklausel bleibt, womit ganze Dör-fer dem Bergbau weichen müssen.Darum frage ich: Wollen wir einer Fördermethode,die wir als Risikotechnologie identifiziert haben, die Türöffnen? Ja oder nein?
Ein Nein zur rechten Zeit erspart viel Widerwärtigkeit.
Das hat übrigens auch Exxon-Chef Rex Tillerson er-kannt. Jetzt hört gut zu: Der Millionär hat 2014 zur Fra-cking-Wasserentnahme in der Nähe seiner Villa Nein ge-sagt – zusammen mit dem Republikanerführer Armey,der plötzlich selbst betroffen war. Wenn man selbst be-troffen ist, wird es plötzlich ganz anders.Wir alle wissen es doch: Einmal genehmigt, ist einZurück schwierig. Das wissen auch die Wählerinnen undWähler – Stichworte: TTIP und Investitionsschutzkla-gen.Wir Linken sagen Nein. Darum haben wir einen An-trag für ein ausnahmsloses gesetzliches Verbot von Fra-cking vorgelegt – ohne Hintertürchen. Also: Nein!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9791
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Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir uns aus guten
Gründen darauf verständigt haben, dass im Plenum mög-
lichst argumentiert und nicht demonstriert wird. Mein
persönlicher Eindruck ist auch, dass das, was vorgetra-
gen wurde, durch anschließend hochgehaltene Plakate
nicht an Wirkung gewinnt.
Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Für dieUnion hat der Schutz von Mensch, Trinkwasser und Um-welt oberste Priorität. Ich nehme mir heraus, zu sagen,dass das genauso für die Kolleginnen und Kollegen derSPD gilt. Es ist natürlich das gute Recht der Opposition,das in Zweifel zu ziehen. Nur, Frau Bulling-Schröter,was gar nicht geht, ist, die Tatsachen so zu verdrehen,wie ich es gerade bei Ihnen erlebt habe. Sie tun so, als obFracking in Deutschland bislang verboten wäre und wires nun erlauben wollten. Das ist falsch; das sage ich Ih-nen ganz offen. Das lassen wir Ihnen auch nicht durch-gehen.
Sie müssen doch konstatieren, dass in Deutschland seitJahren bzw. sogar seit Jahrzehnten gefrackt wird. Das zuregeln, das in geordnete, umweltschutzgerechte Bahnenzu lenken, ist das Anliegen der Gesetze, über deren Ent-würfe wir heute in erster Lesung beraten, und nichts an-deres.
Seit Jahrzehnten wird in Deutschland, wie gesagt, ge-frackt. Es wird zwischen konventionellem Fracking undunkonventionellem Fracking unterschieden. Ich will dasmit Blick darauf, dass viele diese Debatte verfolgen, er-klären. Das konventionelle Fracking findet dort statt, wosich Gasblasen unter festem Gestein angesammelt ha-ben. Diese Blasen werden angebohrt, und das Gas steigtaufgrund des eigenen Drucks auf. Wenn dieser Drucknachlässt, wird gefrackt, um weiteres Gas zu fördern.Das ist seit den 60er-Jahren gängige Praxis in Deutsch-land.Nun kommt eine Technologie hinzu, über die zuRecht heftig diskutiert wird. Beim unkonventionellenFracking wird versucht, das im Muttergestein oberflä-chennah gebundene Gas durch Sprengen des Gesteinsund hydraulischen Druck zu fördern. Über dieses Themareden wir nun. Ich will deutlich unterstreichen: Die Dis-kussion über das unkonventionelle Fracking hat bei unsallen den Blick auf Probleme des konventionellen Fra-ckings geschärft. Ich danke ausdrücklich all den Kolle-ginnen und Kollegen – auch in meiner Fraktion –, dieüber dieses Thema kontrovers diskutieren, die sich miteigenen Erfahrungen aus den Wahlkreisen einbringenund die sich konstruktiv, aber auch kritisch beteiligen.Ihnen sage ich: Sie haben viel erreicht für eine umwelt-schonende Rohstoffförderung, die, wie StaatsministerLies beschrieben hat, immerhin 12 Prozent des Erdgas-verbrauchs in Deutschland deckt. Tatsächlich erreichenwir aber nur dann viel, wenn es uns nun gelingt, die vor-liegenden Gesetzentwürfe durch die parlamentarischenBeratungen zu bringen. Dann kommen die UVP und diegeforderten Ausschlussgebiete.Eine Anmerkung am Rande: Selbst die ganz kriti-schen Geister in Bayern haben inmitten der Diskussionplötzlich bemerkt, dass dann, wenn man Fracking kom-plett verbietet, beispielsweise die Heilquellen vor Ortversiegen werden; denn auch in diesen Fällen ist man aufFracking angewiesen, um wieder an Wasser zu kommen.
Dass wir bei den Wasserthemen auch die Brauereien be-rücksichtigt haben, zeigt, wie umfassend und weitge-hend wir das alles regeln. Wir behalten in diesem Zu-sammenhang alle Themen im Blick.Wir werden zudem das Bergschadensrecht und dieRegelungen betreffend das Lagerstättenwasser verschär-fen. Sicherlich wird es noch manche Diskussion – auchin meiner Fraktion – über die Frage geben, wie das aus-gestaltet werden soll. Aber das ist legitim. Solche Dis-kussionen werden im Rahmen des parlamentarischenVerfahrens geführt werden. Das ist auch gut so.
Wir werden hier zu guten Lösungen kommen.Ich möchte unterstreichen: Für das unkonventionelleFracking gilt das von allen geforderte klare Verbot, aller-dings unter Erlaubnisvorbehalt.
– Zuhören hilft Ihnen! Ob es etwas verändert, ob Sie esnachvollziehen können, ist eine andere Frage.Wir verbieten – wie von Ihnen gefordert – das, weil eskeinerlei Erfahrungen und möglicherweise Risiken gibt.Wenn man diese Begründung ernst nimmt, dann bedeu-tet das: Sobald man Erfahrungen gemacht hat und zudem Ergebnis gekommen ist, dass Risiken auszuschlie-ßen oder zumindest beherrschbar sind, muss es möglichsein, eine solche Technologie anzuwenden. Deshalb be-steht der erwähnte Erlaubnisvorbehalt.Ich möchte hier den beiden SPD-geführten Häusernfür diesen klugen Vorschlag ausdrücklich danken.
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9792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Georg Nüßlein
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Eine Expertenkommission einzusetzen, die gut und mitdies durchaus kritisch sehenden Persönlichkeiten besetztist, das Who’s who der Geo- und Wasserwissenschaft, istsachlogisch. Ich möchte noch einmal deutlich unterstrei-chen: Sie genehmigen nichts, sondern begutachten nurdie Versuchsbohrungen. Sie liefern die Eintrittskarte fürein weiteres Verfahren. Sie ersetzen kein Genehmigungs-verfahren. Wenn sie zu einem Ergebnis kommen, dannsind die Berg- und Wasserbehörden der Länder gefragt.Das ist ein ganz normales Verfahren.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bülow
zu?
Ja, gern.
Geschätzter Herr Nüßlein, ich freue mich sehr, dass
wir jetzt über den Entwurf diskutieren, der von den Häu-
sern gekommen ist, und dass Sie die Problematik des La-
gerstättenwassers als diskutabel eingeordnet haben.
Herr Pfeiffer hat die Bedeutung der Expertenkommis-
sion so hervorgehoben. Mich würde interessieren, ob wir
damit rechnen können, mit der Union auch noch einmal
über die Expertenkommission zu reden. Ich glaube im-
mer noch, dass wir im Bundestag am besten über diese
Dinge entscheiden können und keine Expertenkommis-
sion brauchen.
Es ist in Ordnung, dass die Experten uns beraten, aber
nicht, dass sie letztendlich entscheiden. Ich würde mich
freuen, wenn Sie die Position der Union diesbezüglich
darlegen würden. Wahrscheinlich gibt es auch dazu wie-
der zwei oder drei Positionen. Trauen Sie sich zu, diese
Expertise selber darzustellen?
Danke schön.
Ich bin der Überzeugung, dass wir im Deutschen
Bundestag nicht die besseren Experten sind, sondern
dass es sinnvoll ist, sich wissenschaftliche Expertise zu
holen. Die Experten können wir im Bundestag schwer
ersetzen. Was wollen Sie denn dann ersetzen? Das an-
schließende Genehmigungsverfahren?
Soll am Schluss der Deutsche Bundestag genehmigen
und die Landesbehörden, die Fachbehörden ersetzen und
vor Ort im Wahlkreis X oder Y Maßnahmen genehmi-
gen? Ich glaube nicht, dass wir uns dazu degradieren
sollten. Wir machen den gesetzlichen Rahmen, meine
Damen und Herren.
Dann wird er so, wie es sich gehört, ausgefüllt. Das sieht
dieses Gesetz an dieser Stelle vor. Deshalb habe ich ge-
sagt: Es ist ein kluger Vorbehalt, der nicht wieder zu den
angstgeleiteten Diskussionen führt: Soll man oder soll
man nicht? Auch die Industrie kann sich dann darauf
verlassen, dass dann, wenn die Experten zu dem Ergeb-
nis kommen, dass es keine Bedenken gibt,
ein Rechtsweg beschritten wird, der in die Richtung
geht, dass wir die Technologie anwenden.
Ich sage auch denen, meine Damen und Herren, die
kritisch sind und sagen, dass die Risiken zu groß und un-
beherrschbar sind: Wenn das so ist, dann wird doch nie-
mals eine so besetzte Expertenkommission, wie es das
Umweltministerium vorschlägt,
zu dem Ergebnis kommen, dass man das in Deutschland
anwenden kann. Dann ist das ausgeschlossen. Dann ist
dieses Verbot so absolut, wie es die einen oder anderen
auch aus unseren Reihen wollen.
Deshalb glaube ich schon, dass es richtig ist, dass wir
konzentriert an diesem Gesetz weiterarbeiten und dafür
Sorge tragen, dass insbesondere die Verbesserungen, die
im Bereich des konventionellen Fracking angedacht
sind, am Schluss auch so kommen. Das ist ganz ent-
scheidend. Wir erreichen nichts, wenn wir wieder an der
gleichen Stelle steckenbleiben wie in der letzten Legisla-
tur, wo die Verdrehung der Tatsachen – man hat uns auch
da schon angehängt, wir würden ein Fracking-Ermögli-
chungs-Gesetz machen –, genau dazu geführt hat, dass
es diese Verbesserungen nicht gegeben hat.
Die Mehrheit der kritischen Geister in unseren Reihen
beschäftigt sich im Übrigen mit Themen, die mit dem
konventionellen, dem praktizierten Fracking zusammen-
hängen.
Herr Kollege Nüßlein, auch Frau Höhn möchte gerne
Ihre Redezeit verlängern. Sind Sie damit einverstanden?
Okay, herzlich gern.
Herr Kollege Nüßlein, können Sie bestätigen, dass dieExperten hinsichtlich der Wasserfrage bei der Asse ge-sagt haben, die Asse sei absolut sicher und Radioaktivi-tät würde nicht ins Wasser gelangen, und zwar für 1 Mil-lion Jahre nicht, dies aber trotzdem nach 20 Jahrenpassiert ist? Können Sie genauso bestätigen, dass dieExperten gesagt haben, dass das PCB-belastete Hydrau-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9793
Bärbel Höhn
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liköl ruhig in den Bergwerken bleiben könne, weil dasnie und nimmer ins Wasser gelange, wir jetzt aber, nach10, 15 Jahren, PCB im Wasser finden? Können Sie dasbestätigen? Können Sie bestätigen, dass Experten zu ge-nau diesen Auffassungen gelangt sind?
Frau Kollegin Höhn, was wollen Sie mir mit dieser
Frage mitteilen? Dass man sich auf den Rat von Exper-
ten nicht verlassen kann,
dass wir ersatzweise lieber alles selbst regeln sollten und
man vorsichtshalber alles verbieten sollte, was man ver-
bieten kann?
Das entspräche nicht der sinnvollen Politik, die diese
Koalition in Verantwortung für die Umwelt in Deutsch-
land auf der einen Seite und für die Wirtschaft in
Deutschland auf der anderen Seite macht.
Ich will ganz deutlich sagen, dass die Expertenkom-
mission und das Verbot unter Erlaubnisvorbehalt der
Kern dieses Gesetzentwurfs sind. Ich glaube, wir sollten
stolz darauf sein, dass wir mit diesem Gesetz einen Weg
finden, der von Angst und Populismus wegführt
und dafür sorgt, dass in Deutschland auch in Zukunft
neue technische Möglichkeiten ernsthaft erforscht wer-
den können und sich die Industrie daran verlässlich be-
teiligen kann.
Ich will deutlich machen, dass der heimische Beitrag
zur Rohstoffversorgung durchaus beachtlich ist: 12 Pro-
zent unseres Gasbedarfs. Wenn hier jemand sagt, Fra-
cking sei im Zusammenhang mit der Energiewende un-
nötig, sage ich dazu – zumindest stelle ich das fest –, dass
die Konzepte aus dem Bundeswirtschaftsministerium,
die ich bisher zur Kenntnis genommen habe, zeigen,
dass man ganz massiv auf Gas setzt, und zwar als Ersatz-
und Regelenergie. Die Behauptung, man brauche für die
Umstellung, für die Energiewende kein Gas, ist aus mei-
ner Sicht komplett falsch. Das ist zu kurz gedacht.
Wer nicht will, dass in Deutschland geforscht wird,
den nenne ich schon immer einen Ökokolonialisten. Er
sagt: Bei uns nicht; sollen das doch andere bei sich zu
Hause machen; die haben nicht so eine Umwelt, nicht so
eine Natur. – Deutschland muss doch Vorbild sein und
einen anderen Weg gehen. Wir müssen Techniken und
Wege finden, um solche Vorkommen zu erschließen,
ohne die Umwelt dabei zu beschädigen, ohne dass sol-
che Schwierigkeiten entstehen, die wir in anderen Län-
dern sehen.
Man kann in Deutschland nicht einfach eine Techno-
logie pauschal verbieten.
Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. –
Das sage nicht ich, sondern das sagte Bundesumweltmi-
nisterin Hendricks laut einer dpa-Meldung vom 1. April
2015.
Damit hat sie absolut recht. Wir können das nicht pau-
schal verbieten. Deshalb gehen wir sehr klug vor. Wir
stellen sicher, dass Umwelt und Natur geschützt sind,
aber auch, dass weltweit Rohstoffvorkommen in Zu-
kunft verantwortungsbewusst erschlossen werden kön-
nen.
Ich bitte Sie herzlich um eine sachliche Diskussion
und um Unterstützung des bisher Erreichten.
Vielen herzlichen Dank.
Julia Verlinden erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Fracking ist riskant für Umwelt undGesundheit, und es ist nicht nötig, wie wir hier heuteschon mehrfach gehört haben.
Trotzdem will die Bundesregierung es erlauben. Fra-cking bedeutet Gift in den Böden, Gift im Wasser undGift für die Atmosphäre. Sie kennen die Berichte ausden USA über Erdbeben, entweichendes Methan undverdrecktes Wasser. Das sind Probleme des fossilen Zeit-alters. Diese Epoche müssen wir schnellstmöglich been-den.
Das können wir, weil die Alternativen zur Verfügungstehen. Fracking verstärkt die Klimakrise, anstatt sie auf-zuhalten. Das zuzulassen, ist grob fahrlässig von derBundesregierung. Ja, wir brauchen schärfere Regeln fürdie Rohstoffförderung. Ja, wir brauchen auch endlichRegelungen bezüglich Fracking. Die bisherige Rechts-unsicherheit muss beendet werden – darüber sind wiruns ja alle einig –; aber da endet auch schon die Einig-keit mit der Bundesregierung. Denn wir brauchen einFracking-Verbot und kein Fracking-Erlaubnis-Paket.
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9794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Julia Verlinden
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Genau das ist es aber, was Sie, Frau Hendricks, gemein-sam mit Ihrem Kollegen Gabriel, der heute in der De-batte leider nicht reden möchte, planen. Selbst Sie, FrauHendricks, geben zu: Fracking ist kein Beitrag zur Ener-giewende. Wir brauchen es nicht. Für den Klimaschutzbringt es uns nichts. Es ist riskant und hat in einer zu-kunftsfähigen, enkeltauglichen Energieversorgung nichtsverloren!Anstatt Vorreiter für die Fracking-Technik in Europazu sein – eine Technik, die in eine Sackgasse führt –,müssen wir in Deutschland überlegen, wie wir mittelfris-tig ohne Erdgas auskommen und in Innovationen für dieEnergiewende investieren. Und darauf haben wir Grünesehr gute Antworten.
Dieses Jahr ist ganz entscheidend für den Klima-schutz weltweit. Es wäre ein fatales Signal, wennDeutschland ausgerechnet jetzt wieder einen Schrittrückwärts macht, anstatt auf die Zukunft zu setzen. Denndie Zukunft heißt: zuverlässige und umweltfreundlicheEnergie.
Und der Weg dahin geht über erneuerbare Energien,Energieeffizienz und Energiesparen.Einige von Ihnen behaupten, Fracking würde in Zu-kunft nur noch in ganz wenigen Fällen möglich sein. DieSatzkonstruktionen, die wir heute dazu schon hörenmussten, sind echt abenteuerlich. Sie sagen, der Gesetz-entwurf sei doch quasi fast ein Verbot. Die Menschenlassen sich aber nicht für dumm verkaufen!
Lediglich in ganz wenigen Gebieten wird Fracking zu-künftig wirklich rechtssicher verboten sein. Wenn ichganz großzügig rechne, dann wird es in maximal einemDrittel der Landesfläche verboten sein. Das heißt, Sie le-gen uns hier kein umfassendes Fracking-Verbots-Gesetzvor, sondern höchstens ein Drittelverbotsgesetz.
In Ihrem Gesetzentwurf stehen Regeln, die nicht nurgefährlich, sondern auch total absurd sind.
– Gerne! Nehmen wir zum Beispiel die 3 000-Meter-Grenze. Warum soll Fracking in einer Tiefe von2 999 Metern gefährlich sein – deswegen lieber nur Pro-bebohrungen –, in einer Tiefe von 3 001 Metern aberharmlos? Das ist doch total unlogisch!
Sogar den Einsatz von wassergefährdenden Chemikalienerlauben Sie dort! Und warum gilt die 3 000-Meter-Grenze eigentlich nicht für Erdöl-Fracking? Bisher hatmir noch niemand eine überzeugende Antwort liefernkönnen. Ich weiß auch, warum. Es gibt nämlich keine lo-gische Begründung für dieses Kuddelmuddel an Aus-nahmen in Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Her-ren!
Ein echtes Verbot dieser Technik wäre konsequent. Daswürde dem Vorsorgeprinzip entsprechen.Die Landesumwelt- und -energieminister haben imBundesrat deutlich gemacht, dass Fracking im Bergrechtund im Wasserrecht verboten werden muss. Das ist dierichtige Regulierung für diese Technik – und nicht einvermurkstes Fracking-Erlaubnis-Gesetz voll mit Schlupf-löchern!
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Beschlüsse derLandesumweltminister aus dem Bundesrat aufnehmen.Ich will, dass Sie wenigstens die Umweltanforderungenan die Förderung von Erdgas und Erdöl auch bei derfrackfreien Rohstoffförderung verschärfen. Denn wasviele hier in der Debatte unterschlagen: Man kann Erd-gas auch ohne Fracking-Technik fördern. Jawohl!
Das Fracking-Verbot wäre kein automatisches Ende derErdgasförderung in Deutschland. Es geht nur um dieeine Form der Erdgasförderung, um eine Form der Tech-nik.Wir sehen doch jetzt schon, wie viel bei der Erdgas-förderung insgesamt schiefgehen kann: unkartierte Bohr-schlammgruben, beschädigte Gebäude, undichte Rohrlei-tungen und eine ungeklärte Steigerung von Krebsfällenin Niedersachsen. Ich sage Ihnen: Es reicht!
Und damit bin ich in bester Gesellschaft. Jawohl!Denn mehr als 2 000 Kommunen in Deutschland sagenNein zum Fracking. Auch Gewerkschaften und Wirt-schaftsverbände kritisieren diesen Gesetzentwurf derBundesregierung. Über zwei Drittel der Bürgerinnen undBürger dieses Landes meinen, dass Fracking von derBundesregierung verboten werden sollte. KanzlerinMerkel – heute leider nicht anwesend – regiert dochsonst so gerne nach Meinungsumfragen.
Warum tut sie das an dieser Stelle nicht? Sie hätte dieMehrheit der Bevölkerung Deutschlands sicher hintersich. Ich sage Ihnen, warum sie das nicht tut: weil ihr dieInteressen der Erdgaslobby viel wichtiger sind. Und dasist unverantwortlich!
Wir Grüne werden uns nicht damit abfinden, dass Siemit Ihrer Großen Koalition gegen die Mehrheit der Be-völkerung und gegen die Vernunft blind dem Willen derKonzerne folgen. Ich erwarte von Ihnen, von den Abge-ordneten der CDU/CSU und der SPD, dass Sie jetzt end-lich Farbe bekennen! Man kann nicht durch die Lande
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9795
Dr. Julia Verlinden
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ziehen und den Menschen im Wahlkreis erzählen, manfände Fracking ja auch irgendwie nicht so gut, und dannhier so ein Fracking-Erlaubnis-Gesetz durchwinken!
Seien Sie ehrlich! Machen Sie Ihre Entscheidungtransparent! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schul-ter! Erklären Sie den Wählerinnen und Wählern, wofürSie wirklich stehen! Handeln Sie! Machen Sie mit unsaus diesem Fracking-Erlaubnis-Paket ein echtes Fra-cking-Verbot!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beidiesem Thema geht viel durcheinander, und man muss essortieren. Aber bei einem, glaube ich, sind wir uns dochalle einig: Die Regelungen, die wir zurzeit im Bergrechtund auch im Wasserhaushaltsrecht haben, sind anti-quiert, und mit Blick auf Erdgasfördermaßnahmen undauch auf die Ölförderung ist dieser Gesetzentwurf füralle erst einmal ein Fortschritt, weil die Umweltverträg-lichkeitsprüfung zur Pflicht wird und eine Beweislast-umkehr im Bergschadensrecht stattfindet. Das muss manhier ganz deutlich sagen.
Die Bundesregierung hat etwas geschafft, was vorzwei Jahren gescheitert ist; Herr Nüßlein hat darauf hin-gewiesen. Ich finde, wir Parlamentarier haben, wenn wirRegelungsbedarf feststellen, die Aufgabe, uns den gro-ßen Fragen zu stellen. Deswegen bin ich den Kollegin-nen und Kollegen – Christina Jantz und Lars Klingbeilfür die SPD –, die in ihren Wahlkreisen feststellen, dassHandlungsbedarf besteht, dankbar, dass sie sich in dieBeratung einbringen und mit uns gemeinsam prüfenwerden, ob das, was vorgelegt wurde, ausreicht, bei-spielsweise was den Umgang mit Lagerstättenwasser an-geht. Wir werden uns das anschauen; die parlamentari-sche Beratung steht jetzt bevor.
Ebenso müssen wir uns noch einmal mit dem ThemaProbebohrung beschäftigen, mit dem grundsätzlichenVerbot des Fracking, das wir aus Amerika kennen, mitder Frage, ob wir an wissenschaftliche Erkenntnisse ge-langen können. Ja, Herr Pfeiffer, es ist richtig, sich dasnoch einmal genau anzuschauen: die Gesteinsformatio-nen, die Frage, wie man Probebohrungen durchführt, dieentsprechenden Zahlen. All das müssen wir auch im par-lamentarischen Verfahren sehr sorgfältig betrachten.Der entscheidende Punkt ist nach meiner Einschät-zung die Frage, ob das grundsätzliche Verbot von Fra-cking dadurch umgangen werden kann, dass eine Exper-tenkommission grünes Licht gibt und dann eineLandesbehörde genehmigt.
Ich finde, der Deutsche Bundestag muss die Instanz seinund bleiben, die letztlich über den kommerziellen Ein-satz von Fracking entscheidet.
– Sven Kindler, da fangen wir dann an, miteinander zudiskutieren. Es wird jetzt im parlamentarischen Verfah-ren darum gehen, das zu prüfen.Ich glaube auch, dass man, wenn man die Eckpunktevon Barbara Hendricks und Sigmar Gabriel mit dem ver-gleicht, was jetzt vorliegt, feststellen kann, dass die Ex-pertenkommission ursprünglich nicht vorgesehen war.Dass sie jetzt im Gesetzentwurf steht, hängt, glaube ich,durchaus auch mit dem Kanzleramt zusammen; aber daskönnen wir aufklären.
Herr Mattfeldt, Sie haben gerade gesagt, in den Koali-tionsverhandlungen zum Thema Fracking werde es knal-len. Nun weiß ich nicht, was Sie meinen. Sie sagen, hin-ter Ihnen stehen 80 Abgeordnete. Ich schaue IhrenFraktionsvorsitzenden an: Sie haben ja über 200 Abge-ordnete. Das heißt, es scheint in der Fraktion zu knallen,mit Herrn Fuchs oder mit Herrn Pfeiffer.
Aber um eins bitte ich Sie: Klären Sie Ihre Haltung, be-vor Sie uns attackieren. Denn ich glaube, vieles, was Siewollen, wollen wir auch.
Aber das ist augenblicklich noch nicht mehrheitsfähig indieser Großen Koalition. Deswegen lassen Sie unskämpfen.Was wir Ihnen nicht durchgehen lassen werden, ist:links blinken und rechts abbiegen. Das darf nicht passie-ren.Vielen Dank.
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9796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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Die Kollegin Herlind Gundelach erhält nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, es ist heute zwar schon mehrfach betont worden,aber auch ich möchte es eingangs betonen: Das Geset-zespaket, das uns heute vorliegt, ist eben kein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz – ganz im Gegenteil. Auch dasist schon mehrfach gesagt worden: Nach geltenderRechtslage ist Fracking nach entsprechender Genehmi-gung, natürlich immer durch die zuständige Behörde, inDeutschland möglich, auch wenn es gegenwärtig einMoratorium gibt; aber von der Rechtslage her ist esmöglich. Wir nutzen diese Technologie schon seit mehrals 50 Jahren, und wir haben sie bisher auch relativ er-folgreich genutzt.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wireine revisionsoffene Regelung. Das bedeutet, dass wirdas Fracking in Schiefergestein zunächst nur für for-schungsbezogene Vorhaben zulassen und auch diese nurunter strengsten Auflagen. Ansonsten gilt ein grundsätz-liches Fracking-Verbot für Maßnahmen oberhalb von3 000 Metern. Darin, dass diese Grenze in der Tat etwaswillkürlich ist, sind wir uns einig; darüber werden wir imAusschuss sorgfältig beraten. Der WissenschaftlicheDienst bezeichnet das aktuelle Gesetzesvorhaben daherals Fracking-Verbot mit Forschungsprivileg.Dieses Gesetzespaket reguliert aber nicht nur das Fra-cking. Es legt auch – das halte ich für mindestens ge-nauso wichtig – neue Auflagen für die Erdgasförderungin diesem Lande fest. Um den Sorgen der Bürger Rech-nung zu tragen, wurden seit 2011 keine Anträge auf kon-ventionelle Gasförderung mit Anwendung der Fracking-Technologie mehr positiv beschieden. Deswegen habendie Unternehmen keine Anträge mehr gestellt.Diese Bundesregierung setzt jetzt erstmals einen kla-ren ordnungsrechtlichen Rahmen, bei dem der Schutzdes Menschen, seiner Gesundheit und der Umwelt imVordergrund steht.
Wir setzen einen ordnungsrechtlichen Rahmen – auchdas sage ich –, der aber in einem klaren ordnungspoliti-schen Denken wurzelt; denn unsere Gesellschafts- undWirtschaftsordnung beruht auf dem Gedanken der Frei-heit, der Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft ins-gesamt. Dazu gehört in unserem marktwirtschaftlichenSystem auch die Freiheit des Unternehmers.
Die ökologische und soziale Marktwirtschaft – ichbetone ganz bewusst beides – setzt hierfür in unseremLand den Rahmen. Das heißt, neben den Belangen derWirtschaft stehen gleichberechtigt die Belange der Ge-sellschaft und des Umweltschutzes. Nur ein solchesKonzept ist nachhaltig. Damit unterscheiden wir uns dia-metral von den Oppositionsparteien, die am liebsten ent-weder aus dem Diktat des Sozialen oder des Ökologi-schen alles verbieten oder zumindest ganz detailliertvorschreiben wollen, was zu tun und was zu unterlassenist. Mit dem Handeln in Freiheit und Verantwortung istDeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das geworden,was es heute ist: eine der erfolgreichsten Industrienatio-nen der Welt, in die zu gelangen viele Menschen dieserTage sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Wir sollten unsüberlegen, ob wir von diesen Grundsätzen wirklich ab-weichen wollen.Das ab heute im Bundestag zu debattierende Geset-zespaket Fracking hat eine Vorgeschichte, die noch indie letzte Legislaturperiode reicht. Damals ist der Ver-such gescheitert – auch das wurde schon betont; über dieGründe möchte ich mich hier gar nicht auslassen –, Fra-cking in Deutschland verbindlich zu regeln. Dabeikönnte man meinen, dass das eigentlich gar nicht soschwierig ist, da diese Technologie ja bei uns bekanntist; denn zwischen 1961 und 2011 fanden in Deutschlandim Rahmen der konventionellen Erdgasförderung über300 sogenannte Fracks statt.Heute legen wir ein Gesetzespaket vor, an dem sichernoch das eine oder andere zu verbessern sein wird – auchdas haben wir schon gehört –, das aber aus meiner Sichtinsgesamt ausgewogen ist. Es sieht ein Fracking-Verbotmit Forschungsoption vor und außerdem deutlich stren-gere Auflagen für die Förderung von Erdgas aus konven-tionellen Lagerstätten, das heißt aus dem sogenanntenoffenporigen Gestein.Ich weiß, es gibt Menschen, die fordern, dass wir inDeutschland grundsätzlich kein Erdgas mehr mithilfevon Fracking fördern sollten. Diesen Menschen möchteich einige Informationen und einige wichtige Punktezum Nachdenken mit auf den Weg geben, und bei dieserGelegenheit möchte ich auch mit der einen oder anderenFalschinformation aufräumen.Erdgas ist – das ist uns allen bekannt – der CO2-ärmste fossile Energieträger und damit der ideale Beglei-ter für die Erneuerbaren. Ich denke, da stimmen sogardie Grünen zu. Wir wenden diese Technologie, wie be-reits erwähnt, seit 1961 ohne größere Zwischenfälle an.In Deutschland nutzen wir Erdgas aber nicht nur für dieStromerzeugung, sondern insbesondere auch für die Er-zeugung von Wärme. Knapp 50 Prozent unserer Hei-zungsanlagen in Deutschland werden mit Gas befeuert.Derzeit fördern wir nur noch rund 10 Prozent unseresBedarfs selbst. Dieser Anteil war einmal höher. Wir ha-ben für die Zukunft deutlich größere Potenziale. Wennwir hier allerdings weiter drosseln, werden wir noch ab-hängiger von ausländischen Gasversorgern.Wenn im Zusammenhang mit der Fracking-Technolo-gie von Frack-Fluiden und den darin enthaltenen Chemi-kalien gesprochen wird, setzen viele Menschen diese so-fort mit giftigen Chemikalien gleich. Dabei ist eswichtig, zu wissen, dass schon allein der Begriff „Che-mikalie“ sehr unscharf ist. Wasser, Luft, Stärke undBackpulver sind auch Chemikalien. Inhaltsstoffe wiezum Beispiel Guarkernmehl, was vermutlich keiner vonuns kennt, wird sowohl in Frack-Fluiden als auch in Le-bensmitteln verwandt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9797
Dr. Herlind Gundelach
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Der Gesetzentwurf sieht übrigens vor, dass Frack-Flu-ide nur noch schwach wassergefährdend sein dürfen.Das heißt, sie dürfen nur die Wassergefährdungsklasse 1haben. Zum Vergleich – ich gehe einmal davon aus, dasssich jeder von uns von Zeit zu Zeit seine Haare wäscht –:Shampoo hat die Wassergefährdungsklasse 2.In Bezug auf das Grundwasser sollte man übrigensauch wissen: Nicht jedes Grundwasser ist Trinkwasser.Trinkbares Wasser befindet sich in circa 200 bis 300 Me-tern Tiefe. Das Wasser darunter ist definitiv nicht trinkbar.Salz und natürliche Vorkommen von Quecksilber undBenzol machen es zum Teil sogar giftig. Insofern dieseFlüssigkeiten bei der Gewinnung von Erdgas anfallen,werden sie künftig in geschlossenen Behältnissen aufge-fangen. Anschließend dürfen sie nur noch in kohlenstoff-haltige, druckabgesenkte Gesteinsformationen eingebrachtwerden. Das heißt, sie werden dorthin zurückgeführt, wosie herkommen. Auch dieser Vorgang unterliegt einer UVP-Pflicht mit all dem, was dazugehört, inklusive Beteiligungder Wasserbehörden, aber auch der Öffentlichkeit. Dasheißt, es muss vorher eine sorgfältige Umweltverträglich-keitsprüfung durchgeführt werden. Die UVP-Pflichtenweiten wir ohnehin massiv aus; denn in Deutschland wirdin Zukunft bei jeder Gewinnung und sogar schon bei derAufsuchung von Erdöl und Erdgas mithilfe der Fracking-Technologie eine UVP durchgeführt werden müssen.Ich will an dieser Stelle gar nicht auf weitere Einzel-heiten des Entwurfs eingehen. Ich gehe davon aus, dasswir das im Ausschuss noch sehr gründlich diskutierenwerden.
Zu dieser Diskussion werden wir sicher auch den Sach-verstand von Wissenschaft und Praxis einfordern.Für mich – das möchte ich zum Schluss betonen – istdas Gesetzespaket aus zweierlei Gründen von Bedeu-tung:Erstens. Es schafft die Möglichkeit, unter ökologischverantwortbaren und wirtschaftlich vertretbaren Voraus-setzungen den heimischen Energieträger Erdgas zu för-dern. Das macht uns unabhängiger und auch weniger er-pressbar; denn ganz ohne fossile Energie – auch das istheute schon deutlich geworden – werden wir vermutlichin dem vor uns liegenden Jahrhundert gar nicht auskom-men. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gas, des-sen Vorräte ja durchaus beachtlich sind, dann am Schlussauch tatsächlich gefördert wird. Es kommt darauf an, zuzeigen, dass wir prinzipiell bereit sind, es zu fördern,
und dass es auch verantwortungsvoll zu fördern ist. Obes tatsächlich gefördert wird – Herr Krischer, ob Sie esglauben oder nicht –, entscheiden letztendlich die Unter-nehmer dadurch, ob sie einen Antrag stellen. Ob sie esfördern dürfen, entscheiden letztendlich die Behörden.Das ökonomische Risiko wollen wir den Unternehmernim Übrigen gar nicht abnehmen. Manchmal würde ichmich allerdings auch über ein bisschen mehr Risikobe-reitschaft bei den Förderern der erneuerbaren Energienfreuen; denn die beanspruchen in der Regel ein Rundum-sorglos-Paket. Das ist aber ein ganz anderes Thema.
Unsere Aufgabe ist es, in diesem Gesetz rechtlich ein-wandfrei die Voraussetzungen festzulegen, unter deneneine Gewinnung von Erdgas in Deutschland zukünftigmöglich ist.Der zweite Punkt, warum meines Erachtens die Ver-abschiedung dieses Gesetzentwurfs wichtig ist, hängtdamit zusammen, dass wir auch ein Signal nach draußensetzen: dass sich Deutschland auch in schwierigen Fel-dern bewegen kann, dass wir uns nach wie vor technolo-gieoffen zeigen und dass wir nicht ausschließlich an Ver-teilungsprozessen interessiert sind.
Wir zeigen damit, dass wir noch immer in der Lage sind,Innovationen anzustoßen und diese auch umzusetzen.
Das europäische Ausland, aber auch die VereinigtenStaaten und Kanada blicken gegenwärtig mit großem In-teresse nach Deutschland, auf unsere Vorschläge und aufunsere Regelungen, wie wir mit der Fracking-Technolo-gie umgehen wollen. Ich bin sicher: Wenn wir dies er-folgreich machen, werden unsere Regelungen früheroder später auch in die dortige Gesetzgebung Eingangfinden. Im Übrigen freue ich mich auf eine intensiveund, ich denke, sicherlich auch sehr strittige Diskussionin den Ausschüssen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Bernd Westphal für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasist sicherlich eine schwierige und wichtige Debatte, diewir hier heute führen. Ich denke – viele meiner Vorred-ner haben das vorangestellt –, es geht hier auf der einenSeite darum, mit dieser Vorlage der Absicherung derTrinkwasserqualität in Deutschland gerecht zu werden.Das sind berechtigte Interessen, was unser LebensmittelNummer eins angeht. Aber auf der anderen Seite geht esauch darum, eine Rohstoffförderung in Deutschland zugewährleisten. Ich finde es unredlich, wenn in Bezug aufdiesen vorliegenden Gesetzentwurf gesagt wird, wirwürden ähnliche Bedingungen wie in den USA schaffen.
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9798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Bernd Westphal
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Eben das ist nicht der Fall. Der hier von der Bundesre-gierung beschlossene Gesetzentwurf legt die weltweithöchsten Standards fest, zu denen Erdgasförderung inDeutschland in Zukunft stattfinden wird, und das ist einFortschritt.
Erdgas ist ein wichtiger Energieträger, nicht nur fürdie Wärme- und Stromerzeugung, sondern auch für diechemische Industrie. Das sieht man, wenn man die gro-ßen Investitionen der chemischen Industrie beobachtet,die nicht mehr in Europa getätigt werden, sondern in denUSA, weil dort das Erdgas, das durch die Anwendungdieser Technologie gefördert wird, sehr günstig ist. Des-halb gibt es auch für uns einen Grund, diese Technologieanzuwenden und sie nicht leichtfertig aufzugeben.Die Importabhängigkeit beträgt bei Erdöl 98 Prozent,bei Erdgas fast 90 Prozent – das wurde genannt –, beiSteinkohle, wenn wir das letzte Bergwerk 2018 schlie-ßen, 100 Prozent. Die Braunkohle ist der einzige heimi-sche, ohne Subventionen auskommende Energieträger,der für Preisstabilität sorgt. Deshalb müssen wir auch,was die Versorgung mit Energie angeht – Energie istWohlstand –, schauen, was national zur Verfügung steht,und dementsprechend Rahmenbedingungen schaffen.Seit den 50er-Jahren wird in Deutschland Erdgas ge-fördert. Der Wirtschaftsminister von Niedersachsen hatdazu hier einiges gesagt. Ich denke, die Horrorlandschaf-ten, die hier beschrieben werden, findet man in Nieder-sachsen eben nicht. Es gibt dort keine Mondlandschaf-ten.
Herr Kollege Westphal, darf die Kollegin Verlinden
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Westphal, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Sie haben gerade gesagt, wir müssten aufgrund
der Versorgungssicherheit die Importabhängigkeit, zum
Beispiel von Erdgas, verringern und aufgrund dieser
Thematik auch über Fracking in Deutschland reden. Ich
bin etwas verwundert, weil Ihre Parteikollegin Frau
Bundesumweltministerin Hendricks sowohl heute in ih-
rer Rede als auch öffentlich in Statements etwas anderes
verkündet. So heißt es zum Beispiel in einem Pressebrie-
fing des Ministeriums vom November 2014 wörtlich:
Erdgas-Fracking kann … in Deutschland keinen
substanziellen Beitrag zu unserer Energieversor-
gung leisten. Weder die Reduzierung unserer Ab-
hängigkeit von Energieimporten noch unsere Kli-
maziele werden wir durch den Aufbau einer
kostenintensiven Fracking-Infrastruktur erreichen.
Ich sehe einen gewissen Widerspruch zwischen dem,
was die Umweltministerin sagt, und dem, was Sie gerade
hier verkündet haben, nämlich dass wir aufgrund der Im-
portabhängigkeit und Versorgungssicherheit auch über
Fracking ernsthaft nachdenken müssten. Ich sehe das an-
ders, aber das habe ich schon in meiner Rede gesagt.
Mich würde interessieren, wie Sie zu diesem Wider-
spruch stehen.
Wir haben in Deutschland eine untergeordnete Be-hörde des Wirtschaftsministeriums, die Bundesanstaltfür Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, ansässig inHannover. Deren Präsident hat aufgrund geologischerErkenntnisse, die die Bundesanstalt bisher hat, prognos-tiziert, dass wir 1,3 Billionen Kubikmeter Erdgas imKohle- und Schiefergasvorkommen in Deutschland ha-ben könnten. Das weiß man natürlich nicht. Im Bergbausagt man: Vor der Hacke ist es duster. – Das heißt, wirmüssen erst einmal Probebohrungen ermöglichen undErkenntnisse sammeln, die uns auf der einen Seite dazuverhelfen, diese Technologie sicher anzuwenden, unddie uns auf der anderen Seite Klarheit darüber verschaf-fen, wie viel Vorkommen wir in Deutschland überhaupthaben und welchen Beitrag Erdgas leisten kann. Dannwerden wir auch sicher Klarheit darüber haben, ob dasein substanzieller Beitrag sein kann oder nicht.
Wie gesagt, seit den 50er-Jahren wenden wir dieseTechnologie an. Weil wir Befürchtungen haben, dass wirmit der Technologie in Kohle- und Schiefergasvorkom-men durchaus Risiken eingehen, wollen wir diese Tech-nologie wissenschaftlich begleitet anwenden. Ich glaube,dass wir auch in Deutschland eine Offenheit für solcheinnovativen Dinge brauchen, für Investitionen, die Un-ternehmen tätigen wollen, wobei wir gleichzeitig denSchutz von Umwelt und Natur gewährleisten müssen.Wir haben mehrere Gutachten vorliegen, die sich be-reits mit diesem Thema beschäftigt haben, übrigens aucherstellt im Auftrag des Umweltbundesamtes. Keines die-ser Gutachten kommt zum Ergebnis, dass wir, wie hierteilweise gefordert, Fracking verbieten sollten; es wirdvielmehr ausgeführt, dass es Risiken gibt, die man aberdurchaus beherrschen kann. Deshalb kommen auch Ver-bände wie der Bundesverband der Energie- und Wasser-wirtschaft – der BDEW ist also mit dabei – zu demErgebnis, dass wir bei der unkonventionellen Erdgasför-derung in Deutschland weiterhin zusätzliche Probeboh-rungen zulassen sollten.Wir haben nun strengere Regelungen, von denen ei-nige genannt worden sind, zum Beispiel für den Umgangmit der Frack-Flüssigkeit oder das Verbot wassergefähr-dender Stoffe. Wir haben eine Reihe von Gebieten inDeutschland ausgewiesen, wo die Anwendung dieserTechnologie ausgeschlossen wird, wir haben Umwelt-verträglichkeitsprüfungen in vielen Bereichen vorgese-hen, die es heute noch nicht gibt. Wir werden mit derunabhängigen Expertenkommission sicherlich Erkennt-nisse zusammentragen können, die auch uns als Bundes-tagsabgeordneten eine Entscheidungsgrundlage bietenkönnen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9799
Bernd Westphal
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Deshalb glaube ich schon – das hat auch MatthiasMiersch gesagt –, dass wir das Thema, vielleicht auchmit einem Parlamentsvorbehalt, dann noch einmal neubewerten können, wenn diese Erkenntnisse vorliegen.Auch im Bereich Lagerstättenwasser gibt es in dem Ge-setzentwurf erste Anzeichen, wie wir von den heutigendurchaus risikoreichen Anwendungen in kohlenwasser-stoffentspannten geologischen Formationen zu neuenEntsorgungswegen kommen können.Mein Fazit ist: Wenn der Grundwasserschutz gewähr-leistet ist, wenn wir schwierige Gebiete ausnehmen,kann konventionelle Erdgasförderung wieder an denStart gehen; wenn wir hohe Standards festlegen, wissen-schaftlich begleitete Probebohrungen vornehmen, habenwir die Chance, auf dieser Basis noch einmal neu zu ent-scheiden.Seneca hat einmal gesagt:Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sienicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sieschwierig.
Die Sozialdemokratie steht für Fortschritt und für Inno-vation; deshalb sollten wir – unter strengen Auflagen –auch dieser Technologie nicht entsagen.Vielen Dank und Glück auf.
Andreas Mattfeldt ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, dieGesetzentwürfe weisen in die richtige Richtung;
sie sind aber – das sage ich auch – noch weit davon ent-fernt, ich sage mal, perfekt zu sein.
Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Frau MinisterinHendricks, dass Sie angekündigt haben, dass Sie sehr of-fen sind für Verbesserungen.Leider wird die Debatte – das hören wir auch heute –um die Erdgasförderung nicht nur in der Öffentlichkeit,sondern auch hier bei uns, in diesem Hause, nahezu aus-nahmslos mit dem fast schon missbrauchten Begriff„Fracking“ geführt. Als jemand, der von der Erdgasför-derung ganz persönlich betroffen ist, kommt mir bei die-ser ganzen Diskussion die seit Jahrzehnten praktiziertekonventionelle Erdgasförderung viel zu kurz. Ichkomme aus einer Gemeinde, in der das wohl größte Erd-gasfördergebiet Deutschlands liegt. Ich sage ganz offen:Ich bin immer ein großer Verfechter des Bergens heimi-schen Erdgases gewesen. Ich sage auch: Bei uns in derRegion gab es immer eine riesige Akzeptanz für die Erd-gasförderung. Leider ist diese Akzeptanz durch negativeErfahrungen, die wir mit der Erdgasförderung gerade inder jüngeren Vergangenheit gemacht haben, verloren ge-gangen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ja, wir brauchenfür die Erdgasförderung dringend verschärfte, gute Ge-setze, die sich an den heutigen Stand der Technik anpas-sen, damit großflächige Umweltverschmutzungen, wieich sie in meiner Heimat, direkt vor meiner Haustür erle-ben musste, zukünftig vermieden werden.Ich sage aber auch: Wir dürfen nicht nur dem Begriff„Fracking“ hinterherjagen – das wäre viel zu kurzsichtigund löst langfristig die Probleme nicht. Weil wir die Pro-bleme langfristig lösen wollen, das Vertrauen in die hei-mische Erdgasförderung wiederherstellen wollen, enga-gieren sich zahlreiche Unionskollegen für erheblicheVerschärfungen im Bereich der Erdgasförderung.
Erst diese Woche hat die NRW-Landesgruppe die Forde-rungen unserer, ich sage mal, CDU-Erdgasgruppe zurVerschärfung der vorliegenden Gesetzentwürfe einstim-mig unterstützt. Was fordern wir als CDU-Erdgasgruppekonkret? Wir fordern eine oberirdische Aufbereitung desLagerstättenwassers durch die Technik der Ultrafiltra-tion. Wir fordern eine echte Beweislastumkehr, damitErdgas-Erdbeben-Geschädigte nicht wie bisher auf ih-rem finanziellen Schaden sitzen bleiben. Wir fordern,dass die willkürlich gegriffene 3 000-Meter-Grenze, diezwischen Schiefergas- und Tight-Gas-Förderung unter-scheiden soll, gestrichen wird. Wir fordern, dass auch imBereich der konventionellen Erdgasförderung eine stär-kere und vor allen Dingen eine frühere Bürgerinforma-tion stattfindet und auch eine Bürgerbeteiligung stattfin-det. Außerdem fordern wir eine Begrenzung derErprobungsmaßnahmen im Bereich der Schiefergasför-derung auf maximal acht Forschungsbohrungen. Ichsage hier auch, dass es nach Abschluss der Erprobungenkeinen Genehmigungsautomatismus geben darf,
sondern dass das ganz normale Genehmigungsverfahrenzu durchlaufen ist. Ich verrate auch kein Geheimnis,wenn ich sage, dass es bei uns viele Kollegen gibt,
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9800 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Andreas Mattfeldt
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die nach Abschluss dieser Erprobungsmaßnahmen einenParlamentsvorbehalt erwarten, bevor man überhauptüber eine kommerzielle Förderung nachdenkt.
Ich könnte jetzt noch zahlreiche weitere Details auffüh-ren, die wir als Union, übrigens auch gemeinsam, HerrKollege Miersch,
besprochen und verhandelt haben.
Aber ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit. Insofernmüssen Sie auf dieses Schmankerl verzichten.Unsere Gruppe hätte es für sinnvoll gehalten, liebeFrau Hendricks – Herr Gabriel ist leider nicht mehr da –,wenn Sie unsere Vorschläge, etwa zur Aufbereitung desLagerstättenwassers, schon vor der Kabinettsbefassungaufgegriffen hätten, gerade auch deshalb, weil ich weiß,dass es hierfür auch bei den Kollegen der SPD zahlrei-che Fürsprecher gibt.
Wenn ich schon von Lagerstättenwasser spreche,dann komme ich zu Ihnen, zu den Grünen. Meine liebenKollegen, Sie fordern ein Verpressverbot von nicht auf-bereitetem Lagerstättenwasser. Sie wissen, dass ich dieseForderung voll und ganz unterstütze. Aber wer die Grü-nen kennt, der weiß auch, wie die Grünen agieren, wennsie in Regierungsverantwortung wie zum Beispiel inNiedersachsen sind
und wenn 700 Millionen Euro Förderzins vielleicht sehrverlockend sind.
Anders als Sie von den Grünen hier im Bundestag unsdas glauben machen wollen, haben Sie in Regierungs-verantwortung keine Probleme mit der Verpressung.
Wenn ich Ihre Verbalakrobatik aus dem von Ihnen mitinitiierten niedersächsischen Bundesratsantrag einmalausblende, sagen Sie in diesem Papier im Klartext, dassSie befürworten, das giftige Lagerstättenwasser weiter-hin wie bisher zu verpressen,
weil – jetzt kommt es – dies für die Industrie am güns-tigsten ist. Dies ist grüne Politik in Regierungsverant-wortung, und das hört sich ganz anders an als die Töne,die Sie hier heute angeschlagen haben.
Lieber Kollege Lies, mir ist noch in Erinnerung, wieIhre Töne bei der Landtagswahl in Niedersachsen waren.Da hatten Sie ganz anders gesprochen. Hier war dieRede davon: links reden, rechts abbiegen. – Das war beiIhnen auch anders. Hören Sie sich einfach mal an, wasHerr Weil davor gesagt hat!
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Meine Da-
men und Herren, ich halte es für ganz wichtig, dass wir
jetzt verschärfte Bedingungen für die Erdgasförderung
bekommen. Die gültigen Gesetze reichen bei weitem
nicht aus. Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam die an-
stehenden parlamentarischen Beratungen nutzen, die
Gesetzeslage weiter zu verschärfen, damit wir in Zu-
kunft mit einer sicheren heimischen Erdgasförderung die
verloren gegangene Akzeptanz und das Vertrauen der
Bevölkerung wiederherstellen.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Mattfeldt, um das gleich am Anfang zu sagen: Estut mir ganz schrecklich leid, aber in dem Papier, vondem Sie immer reden – wir kennen es –, steht leidernicht so sehr viel.
Wir könnten uns jetzt hier einigen. Sie könnten jetzt hierzusagen, dass wir die Expertenkommission streichen, je-denfalls klarmachen: Experten sind gut, super – sie müs-sen uns beraten –, aber am Ende kann uns als DeutscherBundestag niemand abnehmen, die endgültige Entschei-dung zu treffen. Ob Fracking in Deutschland kommer-ziell genutzt wird, ja oder nein, das muss dieser Deut-sche Bundestag entscheiden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9801
Frank Schwabe
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Wir könnten hier im Deutschen Bundestag sofort eineEinigung darüber erzielen, dass wir das Erdgas genausobehandeln wie das Erdöl. Sie könnten sofort einschlagenund sagen: Da machen wir mit.
Wir könnten zum Beispiel sofort eine Einigung da-rüber erzielen, dass die Übergangsfrist von fünf Jahren,die jetzt im Gesetzentwurf beim Umgang mit Lagerstät-tenwasser vorgesehen ist, verkürzt wird, zum Beispielauf drei Jahre. Wenn Sie alle hier die Hand heben oderwenn alle nicken, könnten wir das in der Großen Koali-tion sofort so vereinbaren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, klipp und klar: Ichweiß heute nicht, ob Fracking für Deutschland eineOption sein kann oder nicht. Ich sage allerdings auchklipp und klar: Ökonomische Chancen sind damit ver-bunden, aber sie sind meines Erachtens nicht so groß,dass ich jetzt alle Zweifel beiseitelasse und sage: Wirmüssen ein Gesetz machen, um Fracking in Deutschlandsofort zu ermöglichen.
Deswegen ist es gut, dass die beiden Ministerien einenGesetzentwurf erarbeitet haben – Herr Nüßlein ist daraufzu Recht eingegangen – und wir das geschafft haben,was Sie in der Koalition mit der FDP leider nie geschaffthaben, nämlich zumindest ein beratungsfähiges Geset-zespaket auf den Tisch zu legen.Noch einmal: Wir können heute nicht sicher sein, wiees mit der Belastung von Mensch und Umwelt ist.
Es gibt ganz aktuell in den USA die Diskussion über Ra-donbelastungen und Ähnliches. Herr Pfeiffer, wenn Siees einmal googeln, finden Sie zuhauf Probleme für dieUmwelt in den Vereinigten Staaten. Wir wissen es alsoheute nicht genau. Deswegen können wir heute nichtendgültig sagen, ob es Fracking im Schiefergestein inDeutschland geben soll oder nicht.
Absolutes Lob – da schließe ich mich Herrn Nüßleinan – für das Umweltministerium und für das Wirt-schaftsministerium, weil wir eine Regelung vorgelegtbekommen haben, wie wir sie im Deutschen Bundestagbisher noch nie vorgelegt bekommen haben. Allerdings,Herr Nüßlein, war ein Lob vergiftet: Sie haben dieMinisterien für die Idee der Expertenkommission gelobt.Sie wissen doch ganz genau, dass die Idee der Experten-kommission im Bundeskanzleramt entstanden ist.
Sie können die Sozialdemokratie nicht für die Kommis-sion in Haftung nehmen.Ich will es klipp und klar sagen: Ich halte eine solcheKommission für eine aberwitzige Konstruktion. Exper-ten sind dafür da, uns zu beraten. Aber wir Abgeordnetekönnen doch nicht unsere Verantwortung an der Garde-robe des Deutschen Bundestages abgeben.
Am Ende müssen wir doch vor die Wählerinnen undWähler, vor die Bürger in diesem Land treten und sagen,ob es Fracking in einer kommerziellen Art und Weisegeben wird – ja oder nein.Was wir erreicht haben – ich muss aufpassen, wie ichdas formuliere –, ist, dass wir uns in einer Diskussionüber deutliche Verbesserungen im Bereich der konven-tionellen Erdgasförderung befinden. Darum hat sich inder Tat kaum jemand gekümmert. Sie, Frau Jantz, HerrMöring und andere in diesem Hause, haben sich in IhrenWahlkreisen darum gekümmert, aber den DeutschenBundestag hat dieses Thema bisher nicht richtig erreicht.Jetzt hat es den Deutschen Bundestag erreicht. Es ist gut,dass es dazu so weitgehende Regelungen geben soll, wiees sie noch nie gab. Da wollen wir ran. Ich habe es ge-rade schon gesagt: Wir wollen mit Ihnen gemeinsam inden Gesetzentwürfen Verbesserungen im Bereich derHaftung für Erdbeben verabreden. Wir wollen im Be-reich des Lagerstättenwassers Verbesserungen verabre-den. Wir wollen auch, dass das Erdöl in das Gesetzespa-ket miteinbezogen wird.
Insofern haben wir hier eine gute Grundlage. Ich sagefür die SPD: Wir wollen, dass das Struck’sche Gesetzzur Anwendung kommt und wir eine gute Vorlage imparlamentarischen Verfahren noch besser machen. Wirbauen darauf, dass das in der Großen Koalition sehr kon-struktiv gelingt.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich die Debatte, die wir gerade geführt haben, jetztmal Revue passieren lasse, dann wundert mich das eineoder andere ganz erheblich. Herr Zdebel, mich beein-druckt schon Ihre Unterstützung für den Import von Gasaus Russland, die Sie hier zum Ausdruck gebracht ha-ben. Sie arbeiten mit Formulierungen, von denen Sie ei-gentlich wissen müssten, dass sie unzutreffend sind.Wenn Sie in Ihren Antrag schauen, dann sehen Sie, dassam Ende des ersten Absatzes steht – Stichwort „Frack-Fluid“ –:Dabei wird eine mit gefährlichen Chemikalien ver-setzte Flüssigkeit mit hohem Druck in die Tiefe ge-pumpt …
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9802 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Karsten Möring
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– Nein. Im Gesetzentwurf steht: nicht wassergefähr-dende Gemische oberhalb von 3 000 Metern Tiefe,schwach wassergefährdende Gemische unterhalb von3 000 Metern Tiefe.
– Ach, liebe Frau Verlinden, worauf kommt es denn an?Wenn Sie sich zu Hause ein Glas Wasser nehmen undzwei Teelöffel Salz hineintun, dann ist das giftig,
und wenn Sie zwei Krümel hineintun, dann haben Sieeine Geschmacksverbesserung. Es kommt darauf an,dass die Stoffe, die wir einbringen, nicht wassergefähr-dend oder nur schwach wassergefährdend sind. Das istder entscheidende Punkt.
Das, was Sie betreiben, nenne ich Volksverdummung.
– Herr Krischer, wer schreit, vertraut seinen Argumentennicht – ganz einfach.
Ich gehe nur auf einen Aspekt ein, den Sie in IhrerRede vorgetragen haben. Wie kommen Sie als jemand,der sich für weltweiten Klimaschutz engagiert, eigent-lich dazu, einen so verengten Blick auf Deutschland al-lein zu fassen? Sie wissen doch ganz genau: Wir impor-tieren 37 Prozent unseres Gases aus Russland. Ich willdas Thema Versorgungssicherheit überhaupt nicht an-sprechen; aber Sie wissen doch, unter welchen Bedin-gungen in Russland Gas gefördert wird. Sie wissenauch, wie viel Gas in den Pipelines auf einer Strecke von5 000 Kilometern verloren geht. Das, was dort an Me-than in die Atmosphäre entweicht, ist ein Mehrfachesvon dem, was bei einer Förderung hier bei uns, mit unse-ren Umweltstandards, entweichen würde.
Das nenne ich eine verengte Sichtweise, die Ihrem An-spruch im Bereich des Klimaschutzes nicht gerecht wird.Das sollten Sie sich wirklich noch mal überlegen.Frau Bulling-Schröter, Sie haben gesagt, ein Nein seider erste Schritt zur Freiheit; das habe ich noch nie ge-hört. Sie sagen: Nein, wir bauen keine Autobahnen, nein,wir bauen keine Infrastruktur, nein, wir bauen keine In-dustrieanlagen, nein, die Grundlagen für unseren Volks-wohlstand wollen wir nicht. Das ist kein erster Schrittzur Freiheit, sondern ein Schritt in eine Sackgasse. Sol-che Formulierungen reichen nicht, Sie müssen schon mitArgumenten kommen.
Sie werfen der Koalition und den entsprechendenMinisterien vor, dass im vorliegenden Gesetzentwurf nurvon Trinkwasser die Rede ist, und haben als Beispiel dieBrauereien genannt; Herr Nüßlein hat bereits auf diebayerischen Brauereien hingewiesen. Vielleicht habenSie den Gesetzentwurf nicht gelesen; denn im Gesetz-entwurf steht ausdrücklich, dass Länder die Möglich-keit bekommen, Trinkwasserbrunnen, Mineralbrunnenund Heilquellen zu schützen.
Am Rande bemerkt: Das meiste Wasser, das zum Brauenvon Bier verwendet wird, kommt nicht aus Brunnen,sondern aus der Wasserleitung. Alles andere ist Marke-ting.
Gestern hat Herr Müller, Co-Vorsitzender der Endla-ger-Kommission, den wichtigen Satz gesagt: Die Politi-ker müssen mehr in Zusammenhängen denken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, IhrProblem im Umgang mit diesem Thema besteht darin,dass Sie nur in Schwarz-Weiß, nur in Entweder-Oderdenken. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie ein Fra-cking-Verbot fordern.
Weder die SPD noch die CDU/CSU haben versprochen:Wir verbieten Fracking in Deutschland. Wir haben in un-serem Koalitionsvertrag wichtige Vereinbarungen ge-troffen, an die wir uns halten. Die wichtigste lautet:„Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absolutenVorrang“. Wir wollen einen Wandel: weg von den der-zeit riskanten Förderverfahren – wenngleich es in denletzten 50 Jahren zu keinen größeren Unfällen gekom-men ist –, hin zu erheblich sichereren Verfahren. Denn esgilt nach wie vor: Die Sicherheit hat Vorrang vor wirt-schaftlichen Interessen.Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass wirbeim Frack-Fluid nur nicht wassergefährdende oderschwach wassergefährdende Gemische zulassen, aberSie sprechen immer noch von giftigen Gemischen. Dasist irreführend. Wir haben aber nicht nur im BereichFluid einiges getan. Wir haben eine ganze Reihe zusätz-licher Maßnahmen getroffen. Wir ermöglichen es denLändern beispielsweise, die Ausschlussgebiete unter be-stimmten Umständen auszuweiten. Außerdem gilt nach
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9803
Karsten Möring
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wie vor der Besorgnisgrundsatz gemäß Wasserhaushalts-gesetz.Man sieht: Wir haben an dem vorliegenden Gesetz-entwurf mit Hosenträger und Gürtel gearbeitet. Dem Be-sorgnisgrundsatz wird Rechnung getragen, es werdenzusätzliche Ausschlussgebiete in einem erheblichen Um-fang vorsehen. Das ist eine doppelte Sicherung, geradeweil wir die Bedenken aus der Bevölkerung ernst neh-men. Dazu gehört auch die Einführung der UVP-Pflichtfür die Form von Förderung, die wir seit zig Jahren be-treiben, zum Beispiel für das konventionelle Fracking.
– Streiten wir uns nicht über Worte; wir wissen dochalle, was gemeint ist.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/4713, 18/4714 und 18/4810 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Wir haben jetzt noch unter Tagesordnungspunkt 3 düber die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürWirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Urteil des Bundesver-fassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz un-verzüglich reformieren“ zu entscheiden. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/1124, diesen Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Hallo? Es wäre ganz gut, wenn sich dereine oder andere an der Abstimmung beteiligte.
– Auf besonderen Wunsch meines Fraktionsvorsitzen-den rufe ich jetzt noch einmal die Abstimmung über dieBeschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses auf,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/848 abzulehnen. Wer stimmt dieser Be-schlussempfehlung zu? – Wer ist dagegen? – Wer enthältsich? – Die Mehrheitsverhältnisse waren übersichtlich.Damit ist diese Beschlussempfehlung angenommen.Wir kommen jetzt zu unserem Tagesordnungspunkt 4sowie dem Zusatzpunkt 2:4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischenDeutschland und Israel: Eingedenk der Ver-gangenheit die gemeinsame Zukunft gestaltenDrucksache 18/4803
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten OmidNouripour, Marieluise Beck , VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN50 Jahre deutsch-israelische diplomatischeBeziehungen – Einmaligkeit und Herausfor-derungDrucksache 18/4818Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchfür diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Das istoffenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfah-ren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wortdem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-WalterSteinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ganz besonders dürfen wir heute Gäste aus Israel begrü-ßen. Herzlich willkommen hier in Berlin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele werden sicherinnern: An diesem Pult stand vor fünf Jahren PräsidentSchimon Peres. Er erzählte die Geschichte seines gelieb-ten Großvaters Rabbi Meltzer. Er berichtete von demTag, als die Nationalsozialisten in die Stadt Wiszniewo,heute in Weißrussland gelegen, eingedrungen waren undalle Juden gezwungen hatten, in die Synagoge zu gehen.Der Rabbi ging seiner Gemeinde voran. Er trug densel-ben Gebetsmantel, in den sich der kleine Schimon ankalten Tagen eingehüllt hatte. Angekommen in der Sy-nagoge verriegelten die Nazis die Türen. Die Synagogewurde angezündet. Und von der gesamten Gemeindeblieb nur glühende Asche.Schimon Peres hielt vor fünf Jahren, am Holocaust-Gedenktag, hier in diesem Plenarsaal ein, wie ich es inErinnerung habe, berührendes Plädoyer gegen das Ver-gessen. Zugleich sprach er von der – so seine Worte da-mals – „einzigartigen Freundschaft“ zwischen Deutsch-land und Israel. Über dem Abgrund der Vergangenheithat Israel, das Land der Opfer, dem Land der Täter dieHand gereicht, und gemeinsam haben wir, Deutschlandund Israel, eine Brücke der Freundschaft gebaut. Dassdiese Freundschaft gelingen konnte, ist, wie ich finde,nicht weniger als ein Wunder. Dafür dürfen insbesonderewir Deutsche glücklich und dankbar sein, und das nichtnur an Gedenktagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn wir nächste Woche das 50-jährige Bestehen un-serer diplomatischen Beziehungen feiern, dann feiernwir eine Freundschaft, die sich zu Kriegsende vor 70Jahren wohl niemand hätte vorstellen können. Heuteaber, drei Generationen später, leben unsere Kinder dieseFreundschaft ganz selbstverständlich mit Freude und mitNeugier. Deshalb ist dieses Jubiläum viel mehr als einpolitischer Meilenstein. Deutsche und Israelis sind ei-nander im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewach-sen. Nicht alle Geschichten dieser Freundschaft kann ichheute würdigen. Lassen Sie mich deshalb stellvertretendnur drei persönliche Schlaglichter auf die Geschichtewerfen, um deutlich zu machen, wie kostbar das ist, waswir heute feiern.Meine Mutter wurde in Breslau geboren – damals einZentrum des jüdischen Lebens, die Stadt von Fritz Sternund Ignatz Bubis etwa. Beide mussten – viele Tausendemit ihnen – als Kinder mit ihren Familien vor dem Hassund Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen. ZehnJahre später musste auch meine Mutter mit denen, dievon der Familie übrig geblieben waren, fliehen, nunmehrvor dem Krieg, den die Nazis über die Welt gebracht hat-ten und der sich gegen diejenigen gewendet hatte, dieihn ausgelöst haben. Vor einem halben Jahr war ich inBreslau zu Gast in der renovierten Synagoge. Dort durfteich die erste Ordinierung junger Rabbiner seit dem Kriegmiterleben – Rabbiner, die hier in Berlin und in Potsdamausgebildet worden waren. Diese vier jungen Geistli-chen standen dort, wie ich finde, als lebendiges Zeugnis,dass heute jüdisches Leben wieder aufblüht – in Europaund bei uns in Deutschland. Darüber sollten nicht nur Ju-den sich freuen. Das bereichert uns alle, liebe Kollegin-nen und Kollegen, weit über den Gedenktag hinaus.
Das zweite Schlaglicht, an das ich mich erinnere, fälltin mein 18. Lebensjahr: der erste Besuch eines deut-schen Bundeskanzlers in Israel. Damals, als WillyBrandt nach Jerusalem ging, knirschte noch der Bodenunter jedem Schritt. Man beäugte sich vorsichtig. JederSchritt wollte behutsam gesetzt sein. Es gab großesMisstrauen gegenüber einem Neubeginn mit dem Täter-volk. Heute gehören deutsch-israelische Besuche zu un-serem festen politischen Alltag. Wir sitzen sogar mit bei-den vollständigen Regierungsmannschaften einmal imJahr um einen großen Tisch herum, planen Projekte, de-battieren, es wird gelacht, auch gestritten – ernsthaft undehrlich, so wie gute Freunde das eben tun. Die mutigepolitische Saat von Ben-Gurion und später KonradAdenauer – sie ist aufgeblüht, und sie trägt Früchte, auchüber unsere eigenen Grenzen hinaus, wenn wir uns zumBeispiel in den internationalen Foren gemeinsam gegenAntisemitismus und Rassismus einsetzen.Das dritte Schlaglicht, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, fällt auf die Generation unserer Kinder. Ich denkean mein eigenes, aber auch an die Kinder meiner israeli-schen Kollegen. Für unsere Kinder ist die deutsch-israe-lische Begegnung ein ganz selbstverständlicher Teil ih-rer Welterkundung geworden. Tel Aviv und Berlinziehen junge Leute an als Magneten der Moderne. JungeDeutsche steigen in Tel Avivs boomende Start-up-Szeneein. Sie studieren in Jerusalem oder leisten ein Freiwilli-ges Soziales Jahr. Umgekehrt kommen junge Israelisnach Berlin. Sie tauchen ins Kunstleben ein, sie eröffnenRestaurants, starten neue Businessideen. Sie erkundenauch die Spuren ihrer Großeltern und Urgroßeltern, alljener, denen unter den Nazis unsägliches Leid geschah.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9805
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Geschich-ten zeigt sich das menschliche Wunder der deutsch-is-raelischen Beziehungen. Die Freundschaft ist ebenlängst keine diplomatische Eliteveranstaltung mehr.Diese Freundschaft ist getragen von Menschen. Sie ist intausend Facetten des Alltags lebendig, und genau dasmacht sie so stark, genau das macht sie so unverzichtbar.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bewahren,was da in den letzten 50 Jahren gewachsen ist!
Der Blick zurück über diese 50 Jahre schärft zugleichden Blick nach vorn, eröffnet uns einen „Horizont derHoffnung“; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dassDeutschland und Israel nach dem unsagbaren Grauen derVergangenheit der Weg zur Freundschaft gelungen ist,das sendet, wie ich finde, auch eine ganz kraftvolle Bot-schaft, eine Botschaft von Verständigung und Versöh-nung, die leuchten kann in dieser Welt, die nach wie vorvoller Gegensätze, voller Hass und leider ohne Friedenist. Präsident Peres sprach hier im Deutschen Bundestagvor fünf Jahren von diesem „Horizont der Hoffnung“und sagte:Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräu-eltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Au-gen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jun-gen Menschen, in der es keinen Platz für Hassgibt …Wer heute auf den Zustand der Welt blickt, gerade aufdie so unfriedliche Nachbarschaft von Israel, der magdiese Hoffnung naiv nennen. Wer aber auf die deutsch-israelische Freundschaft blickt und sich erinnert, auswelch finsterem Tal sie emporgewachsen ist, der sieht,dass Hoffnung nicht Ausdruck von Naivität sein muss –ganz im Gegenteil! Wer das einsieht, der muss sich dieBotschaft von Verständigung und Versöhnung, die indieser Freundschaft steckt, auch zu Herzen nehmen, sienicht nur mit Worten feiern, sondern sie, wo immer mög-lich, in die Tat umsetzen. Das heißt eben, dass wir hierbei uns zu Hause aufstehen müssen gegen jegliche Formvon Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass. Alldas darf keinen Platz in dieser Gesellschaft finden – niewieder!
Das heißt eben auch, dass wir uns für Frieden für Is-rael und seine Nachbarn einsetzen. Israels Sicherheit istfür Deutschland historisches Gebot und unverbrüchli-cher Teil unserer Freundschaft. Und wir glauben: Nach-haltige Sicherheit für das jüdische und demokratische Is-rael wird es nicht ohne einen lebensfähigen unddemokratischen palästinensischen Staat geben. Und des-halb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstüt-zen. Dabei gilt für mich, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Meinungsunterschiede und die dazugehörende Ehr-lichkeit hält eine gute Freundschaft aus. Umso mehr aberwehre ich mich dagegen, wenn unsere Freundschaft inmanchen öffentlichen Debatten einzig auf diese Mei-nungsunterschiede im Nahostkonflikt reduziert wird.Darum geht es nicht.
Israels Sicherheitsbedürfnis haben wir auch im Blick,wenn die Partner der E3+3 mit dem Iran über den Nukle-arkonflikt verhandeln. Klar ist: Am Ende wird nur eineVereinbarung unterschrieben, die mehr Sicherheit für Is-rael bedeutet – und nicht weniger. Zugleich steckt auchin diesen Verhandlungen, wie ich finde, die Botschaftder Verständigung. Wenn es uns gelingt, Mitte diesesJahres das Abkommen zu schließen, dann setzen wir we-nigstens ein Hoffnungszeichen, das auf die vielen ande-ren Konfliktherde im Mittleren Osten ausstrahlenkönnte. Auch für diese könnte man vielleicht ähnlicheLösungen suchen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch unsere Gene-ration, die das deutsch-israelische Wunder hat wachsensehen, wird den von Schimon Peres gezeichneten „Hori-zont der Hoffnung“ nicht erreichen können. Die Weltohne Hass, die Schimon Peres entworfen hat, ist leidernoch weit weg. Aber wir geben seine Vision weiter aneine starke, optimistische Generation von jungen Israelisund Deutschen, eine Generation, die in allen Gesell-schaftsbereichen, von Wirtschaft bis Kultur, miteinanderverbunden ist, eine Generation, die kritische Fragenstellt – an die Politik der eigenen und der jeweils ande-ren Regierung; auch das gehört dazu –, vor allem abereine Generation, die neugierig aufeinander und auf dieWelt ist, die international denkt und international lebt.Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich:So unfriedlich die Welt heute auch sein mag, unseredeutsch-israelische Hoffnung auf Versöhnung und Ver-ständigung war nicht naiv, und sie wird es auch morgennicht sein.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Nächster
Redner in der Debatte: Dr. Gregor Gysi für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jü-dische Diaspora begann in der Folge gescheiterter Auf-stände vor fast 2 000 Jahren. Über diesen langen Zeit-raum hinweg hat sich diese Volksgruppe erhalten.Häufig werden Bevölkerungen, wenn sie vertrieben wer-den, in andere Bevölkerungen anderer Länder so inte-griert, dass sie als eigene ethnische Gruppe mit eigenerKultur nicht bestehen bleiben. Dass die Jüdinnen und Ju-den über 2 000 Jahre, im Unterschied zu vielen anderenaus der Antike bekannten Völkern, ihre Identität bewah-ren konnten, liegt auch und gerade an der jüdischen Reli-gion.In christlich und muslimisch geprägten Staaten bilde-ten Jüdinnen und Juden immer eine besondere Gruppe,
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9806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Gregor Gysi
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die entweder genutzt oder verfolgt wurde. Ich konzen-triere mich hier auf Europa.Bestimmte Dinge waren für die Jüdinnen und Judenverboten, zum Beispiel der Kauf von Grund und Bodenund anderen landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, dasErgreifen vieler bürgerlicher Berufe. Da sie lange Zeit we-der Richter noch Staatsanwälte werden durften, wurdensie halt clevere Rechtsanwälte. Anderes war ihnen im Un-terschied zu den Christinnen und Christen erlaubt. Sodurften zu bestimmten Zeiten nur sie Geld verleihen undZinsen einnehmen. In der im Frühkapitalismus ausgebil-deten Finanzsphäre konnten zunächst nur Juden Bankengründen; die anderen wurden ihre Schuldner. Alles Unbe-hagen am aufkommenden Kapitalismus ließ sich auf diesogenannten jüdischen Bankiers projizieren. Natürlich ha-ben die christlichen Kirchen irgendwann nachgezogenund auch den Christinnen und Christen Finanzgeschäfteerlaubt, aber ein wesentliches weiteres Element des Anti-semitismus war schon in der Welt.Interessant ist, dass es unter den herausragendenKünstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern und Schriftstellerinnen und Schriftstel-lern wirklich viele Menschen jüdischer Herkunft gabund bis heute gibt. Vielleicht besteht auch hier ein Zu-sammenhang zur Sonderstellung und Ausgrenzung. Jü-dinnen und Juden hatten nur dann eine Chance, wenn siedoppelt so viel leisteten. Auch nicht unterschlagenmöchte ich ihre Kultur der Auslegung traditionellerTexte und die Tatsache, dass sie bis in die Frühmodernehinein islamische Universitäten besuchen durften, dieChristen dagegen nicht. Die Juden hatten so einen An-schluss an die Vermittlung des damals fortschrittlichenWissens. Heute sind die kulturellen, künstlerischen undwissenschaftlichen Leistungen in Israel gut, aber nichtmehr einzigartig. Ich werte das als Ausdruck einer Nor-malisierung des jüdischen Lebens in Israel.Die in vielerlei Hinsicht bestehende Sonderstellungder Jüdinnen und Juden in Europa und in Deutschland infrüherer Zeit hat auch dazu beigetragen, sie zu Sünden-böcken für alles Mögliche zu deklarieren. Man musstenicht einmal Antisemit sein, um eine Minderheit zurProjektionsfläche für Schuld, Versagen und gesellschaft-liche Fehlentwicklung zu machen, um von eigener Ver-antwortung abzulenken und bzw. oder Konkurrentenauszuschalten.Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden bis heuteprägen, sind die Möglichkeiten des Aufstiegs und der In-tegration und gleichzeitig die jederzeit mögliche Diskri-minierung, schwere Verleumdung und Verfolgung. Imzaristischen Russland kam es immer wieder zu schwerenPogromen. Fälschungen wie die Protokolle der Weisenvon Zion wurden in Umlauf gebracht. Aber auch in denanderen Ländern Europas kam es zu gravierenden anti-semitischen Vorfällen wie zum Beispiel bei der Dreyfus-Affäre. Das bildet auch den Hintergrund für die Entste-hung der zionistischen Bewegung unter Theodor Herzl.Der Grundgedanke dieser Bewegung war, dass die bür-gerlichen Emanzipationsversprechen für Jüdinnen undJuden in gesicherter Weise nur dann erfüllbar sein wer-den, wenn es gelingt, einen eigenen Nationalstaat zu bil-den.Für viele osteuropäische Jüdinnen und Juden war ge-rade Deutschland ein Einwanderungsland. Seit 1819 gabes keine pogromartigen Unruhen mehr in Deutschland.Deshalb galt dieses Land als eines der am wenigsten an-tisemitischen Länder Europas. Umso bestürzender er-scheint daher die Machtergreifung der Nazis, die aus ih-rem extremen Antisemitismus keinen Hehl machten. Dervon den Nationalsozialisten organisierte Völkermord anden Jüdinnen und Juden weist einen Doppelcharakterauf. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auf denrationalen Verwaltungsstaat und die rationalen Organisa-tionsformen der Industrie zurückgegriffen, um ein grau-sames Vernichtungswerk zu verrichten. Dabei war je-doch andererseits ein ideologischer Fanatismuswirksam, der irrational war. Und was für eine Vernunftsoll auch einem reinen Vernichtungsziel zugrunde lie-gen? – Diesem Ziel waren sogar sowohl die ökonomi-sche als auch die militärische Rationalität untergeordnet.Es ist beispielsweise überliefert, dass ein für die Krieg-führung in Griechenland benötigtes deutsches Schiffstattdessen für die Deportation von 200 Jüdinnen und Ju-den nach Auschwitz genutzt wurde.Freilich war der Vernichtungswille des NS-Regimesnicht von Anbeginn in seiner vollen Brutalität ausge-prägt. Lange versuchten die Nazis, Jüdinnen und Judenzur Auswanderung zu nötigen und deren Eigentum zustehlen. Nach der Reichspogromnacht markierte dannaber die Wannseekonferenz den Übergang zum Holo-caust, zum industriellen Massenmord. Auch die mit demHolocaust verbundenen beispiellosen Verbrechen an denJüdinnen und Juden haben die UNO dazu motiviert, dieStaatsgründung Israels zu beschließen. Nicht wenigeslässt sich am Zionismus auch kritisieren. Aber zu seinerEntstehung hat der Jahrhunderte anhaltende Antisemitis-mus deutlich beigetragen.Unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel er-klärten mehrere arabische Staaten Israel den Krieg. Mili-tärhilfe erhielten die Israelis damals nur von der Sowjet-union und der Tschechoslowakei. Erst später ändertesich dies, und die USA wurden zum engsten Verbünde-ten Israels. Man muss wissen: Nur ein jüdischer Staat,erst recht einer mit einflussreichen Verbündeten, kannden Jüdinnen und Juden einen wirksamen internationa-len Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung bieten.
Es ist ein großer Unterschied, ob ein Vertreter einer Inte-ressenorganisation eine Beschwerde vorträgt oder ob einStaat dies tut. Deshalb sage ich gerade heute und deut-lich allen israelischen Bürgerinnen und Bürgern: Auchdie Palästinenserinnen und Palästinenser haben dasRecht auf einen eigenen Staat, auf ihren internationalenSchutz.
Die Besetzung der palästinensischen Gebiete mussaufgegeben werden. Ein lebensfähiger Staat Palästina
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9807
Dr. Gregor Gysi
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muss in den Grenzen von 1967 gebildet werden. Daskann die Basis für Gebietsaustauschverhandlungen sein.Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahuverhält sich leider nicht sonderlich hilfreich. Mal heißtes, mit ihm werde es keinen palästinensischen Staat ge-ben; dann jedoch sagt er das Gegenteil. Das ist nicht ver-trauensbildend, auch nicht der Siedlungsbau und die ab-sichtsvollen Demütigungen von Palästinenserinnen undPalästinensern in den besetzten Gebieten.Es gibt Ziele und Methoden der palästinensischen Ha-mas, die wir selbstverständlich eindeutig ablehnen.Dass die Bundesrepublik Deutschland vor 50 Jahrendiplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufnahm,war richtig und wichtig.
Das trug auch dazu bei, die Bundesrepublik innerhalbder internationalen Staatengemeinschaft zu etablieren.Die DDR hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, diplomati-sche Beziehungen zu Israel aufzubauen. Das war ange-sichts des Erbes der deutschen Vergangenheit falsch.
Auf dem Sonderparteitag der SED 1989 habe ich erklärt,dass die DDR diplomatische Beziehungen zu Israel her-stellen solle. Das wurde mit großem Applaus aufgenom-men. Es hatte sich in der DDR auch diesbezüglich etwasverändert, ein schlechtes Gewissen ausgeprägt.Wir müssen für enge und gute politische, wirtschaftli-che, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Is-rael eintreten. Wichtig ist der wachsende Jugendaus-tausch über ConAct.Es gibt für Deutschland jedoch nicht nur eine beson-dere Verantwortung gegenüber den Jüdinnen und Juden,sondern auch gegenüber den Palästinenserinnen und Pa-lästinensern; denn sie bezahlen auch für die von Deut-schen begangenen Verbrechen. Wir alle wollen Sicher-heit für Israel. Aber diese Sicherheit wird es nicht geben,wenn der Konflikt mit den Palästinenserinnen und Paläs-tinensern nicht dauerhaft beendet wird. Deshalb wün-sche ich mir mehr Leidenschaft meiner Regierung imKampf um einen palästinensischen Staat.
Zur Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel undPalästina gibt es nur drei Möglichkeiten:Bei der ersten Möglichkeit bildeten Jüdinnen und Ju-den sowie Palästinenserinnen und Palästinenser einengemeinsamen demokratischen Staat. Dann gäbe es einepalästinensische Mehrheit. Es wäre also kein jüdischerStaat mehr. Die Möglichkeit zum internationalen Schutzvon Jüdinnen und Juden wäre deutlich eingeschränkt.Die zweite Möglichkeit bestünde in einem gemeinsa-men Staat, der aber, um jüdischer Staat zu bleiben, einApartheidregime schüfe, in dem die Palästinenserinnenund Palästinenser deutlich weniger Rechte hätten. Einsolcher Staat wäre höchst undemokratisch und muss ver-hindert werden.Es kann daher – dritte Möglichkeit – nur eine anzu-strebende demokratische Lösung geben: die Zwei-Staa-ten-Lösung.Meine Generation wurde geprägt durch die Erinne-rung an die Verbrechen gegen die Jüdinnen und Juden.Es gibt eine schwer zu fassende Vorsicht, Hemmungenim Umgang mit Jüdinnen und Juden, auch schlechtesGewissen. Vielleicht vermag die heutige Jugend wesent-lich gleichberechtigtere Haltungen zu entwickeln. Schondeshalb sollte meine Generation ihre Beklemmungennicht auf die Jugend übertragen. Es wäre gut, wenn dieheutige Jugend weiter ist, als meine Generation seinkann. Menschenrechte müssen gleichermaßen für Jüdin-nen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser,Deutsche und alle anderen gelten.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eige-nen Landes muss es gerade bei uns immer geben. DieseVerantwortung hat jede Generation. Deshalb wünscheich mir, dass jede und jeder Deutsche, wenn es irgendwiemöglich ist, einmal im Leben Auschwitz, einmal im Le-ben Israel und einmal im Leben Palästina, das heißt dasWestjordanland und den Gazastreifen, besucht. Antise-mitismus müssen wir in jeder Form immer wieder undentschieden zurückweisen. Das gilt ebenso für jedeForm des Rassismus.50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel sindmehr als erfreulich. 20 000 Israelis leben inzwischen inBerlin, eine nach den Naziverbrechen kaum vorstellbareund deshalb besonders zu begrüßende Entwicklung.Aber es wird höchste Zeit, auch zu Palästina diplomati-sche Beziehungen auf höchster Ebene und darüber hi-naus auch auf allen anderen Gebieten aufzunehmen. Dasschwächt nicht unsere Beziehungen zu Israel – im Ge-genteil!
Vielen Dank, Gregor Gysi. – Nächster Redner in der
Debatte: Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wenn man heute über das Verhältnis vonDeutschland und Israel spricht, scheint alles ganz normalzu sein. Aber man kann auch heute, 50 Jahre nach Auf-nahme diplomatischer Beziehungen, gar nicht genug er-messen, was vor 50 Jahren tatsächlich geschehen ist.Richtig ist, dass das Nachkriegsdeutschland, das sich ineine moderne Demokratie hinein entwickelnde Deutsch-land, Beiträge dazu geleistet hat – Konrad Adenauer und
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Volker Kauder
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andere – und auf Israel zugegangen ist. Diese Beiträgewaren aber nicht entscheidend dafür, dass wir zu einemneuen Verhältnis mit Israel gekommen sind. Entschei-dend war etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares undaus unserer Sicht Wunderbares, nämlich dass die Judenund der Staat Israel uns die Hand ausgestreckt haben unduns gesagt haben: Wir wollen mit euch einen neuen An-fang wagen.
Der Dank gilt daher heute, an diesem Tag, da wir diesesJubiläum feiern, dem Staat Israel und den Juden, die aufdas Tätervolk zugegangen sind. Das dürfen wir nichtvergessen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war vor50 Jahren auch nicht einfach. Wenn man sich die Dis-kussionen, die damals stattgefunden haben, anschaut,stellt man fest, dass das Näherzusammenrücken vonDeutschland und Israel höchst umstritten war – in Israelund in Deutschland. Es bedurfte mehr mutiger Men-schen in Israel, um den Weg so zu ebnen, dass gesagtwerden konnte: Wir wollen es versuchen. – Für uns wardas vergleichsweise leichter. Auch deshalb sind wir den-jenigen dankbar, die sich trotz der Geschehnisse im Drit-ten Reich wieder in Deutschland angesiedelt haben undhier, in diesem Land, Heimat gesucht und gefunden ha-ben. Daraus resultiert eine ganz besondere Verantwor-tung.Es ist etwas Großartiges, dass wir wieder jüdischesLeben in Deutschland haben, aber es ist beklemmend,wenn Juden uns erzählen, dass sie Angst haben, sich inbestimmten Regionen, in bestimmten Gebieten als Judenzu erkennen zu geben. Meine sehr verehrten Kollegin-nen und Kollegen, so etwas darf es in diesem Land nichtgeben! Dagegen müssen wir uns entschieden wehren!
Für mich ist es beklemmend und schlimm genug, dassdie Synagoge in der Oranienburger Straße, das JüdischeMuseum und verschiedene andere Einrichtungen in un-serem Land durch die Polizei geschützt werden müssen.Aber es ist noch viel beklemmender, wenn wir erlebenmüssen, dass Juden, die sich als Juden zu erkennen ge-ben, in unserer Hauptstadt das Risiko eingehen, überfal-len und verprügelt zu werden, wie es in der Oranienbur-ger Straße immer wieder geschehen ist. Das darf einfachnicht passieren.Ich kann auch verstehen, dass Juden fassungslos da-rüber sind, dass die israelische Flagge, die bei einemFußballspiel hier in Berlin für einen israelischen Fußbal-ler ausgerollt wurde, zusammengerollt werden musste,und zwar nicht auf Veranlassung des Vereins, sondernauf Veranlassung der Polizei. Das geht einfach nicht!
Wir tragen also Verantwortung dafür, dass jüdischesLeben in unserem Land wie selbstverständlich stattfin-den kann. Wir tragen auch Verantwortung dafür, dass dieErinnerung an das, was im Dritten Reich passiert ist,wach bleibt. Das wird nicht einfacher, wenn die Zahl derAngehörigen der Erlebnisgeneration immer wenigerwird und wenn wir uns Gedanken machen müssen, wiewir das an junge Menschen herantragen.Diese Erinnerung an das, was geschehen ist, ist zwin-gend notwendig. Da darf es keine Schlussstrichdiskus-sion geben; denn für uns selber, für uns Deutsche ist esexistenziell wichtig, dass wir uns immer daran erinnern.Da müssen die Dinge auch klar angesprochen werden.Ja, es gibt in unserem Land Antisemitismus bei Men-schen, die schon lange hier leben und vielleicht auch hiergeboren wurden. Es gibt aber genauso eingewandertenAntisemitismus. Beides darf in unserem Lande nichtstattfinden, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es hat mich fassungslos gemacht und tief berührt, alsin meiner Heimatstadt, einer Stadt mit 30 000 Einwoh-nern, im letzten Jahr eine Demonstration von vielenMenschen mit Migrationshintergrund stattgefunden hat,auf welcher der Satz „Juden raus“ gerufen wurde. Dasdürfen wir nicht zulassen! Dieser Satz darf in Deutsch-land nie mehr unwidersprochen fallen. Am besten fällt erüberhaupt nicht mehr!
Wir sind natürlich auch fest an der Seite Israels, wennes um ganz wichtige politische Fragen geht. Die Bundes-kanzlerin hat in ihrer viel beachteten Rede in der Knessetgesagt, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschenStaatsräson ist. Das ist ein Satz, der eben nicht nur inSonntagsreden gilt, sondern der Konsequenzen in derPolitik hat. Ich bin unserem Außenminister dafür dank-bar, dass er gesagt hat: Dieses Existenzrecht Israels giltes natürlich auch in unseren politischen Verhandlungenzu beachten, die wir mit dem Iran führen.In Israel ist man voller Sorge, dass Entscheidungenfallen könnten, die die Sicherheitsinteressen Israels ver-schlechtern. Deswegen müssen wir schon klar und deut-lich sagen: Es kann keinen Abschluss mit dem Iran ge-ben, der die Sicherheit Israels nicht verbessert, undkeinen Abschluss, der die Sicherheit verschlechtert. Dadürfen wir auch nicht aus politischer Opportunität weg-schauen, sondern da müssen wir klar sagen: Die Ver-handlungen mit dem Iran dürfen das Existenzrecht Is-raels in keiner Weise gefährden, liebe Kolleginnen undKollegen!
Die Freundschaft mit Israel bedeutet allerdings auch,dass wir unserem Freund Israel helfen, in wichtigen poli-tischen Fragen richtige Entscheidungen zu treffen –nicht indem wir hier bevormundend auftreten, sondernindem wir im Dialog mit der israelischen Regierungauch auf Sorgen aufmerksam machen, die wir haben,und indem wir auf mögliche Entwicklungen hinweisen,die wir uns wünschen. Dazu gehört aber auch, dass wirals Freund Israels immer Folgendes zu bedenken haben:Wir können in diesem Jahr 70 Jahre Frieden und Freiheit
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Volker Kauder
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feiern, während Israel in den vergangenen 70 Jahrennicht einmal einen Bruchteil von dem Frieden und derSicherheit hatte, die wir hier gehabt haben. Israel warständig in Sorge, ständig im Abwehrkampf, ständig vonTerrorismus überzogen. Deshalb ist es ein Unterschied,ob man aus Sicht Israels oder aus Sicht unseres Landes,eines sicheren Hafens, spricht. Das bitte ich immer wie-der zu berücksichtigen, wenn man mit Israel über Zu-kunftsfragen redet.
Natürlich wissen wir aus unserer eigenen Geschichte,wie wichtig es ist, dass man in einem Staat leben kann,dass man seine Interessen entsprechend formulierenkann. Deswegen muss eine Lösung im Nahen Osten ge-funden werden. Natürlich gibt es auch das Recht der Pa-lästinenser, in einem Staat zu leben. Darüber werden wirmit Israel immer wieder sprechen müssen. Aber eines istauch klar: Es gibt kein Recht – schon gar nicht ange-sichts dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist,und mit Blick auf unsere politische Ausrichtung nachdem Zweiten Weltkrieg –, sein Recht mit Gewalt undTerror zu erzwingen. Das müssen wir den Palästinensernauch klar und deutlich sagen.
Da haben wir also einen wichtigen Beitrag zu leis-ten. Diesen Beitrag können wir vielleicht besser leis-ten, weil wir definitiv wissen, dass der Staat Israel unddie Juden – für mich immer noch unfassbar nach dem,was es an Brutalität gab und was an gemeinen Verbre-chen geschehen ist – uns in besonderer Weise ver-trauen. Es ist ein besonderer Vertrauensbeweis, dassder Staat Israel die Vertretung seiner diplomatischenInteressen und die Vertretung der Interessen seiner Bür-ger in den Ländern, in denen er keine eigenen diploma-tischen Vertretungen hat, auf die BundesrepublikDeutschland übertragen hat – nicht auf Amerika oderauf ein anderes europäisches Land, sondern aufDeutschland. Das ist ein weiterer großartiger Beweisdafür, dass man uns vertraut.Ich kann nur sagen – ich glaube, das kann man für denganzen Deutschen Bundestag sagen –: Wir werden allesdaransetzen, uns dieses Vertrauens würdig zu erweisen.
Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächste Rednerin inder Debatte: Katrin Göring-Eckardt für Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-gen! Wer 50 Jahre zurückblickt, kommt nicht umhin,sich zu wundern. Mit diesem Deutschland hat Israel1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen: 20Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus warDeutschland weder frei von Schuld noch frei von Schul-digen. Ganz im Gegenteil: Es war eine Gesellschaft, de-ren Kriegsgeneration sich den Fragen ihrer Kinder nachkollektiver und individueller Schuld noch gar nicht ge-stellt hatte und auch nicht stellen wollte. Die in der deut-schen Bevölkerung seinerzeit verbreitete Einstellungwurde vier Jahre später, im Jahr 1969, von Franz JosefStrauß so ausgedrückt – ich zitiere –:Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungenvollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitznichts mehr hören zu wollen.Wie unglaublich, wie absurd, wie anmaßend – damalswie heute.Übrigens: Die DDR hat nicht nur keine diplomati-schen Beziehungen zu Israel aufnehmen wollen; sie hatweder eine Debatte über Aufarbeitung noch über Schuldgeführt. Ein antifaschistischer Schutzwall sollte dazuführen, dass die Täter auf der anderen Seite sind; eineHypothek bis heute.Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischenIsrael und Deutschland war übrigens auch nicht das Re-sultat sorgfältiger Vorbereitung. Es war das Ergebnis ei-ner Folge von Skandalen und Enthüllungen im Kontextdes Kalten Krieges: deutsche Raketentechniker in Ägyp-ten, geheime Waffenlieferungen von Deutschland nachIsrael, die Hallstein-Doktrin, der Besuch von WalterUlbricht in Ägypten.In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstandeneinerseits sehr enge und tragfähige Beziehungen in denBereichen von Politik, Kultur, Zivilgesellschaft, Bildungund Wissenschaft. Andererseits gab es aber auch immerwieder Anlässe zu spürbaren Verstörungen in dem Ver-hältnis beider Länder. Das reichte von der antiisraeli-schen Wendung vieler Gruppen der westdeutschen Lin-ken nach 1965, dem Terroranschlag auf die israelischeOlympiamannschaft im Jahr 1972 über die sogenannteSchmidt-Begin-Kontroverse 1981 und den Israel-Besuchvon Helmut Kohl 1984 bis hin zu dem umstrittenen Ge-dicht des gerade verstorbenen Autors Günter Grass ausdem Jahr 2014.Dass die deutsch-israelischen Beziehungen intensivund tragfähig wurden, ist auch, aber nicht nur das Ver-dienst vieler Regierungs- und Parlamentsvertreter und-vertreterinnen beider Staaten. Es ist ebenso ein Ver-dienst vieler Bürgerinnen und Bürger, Kirchen undKirchgemeinden, Städtepartnerschaften, Kulturprojekte,die diese Beziehung mit Leben gefüllt haben und sie tra-gen, die einander auch in politisch schwierigen Zeitenvertrauensvoll verbunden geblieben sind.Eine wichtige Arbeit hat bereits vor 54 Jahren begon-nen. Ich will sie erwähnen, weil ich ihr persönlich ver-bunden bin. 1961 kamen die ersten Freiwilligen der Ak-tion Sühnezeichen Friedensdienste aus Deutschlandnach Israel. Seit 20 Jahren kommen auch junge Israeliszu Freiwilligendiensten nach Deutschland. Die Ge-schichten, die die jungen Leute erzählen, sind und blei-ben beeindruckend: wenn Hilfe im Haushalt plötzlich zu
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Katrin Göring-Eckardt
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einer tiefen Freundschaft über mehrere Generationenhinweg wird und wenn ein alter Mann einem HelferDinge erzählt, die er seinen eigenen Kindern nie anver-trauen wollte. Diese Arbeit ist von unschätzbarem Wert.Je mehr die Generation der Zeitzeugen schwindet, umsowichtiger wird die Generation, die Zeugnis für die Zu-kunft ablegt.
Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass wir überunsere gemeinsame Geschichte reden können. Als ichGabriel Bach, den Ankläger im Eichmann-Prozess, inJerusalem traf, haben wir über diese Geschichte spre-chen können. Ich bin sehr froh, dass er das mit vielen Ju-gendlichen getan hat. Aber noch viel mehr bleibt mirsein Besuch in Berlin in Erinnerung. Im Gespräch stell-ten wir fest, dass meine Berliner Wohnung unweit derStraße war, in der er aufgewachsen ist. Es war Frühjahr,und er war dort. Überall sah man Geranien an den Bal-konen, rote Geranien. Gabriel Bach aber hat keine Gera-nien gesehen. Er sah nur das Rote und dachte an die Fah-nen der Nazis, die damals auf einmal aus allen Fensternhingen.Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine erschreckendhohe Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in unseremLand einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Ver-gangenheit ziehen möchte. Ihnen müssen wir widerspre-chen.
Geschichte zu kennen, bedeutet, Verantwortung zu le-ben, ganz unabhängig vom eigenen Alter und von derFrage persönlicher Schuld. Nie vergessen ist keine Hy-pothek, sondern es ist das wichtigste Erbe, das wir wei-terzugeben haben.Es muss uns umtreiben, dass im vergangenen Jahr dieZahl antisemitischer Straftaten in Deutschland um25 Prozent angestiegen ist. Das ist für unser Land be-schämend. Ich hoffe trotzdem umso mehr, dass die Men-schen jüdischen Glaubens, die hier zu Hause sind, esauch bleiben. Es ist unser gemeinsames Land. Es ist un-sere gemeinsame Hoffnung.
Herr Kauder hat eben zu Recht darauf hingewiesen,wie absurd es ist, dass eine israelische Flagge im Fuß-ballstadion eingerollt werden musste. Natürlich hat sichder Polizeipräsident entschuldigt, und wahrscheinlichsind wir uns auch alle einig darüber, wie falsch diese Ak-tion war. Das Gefährliche daran ist aber die Gedankenlo-sigkeit, mit der das passiert ist.
50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israelund Deutschland, das ist kein gegenseitiges Verteilenvon Streicheleinheiten. Es ist ein gewachsenes Verständ-nis füreinander, das auch Kritik aushalten kann undmuss, genauso wie Enttäuschungen. Die von BenjaminNetanjahu im Wahlkampf geäußerte Aussage, an derPerspektive der Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr arbei-ten zu wollen, war eine solche Enttäuschung. Darummuss man nicht herumreden. Aber auch wenn es im Ge-bälk knirscht: Das Fundament ist stabil. Die Beziehun-gen sind nicht nur von Geschichte, sondern auch vonGegenwart geprägt.Es gibt auch weiterhin viel zu besprechen in und zwi-schen unseren Gesellschaften. Was wir nicht brauchen,ist eine gern beschworene Normalisierung des einzigarti-gen Verhältnisses zwischen Israel und Deutschland. EineNormalisierung würde nämlich die Besonderheit unseresVerhältnisses zu und unsere Verantwortung für Israel ne-gieren. Wir feiern 50 Jahre diplomatische Beziehungenim selben Jahr, in dem wir an den 70. Jahrestag der Be-freiung von Auschwitz erinnern. Beides ist untrennbarmiteinander verknüpft. Diese Erinnerung ist kein kon-servierendes Geschichtsbild, sondern sie ist Auftrag.Der Blick auf die Geranien am Balkon in Charlotten-burg und der Strandspaziergang unserer Kinder und En-kel in Tel Aviv: Es wird Momente geben, die eben nichtunbeschwert sind. Von daher zu den 50 Jahren beides:Schalom und Mazel tov.
Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Nächster Red-
ner: Achim Post für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich darf anfangen mit einem Dank an alle Rednerinnenund Redner vor mir, die alle auf ihre Art eindrucksvollbeschrieben haben, wie sich das Verhältnis zwischenDeutschland und Israel in den letzten Jahren und Jahr-zehnten entwickelt hat.In zehn Wochen, am 27. Juli 2015, ist ein richtig guterTag. Da beginnen nämlich in Berlin die 14. EuropeanMaccabi Games, das größte jüdische Sportereignis Euro-pas, eine Art Olympiade für jüdische Sportlerinnen undSportler. Dann treffen sich 2 300 Frauen und Männerund messen sich im Schwimmen, im Laufen, im Schach-spielen, beim Basketball, und das alles auf dem Geländedes ehemaligen Reichssportfeldes, das für die Olym-piade 1936 erbaut worden ist. 70 Jahre nach dem Holo-caust findet das größte jüdische Sportereignis in Berlinstatt, unterstützt vom Regierenden Bürgermeister undvom ganzen Senat. Ich finde, auch das ist ein Sieg überHitler und Nazi-Deutschland.
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Achim Post
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Dazu kommt das vielfältige jüdische Leben inDeutschland: in jüdischen Gemeinden und außerhalbvon jüdischen Gemeinden. Dazu kommen Tausende undAbertausende Israelis, die für ein Wochenende, für eineWoche, für ein Jahr oder für immer nach Berlin undDeutschland kommen. Das alles sind Hinweise, ja Be-weise, wie eng die Bande zwischen den Menschen in Is-rael und Deutschland geworden sind.Volker Kauder hat gefragt: Ist jetzt also alles wiedergut? Ist Normalität eingekehrt wie – sagen wir – zwi-schen Dänemark und Schweden? Ist es Zeit, den soge-nannten Schlussstrich zu ziehen? Wie alle Vorrednerin-nen und Vorredner sage ich eindeutig: Nein.
Buchstaben und Geist dieses Koalitionsantrags unter-streichen dieses Nein, wenn vom einmaligen Charakterder deutsch-israelischen Beziehungen gesprochen wird.Zugegeben: Die Überschrift des Antrags kommt etwasholprig daher – „Eingedenk der Vergangenheit diegemeinsame Zukunft gestalten“ –, aber sie trifft denKern.Als seine Lehrerin den neunjährigen, uns allen be-kannten Marcel Reich-Ranicki Ende der 20er-Jahre vordessen Umzug nach Berlin verabschiedete, tat sie dasmit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land derKultur.“Der kleine Marcel kam stattdessen und schlussendlichin das Land von Auschwitz und Treblinka, von Buchen-wald und Sachsenhausen. In das Land, in dem Millionenvon Menschen umgebracht wurden, nicht von einigen,schon gar nicht von einem, sondern von vielen. In dasLand, in dem Millionen von Juden umgebracht wurden,nicht nur im deutschen Namen, sondern von Deutschen.Deshalb grenzt all das – Frank-Walter Steinmeier hates beschrieben –, was in den letzten 50 Jahren erreichtwurde, in der Tat an ein Wunder. Aber auch Wunderwerden gemacht, von den Bürgerinnen und Bürgern derbeiden Länder, von weitsichtigen Politikern wie Ben-Gurion und Konrad Adenauer, wie Golda Meïr undWilly Brandt, wie Schimon Peres und Johannes Rau,aber auch von 700 000 Israelis und Deutschen, die mitt-lerweile an einem Jugendaustausch teilgenommen ha-ben.
All das geschah nach dem Tiefpunkt der menschlichenZivilisation.Im Übrigen auch nach vielen Jahren, in denen Schuldund Verantwortung in Deutschland verdrängt wurden.Sonst hätten SS-Männer wie Oskar Gröning in Lüneburgwohl nicht erst mit 93 Jahren vor Gericht gestanden,sondern mit 33 oder 43 Jahren.Wie soll es jetzt weitergehen mit unseren beiden Län-dern, mit Deutschland und Israel, deren Beziehung soeng und so einzigartig ist, die auf so freundschaftlicheund so schwierige Art und Weise verbunden sind, mitdiesen beiden stabilen Demokratien? Es wird gelegent-lich unterbewertet, dass wir in beiden Ländern in offe-nen Gesellschaften leben. Wir sollten das zu schätzenwissen. Ich jedenfalls habe bei meinen Besuchen in Is-rael nicht immer politische Zustimmung erhalten, abernie persönliche Ablehnung, auch und gerade wenn ichdafür werbe, dass Verhandlungen mit dem Iran die Si-cherheitslage Israels verbessern, auch und gerade wennich den fortgesetzten Siedlungsbau ablehne oder die hu-manitäre Lage in Gaza kritisiere.Drei Dinge liegen mir besonders am Herzen. Erstens.Wir sollten uns in diesen Tagen einfach einmal darüberfreuen, was zwischen den Ländern gelungen ist,
in Wirtschaft und Wissenschaft, bei Städtepartnerschaf-ten, im Kulturaustausch, im Sport, in sozialen Fragenund beim Austausch von Auszubildenden. 50 Jahre di-plomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutsch-land sind vor allem auch eine Erfolgsgeschichte.
Zweitens. Wir sollten den Schwung aus 2015 in diekommenden Jahre mitnehmen. Das hat der deutscheBotschafter in Israel vor acht Wochen gesagt. Ich stimmeihm ausdrücklich zu. Der Botschafter hat recht. Am bes-ten sollten wir den Schwung in die nächsten 50 Jahre mitder Vertiefung und der Erweiterung der Zusammenarbeitund des Dialogs mitnehmen.
Mit der gemeinsamen Erklärung der letztjährigen Re-gierungskonsultationen gibt es dafür fast so etwas wieein Arbeitsprogramm, mit den neun Punkten des Koali-tionsantrages gibt es elementare Forderungen des Deut-schen Bundestages an die Bundesregierung: für dasExistenzrecht Israels, gegen Antisemitismus, für eineZwei-Staaten-Lösung, für Erinnerung und Verantwor-tung in Deutschland.Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. ZweiDinge gilt es zu bekämpfen: Desinteresse und Gleichgül-tigkeit. Das gilt für das Miteinander, aber auch für jedesLand allein. Der große Philosoph Edmund Burke hat denSatz aufgeschrieben: „Für den Sieg des Bösen reicht dieUntätigkeit des Guten“. Wenn ich mich so umschaue,liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich sagen: Wirhier im Deutschen Bundestag sind zweifelsohne die Gu-ten, und zwar in allen Fraktionen.
Das gilt im Übrigen vor allem für die übergroßeMehrheit der Deutschen; aber wir dürfen nie die Untäti-
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Achim Post
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gen sein oder werden. Deshalb dürfen wir nicht nachlas-sen in unserem Engagement gegen Antisemiten, gegenRechtsradikale, gegen Nazis.
Diese Nazis haben seit der deutschen Einheit über150 Menschen umgebracht, und sie werden sich weitereOpfer suchen, wenn wir sie nicht stoppen – mit allenMitteln des Rechtsstaates, energisch und nachhaltig. Dassind wir uns selbst schuldig, das sind wir unseren Freun-den in Israel schuldig, das sind wir allen Bürgerinnenund Bürgern in Deutschland schuldig.Wir haben in den letzten 50 Jahren so viel erreicht.Arbeiten wir weiter für eine gute Zukunft unserer beidenLänder, arbeiten wir weiter für eine gemeinsame Zu-kunft unserer beiden Länder.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Achim Post. – Nächste Rednerin: Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unsere Beziehung, die Beziehung zwischen Deutsch-land und Israel, wird immer eine ganz besondere Bezie-hung bleiben. Sie ist in den letzten Jahrzehnten ge-wachsen. Sie ist vor allem eine Beziehung nicht alleinzwischen den Staaten, sondern sie ist auch eine Bezie-hung zwischen den Menschen geworden; das ist auch inden Beiträgen vorhin deutlich zum Ausdruck gebrachtworden.In meinem Wahlkreis liegt das ehemalige Konzentra-tionslager Dachau. Dort habe ich immer wieder Gele-genheit, Überlebende kennenzulernen. Einer davon istAbba Naor, der heute in Israel lebt. Wenn er vor 60 Jah-ren in seinen Pass geschaut hat – in den israelischenPass –, dann stand da: Gilt in allen Ländern der Welt au-ßer Deutschland. – Er konnte in alle Teile der Erde rei-sen, aber nicht zu uns nach Deutschland. Heute steht der-selbe Mann in hohem Alter immer wieder vor Schülernin ganz Deutschland. Er erzählt von seinen Erfahrungen,von seinem Leiden. Er erzählt das nicht, um anzuklagen,er erzählt das nicht, um den jungen Leuten ein schlechtesGewissen zu machen, sondern er erzählt das, um fürToleranz zu werben, um für Nächstenliebe zu werben,für Menschenwürde zu werben. Seine Botschaft ist nichtAnklage, sondern seine Botschaft ist Versöhnung undMahnung, meine Damen und Herren.
Ich bin überzeugt davon, dass viele von uns solcheGeschichten erzählen können von Begegnungen mitZeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. DieseGeschichten zeigen, was in den Jahrzehnten seit demKrieg in unserem Land geschehen ist, was die Menschenhier geleistet haben im Bereich Versöhnung und Mah-nung.Wenn wir heute, in diesen Tagen, an 50 Jahre diplo-matische Beziehungen zwischen Deutschland und Israeldenken, dann müssen wir auch noch ein bisschen weiterzurückdenken; denn das Ganze begann im Jahr 1960, alsdie beiden großen Staatsmänner Konrad Adenauer undDavid Ben-Gurion sich die Hand reichten. Das Foto gingdamals um die Welt, und es ging zu Recht um die Welt;denn das war alles andere als selbstverständlich nachdem, was in deutschem Namen den Juden in der Zeit desNationalsozialismus angetan wurde.Es war sicher für jeden der beiden schwierig – fürDavid Ben-Gurion wahrscheinlich noch viel schwieri-ger –, bei seiner Bevölkerung dafür Verständnis zu be-kommen. David Ben-Gurion sagte schon bald nach demKrieg: Ihr müsst wissen, dass da ein anderes Deutsch-land entsteht. – Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, esentstand ein anderes Deutschland: Es entstand einDeutschland, das sich zu seiner Geschichte und zu seinerVerantwortung aus der Geschichte bekennt, ein Deutsch-land, das zu Werten wie Freiheit, Demokratie und Men-schenwürde steht, ein Deutschland, das nicht vergisst,was in der Vergangenheit war, ein Deutschland, das dasGeschehene, die Schoah, immer im Gedächtnis habenwird – auch das gehört zu diesem Deutschland.Meine Damen und Herren, warum ist das alles ge-schehen? Es ist vorhin schon gesagt worden: Es ist eingroßes Wunder, dass wir dieses erleben dürfen – nach alldem, was wir in der Geschichte zu verzeichnen hattenund haben. Heute arbeiten die beiden Staaten intensivzusammen: im politischen Bereich, im wirtschaftlichenBereich, im Forschungsbereich, im kulturellen Bereich.Es gibt viele Städtepartnerschaften. Das InternationaleParlaments-Stipendium des Deutschen Bundestagesträgt dazu bei, dass Jugendliche aus Israel nach Deutsch-land kommen und dass deutsche Jugendliche die Mög-lichkeit haben, einige Monate in der Knesset zu verbrin-gen.Das alles ist wirklich ein Wunder. Es ist möglich ge-worden, weil zunächst einmal Israel bereit war, die Handzu reichen. Es ist möglich geworden, weil KonradAdenauer, selbst unbelastet, sich eindeutig zu der Ver-gangenheit bekannt hat, zur Verantwortung der Vergan-genheit bekannt hat und weil er glaubwürdig für das neuentstandene Deutschland stand. Meine Damen und Her-ren, es ist möglich geworden, diese 50 Jahre wirklich alsErfolgsgeschichte, wie es mein Vorredner bezeichnethat, zu sehen, weil jede Bundesregierung in den vergan-genen Jahrzehnten sich der Bedeutung der besonderenBeziehungen bewusst war, weil jede Bundesregierungdie Beziehungen intensiviert und noch verbessert hat so-wie das schon vorhandene Vertrauen immer wieder ge-stärkt hat. Auch das gilt es in dieser Stunde zu erwähnen.
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Gerda Hasselfeldt
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Aus der Erinnerungskultur der ersten Jahre ist eineVerantwortungskultur geworden. Was heißt „Verantwor-tungskultur“ jetzt für uns?Es bedeutet meines Erachtens erstens, dass wir nichtschweigen dürfen, wenn die fürchterlichen Gräueltatendes Nationalsozialismus relativiert werden, dass wirnicht schweigen dürfen, wenn wir in Deutschland, in Eu-ropa oder sonst wo auf der Welt wieder antisemitischeTendenzen erkennen. Für uns muss gelten: Antisemitis-mus, Rassismus, Abgrenzung, Ausgrenzung, Diskrimi-nierung – all das darf in Deutschland, darf in Europa,darf in der Welt keinen Platz haben.
Zweitens bedeutet Verantwortungskultur, das Erin-nern wachzuhalten, auch in einer Zeit, in der die Zeitzeu-gen immer weniger werden und vielleicht eines Tagesgar nicht mehr vorhanden sind. Diese Arbeit leisten mei-nes Erachtens in hervorragender Weise die Gedenkstät-ten. Sie wird aber auch geleistet – das will ich nicht un-erwähnt lassen – von Schriftstellern in Büchern, aberauch in einer ganzen Reihe von Filmen. Auch wir sindgefordert, dieses wachzuhalten: mit Diskussionen undmit Förderung der Menschen, die diese Arbeit professio-nell für uns leisten. Auch das gehört dazu.
Drittens bedeutet Verantwortungskultur, einen offe-nen Dialog mit Israel über all die aktuellen Fragen zuführen; es wurde vorhin schon angesprochen. Das Ganzebedeutet auch, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass inder Region, wo die Menschen immer wieder mit Ängs-ten und Schrecken zu tun haben, Frieden einkehrt. Dagibt es keine Patentlösung. Für uns ist aber klar und fürmich gilt ganz wesentlich: Das Existenzrecht, die Si-cherheit Israels, das ist für uns nicht verhandelbar, sowie es die Bundeskanzlerin und die bisherigen Bundes-regierungen immer wieder zum Ausdruck gebracht ha-ben.
Viertens bedeutet diese Verantwortungskultur aberauch, dass wir jüdisches Leben in Deutschland nicht nurzulassen, sondern dass wir es, wo immer es möglich ist,auch fördern. Jüdisches Leben gehört zu unserer kultu-rellen Identität, und es bereichert unser Leben. Auch dasgehört zur Verantwortungskultur.Das alles, meine Damen und Herren, ist möglich, weilwir ein gemeinsames Wertefundament haben, ein Werte-fundament, das da lautet: für Freiheit, für Demokratie,für die Wahrung der Menschenrechte und Menschen-würde, und zwar egal woher die Menschen kommen,egal welches Geschlecht sie haben, welchen Glauben siehaben. Jeder und jede hat das Recht auf eine Menschen-würde, wie wir sie verstehen.Meine Damen und Herren, 50 Jahre diplomatischeBeziehungen zwischen Deutschland und Israel, das istein Glücksfall; es ist in der Entwicklung der Jahrzehntefür uns eine Erfolgsgeschichte. Geprägt sind diese Be-ziehungen von der Verantwortung für die Vergangenheit,von einer gelebten Solidarität und einem gegenseitigenVertrauen, von unseren gemeinsamen Werten. Ich denke,wir sind aufgefordert, diese einzigartigen Beziehungenin diesem Geist auch künftig zu pflegen.
Vielen Dank, Frau Hasselfeldt. – Nächster Redner in
der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! VerehrteKolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sieschreiben in Ihrem Antrag, 50 Jahre diplomatische Be-ziehungen zwischen Deutschland und Israel seien ein„Wunder“. Richtig ist, dass es alles andere als selbstver-ständlich war, dass Ben-Gurion die Hand von KonradAdenauer ergriffen hat. Es ist sicher nicht nur richtig,dass wir sehr besondere bilaterale Beziehungen haben,sondern auch, dass diese Beziehungen einzigartig sind.Richtig ist auch, dass wir, Israel und Deutschland, bilate-rale Beziehungen haben, die es sonst zwischen keinenzwei anderen Ländern der Welt gibt. Dafür können wireinfach nur dankbar sein.Allerdings ist die Rede vom „Wunder“ nicht beson-ders akkurat, weil diese Beziehungen eben nicht vomHimmel gefallen sind, weil es unglaublich viele Klippengegeben hat – meine Fraktionsvorsitzende hat daraufhingewiesen –, weil wir noch sehr viel daran arbeitenmüssen und weil wir uns bei denjenigen in Deutschlandbedanken müssen, die aus der Zivilgesellschaft heraus– die Kirchen, die Gewerkschaften und viele andere –teilweise gegen Widerstände in der Politik, im Übrigenaus allen Fraktionen, dafür gekämpft haben und durch-gesetzt haben, dass es diese bilateralen Beziehungengibt. Dafür einen herzlichen Dank!
Gleichzeitig glauben wir, dass wir viel tun müssen,damit die bilateralen Beziehungen nicht rituell werden.Dazu gehört Ehrlichkeit. Dazu gehört, dass wir ehrlichsagen, woran es gehapert hat, gerade auf der deutschenSeite; wir müssen selbstkritisch sein.Wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich zustim-men. Das ist nun wirklich der falsche Anlass, um sichparteipolitisch zu zerlegen. Ich erinnere mich, dass mansich vor zehn Jahren, als es um den 40. Jahrestag der di-plomatischen Beziehungen ging, sehr bemüht hat und esam Ende gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag in den
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Omid Nouripour
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Bundestag einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dasses auch dieses Mal möglich gewesen wäre.
Nichtsdestotrotz stimmen wir Ihrem Antrag zu und hof-fen, dass auch Sie nicht mit den üblichen Reflexen aufunseren Antrag reagieren.Meine Damen und Herren, Israel und Deutschlandsind nicht mehr dieselben Länder wie vor 50 Jahren.Beide Gesellschaften sind im Wandel. Damit verändertsich auch die Erinnerung in beiden Ländern an histori-sche Ereignisse. Wer die Beziehung in ihrer heutigen In-tensität erhalten und vor allem ausbauen will, der mussdie neuen gesellschaftlichen Realitäten ernst nehmen.Deutschland und Israel sind Einwanderungsgesell-schaften. In beiden Ländern gibt es viele Menschen, diekeine biografischen Bezüge zur Schoah haben. MeinGroßvater war während der NS-Herrschaft Nusshändlerim Westen Irans. Dass es den Zweiten Weltkrieg über-haupt gibt, das hat er wahrscheinlich erst mitbekommen,als 1941 erstmals russische Soldaten in seiner Stadt auf-getaucht sind. Nichtsdestotrotz trage ich als Deutscher,als Demokrat und als Mensch die Verantwortung für dieFolgen der deutschen Geschichte und damit selbstver-ständlich auch für die deutsch-israelischen Beziehungen.Wer sich zu Deutschland bekennt, bekennt sich zur his-torischen Verantwortung Deutschlands und damit zurVerantwortung für das Nie-wieder.
Manche sagen, dass Antisemitismus in Deutschlandheute vor allem unter Muslimen verbreitet sei. Das ist inZeiten, in denen Neonazis leider Gottes immer nochganze Stadtviertel zu No-go-Areas für Juden erklärenkönnen,
eine sehr gewagte These.Dennoch gibt es ein Problem, wie die Demonstratio-nen gegen den Gaza-Krieg im letzten Jahr gezeigt haben.Es ist legitim, israelische Politik zu kritisieren und dage-gen zu demonstrieren – das Demonstrationsrecht giltnicht nur für diejenigen, die politisch ausgewogen de-monstrieren; das sehen wir Montag für Montag in man-chen deutschen Städten –; aber Gewaltanwendung istnicht legitim. Es ist nicht legitim, antisemitische Parolenzu dreschen. Es ist erst recht nicht legitim, Hoheitszei-chen eines anderen Staates zu zerstören oder das Exis-tenzrecht Israels infrage zu stellen. Es ist unsere Auf-gabe als Demokratinnen und Demokraten, dagegenaufzustehen.
Aus der deutschen Geschichte erwächst eine Verant-wortung für die Sicherheit Israels und die Sicherheit derJüdinnen und Juden in Deutschland. Unsere Verantwor-tung ist es, für die Sicherheit aller, die hier in Deutsch-land leben, zu sorgen, und zwar unbenommen davon,welcher Religion sie angehören. Der Graben verläuftnicht zwischen Juden und Muslimen, der Graben ver-läuft zwischen Demokraten auf der einen Seite und Anti-semiten auf der anderen Seite.
Die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren, istund bleibt ein Grundsatz deutscher Außenpolitik, auchwenn wir über das Wie immer wieder streiten. DieseStreitereien gibt es unter uns, innerhalb Israels und zwi-schen Deutschland und Israel.Das Verhältnis Deutschlands zu Israel ist eng mit demNahostkonflikt verbunden. Gerade in einer Zeit, in dereine Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne rückt, geradein einer Zeit, in der es immer weniger Hoffnung gibt,müssen wir uns für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen.Denn klar ist: Es wird keine Sicherheit für die Israelisund keine Selbstbestimmung für die Palästinenser ohneeine Zwei-Staaten-Lösung geben. Es gibt keinen Zaun,der hoch genug ist, dass er Frieden ersetzen kann.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächste Rednerin:
Kerstin Griese für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Viele in meiner Generation, die sich politischengagieren, tun dies, weil nie wieder passieren darf, was1933 von Deutschland ausging. In der Schoah wurden6 Millionen europäische Juden ermordet. In dieser ein-maligen Menschheitstragödie haben die Deutschen un-fassbare Schuld auf sich geladen.Als 16-Jährige habe ich im Rahmen der Jugendarbeitzum ersten Mal die Gedenkstätte des KZ Auschwitz be-sucht. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. DieTäter waren aus der Generation meiner Großeltern. Eswaren Deutsche, die im südpolnischen Ort Oswiecimdas größte Grauen der Menschheitsgeschichte angerich-tet haben, indem sie die Juden Europas dorthin deportierthaben, misshandelt, gequält und ermordet haben.Man muss bedenken, dass es nach 1945 viele Akteurein der jungen deutschen Bundesrepublik gab, die in denNationalsozialismus verstrickt waren oder selbst schul-dig geworden waren. Mir haben Holocaustüberlebendeoft erzählt, wie schwer es für sie in der Nachkriegszeitwar, Deutschen zu begegnen, weil sie immer gedacht ha-ben: Was hat derjenige wohl von 1933 bis 1945 ge-macht? Vor diesem Hintergrund war es für den jungenStaat Israel besonders schwer, mit dem Land der Täter ineinen diplomatischen Austausch zu treten. Es dauerte
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Kerstin Griese
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20 Jahre, bis 1965 – wir feiern erst 50 Jahre diplomati-sche Beziehungen –, bis das offiziell möglich wurde.Aber es gab viele – darauf will ich heute besonderseingehen –, die sich vor 1965 für die deutsch-israeli-schen Beziehungen engagiert haben. Der Prozess dorthinhatte viele Wegbereiterinnen und Wegbereiter. Wir sindden Menschen, die schon in den 1950er-Jahren begon-nen haben, erste Kontakte nach Israel zu knüpfen, sehrdankbar. Es waren Gewerkschaften, es waren Jugend-und Studentenorganisationen, es war die evangelischeKirche, die weit vor Aufnahme der offiziellen diploma-tischen Beziehungen, teilweise auch unter abenteuerli-chen Bedingungen und mit großem persönlichen Ein-satz, eigene Beziehungen zu den Menschen imjüdischen Staat geknüpft haben. Darauf können wirsehr stolz sein.Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende, hat schon1947 auf dem SPD-Parteitag gesagt, dass das deutscheVolk zur Wiedergutmachung und zur Entschädigung ver-pflichtet ist. Das war 1947 ein bedeutender Satz. CarloSchmid hat 1951, damals Bundestagsvizepräsident, da-rauf gedrungen, den jungen Staat Israel als Rechtsnach-folger für Rückerstattung und Wiedergutmachungsan-sprüche anzuerkennen. Auch das war wegweisend, bis esdann 1952 zum Luxemburger Abkommen kam.Es waren junge Menschen, die sich schon früh für dieBeziehungen zu Israel eingesetzt haben. Die Falken wa-ren dabei; und der SDS, die damalige SPD-Hochschulor-ganisation, hat 1951 die Kampagne „Frieden mit Israel“gestartet und deutsch-israelische Studierendengruppengegründet. Es waren evangelische Jugendgruppen, ausdenen 1958 die Aktion Sühnezeichen entstand. Auch dieGewerkschaftsjugend war dabei.Wenn wir uns vor Augen halten, wie Ende der1950er-, Anfang der 1960er-Jahre die ersten Jugend-gruppen nach Israel reisten, dann wissen wir, dass dasschwierig war. Sie waren nach dem Holocaust natürlichoft nicht willkommen. Es war für die deutschen Ju-gendlichen nicht einfach; aber es war auch für diejeni-gen Israelis, die deutsche Gäste willkommen heißenwollten und mit ihnen einen Austausch suchten, nichteinfach. Sie mussten sich Anfeindungen erwehren.Frau Hasselfeldt hat es schon erwähnt: Im israelischenPass stand bis 1956 noch auf Hebräisch und Franzö-sisch die Bemerkung: Gültig für alle Länder – mit Aus-nahme Deutschlands. Es war also auch ganz schwierig,zueinander zu reisen. Dafür, dass in dieser Zeit schonMenschen begonnen haben, Partnerschaften und auchFreundschaften zu knüpfen, sind wir dankbar.
Ich will an ein wenig bekanntes, aber wichtiges Ereig-nis erinnern. Am 26. März 1957 hat der damalige SPD-Parteivorsitzende Erich Ollenhauer als erster deutscheroffizieller Gast des Staates Israel dort eine öffentlicheRede gehalten. Er hat sich in dieser Rede für den Bot-schafteraustausch eingesetzt. Dies hat übrigens zu Pro-testen der arabischen Länder im Sinne der Hallstein-Doktrin geführt. Es war in diesen Zeiten also wirklichnoch sehr schwierig, dafür zu plädieren. 1957 fuhr dieerste offizielle Delegation des Deutschen Gewerk-schaftsbundes nach Israel. Seitdem gibt es eine langeund intensive Partnerschaft mit der Histadrut, dem israe-lischen gewerkschaftlichen Dachverband.1965 war es dann so weit – dies feiern wir in diesenWochen –: Die offiziellen diplomatischen Beziehungenhaben begonnen. Sie konnten aber nur beginnen, weil inden Jahren davor von Menschen, die sich engagiert ha-ben und Wegbereiter dieser Kontakte waren, ein Netzgeknüpft wurde. Dazu passt auch, dass es Johannes Rauwar, der im Jahr 2000 als erstes deutsches Staatsober-haupt vor der Knesset gesprochen hat und auch als Ersterdort eine Rede auf Deutsch gehalten hat, worüber in Is-rael damals heftig diskutiert wurde. Es war eine wegwei-sende und bewegende Rede, in der er um Vergebung bat.Ende der 1960er-Jahre wurde der deutsch-israelischeJugendaustausch auch offiziell etabliert. Er ist bis heutesehr lebendig. Mein Kollege Achim Post hat schon da-rauf hingewiesen: 700 000 Menschen haben bisher teil-genommen. Etwa 300 Austauschprojekte gibt es proJahr. Seit 2001 wird dies von ConAct organisiert, demKoordinierungszentrum für den deutsch-israelischen Ju-gendaustausch in Wittenberg. Ich danke allen, die sichdort engagieren, sehr herzlich für diese Begegnungsar-beit.
Ich selbst hatte 1996 das Glück, gemeinsam mit unse-rer heutigen Ministerin Andrea Nahles, sie war damalsnoch Juso-Bundesvorsitzende, dabei zu sein, als dasWilly-Brandt-Zentrum in Jerusalem gegründet wurde.Das ist eine einmalige trilaterale Initiative, die es bisheute gibt, die gemeinsam von Deutschen, Israelis undPalästinensern getragen wird und die trotz aller Krisen,Terroranschläge und Kriege, die seither stattgefundenhaben, weiter existiert, weil es junge Menschen gibt, dieimmer wieder beharrlich und unverdrossen daran arbei-ten, dass die zwischen Deutschen, Israelis und Palästi-nensern geknüpften Fäden nicht zerreißen.Mir geht es immer wieder so: Wenn man dort ist – ichbin oft in Israel –, wenn man über die Lage im NahenOsten verzweifelt ist und wenn man so gar keine Fort-schritte, sondern eher Rückschritte wahrnimmt, dann istes ein Hoffnungszeichen, dass es dort diese Menschengibt, dass dort Begegnung und Verständigung möglichsind. Ich bin mir ganz sicher: Wenn Menschen dieChance haben, zueinanderzukommen, sich kennenzuler-nen, miteinander zu reden, dann ist das schon ein Frie-densprozess im Kleinen. Davon brauchen wir noch vielmehr.
Damit kann in der Tradition all der Kontakte, die ich auf-gezählt habe, ein kleiner Beitrag dafür geleistet werden,dass Israel eine friedliche Zukunft hat.
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9816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Kerstin Griese
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Ich will genau wie meine Vorredner betonen: Wirmüssen gerade in Deutschland besonders sensibel sein,wenn es um antisemitische Tendenzen in der Gesell-schaft geht. Wir verzeichnen in diesem Jahr eine Zu-nahme antisemitischer Straftaten um 25 Prozent. Das istein unhaltbarer Zustand. Dagegen müssen wir uns allegemeinsam engagieren.
Der Nahostkonflikt wurde im letzten Jahr instrumen-talisiert, und wir haben offen antisemitische Demonstra-tionen erlebt. Ich sage ganz deutlich zu Gregor Gysi: Ichbin Ihnen dankbar, dass Sie hier und heute klare Kantegezeigt haben. Denn in meiner Nachbarstadt Essen gabes eine Demonstration, bei der wirklich erschreckendeantisemitische Parolen geäußert wurden und die von Tei-len der nordrhein-westfälischen Linkspartei unterstütztwurde. Deshalb: Vielen Dank! Ich glaube, wir müssenuns gemeinsam gegen jeden Antisemitismus wehren undihm entgegenstehen.
Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist selbst-verständlich immer möglich. Es gibt auch niemanden,der sie unterbinden will, wenn sie demokratisch geäußertwird. Was wir aber erlebt haben, ist, dass diese Kritik ineine Kritik an den Juden insgesamt und an Israel insge-samt übergesprungen ist und ein Gleichsetzen der Judenin Deutschland mit der israelischen Regierungspolitikstattgefunden hat. Gegen diesen Antisemitismus stellenwir uns mit aller Deutlichkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Israel und Deutsch-land sind Verbündete, Partner und Freunde. Viele Abge-ordnete aus allen Fraktionen bemühen sich in derDeutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und weit da-rüber hinaus ganz besonders um diese Beziehungen;denn sie sind für uns elementarer Bestandteil unserespolitischen Selbstverständnisses. Der freundschaftlicheund kritische Austausch bleibt eine wichtige Grundlagefür die Beziehungen unserer beiden Staaten.Mir geht es so wie sicherlich vielen von Ihnen – ichhoffe, allen hier –: Ich werde mich immer dafür einset-zen, dass der demokratische und jüdische Staat Israelexistieren kann. Ich wünsche den Menschen in Israel,dass sie in einem Staat mit dauerhaft anerkannten und si-cheren Grenzen leben können – neben einem unabhängi-gen, demokratischen und lebensfähigen palästinensi-schen Staat, Seite an Seite, in Frieden und Sicherheit.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kerstin Griese. – Nächster Redner:
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Auch ich möchte im Namen unserer Fraktion deut-lich hervorheben, wie wichtig uns diese Debatte ist undwie wichtig auch das Andenken an das 50-jährige Jubi-läum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwi-schen Deutschland und Israel ist.Kerstin Griese hat aus meiner Sicht gerade sehr schönbeschrieben, dass sich die Sozialisation jüngerer Politikerüber mehrere Jahrzehnte erstreckt und dass das eigeneVerständnis – das gilt über die Parteigrenzen hinweg – na-türlich vor allem durch die politischen Stiftungen geprägtwird. Man wächst in Deutschland in dem Bewusstseinauf, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Is-rael nicht irgendwelche, sondern besondere Beziehungensind. Diese besonderen Beziehungen leiten sich vor allemaus den schrecklichen Ereignissen des Holocausts ab.Unsere Fraktion hat diese Woche eine Veranstaltungdurchgeführt und versucht, in diesem Rahmen die jungeGeneration, junge Vertreter aus Israel, zu Wort kommenzu lassen. Mich hat besonders beeindruckt, dass einejunge Deutsche namens Melody Sucharewicz, die in Is-rael lebt, sich in München sehr stark für das jüdische Le-ben eingesetzt hat und bei unserer Veranstaltung aus Is-rael zugeschaltet war, deutlich hervorgehoben hat, dasses mit Worten allein nicht getan ist, sondern dass sichganz besonders an Taten bemisst, was diese Freund-schaft wirklich ausmacht.Da muss ich natürlich sagen: Wir haben in sehr vielenDiskussionen, auch über die Parteigrenzen hinweg, im-mer alles getan, um die Existenz des jüdischen und de-mokratischen Staates Israel zu garantieren. In diesemGeist sollten wir auch diese Debatte führen. Wir solltenüber die Parteigrenzen hinweg alles tun, was notwendigist, um die Existenz des jüdischen Staates dauerhaft zugarantieren.
Aus dem Holocaust leitet sich nicht nur die Verant-wortung ab, sich seiner Geschichte bewusst zu sein. Esist richtigerweise gesagt worden, dass es auch darumgeht, entschlossen gegen Antisemitismus vorzugehen. Erist in vielen gesellschaftlichen Schichten vorhanden. Da-bei geht es nicht nur um den externen Antisemitismus,der zu uns gekommen ist – zum Beispiel durch aggres-sive arabische Jugendliche oder in Form von Debatten,die eigentlich im Nahen Osten geführt wurden, mittler-weile aber auch in großen Städten und in Ballungsräu-men bei uns geführt werden; diese Debatten sind überdas Internet zu uns geschwemmt worden –, sondern na-türlich auch um Vorurteile und Stereotype, die bedientwerden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9817
Philipp Mißfelder
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Antisemitismus geht – das besagt auch eine Studiedes American Jewish Committee – quer durch alle Ge-sellschaftsschichten. Insofern stellt sich nicht nur dieFrage, ob man sich Neonazis entgegenstellt – das ist eineSelbstverständlichkeit – oder versucht, Widerstand in ir-gendeiner Form an Demonstrationen und spektakulärenEreignissen festzumachen; vielmehr spielen auch der all-tägliche Antisemitismus und die Doppelstandards, diegegenüber Israel angewandt werden, eine Rolle. Hiermuss man sehr wachsam sein und sagen: Wehret denAnfängen!Wenn wir die Forderung „Nie wieder!“ ernst nehmen,dann geht so etwas wie das, was unser Fraktionsvorsit-zender Volker Kauder vorhin am Beispiel der Israel-Fahne beschrieben hat, überhaupt nicht. Es ist nicht ak-zeptabel, dass wir uns verstecken und unser Bekenntniszum Staate Israel so passiv zum Ausdruck bringen, dassein Einsatzleiter bei einem Fußballspiel der Meinung ist,man dürfe keine Israel-Fahne zeigen. Ich glaube, er wärebei der Flagge eines anderen Landes nie auf die Idee ge-kommen, so etwas zu tun. Das war wirklich beschämendund ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo wir den Wegfür Antisemitismus bereiten. Denn wenn man so wie dieStaatsgewalt an dieser Stelle zurückschreckt, darf mansich nicht wundern, dass andere das als Einladung wahr-nehmen, noch viel weiter zu gehen. Deshalb war eswichtig, dass Volker Kauder das angesprochen hat.
Ich möchte diese Debatte aber auch nutzen, um aufdie aktuelle Situation in Israel einzugehen. In fast allenReden ist gesagt worden, dass wir froh sind, dass Israelein demokratisches Land ist. Es ist das einzige demokra-tische – auch mit einem sehr breiten, pluralistischen Par-teienspektrum ausgestattete – Land in der Region, dassich im Grunde zu jedem Thema unterschiedliche Mei-nungen bildet. Jeder von uns könnte zu jeder politischenDiskussion in Israel, in der ganz kontroverse Meinungenvertreten werden, einen Vertreter benennen.Gerade weil Israel das einzige Land ist, in dem dieGleichberechtigung von Mann und Frau, überhaupt dieHerkunft der Menschen keine Rolle spielt, ist es ganzbemerkenswert, dass Israel diesen demokratischen,streitbaren Prozess auch bei sich – anders als alle ande-ren Nachbarn – organisiert und konsequent durchhält.Mit Blick auf unsere Geschichte, aber auch wegen derbisherigen Erfolgsgeschichte Israels steht es uns nichtan, Israels Politik in Oberlehrermanier per se zu kritisie-ren.Manche haben sich heute zur Regierungsbildung inIsrael geäußert. Ich bin froh, dass Israel eine Regierunggefunden hat. Sie ist demokratisch legitimiert. Es ist anden Israelis, zu entscheiden, welchen Weg sie demokra-tisch wählen, und es ist nicht an uns, das zu beurteilen.Deshalb hat die Regierung Netanjahu – auch die neueRegierung unter ihm – genau dieselben fairen Chancenwie jede andere demokratische Regierung in der westli-chen Welt verdient. Insofern sollten wir auch weiterhineng und vertrauensvoll mit Netanjahu zusammenarbei-ten und vielleicht das eine oder andere, was im Wahl-kampf gewesen ist, hinter uns lassen.
Ich bin über die aktuelle außenpolitische SituationIsraels sehr besorgt. Die Freude über das Abkommen mitdem Iran teile ich dezidiert nicht. Ich nehme die SorgenIsraels sehr ernst und glaube, der Iran ist nach wie vorein großer Unruheherd, eine Gefahr, ein Sponsor des in-ternationalen Terrorismus. Der Iran versucht, der Hege-mon des Nahen Ostens zu werden, und mit traumwand-lerischer Treffsicherheit gehen manche auf das Werbendes Irans ein und unterschätzen aus meiner Sicht die vonihm ausgehenden Gefahren.Ich glaube, dass die in der Rede von Netanjahu inWashington geäußerten Sorgen berechtigt sind. Auchwenn ich nicht mit allen in diesem Hause überein-stimme, glaube ich, dass das ein Punkt ist, der definitivzur Betrachtung der deutschen Außenpolitik gehörenmuss.Gerade in diesen Tagen, in denen man sagt, manwolle das Existenzrecht des jüdischen Staates weiterhingarantieren – das ist nicht nur Staatsräson, sondern auchVerpflichtung für uns alle –, muss man daraus verschie-dene außenpolitische Ableitungen vornehmen und imNahen Osten, wo es nie nur Schwarz oder Weiß, sondernauch sehr viele Grautöne gibt, Konzessionen machen,die, obwohl man sich vielleicht etwas anderes ge-wünscht hätte, notwendig sind.Insofern begrüße ich es ausdrücklich, dass unser Au-ßenminister diese Woche in Ägypten war und Gesprächegeführt hat. Ich möchte an dieser Stelle aber auch unse-ren Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, hervorheben.Volker Kauder war der erste Politiker in Europa, der Prä-sident el-Sisi besucht, ihm die Hand gereicht und gesagthat: Bei allen Schwierigkeiten, die Ägypten gerade hat,brauchen wir Ägypten, brauchen wir eine stabile Regie-rung in Ägypten. Die jetzige, bedauerlicherweise – dashätten wir uns anders gewünscht – nicht demokratischlegitimierte Regierung Ägyptens ist bei weitem besserals die vorherige unter Mursi, die zwar demokratisch ge-wählt, aber extremistisch war.
Das war ein mutiger Schritt, Volker Kauder. Ichglaube, es ist auch richtig, dass Frank-Walter Steinmeierdiesem Schritt jetzt gefolgt ist und dass auch die Bun-deskanzlerin Präsident el-Sisi hier in Berlin treffen wird.Ein letzter Gedanke. Selbstverständlich ist das Ver-hältnis zu Saudi-Arabien nicht einfach, sondern bringtgroße Schwierigkeiten mit sich. Es tut sich wohl nie-mand leicht mit dem Verhältnis zwischen Saudi-Arabienund Westeuropa. Trotzdem ist Saudi-Arabien ein wichti-ger Partner für Israel. Wir sollten diese Beziehung des-halb nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern immermit Bedacht abwägen, welche Folgen es mit sichbrächte, wenn wir gegenüber dem Iran zu gutgläubigaufträten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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9818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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Danke, Philipp Mißfelder. – Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Redner aller Fraktionen haben die große Bedeu-tung der diplomatischen Beziehungen zwischenDeutschland und Israel hervorgehoben. Herr KollegeNouripour, Sie haben Bezug genommen auf den Antragder Koalitionsfraktionen, den Sie unterstützen wollen,wofür wir jetzt schon „Herzlichen Dank“ sagen, undhaben bedauert, dass es kein gemeinsamer Antrag mitder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. HerrKollege Nouripour, es war nicht beabsichtigt, dieGrünen dort auszuschließen, und wir sollten uns für dienächste Beratung vornehmen, so etwas gemeinsam zuformulieren.
Ich habe festgestellt, dass es eine große Übereinstim-mung zwischen dem, was seitens Ihrer Fraktion hier ge-sagt worden ist, und den Erklärungen von VolkerKauder, Gerda Hasselfeldt und der sozialdemokratischenFraktion gegeben hat. Insofern: Wenn wir in diesemPunkt gemeinsam an einem Strang ziehen, dann ist das,glaube ich, insgesamt gut für das Hohe Haus und auchfür die deutsch-israelischen Beziehungen, und darumgeht es uns ja vor allen Dingen.
Frau Kollegin Sitte, ich komme jetzt zu Ihrem Zwi-schenruf und auch zu der in der Tat bemerkenswertenRede Ihres Fraktionsvorsitzenden, die gute Ansätze ent-halten und auch eine große Annäherung an Positionender Koalitionsfraktionen gebracht hat. Sie haben aber– aus meiner Sicht: untertreibend – bedauert, HerrKollege Dr. Gysi, dass es zwischen der DDR und Israelkeine diplomatischen Beziehungen gegeben hat. Es warschon noch weniger: Die DDR hatte geradezu ein Nicht-Verhältnis zu Israel.Während sie ihre politische Legitimation immer darinzu finden meinte, ein antifaschistischer Staat und auchirgendwie das bessere Deutschland zu sein, war geradedie Ansicht der SED und der DDR zu Israel und zumVölkermord, der durch deutsche Hand an den Juden inEuropa verübt worden ist, eine ganz große Lebenslügedes Kommunismus. Ich glaube, das muss man heutzu-tage feststellen.
Die SED-Führung hat im Grunde jede moralischeSchuld und jegliches Bemühen um Wiedergutmachungfür den Völkermord an den Juden abgelehnt. GerdaHasselfeldt hat vorhin betont, wie wichtig es als Voraus-setzung natürlich war, dass Israel ein anderes, ein neuesDeutschland, vertreten durch Konrad Adenauer, WillyBrandt und viele andere – auf Ollenhauer ist ja auch zuRecht hingewiesen worden –, gegenüberstand, welchesin großer Dankbarkeit die Offenheit von David Ben-Gurion und vielen anderen erfahren konnte. Hier mussman sagen und feststellen: Auch an dieser Stelle hat dieSED-Führung vor der Geschichte Deutschlands vollstän-dig versagt.
Ich finde, wenn wir hier 50 Jahre diplomatische Bezie-hungen zwischen Deutschland und Israel miteinanderfeiern und uns darüber freuen, dann gehört es schon zurEhrlichkeit, dies auch zu sagen.
– Na gut. Herr Kollege Dr. Gysi, Sie versuchen hier jetztin dieser Art und Weise, mit kleiner Münze aufzurech-nen. Ich will schon festhalten, dass das völlige Missver-hältnis der DDR zu dem, was in der Zeit zwischen 1939und 1945 geschehen ist, in der Debatte aus meiner Sichtzu wenig gewürdigt wurde.Herr Nouripour hat sich hier hingestellt, auf seine ira-nische Herkunft hingewiesen und gesagt – ich versuche,Sie sinngemäß zu zitieren; ich habe es mitgeschrieben –:Wer sich zu Deutschland bekennt, der bekennt sich auchzur deutschen Verantwortung. – Dazu kann ich nur sa-gen: Das imponiert mir, und so muss es sein. Das kannman nur als das Ideal hinstellen. Das ist in der DDR ebenvöllig gescheitert. Deswegen bleibe ich dabei: Das, wasSie dazu gesagt haben, war bestenfalls eine Untertrei-bung.
– Das trifft Sie an einem empfindlichen Punkt. Wir kön-nen den Antizionismus in der kommunistischen Bewe-gung an anderer Stelle gerne noch einmal vertieft aufar-beiten. Das ist ein wichtiger Punkt, und ich wäre schonfroh, wenn Herr Dr. Gysi in der Zukunft innerhalb seinerFraktion die notwendige Kraft hätte, alle Veranstaltun-gen zu untersagen, die auch nur den Anschein eines anti-israelischen Zungenschlages haben. So war das kürzlichbei dem sogenannten Fachgespräch, bei dem sich dieunwürdige Verfolgung des Herrn Vorsitzenden derLinksfraktion in die Toilettenräume des DeutschenBundestages ereignete. Ich wünsche mir im DeutschenBundestag keine einzige antiisraelische Veranstaltung,auch bei den Linken nicht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9819
Dr. Johann Wadephul
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Kollege Nouripour hat richtigerweise gesagt, dass wirdas Ganze nicht ritualisieren dürfen. Eine wichtigeAufgabe in der Zukunft ist, dass wir – neben denBeschlüssen und all dem Guten, das es gegeben hat – da-rauf achten, dass die Veranstaltungen und die Austausch-programme und das, was es an kulturellem und gesell-schaftspolitischem Austausch gibt, nicht irgendwierituell ablaufen, sondern in die Tiefe gehen und die Men-schen erreichen. Das ist sicherlich leichter gesagt als ge-tan.Ich sage israelischen Politikern immer wieder – auchin aktuellen Debatten –, wenn sie sich beklagen und –vollkommen zu Recht – auf die geopolitische Situationhinweisen, in der sie sich befinden, dass es in verschie-denen Parlamenten in Europa Beschlüsse gibt, die eineeinseitige Anerkennung Palästinas vorsehen – das wirdim Deutschen Bundestag auf Initiative der Linksfraktionwieder diskutiert; das ist ja politisch legitim –: Es istauch eine Aufgabe israelischer Politik, in Europa präsentzu sein und dafür zu sorgen, dass Deutschland – auf-grund seiner besonderen Situation – nicht sozusagenzum letzten Verteidiger israelischer Positionen in Europawird. Wir müssen mehr Verständnis für die Situation er-reichen, in der sich Israel befindet. Das ist auch – daskann man unter Freunden, glaube ich, durchaus formu-lieren – eine Bringschuld der israelischen Politik. Israeli-sche Politiker müssen spätestens jetzt das gesamte Wahl-kampfgetöse hinter sich lassen und aktiver in Europaauftreten, um ihre Position und Situation zu erläutern.Das Zweite ist – das wurde in dieser Debatte schon er-wähnt; auch das ist leichter gesagt als getan –: Die Besu-che vor Ort sind – da folge ich Ihnen, Herr Gysi – durchnichts zu ersetzen, sowohl in Israel als auch in der West-bank und im Gazastreifen. Da sollte man gewesen sein,um das einmal selber zu erleben. Aber man muss die be-sondere geopolitische Situation Israels im Unterschiedzur deutschen sehen. Es ist unser Glück, dass wir nachdem Fall des Eisernen Vorhangs von Freunden umzingeltsind, wie man so schön sagt. Israels geopolitische Situa-tion ist, dass es, wenn auch nicht überall, ein kleinesStaatsgebiet in einer sehr feindlichen Umgebung zu ver-teidigen hat. Die Situation auf dem Sinai und in Ägyptenwurde von Philipp Mißfelder schon angesprochen; sieist außerordentlich schwierig. Dort gibt es Al-Qaida-Verbände. Bedrohungen gehen aber auch vom libanesi-schen und vom syrischen Staatsgebiet aus. Daher gilt inder Tat das, was praktisch alle Redner dazu gesagt haben:Das israelische, das jüdische Volk hat nur diesen Staatbzw. das Staatsgebiet, auf dem es in Frieden und Freiheitleben kann. Es ist unsere besondere Verantwortung, dafürzu sorgen, dass das auch in Zukunft möglich ist.Vielen Dank.
Vielen Dank, Johann Wadephul. – Letzte Rednerin in
der Debatte ist Gitta Connemann für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 50 Jahredeutsch-israelische Beziehungen, das ist eine einzigar-tige Geschichte – von Leid, Trauer, Schuld, Versöhnung,Partnerschaft und Freundschaft. Dazu gehört natürlichder Blick auf die Wurzeln unserer Beziehungen. DieSchoah ist zu Recht in jedem Beitrag angesprochenworden: Die Vernichtung, die Verfolgung und die Ent-wurzelung sind Teil der Geschichte vieler Familien in Is-rael, ebenso wie übrigens die Sehnsucht nach Heimat.Ja, es grenzt an ein Wunder, dass inzwischen mehr als100 000 Juden diese Heimat wieder in Deutschlandgefunden haben. Ja, es grenzt an ein Wunder, wie dieBeziehungen zwischen Deutschland und Israel sich ent-wickelt haben: eng, stark, vertraut. Aus meiner Sicht istein aktuelles Abkommen ein besonderer Beleg dafür:Seit kurzem nehmen wir als Deutschland konsularischeAufgaben für israelische Staatsangehörige in den Län-dern wahr, in denen Israel keine Vertretung hat. Daszeigt, welches Vertrauen mit Blick auf das Wohlergehenseiner Bürger Israel uns entgegenbringt. Das grenzt auchan ein Wunder. Aber Wunder müssen behütet werden,wie übrigens auch Beziehungen gepflegt werden müs-sen. Sie gestatten mir sicherlich an dieser Stelle, auchauf Gefahren hinzuweisen.Erstens: die Gefahr der Oberflächlichkeit. Bei einerVeranstaltung in dieser Woche wurde ein Witz erzählt,der diese Gefahr sehr anschaulich beschreibt. Ich erzähleihn hier: In einem Café in Tel Aviv treffen sich zweiDeutsche. Der eine schreibt gerade einen langen Text inseinen Laptop. Der andere fragt ihn: „Du bist hier, wieschön. Wann bist Du gekommen?“ – „Gestern.“ –„Wann fährst Du wieder?“ – „Morgen.“ – „Und wasmachst Du hier?“ – „Ich schreibe ein Buch.“ – „Wie istder Titel?“ – „Israel – gestern, heute und morgen.“Leider begegnet man in Deutschland diesem Typusdes Nahostverstehers häufig. Viele haben ein Bild,geprägt durch die Medien. Israel wird reduziert aufBegriffe wie Wüste, Krieg, Unterdrückung. Einem wer-den diese Bilder übrigens nicht gerecht: der Realität.Wer sich die Mühe macht, genau hinzusehen, entdecktein unglaublich faszinierendes Land: eine lebendigeDemokratie, in der Juden wie Araber wählen dürfen,eine Vielzahl von Parteien, eine unabhängige Justiz,freie Medien, eine innovative Wirtschaft, ein unglaub-lich lebendiges Land. Aber es ist eben auch ein kleinesLand, das seit seiner Gründung mit dem Rücken an derWand steht. Ich wünsche uns deshalb zu diesem beson-deren Geburtstag: Offenheit, die Bereitschaft, sich eineigenes Bild zu machen.Zweitens: die Gefahr der Entfremdung. Neueste Um-fragen zeigen einen ganz klaren Trend. Viele Menschenin unserem Land interessieren sich außerhalb des Kon-flikts mit den Palästinensern nicht mehr für Israel. Siesind der steten Erinnerung an die Schoah überdrüssig,ebenso der Gedenkveranstaltungen, die zum Teil zu Ri-tualen geworden sind. Sie entfernen sich von Israel, aberübrigens auch von uns, der politischen Elite mit ihremdeutlichen Bekenntnis zu und für Israel.
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9820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Gitta Connemann
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Wie lassen sich Interesse und Zuneigung wieder ent-fachen? Dazu gehört erst einmal, den anderen zu verste-hen. Das heutige Deutschland und Israel sind zwar zunahezu gleicher Zeit entstanden, aber zu vollkommenunterschiedlichen Bedingungen. Wir sagen: Nie wiederKrieg. – Die Israelis sagen: Nie wieder Opfer. – Beidehaben dafür Argumente; denn beide haben aus ihrer Ge-schichte gelernt. Aber es sind eben auch zwei Züge, diein unterschiedliche Richtungen fahren. Das zeigen auchdie Umfragen: Je jünger die Befragten, desto skeptischerstehen sie dem jeweils anderen Partner gegenüber. DerBrückenschlag kann nur über die Menschen gelingen.Ich wünsche mir deshalb, als zweiten Wunsch zu diesembesonderen Geburtstag, dass sich vor allem junge Israe-lis und junge Deutsche begegnen: über Schüleraustau-sche, Städtepartnerschaften, Studienaufenthalte. AmEnde ist das Wichtigste: die Begegnung.Drittens: der Antisemitismus. 20 Prozent der Men-schen in unserem Land sind der Ansicht: Die Juden sinddoch selber schuld. – Die Folgen erleben wir wöchent-lich. Menschen werden bei uns angepöbelt, bedroht odersogar angegriffen, wenn sie sich als Juden zu erkennengeben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. „Jude,Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf allein!“ –Dieser Satz war im vergangenen Jahr auf deutschen Stra-ßen zu hören. Von Nazis – ja –, aber auch von Islamis-ten, von rechts wie von links. Ich schäme mich dafür. Ichfrage mich: Wie sollen unsere jüdischen Mitbürger in ei-nem solchen Umfeld leben? Deshalb wünsche ich mir zudiesem besonderen Geburtstag ein klares Bekenntnis:Jüdisches Leben gehört zu uns. Jüdisches Leben ist Teilunserer Identität und unserer Kultur.
Ein solches Bekenntnis ist die Debatte heute, hier an die-sem Ort, das Bekenntnis aller Abgeordneten, über Par-tei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Das gibt mir Hoff-nung. Die größte Hoffnung geben mir aber die jungenMenschen, wie unsere internationalen Parlamentsstipen-diaten. Auch ich darf einen von ihnen begleiten. Er heißtTomer. Ich habe Tomer gefragt, was er sich als junger Is-raeli zu diesem besonderen Geburtstag wünscht. Ersagte: Ich wünsche mir Offenheit, Ehrlichkeit, Ver-trauen. – Ich persönlich glaube, das sind die besten Wün-sche, um das Wunder, von dem wir sprachen, zu bewah-ren.Masel tov!
Vielen Dank, Gitta Connemann. – Damit schließe ich
eine sehr würdige Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4803 mit dem Titel „50 Jahre diplomatische Bezie-
hungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der
Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Damit ist der Antrag bei Zustimmung von
allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4818 mit dem
Titel „50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Bezie-
hungen – Einmaligkeit und Herausforderung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich bitte Sie, die Plätze zu wechseln, falls Sie die
nächste Debatte nicht verfolgen wollen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 19 a auf:
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen
grundlegenden Wandel in der Asylpolitik
Drucksache 18/3839
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine faire finanzielle Verantwortungs-
teilung bei der Aufnahme und Versorgung
von Flüchtlingen
Drucksache 18/4694
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort als erster
Rednerin Ulla Jelpke für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerZeitpunkt für diese Debatte könnte nicht günstiger sein;denn morgen findet bekanntlich im Kanzleramt derFlüchtlingsgipfel statt. Die Linke diskutiert seit langemmit Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsorganisatio-nen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch mit den Frak-tionen in Ländern und Kommunen über einen Wandel inder Flüchtlingspolitik. Heute stellen wir dieses umfas-sende Konzept vor. Wir brauchen einen grundlegendenParadigmenwechsel in der Asylpolitik: weg von der ge-
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scheiterten Politik der Abschreckung hin zur Integrationvon Flüchtlingen von Anfang an.
Wir gehen von der Realität aus: Die Mehrheit derAsylsuchenden – das zeigen auch die Zahlen – erhält ge-genwärtig einen Schutzstatus in Deutschland. Beispiels-weise Flüchtlinge aus Ländern, in denen Krieg herrscht,also aus Syrien, Irak, aber auch Afghanistan, werdenlangfristig und dauerhaft hier leben. Deswegen muss dasLeitbild bei ihrer Aufnahme eine schnelle Integrationsein.
Die Zeit ihres Asylverfahrens sollte nicht ungenutzt blei-ben. Selbst der Bundesinnenminister fordert inzwischen,noch nicht anerkannte Flüchtlinge zu Integrationskursenzuzulassen – allerdings nur, wenn sie gute Chancen aufAsyl haben. Das ist zwar ein richtiger Schritt in die rich-tige Richtung, doch nach unserer Auffassung sollten alleAsylsuchenden Zugang zu Sprachkursen erhalten.
Flüchtlinge unterliegen integrationshemmenden Son-dergesetzen. Statt der Anwendung des Asylbewerber-leistungsgesetzes fordern wir ihre Einbeziehung in dasallgemeine System der sozialen Sicherung, vor allenDingen auch der Gesundheitsversorgung.
Die Residenzpflicht muss endlich vollständig aufge-hoben werden. Asylsuchende sind keine Kriminellen.Sie müssen das Recht haben, sich frei im Land zu bewe-gen. Flüchtlinge müssen uneingeschränkt Zugang zumArbeitsmarkt haben. Dafür plädiert übrigens auch dieBundesagentur für Arbeit.
Flüchtlinge sollen die Möglichkeit haben, selbst zu ih-rem Lebensunterhalt beizutragen. Wir wollen die Ideenund die Tatkraft der Neuankömmlinge nutzen und sienicht gegen ihren Willen zu abhängigen Leistungsemp-fängern machen.Meine Damen und Herren, wir wollen eine Aufnah-mepolitik in maßgeblicher Verantwortung des Bundes.Flüchtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung. Dadürfen wir nicht die Verantwortung auf die Schwächsten,und zwar auf die Kommunen, abwälzen. Die Folgen die-ser Politik sind bekannt: Die Kommunen sind überfor-dert und bringen Asylbewerberinnen und Asylbewerberin menschenunwürdigen Unterkünften unter. Oft sind esLiegenschaften, die in der Pampa, im Wald oder sonstwo liegen. Die Flüchtlinge sind dann von öffentlichenVerkehrsmitteln abgeschnitten. Das geht so nicht.
Dieser Willkür wollen wir durch eine bundesgesetzlicheRegelung zur Schaffung einheitlicher und guter Min-deststandards für die Flüchtlingsaufnahme und -unter-bringung einen Riegel vorschieben.Wir sagen auch ganz klar: Flüchtlingsunterbringungdarf nicht zulasten anderer öffentlicher Aufgaben gehen.Denn wenn deswegen erst einmal ein Schwimmbad oderein Jugendklub geschlossen wird, ist die Ablehnung inder Bevölkerung groß. Damit werden wiederum Rechtemobilisiert. Auch hierzu müssen wir klar sagen: Wirwollen dort keinen Pegidas und keinen Neonazis in dieHände spielen.
Wir brauchen eine dauerhafte strukturelle Neurege-lung zur Entlastung der Kommunen und keine einmali-gen Geldüberweisungen durch den Bund. Bislang gibt esnur die Zusage des Bundes für zwei Einmalzahlungen inHöhe von 500 Millionen Euro für die Jahre 2015 und2016. Und das reicht hinten und vorne nicht, wie wirwissen.Die Linke tritt für ein Flüchtlingsaufnahmegesetz ein,um eine dauerhafte Übernahme der Kosten für Auf-nahme und Unterbringung der Asylbewerber währendihres Verfahrens durch den Bund zu regeln. Durch finan-zielle Entlastungen könnten Länder und Kommunen ih-ren eigentlichen Kompetenzen nachkommen, wie bei-spielsweise Integration, Einbindung in die städtischeInfrastruktur, rechtliche und soziale Betreuung sowieBildung und Arbeit. Das wäre genau das, was sicherleistbar ist.Meine Damen und Herren, wir wollen nicht alleineine Umverteilung der Gelder zugunsten von Ländernund Kommunen – hier hat sich das SPD-Präsidium in-zwischen unseren Vorschlägen deutlich angenähert –, esgeht uns zugleich um einen inhaltlichen Wandel in derAufnahmepolitik. Dazu will die Linke das bisherigeZwangssystem der Flüchtlingsunterbringung aufbrechen.Schutzsuchende werden derzeit nach einer bürokrati-schen Quote über die Länder verteilt und in große Auf-nahmelager gesteckt, auch dann, wenn sie Verwandteoder Freunde in Deutschland haben, bei denen sie kos-tengünstiger und sozial eingebunden unterkommenkönnten. Das wollen wir ändern. Flüchtlinge sollten dieMöglichkeit haben, dezentral und in normalen Wohnun-gen zu leben. Die zwangsweise Unterbringung in Massen-unterkünften ist nicht nur in vielen Fällen unmenschlich,sie ist aufgrund des Bürokratie- und Kontrollaufwandessogar mit Mehrkosten verbunden. Das gilt übrigens auchfür die Versorgung mit Sachmitteln anstelle von Geld-leistungen. Wir sagen daher: Lasst uns in die Integrationinvestieren, nicht in Abschreckungspolitik!
Meine Damen und Herren, die langen Verfahrensdau-ern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vondurchschnittlich mehr als sieben Monaten sind inakzep-tabel. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag waren dreiMonate angedacht. Doch dafür braucht das BAMF deut-lich mehr Stellen. Zugleich müssen sinnlose Aufgabengestrichen werden, zum Beispiel die nach drei Jahrenobligatorisch durchgeführten Asylwiderrufsprüfungen,die in 95 Prozent der Fälle ohnehin zu nichts führen, da
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das Asyl bestätigt wird. Damit werden Kapazitäten ge-bunden und bereits anerkannte Flüchtlinge unnötigerpsychischer Belastung ausgesetzt.Wir schlagen zudem eine einmalige Altfallregelungdurch Erteilung eines Flüchtlingsstatus bei überlangerVerfahrensdauer vor. So könnte man beispielsweise denBearbeitungsstau bei rund 200 000 Anträgen abbauen.Bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften undauf Veranstaltungen im ganzen Land lerne ich immerwieder Menschen kennen, die sich ehrenamtlich, auch inWillkommensteams, für die Aufnahme und Unterstüt-zung von Flüchtlingen engagieren. Sie bieten Lernhilfenfür Flüchtlingskinder an, spielen mit ihnen Fußball oderTheater, sie begleiten Flüchtlinge zu den Behörden oderbieten ihnen Kirchenasyl. Ich erinnere auch an die vielenAktivisten hier in Berlin und in Hamburg, die seit Mona-ten, zum Teil zwei Jahre lang, für ein Bleiberecht derLampedusa-Flüchtlinge kämpfen – bisher leider ohneErfolg. Sie alle verdienen unsere Unterstützung in ihremEngagement.
Sie tragen übrigens nicht nur zu einer besseren Integra-tion bei, sondern helfen auch, Vorurteile in der Bevölke-rung abzubauen.Doch leider setzt diese Regierungskoalition in derFlüchtlingspolitik weiter auf Abschreckung statt auf In-tegration. Das zeigt zum Beispiel die Neuregelung desAufenthaltsbeendigungsgesetzes, über dessen Entwurfwir demnächst hier abstimmen werden. Verbesserungenbietet er zweifellos für Geduldete, die gute Sprachkennt-nisse haben und einen eigenständigen Lebensunterhaltvorweisen können. Allen anderen Flüchtlingen droht erdamit, dass sie inhaftiert werden können. Die abschre-ckende Botschaft, die hinter diesem Gesetzentwurf steht,ist nicht hinzunehmen. Deswegen lehnen wir ihn ab.Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Linke lehnteine Unterteilung in gute und schlechte Flüchtlinge ab.Jeder Mensch, der flieht, hat einen Grund; er flieht nichteinfach mal eben so und verlässt sein Land und seine Fa-milie. Deswegen sagen wir: Menschenwürde ist für unsnicht verhandelbar. Die Türen müssen weiter offen blei-ben für Menschen in Not.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin in der
Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst sind wir uns, liebe Ulla Jelpke, offensichtlichin einem Punkt einig: dass nämlich die vielen ehrenamt-lichen Helfer, die unser Asylsystem mittragen, deutlichmachen, wie groß das Verantwortungsbewusstsein fürFlüchtlinge in ganz Deutschland ist. Bei ihnen solltenwir uns heute wieder einmal ganz besonders bedanken.
Eine Allensbach-Studie im Auftrag der Robert BoschStiftung von 2014 zeigt, dass die deutliche Mehrheit derBevölkerung in Deutschland für die Aufnahme vonMenschen ist, die persönlich verfolgt werden. Gleichzei-tig spricht sich aber eine klare Mehrheit für strengeAsylregeln aus. In der Studie wird diese Forderung fol-gendermaßen erläutert – ich darf sie zitieren –:Die Bevölkerung möchte offenbar unterschiedenwissen zwischen Asylbewerbern, die aufgrund per-sönlicher Verfolgung oder akuter existenzieller Be-drohung bei uns – legitimerweise – um Asyl nach-suchen, und solchen, die „nur“ aus wirtschaftlichenGründen kommen oder gar das vermeintlich laxedeutsche Asylrecht ausnutzen.Ich halte diese Forderung grundsätzlich für berech-tigt. Es ist daher sehr wohl gerechtfertigt, zwischen un-terschiedlichen Asylbewerbern zu unterscheiden.
Die vorliegenden Anträge unterstellen wieder einmal,dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüberFlüchtlingen nicht gerecht werde. Es wird wieder einmaldavon gesprochen, wir würden Flüchtlinge nicht will-kommen heißen. Dieser Vorwurf ist komplett absurd.Wenn die Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschlandso schlecht wären, wenn wir keine Willkommenskulturhätten, dann würde wohl nicht jeder dritte Asylantrag inEuropa in Deutschland gestellt werden.
In beiden Anträgen wird davon gesprochen, dass dieBewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtstaatlicheAufgabe sei. Dem kann man uneingeschränkt zustim-men. Gleichzeitig wird aber gefordert, der Bund alleinesolle sämtliche Kosten für die Verfahren, für die Unter-bringung und für die Versorgung der Asylbewerber über-nehmen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren,ist ein Widerspruch in sich. Die Verantwortung einseitigauf den Bund abzuwälzen, ist gerade keine Verteilungder gesamtstaatlichen Aufgabe, sondern das ist ein Weg-schieben von Verantwortung auf den Bund. Unser föde-raler Staat besteht aus Bund, Ländern und Kommunen.Sie tragen gemeinsam Verantwortung, und das ist auchgut so.Die Bundesregierung engagiert sich längst massiv inder Flüchtlingshilfe. Allein für Syrien haben wir1,5 Milliarden Euro bereitgestellt und leisten damit ei-nen wichtigen Beitrag, um die Flüchtlingskrise vor Orteinzudämmen; denn 3,8 Millionen Syrer befinden sichaußerhalb ihres Landes auf der Flucht und 7,5 Millionenin Syrien. Da frage ich mich, wo diese Menschen in Ih-ren Anträgen berücksichtigt werden.
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Der Bund unterstützt aber auch die Länder und Kom-munen bei ihren Aufgaben. In Bundesimmobilien wur-den bis heute weit über 22 000 Unterbringungsplätze ge-schaffen. Der Bund stellt den Kommunen seineImmobilien mietzinsfrei zur Verfügung und entlastet siedamit um etwa 25 Millionen Euro pro Jahr. Über das no-vellierte Asylbewerberleistungsgesetz übernimmt derBund jährlich Kosten von 43 Millionen Euro. Weitere10 Millionen Euro nimmt der Bund den Kommunendauerhaft bei den Impfkosten ab. Für dieses und nächs-tes Jahr wird 1 Milliarde Euro als zusätzliche Unterstüt-zung bei der Flüchtlingsversorgung bereitgestellt. Wirhaben auch das Baurecht geändert und Flüchtlingsunter-künfte in Gewerbegebieten ermöglicht, um die Unter-bringung vor Ort zu erleichtern.Auch die Bundesländer könnten ihre Kommunen ent-lasten. Der Freistaat Bayern zum Beispiel übernimmtvollständig die Kosten für die Unterbringung und Ver-sorgung von Asylbewerbern. Die meisten Bundesländerspeisen ihre Kommunen aber mit viel zu niedrigen Pau-schalen ab und rufen stattdessen nach neuem Geld vomBund. Beim Flüchtlingsgipfel Ende April in Erfurt wareine der Hauptforderungen an die rot-rot-grüne Landes-regierung, die 13,5 Millionen Euro, die der Bund für dieFlüchtlinge in Thüringen bereitgestellt hat, doch bittevollständig an die Kommunen weiterzureichen. Daszeigt mir, dass mehr Geld vom Bund alleine keine Lö-sung ist.
– Na, dann ist es noch schlimmer, wenn es in Sachsennoch schlimmer ist. – Niemand bestreitet, dass die Be-wältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtgesellschaft-liche Aufgabe ist. Sie kann aber nicht mit immer neuenForderungen nach mehr Geld oder dem Verschieben vonVerantwortung auf den Bund gelöst werden.Das zeigt uns auch die aktuelle Asylstatistik – dieseZahlen müsste man einmal zur Kenntnis nehmen –: Imersten Quartal dieses Jahres wurden über 85 000 Asylan-träge in Deutschland gestellt. Mehr als die Hälfte derAntragsteller stammt aus den Balkanstaaten, obwohlihre Anträge seit Jahren zu fast 100 Prozent abgelehntwerden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlingehat in diesem Jahr bei 8 324 geprüften Asylanträgen vonSerben in keinem einzigen Fall einen Schutzgrund fest-gestellt. Bei 11 250 Entscheidungen über Asylanträgevon Kosovaren wurde in nur einem einzigen Fall einsubsidiärer Schutzgrund festgestellt. Hier müssen wirgegensteuern; denn diese vielen offensichtlich unbe-gründeten Asylanträge binden wichtige Ressourcen. Nurwenn wir auch in den Herkunftsländern Fluchtursachenbekämpfen und wenn wir Fehlanreize in Deutschlandbeseitigen, dann werden wir unsere Kommunen dauer-haft und nachhaltig entlasten.Ein wesentlicher Fehlanreiz ist die Vermischung vonAsyl- und Arbeitsmigration. Das belegen auch die An-hörungen der Menschen vom Westbalkan, die ganz offensagen, sie wollen zum Arbeiten zu uns kommen. Das istauch gut so. Aber wir haben andere Instrumentarien, umdafür nach Deutschland in zulässiger Weise einreisen zukönnen. Asyl dient ausschließlich dem Schutz verfolgterMenschen und nicht der Fachkräfteanwerbung.
Die Union will anerkannten Flüchtlingen zügig helfenund sie integrieren. Natürlich haben wir im letzten Jahrauch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Aber,liebe Ulla Jelpke, wir sind natürlich dagegen, dass jederFlüchtling ab dem ersten Tag bei uns arbeiten kann; dasist so. Angesichts der steigenden Gesamtschutzquote,die aktuell bei 37 Prozent liegt, und der immer noch zulangen Verfahrensdauer müssen wir die Asylbewerber,bei denen Schutzgründe offensichtlich sind, schneller in-tegrieren und ihnen schneller Integrations- und Sprach-kurse zur Verfügung stellen. Insofern begrüße auch ich,dass der Bundesinnenminister jetzt angekündigt hat,dass dies erfolgen soll. Aber – auch das gehört dazu –bei aussichtslosen Asylanträgen müssen wir für eineschnelle und zügige Rückführung und dem vorgeschaltetauch für schnelle Verfahren Sorge tragen. Um die Asyl-verfahren zu beschleunigen, hat das Bundesamt für Mi-gration und Flüchtlinge im letzten Jahr 650 zusätzlicheStellen bekommen. Die Besetzung dieser Stellen brauchtseine Zeit. Angesichts der steigenden Antragszahlen –
– ich weiß es – und auch angesichts des Rückstandesmüssen wir sicherlich über eine weitere Stellenauswei-sung nachdenken. Das wird auch erfolgen. Ich hoffe,dass der morgige Flüchtlingsgipfel hier Ergebnissebringt.
Ich will an dieser Stelle aber sagen: Wenn wir mehr Be-scheide haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass dieseBescheide entsprechend vollzogen werden, egal in wel-che Richtung sie gehen.Wir haben im letzten Jahr drei Westbalkanstaaten zusicheren Herkunftsstaaten erklärt, und die entsprechen-den Anträge können jetzt schneller bearbeitet werden.Bayern hat im Bundesrat ein Gesetz vorgelegt, um dreiweitere Balkanstaaten ebenfalls als sicher einzustufen.Leider verweigern sich hier die rot- und grüngeführtenLänder, dieser Erleichterung zuzustimmen, obwohl auchder Präsident des Bundesamtes für Migration undFlüchtlinge dies erst kürzlich ausdrücklich empfohlenhat. Mit diesen Maßnahmen und auch mit den Schnell-verfahren bei den Kosovo-Anträgen konnten wir trotzsteigender Antragszahlen die durchschnittliche Verfah-rensdauer von sieben auf fünfeinhalb Monate reduzie-ren. Unser Ziel bleibt eine Verfahrensdauer von drei Mo-naten.Aber Personal und Geld alleine lösen die Krise nicht.Die globale Flüchtlingskrise – ich will daran erinnern:über 50 Millionen Menschen befinden sich auf derFlucht – kann man nicht mit kleinteiligen Maßnahmenauf nationaler Ebene lösen. Deutschland schottet sichauch nicht ab. 420 Millionen Europäer können bei unsproblemlos einreisen. Der Flüchtlingsschutz genießt bei
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uns Verfassungsrang. Die Menschen in Deutschlandübernehmen Verantwortung für die Flüchtlinge, undauch die Bundesregierung tut dies. Wir versuchen nichtmit Polemik, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln, denvielfältigen Anforderungen gerecht zu werden und dieFlüchtlingsproblematik zu lösen, obgleich uns das nievollständig gelingen kann. Die Flüchtlingsproblematikwird uns auch in diesem Jahr noch intensiv beschäftigen.Wir sollten gemeinsam auf allen Ebenen dafür Sorge tra-gen, dass wir nicht nur die Symptome bekämpfen, dasswir nicht nur mehr Geld fordern, dass wir uns nicht aufSprachkurse beschränken, sondern dass wir auch dasGlobale im Auge behalten, dass wir auch Europa nochmehr mit in die Verantwortung nehmen und die vielfälti-gen Ursachen anpacken.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen
und Bürger auf der Zuschauertribüne! Lassen Sie mich
eingangs kurz sagen: Ich bin immer wieder erschrocken
darüber, wie Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
die ja alle auch aus irgendwelchen Wahlkreisen vor Ort
kommen, technokratisch und kalt ein solches Thema, mit
dem wir alle so verbunden sind, besetzen.
Ich möchte das jetzt nicht noch aufwerten. Deshalb
gehe ich nicht auf einzelne Fragen ein. Aber ich spreche
Sie, die Bürgerinnen und Bürger, die heute zuhören oder
hier im Saal sind, auch ganz gezielt an. Es gibt so viel
Zustimmung. Es gibt so viel Unterstützung. Es gibt so
viel Verständnis dafür, dass wir in einer so unglaublich
privilegierten Situation in unserem Land leben, weil wir
in Frieden leben und weil wir nicht wie Millionen von
Kindern, Frauen und Männern vor Krieg, vor Gewalt,
vor Terror, vor Diskriminierung fliehen und die Heimat
verlassen müssen. Das tun Menschen nicht einfach nur
so, aus Lust und Laune, sondern sie fliehen aus Not und
Verzweiflung.
Verdammt noch einmal, Frau Lindholz, verbinden Sie
doch so etwas einmal mit einem solchen Thema! Was
glauben Sie denn, was Bürgerinnen und Bürger in den
Kirchengemeinden tun? Haben Sie sich den Beschluss
der evangelischen Kirche in Deutschland einmal angese-
hen? Wissen Sie, worüber Menschen vor Ort diskutie-
ren? Es gibt eine breite Zustimmung in der Bevölkerung,
dass wir Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen,
hier aufnehmen und unterstützen.
Das ist der Punkt, um den es heute geht.
Das ist der Punkt, um den es auch uns in dieser Debatte
geht.
Hören Sie auf, die Menschen, die fliehen, in Flie-
hende erster und zweiter Klasse einzuteilen! Das steht
Ihnen nicht zu.
Sie sind nicht die Asylprüfungsverfahrensinstanz. Men-
schen fliehen, und es gibt hier rechtsstaatliche Prinzi-
pien, nach denen geprüft wird, ob jemand asylberechtigt
ist oder nicht. Diese Prüfung steht nicht Ihnen zu.
Frau Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Huber?
Ja, natürlich.
Bitte schön, Herr Kollege.
Liebe Kollegin, es ist leider Gottes wieder so, dass
wir in dieser Diskussion gewisse Fakten unterschlagen.
Das hat meine Kollegin vorher schon anklingen lassen.
Es gibt wohl einen Unterschied zwischen Flüchtlingen
aus Krisengebieten. Ich möchte jetzt nicht von Wirt-
schaftsflüchtlingen reden; denn Wirtschaftsflucht klingt
so, als ob man seine ohnehin akzeptable Lebenssituation
verbessern möchte. Ich rede von Armutsflucht.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich dessen bewusst
sind, welche Zeichen Sie hier in Ihrer emotionalen Rede
in Richtung jener Verantwortlichen setzen, aus deren
Ländern die Armutsflüchtlinge kommen. Ich möchte
auch auf das Bezug nehmen, was Ihre Vorrednerin Frau
Jelpke gesagt hat.
– Es wäre sehr nett, wenn Sie mich ausreden ließen.
Herr Kollege Huber, Sie fragen jetzt die KolleginHaßelmann.
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Gut. – Meine Frage ist, ob Sie sich bewusst sind, wel-
che Signale Sie senden; denn Sie werden diesen Flücht-
lingsstrom vergrößern.
– Lassen Sie mich ausreden! – Wir reden hier nicht nur
von Menschen, die es geschafft haben, hierherzukom-
men, sondern wir reden darüber, dass Sie hier die Ar-
mutssituation von Menschen politisch ausschlachten,
unsere Gesellschaft emotionalisieren
und ihr Fakten vorenthalten, was mit Menschen auf dem
Weg zur Ablegestelle über das Meer geschieht.
Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie viele Leute in
der Wüste enden? Haben Sie sich Gedanken gemacht,
wie viele Leute sterben, bevor sie das Ufer erreichen?
Sind Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, wenn Sie
hier sagen, wir könnten uneingeschränkt Leute in unse-
rer Gesellschaft aufnehmen? Wissen Sie, was Sie damit
verursachen?
Vielen Dank.
Können wir uns darauf verständigen, dass jetzt Frau
Haßelmann das Wort hat?
Meine Damen und Herren, noch habe überwiegend
ich das Wort. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr
Huber, seien Sie sich gewiss, dass ich mir meiner Ver-
antwortung, der Verantwortung des Parlamentes und der
Verantwortung für dieses Thema sehr bewusst bin. Des-
halb kann ich Ihren unfassbaren Beitrag im Hinblick auf
die Einschätzung, was Menschen auf der Flucht angeht,
nur zurückweisen und Ihnen sagen: Ich teile Ihre Auffas-
sung nicht.
Meine Damen und Herren, morgen findet im Kanzler-
amt ein Treffen statt, zu dem die Kanzlerin eingeladen
hat. Es sind acht von sechzehn Ländern eingeladen. Es
gibt keine Begründung, keine Erklärung der Bundesre-
gierung, warum nur acht Länder eingeladen sind. Wir
haben mehrere Versuche unternommen, herauszufinden,
warum acht von sechzehn Ländern eingeladen worden
sind. Liegt es an der Farbenlehre, liegt es daran, welcher
Ministerpräsident oder welche Ministerpräsidentin inte-
ressant ist? Es gibt keinen Sachgrund dafür. Acht sind
eingeladen, sechzehn Länder haben wir.
Die Kommunen sind gar nicht mit am Tisch,
obwohl sie die Hauptakteure sind, meine Damen und
Herren. Vor Ort in den Städten und Gemeinden werden
Menschen, die auf der Flucht sind, aufgenommen, vor
Ort wissen die Leute ganz genau, welche Unterstützung
gebraucht wird. Es gibt bis heute keine Erklärung dafür,
warum die Kommunen zu diesem Treffen im Kanzler-
amt nicht eingeladen wurden.
Die Kommunen gehören aber mit an den Tisch; das
ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.
Die Leute vor Ort könnten nämlich genau das einfor-
dern, was auch wir einfordern, was die evangelische Kir-
che einfordert: Wo ist die Gesundheitsversorgung für
Flüchtlinge, die Sie den Ländern längst zugesagt haben?
Vor einem halben Jahr ist das zugesagt worden; doch es
gibt sie bis heute nicht. Wo ist die Initiative in Ihrem
Haushalt oder in Ihrem Nachtragshaushalt zur Erhöhung
der Sprachfördermittel, damit endlich alle Menschen
Zugang zu Sprachförderung haben? Wo ist die Initiative
zur Ausbildung junger Flüchtlinge, minderjähriger
Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen? Wo sind die
Unterstützungsleistungen für Integration, für Trauma-
beratung der vielen Fliehenden, die traumatisiert sind?
All das kommt im Haushalt der Bundesregierung, auch
im Nachtragshaushalt, nicht vor. Da ducken Sie sich hier
auf Bundesebene, im Parlament einfach weg und ma-
chen jetzt eine Besprechung mit acht Ländern, aber auf
keinen Fall mit den Hauptakteuren vor Ort; denn die
würden von Ihnen einfordern, dass Sie endlich handeln
und konkrete Unterstützung bieten bei dieser Aufgabe,
die schließlich eine nationale Aufgabe ist. Das dürfen
Sie nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen!
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt hat das Wort derKollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will jetzteinfach versuchen, wieder sachlich in diese Debatte ein-zusteigen.
Ich glaube auch, die Tonalität macht noch nicht eine gutePolitik aus; das kann sich an unterschiedliche Stellen indiesem Saal richten.Wir führen diese Debatte heute nicht nur vor demmorgigen Tag, an dem ein Flüchtlingsgipfel stattfindet,sondern wir führen diese Debatte auch zu einemZeitpunkt, wo wir die Prognose bekommen haben, dasssich die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland in diesemJahr absehbar verdoppeln wird. Das zeigt den Ernst derLage. Das zeigt, dass es nicht nur um deutsche Asylpoli-tik geht. Das zeigt auch, dass es nicht nur um Asylpolitikgeht. Die Herausforderung ist komplex, und einfacheAntworten gibt es nicht. Das Allerwichtigste ist, dassmehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können;dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.
Wir alle wissen, dass das leichter gesagt ist als getan.
Viele Entwicklungen, die wir in den letzten Monatenund Jahren hier auch begleiten, laufen in die völligandere Richtung. In den Medien und auch in den Sit-zungswochen löst eine Krisenregion die andere alsThema ab. Aber das ist eben unsere Zeit. Wir müssenuns den Herausforderungen stellen, die sie uns bietet,und dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen.Die zweite Ebene – das muss heute auch noch einmalkurz Thema sein – ist Europa. Wir können ja nicht,jedenfalls nicht sinnvoll, isoliert über Asylpolitik spre-chen, denn unsere Grenzen sind in Wahrheit die Außen-grenzen der Europäischen Union; Europa ist der Zu-fluchtsort. Vor zwei Wochen haben wir uns hieranlässlich der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittel-meer zu einer Schweigeminute von den Plätzen erhoben.In unser Schweigen dringen die Hilfeschreie der Ertrin-kenden. Mit Blick auf den Ratsbeschluss, der einen Tagspäter getroffen wurde, kann man nur sagen: Sie hättenbesser geschwiegen;
denn die Ergebnisse sind unter allen Erwartungen ge-blieben, die man haben konnte.
Dass sich Europa nicht einmal auf eine konkrete Zahlvon Flüchtlingen verständigen konnte, denen man einResettlement anbietet, ist aus meiner Sicht schändlich.
Ich wiederhole: Wir brauchen neben Grenzschutz undBekämpfung von Schleusern eine akut wirksame See-notrettung. Es ist gut, dass jetzt zwei weitere deutscheSchiffe im Mittelmeer sind und dort auch Unterstützungleisten; aber es ist doch absurd, dass sie die Menscheneinsammeln und man nicht einmal weiß, wohin mitihnen. Wir brauchen einen Verteilungsschlüssel fürFlüchtlinge in Europa. Wir müssen in Kontingenten, dieuns fordern, aber nicht überfordern – es geht immer umdas rechte Maß –, legale Zugangswege nach Europa er-öffnen. Wenn es also irgendwo ein Umdenken gebenmuss, meine Damen und Herren, dann in allerersterLinie in der europäischen Flüchtlingspolitik. Wir sehen:Die Menschen kommen ohnehin. Wir können das nurgestalten; wir können es nicht verhindern.
Damit zu Deutschland. Auch ich bin überzeugt, dasswir zu großen humanitären Anstrengungen in der Lagesind – das zeigen wir auch – und dass wir die Hilfsbe-reitschaft der Menschen sichern können. Das ist aber anVoraussetzungen gebunden.Die erste Voraussetzung ist: Es muss klar sein, dassunsere Hilfe auf Menschen trifft, die vor politischerVerfolgung, Krieg und Terror fliehen. Jetzt können wirbeklagen, dass in unseren Asylverfahren auch Menschenlanden, auf die das gar nicht zutrifft; aber wir müssenuns gleichzeitig fragen: Welche Alternativen haben dieseMenschen? Ich will an dieser Stelle für die SPD-Fraktion klar sagen: Die Einstufung dreier Staaten als si-chere Herkunftsstaaten haben wir im Koalitionsvertragvereinbart. – Für mehr sind wir nicht zu haben.
Das Beispiel Kosovo zeigt uns eindeutig, dass wirauch ohne das Konzept von sicheren HerkunftsstaatenErfolge haben können. Von dort sind in der Spitze über1 000 Menschen am Tag zu uns gekommen. Jetzt liegtdas nur noch im zweistelligen Bereich, und das ohne dieAusweisung als sicherer Herkunftsstaat. Man macht einGrundrecht nicht besser, indem man es einschränkt.
Die zweite Voraussetzung ist, dass die Menschen inDeutschland das Gefühl haben müssen, dass wir uns mitaller Kraft auch um ihre Alltags- und ihre Zukunfts-sorgen kümmern. Es muss sichergestellt sein, dass das,was wir für Flüchtlinge tun, nicht gegen Kinderbetreu-ung, nicht gegen Schwimmbäder, nicht gegen Kulturund nicht gegen soziale Infrastruktur vor Ort geht.
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Wir müssen – das ist der dritte Punkt, ein sehr wichti-ger Punkt – die Herausforderung organisatorisch gutbewältigen, und zwar in einer Verantwortungsteilungzwischen Bund, Ländern und Kommunen. Vonseiten derSPD liegen vor dem morgigen Flüchtlingsgipfel hierzuVorschläge vor. Wir wollen die Kommunen von denKosten der Flüchtlingsunterbringung und Integrationentlasten. Ich sage: Es macht keinen Sinn, dass wir dieMenschen ins flache Land verteilen, wenn ihr Aufent-haltsstatus noch völlig ungeklärt ist; da müssen wirgegensteuern. Die Menschen engagieren sich für Inte-gration – alle Redner haben das völlig zu Recht mit Lobversehen –, aber man weiß gar nicht: Trifft das auf Men-schen, die auf Dauer bei uns bleiben können? Da werdenauch Ressourcen vergeudet.Wenn wir als Bund stärker in die Verantwortung ge-hen, dann ist es auch unsere Aufgabe, für Standards zusorgen, also zu sagen, was wir dafür haben wollen. Wiesehen die Unterkünfte aus? Wie sieht es mit der Sozial-betreuung aus? Welche Anstrengungen werden inRichtung Arbeitsmarkt unternommen? Schließlich: Wirtreten für die Übernahme der Gesundheitskosten nach ei-nem bundeseinheitlichen Verfahren ein. Das haben wirvorgelegt.Damit sind wir insgesamt wieder bei der Frage desGeldes. Es ist richtig: Es geht darum, Lasten zu teilen, esgeht darum, Verantwortung zu teilen, und es geht umRessourcenteilung. Man kann das Ganze als einenKuchen sehen. Wenn mehr Menschen ein Stück habenwollen, dann bleibt für jeden weniger übrig. Aber es gibtauch die andere Perspektive, und diese andere Perspek-tive ist ebenfalls richtig, nämlich: Wer teilt, wird reicher.Genau das ist es, was die vielen tausend Helferinnen undHelfer vor Ort spüren, wenn sie sich um Flüchtlinge oderganz einfach um andere kümmern. Es gilt der alte Satzvon Goethe: Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.
Diese Sicht, dass das Teilen uns auch reicher machenkann, gibt uns die Kraft, die vor uns liegenden Heraus-forderungen nicht nur anzupacken, sondern auch zumeistern.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Barbara Woltmann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Jeder, der politisch verfolgt ist und in Deutschland nachSchutz sucht, soll und muss ihn auch bekommen. Arti-kel 16 a unseres Grundgesetzes zum Asylrecht ist schoneinzigartig in dieser Welt, in unserer Welt. Daran möchtehier bei uns auch niemand rütteln.Wir wissen, wie viele Menschen weltweit auf derFlucht sind. Viele machen sich nach Europa auf, auchnach Deutschland. Deutschland verschließt sich diesenEntwicklungen auch gar nicht. Bei allem Verständnis fürdie Emotionalität, Frau Haßelmann oder Frau Jelpke– ich habe Verständnis dafür; es geht schließlich umMenschen –: Wir müssen immer zu einer Ausgewogen-heit kommen.Was können wir hier in Deutschland leisten? Wir kön-nen eine Menge leisten. Wir sind ein wohlhabendesLand. Aber wir müssen hier maßvoll sein, damit dieMenschen in unserem Land, unsere Kommunen – ichkomme noch dazu – das letzten Endes bewältigen kön-nen.
– Ja, Sie haben Vorschläge gemacht. Einiges davon istschon umgesetzt, anderes ist vielleicht nicht so praktika-bel. – Die Zahlen hat Kollegin Lindholz schon genannt:Wir rechnen in diesem Jahr mit 400 000 Asylbewerbern.Das wird eine große Herausforderung werden.Wenn ich Ihre Anträge lese, dann habe ich manchmaldas Gefühl, als hätten wir hier in Deutschland noch garnichts für diese Menschen getan. Das ist falsch. Wirhaben schon eine ganze Menge getan. Ich möchte andieser Stelle den Kommunen einen großen Dank aus-sprechen. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft derKommunen gegenüber Flüchtlingen ist groß; es ist vonden Vorrednern schon angesprochen worden. Überallgibt es jetzt schon bürgerschaftliches Engagement invielfältigster Weise. Die Kommunen, die Kirchen unter-stützen das. Mein Landkreis stellt Geld für Integrations-kurse, Sprachkurse zur Verfügung. Integrationslotsenwerden ausgebildet. All das sind sehr positive Beispiele,die es zu Hunderten gibt.
Dazu entnehme ich Ihren Anträgen nicht so viel.Wir können – auch das muss ich an dieser Stellesagen – nicht immer nur mit der Forderung nach mehrGeld vom Bund kommen. Damit machen wir es unswirklich zu einfach.
In einem Punkt bin ich ganz bei Ihnen – Vorredner habenes auch schon gesagt –: Wenn der Bund wirklich mehrGeld in die Hand nimmt – ich weiß nicht, was morgenbeim Gipfel herauskommen wird –,
dann müssen wir aber auch über die Strukturen insge-samt sprechen, dann müssen wir überlegen: Was könnenwir ändern? Was muss besser gemacht werden?Auch ich möchte zunächst einmal auf ein Grundpro-blem bei der Aufnahme und der Unterbringung vonFlüchtlingen und Asylbewerbern zu sprechen kommen
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9828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Barbara Woltmann
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– auch das findet in Ihrem Antrag keine Erwähnung –,nämlich die Frage der Schutzbedürftigkeit. Die Zahlen,auch die Zahl der Anträge, die es in diesem Jahr schongab, will ich gar nicht mehr erwähnen; aber immerhinkommen 50 Prozent der Antragsteller aus dem West-balkan. Die Anerkennungsquote liegt bei ihnen bei weitunter 1 Prozent. Ich bin der festen Überzeugung: Wirmüssen weitere sichere Herkunftsländer festlegen – das,was wir da haben, reicht noch nicht – oder andere Struktu-ren schaffen, die so gut und sicher sind, dass dies nicht nö-tig ist, um zu gewährleisten, dass Menschen, die nichtpolitisch verfolgt sind – ich beziehe mich auf Artikel 16 ades Grundgesetzes –, nicht mit der Begründung, hierAsyl zu beantragen, zu uns kommen können. Hier gehtes um ganz andere Fluchtgründe.
Wir müssen natürlich insbesondere an die Kommunendenken, weil sie das letzte Glied in der Kette sind unddie Last zu tragen haben: die Last der Unterbringung undden dadurch entstehenden Kostendruck. Eines muss ichan dieser Stelle aber auch einmal sagen: Wir haben einenDreiklang der Verantwortung. Das ist unserem föderalenSystem geschuldet, und es ist auch richtig so. Trotz allergesamtstaatlichen Verpflichtungen, die angesprochenworden sind, würde ich nicht von diesem Dreiklangabweichen wollen. Da muss man auch die Länder ganzstark in die Pflicht nehmen. Wir müssen leider feststel-len, dass viele Länder ihren Verpflichtungen nicht nach-kommen. Sie sind für die Unterbringung in einer Erst-aufnahmeeinrichtung zuständig. Da von „Lagerhaltung“zu sprechen, Frau Jelpke, finde ich ganz schlimm.
– Oder „Lagerunterbringung“. Das finde ich von der Be-grifflichkeit her schon sehr bedenklich;
denn da reden wir von Menschen.Die Länder müssen dafür sorgen, dass die Flücht-linge, die dort untergebracht werden, wenigstens diejeni-gen, deren Anträge offensichtlich unbegründet sind, garnicht erst auf die Kommunen verteilt werden. DasGleiche gilt aus meiner Sicht auch für die Menschen, dieunter die Dublin-Verordnung fallen. Es ist auch richtig,dass die Menschen erst einmal in eine Erstaufnahme-einrichtung kommen, weil es dort Außenstellen desBAMF gibt, in denen die Anträge gestellt werdenkönnen. Da kann sofort die Bearbeitung stattfinden.Offensichtlich unbegründete Anträge könnten gleich beider Erstaufnahme bearbeitet werden; das ist meine Ideal-vorstellung. Die Antragsteller würden erst dann auf dieKommunen verteilt werden, wenn wir wissen, dass siewahrscheinlich anerkannt und dauerhaft bei uns bleibenwerden. Das würde schon etliche Probleme lösen.Für die Abschiebung sind die Länder zuständig. Wirdürfen es nicht so weit kommen lassen, dass die bisherwirklich positive Grundstimmung in der Bevölkerungkippt. Die Menschen haben ein ganz feines Gespür fürGerechtigkeit, und Sie sprechen doch immer von Ge-rechtigkeit. Wir haben Gesetze, und diese sollten wireinhalten und nicht brechen. Die Menschen, die keinBleiberecht haben, weil kein Asylgrund vorliegt und de-ren Antrag daher abgelehnt wurde, müssen konsequentin ihre Herkunftsländer zurückkehren, und dafür sind dieLänder verantwortlich.
Ich kann nicht immer nur vom Bund fordern: Gib mirmehr Geld! Ich will die vielen Milliarden, die der Bundbereits zur Unterstützung der Länder und Kommunenin die Hand genommen hat, gar nicht erwähnen. DieOpposition sagt: 1 Milliarde, das ist nichts. 1 Milliarde– 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 500 MillionenEuro im nächsten Jahr – ist nichts? Das ist doch eineganze Menge! Die vielen anderen Maßnahmen, die wirbereits ergriffen haben, will ich auch nicht erwähnen.Frau Kollegin Lindholz hat die neu geschaffenen Stellenschon angesprochen.Ein Wort zum Antrag der Linken. Er enthält vielePunkte, die bereits umgesetzt sind: die Lockerung derResidenzpflicht nach 3 Monaten,
die Erleichterung bei der Arbeitsaufnahme: nach 3 Mo-naten mit Vorrangprüfung, nach 15 Monaten ohne Vor-rangprüfung. Das sind doch alles positive Regelungen.Ich weiß gar nicht, warum Sie das alles immer soschlechtreden oder überhaupt nicht anerkennen, dass wirdiese guten positiven Regelungen haben.
Für eine gesamtstaatliche Lösung, für die wir alle of-fen sind, brauchen wir letzten Endes den bereits ange-sprochenen Dreiklang der Verantwortung. Hier sind derBund, die Länder und die Kommunen in der Pflicht. Dermorgige Flüchtlingsgipfel mit Vertretern von Bund undLändern wurde schon angesprochen. Frau Haßelmann,Sie haben in diesem Zusammenhang bemängelt, dass dieKommunen nicht dabei sind. Ja, das stimmt, aber füreine Beschwerde sind wir, der Bund, nicht der richtigeAnsprechpartner.
– Nein, da müssen Sie die Länder ansprechen. Die Län-der können die Kommunen mitnehmen. Die Länder sindfür die Kommunen zuständig. Sie wollen doch nicht inAbrede stellen, dass die Länder für die Kommunen ver-antwortlich sind? Das ist ein wichtiger Punkt; wir kön-nen nachher gerne noch einmal darüber sprechen. Un-sere Fraktion führt ständig Gespräche mit Vertretern derkommunalen Spitzenverbände.
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Barbara Woltmann
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Ich bin froh – damit komme ich zum Schluss –, dassin der nächsten Woche auf europäischer Ebene über die-ses Thema gesprochen wird. Ich bin der Meinung, dasswir auf europäischer Ebene ein Quotensystem brauchen.In Europa muss die Last auf mehrere Schultern verteiltwerden. Wir in Deutschland können die Probleme alleinnicht lösen. Vielmehr ist das eine europäische Heraus-forderung, der wir uns alle stellen müssen.Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kol-
legin Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da Frau Woltmann
mich angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nut-
zen, darauf zu erwidern. Ich verstehe wirklich nicht, dass
sich die Große Koalition, also sowohl die Union als auch
die SPD, bei der Frage, warum sie die Kommunen nicht
einlädt, auf billige Art und Weise herausredet, indem sie
argumentiert, das sei eine verfassungspolitische Frage;
denn die Kommunen seien eine abgeleitete Ebene der
Länder.
Alle kommunalen Spitzenverbände fordern, eingela-
den zu werden. Niemand bestreitet, dass sie die Haupt-
akteure sind. In der Vergangenheit wurden die Kommu-
nen zu sehr vielen solcher Gipfel, Termine oder Treffen
eingeladen. Da hat es Sie überhaupt nicht interessiert,
welche staatlichen föderalen Ebenen wir im Sinne des
Verfassungsrechtes haben. Das sind doch wirklich an
den Haaren herbeigezogene Argumente,
um sich mit den inhaltlichen und sehr präzisen Forderun-
gen der Kommunen nicht auseinanderzusetzen.
Im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der
Bundestag in der letzten Legislaturperiode im Rahmen
der Gemeindefinanzreform beschlossen hat, umfangrei-
che Anhörungs- und Beteiligungsrechte für die Kommu-
nen überall da, wo Themen die Kommunen berühren, zu
verankern. Möchte jemand von Ihnen hier im Saal be-
streiten, dass die Kommunen mit den Themen Flücht-
linge, Begleitung, Betreuung und Erstaufnahme etwas zu
tun haben? Sie können diese Ablehnung und dieses
Fernhalten der Kommunen von diesem Treffen doch gar
nicht begründen.
Frau Kollegin Woltmann.
Vielen Dank. Das gibt mir noch einmal die Gelegen-
heit, darauf einzugehen. – Erst einmal möchte ich fest-
halten, dass diese Bundesregierung, glaube ich, eine der
kommunalfreundlichsten Regierungen ist, auch in Bezug
auf Leistungen in direkter Form an die Kommunen, was
eigentlich gar nicht Aufgabe des Bundes ist.
– Moment, Moment, nicht so aufregen.
– Sie können sich ruhig aufregen, aber das hilft auch
nicht.
Die Länder – es tut mir leid, jetzt müssen wir doch
einmal auf die verfassungsrechtlichen Dinge zu sprechen
kommen – sind für die Kommunen zuständig. Eigentlich
könnte sich der Bund auch darauf zurückziehen und sa-
gen: Wir regeln das in den Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen. Die Länder müssen dann die entsprechenden
Gelder weitergeben.
– Ich komme gleich dazu, Frau Göring-Eckardt. – Wir
haben deswegen auch gesagt: Wenn die Länder die
Kommunen mitbringen möchten, können sie das natür-
lich gerne machen. Sie scheinen das aber nicht gewollt
zu haben. Insofern sind morgen aller Voraussicht nach
die Kommunen nicht mit am Tisch. Dennoch sind wir
ständig mit den kommunalen Spitzenverbänden im Ge-
spräch. Das möchte ich hier festhalten. Es ist ja nicht so,
dass keine Gespräche stattfinden.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die KolleginClaudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Vor zwei Wochen haben wir hier im Plenum umdie über tausend Toten, die zuvor im Mittelmeer auf derSuche nach Schutz und Zuflucht hier bei uns ertrunkenwaren, getrauert. Aber das Sterben, der Flüchtlingsexo-dus geht weiter. Seither sind weitere 50 Menschen er-trunken, Frauen, Kinder, Männer. In den letzten Tagenerreichten etwa 7 000 Menschen die italienische Küste.Ich bin am Wochenende dort gewesen. Ich bin nach Sizi-lien gefahren und konnte erleben, wie Bürgermeister,wie Präfekten, wie Priester, wie Nonnen, wie Ärzte, wiePolizisten, wie die italienische Caritas, wie das RoteKreuz, wie NGOs wirklich alles tun, um den Flüchtlin-
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Claudia Roth
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gen zu helfen und ihnen ihre Menschenwürde wiederzu-geben. Ich war in Mazara del Vallo und habe mit den Fi-schern getrauert, die Menschenleben retten und in ihrenNetzen Leichen bergen. Ich habe Solidarität, Humanitätund vor allem Empathie für die Menschen in Not erlebt,für Menschen wie du und ich, die in einer der ärmstenRegionen Italiens und Europas angekommen sind unddort menschlich behandelt werden. Immer wieder habeich die Frage gehört: Wo ist eigentlich Europa?
Das Mittelmeer ist doch kein italienisches Meer. Esist unser Meer. Warum ist Europa von dieser Tragödie sounendlich weit weg? Was sind denn die Werte eigentlichwert, auf die man sich in Sonntagsreden so gerne beruft,wenn die Zahl der Toten bei etwa 27 000 liegt und jedenTag etwa 500 Menschen neu ankommen? Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, da habe ich mich für dieses Eu-ropa geschämt, das sich so gerne mit dem Friedensno-belpreis schmückt, den doch die Sizilianer viel eherverdient hätten.
Ich werde sie nicht vergessen können: die Gesichterder traumatisierten Überlebenden, die vor wenigen Ta-gen angekommen sind, die nigerianische Christin, starrvor Schreck und zitternd vor Angst. Ich werde auch denjungen Mann aus Eritrea nie vergessen können, der seineSchwester im Meer verloren hat und jetzt keine Tränenzum Weinen mehr hat. Sie alle sind der Hölle entkom-men, auch der entgrenzten Gewalt in Libyen, und hoffenauf das, was für uns so selbstverständlich ist: Sie hoffenauf Leben, sie hoffen auf Zukunft, sie hoffen auf ein klit-zekleines bisschen Glück – nach all dem Elend.Und wo ist Europa? Am Tag nach der Debatte hier beiuns im Parlament hat der EU-Sondergipfel der Regie-rungschefs getagt. Was hat er beschlossen? Die Verstär-kung der Grenzschutzmaßnahmen, die Bekämpfung derSchleuserkriminalität, die Zerstörung von Schleuser-schiffen, die Eindämmung von sogenannten Migranten-strömen, die freiwillige Erklärung von EU-Mitgliedstaa-ten, Italien und Malta ein paar Flüchtlinge abzunehmen.Bekämpfung, Zerstörung, Abschottung, Zurückweisung,Eindämmung – das ist der eiskalte Sprech, der sich derSchutzverantwortung verweigert.
So, liebe Kolleginnen und Kollegen, stirbt jeden Tagauch unsere Idee von Europa, die die Menschenwürde inden Mittelpunkt stellt.Das Europäische Parlament, Ban Ki-moon, AntónioGuterres, Papst Franziskus, die EKD, der Bundespräsi-dent, Pro Asyl, Amnesty und nicht zuletzt eine klareMehrheit der Menschen in Deutschland wissen, dass esdoch zuallererst um das Leben und die Rettung vonMenschen gehen muss, dass es aber auch um die Vertei-digung unserer Werte geht. Sie alle fordern eine umfas-sende Seenotrettung im ganzen Mittelmeer. Sie fordernsichere, legale Fluchtwege nach Europa – und nicht ei-nen neuen, 100 Kilometer langen Zaun in Bulgarien. Siefordern humanitäre Visa. Sie fordern eine deutlicheAufstockung des Resettlement-Programms und eineunbürokratische Familienzusammenführung. Sie forderneuropäische Solidarität bei der Aufnahme von mehrFlüchtlingen. Sie fordern eine Entlastung der Nachbar-regionen Syriens. Sie fordern eine nachhaltige Entwick-lungspolitik. Das bedeutet nicht, dass man Waffen an dieSaudis schickt, die heute und in diesem Moment im Je-men Zivilisten bombardieren.
Nie, so scheint es, waren sich Regierende und großeTeile der Zivilgesellschaft fremder.Liebe Kolleginnen und Kollegen, morgen ist der8. Mai 2015. Vor 70 Jahren haben 12 Millionen Men-schen, die ihre Heimat verloren haben, in den Besat-zungszonen Unterkunft, Schutz und eine neue Heimatgefunden. Auch daran sollten wir morgen, am 8. Mai, er-innern.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Matthias
Schmidt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich habe kürzlich auf der Straße HerrnKollegen Frank Tempel von den Linken getroffen. Wirsind dann gemeinsam zum Büro gegangen und haben da-bei festgestellt: Im Innenausschuss brummt es ganzschön. Es gibt viele politisch wichtige Themen, die mo-mentan bei uns im Innenausschuss landen, und jedenTag kommen neue hinzu. Dabei ist die Flüchtlingspolitikein Thema, das unsere volle Konzentration und auch un-seren gemeinsamen Einsatz erfordert. Was unseren ge-meinsamen Einsatz betrifft, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition, spreche ich Sie ausdrücklichmit an. Ich finde, wir können durchaus versuchen, hiergemeinsam zu agieren.Aus meiner Sicht stehen wir vor folgenden Heraus-forderungen:Erstens. Das Problem der Unterbringung vor Ort, inden Kommunen, muss gelöst werden. Hier brauchen wirAkzeptanz und Verständnis in der Bevölkerung. Darauf,wie wir Akzeptanz und Verständnis erzielen, will ichspäter zurückkommen.Zweite Herausforderung. Das Massensterben im Mit-telmeer muss sofort beendet werden. Was das Massen-sterben im Mittelmeer angeht, vergessen wir, die ge-
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Matthias Schmidt
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samte Fluchtroute, auf der ebenfalls sehr viele Menschensterben, zu berücksichtigen. Wir sehen im Fernsehen im-mer nur Bilder vom Mittelmeer und betrachten das an-dere nicht mehr.Herr Kollege Huber – er ist nicht mehr da –, ich teileIhre These, die Sie in Frageform gekleidet haben, aus-drücklich nicht: dass wir Menschen zur Flucht animie-ren, wenn wir sie retten.
Ich finde, wir sollten aus unserer christlichen Traditionheraus durchaus zu anderen Schlüssen kommen.
Eine dritte wichtige Herausforderung ist die welt-weite Bekämpfung der Fluchtursachen. Das lässt sichnur mittel- oder langfristig bewältigen. Wir sind uns hierim Parlament sehr schnell einig: Wir werden aus ver-schiedenen Gründen im Mittelmeer keine Mauer bauenkönnen. Wir brauchen legale Möglichkeiten, nach Eu-ropa zu gelangen. Und – Kollege Castellucci hat schondarauf hingewiesen – wir müssen dafür sorgen, dassmehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können.Ihre beiden Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, betreffen meinen ersten Punkt. Ichmöchte mich hauptsächlich mit dem Antrag der Linkenauseinandersetzen.Es ist sicherlich Ihr gutes Recht, vielleicht sogar IhrePflicht, die Regierung mit breit angelegten Anträgen vorsich herzutreiben, und dabei darf es durchaus auch ein-mal eine provokante Sprache geben. Meines Erachtensschießen Sie an dieser Stelle aber weit über das Ziel hi-naus. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, so finde ich,dass darin abwegig von einer bisherigen Politik der Ab-schreckung gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, vonZwangsunterbringung, Lagerzwang, Zwangsverteilung– im Angesicht der deutschen Geschichte sollte man daauch noch einmal über die Wortwahl nachdenken –,
von jahrelangen Versäumnissen, einer unzureichendenund halbherzigen Regierungspolitik und von Planungs-mängeln.Regierung und Koalition müssen so etwas aushalten.Aber Sie übersehen dabei, dass Sie mit Ihrem Antragauch den Menschen in unserem Land, die sich engagie-ren, die in Flüchtlingsinitiativen vor Ort oder an rundenTischen aktiv sind, eine Ohrfeige versetzen.
Was unterstellen Sie diesen Menschen, die so gut hel-fen, wenn Sie fordern, dass eine antirassistische Präven-tionsarbeit selbstverständlicher Teil des bürgerschaftli-chen Engagements sein müsse? Das sind doch die Leute,die mit uns zusammen – mit den Demokraten – auch aufdie Straße gehen, gegen die NPD zum Beispiel in mei-nem Wahlkreis, gegen die AfD, gegen Pegida, und dieauch mit Menschen reden, die einfach nur verängstigtsind.
Im Kanonenfeuer Ihres Antrags geht dann unter, dassSie auch auf richtige Aspekte hinweisen. Stichwortehierfür sind die menschenwürdige Aufnahme, die schnelleIntegration – Frau Jelpke, Sie haben das eben noch ein-mal ausführlich erwähnt – und die Hilfen beim Spracher-werb.Hinzu kommt, dass Ihr Antrag schlecht recherchiertist. Sie sprechen von 173 000 Asylsuchenden im Jahre2014. Es waren bekanntlich über 200 000. Die Anzahlder Altfälle – von Ihnen mit 169 000 beziffert – beträgttatsächlich rund 200 000. Allerdings gibt es „nur“ rund50 000 Altfälle, die seit mehr als einem Jahr auf Bearbei-tung warten. Das BAMF, das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge, ist mit intelligenten Lösungen dabei,genau diese Fälle zurückzufahren.Ihre Schlussfolgerung, die ein bisschen als Allheil-mittel daherkommt, das BAMF mit neuen Stellen zu ver-sorgen, birgt Tücken. Deswegen sollten wir darüber par-lamentarisch noch einmal sehr gut nachdenken; dennvon den 650 neuen Stellen, die wir im Parlament bewil-ligt haben, sind momentan 575 besetzt bzw. werdendemnächst besetzt. Wenn wir jetzt weitere Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter einstellen wollten, müssten diese ir-gendwoher kommen und würden eine längere Einarbei-tungsphase benötigen. Ein entscheidender Punkt, dennoch niemand erwähnt hat: Wenn das BAMF entspre-chend schnell ist, müssen die Ausländerbehörden in denLändern und Kommunen das auch umsetzen. Hier würdesich sofort ein neuer Flaschenhals ergeben.Ich finde, dass wir im Sinne einer effizienten undsinnvollen Flüchtlingspolitik ruhig gemeinsam versu-chen sollten, die Koalition zu unterstützen. Seit 2014 istder Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge und Asylbewer-ber deutlich erleichtert, und die Residenzpflicht ist gelo-ckert. Der Bund muss verstärkt finanzielle Verantwor-tung übernehmen und Kommunen bei den durch dieAufnahme von Flüchtlingen entstehenden Kosten entlas-ten.Die Politik allgemein ist auf allen drei Ebenen – Bund,Länder und Gemeinden – in der Pflicht, zu informieren;denn nur so gewinnen wir Akzeptanz. Aber die Zivilge-sellschaft, die wir auch alle unterstützen sollten, mussBegegnungsmöglichkeiten schaffen; denn nur dadurchwächst das Verständnis.In meinem Wahlkreis gibt es inzwischen sechs Unter-künfte für Flüchtlinge, und alle werden positiv und enga-giert von einer Vielzahl von Menschen begleitet undunterstützt. Das Engagement dieser vielen Menschenverdient Anerkennung, Respekt und unseren Dank. Dashilft nicht nur den ankommenden Flüchtlingen vor Ort,
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Matthias Schmidt
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sondern bringt auch eines wohltuend zum Vorschein:Die Unbelehrbaren sind in der Minderheit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – LassenSie uns die runden Tische vor Ort stärken und unserepolitischen Aufgaben ruhig und sachlich angehen. Ichglaube, unsere Vorstellungen sind gar nicht so weit von-einander entfernt. Ich freue mich auf die Diskussionenmit Ihnen allen.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin nun auch schon seit einigen Jahren im Entwick-lungsbereich tätig und somit durchgehend mit demThema „Flüchtlinge und Migration“ verbunden. Ichhabe viele Flüchtlingslager auf der Welt gesehen und er-kannt, dass es immer mehr zu einer Ghettoisierungkommt und dass die Lager immer mehr auf Jahre hinausangelegt werden. Wie viele andere Kolleginnen und Kol-legen auch, habe ich die Hoffnungslosigkeit und dasElend in den Gesichtern dieser Menschen gesehen.Ein sehr einschneidender Moment war für mich, alsim Herbst letzten Jahres in meinem Wahlkreis, in Nürn-berg, auf einem Sportplatz das erste Flüchtlingszelt fürüber 200 Flüchtlinge errichtet worden ist. Ich habe mirdas nie vorstellen können. Im Rahmen meiner Aufgabenals Entwicklungspolitikerin konnte ich mir das weit ent-fernt in der Welt vorstellen, aber auf einmal gab es inmeinem Wahlkreis Hunderte Flüchtlinge.Bei meinem ersten Besuch in einem der Flüchtlings-lager – es war der erste von vielen, die ich im Laufe derWochen danach gemacht habe –, habe ich gemerkt, dassdie Vorgänge am Anfang total unkoordiniert abliefen.Die Behörden waren völlig überfordert. Die minderjähri-gen unbegleiteten Flüchtlinge hatten keine Betreuung –weder medizinisch noch psychosozial noch physisch. Esgab viele Ehrenamtliche, die sich dieser Aufgaben dannangenommen haben, und inzwischen sind Gott sei Dankauch die Behörden so weit. Ich glaube, wir sind hier ineinem guten Fluss und haben alles gut in die Wege gelei-tet.Aber ich habe auch etwas anderes bemerkt: die un-wahrscheinliche Hilfsbereitschaft der Bevölkerung vorOrt, der ehrenamtlich Tätigen. Ich glaube, wir wissen,dass die Zahl der Flüchtlinge nicht geringer wird.630 000 Flüchtlinge gab es im letzten Jahr in Europa. InDeutschland haben sich insgesamt 238 000 aufgehalten.Man schätzt, dass es in diesem Jahr über 400 000 wer-den. Wir werden das Verständnis der Bevölkerung nuraufrechterhalten können, wenn wir vermitteln, dass un-ser System gerecht ist.Diejenigen, die Schutz brauchen, erhalten natürlichSchutz. Für politische Flüchtlinge gibt es keine Ober-grenze. Das ist durch unser Grundgesetz geregelt. Esmuss aber auch klar sein, dass unser Asylverfahren nichtfür diejenigen gedacht ist, die keinen Schutz brauchenund eigentlich nur hierherkommen, um ihre Lebensper-spektive zu verändern. Dafür gibt es andere Wege. DerAsylmissbrauch muss hier wirklich massiv bekämpftwerden.Wir haben das Elend vor der syrischen Küste gese-hen, die Tausenden Toten, darunter auch Kinder undFrauen. Diese Bilder prägen sich ins Gedächtnis ein, undes gibt große Diskussionen über folgende Fragen: Wiekönnen wir verhindern, dass zukünftig weitere Men-schen auf quälende Art und Weise vor unserer Haustüresterben? Wie können wir die Schleuser besser bekämp-fen? Wie können wir es schaffen, dass die Menschenihre Herkunftsländer nicht verlassen?Wir sehen: Das Thema Flüchtlinge hat etwas Grenz-überschreitendes. Es betrifft nicht nur Deutschland – denBund und die Kommunen –, sondern die EuropäischeUnion, die Mitgliedstaaten, die Herkunftsländer und dieTransitländer. Es gibt hier nicht nur die eine Lösung. Dasmüssen wir wissen, und das müssen wir auch eingeste-hen. Dafür ist das Thema viel zu komplex, zu vielschich-tig und zu ideologisiert. Das heißt, wir müssen uns zu ei-ner Gesamtbetrachtung dieses Themas zwingen.Wir wissen: Der Großteil der Flüchtlinge kommt ausKrisen- bzw. Kriegsgebieten, zum Beispiel aus dem Irakoder aus Syrien, wo es ums Überleben geht. Es kommenHebräer, Somalier, Nigerianer, die durch Boko Haramoder die Taliban bedroht werden. Das sind nur einigeBeispiele, die ich in die Diskussion hier einbringenmöchte.Wir wissen aber auch, dass der Schlüssel zur Eindäm-mung der Flüchtlingsströme in den Herkunftsländernliegt. Es ist aber so einfach gesagt, dass Fluchtursachenbekämpft werden müssen.
Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit tun wirhier unser Möglichstes. Wir versuchen, dort rechtsstaat-liche Strukturen aufzubauen und die Lebensperspektivenzu verbessern. Aber alles, was wir machen können, istim Grunde genommen nur ein Tropfen auf den heißenStein. Es ist sicherlich richtig, dass wir helfen, ein dualesAusbildungssystem aufzubauen. Aber wir müssen zu-künftig viel mehr Krisenprävention betreiben.Wir wissen, dass in Konfliktgebieten eine dauerhafteStabilisierung nicht von außen erreicht werden kann.Wir sind hier nicht die hauptsächlichen Akteure, die ge-fragt sind. Vielmehr müssen die betreffenden Ländereine eigene Dynamik entfalten. Sie müssen selbst rechts-staatliche Institutionen aufbauen, um eine Rechtsord-nung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang frageich mich: Was ist mit der Afrikanischen Union, demPendant zur Europäischen Union? Warum schweigt sie
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Dagmar G. Wöhrl
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zu diesen Themen? Warum zeigt sie nur mit dem Fingerauf Europa und stellt die Frage, warum wir Flüchtlingeertrinken lassen? Was macht die Afrikanische Unionselbst? Wie wirkt sie auf die Herrschenden und Regie-renden in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ein?Was tut sie, damit die Eliten in den afrikanischen Län-dern in die Pflicht genommen werden? Afrika ist ein res-sourcenreiches Land. Aber die Ressourcen sind falschverteilt. Gegen die Gleichgültigkeit der Eliten in denafrikanischen Ländern gegenüber dem armen Bevölke-rungsteil muss etwas getan werden.
Im Rahmen unserer Außenpolitik dürfen wir den Dialogmit den Eliten und den Regierenden in den betreffendenLändern nicht abbrechen. Vielmehr müssen wir den Dia-log zwischen der Europäischen Union und der Afrikani-schen Union noch intensivieren.Es ist wichtig, Asylanlaufstellen in den betreffendenHerkunfts- und Transitländern zu schaffen. Ich sprechenicht von Asylbewerberaufnahmezentren, sondern vonAsylanlaufstellen, bei denen sich Menschen, die beab-sichtigen, ihr Heimatland zu verlassen, Informationenholen können: Habe ich überhaupt eine Chance auf Asyl,wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, wenn ich meineFamilie, wenn ich meine Kinder verlasse? Solche An-laufstellen können natürlich nur in stabilen Rechtsstaa-ten eingerichtet werden. In Libyen oder in Syrien ist dasauf absehbare Zeit nicht möglich. Aber wir sollten zu-sammen mit dem UNHCR solche Asylanlaufstellen aufden Weg bringen.Zu Recht wurde angesprochen: Ein großes Problemsind die Asylsuchenden vom Balkan. Wenn wir sehen,dass allein in den ersten drei Monaten von insgesamt88 000 Asylanträgen 44 000 von Menschen aus denWestbalkanländern gestellt wurden – die Anerkennungs-quote bei diesen Menschen liegt bei gerade einmal0,1 Prozent –, dann wissen wir, dass es richtig war, Ser-bien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu siche-ren Herkunftsstaaten zu erklären. Aber kaum nimmt dieAnzahl der Anträge von Menschen aus diesen Ländernab, steigt die Zahl der Anträge von Menschen aus demKosovo und aus Albanien. Innerhalb von acht Wochenwurden allein 28 000 Asylanträge von Menschen ausdem Kosovo gestellt. Viele dieser Menschen sagen ganzoffen, dass sie hier bei uns Arbeit suchen. Das heißt, siesind keine politisch Verfolgten. Wir müssen diesen Men-schen sagen, dass es dann falsch ist, hier einen Asylan-trag zu stellen. Wir müssen Informationskampagnen inden Balkanländern durchführen, um die Menschen auf-zuklären: Du wirst keine Chance haben, in DeutschlandAsyl zu bekommen. Du hast vielleicht eine Chance, eineArbeitsgenehmigung zu bekommen. Aber das solltest duerst erfragen, bevor du dich auf den Weg machst.Es ist bekannt, dass ich die Abschottungspolitik derEuropäischen Union als nicht zielführend und erfolg-reich ansehe. Wir sollten aufgrund unserer Geschichtewissen: Mauern zu errichten, hat noch nie langfristigtragbare Lösungen gebracht. – Wir brauchen einen ande-ren Verteilungsschlüssel in Europa. Ich glaube, darüberbesteht im ganzen Haus Konsens. Wir müssen auch diegesamte Flüchtlingshilfe überdenken. Mit den jetzigenGegebenheiten haben wir in der Vergangenheit nicht ge-rechnet. Wir brauchen neue Strukturen. Leider sieht esmomentan nicht so aus, dass wir zu einem neuen Vertei-lungssystem in Europa kommen; das müssen wir ehrlichzugeben. Zwar wird am 13. Mai der neue Migrationsbe-richt vorgelegt. Aber solange sich Großbritannien wei-gert, zuzugestehen, dass es sich hier nicht um eine natio-nale, sondern um eine europäische Aufgabe handelt,werden wir hier zu keiner Lösung kommen.
Ich hoffe, dass in dem Zusammenhang irgendwann einKonsens und auch die Solidarität aller Mitgliedstaatengegeben sein werden.Ich wünsche dem Asylgipfel morgen viel Erfolg. Eswird um Geld gehen – das ist ganz klar –, aber Geld istnicht alles. Wie gesagt, wir müssen in diesem Zusam-menhang die Strukturen angehen. Wir müssen auch se-hen, wie wir mit den vielen jungen, minderjährigenFlüchtlingen umgehen. Es sind inzwischen 70 000, diesich hier in Deutschland aufhalten. In Bayern sind es al-lein 4 000 neue unbegleitete Flüchtlinge. Bei ihnen hatdie Flucht andere Ursachen.
Frau Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie haben andere Fluchtgründe als Erwachsene. Des-
wegen brauchen wir auch Richtlinien für Kinder im
Asylverfahren, damit sie nicht wie Erwachsene behan-
delt werden. Sie sind traumatisiert, sie sind vergewaltigt
worden, sie waren Kindersoldaten und vieles mehr. In
diesem Sinne haben wir noch große Aufgaben vor uns.
Es sind viele Herausforderungen. Ich hoffe, dass wir sie
gemeinsam im ganzen Hause im Sinne der vielen Flücht-
linge und der vielen Hilfsbedürftigen lösen werden.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich habe meine eigene Meinung zu der Frage, obes zweckmäßig und sinnvoll gewesen wäre, zu dem mor-gigen Gipfel im Kanzleramt Vertreter der Kommuneneinzuladen. Ich fasse das einmal in die Worte des Präsi-denten des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, derheute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auchzu uns gesagt hat: Ich weiß nicht, was dabei heraus-kommt. Ich bin nicht dabei. Die Kommunen sitzen nichtmit am Tisch. Das ist der Hit.
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Rüdiger Veit
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kommttrotzdem etwas dabei heraus. Vielleicht unterscheidetsich dieser Gipfel dann von manch anderem, der in derVergangenheit stattgefunden hat. Schon aus Rücksichtauf die Koalition ist mir eine weitere Würdigung derVergangenheit nicht erlaubt.
Aber meine Hoffnung richtet sich auf die Zukunft.Hier reden wir in der Tat nicht nur von Geld. So ist bei-spielsweise die Frage der sicheren Drittstaaten angespro-chen worden. Ich will versuchen, dies noch ein bisschendeutlicher zu zeichnen. Wir haben – das müssen wir So-zialdemokraten zugestehen – drei Westbalkanstaaten alssichere Herkunftsstaaten eingestuft. Was ist in der Zwi-schenzeit geschehen, nachdem dies Gesetz gewordenist?
Die Anzahl der Flüchtlinge von dort hat sich um 27 Pro-zent reduziert. Das ist nicht wenig. Das ist aber auchnicht so dramatisch viel, wie es diejenigen, die das ge-fordert haben, gedacht haben mögen.
Dagegen setze ich die Entwicklung der Anzahl derFlüchtlinge aus dem Kosovo. Die Zahl ist von LarsCastellucci genannt worden: Wir hatten mehr als 1 000,fast 1 500 Flüchtlinge am Tag. Jetzt haben wir vielleichtnoch 40 oder 60, ohne dass es sich um einen sicherenHerkunftsstaat gehandelt hat.
Warum? Weil die Verfahren intensiviert und beschleu-nigt worden sind, weil vor allen Dingen durch eine in-tensive Aufklärungsarbeit, auch im Kosovo selbst, denMenschen die Illusion genommen worden ist, alles seiganz wunderbar und man müsse sich nur nach Deutsch-land auf den Weg machen. Von daher ist das ein ganzwichtiger Fingerzeig, wie man auch in Zukunft solcheMigrationsbewegungen steuern bzw. ein bisschen beein-flussen kann, ohne deswegen etwas am Gesetz zu än-dern;
ganz abgesehen davon, dass es dafür wahrscheinlichnoch weniger eine Mehrheit im Bundesrat zu erwartengibt, als es bei dem anderen Vorgang der Fall war.Lassen Sie mich zu den Gemeinsamkeiten der An-träge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen kom-men. Dort sind einige Elemente, über die man redenmuss. Darüber werden wir auch mit unserem Koalitions-partner sprechen. Dazu gehört etwa das Abschneiden desalten Zopfes der Widerrufsverfahren bei bereits gewähr-tem Asyl. Das wirft die Frage auf, wozu das Ganze nochgut ist. Dazu gehört im Übrigen auch – es steht auf derTagesordnung – die Frage eines gesicherten Aufenthal-tes für die Zeit einer Berufsausbildung. Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, der Vorstoß der drei Ministerpräsidenten WinfriedKretschmann, Malu Dreyer und Volker Bouffier gingnoch ein bisschen weiter. Sie haben gesagt, es wäre wün-schenswert und notwendig, wenn die dann Ausgebilde-ten auch in der Lage wären, in Deutschland für dieDauer von zwei Jahren eine ihrer Ausbildung entspre-chende Tätigkeit auszuüben.
Darüber reden wir zurzeit mit unserem Koalitionspart-ner. Wir sind dabei, Überzeugungsarbeit zu leisten.In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir gemein-sam mit den Ländern dafür sorgen wollen, dass auch denAsylbewerbern frühestmöglich Sprachangebote unter-breitet werden. Wir hoffen, dass wir in der Koalitiondiesbezüglich zu Ergebnissen kommen und demnächst– ich denke an eine Perspektive von vier bis acht Wo-chen – einen entsprechenden Vorschlag unterbreitenkönnen.Lassen Sie mich zum Schluss auf die Frage nach demGeld zu sprechen kommen. Diesbezüglich gibt es Diffe-renzen zwischen uns und unserem Koalitionspartner. Ichhoffe, sagen zu können, dass es diese Differenz jetztzwar noch gibt, sie aber überwunden werden kann. Viel-leicht kommt man auf dem Gipfel ja zu anderen Ergeb-nissen. Ich persönlich und der Großteil der SPD-Frak-tion – um das klar zu sagen: nicht nur das Präsidium derSPD – stehen auf dem Standpunkt, dass die Übernahmeder Kosten für die Unterbringung und Versorgung vonFlüchtlingen und Asylbewerbern eine staatliche Aufgabeist. Die konkreten Leistungen – Integration, Aufnahme,Betreuung – sind Sache der Kommunen; wir dürfen siemit den Belastungen, die sich daraus ergeben, aber nichtim Regen stehen lassen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen etwas ausmeiner kommunalen Vergangenheit erzählen. Zu Beginnder 90er-Jahre, als die Flüchtlingszahlen besonders hochwaren, war ich Landrat in Gießen. Wir haben, jedenfallsin meiner Amtszeit, immer, soweit als möglich, auf einedezentrale Unterbringung gesetzt. Das Land Hessen hatuns damals nach Spitzabrechnung die entstandenen Kos-ten zu 100 Prozent erstattet. Das wurde dem Land Hes-sen aber zu teuer. Das Land Hessen hat gesagt: Wir ge-ben jetzt nur noch eine Pauschale. Im ersten Jahr nachEinführung der Pauschale, nach Einführung dieser Artder Erstattung und Abrechnung stand meine Kreiskasseum 900 000 D-Mark – damals waren es noch D-Mark –besser da, weil die dezentrale Unterbringung, vorwie-gend in Wohnungen, wesentlich billiger war als die teure
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9835
Rüdiger Veit
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Unterbringung in großen Gemeinschaftsunterkünften.Das muss man einmal sagen.Der Unterschied zu damals ist folgender – deswegenerwähne ich dieses Beispiel –: Damals hatten wir in derBevölkerung eine geringe Akzeptanz für die Aufnahmevon Flüchtlingen und Zuwanderern generell. Als Kom-munen hatten wir aber wenigstens das Geld dafür. Heutehaben wir, was erfreulich ist und wofür wir dankbarsind, in unserer gesamten Bevölkerung eine weitgehendeAkzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen inDeutschland, aber die Kommunen haben kein Geld mehrdafür. Es gibt einige Bundesländer, die den Kommunen100 Prozent der Kosten erstatten. Es gibt aber auch an-dere, die nur 30 Prozent oder knapp unter oder knappüber 50 Prozent der Kosten erstatten. Das muss sich än-dern.
Ich sage es noch einmal: Die Übernahme dieser Kostenist eine staatliche Aufgabe. Der Bund ist gefordert. Ichhoffe, dass wir auf dem Gipfel morgen zu entsprechen-den Ergebnissen kommen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-che angelangt.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/3839 und 18/4694 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-wie Zusatzpunkt 3 auf:23 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnette Groth, Inge Höger, Azize Tank, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE sowie der Abgeordneten TomKoenigs, Omid Nouripour, Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENDoppelstandards beenden – Fakultativ-protokoll zum UN-Sozialpakt zeichnenund ratifizierenDrucksache 18/4332Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnette Groth, Inge Höger, WolfgangGehrcke, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEFreiheit für Mumia Abu-JamalDrucksache 18/4722Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussZP 3 Erste Beratung des von den AbgeordnetenAnnette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,Annalena Baerbock, Marieluise Beck ,weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes über die Rechtsstellung undAufgaben des Deutschen Instituts für Men-schenrechte
Drucksache 18/4798Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe,das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 24 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Matthias Gastel, Sven-ChristianKindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENLeistungs- und Finanzierungsvereinbarungzur Erhaltung der Schienenwege jetzt neuverhandelnDrucksachen 18/3153, 18/3938Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/3938, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3153 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
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9836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenom-men.Tagesordnungspunkt 24 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, KlausBrähmig, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenGabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, BurkhardBlienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDKulturtourismus in den Regionen weiterent-wickelnDrucksachen 18/3914, 18/4731Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/4731, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3914anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenom-men.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 24 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 176 zu PetitionenDrucksache 18/4696Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 176 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 177 zu PetitionenDrucksache 18/4697Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 177 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 178 zu PetitionenDrucksache 18/4698Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 178 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 24 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 179 zu PetitionenDrucksache 18/4699Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-men.Tagesordnungspunkt 24 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 180 zu PetitionenDrucksache 18/4700Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOpposition angenommen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDQualität von Studium und Lehre im interna-tionalen Wettbewerb sichern – Den Europäi-schen Hochschulraum erfolgreich gestaltenDrucksache 18/4801b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über die Umset-zung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 inDeutschlandDrucksache 18/4385Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBologna-Prozess grundlegend reformierenDrucksache 18/4802Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBologna 2015 stärken – Den europäischenHochschulraum konsequent verwirklichenDrucksache 18/4815
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9837
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe, Siesind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat der Parlamentarische StaatssekretärThomas Rachel.
T
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! DieUmsetzung der Bologna-Reformen hat sich in Deutsch-land positiv entwickelt. Wir erleben an unseren Hoch-schulen eine dynamische Entwicklung. Seit 2012 ist dieStudierendenzahl in Deutschland weiter gestiegen. Mit2,7 Millionen Studierenden haben wir an unseren Hoch-schulen eine halbe Million Studierende mehr als nochvor vier Jahren. Die Bundesregierung und die Länderflankieren diese Entwicklung mit dem Hochschulpakt.Zwischen 2007 und 2023 stellen wir rund 38 Milliar-den Euro für die Aufnahme der Studierenden durch Ein-richtung zusätzlicher Studienmöglichkeiten zur Verfü-gung.Die Einführung der zweistufigen Studienstruktur wareines der zentralen Kernziele der europäischen Hoch-schulreform zur Förderung von Transparenz und zurVergleichbarkeit der Studienabschlüsse. Dies ist weitge-hend umgesetzt. Im Wintersemester 2013/14 führtenmehr als 87 Prozent aller Studiengänge zu Bachelor- undMasterabschlüssen.Die Steigerung der Mobilität ist ein weiteres Kernzielder Bologna-Reform. Dabei ist für die Studierendenwichtig, dass ihre im Ausland erbrachten Studienleistun-gen anerkannt werden. Ich freue mich über die positiveEntwicklung dieser Anerkennungsrate in Deutschland inden vergangenen Jahren. Sie ist von 41 Prozent im Jahr2007 auf knapp 70 Prozent im Jahr 2013 angestiegen.Mit Blick auf die Auslandsaufenthalte von Studieren-den und Wissenschaftlern zeigt sich, dass im Zuge derBologna-Reformen die Auslandsmobilität ganz entschei-dend gestiegen ist. Rund 140 000 Deutsche studierten2012 an ausländischen Hochschulen. Das ist fast dreimalso viel wie vor der Bologna-Reform.
Ein Drittel der deutschen Studierenden hat mindes-tens einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absol-viert. Damit liegen wir deutlich über dem Mobilitätszielder Bologna-Staaten. Rund 16 000 deutsche Wissen-schaftler waren im Jahr 2012 im Ausland, vor allem inden USA, Großbritannien, Frankreich und China.Ich denke, diese reinen Zahlen können nicht hinrei-chend vermitteln, wie wichtig diese Auslandsmobilitätist; denn sie verschafft unseren Studierenden auch einStück Weltoffenheit, einen Blick für das, was in derWelt los ist. Gleichzeitig bietet die große Anziehungs-kraft der Bundesrepublik Deutschland als Gastland fürausländische Studierende und Wissenschaftler einegroße Chance. Laut OECD steht Deutschland unter dennichtenglischen Gastländern an erster Stelle;
nur in den USA und in Großbritannien gibt es mehr aus-ländische Studierende.Ich denke, das ist ein großer Erfolg unserer jahrelan-gen Bemühungen, den Studienstandort Deutschlandinternational zu präsentieren. Mittlerweile stellen aus-ländische Wissenschaftler 10 Prozent der Mitarbeiter anunseren wissenschaftlichen Einrichtungen und in denHochschulen. Mehr als 300 000 ausländische Studie-rende kamen zum Studium nach Deutschland. Das isteine Verdoppelung im Verhältnis zu 1998, und das zeigtdie enorme Bewegung in dieser Zeit; zwei Drittel davonsind Bildungsausländer.Bund und Länder verfolgen mit ihrer Internationali-sierungsstrategie das Ziel, die strategische Internatio-nalisierung unserer Hochschulen zu befördern, eineWillkommenskultur zu etablieren – ich nenne nur dasStichwort „Welcome Center an den Hochschulen“ –,internationale Campusse zu entwickeln und grenzüber-schreitende Hochschulkooperationen zu ermöglichen.Wir im Bundesbildungs- und -forschungsministeriumunterstützen die Internationalisierung beispielsweisedurch Beratungsmaßnahmen wie das Audit der Hoch-schulrektorenkonferenz oder Programme des DAAD zustrategischen Partnerschaften und durch Aktivitäten un-serer Alexander-von-Humboldt-Stiftung.Zu den Bologna-Zielen gehört auch die Stärkung dersozialen Dimension.
Wir möchten gerne den Hochschulzugang auch für die-jenigen aus bildungsfernen Schichten öffnen.
Das BAföG spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.
Mit dem 25. BAföG-Änderungsgesetz passen wir dieAusbildungsförderung an die aktuellen Lebensverhält-nisse an.
Gleichzeitig schließen wir die Förderlücke bei der zwei-stufigen Bachelor- und Masterstudienstruktur. Dies istein richtiger und wichtiger Schritt.
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9838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Beim Thema „Lebenslanges Lernen“ zielt dieBologna-Reform darauf, die Hochschulen für neue Stu-dierendengruppen zu öffnen. Hier hat die gestufte Studi-enstruktur mit Bachelor- und Masterabschlüssen eineVielzahl von Einstiegs- und Übergangsoptionen zwi-schen dem Arbeitsmarkt und den Hochschulen eröffnet.Die Zahl der beruflich Qualifizierten ohne schulischeHochschulzugangsberechtigung konnte seit 2002 aufüber 12 000 Studierende verzehnfacht werden.
Das ist schon etwas; aber es ist natürlich noch sehr vielzu tun.
Der neue Bund-Länder-Wettbewerb „Aufstieg durchBildung: offene Hochschulen“ wird einen wichtigenBeitrag dazu leisten, die Hochschulsysteme insgesamtzu verändern und zu öffnen.In diesen Tagen konnten wir lesen, dass die Studie desStifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und desInstituts der deutschen Wirtschaft in Köln gezeigt hat,dass der Bachelor als Abschluss in der Wirtschaft gut an-kommt und gute Karrierechancen eröffnet. Es werdenfast identische Einstiegsgehälter gezahlt, und es werdengute Karriereperspektiven angeboten.
Bei der Umsetzung der europäischen Hochschul-reform können wir natürlich nicht nur national agieren,sondern wir machen das im Verbund mit 46 anderenStaaten des Europäischen Hochschulraums. Auf der Bo-logna-Konferenz in Eriwan am 14./15. Mai gibt es nachunserer Auffassung einiges zu tun. Ich will einige Stich-worte nennen:Wir werden einbringen, dass die Anerkennung akade-mischer Qualifikationen und Abschlüsse zum Weiterstu-dium, aber auch zur Berufsausübung verständlicher undhandhabbarer gemacht werden muss.
Wir werden die Förderung der Mobilität von Lehr-amtsstudierenden zum Thema machen;
eine sehr wichtige Aufgabe, um die Erfahrung auch inanderen Ländern einbringen zu können.Wir möchten gerne den europäischen Ansatz zurAkkreditierung gemeinsamer Studiengänge, das heißtdie einfachere Handhabung der Qualitätssicherung voninternationalen Studiengängen, den sogenannten Euro-pean Approach, nach vorne bringen. Das ist keine einfa-che Aufgabe, aber eine notwendige. Wir sind auch be-reit, Staaten, die sich bei der Umsetzung der Reformennoch schwertun, zu helfen und sie aufgrund unserer na-tionalen Erfahrung bei diesem Prozess zu unterstützen.Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt mit 46anderen Ländern einiges zu besprechen; 46 Länder, dieganz andere Strukturen und Ausgangssituationen haben.
Vielleicht erkennt man daran – das ist mein abschließen-der Gedanke –: Dieser Bologna-Prozess mit 46 anderenLändern ist ein einmaliges Forum, das Brückenzwischen ganz unterschiedlichen Ländern bauen kann.Lassen Sie uns diese Brücken gemeinsam bauen, damitdie Hochschulen aus diesen ganz unterschiedlichen Län-dern zusammenarbeiten. Wenn das im Bereich der Hoch-schulen gelingt, dann besteht auch die Chance, dass dieGesellschaften in diesen Ländern das insgesamt schaf-fen. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Dafür kann dieKonferenz in Eriwan stehen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Nicole Gohlke,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! DieBologna-Reform war wohl die tiefgreifendste Struktur-reform, die die Hochschulen bisher erlebt haben. Insbe-sondere die Wirtschaft hatte Druck gemacht mit derForderung, dass sie jüngere und auch effizienter ausge-bildete Hochschulabsolventinnen und -absolventenwollte. 1999 wurde die Hochschulreform in Bolognavon den europäischen Bildungsministern und -ministe-rinnen unterzeichnet.Die Reform wurde von massiven Protesten der Stu-dierenden begleitet. Bis heute wird sie heftig kritisiert.Studierende wenden sich gegen den hohen Prüfungs-druck. Sie wenden sich dagegen, dass es zu wenige Mas-terstudienplätze gibt. Sie prangern die fehlende kritischeAuseinandersetzung mit Inhalten an. Dieter Lenzen, Prä-sident der Universität Hamburg, spricht sogar davon,dass sich Bildung und Bologna gegenseitig ausschließenwürden. Die Chefs der Hochschulrektorenkonferenzsagen, dass die Bildung der Persönlichkeit in denSchmalspurstudiengängen auf der Strecke geblieben sei.Nun muss man sich nicht jede Kritik zu eigen ma-chen. Es gibt auch die Haltung – dessen bin ich mir sehrwohl bewusst –, die darin besteht, von der Exklusivitätder Universität zu träumen und die Abgeschiedenheitdes Elfenbeinturms zu bevorzugen. Darum geht es unsnatürlich nicht.
Aber keine Haltung ist es, den öffentlichen Diskurs unddie Kritik einfach zu negieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9839
Nicole Gohlke
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Die Bundesregierung schweigt ausnahmslos zu allenkritischen Punkten. Das geht nicht, meine Damen undHerren.
Sie meinen wohl, es reiche, Erfolge herbeizuredenund den Rest einfach auszusitzen. Das Bildungsministe-rium beschränkt sich darauf, zu verkünden, dass der Ba-chelorstudiengang eine Erfolgsstory sei. Aber das sehennicht einmal die Unternehmen so. Ihnen müsste auch be-kannt sein, dass Bachelorabsolventinnen und -absolven-ten von Universitäten beim Berufseinstieg immer noch26 Prozent weniger Lohn bekommen als diejenigen mittraditionellen Abschlüssen. Das kann so nicht bleiben.
Fakt ist doch: Gerade einmal 17 Prozent der Bache-lorstudierenden gehen ins Ausland, obwohl doch Mobi-lität das große Ziel der Reform war. Nicht einmal jederZweite schafft das Studium in der vorgegebenen Regel-studienzeit, jeder vierte Studienanfänger bricht dasStudium ab. Das ist im Jahr 16 nach der Reform einfacheine schlechte Bilanz und auch nicht mit Umsetzungs-problemen zu erklären.
Zynisch ist es, dass Frau Wanka es Ende letztenJahres bedauerte, dass sich die Studierenden heutzutageso wenig für Politik interessieren. Zynisch ist das deswe-gen, weil es immer die Unionsparteien waren, die dieStudierendenproteste und die sich einmischenden Stu-dierenden klein- und schlechtgeredet haben,
und weil diese Entpolitisierung, die heute diskutiertwird, schlicht eine Folge Ihrer Politik ist. Das sollten Sieeinmal zur Kenntnis nehmen.
Der dauernde Druck, den der Bologna-Prozess produ-ziert hat, nimmt den Studierenden die Luft zum Atmen.Es sind natürlich die Unterfinanzierung und die einsei-tige Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen, die die Hoch-schulen als Ort der Kritik, als Ort der Reflexion zuneh-mend austrocknen.
Daran will diese Regierung doch nichts ändern.
An all dem halten wir fest, weil Sie die Bologna-Reformoffenbar genau so wollten. Also vergießen Sie keineKrokodilstränen um mangelndes politisches Engage-ment, sondern seien Sie an dieser Stelle lieber ehrlichund sagen Sie, dass es Ihnen so ganz recht ist.
Die Kollegen Rossmann von der SPD und KaiGehring von den Grünen haben vor etwa einem Jahr ineinem gemeinsamen Artikel davon gesprochen, dass dasgestufte Bachelor-/Mastersystem eine Chance für dieKultur des lebenslangen Lernens sei.
Ich sage Ihnen: Auch ich wünsche mir das. Aber ichfinde, die Realität gibt das bisher überhaupt nicht her.Bislang schafft dieses System keine neuen Zugänge,sondern es schafft leider neue Hürden. Bisher selektiertes und schließt aus. Und genau davon haben wir mehrals genug. Wir brauchen wirklich keine neuen Schrankenim Bildungssystem.
Ich muss Ihnen auch sagen: Die Forderungen, dieWirtschaftsvertreter wie zum Beispiel die Deutsche In-dustrie- und Handelskammer jetzt aufstellen, setzen demGanzen doch wirklich noch die Krone auf. Sie fordernnoch mehr Praxisbezug und meinen in Wahrheit einennoch passgenaueren Zuschnitt auf die eigenen Ansprü-che. Dafür – so schlagen sie dann zum Beispiel vor –kann man ja das Auslandssemester auch ganz streichen.Das bräuchten die meisten doch eh nicht, weil sie ja amEnde in deutschsprachigen Unternehmen arbeiten.Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, genau das istder Kern der Auseinandersetzung. Genau hier teilen sichauch die Positionen: Geht es um eine Bildung, verstan-den als Menschenrecht, verstanden als Horizonterweite-rung und als Persönlichkeitsbildung, oder geht es um ei-nen Bildungsbegriff, der nur noch das kurzfristigeFitmachen für den Arbeitsmarkt im Blick hat? Die Ant-wort der Linken ist da eindeutig. Wir sagen: Entschleu-nigung statt Verkürzung und Prüfungsstress. Wir sagen:Öffnung und Durchlässigkeit statt neuer und alter Hür-den. Wir wollen nachhaltiges und kritisches Wissen stattmarktkonformes Know-how. Dieses Bildungsverständ-nis brauchen wir im Übrigen in allen Bildungsbereichen,nicht nur in der akademischen Bildung.
Wir brauchen endlich auch einmal Reformprozesse, dievon unten entstehen, an denen Studierende, Lehrende so-wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligtsind und beteiligt werden. Damit würde es dann viel-leicht auch einmal etwas mit dem Europäischen Hoch-schulraum werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Dr. Daniela De Ridder.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Studierende! 1786 reiste Johann
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9840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Daniela De Ridder
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Wolfgang von Goethe von Weimar nach Italien. Für dendamals 37-Jährigen waren es beschwerliche 956 Kilo-meter, bis er endlich Bologna erreichte. Was trieb denJuristen und Schriftsteller Goethe um, dass er diese Stra-pazen auf sich nahm?
– Richtig, Herr Kollege, es waren in der Tat Studien. –Er interessierte sich für Flora und Fauna; Kunstge-schichte und Architektur gehörten auch dazu. Dies alleskann man im Übrigen in seinen Tagebuchaufzeichnun-gen nachlesen, die er später unter dem Titel ItalienischeReise veröffentlicht hat.Hatten die europäischen Wissenschaftsministerinnenund -minister, die vor 16 Jahren den Bologna-Prozessangestoßen haben, Goethe gelesen? Ich weiß es nicht.Überliefert ist es nicht. Wohl aber ist die Idee überliefert,die sie seinerzeit hatten. Es ging und geht um die Öff-nung des Europäischen Hochschulraumes. Das umfasstdie Stärkung der Mobilität von Studierenden, von Leh-renden und von Forschenden, aber auch von Beschäftig-ten im Hochschulwesen. Zu dieser Idee gehören dasVoneinander- und das Miteinander-Lernen, das Aner-kennen von Studienleistungen sowie die Stärkung derBerufsbefähigung. Darum geht es, um die sogenannteEmployability. Reisen bildet, und Auslandsaufenthaltehelfen, Fremdheit zu überwinden. Das ist doch immerein inspirierender Lernprozess.
Heute gehören – man höre und staune – 47 Länderzum Bologna-Hochschulraum. Dazu gehören neben denbekannten und erwarteten vor allem auch solche Länderwie Albanien, Aserbaidschan, der Vatikanstaat, Kasach-stan und die Ukraine. Weißrussland – darüber, finde ich,könnten wir auch noch einmal nachdenken – führt ge-rade Beitrittsverhandlungen.Zunächst – das will ich gerne zugeben, Frau Gohlke –war der Bologna-Prozess sehr sperrig. Magister- undDiplomstudiengänge wurden auf Bachelor und Masterumgestellt. Kritisiert wurde der Prozess auch aufgrundder Verdichtung der Studieninhalte. Man sprach vonBulimielernen. Aber das ist eine Diskreditierung desBologna-Prozesses; denn Probleme an den Hochschulengab es auch schon vor dem Bologna-Prozess. Die gilt esund galt es, zu verringern.
In den vergangenen 16 Jahren haben wir deshalb– lassen Sie mich das noch einmal betonen – vielerreicht und noch mehr getan, um diesen Prozess zu un-terstützen und zum Erfolg zu machen. Wir haben Studi-enleistungen anerkannt. Ich erinnere an das ECTS-Sys-tem. Wir haben das Stipendienprogramm Erasmus+ausgebaut. Wir haben das Aktionsprogramm „Bolognamacht mobil“ beim DAAD angesiedelt, mit dem Hoch-schulkooperationen zwischen deutschen und europäi-schen Hochschulen ausgebaut werden. Wir haben – da-rauf bin ich besonders stolz – das Auslands-BAföGausgebaut. Hier kann man nämlich die Übernahme vonReisekosten und eine flankierende Finanzierung derbesonders teuren Studiengebühren beantragen. Wir ha-ben Gott sei Dank keine mehr in der Bundesrepublik.
Wir haben aber noch mehr gemacht. Ich bin ganzdankbar, dass wir über den europäischen Raum hinaus-gegangen sind. Jungen Menschen aus Drittstaaten, diebei uns studiert haben, haben wir jetzt ermöglicht, dasssie noch 18 Monate nach ihrem Studienabschluss hier-bleiben können, um einen Job zu finden. Das zeigt doch,dass wir die Internationalisierung deutlich ausgebaut ha-ben und uns sicher sein dürfen, dass es auch noch weiter-gehen kann.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition, ich bin SPD-Bundestagsabgeordnete. Ich glaube,meine Partei steht keineswegs in dem Verdacht, sich mitdem Erreichten zufriedenzugeben, im Gegenteil.
Daher nehmen wir die Herausforderungen, die sichauch in der Zukunft stellen, gerne an. Ich will einige we-nige Beispiele nennen. Der Hochschulpakt ist schon ge-nannt worden. 10 Prozent der Landes- und Bundesmittelsollen für die Stärkung des Studienerfolgs zur Verfügunggestellt werden.
Allein die Bundesfinanzierung – ich habe etwas andereZahlen als Herr Rachel – bis 2023 beträgt 20,3 Milliar-den Euro. Hiermit flankieren wir die Universitäten undvor allem die Fachhochschulen sehr deutlich.
Wir stärken die Qualität von Lehre durch den entspre-chenden Pakt und verbessern noch einmal deutlich dieBetreuung von Studierenden; denn um die geht es. Dahaben Sie recht, aber das machen wir schon. Wir wollenStudienabbrüche vermeiden und den Studienerfolg aus-bauen. Im Bund-Länder-Programm sind dafür bis 2020weitere 2 Milliarden Euro veranschlagt. Sagen Sie dochbitte nicht, das sei nichts.
Wir werden auch die Doppelabschlüsse von deut-schen und europäischen Hochschulen fördern und dabei– da dürfen Sie sicher sein – auch auf die Qualitätssiche-rung der Dual Degrees achten. Wir fördern einerseits Be-rufsorientierung und andererseits Berufsbefähigungdurch Kompetenzlernen. Auch mit dem Projekt „nexus“– Herr Rachel hat es nicht erwähnt – sowie der Pro-grammlinie „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschu-len“ unterstützen wir die vielfältigen Studierendengruppen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9841
Dr. Daniela De Ridder
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und ihre Lernerverschiedenheit. Diversity Managementheißt hier das Gebot der Stunde.Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung fördert dezidiertsolche Konzepte, die einen Auslandsaufenthalt von Lehr-amtsstudierenden, Lehrenden und Forschenden ermögli-chen. Unser Ziel ist es – auch darauf bin ich stolz –, dassjeder zweite Studierende während des Studiums im Aus-land war. Bisher sind es 30 Prozent; wir wollen, dass es50 Prozent werden. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber das,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben wirim Koalitionsvertrag vereinbart, und darauf dürfen wirstolz sein.Mit dem Bologna-Prozess unterstützen wir auch dasDemokratielernen; denn durch den Blick über den Tel-lerrand können Erkenntnisse gewonnen werden, die fürmehr Offenheit und Toleranz stehen, gerade durch denVergleich mit dem Ausland.
Reisen bildet – das wusste nicht nur Goethe. LieberHerr Rachel, bitte richten Sie eine kleine Botschaft anFrau Ministerin Wanka aus: Ich würde mir wünschen,dass Frau Wanka in der Tat nach Eriwan in Armenienfährt und persönlich an der Bologna-Konferenz teil-nimmt. Bitte machen Sie auch deutlich, dass es eineMission gibt, die sie dort vertreten sollte, nämlich dassBildung insbesondere für junge Menschen, aber auch fürden Bereich des lebenslangen Lernens immer auch Zu-kunftschancen beinhaltet.Es ist wichtig, dass wir Armenien nicht nur mit demGenozid in Verbindung bringen, sondern auch mit Klug-heit, Innovation und Wissensdurst. Anders als Goethekann Frau Wanka die Distanz von Berlin nach Eriwanleicht überwinden, auch wenn es 3 306 Kilometer sind.Mehr als die Überwindung von geografischen Distanzengilt es, die Distanzen zwischen Menschen zu überwin-den und abzubauen. Seien wir also optimistisch und zu-kunftsorientiert, und stecken wir damit bitte, lieber HerrRachel, auch unsere europäischen Nachbarn an.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Kai Gehring, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Studierende!Der Bologna-Prozess hat die Perspektive auf einen Euro-päischen Hochschulraum eröffnet und das Studiumgrundlegend verändert. Die Ziele: ambivalent bis ambi-tioniert; die Umsetzung: lange umstritten und mehrmalskorrigiert, heute auf halbwegs vernünftigen Gleisen,aber unvollendet – so blicken wir Grüne auf 16 JahreStudienreform in Deutschland.
Zwei Aspekte sind mir für die nationale Umsetzungbesonders wichtig: erstens die Chancen der Studieren-den, die sich aus der Bachelor-Master-Struktur ergeben,und zweitens die soziale Öffnung unserer Hochschulen.Ich denke, zu beiden Aspekten gibt es noch viel zu tun,auch für diese Bundesregierung.
Wissenschaftsministerin Wanka – wenn sie denn wirk-lich selber fährt – macht sich mit einer durchwachsenenBologna-Bilanz auf den Weg zur Ministerkonferenz nachEriwan. Bachelor und Master sind als Abschlüsse weitest-gehend etabliert; erstklassige Studienbedingungen, höhereQualität und mehr Mobilität für alle Studierenden lassenaber weiter auf sich warten. Ein erfolgreiches Studium ge-hört endlich in den Mittelpunkt der Bologna-Reform,hierzulande und europaweit. Erfolgreiches Studieren heißtfür mich: persönliches Wachstum, breite Bildung und Per-spektiven als Absolvent; darum geht’s.
Zentrales Ziel der Bologna-Reform, lieber HerrRachel, ist die Öffnung der Hochschulen, vor allem fürStudierende der ersten Generation. Auf diesem Feld istder Fortschritt in Deutschland leider eine Schnecke: Objemand studiert – oder, wenn er oder sie studiert, ob eroder sie dann wirklich auch mobil ist –, hängt sehr starkvon der sozialen Herkunft und dem Konto der Eltern ab.Es ist nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen; aber esist einfach völlig unbefriedigend, wie wenig die GroßeKoalition dafür tut. Warum kommt die BAföG-Erhö-hung erst im Herbst 2016, und warum fällt sie so zaghaftaus? Die Studierenden brauchen jetzt eine höhere undeine bessere Studienfinanzierung.
Meine Damen und Herren, freuen wir uns gemeinsamüber 2,7 Millionen Studierende in Deutschland! Das istgut für Bildungschancen und unser Hochtechnologie-land. Das Herbeireden eines angeblichen Akademisie-rungswahns ist deplatziert und fahrlässig.
Anstatt diese Phantomdebatte weiter zu befeuern unddas Studieren zu attackieren, wäre es dringend notwen-dig, dass CDU/CSU und SPD den Vorschlägen der grü-nen Opposition folgen.
Wir wollen sowohl die duale Ausbildung stärken alsauch die Hochschulen sozial öffnen. Durchlässigkeit undAusbildungsgarantie, um beides geht es.
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9842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Kai Gehring
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Ein sozialeres und wissensbasiertes Europa muss Hür-den abbauen und Mobilität für alle gleichermaßen er-möglichen. Dafür muss die Koalition mehr tun!Die Gesamtverantwortung des Bundes für das Hoch-schulsystem lässt sich nicht einfach an die Länder und andie Hochschulen delegieren, so wie Sie das in Ihrem An-trag machen.Mit reiner Lobhudelei und Nichtstun riskiert man dieAkzeptanz der Reform, liebe Koalition; denn für Re-formgegner gilt Bologna wahlweise als neoliberales Un-geheuer oder als Ruhestörung im exklusiven Elfenbein-turm. Liebstes Feindbild ist der Bachelor: Glaubt manmanchen Wirtschaftsvertretern, hat ein Bachelorabsol-vent zwei linke Hände. Glaubt man manchem Konserva-tiven oder der Linksfraktion, hat ein Bachelor den geisti-gen Horizont eines Maulwurfs,
und erst der Master macht einen zur intellektuellenLichtgestalt. All das ist selektive Wahrnehmung undSchwarz-Weiß-Denken. Die Realität ist differenzierter.Schönbeten wie schlechtreden, beides wäre verkehrt.
In einzelnen Fächern ist erst der Master oder gar diePromotion Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt – das waraber auch schon zu Diplomzeiten so.
In der Mehrzahl der Fächer gibt es auch mit Bachelor inder Tasche sehr gute Einstiegsbedingungen. Darum: Wirbrauchen keinen Masterzwang, sondern Masterplätze füralle, die Master studieren wollen.
Die Linke sagt aber, der Master müsse Regelabschlusssein. Ich finde, das muss nicht immer sein. Die zweistu-fige Struktur – erst der Bachelor, dann der Master –macht Sinn. Überquellende Curricula und permanenterPrüfungsstress sind Unsinn. Das Entfrachten von Studi-engängen ist keine Mission Impossible, da muss einfachmehr passieren.
Wem im Ausland erworbene Studienleistungen nachder Rückkehr nicht anerkannt werden, der ist natürlichzu Recht sauer und demotiviert. Deshalb fordern wir alsGrüne seit Jahren eine echte Anerkennungsgarantie, da-mit Mobilität persönliches Wachstum bringt.
Also: Der Druck muss raus, die Zahl der Studienab-brüche muss runter, Zeitfenster und ein förderlichesLern- und Arbeitsumfeld müssen her. Allein dafür müs-sen Bund, Länder und Hochschulen ihre Zusammenar-beit ausbauen. Ein weltoffenes und modernes Deutsch-land muss den freizügigen Europäischen Hochschulraumkonsequent verwirklichen, für die junge Generationmehr Mobilität wagen und Hochschulzugänge öffnen,unabhängig von der Herkunft. Damit würde das Studie-ren besser und Europa sozialer und erfahrbar; darummuss es uns allen gehen.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Katrin
Albsteiger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast16 Jahre ist es her, da haben sich 29 Bildungsministergetroffen, um Studiengänge und Studienabschlüsse zuharmonisieren. Das war der Anfang, der Beginn, derGrundstein des Europäischen Hochschulraums. Genaudieser ist inzwischen kein abstraktes, nicht greifbaresrein politisches Gebilde mehr, sondern es ist Normalitätgeworden – Normalität für Studenten in insgesamt47 Staaten, die inzwischen Teil dieses EuropäischenHochschulraums geworden sind.Im Rahmen dieser Entwicklung sind nationale Ab-schlüsse wie der Magister und das Diplom bei uns – dasDiplom war heiß geliebt; wir alle wissen, dass es heftigeDiskussion darüber gab; auch ich habe als Abschluss einDiplom, und tatsächlich schlägt auch mein Herz ab undzu noch dafür; das gebe ich offen zu – zu europäischenAbschlüssen geworden: zu Bachelor und Master. Daswar vor 20 Jahren noch Science-Fiction. Inzwischen istes Realität geworden.Ebenso Realität ist geworden, dass schwedische, bri-tische und deutsche Absolventen vergleichbare Studien-leistungen erbringen und vergleichbare Abschlüsse ma-chen können. Auch das war vor 20 Jahren noch absolutundenkbar. An dieser Stelle zeigt sich, dass Europa dannam allerbesten ist, wenn es konkrete, greifbare Ergeb-nisse und Verbesserungen für den Alltag der einzelnenMenschen hervorbringt.
Ich würde es sogar als gelebte europäische Integrationbezeichnen – und das über die Grenzen der Europäi-schen Union hinaus. Deswegen finde ich, dass die De-batte heute durchaus Anlass gibt zu Lob und Freude da-rüber, was sich in den letzten Jahren alles entwickelt hat.Selbstverständlich kann man an dieser Stelle auch aufdie Punkte hinweisen, wo noch Entwicklungspotenzialeschlummern, wo es noch Verbesserungspotenziale gibt,
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Katrin Albsteiger
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aber man kann nicht nur Kritik üben um der Kritik wil-len.
Stichwort „Auslandserfahrung“. Auslandserfahrun-gen sind für Studenten enorm wichtig. Ich habe dieMöglichkeit gehabt, im Ausland zu studieren, und ichkann sagen, dass ein Auslandsstudium nicht nur eineEntwicklung bedeutet, eine Erweiterung der persönli-chen Erfahrung und des Wissens in dem jeweiligen Stu-diengang, sondern dass es einen persönlich unfassbarweiterbringt. Das ist für die Persönlichkeitsstruktur,glaube ich, eine ganz wichtige Sache.Deswegen ist es auch ein Glück, dass inzwischen im-mer mehr Studenten die Möglichkeit haben, ins Auslandzu gehen, und diese Chance auch nutzen. Seit 2009 liegtdie Auslandsmobilitätsquote zwar konstant bei 30 Pro-zent, aber bei immer mehr Studenten in Deutschland istdie Anzahl derjenigen, die ins Ausland gehen, massivgestiegen, und das ist auch gut so.
Da werden wir mit der Internationalisierungsstrategienoch einen ganz schönen Weg vor uns haben – hin zupositiven Entwicklungen.„Vergleichbarkeit der Abschlüsse“ ist ein ganz wichti-ges Thema. Aber die Vorteile beim Harmonisierungspro-zess fangen schon früher an, und zwar da, wo es um dieeinzelne Studienleistung geht. Da ist sicherlich noch vielzu tun; denn es ist ein Motivationsfaktor für einen Stu-denten, ins Ausland zu gehen, wenn er weiß, dass das,was er dort an Studienleistung erbringt, hier tatsächlichanerkannt wird. Das ist nicht ganz einfach – trotz der gu-ten Entwicklung; die Anerkennungsquote ist von 41 Pro-zent auf inzwischen fast 70 Prozent gestiegen. Die Reali-tät mag an den Hochschulen unterschiedlich sein. Ganzproblemlos läuft das nicht. Da müssen die Hochschulenauf jeden Fall ran. Sie müssen ihre Spielräume nutzen,um schnell zu Verbesserungen bei der Verlässlichkeit derAnerkennung zu kommen; da ist auch mehr Transparenznotwendig. Dafür wollen wir uns einsetzen.Es gilt das, was bei dem Prozess ganz wichtig ist: Wo„Bachelor“ draufsteht, ist auch „Bachelor“ drin, undzwar völlig egal, ob man diesen Abschluss in Athen oderin München erwirbt.Die Bundesregierung wird auf der Bologna-Konfe-renz in der nächsten Woche in Eriwan auf viele Punktehinweisen, die angesprochen wurden, und sich auchdafür einsetzen. Es ist ganz wichtig, an dieser Stelle zusagen: Wir Deutschen sind in vielen Dingen, was dieBologna-Reform angeht, Vorbild. Wir haben einigetolle Projekte und Programme; auch die Kollegin FrauDe Ridder hat sie schon angesprochen. Aber andereStaaten müssen noch nachziehen. Dafür muss man sicheinsetzen. Darauf verlassen wir uns. Da sind wir auchguter Dinge.
Zum Schluss noch einen herzlichen Dank an die Kol-legen Schipanski und De Ridder! Es hat Spaß gemacht,den Antrag mit Ihnen zusammen zu erarbeiten.Mein persönliches Fazit ist: Bei so manchem europäi-schen Projekt stehen wir vielleicht erst im Halbfinale; damuss noch das eine oder andere Spiel gewonnen werden.Manchmal reichen auch drei Tore nicht aus. Beim Euro-päischen Hochschulraum aber sind wir auf jeden Fallschon im Finale angekommen.Herzlichen Dank.
Danke schön. – Als Nächstes hat Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon gute Tradition, dass wir vor den Bologna-Konferenzen, auf denen uns die Regierung vertritt, imParlament darüber diskutieren, wie wir den Bologna-Prozess unterstützen können und in welchem Geiste dasgeschehen soll. Ich will drei Punkte herausgreifen, diesich nur im Antrag der Koalitionsfraktionen und nicht inden Anträgen der Linken und der Grünen finden.Der erste Punkt. Sie erinnern sich, dass 2001 eineerste Bologna-Konferenz in Prag stattfand, 2010 eineweitere in Budapest, 2012 in Bukarest, jetzt in Eriwan.Wir sagen in unserem Antrag: Ja, wir möchten, dass inEriwan die osteuropäische Orientierung praktisch doku-mentiert wird und dass auch Weißrussland eine Chancebekommt, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen.
Denn es ist nicht zu erklären, dass die Russische Födera-tion, ein so „demokratischer“ Staat wie Kasachstan,wenn ich das ironisch sagen darf, sowie Moldau dabeisein sollten, aber Weißrussland 70 Jahre nach dem Endedes Zweiten Weltkriegs nicht. Ich kann es auch andersausdrücken: Nichts ist hinsichtlich der Schaffung vonDemokratie subversiver als ein aufgeklärter Student, derin einem anderen europäischen Land studiert hat.
Das darf man nicht offiziell sagen, aber wir alle dürfendaran denken. Deshalb werben wir dafür, dass die Bun-desregierung an dieser Stelle ihr Gewicht einbringt unddazu beiträgt, dass es einen 48. Staat gibt, der sich dereuropäischen Bildungsidee anschließen kann.
Der zweite Punkt. Herr Rachel, wir begrüßen es sei-tens der SPD, aber auch der gesamten Koalition aus-
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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drücklich, dass Sie die Lehrerbildung mit in den Mittel-punkt stellen,
wofür andere mit überzeugt werden sollen. Wenn mansich die Zahlen vor Augen führt, weiß man, dass nur 25Prozent der Lehramtsstudierenden – das Lehramt ist eineKönigsdisziplin an den Hochschulen – ein Auslandsstu-dium aufnehmen; bei den übrigen Studierenden sind esschon 35 Prozent. Diese Differenz ist nicht zu erklärenund auch nicht zu begründen. Wenn wir tatsächlich In-ternationalität erreichen und die Selbstverständlichkeitvermitteln wollen, dass man seinen Geist auch im Aus-land erweitern und so Weltoffenheit entwickeln kann,dann doch über den Bildungsträger Lehrer, über die Per-sönlichkeit des Lehrers. Eigentlich müssten wir, wenn esnicht arrogant wäre, sagen: 100 Prozent derjenigen, dieein Lehramtsstudium absolvieren, müssen Auslandser-fahrungen sammeln.
Das ist ein großes Ziel; aber man darf mit dem Bologna-Prozess auch große Ziele verbinden. Wir finden es gut,dass sich auch der DAAD damit auseinandergesetzt hat,dass er 2013 eine Tagung veranstaltet hat und siebenkonkrete Punkte entwickelt hat. Wir fühlen uns jetzt beider Bundesregierung bestens aufgehoben und sind unssicher, dass sie diese Punkte mit nach Eriwan und zu denFolgekonferenzen trägt.Der dritte Punkt, der sich auch nur im Antrag vonCDU/CSU und SPD findet, ist der Begriff der europäi-schen Bildungsidee. Es gibt welche, die sagen, dass derganze Bologna-Prozess ein technokratischer Prozess ist.Es ist aber auch gut, wenn es saubere Strukturen gibt;man darf die Technokratie nicht diffamieren. Aber wasist die europäische Bildungsidee? Ist die europäischeBildungsidee nicht die Idee der Freiheit des Geistes?Geht es nicht darum, die Menschen so zu bilden, dass sieSelbstständigkeit, Kritikfähigkeit, die Fähigkeit zur Kri-tik an Ideologien, entwickeln? Ist es nicht auch dieGanzheitlichkeit der Bildung, eine europäische Bil-dungsidee? Ist die europäische Bildungsidee nicht vonWeltoffenheit geprägt? Wenn der Bologna-Prozess jetzthinsichtlich der Strukturen auf Internationalität, Ver-gleichbarkeit, Mobilität und anderes zielt und darüberhinaus angestoßen wird, dass wir uns zukünftig um dieQualität der gemeinsamen universitären hochschuli-schen Bildung in diesem großen europäischen Bildungs-raum bemühen, dann wird es Streit geben; aber schondie Qualität des Streites kann zu einer Qualität des euro-päischen Bildungsraumes werden.Ich möchte anerkennen, dass die Grünen und die Lin-ken den Bologna-Prozess technokratisch-strukturell mitoptimieren wollen. Nur, das reicht uns nicht.Wir werben darüber hinaus dafür, die Bundesregie-rung mit drei klaren Botschaften zur Konferenz zu ent-senden: erstens die Osteuropaorientierung komplett ma-chen, sodass auch Weißrussland seine Chance bekommt,zweitens die Lehrerbildung zukünftig in den Mittelpunktstellen, weil dies ein Treibriemen auf dem Weg zur Vi-sion des Europalehrers ist, und drittens an der europäi-schen Bildungsidee mitarbeiten. Das hat der Bologna-Prozess verdient. Im Jahr 1119 hat es mit der Gründungder ersten Universität in Europa überhaupt begonnen,2090 müsste es gut abgeschlossen sein.Danke.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Tankred
Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Rossmann hat es gesagt: Es ist eine gute Tradition,dass wir begleitend zu den internationalen Bologna-Konferenzen hier im Bundestag eine Debatte führen. Esist auch Tradition, dass Koalition und Opposition unter-schiedliche Sichtweisen haben, aber, lieber KollegeGehring, noch nie haben wir hier in Bezug auf Bolognavon einem Akademisierungswahn gesprochen.
Traditionell ist es auch so, dass der Antrag, den dieLinke alle zwei Jahre erneut einbringt, weit an der Reali-tät vorbeigeht. Sie haben sich leider nichts Neues einfal-len lassen. Schon seit Jahren lesen wir: keine Luft, zuviel Arbeitsdruck, zu viel Anwesenheitspflichten an denUniversitäten.
– Frau Gohlke, ich verweise auf die vielen Reden, die zudiesem Thema schon im Bundestag gehalten wurden.Schauen Sie sich die Argumente einmal genau an, bevorSie in zwei Jahren wieder einen Antrag einbringen.
Die Unionsfraktion begleitet den Bologna-Prozessseit vielen Jahren sehr erfolgreich. Wir haben unsere Er-folge in dem vorliegenden gemeinsamen Antrag vonCDU/CSU und SPD formuliert: der kontinuierliche Auf-wuchs beim Hochschulpakt, der Pakt für gute Lehre, denwir auf den Weg gebracht haben, oder die Exzellenzini-tiative, die vor allen Dingen die Attraktivität, an deut-schen Hochschulen zu studieren, für ausländische Stu-dierende, aber auch für ausländische Lehrende einganzes Stück erhöht hat, die Aktivitäten des DAAD– Frau De Ridder hat darauf hingewiesen: Der DAADwird von uns sehr gut finanziell unterstützt, allen voranvom BMBF –, und natürlich auch der kontinuierlicheAusbau der Berufs- und Studienorientierung.Wir haben in dieser Legislaturperiode die großeBAföG-Reform auf den Weg gebracht. Es gibt keine
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Tankred Schipanski
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Förderungslücken zwischen Bachelor und Master, derBAföG-Zugang für Angehörige von Drittstaaten wurdeerweitert, und die Länder werden finanziell erheblichentlastet, und zwar um 1,17 Milliarden Euro pro Jahr.Das ist ein substanzieller Beitrag zur Grundfinanzierungunserer deutschen Hochschulen.
Das Geld können die Länder jetzt einsetzen, um die Stu-dienbedingungen zu verbessern, und insbesondere auch,um die soziale Dimension von Bologna voll zu finanzie-ren.
Der Bund hat eine ganze Menge getan. Dennoch blei-ben einige Fragen offen. Es gibt einige Probleme vorOrt.
– Ja, das betrifft drei Punkte, lieber Herr Gehring. – Dasist zum einen die Überspezialisierung der Studiengänge.Wir haben 9 837 grundständige Studiengänge und 8 120weiterführende Studiengänge. Die Zahlen zeigen: DieSpezialisierung ist zu extrem. Man kann insbesonderedie HRK nur auffordern, sie auf ein Normalmaß zurück-zufahren.
Ein weiteres Problem – Herr Gehring hat es angespro-chen – ist die gegenseitige Anerkennungspraxis inner-halb der deutschen Hochschulen. Das Problem betrifftaber auch Studierende, die ihre Abschlüsse im Auslanderworben haben. Das können wir gesetzgeberisch undauch fiskalisch nicht lösen. Das ist der Autonomie derHochschulen geschuldet. Wir appellieren in unseremvorliegenden Antrag ausdrücklich an die Hochschulrek-torenkonferenz, hier gemeinsame Standards zu entwi-ckeln und entsprechende Verabredungen zu treffen.
Lieber Herr Gehring, über die Idee einer Anerken-nungsgarantie muss man nachdenken.
Das ist ein interessanter Ansatz. Aber wir können nichtfestlegen, wann eine Klausur korrigiert wird, wann mansich in ein Seminar einzuschreiben hat. Das unterliegtder Hochschulautonomie. Das müssen wir anerkennen.Was den Master betrifft – darüber wird regelmäßigdiskutiert –: Wir haben einen festen Standpunkt, den wirin dieser Legislaturperiode nicht geändert haben. Jeder,der die entsprechende Leistung erbringt, soll einen Mas-terstudienplatz erhalten.
Beim Master geht es um eine wissenschaftliche Vertie-fung. Der Regelstudienabschluss ist der Bachelor.
Die Frage, wie die Masterstudienplätze vergeben wer-den, muss fachspezifisch beantwortet werden. Natürlichgibt es Studiengänge, in denen der Master als Regelab-schluss zählt. Aber unsere differenzierte Hochschulland-schaft macht ein entsprechend differenziertes Angebot.Abschließend möchte ich darauf verweisen – KollegeRossmann hat darauf hingewiesen –, dass in unseremAntrag der Blick nach Osteuropa wichtig ist. Die Mobi-lität nach Osteuropa muss erhöht werden. Aus Osteuropakommen schon viele Studierende nach Deutschland.Aber neben Frankreich und Großbritannien haben natür-lich auch Estland, Polen und Armenien sehr gute Hoch-schulen. In diesem Sinne sollte der Passus zu Belarusverstanden werden.Noch ein Wort zu den Chancen der Bachelorabsol-venten auf dem Arbeitsmarkt. Es wurden dazu zwei Stu-dien vorgelegt, eine vom DIHK, eine andere vom Institutder deutschen Wirtschaft in Köln. Ich empfehle, einenArtikel aus der Welt vom 2. Mai zu lesen, der die Verwir-rung über die Erkenntnisse der Studie aufklärt. Für michsteht fest: Die Zahlen sprechen für die Akzeptanz desBachelors in der Wirtschaft. Wir sind da auf dem richti-gen Weg. Ich wünsche der Bundesregierung und demBMBF viel Erfolg auf der Bologna-Konferenz in Eriwanund bitte Sie herzlich, unserem Koalitionsantrag zuzu-stimmen.
Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-che angelangt.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache18/4801 mit dem Titel „Qualität von Studium und Lehreim internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäi-schen Hochschulraum erfolgreich gestalten“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen vonCDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen derOpposition angenommen.Tagesordnungspunkte 6 b bis 6 d. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen18/4385, 18/4802 und 18/4815 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Informationswei-terverwendungsgesetzesDrucksache 18/4614
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/4844Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitteSie, die Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat die Parlamentarische StaatssekretärinBrigitte Zypries.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Schade, dass sich die Reihen hier soleeren; denn das Thema, über das wir reden wollen, istein Zukunftsthema. Damit sollte man sich befassen.
Sie wissen es: Jede und jeder von uns nutzt Apps aufSmartphones, mit denen wir Navigationshilfen finden,mit denen wir uns über das Wetter informieren und man-che von uns auch über die Pollenbelastung. Wir erkundi-gen uns über die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel.Wir buchen unsere Tickets darüber. Wir checken uns insFlugzeug ein. Wir informieren uns über Rechtsvorschrif-ten und Gerichtsurteile, und wir erkundigen uns überStatistiken und Unternehmen.Ein großer Teil dieser Anwendungen beruht auf Infor-mationen, die von staatlichen Stellen generiert wurdenund auf diese Art und Weise, also über diese Anwendun-gen, für alle zugänglich gemacht werden. Staatliche In-formationen, deren Zugänglichkeit und Weiterverarbei-tung, sozusagen Open Data, sind der Motor der digitalenWirtschaft. Die Europäische Kommission schätzt, dassder direkte und indirekte wirtschaftliche Nutzen vonOpen Data europaweit in einer Größenordnung von jähr-lich 140 Milliarden Euro liegt. Für uns steht völlig außerFrage, dass wir das Potenzial, das in der Wirtschaftskraftder Verarbeitung dieser Daten liegt, nutzen wollen.Um dieses Ziel besser zu erreichen, haben wir die eu-ropäische Public-Sector-Information-Richtlinie ange-passt. Die neuen Vorgaben der Richtlinie setzen wir nunmit den Änderungen des Informationsweiterverwen-dungsgesetzes um. Dieses Informationsweiterverwen-dungsgesetz ist der Rechtsrahmen für die Weiterverwen-dung von Informationen öffentlicher Stellen, soweit esnicht um spezielle Regelungen geht wie beispielsweisebei Geodaten oder bei Umweltinformationen.Nach diesem Gesetz wird geregelt, welche Informa-tionen weiter verwendet werden können. Die Entschei-dung darüber, ob das geht oder nicht, lag bisher im Er-messen der jeweiligen öffentlichen Stelle. Das gilt jetztnicht mehr. Die Daten sind jetzt weiterzuverwenden. Dasist der eine wesentliche Punkt der Änderung. Der zweitePunkt ist, dass wir jetzt auch den Anwendungsbereicherweitern und Museen, Bibliotheken und Archive mit-einbeziehen. All dies erleichtert die Nutzung staatlicherInformationen und ist damit ein erster Schritt hin zu ei-ner umfassenderen Open-Data-Regelung, die wir uns jaim Koalitionsvertrag vorgenommen haben und bei derder Bundesinnenminister federführend ist.Zugleich wollen wir dafür sorgen, dass über die Re-gister Informationen für interessierte Unternehmenleichter auffindbar sind. Dafür haben wir das Datenpor-tal GovData geschaffen. In dieses Portal sollen alle öf-fentlichen Unternehmen einstellen. Wenn Sie dieses Por-tal im Internet aufrufen und es sich anschauen, dannsehen Sie: Es stehen schon jetzt erstaunlich viele Infor-mationen drin. Aber das wird noch sehr viel besser wer-den.Wir wollen für die Wirtschaft Anreize setzen, die Da-ten, die erhoben werden, auch tatsächlich zu verwenden.Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem anderen Zustän-digkeitsbereich, der Luft- und Raumfahrt, nennen: dieSentinel-Satelliten, von denen wir den ersten letztes Jahrins All geschossen haben. Dieser Satellit hat ein Radar-system, und dieses Radarsystem vermisst alle sechs Tagedie komplette Erdoberfläche. Einmal in sechs Tagen istalso die komplette Erde abgescannt. Damit können wirjetzt zum Beispiel erkennen, ob Eis auf dem Ozean istoder wie das Land genutzt wird, und können alle mögli-chen Schlüsse daraus ziehen. Das gilt vor allen Dingendann, wenn man bedenkt, dass es inzwischen viele jungeUnternehmen gibt, die weitere Luftaufnahmen machen,indem sie unbemannte Flugobjekte wie kleine Drohnennutzen, oder eben Luftaufnahmen aus Flugzeugen ma-chen. All diese Daten aus der Erdbeobachtung können inunterschiedlichen Datenbanken zusammengefasst wer-den. Aus diesem Material können sich dann neue Ge-schäftsmodelle ergeben.Es gibt beispielsweise ein junges Unternehmen inHessen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mithilfedieser Daten auszurechnen, wie viel Erde man braucht,um große Löcher, zum Beispiel in einem Steinbruch, mitErde zu verfüllen. Man kann anhand der Daten von obenzum Beispiel sagen: Es fehlen noch 25 Lastwagen vollErde, bis das Loch gefüllt ist.Sie sehen also: Hier gibt es viele Möglichkeiten. Dazugehören auch Apps. Diese können etwa aufzeigen, wo esnach einer Katastrophe noch Zugangsmöglichkeitengibt. Wir konnten beispielsweise mit den Daten des DLRauch bei dem schweren Erdbeben in Nepal helfen, weilwir speziellere Daten hatten. Sie können aber auch eineApp nutzen, um zu erfahren, wie Sie mit einem Rollstuhldurch die Stadt kommen; auch das beruht auf Daten, dieaus der Luft aufgenommen wurden.Das waren jetzt Beispiele aus dem Bereich der Erdbe-obachtung. Es gibt natürlich viele andere Beispiele, etwaPortale, die den Zugang zu Entscheidungen der unter-schiedlichsten Gerichte ermöglichen, oder in Kürze sol-che, die Ihnen die Inhalte von Museen in 3-D darstellen,und vieles andere mehr. Den Geschäftsmodellen und der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9847
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
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Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Ich freue mich,dass es gelungen ist, das im Rahmen dieser Gesetzesän-derung zu regeln.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Für die Fraktion
Die Linke spricht jetzt der Kollege Herbert Behrens.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Zypries hat darauf hingewiesen, welche Möglich-keiten sich durch öffentlich erhobene und auf den ent-sprechenden Servern gespeicherte Daten ergeben oderergeben könnten. In der Tat: Jeder von uns – auch die äl-tere Generation, zu der ich schon gehöre – nutzt Infor-mationen, die über ein Smartphone abgerufen werdenkönnen. Wir haben, wie schon gesagt, die Möglichkeit,Fahrpläne des öffentlichen Personennahverkehrs abzuru-fen. Das ist ein tatsächlicher Nutzen, der eine großeHilfe darstellt.Wir haben auch die Möglichkeit, Bürgerinnen undBürger stärker zu beteiligen, beispielsweise an der Pla-nung ihrer Städte. Auf der Grundlage entsprechenderPlanungen der Stadtverwaltung oder bestimmter Datenkann man überlegen: Was können und müssen wir in un-serer Stadt tun? Andere Kommunen sind so weit, dassihre Bürgerinnen und Bürger anhand der zur Verfügunggestellten Daten bei der Planung der Bürgerhaushalte ak-tiv werden und sich in den demokratischen Prozess in-nerhalb der Stadtverwaltung direkt einbringen können.Das ist ein echter Zuwachs an Demokratie, der die ent-sprechende Technologie voraussetzt.Das alles ist möglich, weil die Daten öffentlicher In-stitutionen veröffentlicht und zur Verfügung gestelltwerden und weil diese Daten nach dem Zurverfügung-stellen von Unternehmen aufgenommen worden sindund dann zur Darstellung beispielsweise auf einemSmartphone aufbereitet wurden. Hier werden die Mög-lichkeiten sichtbar, die die neuen Technologien eröffnen.Sie machen das Leben leichter, und kreative Köpfe inStart-ups oder auch in etablierten Unternehmen sind inder Lage, diese Chancen der Digitalisierung auch ökono-misch zu nutzen. Die Linke unterstützt diese Weiterver-wendung von Daten, die sich sozusagen im öffentlichenBesitz befinden.Der Gesetzentwurf regelt jetzt die Umsetzung einerEU-Richtlinie aus dem Jahr 2013. Es wird Zeit, dass wirsie umsetzen. Damit soll das Informationsweiterverwen-dungsgesetz aus dem Jahr 2006 den neuen technologi-schen Möglichkeiten angepasst werden; Frau Zypries hatdarauf hingewiesen. Aber es geht auch nicht einenHauch über das hinaus, was erforderlich ist.Es wäre angesichts der weitergehenden Möglichkei-ten der Digitalisierung denkbar, mehr zu machen, zumBeispiel die Entwicklung von Standards voranzutreiben,die es Kommunen, aber auch Bürgerinnen und Bürgernmöglich machen, die Daten intensiver zu nutzen und zuverbreiten. Es wäre auch denkbar, die Novelle zum In-formationsweiterverwendungsgesetz dazu zu nutzen, inder Form initiativ zu werden, dass Kommunen und an-dere öffentliche Stellen mehr Informationen – sprich:Daten – zur Verfügung stellen, die dann weiteren Ver-wendungen zugeführt werden können. Stattdessen klebtdie Bundesregierung, wie schon gesagt, an einer 1:1-Umsetzung der Richtlinie. Es handelt sich eigentlichnicht um mehr als um eine bürokratisch notwendige Um-setzung der EU-Richtlinie. Das ist keine angemessenePolitik in Zeiten der Digitalisierung. Das ist einfach nurdigitaler Stillstand.
Aber vielleicht traut man sich aktuell nicht weiter,weil unter dem Begriff der Informationsweiterverwen-dung inzwischen etwas ganz anderes verstanden wird.Der Skandal, dass öffentlich nicht verfügbare Daten– sprich: Geheimnisse – an die NSA weitergegeben wer-den, hat das Vertrauen in die digitale Wirtschaft massivzerstört, und es wird noch einige Zeit brauchen, an dieserStelle wieder Vertrauen aufzubauen. Dieses Vertrauen isteinfach erforderlich, um sagen zu können: Ja, wir wol-len, dass öffentliche Daten weiterverwendet werden, da-mit entsprechende Services angeboten werden können.Dass es jetzt zulässig sei, weitere Daten zur Verfü-gung zu stellen, wie Frau Zypries eben angedeutet hat,ist auch nicht ganz so, wie sie es dargestellt hat. § 1 Ab-satz 2 a soll nämlich folgendermaßen lauten:Ein Anspruch auf Zugang zu Informationen wirddurch dieses Gesetz nicht begründet.Das heißt, auch da stehen öffentliche Einrichtungenwieder vor der Frage: Was darf ich, und was darf ichnicht? Die Länderkammer hat bei der Anhörung zu die-sem Gesetz darauf hingewiesen, dass sie an der einenoder anderen Stelle Unterstützung braucht, um diesesGesetz anwenden zu können. Beispielsweise fordert sie,dass mit Verabschiedung des Gesetzes eine Handrei-chung ausgegeben wird, die die Kommunen wirklich ge-nau darüber informiert, wie sie mit diesem Gesetz umge-hen sollen. Die Bundesregierung antwortet an dieserStelle recht schnöde, das sei alles nicht nötig, außerdemkönne man auf die Erfahrungen der vergangenen Jahrezurückgreifen.Der Gesetzentwurf ist ein bisschen zu kurz gegriffen,um wirklich den großen Sprung, den Sie angekündigthaben, in Richtung Open Data – das hat ja originär nochnichts damit zu tun – zu schaffen. Von daher ist zwar gutgemeint, was dort mit der 1:1-Umsetzung niedergelegtworden ist, aber es reicht bei weitem nicht aus. Wir wer-den uns hier auf jeden Fall enthalten.
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Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansjörg
Durz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mirist vor allem nach der Rede des Kollegen Behrens nocheinmal wichtig, die Abgrenzung, welches Gesetz eigent-lich wofür Regelungen schafft, vorzunehmen.Wenn ein Bürger in Deutschland Informationen voneiner Bundesbehörde einfordert, muss die Verwaltungdarauf reagieren, muss die Daten zur Verfügung stellen,wenn keine übergeordneten Gründe dagegen sprechen.Dass jede Person einen Rechtsanspruch auf Zugang zuamtlichen Informationen von den Bundesbehörden hat,regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Während die ur-sprüngliche Intention dieses Gesetzes mehr Transparenzwar, kommt durch die voranschreitende Digitalisierungeine weitere Dimension hinzu: Ämter und Behördenspeichern zunehmend mehr Informationen digital. Dieverfügbaren Datenmengen nehmen tagtäglich zu, undauch die Technologien zur Analyse, Nutzung und Verar-beitung von Daten werden kontinuierlich weiterentwi-ckelt.Durch Verwenden, Aggregieren und Kombinierenvon Daten entsteht die Chance, ständig neue Dienste zuentwickeln, und gerade Daten aus dem öffentlichen Sek-tor bergen enorme Potenziale für neue Geschäftsmodelleund auch dafür, Menschen den Alltag zu erleichtern. Diesicherlich bekannteste Form der Nutzung öffentlicherDaten findet durch Navigationsgeräte statt; dafür werdensie jedenfalls am häufigsten verwendet. Welche weiterenMöglichkeiten in offenen Daten stecken, möchte ich an-hand dreier Beispiele – einige andere wurden schon an-geführt – kurz erläutern:Erstes Beispiel. Auf der Basis öffentlicher Daten ent-stand die Anwendung „Parken Wien“. Mithilfe dieserApp lässt sich anhand der Position des Nutzers feststel-len, ob dieser sich in einer Kurzparkzone befindet undob diese aktiv ist. Zudem werden kostenpflichtige undkostenfreie Zonen in unterschiedlichen Farben ange-zeigt. Über die mobile Anwendung können direkt Park-scheine gelöst werden. Es werden aktuelle Daten derStadt Wien genutzt und ständig aktualisiert. Diese An-wendung zählte bereits bei Einführung zu den meistge-kauften Apps in ganz Österreich.Ein zweites Beispiel. Die App „Bayernnetz für Rad-ler“ ist durch die Zusammenarbeit bayerischer Ministe-rien entstanden und beinhaltet mittlerweile 120 Fahrrad-touren mit einer Länge von insgesamt 8 800 Kilometern.Diese App verfügt über Radroutenplaner, Karten, Hö-henprofile, Verknüpfungen zu Bahntransportmöglichkei-ten, Veranstaltungsinformationen usw. usf. Entstandenaus Daten, die öffentlich zur Verfügung gestellt wurden,schafft die App einen Mehrwert für die Nutzer und stärktden Radtourismus.Das dritte Beispiel kommt aus der Landwirtschaft. ImAckerbau kommt dem Pflanzenschutz eine hohe Bedeu-tung zu. Gleichzeitig ist Pflanzenschutz eine sehr infor-mationsintensive Aufgabe. Seit längerem existieren mo-bile Anwendungen für Landwirte, mit deren Hilfe dieLandwirte bei ihren Entscheidungen im Bereich Pflan-zenschutz unterstützt werden. So können beispielsweisedie täglichen Infektionsbedingungen für die wichtigstenBlattkrankheiten bei Getreide oder Zuckerrüben an ei-nem bestimmten Standort über das Smartphone abgeru-fen werden. Auf diese Weise wird durch die Vernetzungverschiedener öffentlicher und privater Datenquellenwie Geo- oder Wetterdaten zusammen mit herstellerspe-zifischen Daten zu Pflanzenschutzmitteln die Möglich-keit geschaffen, die landwirtschaftliche Betriebsführungzu unterstützen.Diese Beispiele zeigen: Offene Daten bergen ein gro-ßes Potenzial für Innovationen. Liegen Behördendatenals offene Daten vor, können sie von Bürgern und Wis-senschaftlern, aber eben auch von Verwaltung und Wirt-schaft weiterverarbeitet werden. Auf diese Weise könnenneue Anwendungen, Produkte, Dienstleistungen und Ge-schäftsmodelle entstehen.Der öffentliche Sektor erfasst, erstellt und reprodu-ziert ein breites Spektrum an Informationen: Geodaten,Energieverbrauchsdaten, Emissionsdaten, Verkehrsdatenoder Bevölkerungsdaten. Die EU-Kommission prognos-tiziert – wir haben es vorhin bereits gehört – den volks-wirtschaftlichen Nutzen für die 27 Mitgliedstaaten aufcirca 140 Milliarden Euro pro Jahr. Dass die Nutzungvon Informationen des öffentlichen Sektors ein enormeswirtschaftliches Potenzial birgt, hat die EU-Kommissionbereits mit der ersten „Public Sector Information“-Richt-linie aus dem Jahr 2003 aufgegriffen. Diese Richtliniesollte die Weiterverwendung dieser Daten erleichternund allgemeinverbindliche Grundlagen schaffen. Deutsch-land hat diese Richtlinie im Informationsweiterverwen-dungsgesetz von 2006 umgesetzt.Übrigens: Als das Gesetz in Kraft trat, gab es quasinoch gar keine Smartphones. Allein das zeigt schon dieenorme Dynamik der Digitalisierung und gibt einen Hin-weis darauf, dass eine Anpassung des Rechtsrahmensnotwendig geworden ist.Also noch einmal kurz zur Einordnung: Dass Bürgereinen Anspruch auf Zugang zu Informationen und Datendes Bundes haben, regelt das Informationsfreiheitsge-setz. Dass diese Daten auch genutzt und weiterverwen-det werden dürfen, regelt das Informationsweiterver-wendungsgesetz.Mit dem neuen IWG setzen wir nun die neue Richtli-nie der EU aus dem Jahr 2013 in deutsches Recht um.Die entscheidende Neuerung besteht darin – wir habenes gehört –, dass Informationen öffentlicher Stellengrundsätzlich weiterverwendet werden können. Bishermusste ein Antrag auf Weiterverwendung öffentlicherDaten gestellt werden, und die öffentliche Stelle musstedann entscheiden, ob die entsprechenden Daten genutztwerden dürfen oder nicht. Jetzt gilt grundsätzlich: Wasfrei zugänglich ist und beispielsweise nicht durchUrheberrechte geschützt ist, darf auch weiterverwendet
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Hansjörg Durz
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werden. Damit sind öffentliche Stellen nunmehr dazuverpflichtet, Informationen für kommerzielle und nicht-kommerzielle Zwecke freizugeben. Wir schaffen da-durch für die Nutzer von Informationen des öffentlichenSektors eine deutliche Erleichterung. Übrigens reduziertdas Gesetz auch den Aufwand in der Verwaltung, dieWeitergabe zu prüfen und einen entsprechendenBescheid auszustellen. Wir schaffen also etwas ganz Be-sonderes: weniger Bürokratie für alle.Dass es notwendig ist, Bewegung in den BereichOpen Data zu bringen, zeigt ein Blick auf den kürzlichveröffentlichten Open Government Index 2015. Hier be-legt Deutschland bei der Qualität und Anzahl der zurVerfügung gestellten Informationen unter 102 Ländernnur den 18. Rang. Das bedeutet: Hier können und hiermüssen wir besser werden. Mit der Veröffentlichung des„Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zurUmsetzung der Open-Data-Charta der G 8“ im vergan-genen November wurde von der Bundesregierung einWeg aufgezeigt, wie es gelingen kann, mehr Verwal-tungsdaten im Sinne von Open Data zu veröffentlichen.Das ebenenübergreifende Datenportal GovData ist dabeihervorzuheben; denn im besten Fall stellen die öffentli-chen Stellen die Daten freiwillig und automatisch aufdieser zentralen Plattform zur Weiterverwendung zurVerfügung.Doch nicht nur der Bund ist bei der Bereitstellungoffener Daten aktiv. Auch bestehen auf Ebene der Län-der sowie der Kommunen zahlreiche Open-Data-Platt-formen. Daher ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sichdie Bundesregierung dafür einsetzt, die Nutzung desPortals GovData auch durch Länder und Kommunen zubefördern, um den Anwendern einen möglichst umfas-senden Datenkatalog anbieten zu können. Gleiches giltfür den Aufbau einer europäischen Open-Data-Infrastruktur und die Bemühungen der Bundesregierung,dass sich GovData mit seinen Schnittstellen darin einfü-gen lässt. Der Bedeutung von GovData wird das neueIWG auch gerecht, indem es in dem neuen § 8 hervor-hebt, dass Daten, die von Behörden online zur Verfü-gung gestellt werden, auch im nationalen Datenportalzur Verfügung gestellt werden sollen, wobei klar ist, dassdieses Portal mit Sicherheit noch etwas attraktiver fürden Anwender gestaltet werden kann.Die Novelle zum IWG heute zu verabschieden, ist einnotwendiger und absolut richtiger Schritt. Insgesamtmüssen wir aber feststellen, dass wir bei Open Data nochin den Kinderschuhen stecken. Wir müssen von dahernoch viele weitere Schritte gehen, um all die vorhande-nen Potenziale, die in der Bereitstellung offener Datenliegen, zu nutzen. So müssen wir unter anderem Antwor-ten auf folgende Fragen finden:Erstens. Wie schaffen wir es, dass Daten künftig nichtnur auf Nachfrage, sondern generell vom öffentlichenSektor auf einer Open-Data-Plattform zur Weiterver-wendung bereitgestellt werden?
Zweitens. Wie erreichen wir, dass alle öffentlichenStellen ihre Daten in einem einheitlichen maschinenles-baren Format zur Verfügung stellten?Oder drittens. Wie begegnen wir der Tatsache, dassder Verwaltung ein erheblicher Aufwand entsteht, wennDaten bereitgestellt werden? Kann hier über eine Gebüh-renrichtlinie ein Lösungsansatz gefunden werden?Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden. Siebelegen, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten müs-sen. Die Novellierung des IWG ist ein erster Schritt.Weitere müssen folgen. Auf jeden Fall wollen wir mitöffentlichen Daten digitale Geschäftsmodelle ermögli-chen, die Wirtschaft stärken und somit Innovation undWachstum fördern.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Offene Daten sind ein Schatz – das habenviele festgestellt –, ein Schatz, der uns allen gemeinsamgehört, aber nicht allen so zugänglich ist, wie es seinkönnte. Sie, lieber Herr Durz, haben gesagt: wenigerBürokratie für alle. – Das ist in der Tat wünschenswert.Allerdings ist es sowohl beim E-Government als auchbei Open Data mühsam, die Verwaltungen davon zuüberzeugen, entsprechende Schritte zu gehen. An diesemPunkt äußern wir auch Kritik: Das ist zwar mühsam,man könnte das aber auch mit mehr Verve und Engage-ment vorbringen, als Sie das in den letzten Jahren getanhaben.
Die volkswirtschaftlichen Potenziale sind groß:140 Milliarden Euro direkter oder indirekter Nutzen, jenachdem, wie man es sieht. Das heißt Kreative, Selbst-ständige, Start-ups, aber auch die einfachen Bürgerinnenund Bürger, NGOs, die Bildungseinrichtungen – jederkann diese Potenziale nutzen und mit den Möglichkeitenvon Apps oder von hochskalierten Geschäftsmodellen,wie man sie in der Digitalwirtschaft vorfindet, abschöp-fen.Ich war vor kurzem im Zentrum für Telematik inWürzburg. Dort beschäftigt man sich mit dem Potenzialvon Kleinsatelliten. Frau Zypries hat auf deren Poten-ziale bei der Wetterbeobachtung hingewiesen, sowohlfür die Agrarwirtschaft als auch hinsichtlich der Progno-sefähigkeit. Ab circa 2017 wissen wir sehr genau, wie inden nächsten vier Tagen das Wetter ist. Mit diesen Daten
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Dieter Janecek
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können wir sehr viel anfangen, egal ob Sie ein Event inder Freifläche planen oder als Landwirt ihre Saat aus-bringen möchten.Der freie Zugang zu und die Verwendung vonöffentlichen Daten bieten aber nicht nur wirtschaftlicheChancen, sondern es geht hier auch um Fragen, die dieDemokratie und das Gemeinwesen betreffen. Es gehtalso um mehr Transparenz, mehr Standards, mehr Chan-cen für uns alle. Es ist ein Ansatz für mehr Demokratie.Auch das muss man in dieser Debatte betonen.
Das Gesetz mit dem durchaus sperrigen Titel „Infor-mationsweiterverwendungsgesetz“ wird nicht zu einerDebatte anregen, die die Zuschauer auf der Tribüne vonden Stühlen reißt. Es ist aber trotzdem eine wichtigeDebatte, weil Sie, Herr Lämmel – das möchte ich beto-nen; da ist jetzt auch das Lob –, einen Schritt in die rich-tige Richtung gehen. Das tun Sie; Sie tun es aber nichtentschlossen genug. Sie sind aus unserer Sicht zu mut-los. Ich bin ja mit dem BMI im Digitalausschuss bezüg-lich E-Goverment und Open Data in Kontakt; da lautetimmer die Prognose, dass wir in den nächsten zehnJahren auch noch viel Papier haben werden. AberÖsterreich und Estland machen es besser. Fragen wir unseinmal, warum sie es besser als wir können! Also, wirkönnen es auch noch besser, und wir möchten Sie daheute schon ein wenig anschieben.
Es geht ja nicht nur um die ökonomischen Potenziale– diese habe ich angesprochen –, es geht auch um sozialeund gesellschaftliche Potenziale. Es gibt hierfür sehrviele gute Beispiele, auch im sozialen Bereich. Es gibtzum Beispiel sehr engagierte Initiativen, die den Wertvon öffentlich zugänglichen Informationen erkannt ha-ben und für ihr soziales Engagement bereits nutzen.Die Initiative Wheelmap.org hat sich so zum Zielgesetzt, über eine App barrierefreie Orte sichtbar zumachen, damit Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrervorab einschätzen können, ob Gebäude für sie zugäng-lich sind. Damit wird bereits heute konkret zu einembesseren gesellschaftlichen Zusammenleben beigetra-gen. Das Problem ist aber: Sie müssen sich bisher die öf-fentlichen Informationen in mühevoller Arbeit einzelnzusammentragen und sind auf viele freiwillige Unter-stützer angewiesen. Technologisch könnten wir dasheute schon längst anders machen – auch Herr Behrenshat das betont –, aber wir sind noch nicht so weit. Wa-rum sind wir noch nicht so weit? Weil wir es noch nichtgeschafft haben, den Druck auszuüben, den wir brau-chen.Ein weiteres Beispiel ist die Initiative Code forGermany, die die Entwicklung von Open Data und damiteine transparente Verwaltung aktiv vorantreibt. Das kannich für meine Heimatstadt München sagen. Dort ist vielgetan worden, um – übrigens auch mit offener Software –zu agieren und Zugänglichkeit zu schaffen. Es ist einmühsamer Prozess, bei dem man die Verwaltung mitneh-men muss. Das ist uns sehr bewusst. Man muss es abertun. Auch hier wieder die Ermahnung: Tun Sie das ent-schlossener, als Sie es bisher getan haben!
Abschließend: Wenn man sich die internationalenDaten anschaut, so stellt man fest, dass wir nicht vorneliegen; da sind wir nicht in der Champions League. AlsFC-Bayern-Fan bin ich seit gestern etwas gebrandmarkt,
aber Doro Bär sitzt hier im Bayern-Shirt, wie ich sehe.Trotzdem darf ich diesen Vergleich machen. In diesemFall ist es so, dass wir beim Open-Data-Index, also derChampions League der Open-Data-Bewegung, weithinter Ländern wie Großbritannien, Italien oder Polenzurückliegen. In Großbritannien – das finde ich hochat-traktiv – werden zum Beispiel die Fahrpläne für öffentli-che Verkehrsmittel zentral gebündelt und sind für jedenzur Nutzung auf einer Internetseite frei zugänglich.
Also: Lassen Sie uns dies wirklich in Angriff nehmen,lassen Sie uns die Chancen nutzen! Deutschland solltezu einem Open-Data-Land werden. Eine Open-Data-Gesellschaft ist in demokratischer, ökologischer undauch wirtschaftlicher Hinsicht erstrebenswert. Wenndann noch ein bisschen gutes E-Government hinzu-kommt, wo wir Einsparpotenziale von bis zu 45 Milliar-den Euro haben, wird das etwas.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Matthias Ilgen, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn manden Rednern von Linken und Grünen zuhört, kann mandas Gefühl haben, dass bald die schöne neue Weltkommt. Was soll in Zukunft nicht alles open sein! Auchwir nehmen zur Kenntnis, dass der Datenmarkt durchBig Data, Linked Data und Open Data derzeit im Um-bruch, in Bewegung ist.
Nicht zuletzt die Regierungen der USA und Großbritan-niens – Herr Janecek, Sie haben das gerade angespro-chen –, aber auch die Europäische Kommission tragenderzeit viel dazu bei. Wir haben eine spürbare Dynamikim Markt, die den Lebenszyklus von Datenproduktenvöllig neu definiert.Sowohl in der öffentlichen Verwaltung und in priva-ten Unternehmen als auch beim Verbraucher ergebensich neue Verortungen entlang dieser Wertschöpfungs-ketten. Wir stellen das alleine an den vielen Apps – die-
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Matthias Ilgen
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ses Wort ist ja allein in den vorangegangenen vier Redenetwa 30-mal gefallen – und neuen Anwendungen fürSmartphones und andere Geräte fest, die wir im Internetfinden und die uns das Leben erleichtern sollen. Ichglaube, dieser Prozess wird weitergehen, und wir müs-sen uns überlegen, welche weiteren Erfolge durch OpenData in Deutschland noch möglich sind.Insbesondere die Kombination aus Open Data undmobilen Anwendungen wird dadurch erleichtert, dasswir öffentliche Daten, die von den Verwaltungen desBundes, der Länder, der Gemeinden und vielen anderenstaatlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden, jetztzur Weiterverwendung freigeben. Das ist Ziel und Kerndieses Gesetzes, und das ist auch richtig.
Der Markt für mobile Apps hängt zugleich aber we-sentlich vom eigentlichen Kundenpotenzial ab. In densogenannten App-Stores werden, wie wir alle wissen,die entsprechenden Produkte gehandelt, und eine Appwird im Durchschnitt für 1,80 Euro, glaube ich, verkauft.Schauen wir uns einmal die Segmente an: Eben wurdeeine App für Rollstuhlfahrer angesprochen. In meinerHeimatstadt, die 22 000 Einwohner hat, ist das Kunden-potenzial für diese App, glaube ich, relativ klein, selbstwenn eine staatliche Internetseite wie www.meine-stadt.de diese App öffentlich machen würde.Wir müssen also für einheitliche Regelungen inDeutschland sorgen. Dafür ist die Plattform GovData derBundesregierung der erste Ansatz. Nehmen wir alsBeispiel die Rollstuhlfahrer-App, bei der es um Barriere-freiheit geht: Alle staatlichen Stellen müssen einenMarkt schaffen, der groß genug ist, damit eine solcheApp auch wirtschaftlich funktionieren kann; denn an-sonsten bleibt das Programmierspielkram für den einenoder anderen. Das mag im Einzelfall vor Ort sinnvollsein. Die Frage ist aber, wie wir die wirtschaftlichen Po-tenziale nutzen können. Deswegen müssen wir dafürsorgen, dass hier in Deutschland ein einheitlicher Wegbeschritten wird.Ich möchte ein Beispiel vorbringen, das über dieAnwendungen, von denen wir schon gehört haben, hin-ausgeht und deutlich macht, dass man über den Teller-rand schauen muss. Es geht um eine App aus Israel, diemir besonders ins Auge gesprungen ist. Der EntwicklerAri Sprung hat die App „Red Alert“ entwickelt. Dasklingt ein bisschen martialisch, und so ist es in diesemFall auch. Diese App warnt Nutzer in Israel vor Raketen-einschlägen. Diese App schlug im letzten Jahr aufgrunddes Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis indieser Region Tausende Male Alarm. Diese App ist inder Lage, in Echtzeit, sozusagen im Zwei-Sekunden-Takt, jede einzelne Rakete, die aus Gaza auf Israel abge-schossen wird, zu erfassen und zu melden. Sogar wäh-rend eines Live-Interviews mit dem israelischen Bot-schafter in Washington war der Ton dieser App in derFernsehübertragung zu hören, weil der Diplomat verges-sen hatte, sie stumm zu schalten. 1 Million Israelis haben„Red Alert“ mittlerweile heruntergeladen. Das heißt, je-der achte Israeli besitzt diese Anwendung. Sie könnteaber auch für andere Länder interessant werden.
Ich hoffe, dass wir für eine solche App – das ist natürlichein Extrembeispiel – in Deutschland künftig keine Ver-wendung haben werden, weil es hier friedlicher zugeht.Die Frage ist aber, meine Damen und Herren, woherdiese Daten kamen. Auf die Frage: „Wo hast du dieDaten her?“, hat der Programmierer gesagt: Ich habe sievon einer Webseite; die Daten sind im Internet zugäng-lich. – Die Daten sind dort tatsächlich öffentlich zugäng-lich; die eigentliche Frage war aber, wo der Ersteller derWebseite die Daten herhatte. Diese Daten kommen na-türlich von einer staatlichen Stelle, aber bisher hat keinerdie Frage beantwortet, woher die Daten genau kommen.Wir bewegen uns hier also – ich würde es freundlichausdrücken – in einem rechtlichen Graubereich. DasLand Israel hat sicherlich ein Interesse daran, dass dieseApp funktioniert. Die Daten werden aber vermutlichkaum von einer Behörde frei zugänglich eingestellt.An diesem Extrembeispiel sieht man, in welchen Be-reichen wir uns in Zukunft mit diesem Gesetz bewegenkönnten. Wir müssen also auch über Einzelfälle nach-denken. Deswegen finde ich es gut, dass man beim Mel-deregister und bei anderen Dingen Ausnahmen macht.Die Frage ist also: Wozu sind Daten verwendbar? Wasbringen Sie uns zum Beispiel in der Sicherheitstechnik?Was bringen sie uns in der Medizintechnik? Was bringensie uns künftig in anderen Bereichen der Wirtschaft?Ich stimme allen bisherigen Rednern zu – das habennämlich wirklich alle gesagt –, dass die Novellierung desIWG ein erster Schritt ist und wir noch weitere Schritteauf dem Weg zu Open Data gehen müssen, damit künftigweitere kommerzielle und nichtkommerzielle Anwen-dungen entwickelt werden können.Wir wollen sehen, wie wir diese Open-Data-Strategieweiterführen. Auch müssen wir fragen: Wie steht es amEnde um die Rechtsansprüche? Denn die Frage ist natür-lich, welchen Erfüllungsaufwand wir unseren Behördenaufgeben, wenn sie jetzt sozusagen alle Informationen,die sie für veröffentlichungswert halten, einstellen sol-len. Auf der anderen Seite ist zu überlegen: Welche In-teraktion gibt es dabei mit Blick auf Bürger und Unter-nehmen, die diese Daten nutzen wollen und können?Ich glaube – das sage ich abschließend –, dass wir einriesiges Marktpotenzial in der Bundesrepublik Deutsch-land, aber auch in Europa haben werden. Ich würde michfreuen, wenn alle Fraktionen das Vorhaben weiterhin un-terstützen würden.Danke schön.
Zum Schluss dieser Beratung hat der KollegeAndreas Lämmel, CDU/CSU, das Wort.
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9852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es kommt eigentlich relativ selten vor, dass
sich alle Fraktionen im Prinzip mehr oder weniger für
einen Gesetzentwurf aussprechen. Was das Abstim-
mungsverhalten angeht, bin ich gespannt: Wir müssten
diesen Gesetzentwurf heute eigentlich einstimmig ver-
abschieden.
– Na ja, gut, bei der Linken muss man ja immer ein biss-
chen vorsichtig sein. Das stimmt schon. Zumindest bei
den Grünen war aber schon eine große Übereinstim-
mung erkennbar.
Ich will nur ganz kurz auf drei Punkte eingehen. Es
geht bei der wirtschaftlichen Nutzung von Informatio-
nen aus der öffentlichen Verwaltung nicht nur darum,
neuen wirtschaftlichen Nutzen zu generieren, sondern
auch darum, Waffengleichheit herzustellen. In den
90er-Jahren – daran kann ich mich genau erinnern –
gab es einen Kampf um die Geodaten. Die öffentliche
Verwaltung – auch die bei uns in Sachsen – wollte Geo-
daten nie zur freien Nutzung durch die Unternehmen
herausrücken. Damit war natürlich keine Chancen-
gleichheit mehr gegeben. Das Nachsehen hatten im
Allgemeinen die kleinen und mittleren Unternehmen,
die keinen Zugriff auf solche Daten hatten. Ich denke,
dass dieses Gesetz heute wirklich ein großer Fortschritt
ist.
In den USA geschah das Gegenteil. Da hat Google
ganz einfach die Welt neu vermessen und mit
Google Maps letztendlich den Standard gesetzt. Alle
greifen nun auf diese Daten zu.
Kommen wir aber nun noch einmal auf die Plattform
GovData zurück. Auch Frau Zypries hatte sie erwähnt.
Ich habe mir das einmal angeguckt. Da steckt – um das
einmal vorsichtig auszudrücken – noch viel Verbesse-
rungspotenzial drin. Es ist sehr kompliziert, in diesem
GovData-Portal überhaupt zu navigieren. Man hat keine
guten Suchmasken, um wirklich schnell dahin zu kom-
men, wohin man will.
Zum anderen bin ich auch überzeugt, dass wir – na-
türlich auch politisch – versuchen müssen, entsprechen-
den Druck auf die Behörden auszuüben, dass sie ihre
Daten auf die Plattform bringen. Wir haben schon viele
dementsprechende Versuche gemacht. Sie sind aber ei-
nes schönen Todes gestorben, weil sie, was die darin ent-
haltene Information anbelangt, nicht mehr gepflegt wur-
den. Daraufhin sind sie in Vergessenheit geraten.
Ich denke, dass wir hier gemeinsam – aufgrund des
Föderalismus sind auch die Länder gefragt – vorgehen
müssen. Wir verabschieden jetzt ein Gesetz, aber die
Länder und Kommunen müssen ihre Daten dort einstel-
len. Hier muss man noch einmal an das Bundesinnen-
ministerium appellieren, die gesamte Plattform handhab-
barer bzw. nutzerfreundlicher zu machen. Weiter muss
an die Behörden in Bund, Ländern und Kommunen ap-
pelliert werden, daran zu denken, ihre Daten dort einzu-
stellen, weil das ein großer Vorteil ist.
Ich komme zum letzten Punkt, nämlich zur Gebüh-
renordnung; er ist hier auch schon verschiedentlich an-
gesprochen worden. Meine persönliche Meinung dazu
ist folgende: Die Daten in der öffentlichen Verwaltung
werden mit Steuergeldern erhoben; denn die öffentliche
Verwaltung wird aus den Steuereinnahmen finanziert.
Deswegen kann aus meiner Sicht diese Plattform kein
Modell sein, um Geld für die öffentliche Verwaltung zu
akquirieren. Man kann sicherlich Schutzgebühren ein-
führen, um den einfachen Missbrauch zu verhindern. Es
darf aber nicht versucht werden, damit die Stadtkasse,
die Landeskasse oder die Bundeskasse aufzufüllen. Das
würde ich für völlig verfehlt halten; denn die gesamten
Daten sind schon bezahlt. Sie sind schon auf Kosten der
Allgemeinheit erhoben worden. Deswegen kann man
nur sagen: Bei den Gebührenordnungen muss Maß ge-
halten werden.
Zusammenfassend will ich sagen: Ich freue mich,
dass wir hier heute ein Stück weiterkommen. Es wurde
aber von allen Rednern gesagt, dass das lediglich der
Anfang ist. Deswegen sollten wir sehen, dass wir schnell
die nächsten Schritte folgen lassen und dass wir vor allen
Dingen die Länder und die Kommunen in die öffentliche
Diskussion einbeziehen, damit dieses Modell in
Deutschland zum Erfolg geführt werden kann. Ich
denke, das wird unseren kleinen und mittelständischen
Unternehmen sehr helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ich hoffe auf große Zustimmung. Unsere Fraktion
wird diesem Gesetzentwurf auf jeden Fall zustimmen.
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-derung des Informationsweiterverwendungsgesetzes.Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4844,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache18/4614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Bera-tung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Ent-haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit angenommen, und zwar mit den Stim-men von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Frak-tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9853
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KordulaSchulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der AbgeordnetenStefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEDer Völkermord in Ruanda und die deutschePolitik 1990 bis 1994 – Unabhängige histori-sche AufarbeitungDrucksache 18/4811Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Wider-spruch erhebt sich keiner. Dann ist diese vereinbarte Zeitso beschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-ter Rednerin der Kollegin Kordula Schulz-Asche fürBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenin diesem Hause vor rund einem Jahr eine Debatte zum20. Gedenktag des Völkermordes in Ruanda, 1994, ge-führt, die unser Bundestagspräsident, Herr Lammert, als„denkwürdig“ bezeichnete. Am Ende sagte er, es bliebe„das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinan-dersetzung mit der eigenen Verantwortung … überzeu-gender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unsererVerpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt,als die Ereignisse stattgefunden haben“. Leider ist es bisheute nicht gelungen, diesen Worten Taten folgen zu las-sen.Der Völkermord in Ruanda war der schreckliche Hö-hepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. Aber spä-testens ab 1992 wurde klar, dass die ruandische Regierungund die ihr nahe stehenden Extremisten Menschenrechts-verletzungen vorantrieben mit dem Ziel, die Bevölke-rungsgruppe der Tutsi auszulöschen. Am Ende stand derVölkermord, die Ermordung von über 800 000 Menschenin weniger als 100 Tagen. Die Opfer waren Tutsi, aberauch gegen die Regierung opponierende Hutu oder Men-schen, die sich vor die Tutsi stellten. Die Überlebendenleiden bis heute. Sie haben unser aller Solidarität und un-sere Unterstützung verdient.
In der Debatte in diesem Hause vor einem Jahrherrschte große Einigkeit darüber, dass die internationaleGemeinschaft in Ruanda in ihrer Schutzverpflichtunggegenüber einer von der Ausrottung bedrohten Bevölke-rungsgruppe versagt hatte. Inzwischen haben sowohl dieVereinten Nationen als auch eine ganze Reihe von Län-dern, die enge Partnerschaften mit Ruanda eingegangenwaren und auch heute wieder eingegangen sind, ver-sucht, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Sie habenihre eigene Verantwortung aufgearbeitet und Berichtevorgelegt. Dazu gehören zum Beispiel die Schweiz undAustralien. Auch Frankreich und Belgien, die beide einebesondere Rolle in Ruanda spielten, haben Berichte vor-gelegt. Aber auch dort werden immer wieder Rufe laut,die weitere Aufarbeitung von Fehlern, die damals in die-sen Ländern gemacht worden sind, voranzutreiben.Es liegt jetzt nahe – auch hierüber herrschte im letztenJahr in allen Fraktionen Einigkeit –, dass auch Deutsch-land als Teil der internationalen Gemeinschaft Verant-wortung trägt, gerade als sehr guter und langjährigerPartner Ruandas.
Deutschland war nach dem Völkermord das erste Land,das wieder diplomatische Beziehungen zu Ruanda auf-genommen hat und dort wieder eine Botschaft eröffnethat. Ich glaube, das war ein gutes und deutliches Zeichenan die Überlebenden, dass sie nach dem Völkermordnicht erneut im Stich gelassen werden.
Aber wenn wir aus gemachten Fehlern lernen wollenund, wie ich finde, auch müssen, sollten wir uns nichtscheuen, uns unserer Verpflichtung einer sachlichen undfundierten Aufarbeitung zu stellen. Über ein Jahr langhaben einige Abgeordnete aller Fraktionen dieses Hau-ses versucht, einen gemeinsamen Antrag zustande zubringen. Das ist bisher leider gescheitert, sodass wirheute als Grüne zusammen mit der Linken diesen Antragallein einbringen. Ich möchte mich an dieser Stelle beiStefan Liebich für die gute Zusammenarbeit ausdrück-lich bedanken.
In diesem Antrag wird die Einsetzung einer unabhän-gigen interdisziplinären historischen Kommission gefor-dert, die das Handeln von deutscher Seite in den Jahrenzwischen 1990 und 1994 untersucht und dafür den Zu-gang zu notwendigen Akten erhält. Nach wie vor sindsehr viele Fragen offen. Dazu gehören die diplomati-schen Bemühungen, die in diesem Zeitraum stattgefun-den haben. Dazu gehört der Umgang mit den VereintenNationen und den Blauhelmen. Dazu gehört das Versa-gen von Frühwarnsystemen, zum Beispiel in der Ent-wicklungszusammenarbeit. Dazu gehört sicher auch dieAblehnung von 47 Visaanträgen von Ruandern, die imRahmen einer engen Partnerschaft mit Rheinland-Pfalzum Asyl gebeten hatten; um nur einige wenige Punkte zunennen.Wir sind uns doch alle einig, dass in sich zuspitzen-den Krisen die Zusammenarbeit zwischen verschiedenenMinisterien und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesell-
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9854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Kordula Schulz-Asche
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schaft, die Zusammenarbeit auf nationaler und interna-tionaler Ebene für den Schutz der Zivilbevölkerung ent-scheidend sind. Warum also nicht Fragen zulassen, wasschiefgelaufen ist und in Zukunft besser gemacht werdenkönnte?
Gerade angesichts der Vielzahl von Krisen, die auchheute die Welt, insbesondere die Region der GroßenSeen in Afrika, betrifft, ist das von besonderer Bedeu-tung. Ich glaube, wir alle beobachten gerade mit sehrgroßer Sorge die Entwicklung in Burundi. Auch da ha-ben wir natürlich Verantwortung und Verpflichtung, ge-nau hinzuschauen.
Es wäre auch vor diesem Hintergrund sicher ein gutesZeichen, wenn es doch noch gelingen sollte, sich der ei-genen Verantwortung und den eigenen Fehlern in Ru-anda in den Jahren von 1990 bis 1994 zu stellen.Der Antrag enthält eine weitere Forderung, die mirsehr am Herzen liegt, nämlich die Einrichtung einesRechtsfonds für die Zeugen, die in Völkermordprozes-sen aussagen. Überlebende von Völkermorden habeneine Vielzahl von Traumatisierungen erfahren. Sie sindkörperlich und seelisch verletzt worden. Sie sind manch-mal die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Wennwir als internationale Gemeinschaft wollen, dass die Tä-ter von Völkermorden vor Gericht gestellt werden, dannbrauchen diese Zeugen unsere Unterstützung.Diese Menschen werden oft in verschiedenen Prozes-sen vor verschiedenen Gerichten in verschiedenen Län-dern als Zeugen angehört. Wir brauchen ihre Unterstüt-zung, und sie brauchen unsere Unterstützung. Ich kannbeim besten Willen nicht verstehen, warum wir die Initi-ierung eines solchen internationalen Rechtsfonds nichtfraktionsübergreifend zustande bringen sollten.
Außenminister Steinmeier sagte am 4. April 2014,also vor etwas über einem Jahr, an dieser Stelle:Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heutezu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemalswieder!Und er fuhr fort:Wir schulden ihnen,– damit meinte er die Opfer –dass wir uns nicht dem Gefühl der Ohnmacht undschon gar nicht der Gleichgültigkeit hingeben, dasswir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögli-che tun, das in unserer Macht steht, um Völkermordzu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, unddieser Verpflichtung müssen wir gerecht werden.Das ist richtig und gut gesagt.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-
zeit?
Ja, ich komme zum Ende. – Wir werden uns als Deut-
scher Bundestag jeden April die Frage stellen müssen,
ob wir das Mögliche getan haben und ob wir unserer
Verpflichtung gerecht geworden sind. Wir haben im letz-
ten Jahr eine denkwürdige Debatte geführt. Lassen Sie
uns gemeinsam dafür sorgen, dass den Worten auch Ta-
ten folgen.
Danke schön.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank
Heinrich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Völker-mord, Genozid: ein Thema, das uns in diesen Tagen miteiner ganz aktuellen Wucht erreicht. Wir haben in dervergangenen Sitzungswoche, also vor zwei Wochen, des100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniernmit seinen 300 000 bis 1,5 Millionen Opfern gedacht.Brutal wurden von den Osmanen ebenso Angehörige derchristlichen Minderheiten der Aramäer, der Assyrer undder Chaldäer ermordet. Zwischen 100 000 und 250 000dieser Menschen kamen ums Leben.Zynisch an dieser Debatte vor 14 Tagen mutete an,das Geschehen nicht als Völkermord zu bezeichnen– Sie alle können sich erinnern, wie das auch durch dieMedien ging –, weil es den Begriff damals noch nichtgegeben hätte. Natürlich gab es erst 1948 die verbindli-che Definition durch die Vereinten Nationen – ich zi-tiere die Konvention über die Verhütung und Bestra-fung des Völkermordes –, doch der Tatbestand an sich,die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oderreligiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zer-stören“, lag schon 1915 ohne Frage vor, auch wenn dieTürkei – das ist ein Skandal – das bis heute so nicht an-erkennen will.Doch kehren wir noch zusätzlich vor der eigenenHaustür. Morgen, am 8. Mai 2015, jährt sich zum70. Mal der – so hat ihn Richard von Weizsäcker be-zeichnet – Tag der Befreiung, der Befreiung vom größ-ten Genozid der Historie. 6 Millionen Juden, darunter1,5 Millionen Kinder, wurden von den Nazis erniedrigt,entwürdigt, vernichtet. Niemals zuvor gab es eine solcheMaschinerie zur Vernichtung eines Volkes. Das begannbei der Sprache, der Nutzung von Wörtern, die Menschenmit Tieren verglichen, und ging über die Pseudowissen-schaft eines Alfred Rosenberg mit seiner Rassentheorie
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9855
Frank Heinrich
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bis zur akribischen Vorbereitung und systematischen tech-nischen Umsetzung der sogenannten Endlösung, der Ver-nichtung der Juden. Dazu kam der Völkermord der Nazisan den Sinti und Roma. Über 100 000 dieser Menschenverloren ihr Leben.1948 waren die Vereinten Nationen zum einen scho-ckiert, zum anderen optimistisch. Mit der Konventionüber die Verhütung und Bestrafung des Völkermordeswurde ein Straftatbestand – meine Kollegin hat das ebenauch erwähnt – geschaffen in der Hoffnung, Völker-morde verhindern zu können. Und doch kam es wiederzu Genoziden.Bereits der Völkermord im Nachbarland Burundi– die Vorgeschichte in der Region wurde schon ange-sprochen – durch die Tutsi an den Hutu forderte 100 000bis 300 000 Tote. Manche nennen es auch die Wurzel fürdas, was dann 1990/1992 sichtbarer wurde, was erkenn-bar vorbereitet wurde und was 1994 in Ruanda geschah.In 100 Tagen – wir haben die Zahlen gerade gehört – tö-teten Angehörige der Hutu-Mehrheit 800 000 Menschen,also etwa 75 Prozent aller in Ruanda lebenden Tutsi, so-wie moderate Hutu, die sich nicht am Völkermord betei-ligen wollten oder sich aktiv dagegen eingesetzt haben.Die internationale Gemeinschaft – das will ich wie-derholen – hat damals vollkommen versagt. Das stehtaußer Frage. Das kam in der Debatte, die wir vor einemJahr geführt haben, eindrucksvoll zum Ausdruck. Auchbei dem Massaker in Srebrenica, mitten in Europa, hatdie Weltgemeinschaft mehr oder weniger zugeschaut.1995 wurden 8 000 Bosnier getötet. So weit der Blickzurück, weil wir heute über Völkermord reden.Nun geht es in dem Antrag um die Rolle Deutsch-lands und vor allem um die Frage, welche Instrumenta-rien – das ist der Kern des Antrags – zur Prävention seit-her entwickelt wurden. Sie fordern unter anderem, zurAufarbeitung in Deutschland eine unabhängige interdis-ziplinäre historische Kommission einzurichten. Dazumuss man aber auch wissen, dass ein Großteil der Aufar-beitung a) schon stattgefunden hat und b) in die Schaf-fung neuer Instrumentarien gemündet hat.Zwei unabhängige Gutachten zu Ruanda, 1998 und1999 im Auftrag des BMZ gefertigt, haben dazu geführt,dass Empfehlungen umgesetzt wurden. Zudem erschienletztes Jahr, 2014, eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftungmit dem Titel „Deutschland und der Völkermord in Ru-anda“. Das Bild zu zeichnen, wir würden keine Aufar-beitung betreiben, führt uns in die Irre. Wenn das die In-tention war, dann muss ich Ihnen sagen, dass wir unsIhnen nicht anschließen können. Zu den Instrumentarienschreiben Sie selbst in dem Antrag – ich zitiere –:Die Vereinten Nationen und einige Länder, die bila-teral mit Ruanda zusammenarbeiteten, haben inzwi-schen ihre eigene Rolle in den Jahren vor und wäh-rend des Völkermords vor 20 Jahren aufgearbeitet.Ich glaube, wir haben dabei nicht die schlechteste Rollegespielt.Dies hat erheblich dazu beigetragen, internationaleInstrumente der Frühwarnung und Prävention zuentwickeln. Besonders die Responsibility to Protectgeht auf die Erfahrungen in Ruanda zurück.Das ist genau richtig, diese Meinung teilen wir.Deshalb gestatten Sie mir einen kurzen Blick auf dieInstrumentarien, die seitdem entstanden sind, teilweisevor dem Hintergrund dieser Geschichte. Das Konzeptder gerade genannten Schutzverantwortung, Responsibi-lity to Protect, beinhaltet folgende drei Prinzipien: Ers-tens. Jeder Staat hat die Verantwortung, seine Bevölke-rung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischenSäuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeitzu schützen. Zweitens. Die internationale Gemeinschafthat die Aufgabe, Staaten in dieser Verantwortung zu un-terstützen. Da kommen wir mit ins Spiel. Drittens. Dieinternationale Gemeinschaft muss angemessene diplo-matische, humanitäre und friedliche Mittel anwenden,um Bevölkerungen vor diesen Massenverbrechen zuschützen.Wenn ein Staat zum Schutz seiner Bevölkerung nichtfähig ist oder selbst die genannten Verbrechen begeht,muss die internationale Gemeinschaft – wir – bereit sein,noch stärkere Mittel einzusetzen, inklusive der durchden Sicherheitsrat beschlossenen kollektiven militäri-schen Mittel. In diesem Fall geht die Schutzverantwor-tung auf die internationale Gemeinschaft über. Deutsch-land ist Mitglied der sogenannten FreundesgruppeResponsibility to Protect und setzt sich für diese Umset-zung ein.Ich möchte noch einige weitere Instrumentarien kurznennen. Mit dem Krisenfrühwarnsystem des BMZ wer-den Entwicklungen beobachtet und Veränderungen vonder Bundesregierung aufmerksam registriert. Weiterhingibt es das EU-Early-Warning-System, das Sie in IhrerRede vorhin zitiert haben. Schließlich gibt es die seit2012 geltenden ressortübergreifenden Leitlinien für einekohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragi-len Staaten. Meine Kollegin Frau Schäfer wird kurz da-rauf eingehen.Deutschland unterstützt die Vereinten Nationen anvorderster Front, was dies angeht. So wurde im Jahr2004 der Posten des Sonderberaters zur Verhinderungvon Völkermord eingerichtet, 2008 der Posten des Son-derberaters für Schutzverantwortung. Es sind also Dingepassiert.
– Ich weiß; das will ich nicht in Abrede stellen. – 2010formulierte Kofi Annan fünf Grundsätze: Informierenüber bewaffnete Konflikte, Zivilbevölkerung schützen,Straflosigkeit beenden, klare und frühzeitige Warnungenaussprechen und schnell und entschlossen handeln. Aufdie klaren und frühzeitigen Warnungen komme ich amEnde zurück; denn wir haben auch jetzt wieder Warnun-gen auszusprechen. Was das schnelle und entschlosseneHandeln angeht, so ist das am meisten gescheitert.Hinzu kommt der UN-Aktionsplan vom Juli 2013.Darin stehen sechs Empfehlungen, die ebenfalls alsKonsequenz der Ereignisse zu verstehen sind, die wir
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9856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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miterleben mussten. Unter anderem wird ein Menschen-rechtstraining für alle Mitarbeiter und das gesamte Per-sonal der Vereinten Nationen und eine Unterrichtung desSicherheitsrates durch den UN-Generalsekretär überschwere Menschenrechtsverstöße empfohlen.Was leiten wir daraus als Forderungen oder Folgerun-gen ab? Wir stimmen da nicht genau überein; deshalbwerden wir nicht zustimmen. Ich möchte meine KolleginSabine Weiss zitieren. Sie sagte: Eine der zentralen Lek-tionen des Völkermords in Ruanda ist es, wachsam zusein und frühzeitig auf Fehlentwicklungen zu reagieren.– Das ist die Intention. So haben Sie auch am Schluss Ih-rer Rede gesagt: Wir müssen hinschauen. – Deshalbmüssen wir auch jetzt hinschauen. Es sind mindestensvier Regionen, auf die wir aufmerksam gemacht werdenund in denen jetzt das Risiko besteht, dass wir wiederversagen, wenn wir nicht Verantwortung übernehmen:Ich nenne da die Zentralafrikanische Republik. In denJahren 2013 und 2014 kam es dort zu ethnischen Säube-rungen, Vertreibungen der muslimischen Minderheit.Ich rede vom Südsudan, wo Morde an Angehörigender Zivilgesellschaft stattfinden. John Kerry hat letztesJahr gewarnt, es gebe dort „verstörende Anzeichen“ eth-nisch motivierter und gezielt nationalistischer Tötungen.Kerry weiter:Wenn diese andauern, stellt das die internationaleGemeinschaft vor ernste Herausforderungen hin-sichtlich eines Völkermordes.Aktion – jetzt aktuell.Der Nordirak ist das dritte Beispiel: Morde, Massakeran den Jesiden durch den IS, Vertreibung ins Gebirge,Verschleppung von circa 3 000 Mädchen und Frauen.Ich nenne nicht zuletzt – da schließt sich der Kreis einbisschen – Burundi. Die Lage in Burundi eskaliert. AmDienstag dieser Woche hat dort das oberste Gericht nacherheblichen Einschüchterungen die verfassungswidrigedritte Kandidatur von Präsident Nkurunziza bei denWahlen im Juni gebilligt. Gewalt macht sich inzwischenbreit zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten.Circa 25 000 Menschen sind geflohen, die meisten da-von nach Ruanda. Die internationale Gemeinschaft musssich stärker engagieren, für faire und freie Wahlen ein-treten und auf eine Deeskalation drängen!Danke für den Antrag, danke für das erneute Themati-sieren auch ein Jahr nach dieser wirklich guten Debatte!Im Ziel stimmen wir überein, in der Form so nicht. Jetztgilt es aber, Dinge umzusetzen und nicht wieder falschoder zu spät zu reagieren, nicht zuletzt in den vier Fällen,die ich gerade genannt habe; denn die Instrumente dafürhaben wir inzwischen in der Hand.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Stefan Liebich.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! ImFebruar dieses Jahres ist Außenminister Frank-WalterSteinmeier nach Ruanda geflogen. Eine kleine Delega-tion des Bundestages hat ihn begleitet: Der Herr KollegeDiaby war dabei, Frau Schulz-Asche war dabei, FrauPfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion und ich selbst auch.Wir haben dort in Kigali im Hôtel des Mille Collinesübernachtet. Wahrscheinlich haben einige von Ihnen denFilm Hotel Ruanda gesehen, einen Film, der sehr ergrei-fend ist in seiner ganzen Schrecklichkeit. Wenn man indiesem Hotel übernachtet, wo über tausend MenschenZuflucht gesucht haben, dann hat man die Bilder immerwieder im Kopf und sie lassen einen nicht los. Das ist einsehr seltsames Gefühl.Wir waren dann gemeinsam im Kigali Genocide Me-morial Centre und haben dort einen Kranz niedergelegt,und wir haben uns vor den Überresten von über 250 000Opfern verneigt. Das Gefühl, zu welchen GrausamkeitenMenschen fähig sind, lässt einen nicht mehr los.Herr Heinrich, in ebendiesem Museum wird an unter-schiedliche Völkermorde erinnert. Sie haben einige da-von erwähnt, aber einen nicht, an den dort auch erinnertwird – das ist mir in der Debatte zu dem Völkermord anden Armeniern aufgefallen –: den Völkermord, der anden Herero und Nama begangen wurde. Ich finde, dassdie Bundesregierung mit der gleichen Konsequenz, mitder sie von den Türken die Anerkennung des Völker-mords an den Armeniern einfordert, hier auch zur eige-nen Verantwortung stehen sollte. Davor schreckt dieBundesregierung bisher zurück.
Die Frage nach dem Warum des Völkermords in Ru-anda müssen wir uns heute, 21 Jahre danach, stellen. Na-türlich: Die Hauptverantwortung tragen die Täter in Ru-anda und diejenigen, die diesen Völkermord geplant undorganisiert haben. Mitverantwortung tragen – darüberhaben wir hier gesprochen vor einem Jahr – jedoch auchdie europäischen Kolonialmächte, die die Unterschei-dung zwischen Hutu und Tutsi festgeschrieben haben,um besser in ihren Kolonien regieren und diese ausbeu-ten zu können. Mitverantwortung tragen auch jene, diein Berlin, gar nicht weit von hier, Afrikas Grenzen mitdem Lineal gezogen haben, ohne jene zu fragen, die indiesen Ländern damals dort lebten. Mitverantwortungträgt Frankreich. Frau Schulz-Asche hat darauf hinge-wiesen: Frankreich hat die Genozidregierung unterstützt,als das Morden lief, und Frankreich leugnet bis heuteseine Verantwortung. Verantwortung trägt die Weltge-meinschaft, die Ruanda in seiner dunkelsten Stunde al-leingelassen hat. In Gesprächen mit ruandischen Abge-ordneten habe ich gesagt, dass ich mich dafür schäme.Was hat das Ganze mit Deutschland zu tun? Wiekonnte es geschehen, dass unser Land 1994 alle Signale,was passieren wird, nicht gesehen und nicht gehört hat?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9857
Stefan Liebich
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Die Beziehungen waren außerordentlich eng. Die Deut-sche Welle war in Ruanda. Ebenso waren die Gesell-schaft für Technische Zusammenarbeit, die politischenStiftungen, die Kirchen, NGOs dort. Sogar Bundeswehr-berater hatte Deutschland nach Ruanda entsandt. Warumhaben das Kanzleramt, das Außenministerium, dasVerteidigungsministerium, das Innenministerium, dasEntwicklungsministerium nichts von alldem gesehen?Wir fordern in unserem Antrag, dass alle dafür notwen-digen Akten jetzt offengelegt werden.Warum ist nichts geschehen, obwohl es eine unwahr-scheinlich enge Zusammenarbeit zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda gegeben hat und gibt? 650 Projektehaben beide Länder verbunden. Wie konnte es gesche-hen – Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen –, dassdamals die Visaanträge von 47 Ruandern abgelehnt wur-den, obwohl Rheinland-Pfalz versprochen hatte, dieKosten zu übernehmen?Herr Heinrich, es ist noch nicht alles geschehen, wasmöglich ist. Das Auswärtige Amt sagt selbst, dasseine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung inDeutschland bis heute aussteht. Deshalb schlagen Grüneund Linke genau diese vor. Es geht hier nicht darum,irgendwem Schuld zuzuweisen, sondern es geht tatsäch-lich darum, aus Fehlern zu lernen.
Wir wollen eine unabhängige historische Kommission.Sie haben hier das Thema „Responsibility to Protect“erwähnt. Darüber könnte man jetzt länger diskutieren.Aber eines ist mir an der Stelle sehr wichtig – das gilt füralle Konflikte, über die wir im Moment reden –: Vordem Einsatz von Militär steht die Responsibility to Pre-vent, also die Verantwortung, zu vermeiden, dass esüberhaupt so weit kommt. Da haben wir in Ruandaversagt, und da versagen wir leider bis heute in vielenKonflikten.
Wir hätten uns gewünscht, dass es hier einen Antragaller Fraktionen gibt. Einen solchen haben wir bishernoch nicht. Aber der Antrag wird jetzt in die Ausschüsseüberwiesen. Vielleicht können Sie von der Union undvon der SPD noch über Ihren Schatten springen. Viel-leicht ist es möglich, dass wir hier zu einem Konsenskommen. Wir sind dazu bereit.Sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen aus un-seren Fehlern lernen, damit so ein Verbrechen nie wiedergeschieht. Ich denke, das sind wir den Hunderttausendenvon Opfern schuldig.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich,
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Der Genozid inRuanda ist noch nicht lange her. Opfer, Täter, Zeugen,auch die Deutschen, die damals das Land schnellstmög-lich verlassen mussten, erinnern sich an die Gräueltatenvon 1994. Sie erinnern sich an die Menschen, die siekannten und die sie nicht beschützen konnten. Sie fragensich, wie natürlich auch viele andere, wie all das gesche-hen konnte und warum die internationale Gemeinschaftso versagt hat.Tatsächlich sind ja noch lange nicht alle Hintergründedieses Versagens geklärt. UNAMIR, die Mission derVereinten Nationen, wurde verkleinert, als der Völker-mord schon in vollem Gange war. Im Vorfeld versagteninternationale Organisationen, und die Berichterstattungtat den Krieg und die Massenmorde als Stammeskonfliktab. Dieses Versagen der internationalen Staatengemein-schaft darf sich niemals wiederholen.
Ich halte eine systematische historische Aufarbeitungvon Konflikten und der deutschen Verantwortung undReaktion auf diese Konflikte grundsätzlich für richtig.Zum Teil geschieht das bereits. Wie im Antrag zu lesenist – auch Sie haben bereits darauf hingewiesen –, sindgerade in jüngster Zeit Wissenschaftler und Mediendamit beschäftigt, die Verbindungen Ruandas undDeutschlands in den 1990er-Jahren zu erforschen.Auf internationaler Ebene wurden aus dem Völker-mord in Ruanda und aus dem Versagen der internationa-len Gemeinschaft Konsequenzen und Lehren gezogen.Neuere UNO-Missionen erhalten oft robuste Mandateund legen den Schutz der Zivilbevölkerung als strategi-sches Ziel fest. Die Responsibility to Protect als interna-tionale Norm der Vereinten Nationen ist eine weitereLehre aus dem Völkermord in Ruanda. Wir haben ge-lernt, dass wir nicht wegsehen dürfen, wenn ein Landseine Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will.Wir tragen auch Verantwortung in der Prävention. DieBedeutung der Krisenprävention als Aufgabe der deut-schen Politik kann gar nicht genug betont werden. In derGroßen Koalition haben wir die Mittel für den ZivilenFriedensdienst bisher stetig erhöht, zuletzt auf 39 Millio-nen Euro im Jahr. Die Vermeidung von Konflikten, dieVersöhnungsarbeit, die Deeskalation – all das sind Be-reiche, die wir weiter ausbauen müssen. Auch das isteine Lehre aus dem ruandischen Völkermord.Meine Damen und Herren, es bleibt trotzdem unbe-friedigend. Wir erinnern uns an den Völkermord inRuanda; wir haben heute schon eine Idee davon, wie derGenozid zu verhindern gewesen wäre. Wir müssen aber
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9858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Gabriela Heinrich
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trotz der ganzen Erkenntnisse bei jedem Konflikt vonneuem damit anfangen, zu analysieren, und uns entschei-den, was wir tun wollen.Die zentrale Frage ist hierbei: Wie übernehmen wirVerantwortung in einem bestimmten Konflikt? Ihr An-trag lässt das noch offen. Sie hoffen, dass neue Erkennt-nisse der Kommission Antworten auf diese zentraleFrage hervorbringen. Ich bezweifle, dass die wissen-schaftliche Aufarbeitung zu solchen Antworten führt.Eine Kommission kann Schuldfragen klären; sie kannsogar individuelle Schuld klären, wenn die Archive ge-öffnet werden. Aber kann sie uns tatsächlich Handlungs-anweisungen für aktuelle Krisen, Konflikte und Völker-morde liefern?Die Diskussionen über unsere Verantwortung, dieauch wir Abgeordnete angesichts aktueller Krisen führenmüssen, kann uns keiner abnehmen. Dafür gibt es keinKonzept. Spätestens dann, wenn wir über Waffenliefe-rungen und Blauhelmeinsätze, eingebettet in unsereinternationalen Verpflichtungen, entscheiden müssen,muss sich jeder und jede von uns fragen, welche Maß-nahmen im Sinne der Responsibility to Protect Massen-morde und schwere Menschenrechtsverletzungen ver-hindern; denn die Responsibility to Protect endet ebennicht immer bei der Prävention. Da kommen wir nichtraus, wie viel wir auch immer historisch aufarbeiten mö-gen.Deutschland und Ruanda pflegen eine enge Partner-schaft mit sehr positiven Entwicklungen. Ruanda hatschon in der Vergangenheit sehr aktiv und völlig zuRecht seine eigenen Vorstellungen von der Entwick-lungszusammenarbeit und der Arbeitsteilung benannt.Zuletzt ging es dabei zum Beispiel um Dezentralisie-rung, gute Regierungsführung und die Reform des öf-fentlichen Finanzwesens.Deutschland hat letztes Jahr insgesamt rund 70 Mil-lionen Euro für die Zusammenarbeit in den nächsten dreiJahren zugesagt. Wir sollten die Frage der Aufklärung– vielleicht auch die unserer eigenen Verantwortung –da, wo dies noch nicht geschieht, stärker mit der Aufklä-rung in Ruanda verbinden. Wir dürfen nicht nur fragen:„Was hätten wir tun müssen?“, sondern wir müssen auchfragen: „Was hätte Ruanda gebraucht, und zwar aus derPerspektive der Menschen in Ruanda?“Ruanda selbst ist längst dabei, den Genozid aufzuar-beiten. Vielleicht brauchen wir eine stärkere Verknüp-fung, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Wir müssenauch abklären, ob und in welcher Weise eine stärkereUnterstützung Deutschlands bei der Aufarbeitung desGenozids und weitere Hilfe für die Überlebenden ge-wünscht ist, auch im Hinblick auf die Zeitzeugen. Wirsollten ergebnisoffen in Erfahrung bringen, in welcherWeise Deutschland hierbei weiter unterstützen kann.Dies ist mit Sicherheit unsere Aufgabe.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Anita Schäfer für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem bereitsso viel über die deutsche Politik zur Zeit des Völker-mords in Ruanda gesprochen wurde, möchte ich die heu-tige Debatte um einen Blickwinkel aus diesem Landselbst ergänzen. Kürzlich hatte ich als Vorsitzende derParlamentariergruppe Östliches Afrika die Gelegenheit,im Rahmen einer Delegationsreise in die Region auchRuanda zu besuchen. Ein besonderer Schwerpunkt wa-ren dabei natürlich die Lehren, die aus dem Völkermordgezogen wurden. Am beeindruckendsten war der Besuchder Genozidhauptgedenkstätte in Gisozi bei Kigali, woich stellvertretend für die gesamte Delegation einenKranz am Grab von über 250 000 Opfern des Völker-mordes niederlegte. Die Ereignisse von 1990 bis 1994spielen aber bis heute in jedem gesellschaftlichen Be-reich, in jeder politischen Facette des Landes eine Rolle.Bei diesem Aufarbeitungsprozess hat Ruanda bewun-dernswerte Erfolge erzielt, ganz besonders, wenn manbedenkt, dass bis heute Gefahren aus dem benachbartenKongo drohen, wohin sich Teile der damaligen Hutu-Milizen zurückgezogen haben.Bei unserem Besuch hatten wir auch die Möglichkeit,ein Demobilisierungslager für ehemalige Kämpfer zubesuchen, eines der weltweit wenigen Beispiele für einerfolgreiches Demobilisierungsprogramm, finanziertdurch die Weltbank. Dort werden ehemalige Angehörigeder Rebellengruppe FDLR, der sogenannten Demokrati-schen Kräfte zur Befreiung Ruandas, demobilisiert undauf ihre Reintegration in das Zivilleben vorbereitet,ebenso wie Exkämpfer anderer Gruppen und ehemaligeKindersoldaten, insgesamt etwa 12 000 seit Dezember2001. Die Erfolgsquote liegt bisher bei insgesamt86 Prozent.Bei diesem und allen anderen Programmpunkten istunsere Delegation von hochrangigen Vertretern vonStaat und Gesellschaft sehr herzlich aufgenommen wor-den. Sie haben uns den Versöhnungsprozess vor demHintergrund der ruandischen Geschichte erläutert. Er-folge in diesem Prozess sind demnach keinesfalls Selbst-läufer gewesen. Im Gegenteil: Alle Beobachter hätten1994 eine fortgesetzte Spaltung und Instabilität desLandes vorhergesagt. Ruanda sei aber erfreulicherweiseder seltene Fall, in dem sich die Realität besser entwi-ckelt habe als die Prognose. Aufbauend auf einem politi-schen Konsens zwischen den Tutsi und den gemäßigtenHutu-Eliten habe man eine gewollte Politik des Aus-gleichs, der Versöhnung, der Inklusivität, der Machtteil-habe und der Gerechtigkeit durchgesetzt. Ziel sei einegemeinsame nationale Identität aller Ruander, bei der dieZugehörigkeit zur Gruppe der Hutu oder der Tutsi keineRolle mehr spielt. So weit die ruandische Selbstbetrach-tung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9859
Anita Schäfer
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Zugleich wurden die Beziehungen zu Deutschlandund die deutschen Bemühungen um eine Aufarbeitungder Vorgänge aus den 1990er-Jahren sehr gelobt. So hatSenatspräsident Bernard Makuza uns gegenüber vorallem den Wunsch nach einer Verstärkung des Austau-sches und der Zusammenarbeit unserer beiden Parla-mente geäußert. Als sehr junge Demokratie, deren Ver-fassung erst 2003 beschlossen wurde, wolle manausdrücklich von den deutschen Erfahrungen im Versöh-nungs- und Aufbauprozess nach Krieg und Wiederverei-nigung lernen. Besondere Anerkennung fanden auch dieBewertung der FDLR als terroristische Organisation unddas Vorgehen der deutschen Justiz gegen ihre Führungs-kader. So hatten die Verhaftung und das Gerichtsverfah-ren gegen die zwei FDLR-Anführer in Deutschland 2009erhebliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der Re-bellen, von denen sich anschließend viele ergaben.Als Rheinland-Pfälzerin hat mich zudem das großeLob für die langjährige Entwicklungszusammenarbeitmit dem Partnerland Rheinland-Pfalz auf deutscher Seitesehr gefreut. Ich denke, alle Delegationsmitglieder kön-nen bestätigen, dass von ruandischer Seite uns gegen-über keinerlei Kritik an der Politik Deutschlands, damalsoder heute, geäußert wurde. Wenn man den Antrag derOpposition liest, könnte man allerdings meinen, dasshier große Versäumnisse aufzuarbeiten wären. DieserBewertung kann ich mich nicht anschließen.Deutschland hat aus dem Völkermord in Ruanda undaus anderen Ereignissen der vergangenen beiden Jahr-zehnte Konsequenzen gezogen. Zusätzlich zu dem, wasder Kollege Heinrich vorhin schon erwähnt hat, geltenseit 2012 ressortübergreifende Leitlinien für eine kohä-rente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilenStaaten. Ein Austausch erfolgt nicht nur zwischen denzuständigen Ministerien, sondern auch mit Nichtregie-rungsorganisationen, etwa im Rahmen länderbezogenerrunder Tische. Auch in der Frage militärischer Einsätzezur Konfliktverhütung haben die Lehren aus den Gräuel-taten in Ruanda und anderswo Folgen für die deutschePolitik gehabt.Vor fast genau einem Jahr haben wir hier im Bundes-tag über die Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Übergangsmission in der Zentralafrikanischen Republikabgestimmt. Das Beispiel Ruanda, dessen Wiederholunges zu verhindern gelte, wurde damals von vielen Red-nern genannt. Auch ich habe damals darauf hingewiesen,dass uns die Gefahr eines neuen Genozids in Afrikanicht egal sein könne. Mancher hat trotzdem gegen einenMilitäreinsatz argumentiert, aber letztlich haben wir imBewusstsein der Geschichte mit übergroßer Mehrheitzugestimmt. Daneben hat es natürlich auch eine wissen-schaftliche Befassung mit der deutschen Ruanda-Politikder 1990er-Jahre gegeben, ohne dass die Wissenschaftdazu Vorgaben der Bundesregierung oder Anträge derOpposition gebraucht hätte.Bis heute drückt sich die enge Verbindung zwischenDeutschland und Ruanda in der bilateralen Beziehungund der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aus. Die Leh-ren, die es aus der Zeit des Völkermordes zu ziehen galt,sind in beiden Ländern gezogen worden und werden an-gewandt. Unser Blick muss nun nach vorne, auf die Ge-genwart und die Zukunft, gerichtet sein, um Ruanda wei-terhin auf seinem Weg zu Frieden, Versöhnung undStabilität zu unterstützen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Abschließender Redner in dieser Aus-
sprache ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herero, Nama, Damara und San 1904 bis 1908 imheutigen Namibia, Armenier ab 1915, Srebrenica 1995 –dies sind nur Beispiele einiger vergessener Völker-morde, ethnischer Säuberungen, Verbrechen gegen dieMenschlichkeit. Ich zitiere:Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an dieOpfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.Das sagte Elie Wiesel am Holocaust-Gedenktag vor15 Jahren hier vor dem Deutschen Bundestag.Ich danke den Fraktionen der Linken und der Grünenfür die Einbringung des heutigen Antrags zum Völker-mord in Ruanda und zur deutschen Politik.
Dieser Antrag lenkt den Fokus auf unsere eigene deut-sche Verantwortung. Er regt uns zur gewissenhaftenAufarbeitung an.Historikerinnen und Historiker sind sich darüber ei-nig: Der erste Völkermord des vergangenen Jahrhun-derts wurde an den Herero und Nama in Deutsch-Süd-westafrika verübt.
Von wem? Von der deutschen Kolonialmacht, von deut-schen Truppen. Ich meine, Deutschland hat eine beson-dere historische und moralische Verantwortung für Na-mibia. Sie wirkt bis heute nach. Deshalb müssen wir diedeutsche Schuld und Verantwortung klar bekennen.
Vor zwei Wochen haben wir gemeinsam in der Arme-nien-Frage zu Recht von der Türkei erwartet, dass sieden Völkermord anerkennt, damit eine Aufarbeitung vo-rankommen kann. Das sollten wir eindeutig auch für dieHerero und Nama tun.
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9860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Karamba Diaby
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Denn die Anerkennung ist ein Ausdruck des Respekts.Ich möchte daran erinnern, dass Willy Brandts Kniefallvor dem Ehrenmahl im ehemaligen Warschauer Ghettoein Akt der Demut und ein Symbol für die Bitte um Ver-gebung für die deutschen Verbrechen war. Noch heute istes unsere Aufgabe, Haltung einzunehmen und vor allemVerantwortung zu übernehmen.
Als Menschenrechts- und Bildungspolitiker ist mirunsere Erinnerungskultur besonders wichtig. Vor einigenMonaten – das wurde von Herrn Liebich schon angedeu-tet – haben wir gemeinsam mit unserem AußenministerFrank-Walter Steinmeier die Genozidgedenkstätte in Ki-gali besucht. Dort werden alle Völkermorde in einerAusstellung nebeneinander abgebildet. Das ist ein gutesBeispiel.
Leider ist die deutsche Kolonialgeschichte nicht imöffentlichen Bewusstsein. Die deutsche Rolle in der Ko-lonialzeit ist Teil unserer Geschichte und muss bewusstEingang in unsere Erinnerungskultur finden. Als deut-sche Einwanderungsgesellschaft wollen wir eine leben-dige und verantwortungsvolle Erinnerungskultur.Meine Damen und Herren, die Schule der Nation istbekanntlich die Schule. Unser deutsches Geschichtsbuchmuss auch die deutsche Rolle und die Auswirkungen derKolonialzeit erzählen. Und: Wir sprechen heute übervielfältige deutsche Identitäten. Unsere Klassenzimmersind bekanntlich vielfältig. Unsere Kinder müssen des-halb ihre eigene Geschichte in unserem deutschen Ge-schichtsbuch wiederfinden.
Das verstehe ich unter lebendiger Erinnerungskultur.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Sie haben recht:Wir müssen uns der deutschen Verantwortung stellen.Kein Völkermord darf im Erinnerungsschatten bleiben.Das sagte vor kurzem auch unser Bundespräsident.Ich danke Ihnen.
Damit schließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4811 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias auf Grund-
lage des Seerechtsübereinkommens der Ver-
einten Nationen von 1982 und der Reso-
lutionen 1814 vom 15. Mai 2008, 1816
vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom
7. Oktober 2008, 1846 vom 2. Dezem-
ber 2008, 1851 vom 16. Dezember
2008, 1897 vom 30. November 2009,
1950 vom 23. November 2010, 2020
vom 22. November 2011, 2077 (2012)
vom 21. November 2012, 2125 vom
18. November 2013, 2184 vom 12. No-
vember 2014 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung
mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ra-
tes der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss
2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. De-
zember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP
des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
2014
Drucksache 18/4769
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil ich
keinen Widerspruch sehe, ist auch das hiermit so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Niels Annen für die SPD das Wort.
Sehr herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute inerster Lesung die Verlängerung der EU-Anti-Piraterie-Operation Atalanta an der Küste Somalias und am Hornvon Afrika, an der sich Deutschland seit 2008 durchge-hend mit Schiffen und zeitweise auch mit Aufklärungs-flugzeugen beteiligt. Aktuell beteiligen sich 20 EU-Mit-gliedstaaten und zwei Drittstaaten an der Operation, dieauf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Natio-nen sowie – das ist bekannt – auf mehreren Resolutionen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9861
Niels Annen
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des UN-Sicherheitsrates fußt. Hauptaufgabe von Ata-lanta bleibt der Schutz der Seewege und vor allem desSeetransports der Schiffe des Welternährungsprogrammsund der Friedensmission der Afrikanischen Union sowiedie Bekämpfung von Piraterie und bewaffneter Seeräu-berei vor der Küste Somalias und am Golf von Aden.Das alles klingt einigermaßen abstrakt. Aber wennman sich einmal vergegenwärtigt, dass das Mandatsge-biet, das wir festgelegt haben, in etwa 24-mal die Flächeder Bundesrepublik Deutschland umfasst, bekommt maneine Ahnung von der Größe und der Komplexität derAufgabe, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort er-füllen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle rechtherzlich bedanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Somalia– das gehört zu einer solchen Debatte natürlich dazu; eswürde auch gar keinen Sinn ergeben, darum herumzure-den – hat sich nicht zu unserer Zufriedenheit entwickelt.Man kann auch sagen, dass sich die Sicherheitslage trotzdes internationalen Engagements, der fortgesetzten Be-teiligung auch deutscher Streitkräfte an der Überwa-chung im Rahmen der Operation Atalanta, aber auchtrotz der beträchtlichen Friedensmission der Afrikani-schen Union bisher nicht entscheidend verbessert hat.Ich muss Sie, glaube ich, nicht an die schrecklichen Bil-der von fortgesetzten Anschlägen in Somalia erinnern.Al-Schabab, die größte und stärkste Terrormiliz, ist wei-terhin in weiten Teilen des Landes aktiv. Sie ist zu Ope-rationen fähig und führt sie auch aus.Wir haben auch gesehen, dass es längst nicht mehrnur Somalia ist, sondern dass auch die NachbarländerOpfer dieses Terrors werden. Wir alle haben die Bildervon dem schrecklichen Angriff auf die Universität si-cherlich noch im Kopf.Die Rahmenbedingungen für die Bekämpfung desTerrors und die Stabilisierung von Somalia bleiben aus-gesprochen schwierig. Ich will einige Zahlen erwähnen:Im Jahre 2011 sind 250 000 Menschen in Somalia anHunger gestorben. Rund 1 Million Menschen benötigenaktuell humanitäre Hilfe, davon allein 350 000 in derHauptstadt. Hinzu kommen 1 Million Binnenvertriebeneund schätzungsweise 1 Million somalische Flüchtlingein den Nachbarländern.Meine Damen und Herren, für die Versorgung der so-malischen Bevölkerung mit Lebensmitteln bleibt dieOperation Atalanta zentral; denn die Versorgung erfolgtüberwiegend auf dem Seeweg. Deswegen muss man andieser Stelle darauf hinweisen: Seit Beginn der Opera-tion Atalanta sind alle Schiffe des Welternährungspro-gramms sicher nach Somalia eskortiert worden. Auchdie Transporte der EU-Mission AMISOM werden ge-schützt. Das ist bei aller Sorge über die Lage in Somalia,die wir, glaube ich, teilen, ein wichtiger Erfolg.
Auch in dem anderen Kernbereich der Mission sindErfolge zu verzeichnen. Im Jahre 2009 mussten wir noch117 Piratenangriffe und 46 Entführungen von Handels-schiffen registrieren. Die Zahl ist auf 4 versuchte An-griffe im Jahr 2014 gesunken. Entführungen konnten seit2012 komplett verhindert werden. Aktuell befindet sichkein Schiff mehr in der Hand somalischer Piraten. DieZurückdrängung der Piraterie ist nicht zuletzt auf daseffektive Zusammenspiel von Schiffseignern und mariti-mer Präsenz von Atalanta zurückzuführen.Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss unsklar sein: Natürlich kann sich die Lage wieder ändern,kann Piraterie am Horn von Afrika wieder aufflammen.Auch deswegen ist die weitere Präsenz unserer Schiffedort notwendig. Dass dies so ist, dass Piraterie auffla-ckern kann und dass es eine fragile Stabilität ist, die wirerreicht haben, hat nicht nur mit dem bewaffneten Terro-rismus, sondern auch mit den Rahmenbedingungen – mitArmut, mit Verzweiflung, mit der Destabilisierung derstaatlichen Strukturen, mit der Abwesenheit von Staat-lichkeit in Somalia – zu tun. Ohne eine langfristige Ver-besserung der Lebens- und Einkommensverhältnisse vorOrt wird Somalia auch weiterhin Rekrutierungsgebietund Basis für Terrorismus und Piraterie bleiben.Auch vor diesem Hintergrund, meine Kolleginnenund Kollegen, hat Deutschland allein zwischen 2008 und2013 313 Millionen Euro an Hilfsgeldern für Somaliazur Verfügung gestellt. Trotz dieser Hilfe wird man – daswissen wir, glaube ich, alle – nicht nur in den Gebieten,die jetzt von der al-Schabab befreit worden sind, sondernauch in den Nachbarstaaten, die unter der Last derFlüchtlinge leiden, mehr leisten müssen. Wir sind nichtso naiv, zu glauben, dass mit der Verlängerung der Ope-ration Atalanta das Problem gelöst wäre. Aber ohne dieOperation Atalanta würden uns die Rahmenbedingungenfehlen. Deswegen glaube ich, auch mit Blick auf dieKrise in der gesamten Region – Stichwort „Jemen“; auchdas muss man in der Debatte erwähnen – sagen zu kön-nen: Wir leisten einen Beitrag – nur einen, aber einen un-verzichtbaren – zur Stabilisierung dieser Region, zurVersorgung der Menschen, die auf unsere Hilfe angewie-sen sind. Deswegen bitte ich um Zustimmung.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Kollege Dr. Alexander Neu spricht jetzt für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter HerrPräsident! Ja, die Operation Atalanta läuft seit 2008, alsoseit sieben Jahren. Ja, die Zahl der Piratenüberfälle gehtseit einigen Jahren gegen null. Das ist richtig. Die Ursa-che aber, die sozioökonomische Not, ist bis heute nichtwirklich effektiv bekämpft worden.Würde man heute die Operation Atalanta einstellen,dann gäbe es morgen wieder Piraterie. Wie viele Jahre– vielleicht Jahrzehnte – soll die Operation Atalantadenn weiterlaufen? Darauf haben Sie keine Antwort. Eslaufen ja sogar drei Missionen: Atalanta, EUCAP
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9862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Alexander S. Neu
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NESTOR und EUTM Somalia. Alle drei Missionen ha-ben den gleichen Grundcharakter: Sie sind militärischausgeprägt und wollen einen staatlichen Repressionsap-parat aufbauen. Wollen! Geschafft haben sie das nochlange nicht.Erst seit 2013 gibt es ein UN-Projekt für den zivilenAufbau, nämlich „Peace and Statebuilding Goal“, umden Staatszerfall in irgendeiner Art und Weise anzuge-hen. Allerdings ist dieses Projekt noch ausbaufähig, undein Ausbau ist auch nötig.Auffällig ist in diesem Fall, aber auch generell dasmassive Ungleichgewicht zwischen zivilen Projektenund militärischen Abenteuern – immer wieder zugunstender militärischen Abenteuer. Genau das ist der Hakenwestlicher Sicherheitskonzeptionen: das Primat des Mi-litärischen plus Parteinahme zugunsten einer Konflikt-partei, einer Konfliktpartei, die den Interessen des Wes-tens am besten dient.Der Nahostexperte Michael Lüders hat in seinem neu-esten Buch mit dem Titel Wer den Wind sät vor kurzemdie Frage gestellt, was westliche Politik im Orient an-richtet. Dort fragt Lüders – ich zitiere –:Gibt es eine einzige Intervention des Westens, dienicht Chaos, die nicht Diktatur und neue Gewalt zurFolge gehabt hätte?
Lüders nennt Afghanistan, er nennt Irak, er nennt Soma-lia, er nennt Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien. Ich glaube,man könnte diese Liste noch etwas verlängern.In der Tat: Keines der genannten Länder ist stabilergeworden. Im Gegenteil: Manche sind auch in die Stein-zeit zurückgebombt worden. Das gilt nicht nur für diestaatliche Infrastruktur; sondern auch für das Aufkom-men einer Steinzeitideologie, des Islamismus. Der IS istein Produkt auch westlicher Interventionen.
Lüders schreibt weiter – ich zitiere ihn –:Die westliche Politik glaubt an das Allheilmittel di-rekter oder indirekter militärischer Intervention –ohne Rücksicht auf Verluste. Westliche Politik ver-kündet Demokratie, verbündet Freiheit und Men-schenrechte, akzeptiert aber Wahlergebnisse nur,wenn der Gewinner genehm ist.Ich glaube, das sagt eine ganze Menge über die westli-che Politik gegenüber der südlichen Hemisphäre aus.Die wachsenden Flüchtlingszahlen und die wach-sende Zahl von Toten im Mittelmeer sind der traurigeBeweis für das Versagen der westlichen Sicherheitspoli-tik,
ein Versagen, dem Hunderttausende, mittlerweile sogarMillionen Menschen zum Opfer gefallen sind – und dassind keine Europäer.
Der Glaube an das Militärische plus Doppelstandardsin der Politik führen zur Verelendung und zum Tod inder dortigen Region. Und der Glaube an das Militärischeplus Doppelstandards in der Politik erhöhen auch dieGefahr für die innere Sicherheit in Deutschland und inEuropa.
Die deutsche Beteiligung am US-Drohnenterror viaRamstein gegenüber Nordafrika und dem Nahen undMittleren Osten stellt eine wachsende Gefahr für die in-nere Sicherheit dar. Die Bundesregierung schließt bisheute die Augen. Ja, sie leugnet sogar die Bedeutung derRamstein Air Base der USA für den US-Drohnenterror.Nur: Wer mitmacht – und sei es nur die Duldung –,macht sich auch mitschuldig.
Die Bundesregierung macht sich mitschuldig – poli-tisch, rechtlich und auch moralisch. Daher fordern wir:Beenden Sie den Missbrauch des deutschen Territoriumsfür den US-Drohnenterror! Schluss mit der Kumpaneimit den USA! Schluss damit! Beenden Sie es!
Im Übrigen ist der mit deutscher Unterstützung ge-führte Drohnenterror auch in Somalia aktiv. Der US-Drohnenterror torpediert den zarten Ansatz eines zivilenAufbaus.Ich fasse zusammen:
Das westliche Sicherheitskonzept ist ein Konzept fürwachsende Unsicherheit und Chaos – global, aber auchfür den Westen. Atalanta ist ein Bestandteil dieses Unsi-cherheitskonzeptes. Würde heute Atalanta beendet,würde morgen die Piraterie wieder beginnen. Wie vieleJahre und Jahrzehnte wollen Sie diese Operation aufKosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – alleinim kommenden Jahr werden 61 Millionen Euro dafürbereitgestellt; diese 61 Millionen Euro, die Sie zahlenund für solche Abenteuer ausgeben, fehlen woanders –und auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten weiterlau-fen lassen?Ich danke Ihnen.
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-sche Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich denke, es macht Sinn, nach die-sem letzten irrlichternden Vortrag zur Sache zurückzu-kommen. Zur Sache ist zu sagen: Vor fünf Jahren lagenvor der somalischen Küste 47 Schiffe, entführt und fest-gehalten von somalischen Piraten. Mehr als 600 Seeleutebefanden sich – diese hätten Ihren Vortrag hören sollen,Herr Kollege Neu – in Geiselhaft auf diesen Schiffenoder an Land und haben Wochen, nicht selten Monateunter menschenunwürdigsten Verhältnissen auf ihreFreilassung gewartet. Heute befindet sich kein Schiffmehr in der Hand von Piraten. In den Jahren 2014 und2015 gab es bis zum heutigen Tag insgesamt vier ver-suchte Piratenüberfälle. Kein einziger war erfolgreich.Damit wurde der niedrigste Stand seit Beginn der Opera-tion Atalanta erreicht. Was, wenn nicht dies, ist denndann eine Erfolgsgeschichte eines friedenschaffendenEinsatzes der Europäischen Union und der Bundeswehr?
Seit Beginn dieser Operation wurden insgesamt179 Schiffe des Welternährungsprogramms und 121 Schiffeder internationalen Mission der Afrikanischen Union inSomalia ohne Zwischenfälle durch Einheiten von Ata-lanta nach Mogadischu begleitet. Auf 121 Schiffen desWelternährungsprogramms wurde bei ihrer Passage einSicherungsteam von Atalanta an Bord eingeschifft. DieOperation ist ein Erfolg und nicht die einzige, wohl aberdie bei weitem sichtbarste Mission im Rahmen der Ge-meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik derEuropäischen Union.Der vor der Küste von Somalia liegende Golf vonAden ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, derArabischen Halbinsel und Asien. Diesen Seeverbin-dungsweg sicher und offen zu halten, bleibt unveränderteine wichtige Aufgabe internationaler Sicherheitspolitikund liegt in unmittelbarem deutschen Interesse wie auchim Interesse aller über See Handel treibenden Nationen.Die Marinen der EU-Staaten und der NATO-Staaten ko-ordinieren gemeinsam mit den Marinen vieler andererLänder, auch denen Chinas, Russlands, Indiens, Neusee-lands oder Südkoreas, ihre Präsenz, um die Passagedurch dieses Seegebiet sicherer zu machen. Allein an derEU-Mission Atalanta haben sich nicht nur EU-Staatenbeteiligt, sondern unter anderem auch Norwegen, Mon-tenegro, Serbien, Neuseeland und die Ukraine mit eige-nen Beiträgen. Mit der geplanten Beteiligung Kolum-biens würde erstmals ein Partner aus Lateinamerika anAtalanta teilnehmen.Die immer noch schwach ausgeprägten staatlichenStrukturen in Somalia sind bislang nicht in der Lage, dieKontrolle über das Staatsgebiet, das angrenzende Küs-tenmeer und ebenso über den Golf von Aden effektivauszuüben. Der Kollege Annen hat, wie ich finde, aufsehr anschauliche Weise die Probleme geschildert. Dashat ja nichts mit „Repressionsapparat“ zu tun, was wireben gehört haben. Es geht darum, elementarste Grund-formen von Staatlichkeit zu etablieren und daran zu ar-beiten, dass sich Menschen ihres Lebens und ihres Ei-gentums sicher fühlen und langsam einen zivilenWiederaufbau in diesem Land starten können. Repres-sion wird nicht von den schwachen staatlichen Struktu-ren ausgeübt; Repression wird von kriminellen Banden,wird von Piraten, wird von Mördern ausgeübt, die ver-suchen, die rechtschaffene Mehrheit der Menschen indiesem Land zu terrorisieren. Das sind diejenigen, dieRepression ausüben, und nicht die internationale Ge-meinschaft.
Die zuletzt zum Glück niedrige Zahl versuchter Über-griffe auf Handelsschiffe darf in der Tat nicht darüberhinwegtäuschen, dass die für Überfälle auf See in derVergangenheit verantwortlichen kriminellen Netzwerkean Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die Si-cherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zubedrohen. Wenn man an diese Sache intellektuell redlichherangehen will, dann darf man Ursache und Wirkungnicht verwechseln. Wir Europäer sind nicht an jedemProblem schuld, das irgendwo auf der Welt besteht. Wirtragen in vielen Fällen zur Lösung bei und sind nicht dieUrsache der Probleme.
Solange der Rückgang der Piraterie nicht unumkehrbarist – genau darauf weisen wir ja hin – und die Erfolgeauf See noch nicht durch handlungsfähige staatlicheStrukturen an Land gesichert werden können, bleibt diePräsenz internationaler Seestreitkräfte nach übereinstim-mender Bewertung der EU und des VN-Sicherheitsratsweiterhin erforderlich.Vor diesem Hintergrund hält die EU an ihrem Enga-gement zur Bekämpfung der Piraterie am Horn vonAfrika weiterhin fest und hat ihr Mandat der OperationAtalanta bis Dezember 2016 verlängert.Obwohl der Schwerpunkt von Atalanta weiterhin derSchutz der Schiffe des Welternährungsprogramms, derAU-Mission AMISOM auf See sowie die Pirateriebe-kämpfung bleibt, erwähnt das Mandat auch ausdrücklichdie Unterstützung für andere EU-Instrumente am Hornvon Afrika als weitere Aufgabe im Rahmen freier Kapa-zitäten. Gerade darin kommt die Einbindung Atalantasin den umfassenden Ansatz der EU am Horn von Afrikasichtbar zum Ausdruck.Für die nachhaltige Stabilisierung und EntwicklungSomalias wird es aber in erster Linie auf die Instrumenteder zivilen Konfliktnachsorge und der Entwicklungszu-sammenarbeit ankommen. Genau darin ist Atalanta ein-gebunden.Unsere Beteiligung an der Operation soll bis zum31. Mai 2016 mit einer Reduzierung der personellenObergrenze von 1 200 auf 950 Soldatinnen und Soldatenfortgesetzt werden. Mit dieser Reduzierung tragen wirden erreichten Erfolgen Rechnung, genauso wie der wei-terhin vorhandenen Notwendigkeit, die Piraterie einzu-dämmen. Diese Reduzierung ist von daher auch aus mi-litärischer Sicht folgerichtig.
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9864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Das vorliegende Mandat bleibt im Wesenskern beidem, was wir mit unseren Partnern schon für das letzteMandat der EU vereinbart und in unser Mandat einge-bracht haben. Wir wollen im Einklang mit unserenPartnern die Präsenz auf See aufrechterhalten, um denaugenblicklich anhaltenden Abschreckungseffekt zu ver-stetigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind da-bei nicht auf der Seite irgendeiner Partei dort, sondern esgibt dort autorisierte staatliche Strukturen, die es zu stär-ken gilt. Es gibt einen Partner in der Regierung, der aufuns Hoffnung setzt, der auf Kooperation mit den Nach-barn, auf Kooperation mit der internationalen Gemein-schaft setzt. Das ist nicht irgendein Partner, den wir un-terstützen. Er ist für stetige staatliche Strukturen. Wirunterstützen ihn deswegen, weil wir letztlich bei unserenEinsätzen auf der Seite der Opfer und der Seite derWehrlosen stehen, die geschützt werden müssen vor denÜbergriffen von Mördern, von gewissenlosen Verbre-chern, die die Menschen als Geiseln nehmen wollen, dienicht nur im politischen, nicht nur im übertragenenSinne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Men-schen zu Geiseln machen wollen. Das dürfen wir in kei-ner Weise akzeptieren. Deswegen sind wir dort. So soll-ten wir es in Zukunft weiter halten. Dafür bittet dieBundesregierung um Ihre Unterstützung.Danke.
Die Aussprache wird jetzt fortgeführt durch den Kol-
legen Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrStaatssekretär, Sie haben völlig recht: Nicht die Euro-päer sind an allem schuld, was auf der Welt passiert.Aber wenn europäische Trawler die Küstengewässerauch vor Somalia leerfischen und damit den Fischern dasÜberleben erschweren, dann hat das selbstverständlichetwas mit unserer Verantwortung zu tun. Das sollten wirauch sagen.
Natürlich sind die Raubfischerei und das Leerfischen derMeere in diesen Regionen der Welt ein Riesenproblemund eine Ursache für die Verelendung der Menschen.Deswegen muss man zugeben, dass Atalanta eine Sym-ptombekämpfung ist, aber eine notwendige und, wie ichfinde, auch eine erfolgreiche.Es ist völlig zu Recht gesagt worden, dass es seitlängerem schon Gott sei Dank keine erfolgreichen Pira-tenangriffe mehr gegeben hat. Das erspart unglaublichvielen Seeleuten Leid. Es ist notwendig, dass die inter-nationalen Seewege frei sind. Für uns und meine Frak-tion ist es das Wichtigste, dass gerade in einem so armenLand, in dem sich eine so unglaublich große humanitäreKatastrophe abspielt, die humanitäre Hilfe weiter unge-stört durchgeführt werden kann.
Herr Kollege Dr. Neu, bei der Ursachenanalyse sindwir uns einig. Ich habe meinen Marx auch gelesen.
Aber Sie müssen erst einmal erklären, wie Sie die200 000 mangelernährten Kinder in diesem Land versor-gen wollen. Erst dann können Sie sich um die Produk-tionsmittel weltweit kümmern.
Es gibt bei Atalanta auch Fortschritte. Es gibt Verän-derungen im Mandat. Es gibt eine Absenkung der Man-datsobergrenze. Es ist richtig, dass bei Raubfischereiendlich Daten gesammelt werden, mit denen man arbei-ten kann, sodass man eine Grundlage hat. Das alles ist zubegrüßen.Wir haben uns vor zwei Jahren und auch im letztenJahr enthalten, weil eine Landkomponente hinzugekom-men ist, die aus unserer Sicht eine immense Eskalations-gefahr birgt. Auch wenn diese Komponente im letztenJahr nicht zum Einsatz gekommen ist, wissen wir, dasssie eingesetzt werden kann. Das hat Potenziale für einemilitärische Eskalation der Situation. 2013 fanden dieSozialdemokraten, dass wir damit recht haben. Wirenthielten uns, Sie haben abgelehnt. 2014 haben Sie ge-sagt: Ja, die Grünen haben recht; deshalb werden wir imnächsten Jahr dafür sorgen, dass die Landkomponenteaus dem Mandat gestrichen wird. – Sie ist nicht heraus-gestrichen worden. Ich bin gespannt, wie Sie abstimmenwerden. Wir werden uns weiterhin enthalten. Es ist ein-fach fragwürdig, wenn eine Option in das Mandat hin-eingeschrieben wird, aber nicht gesagt werden kann,warum, und wenn vor allen Dingen potenzielle Eskala-tionsmechanismen nicht ausgeklammert werden.In Somalia gibt es selbstverständlich auch Erfolge:Al-Schabab ist ein Stück weit zurückgedrängt worden.Es gibt aber auch sehr verheerende Rückschläge: Immerwieder gab es Anschläge auf internationale Einrichtun-gen. Wir wissen, dass die Vereinten Nationen vor garnicht allzu langer Zeit einige Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter verloren haben. Wir sind mit unseren Gedankenbei den Familien dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterund gedenken der Verstorbenen. Wir haben in diesen De-batten ein, wie ich finde, berechtigtes Ritual: dass wirimmer den deutschen Soldatinnen und Soldaten für ihrenDienst danken. Weil wir sie entsenden, finde ich dasrichtig. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, geradeweil die Zeiten so schwierig sind und Somalia nicht daseinzige Land ist, in dem das passiert ist, um darauf hin-zuweisen, dass wir sehr dankbar sind für die unglaublichaufopferungsvolle Arbeit, die die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter der Vereinten Nationen in Ländern wie So-malia leisten. Das ist eine unglaublich große Leistung.Wir sind diesen Menschen zu Dank verpflichtet.
Wenn man Somalia stabilisieren will – bis dahin ist esnoch ein ganz weiter Weg –, muss man fragen, welche
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9865
Omid Nouripour
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Prioritäten man setzt. Die Priorität der Bundesregierungliegt zurzeit darin, dass sie sagt: 2016 wird gewählt. –Das kann man machen. Aber man muss auch wissen,dass von den für die humanitäre Hilfe in Somalia not-wendigen Mitteln – das haben die UN berechnet – ge-rade einmal 11 Prozent zusammengekommen sind. Dasbeißt sich, und es ist angesichts dessen relativ wohlfeil,zu sagen: Nächstes Jahr müsst ihr gefälligst wählen, undwir werden schauen, ob wir bis dahin die notwendigenMittel für die humanitäre Hilfe zusammenbekommenoder nicht. – Ich finde, es ist Aufgabe der Bundesregie-rung, einen Beitrag dazu zu leisten und bei den interna-tionalen Partnern zu trommeln, damit die Gelder endlichzusammenkommen, damit dieses Land eine Chance hat,auf die Beine zu kommen.Zu Libyen fällt mir ein: Atalanta gilt ja als Modell fürLibyen, als Beispiel, wie man in Libyen mit den Schleu-serbooten umgehen könnte. Ich glaube, dass das inmehrfacher Hinsicht falsch ist. Zum einen wäre esfalsch, weil die Flüchtlingsfrage nicht dadurch beant-wortet werden kann, dass man Schleuserboote versenkt.Wir brauchen keine militärische Antwort, sondern politi-sche Antworten. Ein solches Vorgehen wäre zum ande-ren auch deswegen falsch, weil niemand erklären kann,wie das militärisch funktionieren soll: Wie will mandenn beurteilen, welches Boot ein Fischerboot ist, wel-ches Boot ein Schleuserboot ist und welches Boot tags-über ein Fischerboot und abends ein Schleuserboot ist?Vor allem aber wäre das vor dem Hintergrund dessen– so haben Sie es ja beschrieben –, was Atalanta bishergeleistet hat, nicht das richtige Signal.Ich möchte noch einen letzten Punkt bezüglich Soma-lia erwähnen. In den letzten Wochen sind – das wäre voreinem Jahr undenkbar gewesen – 5 000 Menschen nachSomalia geflüchtet. Somalia ist ein fürchterlich armesLand mit chaotischen Verhältnissen; aber die Menschenflüchten trotzdem aus dem Jemen nach Somalia, um zuüberleben. Da kann man sich vorstellen, wie die Situa-tion im Jemen sein muss. An dieser Stelle möchte ichFolgendes hinzufügen, wenn ich darf, Herr Präsident:Die Bundesregierung sollte diese ohrenbetäubende Stilleendlich beenden und ihre Stimme erheben. Wenigstenssollte sie die Forderung des UN-Generalsekretärs nacheinem sofortigen Waffenstillstand im Jemen und einemStopp der Bombardements, mit denen das Land geradein die Steinzeit zurückgebombt wird, unterstützen.
Auf diese Art und Weise hilft man dem Jemen nicht. Aufdiese Art und Weise stabilisiert man die Region nicht.Erst recht hilft man auf diese Art und Weise nicht Soma-lia.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Philipp Mißfelder spricht jetzt für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte KolleginRoth, ich habe am Dienstag mit Herrn Nouripour an ei-ner Besprechung teilgenommen. Alle dort waren sich ei-nig: Es gibt auf internationaler Ebene natürlich großeZweifel am Erfolg der saudischen Operation im Jemen,gar keine Frage. Aber wenn man so tut, als wäre das,was Saudi-Arabien gerade im Jemen macht, ganz falsch,dann möchte ich das zumindest richtigstellen.
– Jetzt warten Sie doch erst einmal ab, was ich zu sagenhabe, Herr Kollege Nouripour, bevor Sie anfangen, hierherumzukrakeelen. Ich antworte erst. Dann können Sieimmer noch etwas sagen.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Alternative war dochnicht, nichts zu tun. Die Frage beim Jemen war, ob mandas vollständige Abgleiten dieses Landes in den islamis-tischen Terrorismus zulässt oder nicht. Das ist keineMission, die wir in irgendeiner Form unterstützen oderwo wir operationell tätig sind. Vielmehr hat sich Saudi-Arabien entschlossen, dort, vor seiner Haustür, tätig zuwerden. Das ist der Hintergrund dieser Diskussion. Daswar die Alternative. Die Alternative war nicht, dassDeutschland in Saudi-Arabien anruft und sagt: Bitte,lasst das mal. – Die Entscheidung war schon getroffenworden, es zu tun.Sie wissen selber genauso gut wie ich, wie der außen-politische Kontext dieser Entscheidung war, gar keineFrage. Dass das mit Atalanta gar nichts zu tun hat, liegtdoch auch auf der Hand.
– Das hat nichts damit zu tun, überhaupt nichts!
Im Übrigen hat von uns hier nie jemand den An-spruch erhoben, mit Atalanta die Probleme Afrikas zulösen; Staatssekretär Brauksiepe hat das dankenswerter-weise gesagt. Das machen wir auch nicht mit militäri-schen Maßnahmen. Das Gegenteil hat auch nie jemandvon uns behauptet. Es ging bei Atalanta – deshalb findeich es ziemlich wohlfeil, Atalanta in einen Zusammen-hang mit den Problemen Afrikas insgesamt zu stellen –
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9866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Philipp Mißfelder
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darum, die Handelswege und damit auch die vitalen In-teressen Deutschlands als Exportnation zu sichern.
Das wird mit Atalanta sehr erfolgreich getan. Deshalbsetzen wir dieses Mandat auch fort und werben für dieVerlängerung.
Dass wir uns mehr um Afrika kümmern müssen, dasswir die Probleme im Zusammenhang mit Krieg, Vertrei-bung und Flüchtlingswellen besser in den Griff bekom-men müssen, liegt auf der Hand. Dass man da viel zulange weggeschaut hat, ist doch auch klar. Es war aberauch in der rot-grünen Zeit so – das möchte ich hier ein-mal erwähnen –, dass man Deals mit nordafrikanischenRegierungen abgeschlossen hat. Das geschah in der ge-samten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,aber insbesondere während der rot-grünen Regierung:Otto Schily ist zu Gaddafi gefahren und hat – auch mitZustimmung der Grünen – Deals mit ihm gemacht, umdas Problem einfach abzuschotten und das Thema zuignorieren. Jetzt, wo Gaddafi weg ist, kommen das Pro-blem und die Schwemme zu uns.
Das ist der tiefere Grund dafür, warum wir in der Ver-gangenheit damit nicht so häufig befasst waren. Deshalbmüssen wir uns natürlich stärker um das Problem küm-mern.Niemand von uns hat gesagt, dass man es militärischlösen kann, sondern wir sind der festen Überzeugung,dass das nur über bessere Entwicklungskooperation bzw.wirtschaftliche Entwicklung geht. Das wurde hier klargesagt. Dafür war die Bundeskanzlerin beim Sondergip-fel der Europäischen Union. Wir sind dafür tätig. Es gibtda kein dröhnendes Schweigen, sondern da ist ganz vielAktivität: seitens unseres Bundesaußenministers, seitensGerd Müllers, unseres Entwicklungsministers, sowie auchvonseiten der Spitzenposition, also Angela Merkels. Ichfinde, dass das auch richtig ist. Wir sollten die Regierungdabei unterstützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta ist eine er-folgreiche Mission. Wir haben oft die Schwierigkeit,dass viele Menschen in Deutschland – aus meiner Sichtsicher zu Recht – kritische Fragen stellen, die wir alsParlament hier auch diskutieren; denn viele Menschen inDeutschland sind grundsätzlich gegenüber Auslandsein-sätzen der Bundeswehr sehr kritisch. Viele fragen: Wa-rum soll Deutschland eigentlich eine so aktive Rollespielen?Wir wollen nicht, dass Auslandseinsätze der Bundes-wehr ein reines Elitenprojekt sind, bei denen der Bun-destag, abgekoppelt von der Stimmungslage in der Be-völkerung, über die Köpfe der Menschen hinwegentscheidet. Atalanta ist deshalb ein so gutes Beispiel,weil die Menschen dieses Mandat unterstützen, weil esin der Bundeswehr anerkannt ist, weil Aufwand undNutzen in einem klaren Verhältnis zueinander stehen,weil man es gut begründen kann und weil wir in der Ver-gangenheit enorme Erfolge – nämlich das Zurückdrän-gen der Piraterie – erzielt haben. Das ist ein erfolgrei-ches Mandat. Deshalb werben wir für die Fortsetzung.Herzlichen Dank.
Die Debatte wird durch den Kollegen Dirk Vöpel von
der SPD fortgesetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Beitrag der deutschen Marine zur EU-ge-führten Operation NAVFOR bzw. Atalanta gehört neben„Resolute Support“ und KFOR zu den großen Auslands-einsätzen der Bundeswehr. Das gilt für die Iststärke vonknapp über 300 Soldatinnen und Soldaten. Es gilt trotzReduzierung weiterhin für die Mandatsobergrenze, diekünftig immer noch bei 950 Bundeswehrangehörigenliegen wird. Und das gilt auch für die Kosten: 61,1 Mil-lionen Euro für ein weiteres Jahr Anti-Piraterie-Einsatzam Horn von Afrika. Das ist viel Geld. Aber es ist gutangelegtes Geld, weil diese Mission außerordentlich er-folgreich ist und einen hohen sicherheitspolitischen Er-trag liefert.Im Unterschied zu manch anderem Auslandseinsatzlässt sich der Grad der Zielerfüllung bei dieser Operationsehr leicht ermitteln. Noch vor wenigen Jahren galtendie Gewässer vor den somalischen Küsten als die gefähr-lichsten der Welt. Angriffe von quasi soldatisch gedrill-ten und sehr professionell organisierten Piratenbandenauf die Zivilschifffahrt waren an der Tagesordnung.Diese Piraten hatten es dabei nicht nur auf die Schiffeund ihre Fracht abgesehen, sondern sie entführten häufigauch Besatzungsmitglieder, um Lösegelder zu erpressen.Die Situation eskalierte schließlich so weit, dass selbstdie über die See transportierten Hilfslieferungen vonUNO und Afrikanischer Union nach Somalia akut ge-fährdet waren.Heute können wir feststellen: Multinationale Opera-tionen wie Atalanta und die NATO-Mission „OceanShield“ haben im Zusammenwirken mit den Seestreit-kräften vieler anderer Nationen dafür gesorgt, dass diePiraterie rund um das Horn von Afrika drastisch zurück-gegangen ist. Nach Angaben des Maritimen Büros derInternationalen Handelskammer, die seit 1992 ein rundum die Uhr besetztes Meldezentrum für Piraterie unter-hält, ist die Zahl der registrierten Angriffsversuche von
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9867
Dirk Vöpel
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237 im Jahr 2011 auf weniger als 10 im Jahr 2014 gesun-ken. Seit 2012 konnten die Piraten kein einziges Schiffdauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. Der Hauptauftragder Mission, der Schutz der Schiffe des Welternährungs-programms der Vereinten Nationen, konnte bisher zu100 Prozent erfüllt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser unbe-streitbaren Erfolge: Entwarnung kann nicht gegebenwerden. Es wäre reichlich verfrüht, wenn nicht gar naiv,anzunehmen, das Geschäftsmodell der somalischen Pira-tennetzwerke sei bereits endgültig zerstört. Die Piratensind nicht weg, sie warten ab. Sie spekulieren darauf,dass die Intensität der Seeraumüberwachung und derFahndungsdruck durch die internationale Gemeinschaftin absehbarer Zeit nachlassen. Mit anderen Worten: DieSituation ist unter Kontrolle, aber sie ist keineswegs un-umkehrbar. Die Kluft zwischen der himmelschreiendenArmut an Land und dem Waren- und Rohstoffreichtum,der Tag für Tag an der Küste vorbeischwimmt, ist ein-fach zu groß.Selbstverständlich dürfen wir die erfolgreiche Be-kämpfung eines Symptoms nicht mit einer gelungenenTherapie der Ursachen verwechseln. Eine wirklich nach-haltige Lösung des Problems kann nicht mit militäri-schen Mitteln und auch nicht auf See erreicht werden.Das geht nur mit einer tiefgreifenden Verbesserung derhumanitären Lage und der Lebensbedingungen der Men-schen an Land.Das wussten übrigens schon die alten Römer. Bei derBekämpfung der großen Seeräuberplage im Mittelmeerim Jahre 67 vor Christus setzte der römische FeldherrPompeius zwar eine große Flotte ein und ließ auch ei-nige Piratenführer ans Kreuz schlagen. Die viel wirksa-mere Maßnahme bestand aber in der Ansiedlung von120 000 Seeräubern auf fruchtbaren Böden entlang derSüdküste der heutigen Türkei – auf dass sie ein besseresLeben hätten, wie ein römischer Historiker schreibt.Man kann das durchaus als antike Variante eines umfas-senden Ansatzes betrachten.Die Operation Atalanta ist Teil des umfassenden An-satzes der EU. In diesem Sinne werden wir den Antragder Bundesregierung auf Verlängerung des Mandats inden Ausschüssen beraten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Vöpel. – Abschließender
Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Florian
Hahn für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Operation Atalanta ist eine Erfolgsge-schichte; das kann man gar nicht oft genug sagen. DieZahlen sind eindrücklich. Während wir in der Hoch-phase der Piraterie, 2011, insgesamt 251 Piratenangriffehatten und allein 30 Schiffe und 900 Menschen in derGewalt der Piraten waren, gab es 2014 keinen einzigenerfolgreichen Piratenangriff mehr. Kein Besatzungsmit-glied der verschiedenen Handelsschiffe war der Folter,den Quälereien der Piraten mehr ausgesetzt. Im Gegen-teil: Alle Schiffe des Welternährungsprogramms habenihre Bestimmungshäfen erreichen können.Atalanta trägt aber nicht nur zur Eindämmung derPiraterie bei, sondern es stabilisiert eben auch ein krisen-geschütteltes Somalia. Atalanta ist ein Leuchtturm, umzu veranschaulichen, wie europäische und internationaleZusammenarbeit funktionieren kann und wie wir in ei-nem umfassenden vernetzten Ansatz eine fragile Regionunterstützen können.Erfolge wie bei Atalanta sind keine Selbstverständ-lichkeit. Umso wichtiger ist es, dass wir diese erfolgrei-che Mission nun nachhaltig fortsetzen. Ein vorzeitigesEnde, wie von den Linken gefordert, wäre fatal. Die kri-minellen Strukturen an Land sind bei weitem noch nichtzerstört. Wenn wir jetzt gehen, werden die Piraten mühe-los alte Muster wieder aufnehmen, die Zahl der Über-fälle wird rapide steigen, und wir stehen wieder am An-fang unseres Engagements. Erst dann, wenn die Piraterieüber einen längeren Zeitraum verschwunden ist, dasheißt, wenn die organisierte Kriminalität darin kein at-traktives Geschäftsmodell mehr sieht, kann sich die Re-gion um das Horn von Afrika entwickeln.Wir wissen, was es bedeuten kann, militärisches, hu-manitäres Engagement zu früh zu beenden und ein insta-biles Land sich selbst zu überlassen. Wir sollten diesenFehler in Somalia nicht machen.
Auch die Handelsschifffahrer fordern, obwohl sie mitt-lerweile bewaffnete Sicherheitsteams an Bord haben,eine Verlängerung der Mission. Ich kann nur sagen: Beieinem derart großen Seegebiet von 3,7 Millionen Qua-dratkilometern ist der zusätzliche Schutz durch Atalantaunerlässlich.Aufgrund der Erfolge bei der Reduzierung von Pira-tenübergriffen ist jedoch eine erneute Reduzierung derPersonalobergrenze auf 950 Soldatinnen und Soldatenmöglich. Für den kommenden Zeitraum wird allein dieFregatte „Bayern“ den deutschen Beitrag übernehmen.Als Redner der CSU und bayerischer Abgeordnetermöchte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einenbesonderen Gruß an die Fregatte „Bayern“ zu senden.Wie Sie wissen, hat der Freistaat Bayern seit der Schiffs-taufe 1994 die Patenschaft für die „Bayern“ übernom-men, die uns daher in ganz besonderer Weise am Herzenliegt.
Die „Bayern“ ist im Rahmen des Einsatzes zurzeitdem Kommando eines schwedischen Konteradmirals
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9868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Florian Hahn
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unterstellt, der den Verband vom niederländischen Füh-rungsschiff „Johan de Witt“ leitet.
Zum Verband gehören sechs Schiffe aus Frankreich, Ita-lien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland.
– Und Bayern, ganz genau.
Die Operation Atalanta zeigt somit auf eindrucksvolleWeise, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit der wich-tigsten Handelsnationen der Erde möglich ist. DerSchutz freier Seewege ist gerade für die etablierten wieauch für die aufstrebenden Wirtschaftsnationen in Eu-ropa, Asien und Amerika essenziell. Das liegt in unse-rem ureigenen Interesse.Die Operation Atalanta ist nicht nur ein gutes Beispielfür den Erfolg eines nationenübergreifenden Einsatzes,sondern auch für einen ressortumfassenden Ansatz. Un-ser Engagement am Horn von Afrika, ja für den ganzenKontinent Afrika, kann nur erfolgreich sein, wenn unsergesamtes außenpolitisches Instrumentarium abgestimmtzum Einsatz kommt.In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren eu-ropäischen Partnern einig. Mit ihrem umfassenden An-satz für Somalia verfolgt die Europäische Union eben-falls die Idee des integrierten Handelns. Dabei steht dieFörderung afrikanischer Fähigkeiten und Verantwor-tungsübernahme im Mittelpunkt. Das militärische En-gagement dient als Rückversicherung zur See, die es derEU ermöglicht, verschiedene Instrumente komplementärzum Einsatz zu bringen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es darf ebennicht sein, dass die Menschen in Somalia immer nur se-hen, wie der Wohlstand der Welt an ihnen vorbeifährtund das eigene Land in Armut und Hoffnungslosigkeitversinkt. Kriminalität und Piraterie können nur mit ver-einten und umfassenden Kräften bekämpft werden. Wirsollten dazu weiterhin unseren Beitrag leisten. Atalantaist ein Teil davon.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4769 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Gute Arbeit in der Wissenschaft – Stabile
Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf
Kosten der Beschäftigten und Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz grunderneuern
Drucksache 18/4804
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
Danke, Frau Präsidentin! – Kolleginnen und Kolle-gen! Die Linke hat das Thema „Gute Arbeit in der Wis-senschaft“ heute auf die Tagesordnung gebracht, weilwir die neue Betriebsamkeit, die die Bundesregierungnach doch recht langer Zeit des Stillstandes jetzt endlichentfaltet, gerne mit ein paar guten Anregungen begleitenwollen, nicht dass wir am Ende wieder mit ähnlichenHalbherzigkeiten und Flickschusterei dastehen, wie wires leider schon beim BAföG und auch beim Koopera-tionsverbot erlebt haben.
Tatsächlich sind die Missstände im Wissenschaftssys-tem so groß, dass man sie nicht länger vom Tisch wi-schen kann: befristete Beschäftigung bei weit über80 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler, Vertragslaufzeiten von unter einem Jahr bei 50 Pro-zent der Beschäftigten, Teilzeit auf halben, Viertel- undAchtelstellen oder die Gefahr, den Arbeitsplatz zu ver-lieren, weil man ein Kind bekommen hat und auf einerdrittmittelfinanzierten Stelle ist. All das, Kolleginnenund Kollegen, macht Lebensperspektiven zunichte, undes erschwert gutes wissenschaftliches Arbeiten.
Das muss man verändern.Wenn es schon so weit ist, dass sich sogar dieSeehofer-Regierung in Bayern dazu genötigt fühlt, neueGrundsätze zum Umgang mit Befristungen vorzulegen,und das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft eineneue Richtlinie mit Nachbesserungen für Promovierendebeschließt, dann müssen die Zustände wirklich schlimmund der politische Druck wirklich groß sein. Aber alldiese neuen Richtlinien und Grundsätze lösen nicht dasgrundsätzliche Problem. Sie gelten nicht für alle Be-schäftigtengruppen, es gibt rechtliche Lücken, und essind wieder einmal nur freiwillige Selbstverpflichtun-gen. Nichts ist rechtlich verbindlich geregelt. Jetzt ist esan der Bundesregierung, endlich die Grundlagen für guteArbeit in der Wissenschaft zu schaffen. Bringen Sie da-bei endlich beide Aspekte zusammen, die dafür nötigsind, nämlich stabile Finanzen für die Hochschulen und
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9869
Nicole Gohlke
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die wissenschaftlichen Einrichtungen einerseits und dierechtlichen Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingun-gen andererseits.
Die letzten Jahre haben bewiesen, dass auf freiwilli-ger Basis nichts passiert. Im Gegenteil: Das Wissen-schaftszeitvertragsgesetz von 2007 ist sogar dazu be-nutzt worden, selbst das wissenschaftsunterstützendePersonal zu befristen. Das muss man sich einmal vorstel-len und auf der Zunge zergehen lassen: dass mittlerweilevon der Hausmeisterei über die Verwaltung und die IT-Abteilung bis hin zur promovierten Wissenschaftlerinkaum jemand mehr eine unbefristete Stelle hat, weil dieLeitungen sagen, das System müsse flexibel sein. Kolle-ginnen und Kollegen, was die einen flexibel nennen, istfür die anderen ein prekäres Leben und eine unsichereZukunft, und es ist schlicht und ergreifend Ausbeutung.Das muss sich dringend ändern.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss Mindest-standards für gute Arbeit definieren, mit Mindest-vertragslaufzeiten von Arbeitsverträgen, mit einer Ver-hinderung von Kettenbefristung, mit finanziellabgesicherten Qualifizierungsphasen und einer echtenfamilienpolitischen Komponente. Wenn sich MinisterinWanka dann mit Sätzen wie: „Befristete Beschäftigungs-verhältnisse liegen in der Natur der Wissenschaft“,
oder der Ansicht, dass die Einschränkungen von Befris-tungsmöglichkeiten mehr Schaden anrichteten, als dasssie Nutzen stifteten, in die Debatte einbringt, dann kannich nur sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Nicht Flexibili-sierung und Deregulierung, sondern hervorragende Ar-beitsbedingungen ermöglichen wissenschaftliches Ar-beiten auf hohem Niveau, und darauf muss eine Reformdes Gesetzes abzielen.
Wir brauchen eine verlässliche und nachhaltige Fi-nanzierung, gerade an den Hochschulen.
Aber statt endlich die Unterfinanzierung zu beenden,gibt es wieder nur befristete Pakte. Nicht nur der Hoch-schulpakt 2020 ist wieder befristet und – man muss essagen – leider unterdimensioniert. Auch sonst bleibt al-les beim Alten, zum Beispiel bei der Exzellenzinitiative.Jetzt streitet die Große Koalition, was unter Exzellenzeigentlich zu verstehen ist. Während man bei der Unionanscheinend gar nicht genug bekommt von Elite und diebisherige Spitzenförderung auf noch weniger Leucht-türme verengen will, sagt die SPD dann wirklich nettklingende Sätze wie: Man soll Spitze und Breite nichtgegeneinander ausspielen.
Das klingt sehr gut, ist aber nicht ehrlich; denn eines istdoch wohl klar: Wenn Sie die Breite nur unzureichendfinanzieren, geht eine Entscheidung für Spitzenförde-rung natürlich zulasten der Breite. So viel Ehrlichkeitgehört dann schon dazu.
Kommen wir zum Thema Planungssicherheit. Bis De-zember vergangenen Jahres war es unklar, ob es über-haupt mit dem Exzellenzprogramm weitergeht. Frühes-tens im nächsten Jahr wird dann der Rahmen klar sein.Dann müssen die Hochschulen 2017 wieder in einen Be-werbungs- und Wettbewerbsaktionismus verfallen, uman dringend benötigtes Geld zu kommen. Der entschei-dende Punkt ist doch: Eine Finanzierung, die auf Pakteund auf leistungsorientierte Mittelvergabe setzt, verhin-dert Planungssicherheit.
Wir brauchen endlich eine öffentliche Grundfinanzie-rung.
– Wenn Sie glauben, dass diese BAföG-Millionen un-endlich vermehrbar sind, dann haben Sie ein Problemmit dem Rechnen.
– Was wollen Sie damit noch alles finanzieren? Unbe-fristete Stellen in der Wissenschaft, soziale Infrastruktur,studentischen Wohnraum, Kitaplätze? Das alles wollenSie damit finanzieren? Entschuldigung, das ist wirklichnicht solide.
Jetzt soll es noch einen Pakt für den wissenschaftli-chen Nachwuchs geben. Es ist auf jeden Fall sehr ehren-haft – das muss man erst einmal sagen –,
dass die SPD dem Koalitionspartner etwas abtrotzenwill. Ich nehme an, das hat er nicht ganz freiwillig ge-macht. Aber wenn man das einmal umrechnet, dannstellt man fest, dass mit den dafür geplanten Mitteln ma-ximal 2 000 neue Stellen geschaffen und ausfinanziertwerden können. Wenn wir nun sehr optimistisch anneh-men, die geschaffenen Stellen würden wirklich unbefris-tet weiterlaufen, wären das dennoch weniger als 1 Pro-zent mehr unbefristet Beschäftigte an den Hochschulen.Das bedeutet schlicht: Es bleibt bei über 80 Prozent be-fristet Beschäftigten.
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Nicole Gohlke
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Um es ganz klar zu sagen: Eine Offensive für denwissenschaftlichen Nachwuchs darf nicht am Ende zurAusweitung befristeter Beschäftigung führen. Wir brau-chen langfristige Stabilität, wir brauchen sie sofort undnicht erst in zwei oder drei Jahren.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Gohlke, ich versuche jetzt einmal, das Themamehr in Gänze zu erfassen. Erst einmal vielen Dank,dass Sie den Antrag gestellt haben; denn er gibt uns dieMöglichkeit, hier und heute dieses für den StandortDeutschland so wichtige Thema anzudebattieren. Eswird nicht die letzte Debatte sein, das wissen wir; dennwir stehen, wenn es darum geht, etwas mehr zu tun, erstam Anfang unserer Überlegungen.
Deshalb finde ich es gut, dass wir das jetzt hier am An-fang debattieren.
Was mich in Ihrem Antrag ein bisschen erschreckthat, war Folgendes: Wenn wir alles, was Sie in IhremAntrag geschrieben haben, morgen umsetzen würden,dann würde sich das gesamte Wissenschaftssystem aufeinen Schlag verändern, aber leider nicht zum Guten,sondern zum Schlechten.
Ich würde das ganz gerne an einigen Beispielen– neun Minuten sind zwar lange, aber doch wiederumnicht so lange – erklären. Zunächst zum Wissenschafts-zeitvertragsgesetz. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Ver-tragslaufzeit von 24 Monaten für Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler in der Qualifizierungsphase ohneunbürokratische Ausnahmen. Sie fordern weiterhin – dashat mich dann doch ein bisschen zum Durchschnaufengebracht – tatsächlich die Abschaffung der sachgrundlo-sen Befristung, die wir jetzt in einem Zeitraum von12 oder auch 15 Jahren haben, aber eingeschränkt nachbestimmten Kriterien. Wissen Sie eigentlich, was das be-deutet, wenn Sie das in der Gesamtheit betrachten?
Wenn ein junger Wissenschaftler oder eine jungeWissenschaftlerin seine bzw. ihre Promotion nicht in derRegelzeit abschließt und der Vertrag ausläuft, danndürfte er bzw. sie in Zukunft nicht so einfach eine Ver-längerung bekommen. Nur weil sich die Promotion ver-zögert, aus welchen Gründen auch immer, befinden sichdiese jungen Wissenschaftler in einer völlig unsicherenPosition. Und dann könnte es ja auch noch sein, dass ir-gendwann eine Anschlussbeschäftigung – sogar eine un-befristete – in Aussicht steht, zwischen der Promotions-zeit und dem Beginn der unbefristeten Beschäftigungaber ein Loch entsteht. Für diesen Fall gibt es jetzt Über-brückungsverträge. Die wären nach Ihrem Modell nichtmehr möglich, die wären dann alle obsolet. Das gehtnicht.
Der nächste Punkt, den Sie fordern – immer noch inVerbindung mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz –:Sie wollen, dass mit ein und demselben Arbeitgeber nurnoch zwei aufeinanderfolgende Verträge abgeschlossenwerden dürfen. Das heißt also: Wenn jemand als Postdoceinen Vertrag hat und schon eine Verlängerung bekom-men hat, wäre es für ihn nicht mehr möglich, für seineUniversität Drittmittel einzuwerben, weil er selber keineChance mehr hätte, einen Anschlussvertrag zu bekom-men; denn das wäre der dritte Vertrag, und das wollenSie verhindern.Jetzt frage ich Sie: Wir wollen doch, dass die jungenWissenschaftler aus eigenem Antrieb heraus, mit eige-nen Perspektiven ihre eigenen Forschungsprojekteumsetzen. Das würden Sie mit den Regelungen, die Sievorschlagen, verhindern. Das lassen wir nicht zu.
Diese jungen Wissenschaftler, diese jungen Wissen-schaftlerinnen müssten sich einen neuen Arbeitgebersuchen, müssten vielleicht den Ort wechseln, vielleichthaben sie inzwischen Familie; alles müsste umgemodeltwerden. Ich denke, das ist kein Qualitätskriterium fürgute Wissenschaft, sondern vernichtet Innovation undWissenschaft.Die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen sindstrikt. Sie sagen ja ganz deutlich, dass Sie Flexibilitätvermeiden wollen. Das bedeutet aber auch einen Abbauder Zuverlässigkeit, weil Starrheit keine Zuverlässigkeitbedeutet, sondern genau das Gegenteil.
Unser Ziel, das Ziel der CDU/CSU – ich bin ganz si-cher, den Koalitionspartner hier an meiner Seite zu wis-sen –, ist dagegen, mit der Novelle des Wissenschafts-zeitvertragsgesetzes die Qualifizierung des jungenWissenschaftlers oder der jungen Wissenschaftlerin inden Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen undden hierfür erforderlichen Zeitbedarf mit einem zeitlichpassenden Arbeitsvertrag zusammenzubinden. Das sindunbürokratische und vertrauensvolle Verfahren, auf diejeder aufbauen kann, weil jeder genau weiß, was es zuerfüllen gilt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9871
Alexandra Dinges-Dierig
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So entsteht in meinen Augen Verlässlichkeit und Zuver-lässigkeit.Meine Damen und Herren, als wenn das nicht genugwäre, haben Sie, abgesehen von diesen Änderungen amWissenschaftszeitvertragsgesetz, auch noch andere „An-regungen“ – das war Ihr Wort vorhin – gebracht.
– Sie hatten gesagt: „gute Anregungen“, richtig.
Über diese „guten Anregungen“ und „gute Arbeit“würde ich jetzt gerne mit Ihnen streiten. In meinenAugen legen Sie die Axt an das gesamte System unsererWissenschaft. Sie wollen die Spitzenforschung abschaf-fen; das sagen Sie wörtlich.
– Lassen Sie doch einmal das Geld weg; wir sprechenhier von Qualität.
Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen, For-schungseinrichtungen gängeln, Sie wollen das Grundge-setz uminterpretieren – man könnte auch sagen: aushöh-len –, indem Sie Verantwortlichkeiten von den Ländernzum Bund verschieben. Sie sägen damit an der Zu-kunftsfähigkeit Deutschlands. Ist Ihnen das eigentlichbewusst? Ich glaube, nicht.
Sie fordern eine gemeinsame Finanzierung. Ich bin jabei Ihnen, dass wir als Bund auch etwas tun können. Siekönnten bei dieser Gelegenheit aber auch ruhig einmalansprechen, dass für diesen Bereich die Länder dieHauptverantwortung tragen. In der Frage, wer was zutun hat, haben wir eine ganz klare Zuordnung, und beider sollte es auch bleiben. Unser Föderalismus hat sichbewährt: Wir stehen an der Wissenschaftsspitze, wir sindunter den Top Five der Wissenschaft auf der gesamtenWelt. Die Arbeitsteilung, die wir bei uns haben, kannalso so schlecht nicht sein. Deshalb sollten wir daranauch festhalten.Dennoch muss – das ist überhaupt keine Frage – derBund auch steuern können. Die Frage ist nur, wie.Darüber können wir streiten. Auf jeden Fall sollte ersteuern können in den Dingen, wo es um die gesamteGesellschaft oder um ein überregionales Interesse geht.Ich denke jetzt einmal an etwas, was uns letztes Jahrdoch sehr beschäftigt hat. Es gab eine große Heraus-forderung für die gesamte Welt: Wir waren plötzlichkonfrontiert mit einem großen Ausbruch von Ebola.Ebola ist keine neue Krankheit – wir kannten sie –, aberin diesem Maße wohl kaum. Jetzt war die Frage: Wie ge-hen wir vor? Welche Rolle spielt hier die Wissenschaft?Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Moment hatder Bund die Fähigkeit, zu lenken. Wir haben dieMöglichkeit, kurzfristig – über die Projektförderung desBundes – Gelder für die Bewältigung solcher Herausfor-derungen einzusetzen. Die Projektförderung wollen Sieaber abschaffen. Gleichzeitig wollen Sie auch noch dieFörderung exzellenter Forschung abschaffen. Das heißt,wir hätten in Zukunft gar keine Wissenschaftscluster zurVerfügung, die sich schon mit solchen Erkrankungenweltweit beschäftigt haben und denen wir sagen könn-ten: Im Rahmen einer Projektförderung bekommt ihr zu-sätzliches Geld. Seht einmal zu, ob ihr in kurzer ZeitImpfstoffe und Ähnliches entwickeln könnt! – Wenn diegesamte Grundlage wegbricht, so wie Sie es in IhremAntrag beschrieben haben, werden wir auf die Heraus-forderungen in unserer Gesellschaft nicht mehr reagierenkönnen. Deshalb ist das für mich keine gute Anregung,sondern eine schlechte Anregung.Meine Damen und Herren, wir haben einen Antragvorliegen, in dem ich an verschiedenen Stellen inhaltli-che Widersprüche finde; ich will das nicht noch einmalaufmachen. Wir finden Gleichmacherei statt Spitzenfor-schung und Innovation. Die Rolle der Wissenschaft inIhrem Antrag ist mir nicht klar. Die qualitativen Verbes-serungen, die uns wirklich weiterhelfen, habe ich beiIhnen vergeblich gesucht. Ich habe den Antrag vonvorne bis hinten und noch einmal von hinten bis vornegelesen. Es gibt überhaupt keine Ansatzpunkte für quali-tative Verbesserungen, und das ist schlecht.
Wir wollen die Förderung des wissenschaftlichenNachwuchses breiter aufstellen. BundesministerinJohanna Wanka hat mit ihrem Programm eines früherenEinstiegs in unbefristete Beschäftigung einen wichtigenSchritt getan. Wir werden das umsetzen. Wir werden un-ser Wissenschaftssystem dazu nicht auf den Kopf stel-len; denn wir wissen, dass qualitätsfördernde Konzepteuns weiterbringen.Wissenschaft verändert sich von innen heraus. Wis-senschaft verändert sich vor allem nur dann nachhaltig,wenn sie Impulse und verbesserte Rahmenbedingungenbekommt und mit ihren eigenen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern neue Karrierewege umsetzen kann. DieWissenschaft wird jedoch verkümmern, wenn Sie alldas, was erfolgreich ist, beseitigen. Das gefährdet unse-ren Wissenschaftsstandort Deutschland, und das werdenwir vonseiten der CDU/CSU nicht zulassen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Kai Gehring hat für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mich freut, dass wir im Bundestag wiederholt über dieArbeitsbedingungen in der Wissenschaft sprechen. Mich
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9872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Kai Gehring
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ärgert aber richtig, dass wir wieder keinen Koalitionsan-trag debattieren können
und Sie immer noch keine Novelle zum Wissenschafts-zeitvertragsgesetz vorlegen. Sie kündigen eine Novelleschon lange an, verschieben sie aber doch immer weiternach hinten.
Unser grüner Gesetzentwurf für eine Novelle zum Wis-senschaftszeitvertragsgesetz liegt seit einem Jahr vor.Worauf warten Sie eigentlich?
Die Rede der CDU-Kollegin Dinges-Dierig eben machtedoch deutlich, wie uneinig die Koalition ist und warumSie nicht zu Potte kommen. Da muss sich endlich etwasändern.
Wir haben als Grüne im Bundestag in der letzten undin der vorletzten Wahlperiode Nachwuchspakte einge-fordert. Die Forderungen wurden abgeschmettert. Seitwenigen Wochen gibt es jetzt nach vielen GroKo-Pirou-etten zu Nachwuchskräften in der Wissenschaft endlichsogar Interviews von Frau Wanka und Koalitionsankün-digungen.
Mit dem Handeln warten Sie aber weiter. Ich sage Ihnen:Wahlgeschenke im Jahr 2017
kommen für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wis-senschaftler von heute zu spät. Die Zeit, zu handeln, istjetzt.
Junge Wissenschaftler sind wichtige Ideengeber. IhreIdeen entfachen soziale, ökologische und technologischeInnovationen, und das sind die Quellen zukünftigenWohlstands. Anstatt diesen Oasen wissenschaftlicherKreativität endlich Sicherheit und Perspektiven zu ver-schaffen, schicken Sie einen Großteil des Nachwuchsesin die Wüste, in die Wüste aus strukturellen Blockaden,Existenzsorgen und Zukunftsangst.
Die Koalitionskarawane zieht jetzt langsam los. Aber obund wo sie ankommt, wissen wir nicht. Wir werden wei-ter Druck machen, damit sich endlich etwas tut.
Die Probleme an den Hochschulen sind seit Jahrenbekannt. Unkulturen zwischen Jugendwahn und Seniori-tätsprinzip, massenhafte Stückelverträge, wachsendeFlaschenhalsproblematik, zu wenig Dauerstellen, dasalles steht zukunftsgerechten Karrierepfaden und kon-kurrenzfähigen Personalstrukturen im Weg, und dasmuss sich ändern.
– An Baden-Württemberg könnten Sie sich ein superBeispiel nehmen.
Was da mit Theresia Bauer in der Hochschulpolitik pas-siert, sucht seinesgleichen.
Frau Wanka ist dagegen blass.Nutzen Sie endlich die Gunst der Stunde! Sie habensich hier vor Wochen wegen der Änderung von Artikel91 b des Grundgesetzes abgefeiert, mit der Bund undLänder die Möglichkeit geschaffen haben, dauerhaft undinstitutionell in der Wissenschaftsfinanzierung zusam-menzuwirken. Ja, dann machen Sie das doch!
Eine Verfassungsänderung ohne Konsequenzen ist keineReform und bringt niemandem etwas.Es kann doch einfach nicht wahr sein, dass fast90 Prozent der Verträge an den Hochschulen befristetsind, noch dazu teilweise unter einem Jahr. Faire Bedin-gungen, verlässliche Verträge und Planbarkeit sind wich-tig für das eigene wissenschaftliche Arbeiten und auchfür die Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft. Ichdachte, die Union wäre für die Familie. Ja, dann tun Sieda doch etwas!
Hire and Fire in der Wissenschaft geht gar nicht. Diesesmonströse Befristungsunwesen, das wir haben, muss ge-stoppt werden.
Ich sage auch sehr klar: Das Paket der Wissenschafts-pakte hat das wissenschaftliche Personal allenfalls amRande adressiert. Durch zu kurze Paktlaufzeiten wurdenvor allem Lehrkräfte eingestellt und nicht Lebenszeit-professuren geschaffen. Hier stehen Bund und Länderals größte Geldgeber von Grund-, Zweit- und Drittmit-teln ganz klar in der Verantwortung. Von den Hochschu-len und von den außeruniversitären Forschungseinrich-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9873
Kai Gehring
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tungen erwarten wir alle hier gemeinsam einevorausschauende und eine aktive Personalentwicklung.
Gute Arbeit muss zum Selbstverständnis jeder Wissen-schaftseinrichtung gehören. Unser Wissenschaftssystembenötigt jetzt dringend eine Dekade für den wissen-schaftlichen Nachwuchs und einen Mentalitätswechsel.
Wir Grüne fordern einen neuen Vertrag mit dem wis-senschaftlichen Nachwuchs. Die erste Vertragssäule istein neues Nachwuchsprogramm. Wir wollen einProgramm für mindestens 10 000 Nachwuchsstellen anden Hochschulen. Dazu gehören feste Stellen im Mittel-bau, ab der Postdoc-Phase II und Juniorprofessoren mitTenure Track – das ist ganz wichtig –, das heißt überwie-gend zusätzliche und dauerhafte Stellen: für Professorenund neben der Professur. Unser Nachwuchsprogramm istauf ein Jahrzehnt angelegt und sieht einen Aufwuchsvor. Damit geht es nicht an aktuellen Nachwuchsgene-rationen vorbei. Und es verbarrikadiert keine Karrierenfür künftige Nachwuchsgenerationen. Beides ist dabeiwichtig.Die zweite Säule unseres Vertrages mit dem wissen-schaftlichen Nachwuchs ist unsere Novelle zum Wissen-schaftszeitvertragsgesetz, die bekanntlich längst vor-liegt – seit einem Jahr –, unter anderem mit generellzweijährigen Vertragsmindestlaufzeiten, mit einer Strei-chung der Tarifsperre, damit es bessere Verabredungender Tarifpartner vor Ort geben kann, mit Familienkom-ponente. Es ist doch demotivierend, für die gleiche Auf-gabe ständig das Personal auszutauschen. Daher muss esendlich mehr Dauerstellen für Daueraufgaben geben!
Ich appelliere an Ministerin Wanka, die dieser hoch-schulpolitischen Debatte – es ist heute unsere zweite –wiederum nicht beiwohnt, was ich wirklich als ein Ar-mutszeugnis für eine Ministerin empfinde;
ich appelliere an die Regierung und die Koalition: Es istjetzt Zeit für substanzielle und lebensnahe Verbesserun-gen, damit keine Potenziale von Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftlern mehr ausgenutzt oder verspieltwerden. Legen Sie jetzt endlich konkrete Novellen vor!
Kollege Gehring, Sie müssen Ihren Appell bitte in ei-
nen Satz fassen und einen Punkt setzen.
In meinem letzten Satz sage ich: Es braucht endlich
einen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs,
damit dieser mit Sicherheit gut forschen kann; denn wir
wollen es im Wissenschaftssystem fair statt prekär!
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Simone
Raatz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Gehring, Sie haben recht: Es ist nun fastein Jahr her, dass die SPD-Bundestagsfraktion einEckpunktepapier mit Forderungen zur Novellierung desWissenschaftszeitvertragsgesetzes vorgelegt hat. Aberwie hat die Opposition – abgesehen von heute, mit Fal-ten auf der Stirn und mit Nörgeln – darauf reagiert?
Die Antwort der Grünen war ein von der SPD-Fraktionabgeschriebener Gesetzentwurf aus der vergangenenLegislatur.
Wir haben hier vor ein paar Monaten darüber debattiert.Nun, fast ein Jahr später, liegt ein Antrag der Linkenzum Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ vor.Prima! Sehr schön, dass auch Sie jetzt die große Rele-vanz des Themas für sich entdeckt haben. Daher freueich mich, dass wir heute einen Antrag beraten, über denwir in der Sache parteiübergreifend – unserem Koali-tionspartner müssen wir noch ein bisschen unter dieArme greifen – nahezu einer Meinung sind. Ich denke,das Thema ist es wert.
– Ich bin am Anfang meiner Rede. Das wird schon allesnoch.
Wir sind uns darin einig, dass unsere Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler planbare und verlässlicheKarriereperspektiven sowie attraktive Arbeitsbedingun-gen benötigen; das wurde heute schon von mehrerenRednern betont. Nur so gelingt es, dass wir die bestenKöpfe in unserem Land halten und auch wettbewerbsfä-hig bleiben.Wir sind uns sicher darin einig, dass es nicht seinkann, dass über 80 Prozent der wissenschaftlichen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter an unseren Hochschulen
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9874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Simone Raatz
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befristete Verträge haben, Frau Gohlke, noch dazu miteiner Laufzeit von unter einem Jahr bei über der Hälfteder Verträge. Das ist keine gute Situation.
Wir sind uns auch darin einig, dass es nicht zielfüh-rend ist, dass selbst in unseren außeruniversitären For-schungseinrichtungen – das verstehe ich noch wenigerals bei den Hochschulen – noch 2012 fast 60 Prozent al-ler Wissenschaftler befristet beschäftigt waren, davonviele sogar über Stipendien.Es ist gut und wichtig, dass sich diese Große Koali-tion endlich des Problems der prekären Arbeitsbedin-gungen in unserem Wissenschaftssystem annimmt unddies noch in dieser Legislatur mit entsprechenden Ergeb-nissen untermauern wird. Es freut mich, dass wir, dieSPD-Bundestagsfraktion, mit unserem Eckpunktepapierdie Debatte über den Umgang mit unserem wissen-schaftlichen Nachwuchs maßgeblich angestoßen haben.
Was steht nun in unserem Eckpunktepapier? Für unssind insbesondere drei Punkte bei der Novellierung desWissenschaftszeitvertragsgesetzes wesentlich. Das isterstens die Befristungsdauer eines Arbeitsvertrages, diesich am Qualifizierungsziel orientieren muss.
Das heißt, wenn für eine Promotion üblicherweise dreiJahre benötigt werden, dann erwarten wir, dass der Ver-trag eine Laufzeit von drei Jahren hat.
Das betrifft zweitens die Drittmittelbefristungen, die andie Dauer der Drittmittelförderung bzw. der Projektlauf-zeit zu koppeln sind.
Drittens sind wir der Auffassung – Frau Gohlke, hörenSie bitte genau hin –, dass das nicht wissenschaftlichebzw. das wissenschaftsunterstützende Personal, welchesin der Regel Daueraufgaben übernimmt, im Wissen-schaftszeitvertragsgesetz fehl am Platz ist.
Hier sollten üblicherweise unbefristete Verträge abge-schlossen werden. Herr Gehring hat es schon gesagt: ZuDaueraufgaben gehören Dauerstellen. Ich denke, da sindwir uns einig.
Wir können als Koalition stolz sein, dass seit der Ver-öffentlichung des SPD-Eckpunktepapiers in unserenwissenschaftlichen Einrichtungen viel in Bewegung ge-raten ist. Ich freue mich, dass das auch den Grünen undder Linken aufgefallen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ichhoffe, Sie merken, dass die Novellierung des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes bei der Großen Koalitionganz oben auf der Agenda steht,
und das nicht erst seit heute, auch nicht erst seit der Vor-lage des abgeschriebenen Antrags bzw. des vorgelegtenAntrags, über den wir heute debattieren. An den Detailswird derzeit gearbeitet. Ich gehe davon aus, dass das ge-änderte Wissenschaftszeitvertragsgesetz zum 1. Januar2016 in Kraft tritt.
– Ich spüre viel Zustimmung, auch von meinem Koali-tionspartner; das freut mich.
Im vorliegenden Antrag heißt es treffend: Das Wis-senschaftszeitvertragsgesetz ist nicht die alleinige Ursa-che für die prekären Beschäftigungsverhältnisse in unse-rem Wissenschaftssystem. Ja, das stimmt. Mit derNovellierung stellen wir insbesondere die Befristungs-praxis wieder vom Kopf auf die Füße. Das alleine kannes aber nicht sein. Das ist nur ein Baustein, wenn es umdas übergreifende Thema „Gute Arbeit in der Wissen-schaft“ geht.
Ein zweiter Baustein ist zum Beispiel der vierte Paktfür den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademi-schen Mittelbau – meine Kollegin Frau Dinges-Dierig istschon kurz darauf eingegangen –, den wir bereits imHerbst vergangenen Jahres thematisiert und geforderthaben. Das äußerst Erfreuliche ist doch – und daraufsind Sie, Herr Gehring und Frau Gohlke, überhaupt nichteingegangen; das hätte mich aber gefreut –, dass unsereForderung erhört wurde. So konnten wir unsere ge-schäftsführenden Fraktionsvorstände davon überzeu-gen, über einen Zeitraum von zehn Jahren zusätzlich– ich betone: zusätzlich – 1 Milliarde Euro für unserenwissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mit-telbau zur Verfügung zu stellen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9875
Dr. Simone Raatz
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– Dass Sie sich nicht freuen! 1 Milliarde Euro für unse-ren wissenschaftlichen Nachwuchs, das ist doch toll. Dasist doch was.
Dafür auch von dieser Stelle noch einmal einen ganzherzlichen Dank, insbesondere an Hubertus Heil undMichael Kretschmer, die sich ganz intensiv dafür einge-setzt haben. Ich finde, das ist ein tolles Ergebnis.
Unsere Vorstellungen zur Ausgestaltung des viertenPaktes haben wir vor zwei Wochen präsentiert. Im We-sentlichen geht es darum, dass sich unsere Hochschulenund außeruniversitären Forschungseinrichtungen endlichals gute Arbeitgeber verstehen, das Potenzial ihrer Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig erken-nen und fördern sowie klare Perspektiven aufzeigen. Ichdenke, Personalentwicklungskonzepte und attraktivePersonalkategorien mit Tenure-Track-Option auch unter-halb der Professur sollten zukünftig selbstverständlichsein.Ich komme zum Schluss. Sie sehen, das Ergebnis vonanderthalb Jahren Großer Koalition im Bereich „guterArbeit in der Wissenschaft“ ist erstens eine anstehendeNovellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes undzweitens 1 Milliarde Euro zusätzlich für den wissen-schaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau.In den nächsten Monaten geht es nun um die konkreteAusgestaltung des Paktes und um die Abstimmung zwi-schen Bund und Ländern. Sie alle sind herzlich eingela-den, sich an der Diskussion zu beteiligen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Claudia Lücking-Michel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Tatsächlich, wir diskutierenheute schon zum zweiten Mal im Plenum über ein ganzwichtiges Thema der aktuellen Wissenschaftspolitik.
Es geht um die Zukunftsperspektiven für Nachwuchs-wissenschaftler und – das haben wir schon gehört – auchum die Zukunft Deutschlands als Forschungsstandort.Ich möchte auf vier Punkte Ihres Antrags eingehen,nachdem wir vieles bereits angesprochen haben:Erstens. Das heikle und große Thema Befristungen.Ich will einmal sagen: Befristete Arbeitsverträge in derWissenschaft sind für mich nicht per se Teufelszeug,sondern bringen eine Dynamik in das Wissenschaftssys-tem, die notwendig ist. Da hat Frau Ministerin Wankarecht.
Ein Wechsel von Personal und Veränderungen sind nö-tig, um Innovationen und einen kontinuierlichen Aus-tausch von Ideen sicherzustellen. Diese Dynamik solltenwir nicht mehr als nötig beschneiden.
Ein Zweites kommt hinzu; auch das unterscheidetsich sehr von Ihrem Ansatz. Ich sehe die Arbeitgeber imWissenschaftsbetrieb eher als verantwortliche Vorge-setzte denn als moderne Sklaventreiber. Ich denke, dassdie Forderung im Antrag, feste Mindestvertragslaufzei-ten per Gesetz zu definieren, in die falsche Richtunggeht. Frau Kollegin Dinges-Dierig hat gerade schonviele Fälle dargestellt. Wir sollten uns nicht anmaßen,für all die vielfältigen Wege, auf denen wissenschaftli-che Qualifizierung verläuft, von Berlin aus arbeitsrecht-liche Vorgaben zu machen. Es ist vielmehr die Aufgabejedes Arbeitgebers, optimale Arbeits- und Forschungs-möglichkeiten zu schaffen und auf die Vielfalt von Kar-rierewegen und Lebenssituationen flexibel zu reagieren.Aber natürlich – ich bin ja nicht blauäugig – stimmtes: Diese Verantwortung nehmen nicht alle Vorgesetztengleichermaßen wahr. Es stimmt: Die Befristung der Ver-träge von wissenschaftlichem Personal sollte nicht zu ofthintereinander und zu kleinteilig über kurze Zeiträumeerfolgen.
In der Union setzen wir auf ein anderes Konzept statt aufRegelungswahn. Wir setzen auf positive Anreize und aufdie Verantwortung der Vorgesetzten.
Das kann man unterstützen und fördern, zum Beispieldurch ein Audit oder ein Siegel und durch positive An-reize. Solch ein Audit sollte festhalten, welche Auswahl-prozesse und welche Aufstiegsmöglichkeiten gelten undwelche Anforderungen es an Dauerstellen gibt. Es sollteauch transparente Pläne für eine Gesamtpersonalent-wicklung einfordern.
Das Konzept kann man auch durch Anreize unterstüt-zen, zum Beispiel durch die Milliarde Euro – sie wurdeschon genannt – für die Etablierung neuer Karrierewege,für ein großes Tenure-Track-Programm, aber auch fürKarrierewege unterhalb der Professur, für unbefristeteStellen im Mittelbau. Aber dafür muss auch von derLänderseite Verantwortung übernommen werden.Damit bin ich beim zweiten Punkt Ihres Antrages.
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9876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Claudia Lücking-Michel
(C)
(B)
Die Fraktion Die Linke will wieder einmal das Systemder Wissenschaftsfinanzierung grundlegend ändern undfordert schon wieder eine verstetigte Finanzierung durchden Bund. Wir haben es heute Nachmittag schon einmalgehört, und wir haben es gerade gehört – aber anschei-nend muss man es immer wieder betonen, damit es auchbei den Letzten ankommt –: Der Bund hat mit derBAföG-Entlastung dauerhaft rund 1,2 Milliarden Europro Jahr zur Verfügung gestellt.
Das ist Geld, mit dem die Länder Stellen schaffen kön-nen.
Es ging darum, die Grundfinanzierung der Hochschulenwirklich zu verbessern. Die Möglichkeiten dazu habensie jetzt. Ab 2016 kommt hinzu, dass der Bund auch denHaushaltsaufwuchs der außeruniversitären Forschungs-einrichtungen komplett übernehmen wird – noch mehrGeld, mit dem die Länder dann neue finanzielle Spiel-räume haben, um die Hochschulen zu finanzieren.Drittens. Ein ganz wichtiger Punkt kommt auch in Ih-rem Antrag vor: Frauen sind in wissenschaftlichen Füh-rungspositionen unterrepräsentiert. Ja, das darf nicht sobleiben. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, dieeiner ausgewogenen Besetzung der Stellen mit Frauenund Männern zuträglich sind.
Der Weg dahin liegt aber aus meiner Sicht nicht in ei-ner festen Quote von 50 Prozent weiblicher Neubeset-zungen all dieser Stellen, wie Sie es in Ihrem Antragvorschlagen haben.
Ich frage Sie, wie Sie sich das vorstellen: Was ist die Be-zugsgröße für diese Quote?
Gilt sie hochschulweit oder nach Fachbereichen? Dabeihaben wir längst eine, wie ich finde, sehr sinnvolle Me-thode und Vorgabe für die Verbesserung des Verhältnis-ses von Männern und Frauen, und zwar sowohl in denForschungseinrichtungen als auch an den Universitäten.Ich meine das Kaskadenmodell. Das ist etwas anderesals eine feste Quote. Es trägt nämlich den Gegebenheitenin den jeweiligen Institutionen bzw. den FachkulturenRechnung. Es setzt das Prinzip der Bestenauslese geradenicht außer Kraft und nutzt die Potenziale aus, die die je-weils vorherige Karrierestufe bietet.Ich bin mit den Veränderungen, die das Kaskadenmo-dell bisher gebracht hat, nicht zufrieden.
An vielen Stellen ist es zu langsam,
wenn es darum geht, mehr Frauen in Führungspositionenzu etablieren.
Das heißt, wir sind nicht davon entbunden, die Ursachennoch einmal genauer in den Blick zu nehmen.
Was die Ursachen angeht, sind mehrere zu nennen,zum Beispiel nach wie vor das Thema „Vereinbarkeitvon Familie und Beruf“. Dafür braucht es bessere Lö-sungen; da stimme ich Ihnen zu. FamilienfreundlicheArbeitsbedingungen sind die Voraussetzung dafür, dassjunge Eltern gleiche Chancen auf Karriere haben. Daswürde Frauen entschieden helfen, aber auch jungen Vä-tern, den Männern.
Wer aber meint, damit sei die Frauenfrage schon an-gemessen adressiert, dem muss ich sagen: Wir müssendarüber hinaus weiterhin die Berufungspolitik in deneinzelnen Einrichtungen in den Blick nehmen undschauen, wie sie im Hinblick auf Frauen betrieben wird:Welche Verfahrensstandards werden vorgegeben? Men-toringprogramme sind hilfreich. Es geht darum, dieSichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen insgesamt zu er-höhen und die Leistung zu verbessern.Ich will einen vierten und letzten Punkt nennen, der inIhrem Antrag vorkommt. Seit es die Exzellenzinitiativegibt, fordert die Linke deren Abschaffung. Damit zeigenSie, dass Sie aus Erfahrung offensichtlich nicht klugwerden wollen. Die Exzellenzinitiative hat wissenschaft-liche Leistung aus Deutschland international verstärktsichtbar gemacht.
Sie hat es ermöglicht, Spitzenkräfte aus aller Welt nachDeutschland zu holen. Sie finden hier attraktive For-schungs- und Arbeitsbedingungen. Die internationaleSeite kommt in Ihrem Antrag mit keinem Wort vor. Dasist eine sträfliche Vernachlässigung;
denn Wissenschaft hört nicht an Ländergrenzen auf. Nurdurch die Honorierung exzellenter Forschungsleistungenauf internationalem Niveau halten wir beim großenWettbewerb um beste Talente und innovative Ideenwirklich mit.Zum Schluss lege ich Ihnen Konrad Adenauer ansHerz – nicht nur, weil ich aus seinem Wahlkreis kom-me –: Niemand hindert Sie daran, über Nacht klüger zuwerden. Machen Sie was draus!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9877
(C)
(B)
Der Kollege Martin Rabanus hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Ich glaube, die Debatte hat deutlich gemacht, dass wiranhand dieses Antrags ein grundsätzlich wichtiges undrichtiges Thema diskutieren. Der Antrag geht allerdingsin die völlig falsche Richtung; auch das ist an der einenoder anderen Stelle der Debatte schon deutlich gewor-den. Ich will das an wenigen Punkten noch einmal poin-tieren:Da liest man auf Seite 2 des Antrags unter anderem,der Hochschulpakt 2020 und die Exzellenzinitiativeseien wesentliche Ursachen der prekären Situation imWissenschaftsbereich. Das muss man sich einmal auf derZunge zergehen lassen,
auch im Lichte der Diskussion, die wir heute Mittag ge-führt haben, und auch im Lichte der Tatsache, dass esohne den Hochschulpakt und ohne die Exzellenzinitia-tive überhaupt nicht möglich gewesen wäre, die Heraus-forderungen, vor denen wir in den letzten Jahren im Wis-senschaftssystem und an den Hochschulen standen, zumeistern.
Das ist ein Einstieg, den dieser mit der heißen Nadelgenähte, ein Sammelsurium beinhaltende Antrag liefert,mit dem Ziel, sozusagen ein bisschen Anschluss an dieDiskussion zu finden, die in der SPD, die in der Koali-tion insgesamt zu diesem Thema längst läuft.
Ich kann auch gut verstehen, dass die Antragsteller dieBedeutung der Exzellenzinitiative und vor allen Dingendes Hochschulpakts für das Hochschulsystem nicht anerster Stelle sehen; denn sie sind die einzige Fraktion,die nicht in Regierungsverantwortung daran beteiligtwar.Ich kann auch verstehen, dass die Antragsteller nichtbesonders laut über das Thema „Entlastung der Länder“,auch über die BAföG-Millionen bzw. -Milliarden spre-chen wollen. Aber Fakt ist, dass die Große Koalition wieseit Jahren nicht die Länder entlastet, damit sie ihre Auf-gaben – auch in der Finanzierung des Hochschul- undWissenschaftssystems – besser erfüllen können.Der Antrag zeigt aber auch eines sehr klar – daraufhaben Frau Kollegin Dinges-Dierig und andere schonhingewiesen –: Sie haben ein grundsätzlich anderes Ver-ständnis, wie das Wissenschaftssystem organisiert wer-den soll, als es die SPD, als es die Koalition insgesamthat; ich glaube, auch da kann man die zweite Opposi-tionspartei einbeziehen.Sie wollen Förderung von Exzellenz abschaffen. Gut.Sie wollen themenspezifische Forschungsförderung ab-schaffen. Okay.
Sie wollen auch den Pakt für Forschung und Innovationabschaffen. Auch okay. Danke, dass das in dieser Formwieder einmal deutlich geworden ist; denn dann ist dasauch ganz klar. Ebenso klar kann ich sagen: Das wollenwir eben nicht.
Wir wollen Spitzenleistungen und Exzellenz, die wirübrigens vielerorts in unserem Hochschul- und Wissen-schaftssystem haben, gezielt weiterentwickeln. Wir wol-len themenspezifische Forschungsprogramme. Wir wol-len damit auch Steuerungsfunktionen behalten undGestaltungsanspruch untermauern.
Wir wollen Forschung und Innovation sichern, weil wiruns als Wissensnation – nur als Wissensnation – im glo-balen Wettbewerb behaupten können und dies am Endedes Tages allen Menschen in Deutschland zugutekommt.
Ich komme zurück: Es ist grundsätzlich ein richtigesund wichtiges Anliegen, das dieser Antrag thematisiert.Wie er es thematisiert, hilft nicht weiter. Wir werden hin-gegen – wir haben das in sehr intensiven Gesprächen inder Koalition begonnen – die Fehlentwicklungen, diewir auch zu konstatieren haben, anpacken. Das ist be-nannt worden: Wir wollen den Befristungsanteil reduzie-ren. Wir wollen die Dauer von Befristungen verlängern,die Vertragslaufzeiten den tatsächlichen Lebensbedin-gungen anpassen. Wir wollen dem wissenschaftlichenNachwuchs eine Perspektive geben und haben den Paktfür den wissenschaftlichen Nachwuchs auf Koalitions-ebene beschlossen.Der herzlichen Einladung des Antrages, dass auch dieLänder ihre eigenen Finanzierungssysteme überprüfen– es geht um den Grundfinanzierungsanteil und diesogenannten erfolgsabhängigen Faktoren, die dort nie-dergelegt sind –, schließen wir uns sehr gerne an. Ichpersönlich könnte viel über diesbezügliche Fehlentwick-lungen in meinem Heimatland Hessen und nur relativwenig über dortige Aktivitäten, dem gegenzusteuern, er-zählen.
Ich komme zum Schluss: Die Koalition ist und bleibtam Thema dran, und sie wird an den richtigen Stell-schrauben drehen. In dem Antrag steht allerdings vieles,
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9878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Martin Rabanus
(C)
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was nicht in die richtige Richtung führt. Er erweist demWissenschaftssystem insgesamt einen Bärendienst.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4804 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit
einem einzigen Gesellschafter
KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen zügig durchzuführen, damit ich die Ausspra-
che eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir diegrenzüberschreitende Tätigkeit gerade von kleinen undmittleren Unternehmen erleichtern und es für Unterneh-men vereinfachen, Niederlassungen in anderen EU-Mit-gliedstaaten ohne hohen Kosten- und Verwaltungsauf-wand zu betreiben, dann sichern wir damit auch Jobs inDeutschland.Ein Problem dabei ist, dass es in Europa keine euro-paweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haf-tung gibt, eine GmbH, die in allen Staaten bekannt undvor allem auch akzeptiert ist. Das führt dazu, dass Unter-nehmen, die in einem anderen Land eine Niederlassunggegründet haben, erhebliche Schwierigkeiten haben, indiesem anderen EU-Staat etwa ein Konto zu eröffnenoder ein Grundstück zu kaufen, weil die Gesellschafts-form in diesem Land eben nicht bekannt und auch nichtanerkannt ist. Deshalb brauchen wir eine europaweit an-erkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eineEuropa-GmbH.
Wir sehen beim Kommissionvorschlag zur SUP abererhebliche Nachteile und Risiken, und zwar so großeNachteile, dass wir als Koalition hier im Bundestag ei-nen entsprechenden Entschließungsantrag verabschiedenwollen, in dem wir ganz klar Position beziehen, dass derjetzige Vorschlag erhebliche Mängel enthält.Nach dem jetzigen Richtlinienvorschlag der Kommis-sion könnten 28 verschiedene Gesellschaftsformen ei-ner GmbH in der Europäischen Union entstehen. Daswürde die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit na-türlich ganz erheblich erschweren. Darüber hinaus siehtder Vorschlag nur vor, dass es sich bei diesen GmbHsum Einpersonengesellschaften handelt, und keinesfallswollen wir – das war ein ganz zentraler Kritikpunkt –,dass Onlinegründungen ohne Identitätsnachweis mög-lich sind. Das wäre ein Einfallstor für Steuerhinterzie-hung, für Geldwäsche und wahrscheinlich auch für Ter-rorismusfinanzierung.
Deshalb sind wir froh und danken wir Minister Maasund allen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternan dieser Stelle ausdrücklich, dass hier erste Verhand-lungserfolge erzielt und Verbesserungen erreicht werdenkonnten. Der aktuelle Stand der Verhandlungen ist der,dass die Onlinegründung zwar möglich ist, aber durchdie Videokonferenz ein erheblicher Sicherheitsstandardeingeführt wurde. Das heißt, über eine Webcam ist derAnmelder mit dem deutschen Notar verbunden. Dadurchist eine Identifizierung möglich. Ich glaube, das ist eineganz wichtige Maßnahme, durch die Transparenz ge-schaffen und der notwendige Identitätsnachweis erbrachtwird. Ein ganz herzliches Dankeschön für den Verhand-lungserfolg des Ministeriums.
Hauptkritikpunkt ist und bleibt die Möglichkeit, diedeutschen Bestimmungsregeln zu umgehen. Die Mitbe-stimmung ist gerade für uns Sozialdemokraten einer derzentralen Pfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Wirwollen auf jeden Fall verhindern, dass durch die Europa-GmbH Umgehungsmöglichkeiten geschaffen werden.Genau diese Gefahr besteht, wenn Verwaltungssitz undSatzungssitz getrennt werden können, wie es leider derVorschlag der Kommission vorsieht.Eine Europa-GmbH zu schaffen, ist absolut sinnvollund würde gerade bei uns in Deutschland Jobs sichern.Wir dürfen allerdings nicht die bewährten Grundsätzeder Mitbestimmung in Deutschland aufs Spiel setzenund Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Deshalb ist eswichtig, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlageklare Position zugunsten der Mitbestimmung bezieht.Wir fordern die Bundesregierung ausdrücklich auf, denRichtlinienvorschlag dann abzulehnen, wenn es in denanstehenden Verhandlungen nicht gelingen sollte, ein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9879
Dr. Johannes Fechner
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Verbot der Sitzaufspaltung zu erreichen. Mit einer so ge-stalteten Richtlinie eröffnen wir den Unternehmen neueChancen in Europa. Wir sichern Jobs bei uns, und das al-les ohne die Mitbestimmung zu gefährden. Es handeltsich also um eine sehr gute Vorlage, der man auch alsOpposition zustimmen kann.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Richard
Pitterle das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Zuhörer auf der Tribüne! Wo-
rüber sprechen wir heute? Es geht um eine Stellung-
nahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel
23 Absatz 3 Grundgesetz. Das klingt sehr mächtig, ist es
aber nicht. Das, was wir heute behandeln, ist aus meiner
Sicht der Höhepunkt eines parlamentarischen Trauer-
spiels. Aber von Beginn an.
Vor vielen Jahren hat die Europäische Kommission
angekündigt, kleine und mittlere Unternehmen zu för-
dern. Während es bei den großen Konzernen auf euro-
päischer Ebene sehr schnell möglich war, die Europäi-
sche Aktiengesellschaft als Rechtsform zur Verfügung
zu stellen, gab es lange Diskussionen darüber, was dem
Mittelstand zur Verfügung gestellt werden soll. Es wäre
notwendig gewesen, dem Mittelstand etwas Ähnliches
wie eine europäische GmbH zur Verfügung zu stellen.
Sinnvoll wäre auch die Vereinheitlichung des GmbH-
Rechts gewesen, damit es vergleichbare Strukturen bei
Gründung, bei den Kosten der Gründung und beim Min-
destkapital gibt; denn Bedarf an solchen Rechtsformen
gibt es bei den mittelständischen Unternehmen, die in
den Nachbarländern in die Nähe der Märkte kommen
und beispielsweise als deutsche GmbH Angebote ma-
chen wollen. Ich habe als Rechtsanwalt mitgeholfen,
Tochtergesellschaften von mindestens 20 tschechischen
Unternehmen in der Bundesrepublik zu gründen. Ich
weiß deswegen ganz genau, worum es dabei geht.
Natürlich ist das, was auf europäischer Ebene heraus-
kommt, das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Auf
der einen Seite will man möglichst geringe Bürokratie-
kosten verursachen. Auf der anderen Seite gilt es, bei ei-
ner Gesellschaft mit beschränkter Haftung Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Aber auch die
Vertragspartner einer solchen Gesellschaft, die Gläubi-
ger, müssen geschützt werden.
Was kam dabei heraus? 2014 hat die EU-Kommission
dem Bundestag den Vorschlag für eine Einpersonenge-
sellschaft ohne Haftung zugeleitet. Was uns da vorgelegt
wurde, lief darauf hinaus, die Gründung von Briefkas-
tenfirmen europaweit so einfach wie möglich zu ma-
chen: Onlineregistrierung vom heimischen Wohnzimmer
aus ohne Notar, ohne Mindestkapital, nach einem Mus-
tervertrag, mit Sitz in einem Land freier Wahl und dann
noch die Möglichkeit, den satzungsmäßigen Sitz der Ge-
sellschaft vom Sitz der Verwaltung zu trennen.
Da schrillten bei den Interessenverbänden die Glo-
cken. Der DGB schrieb alle Abgeordneten an, weil er
befürchtete, dass das Konstrukt genutzt wird, um die
Mitbestimmung zu umgehen. Selbst der BDI meldete
sich mit Bedenken zu Wort. Befürchtet wurde, dass ohne
eindeutige Identifizierung des Inhabers einer solchen
Gesellschaft der Geldwäsche, der Betrugskriminalität
und der Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet wer-
den.
Meine Fraktion und ich haben 2014 die Bedenken der
Verbände ernst genommen, und wir haben das getan,
wozu DGB und BDI geraten haben, nämlich das parla-
mentarische Mittel zu nutzen, das für diese Verfahren
vorgesehen ist, um auf europäischer Ebene gehört zu
werden: die Rüge der Subsidiarität. Also haben wir im
Juni, kurz vor Fristablauf, im Parlament beantragt, das
Parlament möge diese Rüge erheben. Dies wurde aber
bei der Abstimmung im Hohen Haus abgelehnt: von der
CDU/CSU, von den Grünen und von der SPD.
Nachdem der Prozess auf europäischer Ebene fast ab-
geschlossen ist, kommen Sie mit der heutigen Stellung-
nahme, in der nichts Falsches steht, die aber völlig sinn-
los ist.
Das, was Sie uns zumuten, ist eine unverbindliche
Bitte des Parlaments an die Bundesregierung, sich doch
auf Europaebene noch einmal gegen die von mir skiz-
zierten Gefahren einzusetzen. Der Antrag kommt jetzt
auch noch von den Fraktionen, die die Regierung stellen.
Ich frage Sie: Trauen Sie Ihrer eigenen Regierung nicht
über den Weg, oder soll hier nur kaschiert werden, dass
Sie sich durch Ihr aktives Nichtstun die Suppe einge-
brockt haben, die jetzt andere auszulöffeln haben?
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Stephan Harbarth das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir be-fassen uns heute im Hohen Haus wieder einmal mit demThema Europa-GmbH. Wir haben in Europa folgendeSituation: Wir haben eine supranationale Rechtsform fürdie großen Gesellschaften, die Europäische Aktienge-sellschaft. Aber wir haben kein Pendant für die kleinerenKapitalgesellschaften. Die Notwendigkeit dazu habenwir gleichwohl.GmbHs oder ähnliche Rechtsformen in anderen Län-dern sind gerade die typischen Rechtsformen, auf die
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9880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Stephan Harbarth
(C)
(B)
mittelständische Unternehmen im europäischen Binnen-markt zurückgreifen. Es ist für sie ein großes Problem,wenn sie in 28 Mitgliedstaaten 28 verschiedene Rechts-formen mit 28 verschiedenen Rechtsvorschriften, mit 28verschiedenen Rechtsregimen und all ihren Fallstrickenhaben. Deshalb liegt es gerade im Interesse Deutsch-lands, dass wir beim Projekt der Europa-GmbH voran-schreiten. Warum? Es liegt deshalb in unserem Interesse,weil wir ein besonders exportorientiertes Land sind, weilwir ein Land mit einer mittelständisch geprägten Wirt-schaftsstruktur sind und weil wir deshalb in ganz beson-derer Weise auf die entsprechende Rechtsform angewie-sen sind.Wir sind deshalb auch froh, dass die EuropäischeKommission über Jahre hinweg konsequent eine Strate-gie zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmenverfolgt hat. Wir haben deshalb auch in der Koalitions-vereinbarung wieder ein Bekenntnis für die Europa-GmbH niedergelegt.Der Vortrag des Kollegen der Linksfraktion, manhätte eine Subsidiaritätsrüge erheben sollen und sie hät-ten noch nicht erkannt, worin der Sinn der Stellung-nahme bestehe, geht an der Wirklichkeit vorbei. Es istdoch völlig klar, dass die Europäische Union befugt ist,wenn es 28 verschiedene Rechtsordnungen im Bereichdes Wirtschaftsverkehrs gibt, das im Bereich des Gesell-schaftsrechts genauso zu vereinheitlichen, zu harmoni-sieren, wie sie es beispielsweise im Bereich der Europäi-schen Aktiengesellschaft und an anderer Stelle getan hat.Herr Kollege Pitterle, wenn Sie den Sinn der Stellung-nahme nicht verstanden haben, dann kann ich es Ihnengerne erklären. Uns geht es darum, dass wir im Deut-schen Bundestag ein kraftvolles Signal aussenden gegendie SUP und zugleich ein kraftvolles Signal aussendenfür die SPE.
Wir sind überzeugt, dass das Modell der SPE, der Eu-ropäischen Privatgesellschaft, schon deshalb dem Vor-schlag der Kommission für eine SUP überlegen ist, weildie SUP auf Einpersonengesellschaften fokussiert ist.Sie gilt nur für diejenigen Unternehmen, die zu 100 Pro-zent an einer Gesellschaft beteiligt sind. Wir braucheneine flexible Rechtsform, die der Vielgestaltigkeit desWirtschaftslebens Rechnung trägt. Wir brauchen aucheine Rechtsform auf europäischer Ebene, die zum Bei-spiel für Joint Ventures, für grenzüberschreitende Ge-meinschaftsunternehmen, eingesetzt werden kann. Dazueignet sich die SUP nicht, die SPE hingegen schon.Die SUP hat darüber hinaus eine ganze Reihe vonhandwerklichen Schwächen. Das gilt insbesondere imBereich der Onlinegründung, wenngleich die Kommis-sion in den letzten Wochen signalisiert hat, dass sie mög-licherweise etwas stärker auf den Pfad der Vernunft zu-rückkehren wird, als sie es zunächst einmal hat erkennenlassen.Darüber hinaus gibt es große Schwächen im Bereichdes Mitbestimmungsrechts; das ist in der Debatte bereitsangeklungen. Wir wollen nicht, dass mitbestimmungs-freie Rechtsformen geschaffen werden. Wir wollen, dassvernünftige Mitbestimmungsregeln Anwendung finden.Das haben wir in unserem Vorschlag entsprechend nie-dergelegt. Wir schließen die Sitzaufspaltung aus. Wir ha-ben damit in etwa die gleiche Situation wie bei der Euro-päischen Aktiengesellschaft, bei der das ausgeschlossenist. Darüber hinaus haben wir geregelt – das ist ein be-sonderes Entgegenkommen an die Gewerkschaften –,dass die Mitbestimmung, anders als das im nationalenRecht aus guten Gründen der Fall ist, bereits ab 250 Ar-beitnehmern greifen könnte.Wir meinen, dass Deutschland – als Rechtspolitikerder Unionsfraktion sage ich das sehr selbstkritisch –, ob-wohl es in besonderer Weise auf diese Rechtsform ange-wiesen ist, in den vergangenen Jahren viel zu lange aufdem Bremspedal stand. Nun senden wir aus Deutschlandendlich ein kraftvolles Signal nach Europa: Wir wollendie Europäische Privatgesellschaft. Wir sind auch bereit,vernünftige Kompromisse auf europäischer Ebene zuschließen. Die SUP ist ein solcher vernünftiger Kompro-miss allerdings nicht. Deshalb bedarf es einer Ableh-nung. Herr Kollege Pitterle, damit auch Sie das mitbe-kommen: Das ist der Sinn der heutigen Vorlage.
Ich möchte allen, die sich daran beteiligt haben, sehrherzlich danken. Ich danke den Rechtspolitikern meinereigenen Fraktion, unserer Sprecherin, ElisabethWinkelmeier-Becker, insbesondere aber auch dem Kol-legen Hirte. Ich danke den Kollegen aus den anderen be-troffenen AGs.
Ich danke den Kollegen aus der sozialdemokratischenFraktion und dem Ministerium. Ich möchte mich auchbei den Grünen dafür bedanken, dass sie im Rechtsaus-schuss zugestimmt haben, obwohl es in den vergangenenTagen leider, weil wir einen ganz intensiven, schwieri-gen und komplexen Abstimmungsprozess hatten, nichtmöglich war, sie ins Antragsrubrum aufzunehmen. Ichmöchte mich dafür bedanken, dass sie trotzdem imRechtsausschuss zugestimmt haben. Ich glaube, es istein gutes Signal, wenn wir in diesem Parlament einenbreiten Konsens haben. So können wir in Europa mitlauter Stimme sprechen.Vielen Dank.
Kollege Harbarth, ich will niemanden um seinen
Dank bringen, bitte aber, in Zukunft auch Dankesworte
in der regulären Redezeit unterzubringen.
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Vorredner haben umfangreiche Kritik
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9881
Katja Keul
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an dem EU-Vorschlag für eine Gesellschaft mit be-schränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschaftervorgebracht. Dieser Kritik kann ich mich weitgehend an-schließen.Auch wir Grünen begrüßen zunächst einmal das An-sinnen, die Rahmenbedingungen für eine grenzüber-schreitende Geschäftstätigkeit kleiner und mittlerer Un-ternehmen zu verbessern. Für sie ist es nach wie vorteuer und aufwendig, grenzüberschreitend tätig zu seinoder eben eine Tochtergesellschaft im EU-Ausland zugründen. Da hier also durchaus ein Bedürfnis nach euro-päischer Harmonisierung besteht, kann ich nachvollzie-hen, dass die Bundesregierung keine Subsidiaritätsrügeerhoben hat. Trotzdem sollten Sie den Vorschlag in die-ser Form ablehnen.Die Einpersonengesellschaft kann lediglich online ge-gründet werden. Das macht die Identifizierung der Per-son schwierig und kann dazu führen, dass nichtexistentePersonen oder Strohleute registriert werden. Im letztenMoment ist jetzt wenigstens die Frist so verlängert wor-den, dass die Einbindung deutscher Notare – wir habenes gerade gehört – mittels Webcam möglich ist. Notaresind immerhin auch ein Mittel der Geldwäschepräven-tion, und die Bekämpfung von Geldwäsche und Terroris-musfinanzierung sollte uns in Europa wichtig genugsein.Die Bundesregierung meint, mit dem jetzt gefunde-nen Kompromiss leben zu können. Ich kann ehrlich ge-sagt nicht nachvollziehen, warum es einem Unternehmerso wichtig sein soll, in einem anderen EU-Land eine Ge-sellschaft zu gründen, ohne auch nur ein einziges Maldort persönlich anwesend zu sein. Wenn es so wichtigist, dort ein Tochterunternehmen zu gründen, dann istdas doch Anlass genug, wenigstens einmal vor Ort ge-wesen zu sein, selbst wenn das Geschäftsmodell nur di-gitale Präsenz erfordert. Sicherlich gibt es viel zu vieleReisen zu irgendwelchen Meetings weltweit, die mandurchaus reduzieren kann. Die Gründung eines Unter-nehmens als Reisegrund empfinde ich persönlich abernicht wirklich als übertriebene Bürokratie.Ich komme zum nächsten Kritikpunkt. Das Mindest-stammkapital der SUP – spricht man es englisch aus,denkt man schon wieder an irgendwelche Fahrzeuge; dasGanze heißt aber auf Latein „Societas Unius Personae“;man spricht in Europa also wieder Latein – beträgt nur1 Euro. Anders als bei einer GmbH nach deutschemRecht gibt es bei der SUP auch keine Pflicht, finanzielleRücklagen zu bilden. Gleichwohl ist die Haftung auf dasGesellschaftervermögen begrenzt. Das ist eine Schief-lage, und man fragt sich, wo da Gläubigerschutz undVerbraucherschutz bleiben.
Der Kompromissvorschlag des Rates vom 7. April siehtjetzt die Möglichkeit vor, dass eine weiter gehende Re-gelung zum Stammkapital durch nationale Gesetze ge-schaffen werden kann. Das ist zwar ein Fortschritt, aberdennoch wäre es wohl notwendig, dieses Erfordernis eu-ropaweit vorzusehen.Der härteste Kritikpunkt allerdings ist, dass die SUPsihren Satzungssitz nicht am selben Ort haben müssenwie ihren Verwaltungssitz. Eine GmbH, die nach deut-schem Recht mitbestimmungspflichtig wäre, erhält sodie Möglichkeit, sich durch die Umwandlung ihres Un-ternehmens in eine SUP den in Deutschland geltendenMitbestimmungsregeln zu entziehen. Eine solche Aus-höhlung der Mitbestimmung ginge zulasten der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer. Das dürfen wir nichtzulassen. Und ich bin beruhigt, dass die Koalition dasauch so sieht.
– Da können Sie auch klatschen! Auch wir finden, dassdie Bundesregierung den jetzt vorliegenden Entwurf ab-lehnen sollte, und werden daher ihrer entsprechendenStellungnahme zustimmen.Trotzdem noch ein Wort zum parlamentarischen Ver-fahren. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Habarth.Jeden Freitagmorgen sitzen wir gemeinsam in unseremUnterausschuss Europarecht und beraten in aller Sach-lichkeit europäische Vorhaben. Oft genug sind wir unsdort bei der Bewertung der Sache über Kritikpunkte ei-nig und haben auch in der Vergangenheit gemeinsameinterfraktionelle Stellungnahmen gegenüber der Bundes-regierung verfasst und beschlossen. Dass Sie von derUnion die Linken bei Anträgen immer wieder ausschlie-ßen, ist ja schon peinlich genug. Diesmal aber haben Siedie Opposition insgesamt – angeblich aus Zeitdruck –nicht einmal ansatzweise mit eingebunden. Dafür habeich kein Verständnis. Sie hätten uns zu Beginn dieserWoche noch kurzfristig fragen können, ob wir dabei seinwollen. Sie hätten uns auch vorher in Ihre Überlegungeneinbinden können.Hier mag es vielleicht niemanden interessieren, aberinternational dürfte eine Stellungnahme des Gesamtpar-lamentes doch wohl mehr Eindruck machen als die einerRegierungskoalition, auch wenn sie 80 Prozent aus-macht. Also nächstes Mal, bitte!Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Dr. Volker Ullrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Wachstumsstrategie „Europa 2020“ sieht auch die För-derung von kleinen und mittelständischen Unternehmenvor. In diesem Geiste ist auch die Richtlinie der Europäi-schen Union zur Einpersonengesellschaft zu sehen.
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9882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Volker Ullrich
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Die Mehrheit dieses Hohen Hauses sagt klar unddeutlich: Diese Richtlinie wird den Zielen der Förderungvon kleinen und mittelständischen Unternehmen nichtgerecht. Deswegen lehnen wir sie in dieser Form ab.
Wir müssen uns fragen, ob es tatsächlich dem Rechts-und dem Geschäftsverkehr dienlich ist, wenn Unterneh-men ohne Notartermin und ohne Haftungskapital auf ei-nem simplen Onlineweg gegründet werden können. Ichdenke, Europa braucht keine Rechtsform, die anfällig fürMissbrauch – Geldwäsche, Steuerhinterziehung undmöglicherweise auch Terrorismusfinanzierung – ist, son-dern eine Rechtsform, die sich letztendlich auf Rechts-sicherheit und Rechtsklarheit stützt. Deswegen wäre diebessere Alternative keine SUP, die der Idee der ur-sprünglich britischen Limited nachempfunden ist, son-dern eine Europäische Privatrechtsgesellschaft, derenHaftungssystem dem der deutschen GmbH entspricht.Wenn Sie sich in den Innenstädten Deutschlands be-wegen und ein Unwohlsein empfinden, wenn Sie einen1-Euro-Shop sehen, dann müssen Sie auch im Rechts-verkehr Unbehagen empfinden, wenn Sie Gesellschaftengegenüberstehen, die lediglich 1 Euro Haftungskapitalhaben. Das bringt doch weder den Geschäftsverkehrnoch die Unternehmen voran.Wir müssen uns auch fragen lassen, ob die Europäi-sche Kommission bei der Wahl des Rechtskreises undder Rechtstradition, in der gesellschaftsrechtliche Ver-änderungen vorgenommen werden, den richtigen Wegeinschlägt. Sicherlich sollten Rechtsinstitute, die aufeuropäischer Ebene entstehen sollen und die von der Eu-ropäischen Union geschaffen werden, nicht auf denRechtsgrundsätzen eines einzigen Landes begründetwerden; das ist gar keine Frage. Auch Rechtsgrundsätzeaus Kontinentaleuropa, aus Deutschland sind nicht im-mer der Weisheit letzter Schluss. Aber ich glaube, beider Konstruktion von Gesellschaftsformen kommt es aufVertrauen und auf Rechtssicherheit an. Vertrauen undRechtssicherheit schaffen Sie mit Haftungskapital, ei-nem Notartermin und letzten Endes auch durch die Pu-blizität des Handelsregisters. Davon sollten wir nicht ab-weichen.Die Europäische Union hat die sogenannte Europäi-sche Aktiengesellschaft geschaffen. Diese ist der deut-schen Aktiengesellschaft nachempfunden: mit Hauptver-sammlungen, mit Haftungskapital, mit Vorstand undAufsichtsrat, und sie hat sich bewährt. Gerade weil sichdie Europäische Aktiengesellschaft bewährt hat, sollteman auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Ge-sellschaftsform wählen, die ein solches Haftungsdachhat und Vertrauen weckt.Deswegen ist es richtig, dass der Bundestag sich mitdieser Resolution dafür ausspricht, die SUP als nicht ge-eignet einzustufen, und gleichzeitig einen Lösungswegaufzeigt, nämlich eine europäische Privatrechtsgesell-schaft, die die Lücke hinter der Aktiengesellschaftschließt, die damit zur Rechtseinheit in Europa beiträgtund für unsere Unternehmen, die exportieren und euro-paweit tätig sein wollen, einen geeigneten Rahmenschafft. Deswegen plädiere ich für die Annahme dieserEntschließung.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Waltraud
Wolff das Wort.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Zunächst ein Dankeschön an die Rechtspolitiker meinerFraktion dafür, dass ich als Sozialpolitikerin zu diesemThema reden darf. Die Mitbestimmung ist ja in weitenTeilen damit befasst.Nach deutschem Recht ist es so, dass Unternehmenmit mehr als 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat bildenmüssen; darin müssen ein Drittel Arbeitnehmervertretersein. Damit stellen wir in Deutschland Mitbestimmungsicher. Bei Betrieben mit über 2 000 Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern muss der Aufsichtsrat pari-pari besetztsein, also zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern.Aber immer mehr Unternehmen entziehen sich dieserVerpflichtung, indem sie ausländische Rechtsformen nut-zen. Inzwischen sind in Deutschland circa 200 000 Be-schäftigte davon betroffen. Absolut gesehen mag das einkleiner Teil sein; aber die Zahl wird immer größer. Siekönnte auch noch deutlich ansteigen, nämlich wenn dieEinpersonengesellschaften so kommen, wie in der EU-Richtlinie vorgeschlagen.Wir sind gegen Scheinfirmen, wir sind gegen Brief-kastenfirmen, aber wollen auf europäischer Ebene einersolchen Richtlinie zustimmen? Ich glaube, die heutigeDebatte hat gezeigt: Wir alle wollen das nicht.Die Kommission will diesen Gesellschaften unbe-schränkt die Möglichkeit geben, Satzungs- und Verwal-tungssitz auf verschiedene Mitgliedstaaten aufzuspal-ten. Also: Ich nehme 1 Euro Einlage, melde im Internetmeine Firma an und wähle meinen Sitz in einem Mit-gliedstaat, dessen Wirtschafts- und Sozialsystem die ge-ringsten Anforderungen stellt, Mitbestimmung inbegrif-fen. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht!
Deshalb stärken wir der Bundesregierung den Rücken.Als Parlament sagen wir, dass diese Richtlinie nur zu-stimmungswürdig ist, wenn in weiteren Verhandlungendas Verbot der Sitzaufspaltung erreicht wird. Das istauch in diesem Haus Konsens.Ich erwarte noch etwas mehr von der Bundesregie-rung. Ich erwarte, dass sie in den Verhandlungen auchandere Länder davon überzeugt, zu dieser RichtlinieNein zu sagen; denn jetzt ist es noch möglich, nach al-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9883
Waltraud Wolff
(C)
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tem Recht abzustimmen und eine sogenannte Sperrmi-norität zu erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keinemitbestimmungsfreien Zonen für Unternehmen mit aus-ländischer Rechtsform. Ich sage das so deutlich, weilMitbestimmung in unserem Land ein sehr hohes Gut ist.Das wollen wir nicht preisgeben.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vor-
schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter
Haftung mit einem einzigen Gesellschafter; hier: Stel-
lungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Arti-
kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4843, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz schaffen – Tierhaltungskenn-
zeichnung für Fleisch einführen
Drucksache 18/4812
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Tierschutz bewegt die Menschen in unserem Land. Über95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wünschen sichmehr Tierschutz, wünschen sich, dass Tiere artgerechtgehalten werden. Über 80 Prozent wünschen sich, dassdie Politik dafür klare und verbindliche Regelungenschafft, und das ist gut so.
Vieles von dem, was in unseren Ställen und in denSchlachthöfen passiert, können wir ethisch nicht mehrvertreten: Hühnchen, die am Ende ihres kurzen Lebensnicht mehr aufrecht stehen können; Schweine, die aufVollspaltenböden gehalten werden und die die Sonne nureinmal kurz auf dem Weg zum Schlachthof sehen, oderQualzuchten wie die berüchtigten Big-6-Puten, von de-nen kaum ein ausgewachsenes Tier noch normal stehenkann.
Dafür gibt es keine gesellschaftlichen Mehrheiten in die-sem Land, und das ist gut so.
An dieser Stelle sind nicht die Verbraucherinnen undVerbraucher gefragt, sondern an dieser Stelle sind wirgefragt, da ist der Minister gefragt, klare Kante gegenTierquälerei zu zeigen.Wir haben erst kürzlich den Bericht des Wissenschaft-lichen Beirats für Agrarpolitik vorgelegt bekommen. Dahaben Ihnen die Gutachter auf 400 Seiten einiges aufge-schrieben. Ein Zitat gleich am Anfang möchte ich Ihnennicht vorenthalten: Die derzeitigen Haltungsbedingun-gen eines Großteils der Nutztiere sind nicht zukunftsfä-hig. – Das ist für uns in der Politik ein Handlungsauf-trag. Aber wir wissen, dass die Verbraucherinnen undVerbraucher uns hier unterstützen.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen undkönnen ihren Teil zu mehr Tierschutz beitragen. Sie wol-len Bauern unterstützen, die mehr tun. Sie wollen Händ-ler unterstützen, die mehr tun. Sie würden auch mehrPlatz, mehr Beschäftigte und eine artgerechtere Haltungfür Kühe, Schweine und Hühner finanziell honorieren.Verbraucherinnen und Verbraucher sind aber von derVielzahl an Labeln, Siegeln und Werbeversprechungenverwirrt. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. Des-halb sagen wir: Wir brauchen eine klare gesetzlicheKennzeichnung zum Thema Tierwohl.
Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag eine Haltungs-kennzeichnung für Fleisch mit vier einfachen Stufen – 0,1, 2 und 3 – vor, die klar darüber Auskunft gibt, wie dasTier gehalten wurde, von dem das Fleisch stammt.
Die Erfolgsgeschichte der Eierkennzeichnung solltenwir an diesem Punkt wiederholen. Bei den Frischeiernkann doch jeder entscheiden, ob er Eier aus Bodenhal-
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9884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Nicole Maisch
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tung, Freilandhaltung oder biologischer Haltung kaufenwill. Bei den Eiern haben wir doch klar gesehen: DieVerbraucherinnen und Verbraucher haben die Käfigeierin den Regalen liegen lassen. Die wollten keine Tierquä-lerei. Die haben sich mit dem Einkaufskorb für mehrTierschutz entschieden.
Wir möchten das ausweiten. Mit der Fleischkenn-zeichnung ist es den Verbraucherinnen und Verbrauchernmöglich, dem Schnitzel oder Steak aus industriellerMassentierhaltung die Rote Karte zu zeigen. Das gefälltvielen in der Union vielleicht nicht,
aber das ist das, was wir wollen: die Verbraucherinnenund Verbraucher ermächtigen, an der Ladentheke mitdem Einkaufskorb Politik für Tierschutz zu machen.
Wir sind mit unserer Idee nicht alleine. Die Bundes-länder arbeiten seit Monaten an einem Modell. Da sindauch CDU-mitregierte Länder dabei. Da sind alle derhier vertretenen parteipolitischen Farben dabei. Wirwünschen uns aber, dass der Bundeslandwirtschaftsmi-nister Rückenwind für diese Idee gibt. Der muss sichjetzt nämlich mal entscheiden, ob er Tierschützer seinwill oder der Schutzpatron der industriellen Massentier-haltung. Alles gleichzeitig geht nicht.
– Ja, er muss mal Farbe bekennen.
Wir sagen: Tierschutz ist eine Frage der Haltung. Hal-tung kann man nicht nur auf Broschüren zeigen, sonderndie muss man jetzt auch mal beweisen. Hier ist ChristianSchmidt gefragt.
Der Kollege Alois Rainer hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir reden heute über den Antrag „Transpa-renz schaffen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleischeinführen“.
Das hört sich im Grunde genommen gar nicht soschlecht an.
Wenn man aber genauer nachschaut, stellt man fest:
Das ist wieder ein Antrag, der vom Antragsteller ideolo-gisch geprägt ist. Das zeigen Ihre Begründungen. Ichkomme zu einer völlig anderen Interpretation. Sie zitie-ren Studien, nennen Zahlen und sprechen dann von Irre-führung des Verbrauchers.
Wenn Sie schon zitieren – ich komme hier gern auf dievon Ihnen genannte Umfrage von TNS Infratest zurück –,dann nennen Sie bitte die gesamte Wahrheit und verges-sen Sie nicht, zu erwähnen, dass gerade die Verbrauche-rinnen und Verbraucher, die Sie in Ihrem Antrag anspre-chen, in der Umfrage bekannt gaben, dass sich ihrVertrauen in tierische Lebensmittel deutlich verbesserthat,
und das komplett ohne ein neues, zusätzliches Label.
Wir machen die Landwirtschaft bzw. die Ernährungs-wirtschaft nicht interessanter, wenn wir ein zusätzlichesLabel einführen. Wir haben derzeit bereits über 150 Sie-gel, Label oder Gütesiegel in Deutschland. Ich denkenicht, dass ein weiteres Siegel zur jetzigen Zeit das ge-eignete Mittel ist, um den Verbraucher aktiv am Tier-wohl zu beteiligen. Vielmehr sollten wir die Ergebnisseder von Bundesminister Schmidt initiierten Tierwohl-Offensive abwarten und dann sehr gern konstruktiv da-rüber diskutieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich binnicht gegen Innovationen oder Veränderungen, aber ichhabe etwas gegen voreilige Entscheidungen und Ent-schlüsse. Vor allem bin ich gegen Panikmache und ge-gen Schwarzmalerei.
Denn das sorgt meistens nur für Verunsicherung undMisstrauen. Wenn wir die gesellschaftliche Akzeptanzfür die Nutztierhaltung in Deutschland nachhaltig verän-dern wollen, dann müssen wir – das ist okay – über Tier-wohl reden. Neben den ethischen dürfen wir aber auchdie wirtschaftlichen Aspekte nicht vergessen. Deshalbbrauchen wir eine praxistaugliche, ökonomische, aberauch tragfähige Lösung. Wir brauchen eine gute Balancezwischen Ökonomie und Ökologie und keine weitereEinschränkung, die den Bürokratie- und Kontrollwahnnur weiter verstärkt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9885
Alois Rainer
(B)
Die Verbraucher müssen über die landwirtschaftlicheNutztierhaltung wahrheitsgemäß aufgeklärt werden. Dieständigen Verunsicherungen und Verleumdungen brin-gen hier gar nichts; denn es ist schlichtweg falsch, zu sa-gen, dass Tiere in größeren Haltungen grundsätzlich we-niger Platz haben als in kleinen. Es ist auch falsch, dasses den Tieren in größeren Haltungen generell wenigergut geht. Es ist ebenso falsch, Betriebe mit größerenTierzahlen als Massentierhaltung abzustempeln, zumalder Begriff der Massentierhaltung weder definiert nochzielführend ist.
Das Wohlbefinden von Nutztieren hängt in der Regelnicht davon ab, ob jemand 100 oder 1 000 Tiere hält, eshängt meines Erachtens davon ab, wie ein Betrieb ge-führt wird und wie es jedem einzelnen Tier geht. Eshängt auch davon ab, wie die Tiere beobachtet und ver-sorgt werden. Das müssen die Verbraucher erfahren. Ei-nes noch dazu: So nachhaltig wie wir – und auch Sie –mit unserem Kapital umgehen, so nachhaltig und für-sorglich – das können Sie mir glauben – geht ein Land-wirt mit seinem Kapital um, und das sind bei einemviehhaltenden Landwirt nun einmal die Nutztiere.
Noch eines sollten wir ehrlich sagen: Höhere Ansprü-che an Erzeugungsbedingungen verursachen höhereKosten. Wenn die Bereitschaft der Verbraucher, für mehrQualität auch mehr Geld auszugeben, nicht vorhandenist, bleiben die Erzeuger auf den Mehrkosten sitzen. Dasist mit uns so nicht möglich.Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zuIhrer geforderten Agrarwende sagen. Ja, die Landwirt-schaft befindet sich in einem ständigen Wandel. DiesenWandel müssen und sollen wir auch aktiv begleiten,ohne dabei die Produktionen durch noch größere büro-kratische Hindernisse und eine übertriebene Regulie-rungs- und Kontrollwut einzuschränken. Ihre Ideen undIhre Vorschläge sind meines Erachtens immer noch reinePolemik und dienen nur der Verunsicherung der Men-schen in unserem Land.Hören Sie deshalb endlich auf mit diesen ständigenVorwürfen, hören Sie endlich auf mit dieser Schwarz-Weiß-Malerei! Das ist nicht gut, das ist keine vernünf-tige Politik, das ist Politik von gestern, und die brauchenwir nicht.
Die Kollegin Karin Binder hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Verbrau-cherschutz und Tierwohl sind nicht nur eine Frage derHaltung. Ein Teil des Problems liegt auch in der Fleisch-industrie und im Lebensmitteleinzelhandel, die beideden Landwirten immer weniger Geld für Erzeugnissewie Fleisch, Milch oder Eier zugestehen. Rohproduktewerden zu Dumpingpreisen weltweit eingekauft, und da-bei werden viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnensystematisch ausgebeutet.Dabei entscheidet gerade die Haltungsform von Tie-ren wesentlich über die Qualität des Fleischs oder dertierischen Produkte, die auf unseren Teller kommen.Massentierhaltung, Antibiotika, Pestizide, Gensoja oderNitrat im Trinkwasser – da könnte einem schon einmalder Appetit vergehen. Immer mehr Verbraucherinnenund Verbraucher haben das satt.
Sie sehen nicht nur auf den Preis, sondern auch darauf,unter welchen Bedingungen Fleisch, Milch und Eier er-zeugt werden, also unter welchen Bedingungen die Tiereihr Leben leben.Dazu gehört nicht nur, dass der Werbetext und dieBilder mit dem Inhalt des Produktes übereinstimmenmüssen. Darum ist das Verbraucherschutzportal www.lebensmittelklarheit.de unverzichtbar, um Tricks undTäuschungen bei Lebensmitteln zu unterbinden.
Gerade bei Fleisch gilt: Nur wer Informationen zurHerkunft und zur Tierhaltung lückenlos offenlegt, nimmtVerbraucherschutz wirklich ernst. Doch schon bei derFrage nach der Herkunft des Fleisches legen sich Her-steller und Bundesregierung quer: Die Frage nach demUrsprungsland soll den Verbraucher bei Fleischsalat, La-sagne oder Döner nichts angehen. Angeblich seien dieKosten für eine solche Verbraucherinformation zu hoch.Ich sage: Wer seine Lieferkette kennt, muss wederKosten noch Verbraucher, noch Pferde- oder Gammel-fleisch fürchten.
Das EU-Parlament fordert deshalb zu Recht eine ver-pflichtende Herkunftskennzeichnung für verarbeitetesFleisch. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen istdieser Schritt das Mindeste, um das Vertrauen der Ver-braucherinnen und Verbraucher wiederherzustellen.
Eine vollständige Rückverfolgbarkeit bei der Fleischpro-duktion trägt maßgeblich dazu bei, Lebensmittelskan-dale zu verhindern oder zumindest aufzudecken. 90 Pro-zent der Verbraucherinnen und Verbraucher halten eineUrsprungsangabe für notwendig, damit sie selbstbe-stimmte Kaufentscheidungen treffen können.Der Vorschlag der Grünen zur Kennzeichnung derTierhaltungsform ist im Grundsatz zu begrüßen, aller-dings bleiben noch viele Fragen offen:Wie können die Haltungsformen für Rinder,Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten imEinzelnen unterschieden werden? Wir brauchen Defini-tionen.
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9886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Karin Binder
(C)
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Wie sollen bestehende Tierschutzlabel wie „Neu-land“, „Biopark“, „Demeter“, das Tierschutzlabel desDeutschen Tierschutzbundes oder auch die Tierwohl-Ini-tiative des Ministers eingeordnet werden?Warum soll nur Frischfleisch gekennzeichnet werden,während bei der Ursprungskennzeichnung und bei Eierneine Ausweitung auf verarbeitete Produkte gefordertwird?Sollten nicht auch Milch bzw. Milchprodukte einbe-zogen werden, bei denen die Verbraucher ebenfalls mehrTierschutz fordern? Ich denke, die Milchviehhaltung istsicherlich auch eines unserer Themen.Es reicht uns nicht, darauf zu hoffen, dass eine Bund-Länder-Kommission irgendwann einmal passende Er-gebnisse liefert. Ich glaube, wir sind auch hier gefordert,möglichst rasch für Veränderungen zu sorgen. Auchmüssen wir klären, wie sich die Verbraucherinnen undVerbraucher im wachsenden Schilderwald der Lebens-mittelkennzeichnungen zurechtfinden sollen. Mehr Klar-heit ist wünschenswert und notwendig, damit Tierwohlund Verbraucherschutz zu ihrem Recht kommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Christina Jantz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es ist rich-tig: Wir müssen wirklich transparent machen, wieFleisch erzeugt wird, wie die Nutztiere tatsächlich gehal-ten werden. Da stammen Abbildungen auf den Wurst-oder Fleischverpackungen doch eher aus einer Traum-welt als aus dem wirklichen Leben eines Schweins odereines Mastrindes. Teilweise sind sie gar absurd; mandenke nur an das Schwein aus der Werbung mit derGrillzange in der Hand und der Schürze um den Bauch!
Hier wünsche ich mir deutlich mehr Ehrlichkeit von derFleischindustrie.Aus diesem Grund begrüße ich den Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen.
Er greift ein wichtiges Thema auf: die Tierhaltungskenn-zeichnung. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben unsbereits mehrfach für eine transparente, klare und ver-bindliche Kennzeichnung ausgesprochen, die zum einennatürlich dem Tierschutz bzw. der artgerechten HaltungRechnung trägt und zum anderen die Landwirte bei ihrenBemühungen um mehr Tierschutz im Stall auch adäquatunterstützt.Leider leistet die Branchenlösung, initiiert vom Bau-ernverband und vom Einzelhandel, dies genau nicht.Hier vermisse ich die Verlässlichkeit für die Landwirteund die Klarheit für die Konsumenten.
Die Landwirte müssen beispielsweise mit mehrerenZehntausend Euro in Vorleistung gehen und ihre Ställeumbauen. Vor Ort, in persönlichen Gesprächen in denLandkreisen – bei mir zu Hause in Osterholz und Verden –erzählen sie mir natürlich von ihren Sorgen, ihren Exis-tenzängsten, von der Ungewissheit. Sie wissen nicht, obdie Investitionen, die sie tätigen, tatsächlich gedecktwerden, ob ihr Engagement aus dem Fonds gefördertwird. Leider sieht die Realität zurzeit nicht gut aus.Natürlich kann man sich funktionärsseitig freuen,dass die Nachfrage so groß ist. Doch was hilft es, wennden Anträgen nicht Rechnung getragen werden kann?
Nach aktuellen Berichterstattungen wird nicht einmaldie Hälfte der Antragsteller berücksichtigt. Hier werdenwertvolles Vertrauen, so finde ich, und Engagement ver-spielt.
Zudem kann der Kunde an der Fleischtheke nicht erken-nen, ob er nun Fleisch von Tieren aus artgerechter Hal-tung kauft oder nicht.
Aber genau dies fordert er, meine Damen und Herren.Das Beispiel der erfolgreichen Kennzeichnung vonEiern zeigt, dass eine klare, verbindliche Kennzeichnungfunktioniert. Sie entfaltet die gewünschte Wirkung, undder Handel kann seiner Verantwortung tatsächlich ge-recht werden. Leider ist diese Kennzeichnung nicht ver-bindlich bei Lebensmitteln und Produkten, die Eier alsZutat enthalten. Ich finde, hier haben wir absolut nochNachbesserungsbedarf.
Meine Damen und Herren, in seinem Gutachten„Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztier-haltung“ präsentiert der Wissenschaftliche Beirat fürAgrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährungund Landwirtschaft seine Ergebnisse, und sie sprecheneine klare Sprache. Die Gesellschaft, die Bevölkerungerwartet umfassende Verbesserungen der Haltungsbedin-gungen, mehr Transparenz bei der Lebensmittelkenn-zeichnung und die Einführung eines staatlichen Labels.Ich bin davon überzeugt, dass nur eine verbindliche, un-abhängige Kennzeichnung dazu führen kann, dass das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9887
Christina Jantz
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Vertrauen in Labels gestärkt wird und dass die Landwirtewirtschaftlichen Erfolg und artgerechte Tierhaltung mit-einander verbinden können.
Zurzeit sind die Erzeugerpreise leider so niedrig, dassden Landwirten oftmals die Hände gebunden sind; siemüssen die Tiere teilweise unter unsäglichen Bedingun-gen halten. Es bestehen keine Spielräume für eine tierge-rechtere Haltung. Eine differenzierte Kennzeichnungkann hier nur positive Effekte haben. Durch Label kön-nen Tierschutzmaßnahmen konkret entlohnt werden.
Als Sozialdemokratin ist mir zudem wichtig, dass wirdas Thema differenziert betrachten, dass wir Tierschutznicht ohne Landwirte und nicht ohne Konsumenten den-ken; denn nur dann, wenn wir die Interessen zusammen-führen, kommen wir zu tragfähigen Lösungen und hin zumehr Tierschutz. Genau diese Betrachtung allerdingsvermisse ich in Ihrem Antrag; insbesondere vermisse ichden sozialen Aspekt. Zwar sehe auch ich die erfreulicheBereitschaft in der Bevölkerung, für gute Lebensmittelmehr zu zahlen; jedoch muss eine Balance in der Preis-gestaltung gefunden werden. Tierschutz und der Kaufvon Fleischprodukten von Tieren aus artgerechter Hal-tung dürfen kein Luxusgut sein.
Gutes Essen aus artgerechter Tierhaltung darf nicht nurden Besserverdienenden vorbehalten sein.
Wir brauchen ein System, das diese Aspekte berücksich-tigt und den Standard insgesamt anhebt.Das Nutztiergutachten skizziert einen Weg, den wiraufgreifen und entwickeln müssen. Zudem sollten wirauf die Erfahrungen des Deutschen Tierschutzbundesmit seinem Label zurückgreifen. Ich erwarte die Unter-stützung aus dem Landwirtschaftsministerium – ichfreue mich darauf –, wenn wir uns als Parlament, alsFachpolitiker nun auf den Weg machen, das Nutztiergut-achten konkret aufgreifen und versuchen, in die Umset-zung zu gehen.
Meine Damen und Herren, die SPD wird auch weiter-hin daran arbeiten, ein verbindliches Label zur klaren,transparenten Kennzeichnung von artgerecht produzier-tem Fleisch zu entwickeln. Von ihm müssen die Land-wirte und selbstverständlich auch die Tiere profitieren,und durch moderate Preise muss es den Rückhalt bei denVerbraucherinnen und Verbrauchern genießen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Johannes Röring das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-legen! Die Grünen stellen seit September 2014 zum vier-ten Mal den Antrag, eine Kennzeichnung für Fleisch ein-zuführen. Damit wird es nicht besser. In der Praxiserkennt man, dass vieles so nicht möglich ist.
Aber, liebe Kollegen, Sie geben mir dadurch die Gele-genheit, über das Tierwohl zu sprechen. Schon deswe-gen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie diesen Antrag einge-bracht haben.Ich kann berichten, mit welch großer Empathie sichdie Landwirte täglich um ihre Tiere kümmern, bei derPflege und Betreuung. Ich bin Herrn Minister Schmidtdankbar. Er ist heute nicht hier, aber Frau Staatssekretä-rin Flachsbarth wird es ihm berichten. Minister Schmidthat in vorbildlicher Weise Prozesse angestoßen, die weg-weisend sind.
Ich kann Ihnen berichten, dass die Wirtschaft diese An-stöße aufgenommen und ein neues System entwickelthat, bei dem eine enorme Zahl von Landwirten – das istkeine Nische – an einer Verbesserung des jetzt schon ho-hen Niveaus der Tierhaltung in Deutschland mitwirkenkann.
Der grüne Ansatz, Labels einzuführen – Sie forderndie Einführung eines weiteren Labels –, ist seit 30 Jahrenbekannt; aber er ist immer gescheitert. Verbraucher sindverunsichert. Deswegen bin ich dafür, dass wir nicht ingute und schlechte Bauern aufteilen, sondern das Niveauinsgesamt anheben.
Dann kommt es auch nicht mehr zu einer Stigmatisie-rung.
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9888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Johannes Röring
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Ich kann Ihnen berichten, meine Damen und Herren:Am 28. April ist die Frist für die Anmeldung zur erstenPhase der Tierwohl-Initiative ausgelaufen, und es wur-den sage und schreibe 25 Millionen Tiere angemeldet.Zum Vergleich: Das Tierschutzlabel des DeutschenTierschutzbundes umfasst 10 000 Tiere. Die Landwirtehaben 25 Millionen Tiere angemeldet, obwohl nur einkleiner Anreiz gesetzt wird. Das ist wegweisend. Es gehtnicht nur um Geld,
sondern die Bauern haben wirklich verstanden, dass hieretwas zu tun ist; sie gehen mit wirklich großem Engage-ment voran.Die Tierwohl-Initiative ist auch von Kollegin Jantzangesprochen worden. Ich möchte an alle Kollegen hierim Deutschen Bundestag den Aufruf richten, politischmitzuhelfen und dafür zu sorgen, dass wir keinen Land-wirt in Deutschland, der mitmachen will, vor der Tür ste-hen lassen; alle sollen die Möglichkeit zum Mitmachenbekommen.
Ich glaube, das Engagement einer solch großen Zahl vonLandwirten ist wichtig. Das ist weltweit einzigartig; dashat es noch nie gegeben.
Die Landwirte machen mit und verweigern sich nicht.Wir können viel über Labels, über das Bewusstsein derVerbraucher und darüber, was sie zu zahlen bereit sind,sprechen. Aber hier haben wir die Chance, gemeinsamauf den deutschen Lebensmittelhandel zuzugehen, ihnerstens dafür zu loben, dass er mitmacht, und ihmzweitens zu sagen: Da geht noch mehr. – Es könnten alleVertreter des deutschen Handels mitmachen; es sindnoch nicht alle dabei. Ich glaube, die Initiative ist ein gu-ter Ansatz, um sich bei diesem wichtigen Thema nichtzu entzweien, sondern mitzumachen.Ich komme auf den Antrag der Grünen zurück. Darinwird wieder von Labels gesprochen. Ich bin dafür, dasswir das Thema auf breiter Ebene nach vorne bringen.Die Initiative ist ein erster Ansatz.
Kollege Röring, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung?
Eine Frage? Ja, gerne.
Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich habe nicht das Problem, dass ich nicht reden darf.
Wir haben allerdings leider etwas weniger Redezeit, als
wir gerne hätten. – Kollege Röring, ich habe zwei Fra-
gen. Es führte ein wenig zu Verwirrung, dass Sie die
Tierwohl-Initiative mit Minister Schmidt verbanden.
Uns ist nicht bekannt, dass Minister Schmidt Teil der
Tierwohl-Initiative gewesen ist. Können Sie uns darüber
aufklären, wo er aktiv eingewirkt hat und wann er das
getan hat?
Zweite Frage: Wäre es dann jetzt nicht an der Zeit,
dass Minister Schmidt die Akteure des Lebensmittelein-
zelhandels an einen Tisch holt und gemeinsam mit uns
Agrarpolitikern versucht, hier etwas Schwung in die
Zahlungsbereitschaft des Handels zu bringen? Wäre das
nicht ein hohes Ziel, Herr Kollege Röring?
Ich darf feststellen, Herr Kollege Ostendorff: Sie
schalten sehr schnell. Ich habe gerade einen Aufruf ge-
startet, und Sie haben ihn, was die Frage angeht, ob wir
da gemeinsam die Initiative ergreifen können, jetzt
schon umgesetzt. Ich glaube, das sollten wir machen.
Ja, Minister Schmidt hat im Laufe des Prozesses deut-
lich dazu beigetragen, dass dieses Projekt, das in der Tat
seit über drei Jahren vorbereitet wird und ein wirkliches
Novum, einen Paradigmenwechsel darstellt – der Handel
spricht endlich mit den Bauern –, jetzt im Endspurt an-
gekommen ist. Seit knapp einem Jahr hat der Minister
immer wieder erheblich dazu beigetragen, dass dieses
Projekt am Ende gelingen konnte. Ich sage es mit großer
Freude: Wir sind begeistert, dass so viele Landwirte bei
der Tierwohl-Initiative mitmachen wollen. Noch einmal
der Aufruf an Sie alle: Lasst uns das gemeinsam anpa-
cken, damit alle Bauern mitmachen können.
Ich komme zum Schluss. Ich bin der Meinung: Tier-
wohl ist nicht teilbar. Es muss für alle Tiere auf allen
Bauernhöfen gelten. Wir müssen mit der Stigmatisierung
aufhören. Wir haben die große Chance, die Tierhaltung
in Deutschland merklich nach vorne zu bringen. Die
Landwirte bekommen diesen Mehraufwand zum ersten
Mal auch honoriert. Ich kann Sie alle nur noch einmal
aufrufen, mitzumachen. Der Antrag der Grünen sieht an-
deres vor. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9889
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4812 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungBeteiligung bewaffneter deutscher Streit-kräfte an der durch die Vereinten Nationengeführten Mission UNMIL in Liberia aufGrundlage der Resolution 1509 undnachfolgender Verlängerungsresolutionen desSicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu-letzt Resolution 2190 vom 15. Dezem-ber 2014 und der Resolution 2215 vom2. April 2015Drucksache 18/4768Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich gehe da-von aus, dass die lauten Debatten, die im Moment nochstattfinden, keinen Widerspruch zu dieser Vereinbarungbedeuten, und bitte, die notwendigen Umgruppierungenzügig vorzunehmen und die notwendige Aufmerksam-keit für die folgende Debatte herzustellen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Gabi Weber für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegenund Kolleginnen! Zunächst eine Feststellung: Ich habesieben Minuten, um in der Debatte zur Einbringung desMandats – es wird noch eine abschließende Debatte ge-ben – über ein Mandat zu sprechen, das maximal fünfSoldatinnen und Soldaten umfassen wird.Verstehen Sie mich nicht falsch: Unsere Rolle und dieRolle des Parlamentes insgesamt sind beim Einsatz be-waffneter deutscher Streitkräfte im Ausland entschei-dend, auch wenn es bloß um den Beschluss geht, einenstellvertretenden Befehlshaber inklusive persönlichemMitarbeiterstab zu entsenden. Allerdings sieht das Parla-mentsbeteiligungsgesetz für Fälle wie diesen andereMöglichkeiten vor, nämlich das vereinfachte Zustim-mungsverfahren. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der Linken, und trotzdem wollten Sie un-bedingt über diesen Einsatz debattieren.
Als Unterstützerin unserer Parlamentsarmee bin ichausdrücklich für eine umfassende Beteiligung des Deut-schen Bundestages beim Einsatz der Bundeswehr.Debatten wie diese relativieren aber aus meiner Sicht an-dere, sehr viel größere Einsätze der Bundeswehr, wasUmfang und Auswirkung betrifft, zum Beispiel in Mali,im Kosovo oder in Afghanistan. Andererseits gibt mirdas nun die Möglichkeit, verstärkt über nichtmilitärischeMaßnahmen zu sprechen, die Deutschland in Liberiadurchführt. Dafür dann doch vorab meinen herzlichenDank an die Damen und Herren der Linken.
– Danke!Seit Ende des Bürgerkrieges 2003 unterstützen dieVereinten Nationen Liberia beim Wiederaufbau. UNMILhat den Auftrag, Zivilpersonen zu schützen, humanitäreHilfsleistungen zu erleichtern und die Regierung bei derReform der Justiz- und Sicherheitsinstitutionen zu unter-stützen. Die Zahl der UNO-Soldaten und -Soldatinnenreduzierte sich in den vergangenen Jahren von 15 000auf nun 4 400, dazu 1 400 Polizistinnen und Polizisten.Ein Wermutstropfen an dieser Stelle: Bisher beteiligtesich Deutschland mit immerhin 5 Polizisten. Da würdeich mir eine stärkere Beteiligung unsererseits wünschen.Denn gerade Polizeiarbeit ist in Nachbürgerkriegslän-dern ein unglaublich wichtiger Beitrag.
Eines der größten Hemmnisse bei der Entwicklungdes Landes ist die zerstörte Infrastruktur.
– Danke für die Unterstützung an dieser Stelle. –Deutschland fördert besonders den Auf- und Ausbau vonStraßen und den Verkehrssektor insgesamt. Mit deut-scher Technik und gefördert durch die KfW entsteht zur-zeit ein Wasserkraftwerk, das Ende 2016 ans Netz gehensoll und die Stromkosten für die Menschen in Liberia er-heblich senken wird. Der nachhaltige und wirtschaftlichgünstige Betrieb wird in der Zukunft Mittel freisetzen,die anderenorts für einen weiteren Ausbau der Infra-struktur verwendet werden können. Hier machen wirsozusagen eine Entwicklungsförderung durch die Hin-tertür, die diesem Land tatsächlich helfen wird. Dies isteine gelungene Anschubfinanzierung zur Selbsthilfe.Seit letztem Jahr richtet sich das Hauptaugenmerk derdeutschen Entwicklungszusammenarbeit auf die Be-kämpfung der Ebolaepidemie in Liberia und den angren-zenden Staaten Westafrikas. Aufgrund dieser Epidemieging das Wirtschaftswachstum zurück. Die liberianischeRegierung rechnet mit Einnahmeausfällen in Höhe von25 Prozent des Haushalts. Stellen Sie sich das einmalhier bei uns in Deutschland vor. Ausländische Unterneh-men zogen ihr Personal sowie Investitionen ab. 46 Pro-zent der arbeitenden Menschen in Liberia verloren ihreArbeit, insbesondere in der Landwirtschaft. Sie wissengenau wie ich, dass die Aussaat auch aufgrund des Per-sonalmangels nicht rechtzeitig erfolgen konnte und indiesem Jahr erhebliche Ernteausfälle erwartet werden.Das heißt, zwölf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist
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9890 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Gabi Weber
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die Stabilität des Landes mehr durch die Folge der Epi-demie als durch die Folgen des Bürgerkriegs gefährdet.Das können wir so nicht zulassen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas zu vorsor-gender Gesundheitspolitik und internationaler Verant-wortung sagen. Liberias Gesundheitssystem ist wie dasder meisten Staaten der Region bereits ohne Ebola struk-turell unterfinanziert. Anfang vergangenen Jahres, alsovor dem Ausbruch der Ebolaepidemie, verlangte derIWF von Liberia eine striktere Sparpolitik. Laut einemBericht der Welt vom Dezember letzten Jahres führtedies zwangsläufig zu einer Reduzierung der Gesund-heitsausgaben. Ärzte konnten nicht mehr in ausreichen-der Zahl eingestellt und Krankenhäuser nicht mehr mitdem notwendigem Material ausgestattet werden. DasErgebnis auch davon war die Ausbreitung von Ebola indem jetzt bekannten Maß, die wir seither mit vereintenKräften zu bekämpfen versuchen. Der IWF musste fürseine strikten Anforderungen nachträglich erheblicheMittel aufwenden. Er stellte im September 130 Millio-nen Dollar zur Verfügung. So kann man nicht zielfüh-rend Entwicklungsarbeit machen, ein Land stabilisierenund Aufbauarbeit leisten. An dieser Stelle müssen wirwirklich überlegen, wie wir das zielführender und saube-rer machen können.Aufgrund der Bedingungen der Ebolaepidemie er-folgte der nun beschlossene Truppenabbau von UNMILein Jahr später als geplant. Trotzdem soll Liberia bis Juni2016 die gesamte Sicherheitsverantwortung im Landübernehmen. Mein Fazit: Notfalls steht das Militär imHintergrund und sorgt für Sicherheit und Stabilität.Besser und günstiger wären aber eine vorausschauendeEntwicklungszusammenarbeit, Wirtschaftspolitik sowiefaire europäische Handelspolitik, die an den richtigenStellen ansetzend erst gar keine Notwendigkeit für Mili-täreinsätze aufkommen lassen.Unserem Soldaten und seinem Stab wünsche ich vielErfolg und eine glückliche Hand. Diese Mission ist seitvielen Jahren sehr erfolgreich und wird es hoffentlichmit unserer Beteiligung bis zu ihrem Ende im nächstenJahr auch bleiben. Noch mehr hoffe ich allerdings, dasseine gute und verantwortungsvolle Entwicklungszusam-menarbeit für die Menschen vor Ort mehr erreichen kannals jedes Militär und damit nachhaltig faire und stabileZustände schafft. Daher – das ist mir wichtig – ist esdringend geboten – so viel zum Schluss –, dass Deutsch-land seine ODA-Quote auf 0,7 Prozent erhöht.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang
Gehrcke für die Linke das Wort.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin ja froh,dass ich zum Schluss Ihres Vortrags noch einen Punktgefunden habe, bei dem ich sagen kann: Ja, das sehe ichähnlich. – Auch ich will eine ODA-Quote von 0,7 Pro-zent; das ist schon längst fällig. Dazu könnten Regierungund Opposition ja einen gemeinsamen Antrag einbrin-gen.
Ich möchte nun aber ein paar Argumente vortragenund Sie bitten, darüber nachzudenken. Die erste Frageist: Warum präsentiert uns die Bundesregierung, einigeWochen bevor die Rühe-Kommission ihren Bericht, indessen Zentrum das vereinfachte Verfahren steht, vor-legt, hier einen Antrag, der im vereinfachten Verfahrenbeschlossen werden soll? Das vereinfachte Verfahren be-deutet ja: Es gibt keine Debatte im Plenum, und wennkeine Fraktion widerspricht, läuft das durch. Sie könnenuns gerne vorwerfen, dass wir zu falschen Schlussfolge-rungen kommen.
Aber werfen Sie uns nicht vor, dass wir blöd sind.Dass wir Ihnen jetzt das Argument an die Hand ge-ben, einem vereinfachten Verfahren zugestimmt zu ha-ben, bevor der Bericht der Rühe-Kommission debattiertworden ist, kann doch keiner ernsthaft von einer Opposi-tionspartei erwarten. Der Trick, im vereinfachten Ver-fahren das Mandat beschließen zu lassen – das haben Siein der Begründung selbst geschrieben –, zielt auf denBericht der Kommission und darauf, dass sich das Parla-ment festlegt. Mein Abwägungsprozess sieht so aus– unabhängig davon, ob es nur um einen oder zwei Sol-daten oder, wie in diesem Fall, um fünf Soldaten geht –:Die Entsendung jedes Soldaten wird hier im Plenum er-örtert und dann beschlossen oder abgelehnt. Das ist un-ser demokratisches Prinzip.
Damit werden wir uns auseinandersetzen müssen, wenndas Parlamentsbeteiligungsgesetz hier auf den Tischkommt. Man weiß ja mittlerweile, was da alles gelaufenist und abgesprochen wurde.Wir haben ganz andere Belange, über die man ja aucheinmal reden kann: Warum gibt es keine Bereitschaft,das Quorum im Plenum auf zwei Drittel zu erhöhen? Eswäre doch viel besser, wenn das Parlament Auslandsein-sätzen mit zwei Dritteln zustimmen müsste; denn dannhätte jeder eine größere persönliche Verantwortung. Wirwollen die Hürde anheben und sie nicht einreißen. Des-wegen lautet mein erster Punkt: Das vereinfachte Ver-fahren wird es in diesem Fall und in ähnlichen Fällen mituns nicht geben.
– Ja; ich weiß, dass es für Sie immer Blödsinn ist, wennes schwieriger werden soll, Soldaten ins Ausland zuschicken.
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Wolfgang Gehrcke
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– Ja, natürlich. Es geht alles, wenn man es will.Mein zweites Argument ist: Warum fängt die Bundes-regierung nicht an, in einer gewissen Logik bis zumEnde zu denken? Ich finde diesen Antrag ausgesprochenschlampig.
Die Begründung dafür, dass man das vereinfachte Ver-fahren anwenden möchte, beruht darauf, dass man sagt:Es gibt geringe Gefährdung und geringen Personalein-satz. – Gleichzeitig schreiben Sie aber, wie zerrüttet dasLand ist und dass dort 4 000 Soldaten im Einsatz sind,die befohlen werden sollen; es geht hier ja um einenhochrangigen Kommandeur. Beide Argumente stimmenalso nicht.
Die Gefährdungssituation ist hoch – es gibt keine Stabi-lität; sonst haut der Antrag nicht hin –, und der Umfangwird ganz erheblich sein, da Sie hier einen hohen Kom-mandeur stellen wollen. Das hätten wir auch vorher mit-einander klären können. Es ist ja mit Ihnen abgespro-chen worden, dass sich der Kollege bewirbt; darüberhätte man ja einmal reden können. Das alles hat abernicht stattgefunden.Es stimmt also weder die Aussage, dass es nur einegeringe Gefährdung gibt, noch die, dass der Personalein-satz unerheblich ist. Somit dürfte man aber nicht mitdem vereinfachten Verfahren operieren. Entwederstimmt also das eine oder das andere nicht. Deshalbfinde ich den ganzen Antrag außerordentlich schlampig.Ich würde hier gerne auch eine Debatte darüber füh-ren, warum solche Einsätze immer auf Grundlage vonKapitel VII der UN-Charta und nicht unter der Über-schrift „Blauhelmeinsatz“ durchgeführt werden. Ichhätte gern die Debatte geführt, ob nicht ein Blauhelmein-satz in dieser Situation angemessen gewesen wäre; dennangeblich gibt es ja keine oder nur eine geringe Gefähr-dung. Das wird aber nicht gemacht. Die Bundesregie-rung zieht durch. Es gibt in diesen Fragen keinen Wider-spruch. Für sie war Kapitel VII der UN-Charta dieGrundlage. Dann hat sie auch noch einen Trick ange-wendet und gefordert, dass wir, bevor der Bericht derRühe-Kommission vorliegt, dem vereinfachten Verfah-ren zustimmen sollen. Sie können aber nicht ernsthaft er-warten, dass eine Oppositionspartei auf so etwas herein-fällt.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Staatsse-
kretär Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung das
Wort.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In meiner schönen Heimatstadt Hattingen war in den70er-/80er-Jahren die DKP zehn Jahre lang im Stadtrat.Da waren wir Schwerpunktbezirk bei der Verteilung derParteizeitung.
– Ja, es war manchmal unterhaltsam, das zu lesen. Daswaren Berichte wie aus einer anderen Welt. Daran habeich mich erinnert gefühlt, als das Gründungsmitglied derDKP Gehrcke hier Ausführungen gemacht hat.
Ich finde, das Thema ist zu ernst, als dass man es indieser Weise behandeln sollte.
Die Ebolakrise ist uns allen ja noch in lebhafter Erinne-rung. Ihre verheerenden Folgen stellen Westafrika undspeziell Liberia auch heute noch vor große Herausforde-rungen. Es geht nicht mehr um einen Bürgerkrieg. Dieinstabile Lage aufgrund des Bürgerkrieges ist auch dankinternationaler Hilfe überwunden. Aber die Ebolaepide-mie ist laut Resolution 2177 des UN-Sicherheitsrates ausdem letzten Jahr eine Epidemie, die zu einer Bedrohungfür den internationalen Frieden und die Sicherheit ge-worden ist. Erstmals hat die Völkergemeinschaft festge-stellt, dass eine Krankheit auch eine sicherheitspolitischeDimension haben kann.Mir ist es deswegen ein ganz besonderes Anliegen,mich bei allen Freiwilligen für ihr Engagement und ihreBereitschaft, in dieser Ebolakrise für die betroffenenMenschen mit ihrem persönlichen Beitrag und auch fürunser Land einzustehen, ganz herzlich zu bedanken. DieMenschen verdienen unseren Dank und unseren Res-pekt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Gerade vor diesem Hintergrund verdient Liberia auchweiterhin unverändert unsere besondere Aufmerksam-keit.Das Land befindet sich nach Ende des Bürgerkriegs2003 und nach über einem Jahrzehnt intensiver Wieder-aufbau- und Stabilisierungsprozesse jetzt in einer wichti-gen Übergangsphase. Die Sicherheitslage ist dank derFriedensmission UNMIL der Vereinten Nationen in derTat seit Jahren relativ stabil.
Wichtige Erfolge wie die Durchführung demokrati-scher Wahlen in den Jahren 2005, 2011 und 2014 sindnicht zuletzt auch dank der unterstützenden Rolle dieserVN-Mission überhaupt möglich geworden.Das Hauptaugenmerk dieser Mission liegt derzeit aufder Unterstützung des Reformprozesses der Justiz- undSicherheitsinstitutionen, aber auch auf dem Schutz vonZivilpersonen. Die Unterstützung der humanitären Hilfe
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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und Förderung bzw. Schutz der Menschenrechte nehmenebenfalls eine zentrale Rolle ein.Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat darüberhinaus das Aufgabengebiet von UNMIL im letzten Jahrauf logistische Unterstützung im Ebolaeinsatz in Liberiaerweitert. Rund 4 500 Soldatinnen und Soldaten sowiecirca 1 500 Polizistinnen und Polizisten leisten durchzielorientierte Beratung und Unterstützung der liberiani-schen Regierung einen wichtigen stabilisierenden Bei-trag.Im Rahmen seines eigenen Mandates arbeitet UNMILzudem mit der Mission der Vereinten Nationen in der El-fenbeinküste bei der Stabilisierung auch des gemeinsa-men Grenzgebietes zusammen, eine Kooperation, die fürmoderne, multidimensionale VN-Missionen steht undals Blaupause auch für zukünftige Einsätze dienenkönnte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sicherheitsraterwartet, dass die Regierung Liberias spätestens EndeJuni nächsten Jahres die Sicherheitsverantwortung voll-ständig von UNMIL übernehmen wird. Die Mission gehtjetzt also in ihre entscheidende Zielphase. Da ist esschon eine Ehre für uns, dass unser Land am 2. Septem-ber letzten Jahres vom Sekretariat der Vereinten Natio-nen gebeten wurde, die Nominierung eines geeignetenKandidaten für den Posten des stellvertretenden militäri-schen Befehlshabers der UNMIL zu prüfen. Der von derBundesregierung daraufhin nominierte Bewerber konntesich durchsetzen, wie uns die Vereinten Nationen am15. April, also vor wenigen Wochen, offiziell mitgeteilthaben. Es ist derzeit beabsichtigt, zu seiner Unterstüt-zung zwei weitere Soldaten beizustellen. In der Tat:Über diese drei Soldaten reden wir jetzt hier in dieserAusführlichkeit.Lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben, dassdie Anfrage und die bewusste Entscheidung der Verein-ten Nationen für den deutschen Bewerber allein bereitseine Anerkennung unseres Engagements in VN-Frie-densmissionen ist. Die geplante militärische Beteiligungfügt sich ein in ein bereits bestehendes umfassendes En-gagement der Bundesregierung zur Stabilisierung diesesLandes. Von den Polizistinnen und Polizisten zum Auf-bau liberianischer Sicherheitsstrukturen ist bereits dieRede gewesen. Aber auch im Rahmen der deutschenEntwicklungszusammenarbeit unterstützen wir Liberiabereits seit dem Ende des Bürgerkrieges, also seit mehrals zehn Jahren. Flankiert wird dieses Engagement durchSondermaßnahmen und humanitäre Hilfspakete im Zugeder Ebolaepidemie und zur Linderung der Folgen. Sowar es erst durch internationale Unterstützung möglich,die Ebolakrise einzudämmen und die langfristige Kon-trolle der Epidemie einzuleiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum vereinfachtenVerfahren hat die Kollegin von der SPD bereits das Not-wendige gesagt. Dies ist in der Tat ein klassischer Falldafür. Wir haben eine vergleichsweise stabile Situation,aber durch die Ebolaepidemie eben eine neue Herausfor-derung. Wir reden über drei Soldaten. Aber gut, das wer-den wir aushalten, und die Argumente können wir gerneaustauschen.
Andere, die dort im Einsatz sind, leisten eine wirklichwichtige und ehrenwerte Arbeit. Gerade in Zeiten dieserKrankheit ist sie manchmal auch schwierig. Deren Ar-beit dort ist sehr anerkennenswert. Wir sind gerne bereit,auch darüber zu debattieren. Ob vereinfachtes Verfahrenoder nicht: Sie verdienen den Rückhalt dieses HohenHauses. Darum möchte ich Sie bitten.Herzlichen Dank dafür.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat HerrDr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Wolfgang Gehrcke, das vereinfachte Verfahrengibt es ja nun schon seit Jahren. Das muss also nicht neueingeführt werden. Insofern sollte man einfach immervon der Sache her beurteilen, ob das sinnvoll ist odernicht. Ich will einfach sagen: Da es im Kern darum geht,dass ein deutscher Offizier die Leitung einer sehr wichti-gen UN-Mission übernimmt und noch zwei bis vier Mit-arbeiter mitbringen darf, hätte meine Fraktion einemvereinfachten Verfahren zugestimmt, weil wir finden,dass das in der Tat ein Fall ist, bei dem man das tunkann.
Ich finde es aber überhaupt nicht schlimm, dass wirjetzt einmal Gelegenheit haben, eine halbe Stunde überdie Situation in Liberia zu diskutieren. Insofern hat dasGanze auch eine nützliche Seite; denn das Thema ver-dient dies schon.
Ich möchte deswegen auch noch einmal darauf hinwei-sen, warum wir diese Mission unterstützen wollen. Dashat mir bei Ihrem Beitrag ein bisschen gefehlt. Ich habeauch nicht ganz verstanden, ob die Linke die UNO undihre Arbeit in Liberia jetzt unterstützen will oder nicht.
Das ist ja eigentlich die politisch wichtige Frage.In Liberia hat 14 Jahre lang einer der schlimmstenBürgerkriege auf dem afrikanischen Kontinent getobt.Das war wirklich brutal. Und es war eine ganz große He-rausforderung für die UNO, dort 2003 nicht nur denWaffenstillstand zu stabilisieren – das war einer der we-nigen Fälle, wo so etwas einmal erfolgreich war –, son-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9893
Dr. Frithjof Schmidt
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dern auch die Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen. Des-wegen machte es in diesem Fall auch Sinn, aufKapitel VII der Charta der Vereinten Nationen zurückzu-greifen, weil man eine Entwaffnung nicht ohne Weitereshinbekommen hätte, wenn man nicht die entsprechendenMöglichkeiten dazu hat.Die UNO musste in diesem völlig zusammengebro-chenen Land alle Staatsaufgaben übernehmen, weil fastalle Strukturen zusammengebrochen waren. Das gingweit über das klassische Peacekeeping hinaus. Jetzt sindsie seit zwölf Jahren da, und nach diesen zwölf Jahrengibt es in der Bilanz natürlich Licht und Schatten. AuchUNMIL konnte die Korruption im Land nicht eindäm-men, und noch immer funktioniert vieles in Liberia nichtgut. Trotzdem muss man sagen: UNMIL war und ist eineder erfolgreichsten Missionen der Vereinten Nationen.
Es konnte eine stabile Staatsstruktur aufgebaut wer-den. Es ist wirklich gelungen, einen politischen Versöh-nungsprozess im Land anzustoßen; das ist eine großeLeistung. Das Ansehen der UN-Soldaten bei den Bürge-rinnen und Bürgern Liberias ist sehr hoch. Die politischeLage ist wieder stabil. 2005, 2011 und 2014 konntenWahlen durchgeführt werden, die das Wort „Wahlen“wirklich verdient haben, und mit Ellen Johnson Sirleafwurde 2005 auch die erste afrikanische Präsidentin ge-wählt.
Man kann also sagen: Es gibt dort eine demokratischeEntwicklung. Das ist mehr, als man über viele andereKrisenländer, in denen man interveniert hat, sagen kann.Deshalb unterstützt meine Fraktion diese UN-Missionwirklich nachdrücklich, und deshalb ist es auch richtig,dass sich Deutschland dort etwas stärker – so viel ist esja nicht, aber das will ich gar nicht weiter kritisieren –engagiert.
Man kann einfach festhalten: Liberia ist noch langenicht am Ziel. Justiz- und Sicherheitsreformen müssendurchgeführt werden. Der Wiederaufbau einer funk-tionsfähigen Polizei muss vollendet werden. HumanitäreUnterstützung ist weiterhin nötig. Wir haben bereits überdie Ebolakrise gesprochen. Dafür, dass man diese Epide-mie überhaupt einigermaßen in den Griff bekommenkonnte, war die Tatsache ganz zentral, dass UNMILstaatliche Strukturen wiederaufgebaut hatte und dortauch aktiv Hilfe geleistet hat. Auch in diesem Zusam-menhang ist diese Mission ungeheuer wichtig gewesen.UNMIL ist jetzt in einer entscheidenden Phase. Bis2016 soll die Sicherheitsverantwortung an die liberiani-sche Regierung übergeben werden. Von ehemals 15 000Soldaten sind jetzt noch etwa 4 500 im Land. Die Anzahlsoll weiter heruntergefahren werden. In dieser entschei-denden Phase hat die UNO einen deutschen Kandidatenfür die stellvertretende Leitung der Mission ausgewähltund bittet nun Deutschland, diesen und bis zu vier wei-tere Soldatinnen und Soldaten für die Arbeit in UNMILfreizustellen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut; undwenn wir der UN-Mission an zentraler Stelle helfen undsie stärken können, dann sind wir dafür.
Letzte Bemerkung. Wenn wir die vielen internationa-len Krisen sehen, dann ist für uns die Stärkung der Ver-einten Nationen auf allen Ebenen das politische Gebotder Stunde. Das gilt auch und gerade für den Peace-keeping-Bereich. Die UNO stellt immer wieder drän-gende Anfragen, und wir sollten unsere Fähigkeiten soaus- und umbauen, dass wir verstärkt helfen können. Füruns gehört das ins Zentrum der sicherheitspolitischenDiskussion. Ich empfehle meiner Fraktion nachdrück-lich, diesem Mandat zuzustimmen.Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Den Worten meines Vorgängers möchte ich michgerne anschließen; denn Herr Schmidt hat aus meinerSicht sehr gut deutlich gemacht, dass UNMIL eine dererfolgreichsten UNO-Missionen ist. Das zeigt, wie wich-tig es ist – wir diskutieren hier ja immer wieder überganzheitliche bzw. nachhaltige Auslandseinsätze undüber Lösungsansätze für schwierige Regionen wie die inAfrika –, dass man versucht, die Mittel zu kombinieren.Das betrifft Entwicklungszusammenarbeit und wirt-schaftliche Zusammenarbeit, aber auch finanzielle In-strumente, und letztendlich gehören dazu auch Polizei-maßnahmen – wir sind auch mit fünf Polizisten im Landaktiv – und militärische Maßnahmen, auch wenn sie indiesem Fall nur in sehr begrenztem Maße stattfinden.Ich bin Staatssekretär Brauksiepe besonders dankbar,dass er die Worte von Herrn Gehrcke, was den militäri-schen Charakter dieses Mandats angeht, richtig einge-ordnet hat. Der humanitäre Beitrag, den UNMIL leistet,ist nicht außer Acht zu lassen. Man sollte das aber nichtmit einem Kampfeinsatz verwechseln und so tun, als obes darum ginge, in einen Krieg zu ziehen. Das ist nichtder Fall. Diese Ihre Beschreibung, Herr Gehrcke, fandich genauso wenig passend wie die Tatsache, dass Siesich bei Verfahrensfragen aufgehalten haben. Aber da-rauf ist Herr Staatssekretär Brauksiepe bereits ausführ-lich eingegangen.Wir haben über das hinaus, was wir im Rahmen vonUNMIL leisten, sehr viel für die Entwicklung des
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9894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Philipp Mißfelder
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Landes getan, und zwar nicht allein im Rahmen der bila-teralen Entwicklungszusammenarbeit. So wurde imRahmen des Pariser Clubs die Entschuldung des Landesherbeigeführt – ein Beispiel für finanzielle Maßnahmen,die ich eben angesprochen habe. Man sollte nämlichnicht glauben, dass es möglich ist, ein Land nur durchSpenden oder einmalige Wohltaten auf den richtigenWeg zu bringen. Vielmehr muss man versuchen, auchdie fiskalischen Probleme in den Griff zu bekommen.Das ist mithilfe der internationalen Gemeinschaft ge-schehen.Die Präsidentin ist mittlerweile wiedergewählt wor-den; Herr Schmidt hat das bereits angesprochen. Diegroße Bewährungsprobe für afrikanische Länder ist – inGhana ist das sehr gut gelungen; Nigeria steht nun vordieser Herausforderung –, ob auch ein friedlicher Macht-wechsel gelingt. Ich würde die Funktionsfähigkeit vonDemokratien in Afrika also nicht nur an einer Wieder-wahl festmachen. Die Transition von der Opposition zurRegierung ist eigentlich der entscheidende Lackmustestdafür. Ich finde, dass Liberia auf einem guten Weg ist.Aber die letztendliche Entwicklung lässt sich heute nochnicht voraussehen.Es wurde bereits von mehreren Rednern angespro-chen: Zu Elend und Armut in diesem Land kam dieEbolakatastrophe als großes Unglück hinzu. Vor diesemHintergrund ist es notwendig, das Land weiterhin zu un-terstützen. Ich halte jeden für mutig, der bereit gewesenist, in die Ebolaregion zu gehen, seien es in diesem Falldie Angehörigen der Bundeswehr, die Polizeiangehöri-gen, unsere Entwicklungshelfer, die Menschen, die dortehrenamtlich tätig sind, oder die Vertreter des Auswärti-gen Amtes. Wir haben in dieser Region tatsächlich eineSituation, die sehr viel persönlichen Mut abverlangt,überhaupt dort hinzugehen. Deshalb möchte ich nichtnur für das Mandat werben und um Zustimmung in derweiteren Beratung bitten, sondern auch denjenigen dan-ken, die sich auf diesen schwierigen und mutigen Weggemacht haben.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4768 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unabhängige Historikerkommission zur Ge-
schichte des Bundeskanzleramtes einsetzen
Drucksache 18/3049
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle-
ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-
sprache. Als erster Redner hat Jan Korte für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Morgen, am 8. Mai, danken wir den Alliierten für dieBefreiung Europas von der Herrschaft des Haken-kreuzes. Wir gedenken der Opfer. Heute aber wollen wireinen Blick auf die Täter richten; denn diese prägtenmaßgeblich die Geschicke der frühen Bundesrepublik.Die frühe Bundesrepublik war geprägt von der Rück-kehr der alten Eliten in Staat, Wirtschaft, Militär und,besonders verheerend, in die Justiz; denn sie kehrtennicht nur zurück als Täter und Massenmörder, sondernsie prägten die Rechtsprechung in der Bundesrepublik,zum Beispiel bei der Gehilfenrechtsprechung. Selbst derAdjutant von Auschwitz, der an Vergasungen selber be-teiligt war, wurde nicht als Täter verurteilt, sondern alsGehilfe.In der Gesellschaft damals, bei der Masse der Bevöl-kerung dominierte Verdrängung. Die großen Sozial-psychologen Alexander und Magarete Mitscherlichnannten es „die Unfähigkeit zu trauern“. Erst durch mi-noritäre Gegenpositionen bewegte sich etwas. Ich denkedabei an Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbe-kenntnis, an Eugen Kogon und natürlich an den großarti-gen Fritz Bauer. Noch in den 50er-Jahren galt Stauffen-berg übrigens aufgrund seines Attentatsversuchs am20. Juli als Landesverräter bei den Eliten und weitenTeilen der Gesellschaft. Erst im Remer-Prozess führteFritz Bauer den brillanten Nachweis, dass ein Unrechts-regime wie der Nationalsozialismus gar nicht hochver-ratsfähig sein kann. Er brachte es auf die Formel: Un-recht kennt keinen Verrat.
Erst durch diese Gegenpositionen und viele andereänderte sich etwas. Ich erinnere an den vom hessischenGeneralstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozess. Ich erinnere an Emigranten wie Willy Brandt,die damals übrigens in der Politik als Landesverräterbeschimpft wurden, und insbesondere Willy Brandtsgroßartige Geste, den Kniefall im Warschauer Ghetto.Willy Brandt tat das als Opfer; er war kein Täter. DieTäter haben sich nicht entschuldigt. Schließlich erinnereich an die 68er, die maßgeblich zur Aufarbeitung beige-tragen haben durch unzählige Geschichts- und Gedenk-initiativen. So gab es vor 20 Jahren – auch das ein Jubi-läum – die erste Wehrmachtsausstellung. Auch daran
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9895
Jan Korte
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sollten wir uns erinnern, und wir sollten den Machernvon damals noch einmal einen großen Dank für diese Tatder Aufklärung zollen.
Die Kehrseite ist allerdings, dass die Deserteure erstim Jahre 2002 rehabilitiert wurden, die Kriegsverrätererst im Jahre 2009, und die sowjetischen Kriegsgefange-nen bis dato immer noch eine vergessene Opfergruppesind und bis heute immer noch nicht entschädigt wordensind. Auch das wird höchste Zeit. Es leben nur noch we-nige.
All diese Gegenpositionen, all diese Initiativen unddas Insistieren von kritischer Wissenschaft, von enga-gierten Journalisten führten zu einem Umdenken. DieErfolge will ich auch benennen.Die Studie Das Amt und die Vergangenheit über denverbrecherischen Charakter des Auswärtigen Amtes in-nerhalb des NS-Regimes ist ein Meilenstein gewesen,nicht nur weil dort sehr viel Neues stand – es stand auchvieles drin, was schon bekannt gewesen ist –, sondernvor allem deswegen, weil ein damaliger Außenminister– in diesem Fall Joschka Fischer – eine solche Histori-kerkommission offiziell eingesetzt hat und diese vonGuido Westerwelle als weiterem Außenminister fortge-setzt wurde. Das ist gar nicht hoch genug anzurechnen.
Auch die unabhängige Historikerkommission zur Er-forschung der Geschichte des BND hat entgegen meinenAnnahmen – ich hätte das gar nicht für möglich gehalten –extrem viel Gutes, Neues und Kritisches über die brau-nen Wurzeln beim BND hervorgebracht. Auch das wareine gute Sache.
Heute muss es um die damalige politisch-administra-tive Schaltzentrale gehen, nämlich um das Kanzleramt.Wer die anderen aktuellen Projekte, auch das beim BMI,für sinnvoll hält, kann nicht allen Ernstes gegen die Ein-setzung einer unabhängigen Historikerkommission zurGeschichte des Kanzleramts sein;
denn im Kanzleramt wurde politisch entschieden, dassdie alten Eliten zurückkommen, und von dort aus wurdedas kollektive Schweigen politisch organisiert und ge-steuert. Hans Globke war ja nur die Spitze des Eisbergs.Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Globke warvon 1953 bis 1963 Chef des Kanzleramtes, und er warzuvor Mitverfasser und Kommentator der NürnbergerGesetze; das sollte man nicht vergessen.Adenauer, der nun gewiss kein Nazi war, nicht einmalansatzweise,
hat diese Politik willentlich in Kauf genommen; denn siehat bei Wahlen in der Bevölkerung Mehrheiten gebracht– und das ist das eigentlich Traurige. Wer für lückenloseAufarbeitung ist, kann um diese exekutive Schaltzen-trale keinen Bogen machen.
Das Beste wäre natürlich, wenn die Initiative dafür vomKanzleramt selbst ausgehen würde. Im Übrigen, KollegeLengsfeld, ist das auch eine Gelegenheit für die CDU,über ihre Rolle bei der Politik der 50er- und 60er-Jahrenachzudenken.Zum Schluss. Ralph Giordano, der kürzlich verstor-bene große Publizist, hat in seinem Buch Die zweiteSchuld oder Von der Last Deutscher zu sein zu dieserZeit Folgendes gesagt – ich zitiere –:Als sei die Adenauerära bis hinein in die sechzigerJahre so etwas gewesen wie eine gigantischeKorrumpierungsofferte der konservativen Herr-schaft an ein mehrheitlich auseinandersetzungsun-williges Wahlvolk, eine Art Stillhalteangebot, dassich teils wortlos aus der allgemein konspirativenAtmosphäre ergab, teils aber auch kräftig organi-siert war. Diese Offerte lautete: Für die kollektivenWiedereinstellungen selbst schwerstbelasteterBerufsgruppen, für Pensionskontinuität, für die Ex-kulpierungsagitation – für all das: demokratischesWohlverhalten! Diese Offerte ist akzeptiert worden– der große Frieden mit den Tätern.Politisch trägt dafür in besonderer Weise das Kanzleramtvon damals die Verantwortung. Daher sollte die Ge-schichte des Kanzleramtes jetzt aufgearbeitet werden.Das wäre ein ganz kleiner Schritt zur Abtragung der„zweiten Schuld“.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr
Dr. Lengsfeld das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Rede, HerrKollege Korte, hat der Antrag der Linksfraktion auf denersten Blick eine gewisse seriöse Anmutung: „Unabhän-gige Historikerkommission zur Geschichte des Bundes-kanzleramtes einsetzen“. Man könnte denken: Ja, wirklären die NS-Geschichte der Fachministerien auf, also
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Dr. Philipp Lengsfeld
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könnten wir doch darüber diskutieren, diese Aufklärungauf das Bundeskanzleramt auszuweiten.
Trotzdem hatte ich bei diesem Antrag von Anfang an einkomisches Gefühl, und Ihre Rede hat dieses Gefühlnatürlich massiv verstärkt, Herr Kollege. Dies regte sichschon angesichts des Zeitpunktes der Einbringung IhresAntrags. Der ursprüngliche Antragstext stammt vomNovember 2014, eingebracht hat die Linksfraktion ihnaber erst jetzt, in der Plenarwoche mit dem 8. Mai, demTag der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror-regime, den wir morgen begehen. Dieser Antrag ist ganzoffenbar Teil einer größeren PR-Kampagne.
Jetzt könnte man sagen: Okay, die Linkspartei ist auf-grund ihrer eigenen, schwer belasteten Vergangenheiteben sehr geschichtsbewusst und möchte mithelfen, dassdiese Demokratie die Verbrechen und Fehlleistungen ih-rer Geschichte nie vergisst; und ein bisschen PR machenwir ja alle. Leider ist die Sachlage aber eine ganz andere.Diesen Antrag in dieser Form zu diesem Zeitpunkt vondieser Fraktion empfinde ich als Frechheit, meine Da-men und Herren!
Die NS-Aufarbeitung der Fachressorts ist in vollemGange. Dies wird eindrücklich durch die ausführlicheAntwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4238 vom Märzdieses Jahres belegt.Ich gehe gerne auch in die Details. Es ist klar, dass fürdie Bundesfachressorts sehr intensive Arbeiten zur Auf-arbeitung ihrer NS-Zeit laufen. Auch über die Nachwir-kungen auf deren Wiederaufbau wird geforscht. Auslö-ser war, wie erwähnt, die Arbeit der UnabhängigenHistorikerkommission für das Auswärtige Amt, welchesals Pionier voranging. Jetzt laufen solche Arbeiten – umnur einige wichtige Ministerien zu nennen – auch für dasBundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundes-ministerium der Finanzen, das Bundesministerium derJustiz und das Bundesministerium des Innern. Übrigenswird auch die Vergangenheit des Fachressorts BKMaufgearbeitet. Gleiches gilt – das wurde auch schon er-wähnt – für den BND und das BKA.Das ist aber noch nicht alles. Die Aufarbeitung findetauch in nachgeordneten Bundesinstitutionen statt: in derBundesagentur für Arbeit, in der Deutschen Nationalbi-bliothek, im Bundesarchiv oder im Bundesamt für Be-völkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch dieseAufzählung ist nur exemplarisch.Auf Seite 14 der Beantwortung der Kleinen Anfragefinden Sie eine übersichtliche Tabelle mit der vollständi-gen Liste der Ministerien und Institutionen inklusive dergar nicht so geringen Kosten und des Bearbeitungssta-tus. Die NS-Vergangenheit und ihre Auswirkungen aufdie Nachkriegszeit werden für die Fachressorts der Bun-desrepublik also sehr umfassend aufgearbeitet, meineDamen und Herren. Das ist auch kein Zufall; denn dieseKoalition hat sich dazu im Koalitionsvertrag gemeinsamverpflichtet.
Um ganz sicherzugehen, dass keine Lücken bestehen,wurden von der Staatsministerin für Kultur und Mediendie zwei großen zeitgeschichtlichen Forschungsinstitutemit einer Bestandsaufnahme beauftragt. Deren Ergeb-nisse werden sicherlich von den entsprechenden Res-sorts berücksichtigt.Die NS-Zeit der Fachressorts wird also umfassendaufgearbeitet. Dem würde vermutlich – so habe ich Sieauch verstanden, Herr Kollege Korte – nicht einmal dieLinkspartei widersprechen. Was also soll der Antrag derLinksfraktion? Er möchte eine Aufarbeitung der demo-kratisch legitimierten Nachkriegszeit des Bundeskanz-leramtes von 1949 bis 1984 bewirken. Die Stoßrichtungdes Antrags zielt auf den Umgang des Bundeskanzler-amtes mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in den Fachmi-nisterien und der Gesellschaft insgesamt. Herr Korte hatdies ja gerade wortreich erläutert. Und wieder sage ich:Es ist ja nicht so, dass dieses Anliegen der Linksfraktionvollkommen abwegig wäre. Im Bundeskanzleramt wiein Westdeutschland insgesamt ist sicherlich nicht allesgleich richtig gemacht worden.Ich sage es noch einmal: Wenn man unterstellt, dasseine schwer gebrandmarkte Partei aufgrund der scho-nungslosen Aufarbeitung der eigenen Geschichte beson-ders sensibilisiert ist für mögliche Schwächen bei ande-ren und hier quasi helfen will, dann gäbe es – ichwiederhole mich ausdrücklich – eine gewisse Legitima-tion für diese Diskussion heute. Leider ist dem aber nichtso; denn im Antrag wird ein sehr, sehr wichtiger Aspektverschwiegen. Wenn wir über die Nachkriegszeit inWestdeutschland nachdenken – gerade im Hinblick aufden Umgang mit der NS-Vergangenheit –, dann müssenwir auch über die Rolle der SED und der DDR-Staats-macht reden. Denn die SED hat jahrzehntelang unterungeheurem Einsatz von Geld, Archivmaterialien, desStaatsapparats, aber auch vieler informeller Mitarbeiterin den Medien und der Wissenschaft in Ost und Westeine massive Kampagne gegen die demokratische BRDgefahren, und zwar mit dem klaren Ziel, den demokrati-schen Staat zu denunzieren. Es wurde suggeriert, dass inWestdeutschland die NS-Vergangenheit nicht nur nichtaufgearbeitet wurde, sondern dass es eine personelle,geistige und strukturelle Kontinuität gab. Im Visier die-ser Propagandakampagnen waren immer zuerst die Re-präsentanten der Demokratie, allen voran das Bundes-kanzleramt.Die Kampagnen waren übrigens gar nicht so erfolg-los, auch deswegen, weil nicht alle Vorwürfe völligfalsch waren. Das prominenteste Beispiel – es ist hierauch schon erwähnt worden – ist natürlich die NS-Ver-strickung des langjährigen Kanzleramtschefs HansGlobke. Trotzdem waren die Mittel der SED im Kampfgegen Bonn alles andere als rechtsstaatlich oder fair. Eswurde auch nicht davor zurückgeschreckt, fehlendes be-lastendes Material selbst nachzufabrizieren oder existie-
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Dr. Philipp Lengsfeld
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rendes Material stark anzuspitzen. Der Zweck heiligt dieMittel; so haben es die Stalinisten immer gemacht. Eswar eine schmutzige, asymmetrische, antidemokratischePropagandaschlacht.
Meine Damen und Herren, der Antrag der Linksfrak-tion blendet diesen Teil der gemeinsamen deutschen Ge-schichte völlig aus. Auch in Ihrer Rede, Herr KollegeKorte, habe ich davon kein einziges Wort gehört.
– Darum geht es nur aus Ihrer Sicht nicht; aber natürlichgeht es darum. – Dabei wäre ein Verschweigen, wie Siees hier an den Tag gelegt haben, gar nicht nötig gewesen;denn die massive Kampagne der SED hatte auf verquereArt und Weise eine durchaus positive Wirkung, undzwar für die Demokratie in Westdeutschland, da sie dietatsächlich oft zu zögerliche Aufarbeitung massiv befeu-erte. Trotzdem ist von den Propagandalügen der SED ge-gen das damalige Kanzleramt und seine demokratischgewählten Verantwortungsträger – Konrad Adenauer,Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt,Helmut Schmidt und Helmut Kohl; der von Ihnen vorge-schlagene Zeitraum geht ja bis 1984 – zu viel im kollek-tiven Gedächtnis dieses Landes verblieben, sodass mandas bewusste Verschweigen – das ist ja Ihr Thema – die-ses Teils der Geschichte als weiteres Kapitel genau sol-cher Propaganda ansehen kann oder vielleicht sogar an-sehen muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, dervernünftige Teil Ihrer Fraktion – ich denke immer noch,dass es den gibt; vielleicht täusche ich mich da auch –
hat hier wieder einmal eine große Chance vertan. DiesenAntrag in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt einzu-bringen, war kein ernstgemeintes Gesprächsangebot,sondern ein rein taktisches Manöver der Scharfmacher inIhren Reihen, und genauso werden wir Ihren Antragauch behandeln.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Jetzt hat Jan Korte von der Linken das
Wort für eine Kurzintervention.
Es ist in der Tat die Frage, ob es sich lohnt, darauf
einzugehen. Aber das steht ja nun einmal im Raum, und
zumindest drei Anmerkungen will ich dazu machen.
Erstens. Kollege Lengsfeld, man muss im Kopf schon
wirklich sehr schräg drauf sein, um bei diesem Antrag zu
dieser Debatte darauf zu kommen, dass das eine Fortset-
zung von SED-Propaganda aus dem Kalten Krieg wäre.
So schräg muss man erst einmal drauf sein.
Zweitens. Es interessiert mich ja schon: Was bitte
hatte die SED, über die wir zu Recht immer wieder kri-
tisch diskutieren und deren Geschichte wir aufarbeiten
– ich war nicht in der SED; ich bin wie die Kollegin
Högl in Osnabrück geboren; also bitte, was soll das
denn? –, mit der Vergangenheit von Hans Globke zu
tun? Was hatte die SED damit zu tun, dass Hans Globke
an der Verfassung der Nürnberger Gesetze beteiligt war?
Das ist doch aberwitzig, was Sie hier erzählen.
Drittens. Das sei dann schon noch einmal gesagt: Wir
reden hier über schwerstbelastete NS-Täter, die maßgeb-
lich durch das Kanzleramt, durch die politische Wei-
chenstellung damals, wieder in Amt und Würden kamen.
Ich finde es nicht angemessen, das Thema so zu behan-
deln. Denn es geht hier um eine Vergangenheit als Ein-
satzgruppenleiter, die Zehntausende von Frauen, Kin-
dern und Männern hingemetzelt haben. Es geht um
Auschwitz, um Treblinka und vieles andere mehr. Wie
kommen Sie eigentlich bei so einem Thema auf eine sol-
che Argumentation?
Wenn hier irgendjemand im Kalten Krieg voll hängen
geblieben ist, dann sind es Sie.
Herr Lengsfeld.
Lieber Herr Kollege Korte, ich hatte mir vorher über-legt, was als Gegenreaktion von Ihnen kommen könnte.Ich hatte nicht erwartet, dass Sie sich hier einfach hin-stellen und so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte.Ich könnte meinen gesamten Vortrag noch einmal halten.Stattdessen frage ich Sie ganz klar: Wollen Sie etwa be-haupten, dass es die massive Propagandakampagne derSED und der DDR überhaupt nicht gegeben hat?
Ich habe hier überhaupt keine Taten relativiert. Aberist Ihnen klar, dass die DDR Schauprozesse vor derWeltpresse inszeniert hat, mit Hans Globke, aber auchmit anderen?
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Dr. Philipp Lengsfeld
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Ist Ihnen klar, dass Erich Mielke Materialien fabrizierthat, ein eigenes Archiv geführt und eine große Abteilunggegründet hat, die sich den lieben langen Tag nur mitden von Ihnen hier dargestellten Themen beschäftigthat?
Ziel dieser Kampagnen war das Bundeskanzleramt.
Ich empfinde es schon als eine Frechheit – dass Siespäter geboren wurden und dass Sie aus dem Westensind, ist schön und gut –, dass Sie sich hier hinstellenund Ihre eigene Geschichte oder vielmehr unsere ge-meinsame Geschichte leugnen wollen.
Dass Sie hier so tun, als ob der zugegebenermaßen klei-nere Staat gar keinen Einfluss auf die ganze Debattehatte und dass die ganze Art und Weise, wie gegen West-deutschland, gegen die Kanzler und das Bundeskanzler-amt gehetzt wurde, mit Ihrer Diskussion und mit der his-torischen Aufbereitung, die Sie hier machen, gar nichtszu tun hat, finde ich ziemlich dreist.
Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das versuchen.Ich empfehle Ihnen gerne die Lektüre der verschiede-nen Fachhistoriker. Sie können auch gerne einmal in Ho-henschönhausen vorbeischauen. Hubertus Knabe ist aufdiesem Gebiet ein Experte. Sie haben da offensichtlichein Stück weit Nachholbedarf. Ich bin wirklich ent-täuscht.Ich bin ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass diesesVerhalten für Ihre Fraktion repräsentativ ist. HerrGehrcke, den ich gerade anschaue, weiß genau, wovonich rede. Sie, Herr Korte, scheinen das nicht zu wissen.Ich empfehle Ihnen ein gewisses Maß an historischerAufbereitung dieses Teils der Geschichte; denn er gehörtnun einmal dazu. Da können Sie sagen, was Sie wollen.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulle Schauws
von den Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Lengsfeld, ich finde schon,dass das, was Sie gerade gesagt haben, ein wenig amThema vorbeigeht. Wenn Sie das, was Sie gerade ausge-führt haben, in Form eines Antrags hier einbringen wol-len, können Sie das machen. Heute geht es aber um dieAufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeskanzler-amtes. Darüber reden wir hier.
Morgen Vormittag kommen wir hier im Bundestagzusammen, um gemeinsam des Endes des Zweiten Welt-kriegs vor 70 Jahren und der Befreiung vom menschen-verachtenden System der Nazigewaltherrschaft zu ge-denken. Genau darum geht es: Wir tragen Verantwortungfür unsere Vergangenheit, und wir tragen Verantwortungfür die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozia-lismus. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unsererdeutschen Geschichte aktiv und kritisch auseinanderset-zen und diese systematisch und schonungslos aufarbei-ten müssen, Herr Lengsfeld. Das ist der Fokus, den wirheute hierauf legen.
Das gilt neben privaten Institutionen und Unterneh-men insbesondere auch für die NS-Vergangenheit derMinisterien und der Behörden des Bundes. Ihre Aufar-beitung steckt auch 70 Jahre nach Kriegsende in denKinderschuhen. Weil wir in einer Kleinen Anfrage nach-gefragt haben, liegen die Antworten hierzu heute aufdem Tisch, aus denen Sie zitiert haben.
Sie haben nicht gesagt, dass das Bundeskanzleramt hieretwas gemacht hat. Es hat nämlich noch nichts gemacht.Das ist aus Ihren Worten ganz klar hervorgegangen.Unter Rot-Grün hat 2005 der damalige Bundesaußen-minister Joschka Fischer ein Forschungsprojekt zurNS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes in Auftraggegeben. Damit wurde ein längst überfälliger Schritt inRichtung Aufarbeitung gemacht. Fischer musste damalsgegen erheblichen Widerstand angehen. Wichtig waraber, dass so eine gesellschaftliche Debatte in Gangkam.Der 2010 veröffentlichte Abschlussbericht „Das Amtund die Vergangenheit“ entlarvte dabei eine lange auf-rechterhaltene Legende. Das Auswärtige Amt war kei-nesfalls ein Hort des Widerstandes. Nein, es war tief indie Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Es hatNS-Verbrechen nach außen gedeckt und war aktiv an ih-nen beteiligt. Nur wenige der Diplomaten und Mitarbei-ter wurden zur Rechenschaft gezogen. Viele haben ihreKarrieren nach dem Krieg fortgesetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, wiewichtig Untersuchungen zu personellen und sachlichenKontinuitäten in der Nachkriegszeit auch in anderenBundesministerien und Behörden sind. Sie leisten einenentscheidenden Beitrag zur Klärung der Frage, warumnationalsozialistische und rassistische Einstellungenauch heute noch in unserer Gesellschaft bis weit in dieMitte hinein verbreitet sind. Und genau deshalb habenwir uns als grüne Bundestagsfraktion in den letzten Jah-
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Ulle Schauws
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ren mit zahlreichen Kleinen Anfragen und Anträgen da-für eingesetzt, dass die nach wie vor stockende Aufar-beitung vorangetrieben wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,es steht in Ihrem Koalitionsvertrag – die Bundesregie-rung hat es groß angekündigt –, die Aufarbeitung derNS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehördenvoranzutreiben. Die Frage ist: Wo stehen Sie damit? Bisheute haben bei weitem nicht alle Bundesministerienihre Vergangenheit im Dritten Reich und in der Nach-kriegszeit beleuchtet. Einige haben, wie gesagt, nochnicht einmal damit begonnen.Aber dass auch das Bundeskanzleramt sich bis heutedavor drückt, seine Geschichte von einer Historikerkom-mission aufarbeiten zu lassen, das, muss ich sagen, istwirklich skandalös.
Fadenscheinige Begründungen, historische Forschungsei grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft oder Akten-einsicht beim Bundesarchiv könne zu Forschungszwe-cken ermöglicht werden, bedeuten doch keinen verant-wortungsvollen Umgang mit der Aufarbeitung dereigenen Geschichte.
Es reicht auch nicht aus, auf die Aufarbeitung derVergangenheit des BND zu verweisen. Ich sage ganzklar: Das Kanzleramt darf sich nicht länger um eine ehr-liche Antwort auf Fragen über seine Vergangenheit unddie eigene historische Verantwortung drücken.Die Fraktion Die Linke verweist in ihrem Antrag zuRecht darauf, dass eine ernstgemeinte wissenschaftlicheAufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eine Untersu-chung der Rolle des Bundeskanzleramtes nicht sinnvollist. Das ist richtig, aber das alleine reicht nicht aus. Damuss mehr passieren. Statt eines Flickenteppichs voneinzelnen Untersuchungen brauchen wir eine koordi-nierte Aufarbeitung der Geschichte aller Bundesministe-rien und -behörden. Dort, wo es bereits Vorstudien gibt,dürfen sie nicht länger unbearbeitet liegen bleiben. Sogibt es zum Beispiel im LandwirtschaftsministeriumVoruntersuchungen, die damals von Renate Künast inAuftrag gegeben wurden und jetzt nicht weiter bearbeitetwerden. Da müssen weitere Forschungsarbeiten folgen,auch über die Nachkriegszeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss vor allemsichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit bei derAufarbeitung der NS-Zeit aktiv einbezogen wird. Dasmuss auch Teil politischer Bildungsarbeit werden. Des-halb sollten Untersuchungsergebnisse aufgearbeitet undzugänglich gemacht werden, gerade auch für junge Men-schen, beispielsweise in Form einer Dauerausstellungoder in einem digitalen Format. Denn eine umfassendeAufarbeitung der NS-Vergangenheit ist nicht nur wichtigfür das Verstehen von Kontinuitäten der Gegenwart, son-dern vor allem auch für einen verantwortungsvollen Um-gang mit der Zukunft unserer Demokratie.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Martin
Dörmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Morgen früh werden wir hier im Plenum in einer ge-meinsamen Gedenkveranstaltung mit dem Bundesratden 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegswürdigen und damit auch die Befreiung von der NS-Dik-tatur.Auf die Rede von Professor Heinrich August Winklerbin ich schon sehr gespannt. In seinen Arbeiten hat ersehr präzise und differenziert die Rolle Deutschlands vorund nach 1945 betrachtet. Er hat sich dabei auch immerdezidiert gegen jede Verharmlosung der nationalsozialis-tischen Verbrechen und Strukturen ausgesprochen. Ichglaube, uns allen hier im Haus muss an einer umfassen-den Aufarbeitung der NS-Geschichte und ihrer Folge-wirkungen sehr gelegen sein. Dazu gehören auch undgerade die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Aus-einandersetzung mit den personellen und institutionellenKontinuitäten, die es eben leider auch gegeben hat. Ja,das ist eine schmerzhafte Erfahrung der deutschen Ge-schichte, und zwar sowohl der westdeutschen als auchder ostdeutschen Geschichte, die es sorgfältig aufzuar-beiten gilt.Ganz sicher hat sich die junge Bundesrepublik allzuviele Jahre mit diesem Erbe sehr schwergetan. Es ist be-reits erwähnt worden: Es war gut, dass dann unter rot-grüner Regierungsverantwortung eine Kommission dieGeschichte des Auswärtigen Amtes aufgearbeitet hatund dass auch die Geschichte des BND in der Frühzeitder Bundesrepublik aufgearbeitet wurde. Dabei könnenwir aber nicht stehen bleiben.Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich dieehemalige DDR, deren Funktionseliten sich übrigensgerne als das bessere Deutschland bezeichnet haben, derAufarbeitung dieser Kontinuitäten, die es im OstenDeutschlands eben auch gegeben hat, beinahe gänzlichverweigert hat.In dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linkewird nun die wissenschaftliche Aufarbeitung zu den NS-Belastungen der frühen Bundesrepublik Deutschland,aber auch nur dieser, thematisiert. Ein besonderer Fokuswird auf die systematische Untersuchung der Rolle desBundeskanzleramts gerichtet. Zu diesem Zweck solleeine Historikerkommission eingerichtet werden.Nun ist es so, dass wir in Bezug auf die Rolle desBundeskanzleramtes, die wichtig ist, im Hinblick auf dieNS-Thematik nicht bei null anfangen müssen. Sie istzum Teil bereits in zahlreichen Untersuchungen und Pu-blikationen dargestellt worden. Auch war sie gerade Teilder Untersuchung zur Erforschung der Frühgeschichte
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9900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Martin Dörmann
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des Bundesnachrichtendienstes in den Jahren 1945 bis1968. Das Bundeskanzleramt hat der damaligen Kom-mission Zugang zu allen Aktenbeständen gewährt, so-weit diese Gegenstand des Forschungsauftrages waren.Das wurde übrigens auch in großem Umfang in An-spruch genommen.Dennoch müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Fragebeschäftigen, wo es noch Defizite in der Aufklärung gibtund welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Genaudas macht die Große Koalition, und das macht die Bun-desregierung. Wir sind nämlich gerade in einem Prozess,in dem geklärt werden soll, wie der gegenwärtige Standder Forschung ist, ob es weitere Bedarfe gibt und, wennja, wo.Zu verweisen ist zunächst auf die Antwort der Bun-desregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen vom März dieses Jahres. Darin wirdein umfassender Überblick über bereits abgeschlosseneoder begonnene und laufende Forschungsprojekte vonBundesministerien oder nachgeordneten Behörden zurAufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Häusern ge-geben.Ich will zudem daran erinnern, dass in der vergange-nen Wahlperiode ein überfraktioneller Antrag, wennauch nicht von allen Fraktionen getragen, zu dieser The-matik verabschiedet wurde. Nicht zuletzt auf das Bestre-ben der SPD-Bundestagsfraktion wurde damals die For-derung nach einer Bestandsaufnahme in den Antragaufgenommen, und zwar einer Bestandsaufnahme, in derneben einem Status quo der bisherigen Forschung auchdie weiterhin bestehenden Forschungsdefizite im Hin-blick auf die Geschichte der staatlichen Behörden undInstitutionen im frühen Nachkriegsdeutschland aufge-zeigt werden sollen, also sowohl in der Bundesrepublikals auch in der DDR. Dass dabei auch die DDR mit inden Blick genommen wird, ist übrigens ein wesentlicherUnterschied zu den Anträgen der Linksfraktion zu die-sem Thema.
Herr Korte, Ihr Enthusiasmus wäre noch glaubwürdi-ger gewesen – es liegt jetzt immerhin ein Antrag vor –,wenn Sie wenigstens mit einem Satz erwähnt hätten,dass es diese Kontinuitäten auch in der DDR gegebenhat.
Dem damaligen Auftrag des Bundestages an die Bun-desregierung, den ich erwähnt habe, eine solche Be-standsaufnahme zu beauftragen, kommt die Koalitionnach. Sie ist bereits fest im Koalitionsvertrag verankert,in dem wir uns verpflichtet haben, die Aufarbeitung derNS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehördenvoranzutreiben.Wir lassen dieser Grundsatzposition auch Taten fol-gen. Die Beauftragte für Kultur und Medien hat diesenAuftrag einer Bestandsaufnahme mittlerweile an das In-stitut für Zeitgeschichte und an das Zentrum für Zeithis-torische Forschung erteilt. Bis zum Ende des Jahres sol-len erste Ergebnisse der Studie vorgelegt werden. Essollen dabei sowohl Forschungsstand als auch For-schungsdefizite bei einzelnen Ressorts aufgezeigt wer-den, und zwar auch beim Bundeskanzleramt. Damit istdiese Bestandsaufnahme die systematische Vorberei-tung für mögliche weitere Untersuchungen über die NS-Belastungen ebendort.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es bedarfnicht des vorliegenden Antrags, damit sich die Koalitionund die Bundesregierung mit einer vertieften Auseinan-dersetzung und Untersuchung der NS-Geschichte befas-sen. Welche Schlussfolgerungen dann zu ziehen sind undwelche konkrete Ausgestaltung weitere Forschungsauf-träge haben sollten, das wird nach Abschluss der ge-nannten Studie zu entscheiden sein, sei es im Hinblickauf Ministerien oder auf das Bundeskanzleramt. Ichdenke, das ist der richtige Weg, um mit einem ernstenund wichtigen Thema angemessen und verantwortungs-voll umzugehen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste und letzte Rednerin in
dieser Debatte hat Dr. Freudenstein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Es gibt Dinge, die duldenkeinen Aufschub, die muss man jetzt und sofort anpa-cken, es gibt Dinge, die für Gerechtigkeit sorgen oderdie revolutionär sind, und es gibt Dinge, die einfach dieSituation vieler Menschen in unserem Land verbessern.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion,ich muss Sie enttäuschen: Ihr Antrag gehört nicht zu alldiesen Dingen.Verstehen Sie mich nicht falsch. Ihr Anliegen ist jagrundsätzlich nicht unbedeutend: Eine Aufarbeitung derdeutschen Geschichte, auch der demokratischen Institu-tionen nach 1945, in besonderer Weise auch des Bundes-kanzleramtes, kann in vielerlei Hinsicht wichtig sein,und sie kann vor allem aus wissenschaftlicher Sichthochinteressant sein. Das haben die bisherigen Untersu-chungen schon gezeigt; in allen Bundesministerien mitVorgängern in der NS-Zeit und in vielen nachgeordnetenBundesbehörden fand ja oder findet eine historischeAufarbeitung statt.Vermutlich hat kein Land der Welt seine Geschichteund die seiner Institutionen so intensiv wissenschaftlichaufarbeiten lassen wie wir Deutsche. Das war und istnach den Verbrechen und Verirrungen des 20. Jahrhun-derts auch unsere Pflicht. Ich meine deshalb, dass manuns mangelndes Bewusstsein oder gar Untätigkeit nichtvorwerfen kann.
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Dr. Astrid Freudenstein
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Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie ha-ben eine Anfrage gestellt und erst kürzlich eine Antworterhalten. Sie wissen also sehr gut, dass die beiden größ-ten und bedeutendsten deutschen Forschungsinstitute aufdiesem Gebiet bereits mit einer Bestandsaufnahme be-auftragt worden sind; sie werden die Quellenlage, denForschungsstand und die Forschungsdesiderate bei deneinzelnen Ressorts benennen. Sie wissen, dass Ergeb-nisse bis Ende dieses Jahres vorliegen sollen. Trotzdemstellen Sie heute diesen Antrag. Warum tun Sie das? Ichwill es Ihnen sagen: Es geht Ihnen vermutlich nichtwirklich um die Aufarbeitung selbst, sondern es geht Ih-nen vermutlich darum, sich selbst als etwas darzustellen,nämlich als Speerspitze der historischen Aufklärung.
Sie haben zu diesem Zweck ja auch eine ganz eigene„Historische Kommission“ in Ihrer Partei. Deren Ergeb-nisse habe ich mir einmal angeschaut. Die HistorischeKommission der Linkspartei schreibt zum Beispiel imJahre 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus – ich zi-tiere –:Die sowjetische Führung und im Gefolge die DDRentschieden sich 1961 auch zum Mauerbau, um ei-nen Krieg zu verhindern. Dieser war angesichts derfortschreitenden Destabilisierung der DDR und un-ter den Bedingungen der militärischen Konfronta-tion in Mitteleuropa nicht auszuschließen.Die Mauer als ein Werk des Friedens – so dargestellt voneiner Historikerkommission im Jahre 2011.Es gibt noch mehr zu lesen in dieser historischen Auf-arbeitung, was mit ehrlichem Willen zur Aufklärung we-nig zu tun hat. So hat Ihre Historische Kommission imJahre 2011 auch geschrieben – ich zitiere –: „Für Millio-nen Menschen in unserem Land“ – also in der Bundesre-publik – gibt es wegen des geringen Einkommens „dieReisefreiheit nur auf dem Papier“. Ihre Historikerkom-mission schreckt also nicht davor zurück, eine Parallelezu ziehen zwischen dem staatlichen Freiheitsentzugdurch den Unrechtsstaat DDR und dem heutigen Lebenin der freien Bundesrepublik. Das ist nicht nur Ge-schichtsklitterung, das ist Revisionismus.
Aber es geht noch weiter: Zum 60. Jahrestag des17. Juni 1953, also im Jahre 2013, schreibt die HistorischeKommission der Linkspartei wörtlich – ich zitiere –:Obwohl die Befunde der zeitgeschichtlichen For-schung den sowjetischen Truppen ein maßvollesVorgehen bescheinigen, hält sich das Narrativ, dieUnruhen seien „blutig niedergewalzt“ worden.
Das läuft bei Ihnen unter historischer Aufarbeitung!Ich möchte daran erinnern: Es wurden am 17. Juni 1953mindestens 40 Demonstranten erschossen. Die Rote Ar-mee ist mit Panzern gegen die Menschen angefahren.Meine Damen und Herren von der linken Aufarbeitungs-fraktion, das ist ein „blutiges Niederwalzen“ und warkeineswegs „maßvoll“. Ich kann nur sagen: Sie haben daeine ziemlich tolle Historische Kommission.Warum erzähle ich das alles? Es hat ja wirklich nichtsmit dem Kanzleramt zu tun. Aber wenn Sie ehrlich sind,hat Ihr Antrag mit dem Kanzleramt auch nicht viel zutun. Es geht Ihnen keineswegs um eine ordentliche wis-senschaftliche Aufarbeitung; sonst würde Ihnen ja dieAntwort der Bundesregierung genügen, in der klar fest-gehalten ist, wie alles nun seinen Lauf nehmen wird unddass es eine wissenschaftliche und eben keine politischeFrage ist.
Frau Dr. Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Korte zu?
Nein, ich bin gleich fertig.
Der Antrag entlarvt nur Ihr Verständnis von Ge-
schichtsschreibung. Sie fassen Geschichtsschreibung als
Instrument des Politischen auf, und das gehört eigentlich
ins 19. Jahrhundert. Wir sind da weiter. Die Bundesre-
gierung geht den Weg, den die Geschichtsschreibung in
einer demokratischen und freien Gesellschaft im
21. Jahrhundert geht, und zwar wissenschaftlich fundiert
und nicht politisch motiviert.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Antrags aufDrucksache 18/3049 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-rung beim Ausschuss für Kultur und Medien liegen soll.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist die Überweisung auch so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ViertenGesetzes zur Änderung des Rindfleischetiket-tierungsgesetzesDrucksache 18/4615Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 18/4800
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9902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. DerAusschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4800,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache18/4615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittejetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratungeinstimmig angenommen worden.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten CorinnaRüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEmpfehlungen der Vereinten Nationen zurBehindertenrechtskonvention zügig umsetzenDrucksache 18/4813Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die-ser Debatte hat Corinna Rüffer von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebeverbliebene – so muss man zu dieser Uhrzeit sagen –Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass Sie noch hier sind.Oft debattieren wir viel weniger Bedeutsames zu deut-lich früherer Stunde. Jetzt geht es aber um nicht wenigerals um die Menschenrechte, und die dürfen nicht nur zuProtokoll gehen.Woran denken Sie, wenn die Rede davon ist, dass dieMenschenrechtssituation in einem Land besorgniserre-gend ist? An Syrien, Somalia, Eritrea? Jedenfalls nichtan Deutschland, oder? Der Fachausschuss der VereintenNationen, der gerade die Umsetzung der Behinderten-rechtskonvention geprüft hat, sieht das anders. Der Ab-schlussbericht der internationalen Fachleute ist ein ver-1) Anlage 2nichtendes Urteil. Von den insgesamt elf Seiten sind fastzehn Seiten, also nahezu der gesamte Bericht, gefüllt mitVerstößen gegen die Konvention und mit Maßnahmen,wie diese beseitigt werden sollen.
Ein paar Beispiele daraus – Frau Tack, hören Sie zu –:Jeder Mensch soll frei entscheiden können, wo erwohnen will. – Vielen behinderten Menschen wird dasverwehrt, weil Sozialämter die notwendige Unterstüt-zung nur im Rahmen von Wohnheimen bewilligen. Dasist unerträglich.
Außerdem fehlen schon heute 2,5 Millionen barriere-freie Wohnungen. Geschäfte, Gaststätten und Kinos sindfür Menschen mit Behinderungen oftmals unbetretbar –wegen ein paar anscheinend unüberwindlicher Stufen.Politik darf sich nicht weiter davor drücken, auch denPrivaten verbindliche Vorgaben zur Barrierefreiheit zumachen.
Jeder Mensch soll über Bildungsweg, Beruf und Ar-beitsplatz selbstbestimmt entscheiden können. Für vieleMenschen mit Behinderungen ist das eine Illusion. Fürsie ist der Weg von der Förderschule in eine Werkstattfür behinderte Menschen vorgezeichnet. Wer das nichtwill, muss sehr hart kämpfen, um die nötige Unterstüt-zung zu erhalten. Hier ist die Politik gefragt, um denMenschen zu ihrem Recht zu verhelfen.Jeder Mensch soll frei über alle Fragen seines tägli-chen Lebens entscheiden können. –
Das ist für manch einen nur ein schöner Traum; denn inder Praxis entscheidet oft der rechtliche Betreuer stell-vertretend für den Betreuten. Hier ist die Politik gefragt,das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindungdurchzusetzen. Allzu oft werden Menschen mit einerpsychischen Behinderung gegen ihren Willen in Psychi-atrien untergebracht und dort zwangsbehandelt. Dasmuss sich ändern. Gemeinsam mit den Ländern, mit Be-troffenen und Sachverständigen muss der Bund alle nöti-gen Anstrengungen unternehmen, um das Recht aufSelbstbestimmung auch für psychisch beeinträchtigteMenschen umzusetzen.
Und zuletzt: Jeder Mensch soll das Recht haben, zuwählen. – Eine Selbstverständlichkeit? BehindertenMenschen, die in allen Angelegenheiten unter rechtli-cher Betreuung stehen, wird dieses Grundrecht verwei-gert. Anstatt dass wir, die Parlamentarier und Parlamen-tarierinnen, gemeinsam die Ausschlusstatbestände ausden Gesetzen streichen, lässt die Bundesregierung der-zeit prüfen, ob für bestimmte Personengruppen eineWahlfähigkeitsprüfung eingeführt werden sollte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9903
Corinna Rüffer
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Allein, dass man darüber nachdenkt, den Wahlrechtsaus-schluss rechtssicher festzuzurren, ist nicht zu fassen.Noch schlimmer ist aber, dass künftig noch mehr Men-schen das Recht auf politische Teilhabe verlieren könn-ten. Das wäre ein Schlag gegen die Menschenrechte.Deshalb muss Andrea Nahles dieses Verfahren umge-hend stoppen. Darin sind wir alle uns hoffentlich tat-sächlich einig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,unser Antrag ist darauf gerichtet, die Empfehlungen derVereinten Nationen zügig umzusetzen und die Peinlich-keit eines so schlechten Zeugnisses schnellstmöglich zubeenden. Zumindest dieses Interesse sollten hier alle tei-len. Sie haben bisher darauf verzichtet, eigene Vor-schläge in den parlamentarischen Prozess einzubringen.Deshalb hoffe ich jetzt auch, dass Sie unserem Vorschlagfolgen werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Uwe
Schummer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-gin Rüffer, ich schätze Sie ja, aber ich muss sagen:
Ich war auch an den beiden Tagen in Genf dabei. DasBild, das Sie gemalt haben, ist falsch. Der Vergleich derMenschenrechtsverletzungen in Syrien und im Irak mitdem, was in Deutschland passiert, ist völlig maßlos.
Im Gegensatz zu Ihrer Rede war die Staatenprüfungsachlich. Es wurden Handlungserwartungen ausgearbei-tet, mit denen wir differenziert arbeiten können.
Wir sollten differenziert argumentieren. Nur dann neh-men wir den Prüfungsausschuss in Genf wirklich ernst.In den Schlussbemerkungen der meisten Redner imPrüfungsausschuss wurde uns bescheinigt, dass wir inDeutschland bei der Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention auf einem guten Weg sind, dass aberdie Wege und Verfahren insgesamt beschleunigt werdenmüssen. Das war eine Kernbotschaft, die uns in derSchlussaussprache des Prüfungsausschusses mitgeteiltwurde. Das ist eine Botschaft, die wir politisch aufneh-men.Es gab Licht, es gab Schatten. Schatten gibt es mit Si-cherheit bei der Frage der psychiatrischen Einrichtun-gen, aber auch bei der Frage der noch nicht vorhandenenGleichstellung und Entschädigung behinderter Men-schen, die in Heimen missbraucht oder misshandelt wur-den. Wir setzen uns gemeinsam mit den Ländern mit die-ser Frage auseinander und verhandeln darüber. Wirmüssen durchsetzen, dass es endlich zu einer Entschädi-gung kommt.
Es gibt aber auch Licht, beispielsweise beim Nationa-len Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention mit über 200 Maßnahmen im Bereichder gelebten Inklusion in unserer Gesellschaft. Deutsch-land ist nicht die Sahelzone der Inklusion, in der allesnur wüst und leer ist, so wie Sie, Frau Rüffer, es eben ge-schildert haben.
Wir sollten die Wirklichkeit anerkennen und die Leistun-gen und Fortschritte der letzten Dekade nicht unterschät-zen.Inklusion ist – das wissen Sie auch – kein Schalter,den man umlegt, und schon ist alles so, wie man es sichwünscht, sondern sie bedarf, wie es der Mainzer Arbei-terbischof von Ketteler einmal im 19. Jahrhundert for-mulierte, einer Zustände- und einer Gesinnungsreform.Das heißt, die Inklusion wächst nach mehr als einemJahrhundert der Separierung behinderter Menschen all-mählich auch in Deutschland, gerade durch den Druck,der von der UN-Behindertenrechtskonvention ausgeht.Die Inklusion beginnt, sie ist noch auf Kindesbeinen,und sie beginnt auch mit den Kindesbeinen. Wir brau-chen gute Erfahrungen mit Vielfalt in den Kitas, in denSchulen, in den Hochschulen und in der betrieblichenWirklichkeit, damit Inklusionsstärke auch in Deutsch-land Normalität wird.
Bildung ist ein Schlüssel hierfür.Bundesbildungsministerin Wanka hat ein 500-Millio-nen-Euro-Programm für die Lehrerausbildung aufgelegt.Damit sollen schwerpunktmäßig innovative Konzeptezur Inklusion in der Lehrerausbildung unterstützt und fi-nanziert werden. Es ist notwendig und sinnvoll, dass dieBundesländer diese Abschlüsse der Lehrerausbildungengegenseitig anerkennen. Projekte, die im Rahmen diesesBundesprogramms vom Bildungsministerium gefördertwerden, sind derzeit „Gemeinsam verschieden sein –Lehrerbildung an der RWTH Aachen“ oder „Heterogeni-tät und Inklusion gestalten – Zukunftsstrategie LehrerIn-nenbildung“ an der Uni Köln. Das sind Maßnahmen, die
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9904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Uwe Schummer
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die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Inklusion überdie Lehrerausbildung an allen Schulen und Hochschulenkünftig verstärkt stattfindet.Der UN-Menschenrechtsausschuss hat den Föderalis-mus in der Bildung kritisiert. Für uns ist der Föderalis-mus aber – gerade nach der Diskussion, die ich eben ver-folgt habe – eine Konsequenz aus der leidvollenGeschichte eines starken und verhängnisvollen Zentral-staates. Deshalb hat der Föderalismus für mich eine de-mokratiestärkende Funktion. Wer den Föderalismus si-chern will, der muss gemeinsame, vergleichbareStandards setzen, der braucht die Kooperation der Län-der in der Bildung und der braucht auch eine Koopera-tion zwischen Bund und Ländern. Viele Aspekte derKritik des UN-Menschenrechtsausschusses am Födera-lismus und an der mangelnden Inklusion in der Bildungwerden jetzt aufgearbeitet. In allen Bundesländern, ob inBaden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen, wer-den derzeit Inklusionsstärkungsgesetze verabschiedet.Das sind alles Entwicklungen, die bei der Bewertung inGenf überhaupt keine Rolle spielten, weil der Prozessnoch in vollem Gange ist.Die Teilhabe in der Arbeitswelt wird ein Schwer-punktthema des Teilhabegesetzes und der Richtliniensein. Wir wollen beispielsweise die Weiterentwicklungvon Integrationsunternehmen zu Inklusionsunterneh-men quantitativ, aber auch qualitativ fördern. 1,2 Millio-nen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung sindauf dem ersten Arbeitsmarkt, 300 000 in Werkstätten.Dabei ist ein starker Zugang psychisch kranker Arbeit-nehmer zu verzeichnen. Was können wir in der betriebli-chen Gesundheitsprävention tun? Wie können wirArbeitsplätze so organisieren, dass psychische Erkran-kungen erst gar nicht entstehen?Durchlässigkeit und Differenzierung, das war dieBotschaft aus Genf. Wir sind auf einem guten Weg. Daswar die Aussage des UN-Menschenrechtsausschusses.Aber wir sollten unsere politischen Maßnahmen be-schleunigen, und das werden wir auch tun.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Katrin
Werner für die Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Am 5. Mai 2005 war der Europäische Protesttagzur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.Viele Protestaktionen fanden in dieser Woche – genausowie in jedem Jahr – statt. Heute reden wir über dieRechte von Menschen mit Behinderung, und das leidernicht in der Kernzeit oder in einer Aktuellen Stunde,sondern zu fortgeschrittener Stunde im Rahmen einesder letzten Tagesordnungspunkte, bei dem es um einenAntrag der Grünen geht.Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert die Gleichheitvor dem Gesetz für alle Menschen und verbietet Diskri-minierung. 1949 bestand Artikel 3 Absatz 2 des Grund-gesetzes lediglich aus fünf Worten: „Männer und Frauensind gleichberechtigt“. Menschen mit Behinderung exis-tierten im Grundgesetz damals noch nicht. Vor 21 Jahrenwurde im Grundgesetz klargestellt, dass es keine Be-nachteiligungen von Menschen mit Behinderung gebendarf.Ich möchte es noch einmal sagen: Niemand darf we-gen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ich finde,die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes ins Grund-gesetz ist eine Bürgerrechtserklärung. Die vollumfängli-che Umsetzung der Behindertenrechtskonvention inDeutschland muss diesen Ansatz konsequent verfolgen.Menschen mit Behinderung werden immer noch massivan der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichenLeben gehindert. Wer zum Beispiel auf persönliche As-sistenz angewiesen ist, darf nicht mehr als 2 600 Euroansparen. Menschen mit Behinderung leben teils in Son-derwelten. Ihr Umfeld ist in keiner Weise barrierefrei.Vor gut sechs Wochen verabschiedete der UN-Aus-schuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behin-derungen in Genf seine Empfehlungen zur Umsetzungder Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Wirbegrüßen diese Empfehlungen sehr; denn sie zeigen unsfür Deutschland eines ganz deutlich: Wir sind immernoch meilenweit entfernt von einer inklusiven Gesell-schaft, in der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichbe-rechtigt teilhaben kann, egal ob jung oder alt, egal ob mitBeeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrationshin-tergrund oder ohne. Der Bundesregierung fehlt nach wievor eine Menschenrechtsperspektive. In Genf waren dieAntworten der Bundesregierung meist unkonkret. BeiThemen der Entwicklungszusammenarbeit wurde keineeinzige Frage konkret beantwortet. Würde die Regierungaus einem Menschenrechtsbewusstsein heraus agieren,würde sie die noch offenen Fragen des UN-Ausschussesendlich konkret beantworten.
Die Linke sagt: Wir brauchen eine Neufassung dergesetzlichen Definition von Behinderung als menschen-rechtsbasiertes Modell. Wir brauchen bessere Maßnah-men, um Mehrfachdiskriminierung zu bekämpfen. Wirbrauchen einen besseren Gewaltschutz für Frauen mitBehinderung. Wir brauchen für alle Kinder und Jugend-lichen Leistungen aus einer Hand und nicht von ver-schiedenen Ämtern.
Wir brauchen ein inklusives Bildungssystem und eineninklusiven Arbeitsmarkt und keine Abschiebung in Son-derwelten, wie zum Beispiel in Werkstätten oder Sonder-schulen. Wir brauchen eine Reform des Betreuungs-rechts. Wir meinen, Menschen, die unter Betreuungstehen, brauchen unterstützende Entscheidungsfindungund keine ersetzende. Wir brauchen nicht nur im öffent-lichen, sondern auch im privaten Bereich eine gesetzli-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9905
Katrin Werner
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che Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Wir brauchen dieAbschaffung des Ausschlusses vom Wahlrecht für Men-schen mit Betreuung in allen Angelegenheiten. DasWahlrecht ist Bestandteil jeder Demokratie.
Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, ist menschen-rechtswidrig. Vielmehr brauchen wir hier ein barriere-freies Informationssystem.In knapp zwölf Monaten muss die Bundesregierungerneut darüber berichten, was sie zur Umsetzung derEmpfehlungen unternommen hat. Die Hausaufgabensind umfangreich. Die ersten sechs Wochen sind verstri-chen. Geben Sie Ihr Bestes, und fangen Sie morgen an.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kerstin Tack
von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir 2009in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ra-tifiziert haben und sie damit auch für Deutschland fürgültig erklärt haben, da war jedem klar – ganz unabhän-gig von der Ebene, auf der er sich bewegt, also unabhän-gig davon, ob er politisch aktiv ist, ob er ehrenamtlichoder hauptberuflich in der Szenerie arbeitet –: Hier ha-ben wir eine Mammutaufgabe vor uns, der wir uns mutigannehmen wollen und müssen.
Im Jahre 2011 hat die damalige Bundesregierung denersten Staatenbericht vorgelegt. Dieser Bericht warGrundlage der Staatenprüfung in Genf. Es muss aucheinmal gesagt werden, dass dieser Bericht zum Zeit-punkt der Staatenprüfung bereits vier Jahre alt war undsich natürlich auf die entsprechenden Maßnahmen be-zog.Mittlerweile haben wir in Deutschland die Situation,dass nicht nur der nationale Bildungsbericht der Bundes-regierung vorgelegt wurde, sondern dass auch in fastallen Bundesländern und in vielen Kommunen Aktions-pläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-tion erstellt wurden oder auf dem Weg sind. Ich finde, dakann man nicht sagen, dass die UN-Behindertenrechts-konvention auf den verschiedenen Ebenen in Deutsch-land noch keine Beachtung gefunden hat. Vielmehr ha-ben sich viele auf den Weg gemacht und für ihrejeweiligen Zuständigkeitsbereiche genau die erforderli-chen Maßnahmen herausgearbeitet und entsprechendeKonzepte verfasst.
Allerdings fehlt noch eine Strategie, die über die ver-schiedenen Ebenen ein übergreifendes Gesamtumset-zungskonzept für die UN-BRK zum Ziel hat. Ich glaube,dass es in den nächsten Jahren wichtig und nötig wird,die Erstellung einer solchen Gesamtstrategie stärker inden Fokus zu nehmen. Wir haben auch bei der Staaten-prüfung gemerkt, dass die Empfehlungen, die sehr starkund deutlich sind, ganz häufig nicht nur eine Ebene inihrer Zuständigkeit ansprechen, sondern genau diese ge-meinsame Verantwortung für die UN-Behindertenrechts-konvention verlangen.Das heißt für uns natürlich, dass wir auf der Bundes-ebene vieles regeln können. Aber im Sinne einer Verant-wortungsgemeinschaft brauchen wir auch die Kommu-nen und die Länder. Gerade wenn es um ein inklusivesBildungssystem, einen inklusiven Arbeitsmarkt und eineinklusive Betreuung von Menschen mit Behinderungengeht – ambulant und stationär, aber auch in der Alten-hilfe –, ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich.Hier haben wir uns in dieser Legislaturperiode eineganze Menge vorgenommen, um in Deutschland mitBlick auf die UN-Behindertenrechtskonvention Stückfür Stück voranzukommen.Erst vorgestern – das hat die Kollegin Werner ange-sprochen – haben wir beim Europäischen Protesttag zurGleichstellung von Menschen mit Behinderung den bar-rierefreien Ausbau von Wohnraum und Infrastrukturzum Thema gehabt. Ich finde es hervorragend, dass dieBundesregierung in ganz unterschiedlichen Programmenzur Umsetzung der Anforderungen an barrierefreienWohnraum über 5 Milliarden Euro bereitgestellt hat.Diese Mittel können unter anderem für den barriere-freien Ausbau genutzt werden. Das, meine Damen undHerren, ist ein sehr ernst zu nehmender, sehr ehrlicherSchritt und eine deutliche Unterstützung all derer, diejetzt einen barrierefreien Umbau oder Ausbau in Angriffnehmen müssen. Dieser Betrag ist fünfmal so hoch wieder, den die Kolleginnen und Kollegen von der Links-fraktion in ihren bisherigen Anträgen von uns geforderthaben; sie forderten nämlich immer 1 Milliarde Euro.Wir sind deutlich weiter gegangen. Ich finde, das kannsich richtig gut sehen lassen.
Auch bei unserem allergrößten Vorhaben, nämlicheine große Sozialrechtsreform durchzuführen und einBundesteilhabegesetz zu verabschieden, werden wir aufdem Weg hin zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention sehr deutliche Fortschritte machen. Dadurchwerden wir für diese Personengruppe richtig gute Verän-derungen auf den Weg bringen können.Wir machen Schluss damit, dass es für Menschen mitBehinderungen ein separierendes System gibt. Wir ma-chen Schluss damit, dass ihnen nur ein separierender Ar-beitsmarkt zur Verfügung steht. Wir wollen all diejeni-gen, deren Wunsch es ist und die ihr Wahlrecht gernedementsprechend ausüben möchten, den Weg auf denersten Arbeitsmarkt erleichtern. Wir möchten, dass diese
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9906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Kerstin Tack
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Menschen nicht in großen Wohnheimen untergebrachtsind, sondern dass sie im Sozialraum, also mitten unteruns leben – da, wo sie hingehören und wo sie hinwollen.Es ist Auftrag und Ziel der Bundesregierung, die Rah-menbedingungen so zu setzen, dass dies endlich möglichwird.
Aber natürlich ist das nicht alles, was wir uns vorge-nommen haben. Insbesondere wird es um die Frage ge-hen – dies wird eine ganz große Herausforderung –: Wieschaffen wir es, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass erden Anforderungen an Inklusivität Rechnung trägt? Esist nicht unser Auftrag, für Menschen mit Behinderun-gen als ausschließliche Arbeitsform Werkstätten fürMenschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen.Wir möchten die Integrationsbetriebe viel stärker aus-bauen und den Menschen die Gelegenheit geben, sozial-versicherungspflichtig und mindestlohnrelevant auf demersten Arbeitsmarkt tätig zu werden.
– Sie werden sehen: Bereits in Kürze wird Ihnen ein ent-sprechender Vorschlag von uns vorliegen.
Auch was die Teilhabe von Menschen mit Behinde-rungen angeht, sind wir ein großes Stück vorangekom-men, insbesondere beim Zugang zur Demokratie. Damitbin ich beim Petitionsrecht. Gerade bei dieser Möglich-keit der Beteiligung am Parlamentarismus gibt es nocheine ganze Menge Barrieren. Der Bundestag hat sichvorgenommen, diese abzubauen. Das ist auch sein Auf-trag.
Die allergrößten Barrieren – daran kann kein Gesetzetwas ändern – sind die Barrieren in den Köpfen. Man-che Menschen glauben noch immer, dass man Menschenmit Behinderungen am besten schützt, indem man siesehr individuell und abgeschottet in ein Fördersystemsteckt. Wir sagen dazu Nein. Wir haben den Auftrag, ge-nau diese Hürden durch Bewusstseinsbildung zu über-winden. Das ist unser Auftrag.Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Staa-tenprüfung haben uns wichtige Hinweise mit auf denWeg gegeben. Wir sind dankbar für diese Hinweise, weilwir in der politischen Arbeit eine Menge Unterstützungbekommen, wenn wir auch mit einem internationalenAuftrag zur Umsetzung argumentieren können. Das neh-men wir mutig an. Auf geht‘s!Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Frau
Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Fachausschuss für
die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Pro-
bleme in Deutschland benannt und Empfehlungen gege-
ben. Um ehrlich zu sein: Ich war schon überrascht von
der Radikalität des Papiers. Da folgen ganzen sechs Zei-
len mit positiven Aspekten ganze zehn Seiten mit Miss-
ständen und Aufforderungen.
Wenn man das Papier liest, hat man den Eindruck, der
Prozess der Inklusion in Deutschland stehe ganz am An-
fang und es sei bisher schlichtweg nichts passiert. Ich
meine, dass das auch den vielen Menschen nicht gerecht
wird, die sich jeden Tag beruflich oder auch ehrenamt-
lich für Behinderte einsetzen.
In vielen dieser Empfehlungen aus Genf schwingen
pauschale Urteile mit, die mit der heutigen Behinderten-
hilfe in Deutschland nicht mehr viel zu tun haben. Die
Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behin-
derungen und von Förderschulen zu fordern, mag in ein
theoretisches Konzept von Inklusion gut passen. Prak-
tisch passt es aber nicht, vor allem nicht für die Gesamt-
heit der betroffenen Menschen.
Wir sprechen hier über gewachsene Strukturen und
Einrichtungen in unserem Land. Ich bin sicher: Nicht
alle diese Strukturen und Einrichtungen sind auf einmal
schlecht.
Frau Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer zu?
Ja. – Bitte, Frau Rüffer.
Frau Freudenstein, das hört sich jetzt ein bisschen soan, als wären Sie der Meinung, dass Werkstätten für be-hinderte Menschen inklusive Einrichtungen wären. Michwürde jetzt schon interessieren, was Ihre Haltung dazuist.Was sagen Sie dazu, dass 85 Prozent aller Mittel ausder Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen flie-ßen? Was hat das mit Personenzentrierung zu tun? Washat das mit Inklusion zu tun? Sind Sie wirklich der Mei-nung, dass wir schon so weit sind, wie Sie suggerieren?Ich kann mir das nicht vorstellen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9907
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Ich meine tatsächlich, dass wir, wenn es um das Wohlder Menschen mit Behinderungen geht, in allererster Li-nie nicht über das Geld reden sollten, wie Sie das tun,
sondern dass wir einmal schauen sollten, was die Men-schen eigentlich wollen, wie sie leben wollen.
Im Übrigen sind die Zugänge zu den Werkstättenrückläufig.
– Doch! Dass mehr Menschen in Behindertenwerkstät-ten arbeiten, liegt daran, dass die Lebenserwartungsteigt, und nicht daran, dass mehr behinderte Menschenin Behindertenwerkstätten arbeiten wollen.Ich meine in der Tat, dass Werkstätten für Menschenmit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben ge-währleisten. Ich meine nicht, dass alle 300 000 Männerund Frauen, die dort beschäftigt sind, in Sonderweltenleben. Ich glaube, damit täte man den Menschen Un-recht.
Es gab so viele Veränderungen im Denken und in derPolitik der vergangenen 60 Jahre, und es gab auch vieleVeränderungen in den Einrichtungen der Behinderten-hilfe,
und dieser Prozess hat sehr lange vor der Verabschie-dung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen –Gott sei Dank!Werkstatt bedeutet meiner Meinung nach tatsächlich,nicht mehr in einer Sonderwelt zu arbeiten. Es gibt Au-ßenarbeitsplätze. Das sind natürlich viel zu wenige;keine Frage. Aber es werden mehr. Es gibt Integrations-firmen, und es gibt das Budget für Arbeit, das in vielenBundesländern in Anspruch genommen werden kann.
Eine Öffnung der Einrichtungen hat bereits stattge-funden. Das gilt auch für die Förderschulen, KolleginRüffer, die vielerorts längst zu mobilen Förderzentrengeworden sind und Partnerklassen oder einzelinkludierteKinder in Regelschulen betreuen.Natürlich läuft vieles nicht optimal. Natürlich müssenwir unser System immer und immer wieder verbessern.Natürlich muss der Prozess der Inklusion politisch be-schleunigt und unterstützt werden. Aber was ich meine,ist: Wir sollten auf guten Strukturen aufbauen, statt sieniederzureißen. Ich meine, wir sollten die Strukturen er-gänzen, statt sie gegeneinander auszuspielen.
Die Vehemenz, mit der Deutschland in den Empfeh-lungen des UN-Ausschusses als rückständig dargestelltwird, stört mich in der Tat. Selbst Sie von den Grünentrauen sich in Ihrem Antrag nicht, die Forderungen desFachausschusses eins zu eins zu übernehmen, und dasvöllig zu Recht; denn sie sind radikal und in weiten Tei-len einseitig.
Der Antrag enthält einerseits Forderungen, die mo-mentan im Rahmen der Erarbeitung des Bundesteilhabe-gesetzes behandelt werden. Wir werden zum BeispielAnreize schaffen, um mehr Beschäftigungsmöglichkei-ten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Wirsetzen also durchaus Forderungen des Fachausschussesum. Wir wollen das aber mit den Betroffenen tun, unddeshalb geht das auch nicht von heute auf morgen.Der Antrag enthält andererseits aber auch Forderun-gen, die reichlich wirklichkeitsfern und ideologienahsind, etwa die Erhebung der Deinstitutionalisierung zumKönigsweg der Inklusion. Sie schreiben, dass der ge-schützte Raum für manche Menschen mit Behinderungnicht der richtige Weg sei, und das stimmt. Es gibt viele– gerade auch jüngere Menschen –, die ihr Leben mitHandicap gut alleine organisieren können, wenn sie nurhie und da Unterstützung bekommen.Ich sage aber auch: Es gibt auch Menschen, für diegerade dieser geschützte Raum einer Einrichtung wich-tig ist. Sie wollen ihn, oder sie brauchen ihn. Ich habeviele Werkstätten für Menschen mit Behinderungen be-sucht. Da war von den Menschen sehr viel Positives zuhören. Selbst die beiden jungen Männer – die ich be-sucht habe –, die einen Außenarbeitsplatz bei einer Me-tallfirma haben, wollen weiterhin den Kontakt zu ihrerWerkstatt der Lebenshilfe.
Es gibt also nicht den einen Königsweg, sondern fürjeden einzelnen Menschen gibt es einen eigenen Königs-weg.
Meine Vorstellung von Inklusion hat nichts mit demWegreden von Verschiedenheit zu tun, sondern sie hatmit Individualisierung zu tun. Was zählt, ist der Mensch.Danke schön.
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9908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
Dr. Astrid Freudenstein
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4813 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit rufe ich Zu-
satzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
zum Grünbuch
Schaffung einer Kapitalmarktunion
KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15
hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens der Europäischen Kom-
mission
Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der
Drucksache 18/4807. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Wer
enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Dann ist der An-
trag mit den Stimmen der Koalition angenommen wor-
den.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf
gegenseitigem Respekt begründen
Drucksache 18/4799
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Auch hier sehe ich, dass Sie damit einver-
standen sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4799 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist auch der Fall. Dann ist das so ge-
schehen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Debatte.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 8. Mai 2015, ein, und
ich erinnere daran, dass die morgige Plenarsitzung auf-
grund der hier im Plenarsaal stattfindenden Gedenkver-
anstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des
Zweiten Weltkrieges erst um 10.30 Uhr beginnt.
Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
einen schönen Abend.