Protokoll:
18103

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 103

  • date_rangeDatum: 7. Mai 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:33 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/103 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 103. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9779 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9779 D Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 9780 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung wasser- und na- turschutzrechtlicher Vorschriften zur Untersagung und zur Risikominimie- rung bei den Verfahren der Fracking- Technologie Drucksache 18/4713 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9780 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Ausdehnung der Bergschadens- haftung auf den Bohrlochbergbau und Kavernen Drucksache 18/4714 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9780 B c) Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbot von Fracking in Deutschland Drucksache 18/4810 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9780 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz un- verzüglich reformieren Drucksachen 18/848, 18/1124 . . . . . . . . . 9780 C Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9780 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9782 C Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9784 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9786 B Olaf Lies, Minister (Niedersachsen) . . . . . . . 9787 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 9789 D Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9791 A Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9792 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9792 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9793 D Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9795 A Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 9796 A Bernd Westphal (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9797 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9798 B Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9799 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9800 D Karsten Möring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9801 D Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: 50 Jahre diplomatische Beziehungen Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 zwischen Deutschland und Israel: Einge- denk der Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten Drucksache 18/4803 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9803 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Bezie- hungen – Einmaligkeit und Herausforde- rung Drucksache 18/4818 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9804 A Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9804 A Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9805 D Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9807 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9809 B Achim Post (Minden) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9810 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9812 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9813 C Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9814 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9816 C Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9818 A Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9819 C Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundle- genden Wandel in der Asylpolitik Drucksache 18/3839 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9820 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 19: a) Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine faire fi- nanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung von Flücht- lingen Drucksache 18/4694 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9820 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 9820 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9822 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9824 A Charles M. Huber (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9824 D Dr. Lars Castellucci (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9826 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9827 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9829 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9829 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9829 D Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . 9830 D Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9832 A Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9833 D Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Azize Tank, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doppelstandards beenden – Fakultativ- protokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifizieren Drucksache 18/4332 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9835 B b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksache 18/4722 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9835 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordne- ten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes über die Rechtsstellung und Aufga- ben des Deutschen Instituts für Menschen- rechte (DIMRG) Drucksache 18/4798 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9835 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 III Tagesordnungspunkt 24: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- frastruktur zu dem Antrag der Abgeordne- ten Matthias Gastel, Sven-Christian Kindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zur Erhal- tung der Schienenwege jetzt neu ver- handeln Drucksachen 18/3153, 18/3938 . . . . . . . . . 9835 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus Brähmig, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard Blienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln Drucksachen 18/3914, 18/4731 . . . . . . . . . 9836 A c)–g) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 176, 177, 178, 179 und 180 zu Peti- tionen Drucksachen 18/4696, 18/4697, 18/4698, 18/4699, 18/4700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9836 B Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Qualität von Studium und Lehre im internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäischen Hochschul- raum erfolgreich gestalten Drucksache 18/4801 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9836 C b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in Deutschland Drucksache 18/4385 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9836 D c) Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bologna-Prozess grundlegend reformieren Drucksache 18/4802 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9836 D d) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bologna 2015 stärken – Den europäischen Hoch- schulraum konsequent verwirklichen Drucksache 18/4815 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9836 D Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9837 A Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9838 C Dr. Daniela De Ridder (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9839 D Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9841 B Katrin Albsteiger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9842 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9843 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9844 C Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Infor- mationsweiterverwendungsgesetzes Drucksachen 18/4614, 18/4844. . . . . . . . . . . . 9845 D Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9846 A Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9847 A Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9848 A Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9849 C Matthias Ilgen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9850 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9852 A Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz- Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordne- ten Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Der Völker- mord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige historische Aufarbeitung Drucksache 18/4811 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9853 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9853 A Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 9854 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9856 C Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9857 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . 9858 C Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9859 C IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- tion Atalanta zur Bekämpfung der Pirate- rie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Verein- ten Nationen (VN) von 1982 und der Reso- lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De- zember 2008, 1897 (2009) vom 30. Novem- ber 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom 21. November 2012, 2125 (2013) vom 18. November 2013, 2184 (2014) vom 12. November 2014 und nach- folgender Resolutionen des Sicherheitsra- tes der VN in Verbindung mit der Gemein- samen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. No- vember 2008, dem Beschluss 2009/907/ GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Be- schluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem Beschluss 2014/ 827/GASP vom 21. November 2014 Drucksache 18/4769 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9860 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9860 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 9861 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9863 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9864 B Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9865 C Dirk Vöpel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9866 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9867 B Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann (Zwi- ckau), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Gute Arbeit in der Wis- senschaft – Stabile Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf Kosten der Beschäftig- ten und Wissenschaftszeitvertragsgesetz grunderneuern Drucksache 18/4804 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9868 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9868 C Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU) . . . . . . 9870 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9871 D Dr. Simone Raatz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9873 C Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . 9875 B Martin Rabanus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9877 A Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Recht und Verbraucherschutz: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter – KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14 – hier: Stel- lungnahme gegenüber der Bundesregie- rung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund- gesetzes Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843 9878 A Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9878 B Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9879 A Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9879 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9880 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9881 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 9882 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz schaf- fen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch einführen Drucksache 18/4812 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9883 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9883 B Alois Rainer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9884 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9885 B Christina Jantz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9886 B Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9887 C Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9888 C Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen geführten Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 V Mission UNMIL in Liberia auf Grundlage der Resolution 1509 (2003) und nachfol- gender Verlängerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 (2014) vom 15. De- zember 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom 2. April 2015 Drucksache 18/4768 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9889 A Gabi Weber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9889 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9890 C Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9891 C Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9892 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9893 D Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einset- zen Drucksache 18/3049 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9894 B Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9894 C Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) . . . . . . . . 9895 D Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9897 C Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) . . . . . . . . 9897 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9898 B Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9899 C Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 9900 D Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rind- fleischetikettierungsgesetzes Drucksachen 18/4615, 18/4800. . . . . . . . . . . . 9901 D Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Empfehlungen der Vereinten Nationen zur Behindertenrechts- konvention zügig umsetzen Drucksache 18/4813 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9902 A Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9902 B Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9903 A Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9904 B Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9905 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 9906 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9906 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: zum Grünbuch – Schaffung einer Ka- pitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807 9908 A Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Respekt begründen Drucksache 18/4799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9908 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9908 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9909 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände- rung des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 9909 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9909 C Rita Stockhofe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9910 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 9911 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9912 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9912 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zum Grünbuch – Schaffung ei- VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 ner Kapitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier: Stellung- nahme im Rahmen eines Konsultationsver- fahrens der Europäischen Kommission (Zu- satztagesordnungspunkt 4) . . . . . . . . . . . . . . . 9913 B Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9913 B Alexander Radwan (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9914 B Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9915 C Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9916 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . 9917 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9918 C Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Lateinamerika-Gipfel – Be- ziehungen auf gegenseitigem Respekt begrün- den (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . 9919 D Dr. Georg Kippels (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9919 D Waldemar Westermayer (CDU/CSU) . . . . . . 9921 A Dr. Sascha Raabe (SPD). . . . . . . . . . . . . . . . 9923 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9924 A Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9925 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9779 (A) (C) (D)(B) 103. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 Beginn: 9.00 Uhr
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    2) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9909 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.05.2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.05.2015 Becker, Dirk SPD 07.05.2015 Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 07.05.2015 Ehrmann, Siegmund SPD 07.05.2015 Dr. Fabritius, Bernd CDU/CSU 07.05.2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 07.05.2015 Hintze, Peter CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Kofler, Bärbel SPD 07.05.2015 Lotze, Hiltrud SPD 07.05.2015 Motschmann, Elisabeth CDU/CSU 07.05.2015 Müntefering, Michelle SPD 07.05.2015 Nietan, Dietmar SPD 07.05.2015 Pflugradt, Jeannine SPD 07.05.2015 Rawert, Mechthild SPD 07.05.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 07.05.2015 Roth (Heringen), Michael SPD 07.05.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.05.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 07.05.2015 Steinbrück, Peer SPD 07.05.2015 Strothmann, Lena CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.05.2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 07.05.2015 Zimmermann (Zwickau), Sabine DIE LINKE 07.05.2015 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgeset- zes (Tagesordnungspunkt 15) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Vor 15 Jahren ver- setzten Bilder von an BSE erkrankten Rindern die Ver- braucherinnen und Verbraucher in ganz Europa in Angst und Schrecken. Der sogenannte Rinderwahnsinn, der in torkelnden, aggressiven oder stürzenden Kühen auf grausam anschauliche Weise sichtbar wurde, und insbe- sondere der Verdacht des Auslösens der Creutzfeldt- Jakob-Krankheit beim Menschen, verunsicherte nach Auftreten der ersten BSE-Fälle auch in Deutschland die Bevölkerung erheblich. Maßnahmen wurden schnell er- griffen. Eine Folge der BSE-Krise ist, dass seit dem 1. September 2000 in allen Mitgliedstaaten der EU die Verpflichtung zur Rindfleischetikettierung besteht, um die Herkunft des Rindfleischs transparent zu machen. Von der Ladentheke über sämtliche Stufen der Vermark- tung bis hin zum Einzeltier bzw. einer Gruppe von Tie- ren sollte jedes Stück Rindfleisch zurückverfolgbar sein. Dazu werden die Tiere seither gleich nach der Geburt mit zwei identischen Lebendohrmarken gekennzeichnet und mit einer Ohrenmarkennummer registriert, über die das lebende Rind jederzeit identifiziert werden kann. Nach der Schlachtung dann wird die Rückverfolgbarkeit über die Etikettierung gewährleistet, die vom Schlacht- hof bis zum Einzelhandel auf frischem, gekühltem oder gefrorenem Rindfleisch sowie Hackfleisch, für verpack- tes oder unverpacktes Fleisch erfolgt. Obligatorisch müssen dabei angegeben werden: eine Referenznummer oder ein Referenzcode, mit dem die Verbindung zwi- schen Fleisch und Tier gewährleistet wird, die Zulas- sungsnummer des Schlachthofs sowie der Staat, in dem der Schlachthof liegt, die Zulassungsnummer des Zerle- gebetriebes sowie der Name des Staates, in dem der Be- trieb liegt, und der Staat bzw. die Staaten, in denen Ge- burt und Mast des Rindes erfolgten. Darüber hinaus konnten bisher zusätzlich freiwillige Angaben, zum Beispiel zu regionaler Herkunft, Rasse, Kategorie oder Bedingungen der Erzeugung des Flei- sches gemacht werden, wenn durch die Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft das eigene Etikettie- rungssystem genehmigt wurde, oder in einer Organisa- tion, deren Etikettierungssystem genehmigt wurde eine Mitgliedschaft bestand. Mit der Gesetzesänderung, die wir heute Abend beschließen, wird das System der fa- kultativen Etikettierung von Rindfleisch abgeschafft. Freiwillige Angaben der Marktbeteiligten zum Rind- fleisch bleiben zwar möglich, müssen künftig aber nicht mehr im Vorhinein genehmigt werden. Sie müssen künf- tig lediglich den horizontalen, allgemein geltenden Vor- schriften entsprechen. Wir setzen damit 1:1 geändertes EU-Recht in nationales Recht um. Anlagen 9910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) Die Verpflichtung zur obligatorischen Herkunfts- kennzeichnung von Rindfleisch dagegen bleibt unverän- dert bestehen. Die Kontrollzuständigkeit wird zukünftig aber vollständig auf den Bund übertragen und von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung wahr- genommen. Damit verbessern wir die Funktionsfähig- keit der Kontrollen. Die bisher zwischen Bund und Län- dern geteilte Zuständigkeit hat sich aufgrund größerer Reibungsverluste bei der Feststellung der Zuständigkeit nicht bewährt. Die Mehrzahl der Betriebe wird zudem bereits jetzt durch den Bund kontrolliert. Gleichzeitig werden die Aufgaben des Bundes ver- schlankt, da dieser dann keine privaten Kontrollstellen mehr anerkennen muss, die bisher von den Ländern be- auftragt wurden. Dies vereinfacht zum einen den Ver- waltungsaufwand und stärkt zum anderen die Effektivi- tät. Darüber hinaus entspricht die Vereinfachung der Rechtsvorschriften übrigens auch einer nachhaltigen Entwicklung. Zudem wird es in Zukunft leichter möglich sein, länder- übergreifende Betrugsfälle im Bereich der Rindfleischeti- kettierung zu bekämpfen. Schnelle Überprüfungen kön- nen nunmehr auch über Ländergrenzen hinweg erfolgen. Insgesamt wird dadurch der gesundheitliche Verbrau- cherschutz gestärkt und dazu beigetragen, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher gesund ernähren können. Es ist daher gut, dass dieses bewährte und er- folgreiche Transparenz- und Überwachungssystem, wel- ches das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumen- ten in Rindfleisch nach der BSE-Krise wiederhergestellt hat, durch die gesetzliche Anpassung noch effektiver und effizienter wird. Rita Stockhofe (CDU/CSU): Das Vierte Gesetz zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes setzt geändertes EU-Recht in nationales Recht um. Die Ver- pflichtung zur obligatorischen Herkunftskennzeichnung von Rindfleisch bleibt unverändert bestehen. Die Zu- ständigkeit für die Kontrolle der obligatorischen Anga- ben sollen vollständig dem Bund übertragen und von der Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft wahr- genommen werden. Durch eine Verwaltungsvereinfa- chung und Effektivitätsvereinfachung wird das Bürokra- tieabbaugebot umgesetzt. Die Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch gibt es ja schon lange. Die wenigsten Verbraucher und somit Ge- nießer wissen, wie das gewährleistet wird: Schon wenn ein Kalb geboren wird, erhält es den sogenannten Tier- pass. Gleichzeitig wird in jedes Ohr eine Ohrmarke ein- gezogen, auf der ein Strichcode und eine Nummer ange- geben sind. Wenn eine dieser Ohrmarken verloren wird, muss sie umgehend ersetzt werden. Gleichzeitig müssen alle wichtigen Angaben wie Geburtstag, Geschlecht und Mutter in eine Datenbank eingegeben werden. Wenn die- ses Kalb dann irgendwann den Betrieb verlässt, muss dieser Vorgang als Abgang in dieser Datenbank ver- merkt werden, genauso wie jeder Zugang. Auch die Viehhändler und Schlachthöfe müssen diese Datenbank pflegen. Auch innerhalb des Schlachthofes muss jedes Fleischstück zu jeder Zeit den entsprechenden Daten zu- geordnet werden können. Diese Kette wird bis zur Fleischtheke weitergeführt. Von einigen Seiten werden immer noch weitere Kenn- zeichnungsvorschriften gefordert. Wenn man sich im Detail mit solchen Forderungen auseinandersetzt, wird allerdings häufig klar, dass viele Verbraucher sich nicht umfassend informiert fühlen. Häufig wissen sie aber auch nicht, welche Vorgaben bereits bestehen. Der Verbraucher hat einen Anspruch auf Wahrheit und Klarheit. Beim Gang durch den Supermarkt kann dem Verbraucher schwindelig werden angesichts der Vielzahl an Produkten und Werbeversprechen. Um es sich einfach zu machen und ein gutes Gewis- sen beim Einkauf zu haben, greifen viele Verbraucher gerne zu den Bioprodukten. Doch Fakt ist, was alles un- ter dem Biosiegel in den Regalen zu finden ist, hat oft nichts mit ländlicher, reiner, handwerklicher Herstellung zu tun, die so gerne suggeriert wird. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Immer wieder gerne wird der Begriff der Massentierhaltung angeführt, wenn über die konven- tionelle Tierhaltung gesprochen wird. Zum einen gibt es bislang keine abgestimmte Definition für eine soge- nannte Massentierhaltung. In Umfragen empfinden Verbraucher häufig schon Ställe mit 100 Tieren als „Massentierhaltung“. Dennoch erlaubt die EU-Biover- ordnung erstaunlich große Herden, beispielsweise dür- fen bis zu 3 000 Legehennen zusammen gehalten wer- den, bis zu sechs Hühner teilen sich einen Quadratmeter. Als Auslauffläche genügen vier Quadratmeter pro Tier, aber der Bauer hat einen großen Ermessensspielraum: Er muss die Tiere auf diese Fläche nur schicken, wenn „die klimatischen Verhältnisse es zulassen“. Das Tierwohl hängt nicht davon ab, ob ein Landwirt 10, 500 oder 2 000 Tiere hält. Entscheidend ist das Tier- wohl jedes einzelnen Tieres, nicht in erster Linie die Ge- samtzahl. Hierfür ist maßgeblich, wie der Betrieb geführt wird, ob Tiere regelmäßig versorgt werden und wie sich die Qualität der Stallanlagen darstellt, und nicht, ob es ein Biohof oder ein konventionell betriebener Hof ist. Für mehr Transparenz sorgt auch die im Dezember 2014 auf den Weg gebrachte Lebensmittelinformations- verordnung mit mehr Klarheit bei Klebeschinken, Trans- parenz bei Allergenen, Hinweise auf Energydrinks, Infos zu Einfrierdatum und Nanomaterialien sowie einheitli- che Bedingungen für den freien Warenverkehr. Dies ist ein weiterer Meilenstein für mehr Klarheit und Wahrheit bei der Aufmachung und Kennzeichnung von Lebensmitteln und sorgt an vielen Stellen dafür, dass die Menschen besser erkennen, was in den Lebens- mitteln enthalten ist. Ab Dezember 2016 wird auch die einheitliche Angabe von Nährwerten für vorverpackte Lebensmittel verpflichtend. Wir haben schon viel auf den Weg gebracht und wer- den noch mehr zur besseren Information der Verbraucher tun, beispielsweise will das Europäische Parlament, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9911 (A) (C) (D)(B) auch die Ursprungskennzeichnung von Fleisch in verar- beiteten Lebensmitteln vorgeschrieben wird. Aufpassen müssen wir allerdings auch, dass die Ver- braucher nicht mit Informationen überladen werden. Ich halte es deshalb für eine gute Idee, alle Informationen zu einem Produkt in einem QR-Code aufzulisten. Schon im Supermarkt könnten Kunden sich dann per Smartphone über das jeweilige Produkt informieren. Hierfür müssten sie einfach den Code auf der Verpackung einscannen. Idealerweise bietet jeder Supermarkt zukünftig einen Scanner für die Kunden an, die kein Smartphone besit- zen. Ich bin Mitglied im Petitionsausschuss und lese dort häufig Forderungen von Petenten, die seit Jahren umge- setzt werden. Deshalb appelliere ich hier an dieser Stelle. Wenden Sie sich bei Fragen, aber auch bei Forderungen, an die Praktiker. Gehen Sie zum Erzeuger, fragen Sie beim Fleischer, auf Bauernhöfen oder Wochenmärkten. Dort kann man Ihnen berichten, wie die Praxis aussieht. Nur wenn wir im Dialog zwischen Verbrauchern und Herstellern bleiben, kann auch ein guter Informations- austausch stattfinden. Und das ist die Basis für ein gutes Miteinander und beugt Misstrauen, das häufig durch Nichtwissen, aber auch durch fehlgeleitete Informatio- nen besteht, vor. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Viertes Gesetz zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes“. Ich weiß: Man möchte erst einmal spontan einschlafen, wenn man das hört. Aber halt! Bei der Rindfleischetiket- tierung handelt es sich um ein System der Herkunfts- kennzeichnung für Fleisch. Und das ist ein Thema, das uns und die Verbraucherinnen und Verbraucher mächtig bewegt. Die Menschen wollen zu Recht wissen, wo ihr Fleisch herkommt. Leider erfahren sie das im Moment nur, wenn sie es als Steak oder Hackfleisch kaufen, nicht aber, wenn es bereits zu Lasagne oder Fleischsalat verar- beitet wurde. Das muss sich ändern. Und die Technik, die von Unternehmen aufgebaut wurde, um die Vorga- ben des Rindfleischetikettierungsgesetzes zu erfüllen – die kann das möglich machen. Aber eins nach dem anderen. Warum gibt es das Gesetz überhaupt, über das wir heute reden? Die BSE-Krise Anfang der 2000er erschütterte das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in Rindfleisch massiv. Daraufhin ist EU-weit ein transpa- rentes System der Herkunftskennzeichnung für Rind- fleisch eingeführt worden. Die Ohrmarkennummer der Tiere werden in Datenbanken eingegeben, und fortan ist nachvollziehbar, wo die Tiere geboren, gemästet, ge- schlachtet und zerlegt worden sind. Diese Angaben sind Pflicht. Über die Verpackung können das deshalb auch Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehen. Wei- tere freiwillige Angaben – zum Beispiel zur Herkunfts- region – dürfen ebenfalls gemacht werden. Was ändert sich jetzt? Wir müssen das Rindfleischetikettierungsgesetz an geänderte EU-Vorgaben anpassen. Die freiwilligen Angaben mussten bisher von der Bundesanstalt für Ernährung, kurz BLE, genehmigt wer- den. Die Betriebe mussten bisher auch die Systeme, die sie zur Rückverfolgung installiert haben, von der BLE zertifizieren lassen. Beides entfällt jetzt. Das ist auch in Ordnung, denn die Systeme sind inzwischen installiert und erprobt. Beides wird aber selbstverständlich weiter- hin von der Lebensmittelüberwachung überprüft. Alle Angaben auf der Verpackung müssen nach wie vor stim- men und objektiv nachvollziehbar sein. Die Stellen, die bei der BLE dadurch frei werden, ge- hen in die Überwachung. Denn die dritte wichtige Neue- rung ist, dass die Kontrolle der Rindfleischetikettierung und Rückverfolgbarkeit nun vollständig auf die BLE, also den Bund, übergeht. Vorher teilte der Bund sie mit Ländern und privaten Kontrollstellen. Damit ist die Überwachung in einer Hand. Reibereien um Zuständig- keiten haben ein Ende. So viel zum Rindfleisch. Es wird viele Verbraucherin- nen und Verbraucher beruhigen, dass es gut überwacht ist und sie an der Fleischtheke nachvollziehen können, wo es herkommt. Das können sie seit April dieses Jahres übrigens auch bei Schweine-, Schaf-, Geflügel- und Ziegenfleisch. Sie können es aber – ich sagte es eingangs – leider immer noch nicht beim schon panierten Schnitzel, Hühnchen- burger oder Fleischsalat. Die Kolleginnen und Kollegen im EU-Parlament haben die Kommission im Februar aufgefordert, endlich einen Gesetzesvorschlag vorzule- gen, der die Herkunftsangabe auch bei verarbeitetem Fleisch vorschreibt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag unterstützen diese Forderung. Wir haben im Koalitionsvertrag auch vereinbart, dass sich unsere Bun- desregierung dafür in Brüssel einsetzen soll. Noch war- ten wir darauf, dass das passiert. Minister Schmidt – übernehmen Sie! Dabei zeigt die Rindfleischetikettierung: Es geht. Die Unternehmen sind – selbstverständlich – in der Lage, Systeme aufzubauen, mit deren Hilfe sie Fleisch lücken- los zurückverfolgen können. Diese Technik, diese Sys- teme und auch die Erfahrungen aus der Überwachung können und müssen wir nutzen, um endlich umfassende Transparenz über die Herkunft von Fleisch zu schaffen. Dass das Lasagne und Co. massiv verteuern würde, ist eine Ausrede. Die Zahlen, auf denen diese Ausrede basiert, stammen von der Lebensmittelwirtschaft. Eine französische Verbraucherorganisation hat dagegen aus- gerechnet, dass es nur zu Preissteigerungen von ein bis zwei Prozent kommen würde. Das ist zu verkraften. Schon allein deshalb, weil es wirklich alle Unternehmen zwingt, funktionierende Systeme der Rückverfolgbarkeit aufzubauen. Mehr Transparenz bedeutet mehr Lebens- mittelsicherheit. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wo das Fleisch in der Lasagne herkommt. Wir müssen dafür 9912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) sorgen, dass sie diese Informationen endlich auch be- kommen. Karin Binder (DIE LINKE): Mit dem hier vorliegen- den Gesetz zur Änderung der Etikettierung von Rind- fleisch wird im Wesentlichen eine Vereinfachung für die Betriebe vorgenommen. Das ist sinnvoll und findet un- sere Unterstützung. Die dafür erforderlichen Kontrollaufgaben sollen vollständig auf den Bund übertragen werden. Auch das ist überaus sinnvoll. Die Linksfraktion fordert seit lan- gem, dass der Bund mehr Verantwortung bei der behörd- lichen Überwachung im Lebensmittelbereich über- nimmt. Der Grund liegt auf der Hand: Das Lebensmittelrecht ist fast vollständig EU-einheitlich geregelt. Doch in Deutschland sind über 400 Kontrollbehörden zuständig, zersplittert und verteilt auf Bundesländer und Kommu- nen. Dem gegenüber stehen globalisierte Lebensmittel- konzerne, die Zutaten weltweit zusammenkaufen und europaweit vermarkten. Hinzu kommt: Lebensmittel werden zunehmend im Internet angeboten. Ich frage Sie: Welche Gemeinde und welcher örtliche Lebensmittel- kontrolleur soll hier zuständig sein? Die Linke sagt: Der Bund muss bei überregionalen und internationalen Un- ternehmen die Verantwortung für die Lebensmittelüber- wachung haben. Ärgerlich ist, dass sich diese Bundesregierung einmal mehr um eine vollständige Ursprungskennzeichnung bei Fleisch herumdrückt. Denn dabei geht es um ein Kern- anliegen des Verbraucherschutzes und um die Glaubwür- digkeit der ganzen Fleischbranche. 90 Prozent der Ver- braucher halten eine Ursprungsangabe bei allen Fleischprodukten für notwendig, damit sie eine selbstbe- stimmte Kaufentscheidung treffen können. Auch das EU-Parlament fordert deshalb eine ver- pflichtende Herkunftskennzeichnung von verarbeitetem Fleisch. Das ist unverzichtbar für glaubwürdige Verbrau- cherinformationen. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen ist dieser Schritt das Mindeste, um das Ver- trauen der Verbraucher – auch in die Behörden – wieder- herzustellen. Ein konsequentes Rückverfolgbarkeitssystem trägt maßgeblich dazu bei, Verstöße gegen Lebensmittelvor- schriften aufzudecken und zu verhindern. Im Vergleich zu diesem Nutzen sind die zusätzlichen Kosten von etwa 2 Prozent zu vernachlässigen. Abschließend noch ein Hinweis zur Frage, ob das Rindfleischetikettierungsgesetz „nachhaltig“ ist. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung weist in seiner Stellungnahme zu diesem Gesetz darauf hin, dass der Nachhaltigkeitsbegriff durch die Bundesre- gierung gern und häufig und nicht immer sinnvoll ver- wendet wird. Die Bundesregierung erklärt dann auch, dass dieses Gesetz einer nachhaltigen Entwicklung dient, weil Vorschriften vereinfacht werden. Das Zusam- menstreichen von Rechtsvorschriften an sich ist keine Maßnahme der Nachhaltigkeit. Gerade im Tierschutz, im Umweltschutz und im Verbraucherschutz geht es da- rum, wirksame Vorschriften zu erlassen – auch wenn sie für die Wirtschaft nicht immer zu Vereinfachungen füh- ren. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Torkelnde, stürzende Kühe, brennende Rinderka- daver und zerfressene Gehirne, verunsicherte Verbrau- cher, bestürzte Politiker – der Rinderwahnsinn vom Jahre 2000 ist uns allen noch gut im Gedächtnis geblie- ben. Eine der vielen Sofortmaßnahmen damals war der Beschluss des Rindfleischetikettierungsgesetzes, wel- ches ein System der Herkunftssicherung für Rindfleisch schaffen sollte. Rindfleisch sollte EU-weit von der Be- dientheke über alle Vermarktungs- und Erzeugungsstu- fen bis zu einer Gruppe von Tieren zurückverfolgt werden können. Das war damals ein Gewinn für den Verbraucherschutz und schuf Transparenz über die Her- stellung von tierischen Erzeugnissen. Vor allem war es notwendig angesichts der Situation und der Gefahren, die mit dem System der Haltung und Fütterung von Tie- ren verbunden waren. Ein System, in dem Tiere zu den Abfallverwertern der industriellen Schlachtkörperver- wertung und anderer industrieller Abfälle degradiert wurden. Für das damalige Problem wurden so Lösungen ge- funden, die sinnvoll waren. Was damals gut war, gilt heute als nicht schlecht. Aber wo stehen wir heute? Hat sich an dem System, in dem Tiere gehalten werden, etwas verändert? Hat sich die Transparenz über die Her- kunft tierischer Erzeugnisse verbessert? Hat die Etiket- tierung zum Beispiel verhindert, dass wir 2013 in unse- rer Lasagne Pferdefleisch kosten durften oder dass die fleißigen Ikea-Gänger auf die schwedischen Köttbullar verzichten mussten? Nein, das nicht. Aber ich denke, zu- mindest hat sich ein Bewusstsein gebildet, zumindest hat sich eine Offenheit entwickelt, über Probleme zu spre- chen und nach Lösungen zu suchen. Die Herausforderungen vor 15 Jahren waren andere als heute. Heute führen wir eine Debatte, die sich weiter- entwickelt hat. Heute müssen wir weiter gehen. Das Gut- achten des wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik hat das gezeigt. Gestern haben wir im Agrarausschuss mit Herrn Professor Grethe über die Konsequenzen da- raus gesprochen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit von Änderungen in der Tierhaltung weiterentwickelt hat. Die Gräben, die vorhanden waren, beginnen sich zu schlie- ßen. Die Herausforderungen sind groß. Es gibt viel zu tun. Eine reine Etikettierung reicht heute deshalb nicht mehr aus. Notwendig ist eine hundertprozentige Transparenz über die Art und Weise der Haltung von Tieren, damit der Verbraucher eine Orientierung hat und nach eigenem Wissen und Gewissen entscheiden kann und entscheiden soll. Außerdem darf der Weg vom Produzenten über Händler und Weiterverarbeiter hin zum Endverbraucher keine Lücken oder Möglichkeiten des Betrugs zulassen. Wir begrüßen die Weiterentwicklung des Rindfleisch- etikettierungsgesetzes. Es führt zu einer Effektivitätsstei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9913 (A) (C) (D)(B) gerung und verhindert landesgrenzenüberschreitende Betrugsfälle. Doch wir fordern mehr: Wir brauchen eine Kennzeichnung von frischem und auch verarbeitetem Fleisch: Es muss klar nachvollzieh- bar sein, woher jedes Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egal ob Frischfleisch oder Raviolifüllung – oder in der Lasagne. „Nur wer gut informiert ist, kann bewusst entscheiden“, mit dieser Devise hat Bundes- minister Christian Schmidt im Rahmen der Infokampa- gne zur Lebensmittelkennzeichnung agiert. Doch wie, verehrter Herr Schmidt, soll der Otto Normalverbrau- cher an der Ladentheke entscheiden können? Da hilft auch Ihr nettes, kleines Broschürchen „Kennzeichnung von Lebensmitteln“ nicht wirklich weiter, wenn es um die Herkunft und Haltungsverfahren geht. Um dem Verbraucher einen guten und vor allem ein- fachen Überblick zu geben und die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Qualitäten und Herkünften zu ermöglichen, braucht es ein Gesetz zur klaren Defini- tion von Haltungsverfahren bei Rindfleisch, um die Ent- scheidung beim Kauf zumindest von Rindfleisch wieder nachvollziehbarer und strukturierter zu gestalten. Es braucht ein Konzept mit der Kennzeichnung 0 bis 3, so wie meine Kollegin Nicole Maisch es just erläutert hat. Den Erfolg dieses Konzepts zeigt die vor einigen Jahren eingeführte Eierkennzeichnung. Wir sind mit unserer Idee nicht alleine – die Länder arbeiten seit Monaten an einem Modell. Im Gegensatz zur Tierwohl-Initiative hielte unser Konzept auch tatsächlich das, was es ver- spräche. Dieses Thema könnte man sehr leicht unter „eine Frage der Haltung“ stecken. Und wer war das noch mal, der diesen Ansatz so lauthals vertritt? Ach ja, der Herr Minister Schmidt. Wollen wir mal schauen, ob er nur mal wieder Großes ankündigt, was dann versandet, oder tatsächlich mal die richtige Haltung einnimmt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zum Grünbuch – Schaffung einer Kapitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultations- verfahrens der Europäischen Kommission (Zusatztagesordnungspunkt 4) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Erstens. Wenn man die zahlreichen europäischen Richtlinien und Verord- nungen vor Augen hat, die in den letzten Jahren zur Ver- einheitlichung des Kapitalmarkts in Europa verabschie- det wurden, hat man den Eindruck, dass es einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt längst geben müsste. Das ist – leider – nicht der Fall, weil – wie so oft – der „Teufel im Detail“ liegt. Das von der Europäischen Kommission am 18. Februar 2015 vorgelegte Grünbuch „Schaffung einer Kapitalmarktunion“ zielt daher durch- aus zu Recht darauf ab, diese noch vorhandenen Defizite zu beseitigen. Was dabei leider fehlt, ist eine klare Prio- risierung der verschiedenen in den Raum gestellten Vor- schläge. Zweitens. Andererseits ist bei manchen Vorschlägen leicht absehbar, dass es Widerstand aus den Mitglied- staaten geben wird. Denn die aus der Sicht der Kommis- sion wünschenswerte größere Rolle für die europäischen Aufsichtsbehörden wird sich nur erreichen lassen, wenn die Mitgliedstaaten davon überzeugt werden, dass dies per Saldo zu deutlichen (!) Effizienzgewinnen für die Marktteilnehmer – und auch für die Mitgliedstaaten selbst – führt. Ein einheitliches Genehmigungsverfahren für Prospekte wäre hier sicher denkbar. Aber „mehr europäische Regulierung“ ist beileibe kein Selbstläufer. Drittens. Die Kommission führt für ihr Ziel die Paral- lele zur Bankenunion ins Feld, für die wir in diesem Haus vor wenigen Monaten die letzten Weichen gestellt haben. Diese Parallele ist freilich nur halb richtig: Denn bei der Bankenunion stand die Vermeidung von „Sys- temrisiken“ – also Dominoeffekten – im Vordergrund, insbesondere im Zusammenhang mit der Währungs- union, während es hier um die Schaffung bzw. Verbesse- rung des Marktzugangs auch für die einzelnen Marktteil- nehmer geht. Deshalb wird, wenn die Kommission sich – zu Recht – für eine verbesserte grenzüberschreitende Eigenkapitalfinanzierung ausspricht, ebenso berechtigt die Frage gestellt, ob denn wirklich bereits ein funktio- nierender grenzüberschreitender Kreditmarkt existiert. Was hier als Kreditsicherheit in Betracht kommt, unter- liegt beträchtlichen nationalen Unterschieden: Zu nennen sind etwa die verschiedenen Wege der Hypothekenfinan- zierung einerseits und die Möglichkeit der Unterneh- menshypothek – „floating charge“ – andererseits. Das gehört durchaus auch in den Kontext der von der Kom- mission anvisierten Maßnahmen zu Kreditinformationen über kleine und mittlere Unternehmen, KMU, und zur Wiederbelebung der Märkte für Verbriefungen. Viertens. Zu Recht bezieht die Kommission auch die indirekt den europäischen Kapitalmarkt berührenden Rechtsbereiche in ihre Überlegungen ein, vor allem das Gesellschafts-, das Insolvenz- und das Steuerrecht. Im Insolvenzrecht seien zwei Hürden genannt, die durchaus einer europäischen Regelung harren: So stellt sich die Frage, ob im Rahmen von Sanierungen die Prospektkon- trolle auch in das Insolvenzverfahren – insbesondere das Planverfahren – integriert werden kann. Zum Zweiten ist im Übernahmerecht zu prüfen, ob der systematische Aufkauf von Forderungen mit dem Ziel einer „Umwand- lung“ in Eigenkapital – „loan to own“ – im Rahmen ei- nes Insolvenzverfahrens nicht auch den übernahmerecht- lichen Schutzmechanismen zu unterwerfen ist. Große Probleme bei der grenzüberschreitenden Finanzierung be- reitet die konzerninterne Finanzierung – Stichwort: Cash Pooling. Hier wäre Rechtssicherheit durch Adressierung in der geplanten „Konzernrichtlinie“ nachdrücklich wünschenswert. Gerade was die Eigenkapitalseite an- geht, bleibt im Übrigen das Thema „Grenzüberschrei- tende Stimmrechtsausübung“ auf der Agenda. 9914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) Fünftens. Stichwort Rechnungslegung: Rechnungsle- gung ist heute nicht mehr nur ein Thema des Gesell- schaftsrechts, sondern – jedenfalls auch – des Kapital- marktrechts, geht es doch darum, die Vergleichbarkeit der verschiedenen am Kapitalmarkt gehandelten Emit- tenten zu gewährleisten. Die Internationalen Rechnungs- legungsstandards, IFRS, haben hier einen bedeutenden Beitrag zur – auch über Europa hinausgehenden – Ver- einheitlichung der Kapitalmärkte geleistet. Geht es aber um nicht börsennotierte Unternehmen, insbesondere also KMU, tritt dieser Gesichtspunkt zurück. Die Bedeutung des Rechnungslegungsrechts als Ordnungsrahmen für die gesellschaftsinternen Beziehungen, insbesondere auch die Ausschüttungsbemessung und allgemeiner der Gläubigerschutz, tritt in den Vordergrund. Bestrebungen, auch hier eine zwingende Bilanzierung nach den IFRS vorzusehen, halten wir daher nicht für gerechtfertigt. Denn ganz unabhängig davon, ob der theoretische An- satz der IFRS auch für die eher gesellschaftsrechtlichen Zwecke der KMU passend ist, lässt er sich nur mit einem beträchtlichen zusätzlichen Kostenaufwand verwirkli- chen. Das von uns favorisierte Festhalten an der Bilan- zierung nach HGB ist daher auch eine Maßnahme der Bürokratievermeidung. Das schließt freilich nicht aus – und darüber wird man im Einzelfall nachzudenken haben –, dass nicht auch einzelne Elemente der IFRS in das HGB übernommen werden, wie wir das auch in der Vergangenheit schon ge- tan haben. Ebenso kann es Situationen geben, wo auch für KMU eine internationale Vergleichbarkeit notwendig ist. Ihnen fakultativ eine Bilanzierung nach IFRS oder einem dritten Standard zu ermöglichen, wäre daher si- cher denkbar. Sechstens. Ein letzter Blick soll dem Thema Steuern gelten – zweifellos vermintes Gelände: Hier besteht – vor allem aus der Sicht des Insolvenzrechtlers – das Grundproblem bereits im Ansatz – nämlich, dass Eigen- kapital im Verhältnis zu Fremdkapital steuerlich benach- teiligt wird. Zu diesem allgemeinen Problem kommt aber im europäisch-grenzüberschreitenden Kontext hinzu, dass das System des Quellensteuereinbehalts sehr unterschiedlich praktiziert wird – vor allem was die Be- messungsgrundlage und das Anrechnungs- und Erstat- tungssystem angeht. Die Lösung dieser Fragen auf der Grundlage der Grundfreiheiten sollte nicht allein dem EuGH überlassen werden. Alexander Radwan (CDU/CSU): Die Europäische Kapitalmarktunion ist das Projekt in der Finanzmarkt- regulierung in der Verantwortung von Kommissar Hill. Derzeit findet die Grünbuchkonsultation der Europäi- schen Kommission statt, zu der die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen haben, dass der Deutsche Bundestag sich beteiligt. Brüssel soll vom gewählten Parlament nicht erst hören, wenn schon alles entschieden ist und nur noch implementiert werden soll. Mit diesem Antrag wollen wir uns frühzeitig einbrin- gen und der Kommission, insbesondere dem Engländer Lord Jonathan Hill und natürlich dem BMF, unsere wichtigen Punkte mit auf den Weg geben – mit der nach- drücklichen Bitte um Berücksichtigung. Die Idee eines integrierten Binnenmarktes für Finanz- dienstleistungen ist nicht neu, bereits im Jahr 1999 gab es die Initiative für den FSAP, den Aktionsplan für Finanzdienstleistungen. Doch lassen sie mich zunächst kurz das Vorhaben der Kapitalmarktunion schildern, bevor ich unsere Punkte vertiefe. Die Kommission ist der Ansicht, die europäische Un- ternehmensfinanzierung gestalte sich zu wenig über den Kapitalmarkt und zu sehr über die reine Bankenfinanzie- rung. Hier setzt Hill an und komplettiert damit Junckers Beschäftigungs- und Wachstumsinitiative, die aufseiten der Investitionen im Juncker-Plan, dem 315-Milliarden- Euro-Paket, verankert ist. Auch sieht die Kommission kritisch, dass der europäi- sche Finanzmarkt seit der globalen Finanzkrise 2007/ 2008 zu sehr an nationalen Grenzen haltmache. Durch die Kapitalmarktunion soll das Angebot an al- ternativen Finanzierungsoptionen für Unternehmen ver- breitert werden, um Kapitalmarktfinanzierung insbeson- dere zugunsten von kleinen und mittelständischen Unternehmen zu diversifizieren und zusätzliche Alterna- tiven zur klassischen Bankenfinanzierung zu ermögli- chen. Auch soll die Kapitalmarktunion für mehr Investitio- nen aus Drittstaaten attraktiver werden und das Finanz- system durch die Erschließung einer breiteren Palette an Finanzierungsquellen stabilisieren. Immer wieder betont Hill, auch zuletzt hier im Bun- destag in einem Gespräch mit dem Finanzausschuss, die Kapitalmarktfinanzierung könne für Deutschland nur er- gänzend sein. Lassen Sie mich nun erläutern, welche Punkte wir hier kritisch sehen und uns auch im Antrag dementspre- chend äußern. Bei all den Reformen, die Hill hier anstrebt, dürfen vor allem der deutsche Schuldschein- und Pfandbrief- markt nicht leiden. Auch muss Hill sich Gedanken dazu machen, welche Maßnahmen für die Eigenkapitalfinanzierung ergriffen werden können – hier muss es vor allem grenzüber- schreitende Lösungen geben, damit Risiken verantwor- tungsvoll gestreut werden. Zwingend, und das ist mein Hauptpunkt, darf der Zu- gang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapitalmarkt- union nicht erschwert werden. Seit Jahrzehnten bewährt sich das deutsche Drei-Säu- len-Modell, insbesondere in Krisenzeiten, wie die letzten Jahre zeigen. Die Sparkassen und Genossenschaftsban- ken haben sich tapfer durch die Krise geschlagen und sie sicher nicht verursacht. Kleine und mittlere Unterneh- men vertrauen seit jeher auf die verlässliche Finanzie- rung bei ihrer Hausbank, mit der sie eine Vertrauensbe- ziehung eingegangen sind – aus gutem Grund. Hier ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9915 (A) (C) (D)(B) jemand greifbar, man kennt sich, man kennt die Um- stände, weiß, mit wem man es zu tun hat. Die Vertrau- ensbeziehung droht in der Kapitalmarktfinanzierung kaputtzugehen – und ich sehe kein kleines oder mittel- ständisches Unternehmen in meinem Wahlkreis in Bay- ern, das nun Prospekte anfertigen lässt und Anleihen ausgibt. Hier kann die Rede nur von einem sehr geringen Anteil an den kleinen und mittelständischen Unterneh- men sein, die davon Gebrauch machen würden – und wohl auch zu Recht. Viel eher müssen wir hier darüber sprechen, wie klei- nen Unternehmen der Zugang zur Bankenfinanzierung erleichtert werden kann – und hier dürfen wir nicht nur an deutsche Unternehmen und Kreditinstitute denken, sondern auch an die von der Kreditklemme bedrohten Unternehmen und Banken in den europäischen Mitglied- staaten. Hier erwarte ich von der Kommission, dass sie sich mit gleichem Elan dafür einsetzt, in diesen Staaten eine leistungsfähige Bankenstruktur, insbesondere Re- gionalbanken, zu etablieren. Den Proportionalitätsgrundsatz bei Regulierung und Finanzierungsauflagen dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, das heißt, keine Finanzierungsform darf be- vorzugt oder benachteiligt werden. Insgesamt müssen hier Wirkungen und Wechselwirkungen bestehender und noch nicht in Kraft getretener Finanz- und Kapitalmarkt- regelungen umfassend analysiert und evaluiert werden, bevor neue Vorhaben kommen. Strukturen lokal und regional ausgerichteter Kreditin- stitute müssen europaweit verankert und gefördert wer- den. Die Kapitalmarktunion ersetzt in keinem Falle not- wendige Investitionen und Strukturreformen. Hier müssen wir trotz des Hill-Vorhabens zusehen, dass sowohl Investitionen europaweit als auch Struktur- reformen endlich kommen und durchgesetzt werden. Dazu gehört natürlich auch die konsequente Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts – hier müsste die Kommission viel strikter sein. Wichtig ist uns auch, im Antrag zu verdeutlichen, dass wir für KMU eine Bilanzierungspflicht nach IFRS vehement ablehnen. In Deutschland hat sich die Rech- nungslegung nach HGB bewährt, sie funktioniert. Auch die hohe Qualität der Verbriefungen muss gesi- chert sein, gerade nach der Erfahrung der Finanzkrise! Lassen Sie mich zusammenfassen: Jeder Mitgliedstaat der EU besitzt sein ganz eigenes, historisch gewachsenes Finanzsystem. Wie und wo Menschen Geld anlegen, wie hoch ihre Sparquote ist und welchen Partnern sie bei ihren Finanzierungsentschei- dungen vertrauen, beruht auf individuellen Erfahrungen und ist oft auch eine Mentalitätsfrage. Prägend für Deutschland sind die hohe Mittelstands- quote und der große Anteil an Kreditfinanzierungen, ge- tragen vom Drei-Säulen-Modell der Kreditwirtschaft. Diese Strukturen haben sich insbesondere in der Finanzkrise als robust erwiesen. Mehr Kapitalmarkt kann allenfalls eine sinnvolle Ergänzung sein. Ich er- warte von der Kommission, dass sie sich für eine effi- ziente Bankenfinanzierung mit starken Regionalbanken mit gleichem Elan einsetzt wie für den Kapitalmarkt. Aus meiner Sicht, und das machen wir im Antrag deutlich, müssen die Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Kreditinstitute und KMU gestärkt werden. Wir haben es hier mit einer gesunden Symbiose zu tun, die, wenn wir nicht aufpassen, in Parasitismus umschla- gen kann, wenn erst dubiose Unternehmen Anleihen emit- tieren, die möglicherweise ahnungslose Verbraucher kau- fen. Dann ist nichts gewonnen. Im Gegenteil, dann heißt es: „Zurück auf Los!“ Christian Petry (SPD): Im Februar 2015 hat EU- Finanzmarktkommissar Jonathan Hill sein Grünbuch zur Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion vor- gestellt. Kern dieser Vorschläge ist eine stärkere Har- monisierung der europäischen Kapitalmärkte, um so zu- sätzliche, grenzüberschreitende Finanzierungsquellen für kleine und mittlere Unternehmen zu schaffen. Durch diese neuen Finanzierungsmöglichkeiten sollen Wirt- schaftswachstum und Beschäftigungszuwachs generiert werden. Die europäische Kapitalmarktunion ist damit vor al- lem eines: ein weiterer Schritt hin zu mehr Europa und einer noch engeren Verflechtung mit unseren europäi- schen Nachbarn. Mehr als 50 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge ist es an der Zeit, den freien Ka- pitalverkehr in der EU endlich umzusetzen. Ich denke, dass dieses Ziel grundsätzlich sehr unterstützenswert ist. Gerade im südlichen Europa ist die Kreditfinanzie- rung durch Banken für Unternehmen oftmals schwierig. Trotz der anhaltenden Niedrigzinsphase werden dort nur wenige Bankkredite zur Unternehmensfinanzierung ver- geben. Eine europäische Kapitalmarktunion kann hierbei zusätzliche Finanzierungsquellen für Unternehmen schaffen. Mit Blick auf die Schaffung einer europäischen Kapi- talmarktunion ist die entscheidende Frage, was wir ge- nau unter einer solchen Kapitalmarktunion verstehen und welche Einzelmaßnahmen aus dem Grünbuch der Kommission in welchem Umfang umgesetzt werden. Es ist wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem vorliegenden Antrag am Konsultationsverfahren der Kommission beteiligt und zum Grünbuch klar Stellung bezieht. Das enge Zeitfenster zur parlamentarischen An- tragsberatung ist der Tatsache geschuldet, dass der Kon- sultationsprozess der Kommission bereits Mitte Mai 2015 endet. In dieser Wahlperiode haben wir viele europäische Vorgaben umgesetzt. Ich denke da beispielsweise an die einheitliche Bankenaufsicht, den Bankenabwicklungs- mechanismus oder an die neuen Vorgaben für die euro- päischen Einlagensicherungssysteme. Ein Ziel stand für uns Parlamentarier dabei immer im Zentrum unseres Handelns: die Verbesserung des Ver- braucher- und Anlegerschutzes. Es ist kaum eine Debatte 9916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) vergangen, in der wir nicht auf die Lehren aus der letzten Finanzmarktkrise eingegangen sind und die damit ein- hergehende Notwendigkeit besserer und transparenterer Regulierung der Finanzmärkte. Hinter diesen Anspruch dürfen wir in der Debatte um die Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion nun nicht zurückfallen. Wenn die Kommission etwa die Novellierung der Prospektrichtlinie ins Spiel bringt, dann dürfen Vereinfachungen zur besseren Handhabbar- keit der Vorgaben nicht mit einem niedrigeren Standard beim Anlegerschutz einhergehen. Laut Grünbuch sollen darüber hinaus Anreize für pri- vate Haushalte geschaffen werden, verfügbares Geld verstärkt in Wertpapiermärkten anzulegen. Die Kommis- sion zieht diesen Schluss aus ihrer Analyse, wonach Pri- vathaushalte ihr Vermögen einseitig und wenig ertrag- reich auf Bankkonten halten. An dieser Stelle teile ich die Ansicht der Kommission nicht. Ich glaube, dass viele Kunden in Europa die Sicherheit von Bankkonten be- wusst wählen und risikoreichere Investitionen am Kapi- talmarkt scheuen. Anlageformen, die ein hohes finan- zielles Verlustrisiko bergen, sind für Kleinanleger oftmals nicht geeignet. Die von der Kommission in die- sem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen müs- sen daher sehr genau geprüft werden. Das gilt auch für die im Grünbuch angesprochenen „hochwertigen“ Ver- briefungen. Neben dem Aspekt des Verbraucherschutzes darf die Umsetzung der Kapitalmarktunion auch nicht zur Schwächung etablierter Strukturen in Deutschland füh- ren. Bei den anstehenden Verhandlungen auf europäi- scher Ebene werden wir uns daher dafür einsetzen, dass das in der Bundesrepublik etablierte bankbasierte Sys- tem der Unternehmensfinanzierung durch die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes für Kapital nicht ge- schwächt wird. Die Kommission regt ferner an, den Markt für Privat- platzierungen zu erleichtern. Auch dies ist ein interes- santer Vorschlag, um ruhendes Kapital, das zurzeit au- ßerhalb Europas investiert wird, wieder nach Europa zurückzuholen. Richtig ist auch das langfristige Ziel der Kommission, weitere Rechtsgebiete wie etwa das Wertpapier-, das In- solvenz- oder das Steuerrecht europaweit anzugleichen. Die höchsten Standards müssen dabei der Maßstab für jegliche Angleichung sein. Das aktuelle Konsultationsverfahren der Kommission sowie die anschließende Analyse und Priorisierung der umzusetzenden Maßnahmen sind wichtig, um die euro- päische Kapitalmarktunion innerhalb des anvisierten Zeitfensters umsetzen zu können. Als zuständiger Be- richterstatter meiner Fraktion werde ich diese Konsulta- tionen kritisch begleiten. Bis Herbst 2015 erwarten wir den Aktionsplan der Kommission, die Kapitalmarkt- union soll dann bis 2019 umgesetzt werden. Das ist sehr ambitioniert und wird uns noch viele Gelegenheiten zur Diskussion in den parlamentarischen Gremien bieten. Die Krise der vergangenen Jahre hat eines ganz deut- lich gemacht: Perspektivisch muss die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion durch die Harmonisie- rung weiterer Politikbereiche weiterentwickelt werden. Nur so können wir unsere Ziele bei Wirtschaftswachs- tum und Beschäftigung erreichen. Klar ist: Die Europäische Union profitiert von der Angleichung weiterer, bislang national geregelter Poli- tikbereiche. Mit der Harmonisierung der europäischen Kapitalmärkte sind wir hier auf einem guten Weg hin zu mehr Europa. Manfred Zöllmer (SPD): Die Europäische Kommis- sion hat im Februar dieses Jahres das Grünbuch „Schaf- fung einer Kapitalmarktunion“ veröffentlicht. Bis zum 13. Mai läuft hierzu eine öffentliche Konsultation. Die Koalitionsfraktionen legen deshalb den vorliegenden Entschließungsantrag vor, der sich auf das Verhand- lungsmandat der Bundesregierung bezieht und die deut- sche Position zu diesem Vorhaben beschreibt. Mit dem Grünbuch verfolgt die Europäische Kom- mission das Ziel, durch einen integrierten Kapitalbin- nenmarkt den Zugang zu Finanzmitteln für alle Unter- nehmen in ganz Europa – insbesondere für KMU – zu verbessern, die Finanzierungsquellen für Anleger aus der EU und dem Rest der Welt auszuweiten und zu di- versifizieren sowie effizientere Märkte zu schaffen, die Anleger und Unternehmen mit Finanzierungsbedarf so- wohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch grenzüber- greifend wirksamer und kostengünstiger zusammenzu- bringen. Das Ziel, für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa unter anderem durch erleichterte Finanzierungs- möglichkeiten zu sorgen, wird von uns sehr begrüßt. Es geht darum, zu analysieren, welche Strukturen bewährt sind und wo Reformen notwendig sind, um die Finan- zierungsmöglichkeiten für Unternehmen zu verbessern. Die im Grünbuch von der Europäischen Kommission geäußerte Kritik an der zu starken Abhängigkeit der Un- ternehmensfinanzierung von Banken und die daraus re- sultierende Forderung nach mehr ergänzenden Kapital- marktfinanzierungen können wir für Deutschland nicht teilen. Wir haben zu 80 Prozent eine Bankenfinanzie- rung. Das deutsche Bankensystem kann die Unterneh- men ausreichend mit Krediten versorgen. Wir haben deshalb im Antrag darauf hingewiesen, dass der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge einer Kapitalmarktunion zukünftig nicht erschwert werden darf. Das deutsche Drei-Säulen-Modell hat sich bei der Kreditversorgung bewährt. Es gibt in Deutschland keine Kreditklemme. Insbesondere KMU werden weiterhin auf Finanzierung durch ihre Hausbank vertrauen. Eine erweiterte Finanzierung über die Kapitalmärkte kann deshalb nur eine Ergänzung sein. Wir sollten daher nicht nur einseitig nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten durch den Kapitalmarkt schauen, sondern auch über Verbesserungen der Banken- finanzierung für kleine Unternehmen nachdenken. So kann die Kreditversorgung des Mittelstands durch kleine Banken erleichtert werden, wenn ein auf sie zugeschnit- tenes regulatorisches Regime genügend Freiräume lässt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9917 (A) (C) (D)(B) und der Proportionalitätsgrundsatz in der Regulierung zukünftig noch stärkere Beachtung findet. Darüber hi- naus darf eine Reform die Finanzmarktstabilität nicht gefährden. Darüber hinaus darf der Verbraucher- und Anlegerschutz nicht ausgehöhlt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die vorgeschla- gene Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes. Durch Verbriefungen hoher Qualität kann ein Finanzierungs- spielraum bei den Banken geschaffen werden, der den KMU zugutekommen könnte. Wir erinnern uns aber gleichzeitig und sehr ungern an die Finanzmarktkrise, bei der Verbriefungen eine un- rühmliche Rolle gespielt haben. Das gilt jedenfalls für die USA. Sicherlich ermöglicht die Verbriefung den Banken, die Kreditrisiken nicht bis zur Endfälligkeit zu tragen, sondern an diejenigen Marktteilnehmer zu übertragen, die die besseren Voraussetzungen zur Risikotragfähig- keit mitbringen. Dies gilt aber nur, wenn sie einfach und transparent sind. Nur dann kann der Markt die Qualität und damit die Risiken dieser Produkte bewerten. Nur dann ergeben sich keine neuen Risiken für die Finanz- marktstabilität. Aus unserer Sicht müssen deshalb die von der Kom- mission als prioritär eingestuften Maßnahmen zur Wie- derbelebung eines qualitätsorientierten und nachhaltigen europäischen Verbriefungsmarktes intensiv geprüft wer- den. Zudem wollen wir an der bewährten Rechnungsle- gung für den deutschen Mittelstand nach dem Handels- gesetzbuch festhalten und lehnen für kleine und mittlere Unternehmen eine Bilanzierungspflicht nach den Inter- national Financial Reporting Standards oder nach einem neu zu schaffenden dritten vermittelnden Standard ab. Insgesamt begrüßen wir die Initiative der Europäi- schen Union, mit der Schaffung einer Kapitalmarktunion die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen durch eine breitere Produktpalette, mehr Transparenz und mehr Wettbewerb zu verbreitern, damit zusätzliches Wachs- tum und Beschäftigung in Europa entstehen. Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit dem Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion liegt nun eine Diskussionsgrundlage vor, mit der die Harmo- nisierung der Kapitalmärkte innerhalb der Europäischen Union skizziert wird. Nachdem sich im Zuge der Finanz- und Staatsfinanzierungskrise die Finanzmärkte wieder ein Stück nationalisiert hatten, sollen diese wieder stär- ker integriert werden. Mit dem Mehr an Harmonisierung sollten aber gleichzeitig die europäischen Aufsichtsbe- hörden EBA, ESMA und EIOPA gestärkt werden. Wichtig ist ebenfalls, klein- und mittelständischen Unternehmen, KMU, sichere und vielfältige Finanzie- rungswege zu bieten. Bei der Gesamtbetrachtung sollte man sich die zwei vorherrschenden Motive für die geplante Kapitalmarkt- union vor Augen führen: Zum einen sollen zusätzliche Finanzmittel freige- schaufelt werden, um Investitionen von Unternehmen anzukurbeln, verbunden mit der Hoffnung, mehr Wachs- tum zu schaffen. Das ist insoweit verständlich, als Ban- ken in der Krise weniger Kredite vergaben, da sie bei- spielsweise mehr Eigenmittel aufbauen mussten. Diese Probleme sind aber hausgemacht, weil der Bankensektor nicht neu geordnet wurde und weil Kürzungsdiktate dazu führten, dass nicht mehr so viele Bankkredite nach- gefragt wurden. Doch darf dies nicht dazu genutzt wer- den, wichtige Regulierungen wieder zurückzufahren – solche Stimmen sind leider schon wieder allzu häufig zu vernehmen. Zum anderen ist der deutliche Trend zu beobachten, dass die althergebrachte starke Abhängigkeit von der einlagenbasierten Kreditwirtschaft bzw. von der Ban- kenfinanzierung gebrochen werden soll. Die Folge ist eine viel stärker kapitalmarktfinanzierte, kaum regulierte und intransparentere Wirtschaft, mit einer hervorgehobe- nen Rolle von spekulativen Investmentfonds beispiels- weise. Wir brauchen jedoch keinen Shareholder-Value- Kapitalmarkt, sondern einfache, wirtschaftliche und so- ziale Kriterien erfüllende, langfristig orientierte Finanz- instrumente. Daher klingt es im Antrag der Koalitionsfraktionen wie ein Lippenbekenntnis, wenn Sie schreiben, dass „der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapital- marktunion nicht erschwert“ und das deutsche Drei-Säu- len-Modell bewahrt werden soll. Das wird lediglich als windelweiche Erwartung an die Kommission formuliert, wobei deutlich mehr Druck und entschiedenes Handeln angesagt wären. Lippenbekenntnis auch deswegen, weil Sie mehrmals unverhohlen „alternative kapitalmarktba- sierte Unternehmensfinanzierung“ oder „Alternative zur klassischen Bankenfinanzierung“ schreiben, womit Sie Ihre eigenen Erwartungen konterkarieren. Die Linke wird weiterhin kein Bankenschwächungs- programm zugunsten von wild wuchernden, anonymen Kapitalmärkten und Riesenfonds durchwinken. Wir wer- den es nicht zulassen, dass durch strikte Abhängigkeit vom Kapitalmarkt noch mehr die Finanzstabilität ge- schwächt wird. Ein weiterer Punkt ist, dass vielfältigere Finanzie- rungsmittel vor allem dann effektiv wirken, wenn unter anderem der Schattenbanksektor in der EU reguliert ist. Hier ist der Antrag der Koalition bemerkenswert, weil Sie schreiben, dass die Kapitalmarktunion nicht dazu führen darf, dass rein spekulative Anlagemöglichkeiten gefördert werden. Das unterstützen wir. Doch damit er- teilen Sie Ihrer eigenen Regierung eine gewaltige Schelte. Auf EU-Ebene wurde bisher lediglich ein zwei- felhafter Verordnungsvorschlag zur Regulierung von Geldmarktfonds vorgelegt. Daneben gab es bislang nichts. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Bundesregie- rung ernsthaft für eine strenge Regulierung des Schatten- banksektors einsetzt. Insofern unterstützen wir als Linke diese Kritik der Koalition an der Bundesregierung. Das Grünbuch Kapitalmarktunion regt an, die Ver- briefung von Krediten wieder anzufeuern und damit den Markt für wertpapierbesicherte Verbriefungen wiederzu- 9918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) beleben. Auch wenn die Koalition in ihrem Antrag von Verbriefungen mit „hoher Qualität“ spricht, so ist diese Betrachtung zu unkritisch. Obwohl Verbriefungen ersten Grades – und gerade nicht das Bündeln und Wiederver- packen – realwirtschaftlich sinnvoll sein können, sollten Sie Giftpapiere und das ganze Finanzmonopoly lieber unterm Tisch lassen, damit niemand sagen kann „Nicht aus der Krise gelernt, gehen Sie zurück auf Los“. Sie sollten die Kommission besser dahin drängen, das Si- cherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen, anstatt sie in waghalsige Abenteuer zu locken. Wir unterstützen es, wenn die Prospektrichtlinie tat- sächlich streng unter Verbraucherschutzaspekten überar- beitet wird. Neben einer Standardisierung der Prospekte ist es dringend notwendig, dass ein Prospekt vollständig in die Sprache des Zielstaates, also des Staates, wo das Produkt vertrieben werden darf, übersetzt werden muss und der Anleger in seinem Heimatstaat klagen kann. Sie wollen es doch nicht länger zulassen, dass der Anleger auf eigene Kosten den Prospekt übersetzen lassen muss, falls er einen Schaden erleidet und prüfen möchte, ob der Pros- pekt fehlerhaft ist? Das kostet locker mal 20 000 Euro. Aus unserer Sicht muss der Emittent für die Übersetzun- gen und deren Kosten geradestehen. Auch hier darf der Verbraucherschutz nicht zugunsten des Binnenmarktes geopfert werden. Abschließend möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, dass im Grünbuch vorgeschlagen wird, Inves- titionen in öffentliche Infrastrukturprojekte insbesondere privaten Investoren – Versicherungen und Banken – leichter zu machen. Hier in Deutschland wurden durch die sogenannte Fratzscher-Kommission unter anderem die „öffentlichen Infrastrukturfonds“ vorgestellt. Was wir vergangene Sitzungswoche in der Aktuellen Stunde in Bezug auf Deutschland kritisiert haben, wird auf euro- päischer Ebene nicht besser: Die Linke sieht die Gefahr, dass eine große Welle an Privatisierung öffentlicher In- frastruktur auf uns zurollt. Gewinner werden zum Beispiel Versicherungen sein, die leichter und mehr in solche Projekte investieren kön- nen. Dabei investieren sie primär Kundengelder. Für diese Investments ist nun laut Grünbuch sogar geplant, Infrastrukturinvestitionen, insbesondere in den Eigenka- pitalvorschriften für Banken und Versicherungen, weni- ger streng regulatorisch zu behandeln. Dadurch werden diese zweifellos riskanteren Investments weniger abgesi- chert, wodurch noch schneller Kundengeld weg sein kann. Da der Staat ein öffentliches Projekt aber kaum fallen lassen wird, wird er einspringen. Die Zeche wer- den die Steuerzahler, also erneut die Bürger, zahlen – in doppelter Weise –, während sich Versicherungen genüss- lich die fast risikolose Zusatzrendite einverleiben. Diese Öffentlichen Privaten Partnerschaften begünstigen ein- seitig Versicherungen und Banken und schaden letztlich uns allen. So wird man auf lange Sicht gerade nicht die Investitionsbremse lockern und für nachhaltiges Wachs- tum sorgen. Daher sollten wir uns dringend dafür einsetzen, dass die Anregungen aus dem Grünbuch in dieser Art nicht Wirklichkeit werden und wir eine Kapitalmarktunion schaffen, die herkömmliche Kreditvergabe nicht behin- dert und Verbraucher nicht hinters Licht führt. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorab: Das Grünbuch der Europäischen Kommission zur Kapitalmarktunion wurde am 18. Februar dieses Jahres veröffentlicht. Seit- dem läuft das Konsultationsverfahren. Eigentlich genü- gend Zeit, um sich eine Meinung zu bilden. Schade, dass die Koalition ihre Stellungnahme in Form des nun vor- liegenden Antrags erst vorgestern angekündigt hat. Wir hätten hier als Deutscher Bundestag die Chance gehabt, gemeinsam ein starkes Signal nach Brüssel zu senden. Dies hätte ich schon für möglich gehalten, denn es ist ja nicht alles schlecht, was im Antrag der Koalition steht. Wir Grüne begrüßen, dass der Antrag der Koalition so großen Wert auf das Proportionalitätsprinzip legt. Kleine Banken müssen regulatorisch anders behandelt werden als große. Auch die Senkung von Markteintrittsbarrie- ren, um regionale Bankgründungen in Europa voranzu- bringen, ist richtig. Zurück zum Bankgeschäft, das der Realwirtschaft dient, sozusagen zum Boring Banking, das ist der richtige Ansatz. Wir sollten in der Tat dafür sorgen, dass das klassische Einlagen- und Kreditge- schäft, betrieben von lokal agierenden Banken mit regio- nalem Wissen und intensiver Beziehung zu ihren Kredit- nehmern, wieder Kern der Finanzintermediation wird. Ein anonymer Kapitalmarkt kann diese individuellen Finanzierungsmodelle für einen Großteil der Unterneh- men gar nicht bereitstellen, und der bürokratische Auf- wand für die Unternehmen wäre viel zu hoch. Richtig an dem Antrag ist auch die Aussage, dass die Förderung von Kapitalmarktfinanzierungen nicht auf Kosten der Finanzstabilität geschehen darf. Deshalb ist das Problem der Regulierung des Schattenbankenbe- reichs zu Recht angesprochen. Die Regulierung muss verhindern, dass sich die Risiken aus dem Bankbereich schlicht in das Schattenbanksystem verlagern lassen. Wir als Gesetzgeber müssen außerdem verhindern, auch das ist in dem Antrag der Koalition adressiert, dass wir Begehrlichkeiten aus der Branche nachgeben und Regu- lierungsvorschriften wieder auf Kosten der Finanzstabi- lität lockern. Die Stärkung des Marktes für Beteiligungen am Ei- genkapital erachten wir für zentral, da es Risiken streut und den Finanzmarkt durch gestärkte Verlustabsorption stabilisiert. Hier bleibt der Antrag der Koalition leider unkonkret. Ich halte es für wichtig, dass die steuerpoli- tisch unsinnige Bevorzugung von Fremdkapital gegen- über Eigenkapital ernsthaft angegangen wird. Die Ab- schaffung der Abgeltungsteuer ist dafür ein wichtiger Schritt, den wir Grünen seit Jahren fordern. In der Gesamtbetrachtung können wir dem Antrag je- doch nicht zustimmen, weil er ganz wesentliche Dinge schlicht nicht anspricht. An den Finanzmärkten sind der- zeit teilweise immer noch, teilweise erneut extreme Risi- ken zu beobachten. Dies bestätigen auch die Analysen des Internationalen Währungsfonds, der im April in sei- nem Finanzstabilitätsbericht dargestellt hat, wie diese Risiken im letzten halben Jahr noch einmal gestiegen sind. Auch aus den Analysen des Europäischen System- risikorats und dem Ausschuss für Finanzstabilität schließe ich, dass es fatal wäre, aus den zahlreichen Ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9919 (A) (C) (D)(B) setzen zur Finanzmarktregulierung, die wir in den letz- ten Jahren verabschiedet haben, zu schließen, dass die Märkte sicherer oder stabiler geworden sind. Das lässt sich nicht belegen. Es bauen sich im Finanzmarktsystem vielmehr Risiken auf, die schwer zu kontrollieren sind. Die globalen Ungleichgewichte sind teilweise größer als vor Ausbruch der Finanzmarktkrise. Insofern sind wir mit der Regulierung nicht am Ziel. Dennoch wäre ein „Mehr desselben“ falsch. Europa braucht nicht noch mehr Regulierung, sondern Europa braucht eine andere Regulierung. Finanzmärkte sind in Relation zur Real- wirtschaft in den letzten Jahrzehnten in einem schwin- delerregenden Ausmaß gewachsen. Das gilt nicht nur, aber auch im Bankensektor. Hier schlummern noch im- mense Risiken in Europa: Die Höhe der notleidenden Kredite ist weiterhin besorgniserregend hoch, laut IWF bei 900 Milliarden Euro allein in der Euro-Zone. Auch spricht der IWF von einer Verschiebung der Risiken vom Bank- in den sogenannten Schattenbankenbereich. Die Kapitalmarktunion löst keines dieser Probleme. Die Koalition hat recht, wenn sie im Antrag fordert, dass Europa bei der Regulierung des sogenannten Schatten- bankenbereichs vorankommen muss, da sich genau hier neue Risiken aufbauen. Aber auch der Antrag der Koali- tion springt zu kurz. Ein Grünbuch, das das Aushänge- schild eines Kommissars sein soll, der für Finanzstabili- tät zuständig ist, das nicht auf die wesentlichen Stabilitätsprobleme des europäischen Finanzmarktes eingeht, muss aus unserer Sicht grundsätzlicher ange- gangen werden, als Sie es in Ihrem Antrag tun. Wir müs- sen die Finanzmärkte endlich an die Leine legen und die Risiken in den Griff bekommen. Zudem fehlt mir in Ihrem Antrag Kritik an der Kom- mission zu einigen Punkten, die ich im Grünbuch ver- misse. Die Kapitalmarktunion hat das anspruchsvolle Ziel, Investitionen in Europa und damit Beschäftigung und Wachstum zu fördern. Dabei vernachlässigt die Europäische Kommission jedoch den Aspekt der Nach- haltigkeit – eigentlich doch eine Priorität der Kommis- sion! Ein Finanzsystem, das die Erhaltung unserer Le- bensgrundlagen außer Acht lässt, ist nicht stabil. Gerade Reformen, die langfristige Investitionen erleichtern, sind ein zentrales Vehikel, die grüne Transformation unserer Volkswirtschaften voranzutreiben. Mit dem Green New Deal streiten wir Grüne seit Jahren für eine nachhaltige und soziale Ausrichtung der Finanzmärkte. Die spekula- tiven Exzesse der Branche müssen gestutzt werden, um realwirtschaftliche, insbesondere „grüne“ Investitionen zu ermöglichen. Hier wünschen wir uns eine klarere Positionierung im Grünbuch als in Ihrem Antrag, damit zukunftsweisende Infrastrukturen wie erneuerbare Ener- gien oder nachhaltige Geschäftsmodelle auf adäquate Finanzierungen zurückgreifen können. Diese Chance darf im Zuge der Errichtung einer Kapitalmarktunion nicht vertan werden. Wir stehen der Wiederbelebung des Marktes für hoch- wertige Verbriefungen nicht prinzipiell skeptisch gegen- über. Allerdings bemängeln wir, dass das Grünbuch hier sehr unkonkret bleibt. Bei der Auslagerung von Kredit- portfolios aus Bankbilanzen muss dringend darauf ge- achtet werden, dass Risiken für alle Marktteilnehmer transparent bleiben. Eine Verbriefung, die lediglich Kre- dite in Zweckgesellschaften zusammenbringt und durch Pooling der Risiken die Marktfähigkeit erhöht, ist durch- aus sinnvoll. Wenn allerdings durch intransparente Strukturierungen Risiken verschleiert werden, dann schlittern wir in ähnliche Verhältnisse wie diejenigen, die zur Subprime-Krise 2007 und letztendlich zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Welt- krieg geführt haben. Außerdem fehlt uns an dem Antrag der Koalition die Kritik, dass die Kommission zum Teil mit ihren Vor- schlägen lediglich öffentlichkeitswirksame Symptombe- kämpfung betreibt. So richtig es ist, dass wir angebots- seitig einen Kapitalüberhang und Überschussliquidität beobachten können, so entscheidend ist es, die zugrunde liegenden Ursachen für die mangelnde Investitionstätig- keit zu analysieren und politisch gegenzusteuern. Die Investitionsschwäche liegt nicht primär, wie von der Kommission suggeriert, in mangelndem Zugang zu Finanzierungsmitteln, sondern zuvorderst an einer stag- nierenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dies hat auch der Internationale Währungsfonds jüngst in seinem Frühjahrsbericht gezeigt. In den europäischen Krisenlän- dern ächzen Unternehmen und Privathaushalte unter ex- zessiver Verschuldung und investieren nicht, die Staaten dürfen es aufgrund der Vorgaben des Fiskalpakts oder der Strukturanpassungsprogramme nicht. Richtig ist, dass kleine und mittlere Unternehmen ins- besondere in Krisenstaaten nur noch erschwert an Bank- kredite kommen, da die Institute unter dem großen An- teil notleidender Kredite in den Büchern ächzen und daher risikoavers agieren. Aber auch hier wäre eine grundsätzlichere Sanierung des Bankensektors die ziel- führendere Alternative. Bis 2016 müssen die europäi- sche Richtlinie zur Bankensanierung und -abwicklung, BRRD, und die darin enthaltenen Instrumente der Gläu- bigerbeteiligung in nationales Recht umgesetzt werden. Dieses neue Regime zur Bankenrestrukturierung muss dann auch genutzt werden, um endlich Klarheit zu schaf- fen und die schlummernden Lasten in den Bankbilanzen auf die Eigentümer und Gläubiger zu verteilen. Europa muss endlich aufwachen und ehrlich die Probleme auf den Bankbilanzen und hinsichtlich der schwachen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage anpa- cken, anstatt endlos an Symptomen auf der Angebots- seite herumzudoktern. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Lateinamerika- Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Re- spekt begründen (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Bei diesem Antrag der verehrten Kollegen der Linken drängt sich doch die Frage auf, ob man sich nicht einfach torschlusspanikar- tig genötigt sah, auf eine Entwicklung in Kuba zu reagie- 9920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) ren, die man nicht vorhergesehen hat, und auch noch jetzt nicht dazu bereit ist, zu konzedieren, dass das sozia- listische System vor den Realitäten kapituliert hat. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass es schon sehr schmerzlich sein muss, mit anzusehen, dass 50 Jahre ideologische Diskussion einfach nicht in der Lage wa- ren, die realen Lebensverhältnisse der Menschen in Kuba und auch in den sozialistisch regierten Staaten La- teinamerikas in funktionierende Gemeinwohlsysteme umzuformen. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte offenbar in einer weisen Voraussicht oder Einge- bung schon vor über einem Jahr eine Reise nach Kuba in den Reiseplan aufgenommen, die nun im April 2015 durchgeführt wurde – wenige Monate, nachdem es zu denkwürdigen Öffnungen und Begegnungen gekommen war bzw. kommen sollte. Eigentlich gehört es zur politi- schen Ehrlichkeit, bei diesem Ablauf nicht ernsthaft dem BMZ und Minister Müller den Vorhalt zu machen, dass dieser Prozess noch nicht im neuen Lateinamerika-Pro- gramm verarbeitet worden ist. Es gehört schon viel Fan- tasie dazu, diese Entwicklung als Akt der Befreiung von hegemonialer Beherrschung durch die USA zu bezeich- nen. Wie sehen denn die Realitäten in Kuba aus? 70 Prozent der Ackerflächen sind nicht bearbeitet. 80 Prozent der benötigten Nahrungsmittel werden im- portiert und werden mit 2 Milliarden Dollar aus Erlösen venezuelanischer Öllieferungen refinanziert. Die Misere der Nahrungsmittelversorgung kann nun aber keines- wegs der Blockadepolitik der USA angelastet werden. Vielmehr sieht man die Perspektive in einer akademi- schen Ausbildung, die durchaus auch beachtliche Leis- tungen in der medizinischen Ausstattung hervorbringt. Doch diese Errungenschaft wird in Exporte medizini- scher Leistung gegen Devisen umgesetzt. Die von Ihnen verurteilte Privatwirtschaft bahnt sich demgegenüber selbst ihre Bahn und mündet nun in zaghaften Entwicklungen von Handel, Tourismus und Gastronomie. Privatwirtschaft war nicht die Knute, sondern ist nun die Basis für eine wirtschaftliche Entwicklung der Ge- sellschaft und die Bildung selbstständiger Strukturen. Das sozialistische System der Geschlossenheit und der staatlichen Daseinsvorsorge ohne Refinanzierung hat den Niedergang des Systems vorprogrammiert. Kuba braucht nun Hilfe zur Strukturbildung und zur Nutzung der unzweifelhaft vorhandenen Ressourcen und Rah- menbedingungen für Landwirtschaft und Handwerk. Ein Wirtschaftssystem kann nicht direkt in reine dienstleis- tungsorientierte Strukturen überführt werden. Wenn sie im Antrag von Verdrängungswettbewerb bzw. Privatisierungs- und Liberalisierungsforderungen sprechen und diese verurteilen, wird dies durch die jet- zige Entwicklung exakt widerlegt. Privatisierung hat mit Sicherheit keinen Schaden angerichtet, wie Sie im An- trag vorwerfen, sondern ist der notwendige Weg in die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und damit in eine wirtschaftliche Belebung. Dies ist bereits jetzt im Tagesgeschehen auf den Straßen Kubas zu se- hen, und es ist schon bedauerlich, liebe Frau Kollegin Hänsel, als Mitreisende der Delegation, dass Sie vor ei- nem solchen Aufbruch wider besseres Wissen die Augen verschließen und uneinsichtig der Ideologie das Wort re- den wollen. Das kubanische Volk hat lange genug darun- ter gelitten. Es hat nun verdient, dass seine Bemühungen auch in persönliches Wohlergehen münden. Natürlich weist Lateinamerika durch die besondere Bevölkerungsstruktur, durch die indigenen Bevölke- rungsanteile und den historisch dramatischen Anteil an Gewalt und Rechtlosigkeit eine schwierige Ausgangs- lage auf, die auch eine besondere Vorgehensweise erfor- dert. Gerade deshalb weist das Lateinamerika-Programm des BMZ den richtigen Ansatz auf, die Gesellschaft durch Bildung zu stabilisieren und vor allem bei der wirtschaftlichen Entwicklung die Verpflichtung zur Nachhaltigkeit zu beachten. Dabei geht aber keineswegs die Augenhöhe mit den Staaten verloren. Lateinamerika sieht sich kulturell sehr mit Europa verbunden, und wir wissen seine besonderen Natur- schätze zu würdigen und arbeiten an deren Erhalt mit. Dies bedeutet Unterstützung zum Schutz gegen den Kli- mawandel und dies bedeutet auch die zur Verfügungstel- lung von modernem Know-how. Dies bedeutet aber auch die Einbindung der Wirtschaft. Subsistenzwirtschaft ist keine Entwicklungspolitik, sondern Stillstand und Resi- gnation. Die Bildung von Sozialsystemen funktioniert nur bei wirtschaftlichem Aufschwung. Dies haben die Erfolge der Schwellenländer Mexiko und Brasilien vor- geführt, auch wenn dort sicher noch viel Arbeit vor uns liegt. Die wirtschaftlichen Ansätze sind in der Region mit Mexiko und Brasilien durchaus erkennbar. Auch dort be- stehen aber in eklatantem Maße Rechtsstaatsdefizite, die nur durch Stärkung der staatlichen Rechtssysteme besei- tigt werden können. Ausbildung von Justizsystemen, Be- seitigung der Straflosigkeit und vor allem Bekämpfung der Korruption sowie des organisierten Verbrechens sind vorrangige Ziele, die der Bevölkerung die Möglichkeit eröffnen, sich in wirtschaftlichen Betätigungen eine Le- bensgrundlage zu verschaffen. Hier zeigt das Konzept des BMZ ebenfalls wertvolle Ansätze und Kooperationen. Gerade die Thematik Bil- dung – vor allem für Mädchen und junge Frauen – führt zu einer massiven Zurückdrängung der Gewaltexzesse und zur Stabilisierung des Gesellschaftssystems. Die sehr geschätzte und nachgefragte Duale Ausbildung setzt aber zwingend die Zusammenarbeit mit der Wirt- schaft voraus. Dieses Konzept muss auf die besonderen Lebens- und Produktionsverhältnisse zugeschnitten wer- den. Genau dies leistet ebenfalls unsere Wirtschaft, weil sie weiß, wie Produktivität zu optimieren ist. Dies ist entgegen Ihrer Meinung kein Fluch und auch keine Aus- beutung, sondern geboten. Der Aufruf zur Bildung von Wirtschaftspartnerschaften ist das effektivste und sogar kostengünstigste Entwicklungsmittel, mit dem gerade auch der Gefahr der Korruption entgegengewirkt werden kann. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9921 (A) (C) (D)(B) Dabei ist dann aber auch die Wahrung von wirtschaft- lichen Interessen unserer Unternehmen nicht schädlich, sondern konsequent und legitim. Wirtschaftliche Zusam- menarbeit bedeutet den angemessenen Austausch von Leistung und Gegenleistung – auch in der Form von Handelsabkommen. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Entwicklung in Kuba als exemplarischer Aufbruch aus dem Sozialismus als Auslaufmodell heraus ist die konsequente Antwort der Menschen auf natürliche Be- dürfnisse nach Versorgung und Lebensqualität, nach Ge- sundheit und gesunder und ausreichender Ernährung, nach Bildung und Gleichberechtigung. Die ideologische Predigt Ihres Antrags wird der Würde dieser Menschen nicht gerecht. Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Der Bot- schafter von Honduras hat es erst kürzlich gut auf den Punkt gebracht. Er sagte in einem Interview: CELAC ist ein Forum des politischen Dialogs – wir tauschen uns über bewährte Kooperations- und Handelsverfahren aus. … Wenn wir mit Einzelstaa- ten, oder auch der EU, an den Verhandlungstisch treten, wird Honduras nicht mehr als ein einzelnes Land wahrgenommen, sondern eher als Teil einer aufstrebenden Wirtschaftsregion, deren dynami- sches Wirtschaftswachstum ein ungeheures Poten- zial birgt. Die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Ka- ribischen Staaten, CELAC, und die Europäische Union werden sich in diesem Sinn dieses Jahr in Brüssel am 10. und 11. Juni zum achten EU-CELAC-Gipfel versam- meln. Die Regierungen werden genau diesen Dialog weiter pflegen und das angesprochene Potenzial in ihren Regionen gegenseitig weiter fördern. Das Format des internationalen Austauschs zwischen 61 teilnehmenden Staaten hat sich bewährt. Der Gipfel bietet ein Forum, um die strategische Partnerschaft bei- der Regionen fortzusetzen. Er bietet Raum für kontro- verse Diskussionen, politische Erklärungen und Abkom- men. Dieser Dialog ist nicht zu unterschätzen. Die EU ist in der CELAC-Region der größte auslän- dische Investor. Und sie ist zweitgrößter Handelspartner der CELAC. Zwischenstaatliche Bündnisstrukturen in Lateiname- rika, wie die Pazifik-Allianz, können durch solche inter- nationalen Formate gestärkt werden. Wie Sie wissen, ist die Pazifik-Allianz eine Initiative der Staaten Peru, Me- xiko, Chile und Kolumbien, welche sich im Bereich Handel und Integration und bei der Entwicklung stabiler demokratischer Strukturen unterstützen. Besonders in Zeiten vielfältiger Krisen und teilweise bedrohlicher Entwicklungen von fragilen und sich im Zerfall befindlichen Staaten ist so ein friedlicher und re- gelmäßiger menschenrechtsbasierter Dialog auf interna- tionaler Ebene zentral. Die Folgen von fehlender Rechts- staatsförderung, von fehlenden strukturellen Reformen und fehlender sozialer Wirtschaftsförderung müssen wir aktuell in Venezuela beobachten. Ein Mittel der Gewaltprävention sind stabile Bünd- nisstrukturen. Sie schaffen Transparenz und Sicherheit. Sie sind die Grundlage für eine friedliche und nachhal- tige Entwicklung von Gesellschaften auf der sozialen, ökologischen und ökonomischen Ebene. Die EU und CELAC sind gleichberechtigte Partner, die sich zum großen Teil auf dem gleichen Werteparkett bewegen. Sie begegnen sich trotz vorhandener Kontro- versen in ihren Verhandlungen respektvoll und handeln und lernen im gegenseitigen Interesse. Der Gipfel trägt den Titel: „Gestaltung unserer ge- meinsamen Zukunft: Für eine prosperierende, durch Zu- sammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaft für unsere Bürger“. Gefördert werden soll eine gemeinsame Identität, die auf gemeinsamen Werten basiert. Teil des Gipfels ist der Dialog über „bürgerorientierte Initiati- ven“ und Innovationen im Bereich „nachhaltiges Wachs- tum, Bildung, Sicherheit und Klimaschutz“. Identität geschieht durch Dialog und Förderung von Entwicklung. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes berührt auch alle anderen Entwicklungsbereiche einer Gesellschaft. Wenn wirtschaftliche Entwicklung ganzheitlich ge- fördert wird, berücksichtigt sie die sozialen, ökologi- schen und menschenrechtlichen Dimensionen. So sind soziale marktwirtschaftliche Strukturen ein wesentlicher Motor für Stabilität und Frieden. Das ist es, was wir wol- len und begleiten. Staatliche Überregulierung und das Abbrechen von internationalen Verhandlungen tragen nicht zu einer freien, ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften bei. Ganzheitliche Förderung von wirtschaftlicher Ent- wicklung bedeutet im konkreten Fall auch, dass die Be- reiche Bildung, Demokratieförderung, Förderung von sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Stan- dards Teil des politischen Dialogs mit nationalen, euro- päischen und internationalen Akteuren sein müssen. Genau das geschieht im Bereich der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika immer mehr. Natürlich sind die Themen der Armutsbekämp- fung und Reduzierung von sozialer Ungleichheit in die- sem Kontext zentral. Sie sind Teil eines beschwerlichen Entwicklungswegs. Das Bewusstsein für die Einhaltung der sozialen und menschenrechtlichen Standards wächst mit dem Be- wusstsein des betroffenen Staats und seiner von Unrecht betroffenen Gemeinschaften. Das Thema der Landver- treibungen im Zusammenhang mit der Rohstoffförde- rung ist uns aus vielen lateinamerikanischen Staaten be- kannt. Sichtbarer werden auch die erhöhten Anstrengungen deutscher Unternehmen, um für Transparenz in ihren Lieferketten und im Umgang mit ihren internationalen Zuliefererfirmen zu sorgen. 9922 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) Vor wenigen Wochen sind die neuen Leitlinien für Lateinamerika vom BMZ veröffentlicht worden. Auch dort liegt der Fokus auf der Förderung der gemeinsamen Werte und Interessen der Regionen diesseits und jenseits des Atlantiks. Lateinamerikanische Staaten wollen, dass europäische Unternehmen in ihren Ländern nachhaltig investieren, und sie wollen im Bereich Klimaschutz und Umweltschutz zusammenarbeiten. Damit verbunden ist der Bedarf an stärkerem Know-how-Transfer. Denn es ist bekannt, dass das Duale System in Deutschland eine entscheidende Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg war und ist. Daher sollten die Anfragen aus mehreren latein- amerikanischen Ländern im Bereich des Exports von dualen Ausbildungsstrukturen noch stärker berücksich- tigt werden. Deutschlands Entwicklungszusammenarbeit legt in Abstimmung mit der EU ihren Fokus auf die Bereiche Umweltschutz, Klimaschutz, Schutz von Regenwald und Meeren sowie auf die nachhaltige Bekämpfung des Kli- mawandels. Exzellenzzentren für erneuerbare Energien und Geothermie-Entwicklungsfazilität sollen geschaffen werden. Außerdem sind die Themen Dezentralisierung, Strukturpolitik, Ordnungspolitik und Rechtsstaatsförde- rung besonders in den Andenländern, aber auch in Zen- tralamerika weiterhin ein Schwerpunkt. Auch die Gewaltprävention, die Stärkung von Menschenrechtsin- stitutionen und besonders die Unterstützung beim Frie- densprozess in Kolumbien sind wichtige Anliegen deut- scher EZ. Die gemeinsame Bearbeitung dieser Themen und die Begleitung durch uns Parlamentarier tragen zur friedlichen Entwicklung der Regionen bei. Mit 1 Milliarde Euro jährlich fördert Deutschland seine EZ in Lateinamerika und fördert dabei auch immer mehr das Modell der Dreieckskooperationen, um den Einsatz von Eigenmitteln aus den Partnerländern zu ver- stärken. Das unterstreicht das Prinzip der Hilfe zu Selbsthilfe und die Stärkung der Zusammenarbeit der Akteure vor Ort. Denn Staaten wie Mexiko und Brasi- lien sind als Schwellenländer bereits selbst in der Lage, andere lateinamerikanische Staaten zu unterstützen, und tun es auch. Natürlich ist es entscheidend, dass auch bekannte und aktuelle Probleme auf dem Gipfel angegangen werden. Lateinamerika ist immer noch eine Region, in der ex- treme Unterschiede in der Einkommensverteilung inner- halb der Gesellschaften existieren. Auch der Zugang zu Bildung, zu Gesundheitssystemen und zum Arbeits- markt ist nicht für jeden Bürger gleich garantiert. Starke Defizite in der Armutsbekämpfung und damit auch im Bereich Kriminalitätsbekämpfung und Korruptionsbe- kämpfung müssen noch mehr thematisiert und bearbeitet werden. Auch soziale Teilhabe und das Einfordern von sozia- len und ökologischen Rechten ist in einigen Ländern La- teinamerikas noch immer sehr gefährlich. Regierungen in Guatemala, Mexiko, Kolumbien und Honduras müs- sen hier noch viel mehr tun und unterstützt werden. Vor allem die Regierungen selbst müssen die Rechte ihrer Bürger schützen – und das heißt konkret, die Menschen vor dem gewaltsamen Tod, der sozialen Diskriminie- rung, der Folter, Erpressung und dem systematischen Verschwinden schützen. Die strukturelle Korruptionsbe- kämpfung stellt hier sicherlich ein Schlüsselthema dar. Darauf gehen Sie in Ihrem Antrag nicht ein, sondern konzentrieren sich – das war ja nicht anders zu erwarten – auf die Aufhebung der TTIP-Verhandlungen und die an- gebliche positive Wirkung der staatlichen Regulierung. Wichtiger als die Verdammung der aktuellen Han- delspolitik ist im Rahmen der aktuellen Dialoge und Ver- handlungen eine Sensibilisierung für die vielfältigen Be- dürfnisse und Rechte der einzelnen Gesellschaften und Gesellschaftsschichten in den einzelnen Ländern Latein- amerikas. Eliten können sich effizient für benachteiligte Akteure und Gruppen wie Indigene und die Landbevöl- kerung einsetzen, wenn das entsprechende Bewusstsein gefördert wird. Hier geht es besonders um das Thema Rechtsschutz von Menschenrechtsaktivisten, aber auch um flächende- ckende und nachhaltige Bildungsprogramme. Die Men- schenrechte und der Schutz von Menschenrechtsvertei- digern sind integraler Bestandteil der auswärtigen Politik der EU. Eine entsprechende Resolution des Europäi- schen Parlaments aus dem Jahr 2010 ist zwar wie die Richtlinien nicht unmittelbar rechtlich verpflichtend, hat aber dennoch eine starke politische Wirkung. Sichtbar wird dies immer wieder beim nationalen und europäi- schen Dialog zu anstehenden Verhandlungen mit Kuba. Europäische und nationale Entwicklungszusammen- arbeit mit Kuba kann jedoch erst dann verwirklicht wer- den, wenn eine allgemeine Verhandlungsbasis geschaf- fen worden ist. Dazu zählt auch die Einhaltung der Menschenrechte in Kuba. Die staatliche und die nichtstaatliche EZ leisten in vielen Staaten Lateinamerikas seit Jahren kontinuierli- che Arbeit. Die EZ unterstützt einerseits strukturell in den genannten Themenbereichen. Andererseits engagie- ren sich die politischen Stiftungen sowie auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und vor allem die Kir- chen durch jahrzehntelange Präsenz. Sie arbeiten auf mehreren Ebenen mit parlamentarischen Akteuren, Ver- bänden, kommunalen Verantwortungsträgern und ländli- chen Gemeinschaften und stärken Rechte und Rechtsbe- wusstsein von Kindern, Frauen, Männern, Familien und Gemeinschaften. Der Dialog zwischen Regierungen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Volksvertretern ist hier ein zentrales Element. Da Sie den Dialog auf verschiedenen Ebenen abbre- chen wollen und bestehende und tragfähige europäische Handelsabkommen nicht mittragen, wollen wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Als Parlamentarier müssen wir im Gespräch mit den Unternehmen stehen, die beispielsweise ihre Kohle von internationalen Unternehmen in Kolumbien importieren. Wir müssen an ihre Moral appellieren, aber auch an die Regierungen in den jeweiligen Rohstoffländern, damit sie ihr Volk und besonders die indigenen Völker schüt- zen. Genauso müssen wir auch zukünftige internationale Handelsabkommen mit unseren Standards füllen und uns Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9923 (A) (C) (D)(B) an den weltwirtschaftlichen Handelsbewegungen beteili- gen, anstatt sie abzulehnen. Das ist ein langer Weg des Dialogs, aber einer, bei dem es sich auch in unserem eigenen Interesse der Glaubwürdigkeit Europas lohnt, ihn weiterzugehen. Dr. Sascha Raabe (SPD): Wir debattieren heute Abend den Antrag der Fraktion Die Linke zum EU-La- teinamerika-Gipfel, der in diesem Jahr im Juni in Brüs- sel stattfinden wird. Auf den Gipfel mit dem diesjähri- gen Titel „Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft: Für eine prosperierende, durch Zusammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaft für unsere Bürger“ werde ich in meiner Rede nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ich mich in meinem Beitrag auf die Kernbot- schaft des hier zur Debatte stehenden Antrages konzen- trieren. Der Antrag liest sich teilweise leider wie eine unkriti- sche Lobeshymne auf alle linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas und trägt meiner Meinung nach mehr zur Polarisierung der bereits gespaltenen Gesellschaften in Lateinamerika bei. Um nicht missverstanden zu werden: Als Entwicklungspolitiker bin ich sehr erfreut darüber, dass insbesondere in Ländern mit linken Regierungen die Armutsbekämpfung große Fortschritte gemacht hat. Es ist schön, dass mehrere Millenniumsentwicklungziele in vielen Teilen Lateinamerikas in diesem Jahr fristge- recht erreicht werden. Allerdings interessiere ich mich nicht nur für die sozialen, sondern auch für die politi- schen Menschenrechte. Und da sieht es in einigen von der Linkspartei überschwänglich gelobten Ländern kei- neswegs nur gut aus. Was Kuba betrifft, begrüßen wir als SPD-Fraktion die Annäherungsbestrebungen zwischen den USA und Kuba. Präsident Obama hat einen mutigen und lange überfälli- gen Schritt getan. Wir sehen dies als eine große Chance für Europa, die bisherige Kuba-Politik zu überdenken. Daher begrüßen wir auch die aktuellen diplomatischen Bemühungen der EU-Außenbeauftragten Mogherini und ihr Vorhaben, bis zum EU-Lateinamerika-Gipfel im Juni ein neues, auf Dialog basierendes Abkommen mit Kuba beschließen zu wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, Sie werden sich sicherlich noch daran erinnern, dass wir uns als SPD bereits Anfang 2000 mit der damaligen Ent- wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stets um einen konstruktiven entwicklungspolitischen Ansatz mit Kuba bemüht haben. Auch in den darauffolgenden Jahren haben wir uns für eine Neuausrichtung der Kuba- Politik in der EU regelmäßig eingesetzt. So sehr ich die neuen Entwicklungen begrüße, wird aber Kuba nicht da- rum herumkommen, den Menschen endlich volle politi- sche Meinungsfreiheit zu garantieren. Nach wie vor ist freie, regierungskritische Meinungsäußerung gefährlich und kann im Gefängnis enden. Auch der Zugang zum In- ternet ist verboten bzw. wird staatlich erschwert, und die Reisefreiheit ist immer noch äußerst restriktiv. Warum werden diese Missstände von meinen Kollegen der Lin- ken immer ignoriert? Warum fordern sie nicht an dieser Stelle die Einhaltung der Menschenrechte, so wie sie es sonst immer so vehement tun? In diesem Zusammenhang ist für mich die unkritische Haltung der Linksfraktion in Bezug auf Venezuela ge- nauso inakzeptabel. Seit nun fast 20 Jahren stellt die so- zialistische Partei von Hugo Chavez die Regierung, und die Lebenssituation der Venezolaner – trotz einiger Er- folge in der Armutsbekämpfung und Basisversorgung – war noch nie so desolat. Es herrscht Lebensmittelknapp- heit in einem fruchtbaren Land, sodass fast bis zu 80 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden müs- sen. Die Industrie und die Wirtschaft liegen brach am Boden, nachdem die meisten Betriebe teilweise zwangs- weise verstaatlicht wurden. Und obwohl Venezuela eines der erdölreichsten Länder ist, muss es regelmäßig Neu- kredite in Milliardenhöhe von China aufnehmen. Der jetzige Präsident Maduro setzt den autoritären Regierungsstil seines Vorgängers und Ziehvaters Chavez ungehindert fort. Er duldet keine politische Opposition und macht sie entweder mundtot oder steckt sie gleich ins Gefängnis, so wie es mit den zwei Oppositionspoliti- kern Leopoldo Lopez und dem Bürgermeister der Stadt Caracas, Antonio Ledezma, derzeit der Fall ist. Beiden Politikern wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Darüber zu berich- ten, ist nicht einfach, denn in Venezuela ist derzeit so gut wie keine freie oder unzensierte Berichterstattung mög- lich. Und genau vor diesem Hintergrund fordern die Lin- ken in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die „so- zialen und demokratischen Errungenschaften“ Venezue- las auf dem Gipfel in Brüssel zu loben. Das wird bei den europäischen Kollegen mit Sicherheit nicht auf viel Zu- stimmung stoßen, nachdem das EU-Parlament bereits im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet hat, die die unverzügliche Freilassung al- ler willkürlich verhafteten Demonstranten, Studenten und Oppositionsführer forderte. Der Antrag enthält durchaus auch einige Forderun- gen, die ich mittragen könnte. So bin auch ich für eine „Neuausrichtung“ der europäischen Handelspolitik. Denn trotz Formulierungen in den bereits bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru, in dem sich die Vertragspartner dafür ausgesprochen haben, arbeits- und umweltrechtlich Mindestnormen ein- zuhalten, sind beide lateinamerikanische Staaten in Wirklichkeit noch sehr weit davon entfernt, diesen Ver- pflichtungen nachzukommen. Und obwohl es auch in beiden Ländern zu einem Rückgang der Gewalt gegen Gewerkschafter insgesamt gekommen ist, finden weiter- hin brutale und tödliche Übergriffe auf Gewerkschafter statt. An dieser Stelle wäre in dem Abkommen eine ver- pflichtende und sanktionsbehaftete Regelung unbedingt notwendig gewesen. Der kommende Gipfel in Brüssel sollte dazu genutzt werden, um genau auf diese Missstände hinzuweisen. Es sollten klare Botschaften formuliert werden, die im Sinne der Kohärenz in anderen Politikbereichen – wie beispielsweise in der Außenhandelspolitik – ihre An- 9924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (D)(B) wendung finden. Es sollte in Brüssel nicht darum gehen, Regierungen je nach politischer Couleur zu loben. Men- schenrechte kennen kein Parteibuch. Heike Hänsel (DIE LINKE): Der 7. Gipfel der Orga- nisation der Amerikanischen Staaten, OAS, im April 2015 stellte eine historische Zäsur dar. Erstmals reichten sich die Präsidenten der USA und Kubas während eines offiziellen, geplanten Gesprächs die Hände. Mit dieser Begegnung zwischen Barack Obama und Raul Castro verbindet sich die Hoffnung auf neue, auf gegenseitigem Respekt basierende Beziehungen zwischen den USA so- wie den Staaten Lateinamerikas. Diese Entwicklung ist das Ergebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in Lateinamerika, der in den vergangenen zehn Jahren von linken Regierungen vorangetrieben worden ist. Er hat die hegemoniale Rolle der USA auf dem Kontinent er- heblich geschwächt und damit den Staaten Lateinameri- kas eine gleichberechtigtere Position gegenüber den USA verschafft. Es freut mich besonders, dass Fidel Castro diesen his- torischen Moment erleben kann. Das sozialistische Kuba hat der aggressiven Politik der USA widerstanden. Fidel Castro selbst hat elf US-Präsidenten und zahllose Atten- tatsversuche der CIA überlebt. Aber Kuba konnte auch durch eine völkerrechtswidrige Handelsblockade und Terrorakte nicht in die Knie gezwungen werden. Weil in ganz Lateinamerika die Solidarität mit Kuba in dem Maße gewachsen ist, wie die Anfeindungen aggressiver wurden. Und das nicht ohne Grund. Wir wissen, dass Kuba ei- nen großen Anteil an der Armutsbekämpfung in Latein- amerika hat. Zehntausende von kubanischen Ärzten ar- beiten weltweit, auch in vielen lateinamerikanischen Ländern, und versorgen dort die Menschen, die bis dahin keinen Zugang zu medizinischer Betreuung hatten. Auch in den von Ebola betroffenen Regionen Westafrikas. Me- dizinstudentinnen und -studenten aus vielen Ländern des Südens werden in Kuba für den Dienst in ihren Heimat- ländern ausgebildet. Kubanische Pädagoginnen und Pädagogen haben ein Alphabetisierungsprogramm ent- wickelt, das auf dem gesamten Kontinent zum Einsatz kommt und durch das Millionen Menschen lesen und schreiben gelernt haben. Kuba spielt eine Schlüsselrolle im Prozess der politi- schen Einigung des Kontinents. Die Integrationsprojekte ALBA und CELAC gehen maßgeblich auf das kubani- sche und venezolanische Engagement zurück. Und nicht zufällig finden in Havanna die Friedensverhandlungen statt, die den ältesten bewaffneten internen Konflikt der Region, den Krieg in Kolumbien, der Zehntausende von Toten gefordert hat, beenden sollen. Der Weg nach Lateinamerika führt deshalb über Kuba. Doch die Bundesregierung bringt es fertig, in diesen bewegten Zeiten – in Zeiten einer epochalen Ver- änderung, die sich in Lateinamerika vollzieht – ein La- teinamerika-Konzept zu formulieren, das diese Entwick- lungen in keinem Wort erwähnt. Dabei liegen hier große entwicklungspolitische Potenziale. Kuba verfolgt seit 1959 eine vielfach von internatio- nalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisa- tion und sogar der Weltbank belobigte erfolgreiche Orientierung auf freien Zugang zu Bildung und Gesund- heit. Kuba gehört zu den wenigen Ländern des Südens, in denen niemand Hunger leiden muss. Andere links re- gierte Länder wie Venezuela, Ecuador, Bolivien, Brasi- lien und Nicaragua gehören zu den Ländern, die in der Bekämpfung von Hunger und Armut in den letzten Jah- ren die größten Erfolge erzielt haben. Sie haben die Ar- mutsraten erheblich gesenkt und es zugleich geschafft, die soziale Ungleichheit, die in ihren Ländern traditio- nell sehr stark ausgeprägt war, zu verringern. Das bewei- sen unter anderem die jährlichen Statistiken der UN- Wirtschaftskommission für Lateinamerika, CEPAL. Alle diese Prozesse sind auch widersprüchlich. Das sage ich ganz bewusst angesichts der derzeitigen schwie- rigen ökonomischen Lage in Venezuela. Die Prozesse weisen innere Widersprüche auf. Ihnen stehen mächtige, über Jahrzehnte gewachsene Macht- und Profitinteressen im Inneren der Gesellschaften entgegen – und geostrate- gische Interessen von außen. Es ist vielen lateinamerika- nischen Ländern bisher auch nicht gelungen, sich aus einseitigen Handelsbeziehungen, Export von Rohstof- fen, Import von Industriegütern, zu befreien. Auch die Abhängigkeit von der Förderung fossiler Rohstoffe wurde bisher nicht überwunden. All das sind gemein- same Herausforderungen auf dem Weg zu einer interna- tionalen Klimaschutzpolitik. Hier gäbe es viele Poten- ziale für eine Kooperation zwischen Europa und Lateinamerika. Zum Beispiel einen Transfer von Tech- nologie und Ausbildung im Bereich der regenerativen Energien. Auch Kuba, das der Entwicklungsausschuss erst vor wenigen Wochen erstmalig besucht hat, hat da- ran ein großes Interesse. Die Realität ist aber eine andere. Die US-Regierung unter Präsident Obama hat dem sozialistischen Venezu- ela offen den Kampf angesagt. Präsident Obama selbst hat vor einigen Wochen ein skandalöses Dekret erlassen, das Sanktionen gegen die demokratisch gewählte Regie- rung von Präsident Nicolas Maduro Tür und Tor öffnet. Wie überzogen, wie realitätsfern diese Linie ist, zeigt sich in der Formulierung, Venezuela würde eine „Bedro- hung für die nationale Sicherheit“ der USA darstellen. In Lateinamerika hat das massive Empörung und heftige Gegenreaktionen provoziert. Die neue, aggressive Linie Washingtons führte auch dazu, dass auf dem Amerika- Gipfel in Panama wieder einmal keine gemeinsame Ab- schlusserklärung zustande kam. Aber hat die Bundesre- gierung die neuen Fehlentwicklungen in der US-Politik angesprochen, die quasi ein Spiegel der historisch ver- fehlten Kuba-Politik sind? Fehlanzeige. In Berlin herrschte und herrscht Schweigen. Wir lehnen jegliche Angriffe auf Venezuela ab. Das venezolanische Volk muss sein Schicksal selbst bestimmen können. Und wer ernsthaft abstreitet, dass dies bei Wahlen in dem südame- rikanischen Land möglich ist, wie dies aus den Reihen der Union zu vernehmen ist, ist politisch einfach nicht ernst zu nehmen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9925 (A) (C) (D)(B) Auch der Friedensprozess in Kolumbien braucht in- ternationale Unterstützung, nachdem sich bisher vor al- lem Kuba, Venezuela, Chile und Norwegen engagiert ha- ben. Es bleibt zu hoffen, dass der Abschluss eines Friedensabkommens in Havanna den Anfang für eine demokratischere und sozialere Entwicklung bedeutet. Dafür wird es aber notwendig sein, dass die breite so- ziale Bewegung tatsächlich in den Prozess aktiv inte- griert und die Menschenrechtsverteidigerinnen und -ver- teidiger und Opferverbände nicht mehr verfolgt, sondern geschützt werden. Ich appelliere an die kolumbianische Regierung: Rufen Sie auch einen umfassenden Waffen- stillstand aus! Dies wäre ein deutliches, glaubwürdiges Zeichen der Regierung und Armee für die Friedensver- handlungen. Wir können viel aus der erfolgreichen Armutsbe- kämpfung in den progressiv regierten Ländern Latein- amerikas lernen – für unsere Entwicklungspolitik, aber auch für den Umgang mit der Krise im Euro-Raum. Im linken Lateinamerika sinkt die Armut, im neoliberalen Europa wächst sie. Wir haben also etwas von den Latein- amerikanerinnen zu lernen und ihnen keine Ratschläge zu erteilen. Dies wäre ein wichtiges Signal, das von dem kommenden EU-CELAC-Gipfel im Juni in Brüssel aus- gehen könnte. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im Juni stattfindende Brüsseler Gipfeltreffen zwischen der EU und dem Staatenbündnis CELAC eröffnet die Chance, sich für eine strategische Partnerschaft zwi- schen Europa und Lateinamerika stark zu machen. Lateinamerika hat mit seinen rund 560 Millionen durchschnittlich sehr jungen Menschen, einer starken Zivilgesellschaft, positiven wirtschaftlichen Kennzah- len und einem enormen Reichtum an natürlichen Res- sourcen großes Potenzial. Der Staatenverbund kann ein wichtiger Bündnispartner für Europa auf der Suche nach Lösungen für globale Herausforderungen wie die Finanz-, Wirtschafts-, Klima- und Ernährungskrisen sein. Die Bundesregierung muss den anstehenden Gipfel zum Anlass nehmen, sich auf EU-Ebene für eine grund- sätzliche Veränderung der derzeit durch wirtschaftliche Interessen dominierten Beziehung mit Lateinamerika und der Karibik stark zu machen, und Impulse für eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung auf beiden Kontinenten setzen. Derzeit werden die globalen Krisen durch die Han- delsstrategie der EU und der CELAC-Staaten noch ver- schärft. Intransparenz und geringe politische Partizipa- tion führen dazu, dass unter Umgehung von Parlamenten und Ausschluss der Zivilgesellschaft Abkommen und Verträge abgeschlossen werden, die zu ökologischen und sozialen Verwerfungen führen und Partikularinteressen den Vorrang vor dem Gemeinwohl geben. Dabei finden die Menschenrechte nicht genug Beachtung. Hoher Fleischkonsum und Massentierhaltung in Europa sind mitverantwortlich für den ressourceninten- siven Anbau von genmanipuliertem Soja, der zu einer massiven Belastung von Mensch und Umwelt, zur Ver- treibung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und In- digenen sowie zum Verlust wertvoller Ökosysteme führt. Der ungebremste Rohstoffhunger der EU treibt den ex- tensiven Bergbau und die Gewinnung seltener Erden vo- ran. Dadurch werden vor Ort unter anderem der Energie- und Wasserverbrauch, der Druck auf Wälder und Böden gesteigert und Land Grabbing gefördert. Daran trägt die EU eine Mitschuld. Ziele des Gipfeltreffens müssen deshalb die Erarbei- tung von Konzepten für eine diversifizierte und nachhal- tige Wirtschafts- und Handelsstrategie und der Beginn einer intensiven Diskussion mit den lateinamerikani- schen Parlamenten und der Zivilgesellschaft sein. Ein verstärkter Einsatz beider Regionen für den Schutz der Menschenrechte ist zudem von größter Wichtigkeit. Ei- nige der LAK-Staaten weisen alarmierende Anzeichen fragiler Staatlichkeit auf. Der Kampf gegen die organi- sierte Kriminalität und die Drogenkartelle hat in vielen Ländern zu hohen Opferzahlen geführt. Zuletzt zeigte die schreckliche Ermordung der Studenten in Mexiko, wie es die dortigen Sicherheitskräfte mit den Menschen- rechten halten. Dazu darf Deutschland nicht weiter schweigen. Die Kanzlerin darf neben ihrem Bemühen, auf diesen Gipfeln Zutritt zu den attraktiven lateinamerikanischen Märkten zu gewinnen, nicht vergessen, auch für die Frauenrechte einzutreten, so wie sie es für den G-7-Gip- fel angekündigt hat. Lateinamerika schlägt Deutschland zwar in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, in den Frau- enanteilen in der Politik und einer geringeren Einkom- mensschere zwischen Männern und Frauen. Gleichzeitig hat der lateinamerikanische Kontinent für seine herr- schende soziale Ungleichheit Berühmtheit erlangt. Nicht nur sind Frauen überproportional von politisch-sozialer Teilhabe ausgeschlossen; sie sind auch stärker von den Auswirkungen der extensiven Ressourcenausbeutung, von Klimawandel und bewaffneten Konflikten betroffen. Die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab. Die Straflosigkeit bei den unterschiedlichen Gewaltformen liegt bei weit über 90 Prozent. Die Verhandlungen auf den EU-CELAC-Gipfeln ver- nachlässigen nicht handelspolitische Dimensionen der Partnerschaft: den politischen Dialog und die Zusam- menarbeit in Bereichen wie der Armutsreduzierung, den Menschenrechten, der Stärkung des Rechtsstaates, dem Klima- und Umweltschutz, sozialer Kohäsion und Ge- schlechtergerechtigkeit, Bildung und Beschäftigung, Innovation und Technologie und der Vereinbarung von Nachhaltigkeits-, Transparenz- und Menschenrechtskri- terien im Agrar- und Bergbausektor. All dies sind Themen, die die „strategische Partner- schaft“ der EU und der LAK-Staaten mit konkreten In- halten füllen können. Die aktuellen multilateralen Pro- zesse im Gipfeljahr sollten dafür als geeigneter Rahmen dienen. Lateinamerika ist eine sehr selbstbewusste Re- gion. Dies zeigt sich zum Beispiel in der zunehmenden Selbstständigkeit regionaler Institutionen und der zuneh- 9926 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 (A) (C) (B) menden Unabhängigkeit von klassischen Finanzorgani- sationen wie dem Internationalen Währungsfonds, IWF, und der Weltbank. Nicht zuletzt die Initiativen für die SDGs gehen auf lateinamerikanischen Anstoß zurück. Die CELAC-Staaten haben ihre Abhängigkeit von den USA deutlich verringert und sind auch weniger auf Offsetdruc Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Te Europa angewiesen. Sollten es die europäischen Regie- rungen erneut verpassen, die LAK-Staaten als strategi- sche Partner im Kampf gegen Armut und Klimawandel ernst zu nehmen und einzubinden, so könnten diese die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Regionen vor- ziehen und die zu Europa in Zukunft vernachlässigen. (D) kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 lefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 103. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Fracking, Bergschadenshaftung, Bergbaurecht TOP 4, ZP 2 50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel TOP 5, 19 a Asylpolitik, finanzielle Verantwortungsteilung TOP 23, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 24 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 6 Europäische Hochschulbildung TOP 7 Informationsweiterverwendungsgesetz TOP 8 Völkermord in Ruanda – Historische Aufarbeitung TOP 9 Bundeswehreinsatz Operation Atalanta vor Somalia TOP 10 Arbeit in der Wissenschaft TOP 11 EU-Richtlinie über GmbH mit einem Gesellschafter TOP 12 Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch TOP 13 Bundeswehreinsatz in Liberia TOP 22 Geschichte des Bundeskanzleramtes TOP 15 Rindfleischetikettierungsgesetz TOP 16 Empfehlung der VN zur Behindertenrechtskonvention ZP 4 Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion TOP 17 EU-Lateinamerika-Gipfel Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.

Es gibt einige Umstellungen in der Tagesordnung,
auf die ich Sie gerne aufmerksam machen möchte. Die
zusätzlich aufgesetzten Punkte sind in der Zusatzpunkt-
liste aufgeführt:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:

BND und NSA – Notwendigkeit und Grenzen
der internationalen Zusammenarbeit

(siehe 102. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

50 Jahre deutsch-israelische diplomatische
Beziehungen – Einmaligkeit und Herausfor-
derung
Drucksache 18/4818

ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 23)


Erste Beratung des von den Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Rechtsstellung und
Aufgaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte (DIMRG)

Drucksache 18/4798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

zum Grünbuch

Schaffung einer Kapitalmarktunion

KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15

hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens der Europäischen Kom-
mission

Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz der Meere weltweit verankern

Drucksache 18/4814

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Meeresumweltschutz national und internatio-
nal stärken

Drucksache 18/4809

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, wie üblich abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 19 a – hier geht es um die
Beratung des Antrags mit dem Titel „Für eine faire
finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und
Versorgung von Flüchtlingen“ – soll zusammen mit dem
Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden. Die Tages-
ordnungspunkte 19 b und 19 c – hier geht es um Anträge





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und
zu einer geforderten Umkehr in der Asylpolitik – werden
abgesetzt.

Die Tagesordnungspunkte 14 und 22 tauschen unter
Beibehaltung der vereinbarten Redezeiten ihre Plätze.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam:

Der am 24. April 2015 (101. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss)

zur Mitberatung überwiesen werden:

Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes

Drucksache 18/4683
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-
verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann
haben wir das so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung wasser- und naturschutzrechtlicher
Vorschriften zur Untersagung und zur Risi-
kominimierung bei den Verfahren der Fra-
cking-Technologie

Drucksache 18/4713
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus-
dehnung der Bergschadenshaftung auf den
Bohrlochbergbau und Kavernen

Drucksache 18/4714
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Verbot von Fracking in Deutschland

Drucksache 18/4810
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden,
Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst
nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich re-
formieren

Drucksachen 18/848, 18/1124

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Dr. Hendricks.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Lassen Sie mich abweichend von der Tagesordnung
kurz auf die erfolgreiche Trilog-Verabredung eingehen,
die vorgestern Abend in Brüssel zur Reform des europäi-
schen Emissionshandels getroffen worden ist. Wenn-
gleich es nicht unmittelbar zu unseren Tagesordnungs-
punkten gehört, so hängt es doch zusammen, nämlich in
der Frage der Energienutzung und unserer zukünftigen
Energiepolitik. Ich kann es nur als großen Erfolg der
Bundesregierung insgesamt bezeichnen, dass es uns ge-
lungen ist, die entsprechenden Regelungen so auf die
Schiene zu setzen, dass sie, beginnend mit dem Jahr
2019, positiv wirken werden und wir damit den Emis-
sionshandel wieder auf eine vernünftige Grundlage stel-
len, sodass er seine Wirkung erzielen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte kann man
in diesem Zusammenhang sagen: Wir brauchen keine
neuen fossilen Energiequellen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, genau!)


Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen.





Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Warum dann heute dieser Gesetzentwurf?)


– Ja, genau, Herr Krischer.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wohl eine Lachnummer!)


Weil wir es uns nicht so leicht machen wie Sie, werde
ich Ihnen jetzt begründen, warum wir Ihnen gleichwohl
einen Gesetzesvorschlag vorlegen – genau genommen
ist es ein Gesetzespaket, also mehrere Vorschläge –, mit
dem das Fracking in Deutschland geregelt werden soll
und mit dem dem Fracking in Deutschland sehr enge
Grenzen gesetzt werden sollen. Das haben wir nämlich
bisher nicht. Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen
und Bürger sehr ernst. Unsere erste Priorität ist selbst-
verständlich der Schutz des Trinkwassers und damit der
Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.

Es handelt sich hier um eine offene Debatte – das
werden wir heute in der Debatte mitbekommen –, in der
auch in den verschiedenen Fraktionen durchaus unter-
schiedliche Positionen deutlich werden. Ich will Ihnen
sagen – das ist sowieso das Recht des Deutschen Bun-
destages –: Ich bin sehr offen für weiter gehende Vor-
schläge, die meinen Intentionen noch mehr entsprechen
und die gleichwohl Rechtssicherheit nicht vermissen las-
sen. Deswegen bin ich gespannt auf die Debatte, mit der
wir es zu tun haben, die heute im Deutschen Bundestag
eingeleitet wird und die wir dann vor der Sommerpause
gemeinsam beenden werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist selbstverständlich klar, dass das Parlament sei-
nen Einfluss wahrnimmt. Das zeigt, dass wir alle ge-
meinsam die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst
nehmen. Deshalb bitte ich darum, dass wir im parlamen-
tarischen Verfahren eine ehrliche Debatte führen, eine
Diskussion mit offenem Visier. Wie gesagt: Für weiter
gehende Vorschläge bin ich selbstverständlich offen.

Gestatten Sie mir, zur Einbringung des Gesetzent-
wurfs auf einige Punkte hinzuweisen.

Wir beenden nach vielen Jahren einen Zustand, in
dem das Fracking auf einer unzureichenden rechtlichen
Grundlage steht. Wir führen sehr strenge Regeln ein, wo
bislang keine klaren Regeln gegolten haben. Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen, wir ermöglichen eben
nichts, was bislang verboten gewesen wäre, sondern im
Gegenteil: Wir verbieten vieles, was bislang nicht
rechtssicher verboten werden konnte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die heutige Rechtslage ist so, dass jedes Unterneh-
men, das einen Antrag bei der zuständigen Bergbehörde
eines Landes gestellt hätte, diesen Antrag im Zweifels-
fall vor den Verwaltungsgerichten positiv hätte durch-
fechten können, weil wir praktisch keine Begrenzungen
haben. Das ist die Situation, von der wir ausgehen, und
das müssen wir uns bitte alle noch einmal vergegenwär-
tigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb: Es wird in Zukunft ein weitreichendes Verbot
in schützenswerten Gebieten geben, insbesondere in al-
len Trinkwassergewinnungsgebieten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Stimmt ja nicht!)


– Doch. Sie haben vielleicht den Entwurf noch nicht
richtig gelesen.

Es wird weiter gehende Möglichkeiten der Länder ge-
ben, weitere Schutzgebiete auszuweisen, und das unkon-
ventionelle Fracking wird zunächst nur für Probebohrun-
gen unter strengen Voraussetzungen zugelassen. Das ist
der Gegenstand dieses Gesetzes. Die Bergbau- und die
Wasserbehörden sind gemeinsam verantwortlich, müs-
sen also diese Probebohrungen einvernehmlich geneh-
migen. Wenn es denn dann später einmal zu kommer-
ziellen Bohrungen käme, müssten sie gemeinsam, also
einvernehmlich, genehmigen.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter 3 000 Meter erlauben Sie es jetzt schon!)


Wir führen erstmals eine verpflichtende Umweltver-
träglichkeitsprüfung ein, und zwar für das schon seit lan-
gem bestehende konventionelle Fracking genauso wie
für das unkonventionelle Fracking.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


– Ja. Bestreiten Sie es bitte nicht! Lesen Sie doch einfach
den Gesetzentwurf!


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich bin
gerne bereit, auf weiter gehende Monita und Petita ein-
zugehen. Versuchen Sie dann aber bitte, zunächst in Ih-
rer Fraktion zu klären, was Ihre Fraktion im Gesetzge-
bungsverfahren einvernehmlich noch einbringen will.
Wenn es da eine Verständigung gibt mit der anderen Ko-
alitionsfraktion, werden Sie in mir sicherlich keine Geg-
nerin finden. Aber die erste Voraussetzung ist, dass sich
die Union unter sich klar darüber wird, was sie möchte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir führen eine strenge Überwachung und ein inten-
sives Grund- und Oberflächenwassermonitoring ein.
Verboten – lieber Kollege Mattfeldt, auch wenn Sie das
Gegenteil behaupten – wird die unterirdische Verpres-
sung von Lagerstättenwasser beim konventionellen
Fracking, was es bisher gab. Es wird verboten, auch
wenn Sie bisher das Gegenteil gesagt haben.


(Beifall bei der SPD)


Außerdem führen wir die Umkehr der Beweislast bei
Bergschäden ein. Auch das kommt den Bürgerinnen und





Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

Bürgern, insbesondere in den Regionen, in denen es ja
schon lange das konventionelle Fracking gibt, entgegen;
denn das wird ja auf jeden Fall weiter stattfinden. Davon
gehen wir, wie ich annehme, gemeinsam aus.

Des Weiteren: Wir wollen, dass an dem gesetzlichen
Rahmen eben nicht juristisch gerüttelt werden kann. Wir
wollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Ganz
sicher kann man natürlich nie sein; das wissen wir alle.
Aber wir wollen möglichst Rechtssicherheit herbeifüh-
ren. Wir müssen uns fragen: Soll der Staat Technologien
pauschal verbieten, selbst wenn sie nicht ausreichend er-
forscht sind? Es ist doch so – wir alle sind daran gebun-
den –: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss im
Auge behalten werden. Fracking findet zum Beispiel
auch – daran sind viele von Ihnen ja auch interessiert –
im Bereich der Geothermie statt; denn geothermische
Methoden ohne Fracking gibt es gar nicht. Man braucht
es auch zur Erschließung von Heilquellen. Da gibt es
auch wieder völlig auf der Hand liegende Interessen,
dass man das in diesem Zusammenhang nicht verbieten
will. Die Technologie als solche ist also nicht einfach
verbietungsfähig. Dann müssten Sie sich auch von Heil-
quellenerschließung und von Geothermie verabschieden.
Die Technologie als solche ist nicht verbietungsfähig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist weit unter Ihrem Niveau, Frau Hendricks!)


– Das ist nicht unter meinem Niveau. Sie, liebe Frau
Göring-Eckardt, müssen sich klar werden, dass Geother-
mie nur mit Frack-Vorgängen überhaupt erschlossen
werden kann


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


und dass auch Heilquellenerschließung nur mit Frack-
Vorgängen erfolgen kann. Mehr habe ich nicht gesagt.
Die Technologie als solche kann unter diesem Gesichts-
punkt nicht vollständig verboten werden. Wir müssen sie
regeln, und genau das ist der Ansatz dieses Gesetzes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unser Vorschlag ist also, das in einem sehr engen
Rahmen, in Forschungsvorhaben, zu ermöglichen, damit
wir die Grundlage für politische Entscheidungen verbes-
sern können. Es geht nicht darum, Technik zu verbieten,
weil Politiker oder der Staat meinten, sie seien die besse-
ren Wissenschaftler.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Frankreich haben sie es gemacht!)


Unsere Aufgabe ist es, feste Regeln, die einen größtmög-
lichen und zugleich rechtssicheren Schutz unserer Um-
welt gewährleisten, hier miteinander zu verabreden. Dies
schlagen wir vor.

Als Klimaministerin darf ich durchaus noch ergänzen:
Ich habe große Zweifel daran, dass wir diese Technik
unter energiepolitischen Gesichtspunkten brauchen.

(Beifall bei der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann wird es noch absurder! Warum machen Sie es denn dann?)


Wir werden sicherlich in absehbarer Zeit – vielleicht
werden wir das nicht alle erleben – das Zeitalter der fos-
silen Rohstoffe beenden. Ich bin auch nicht sicher, ob die
Fracking-Technologie im kommerziellen Sinn tatsäch-
lich eine Zukunft in Deutschland hat, ob es ein kommer-
zielles Interesse daran gibt, sie überhaupt in dem unkon-
ventionellen Bereich zur Anwendung zu bringen.
Gleichwohl: Wir haben jetzt einen unsicheren Rechtszu-
stand, und mir liegt daran, die Bürgerinnen und Bürger
zu schützen und deswegen klare Regeln einzuziehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300100

Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Zdebel für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Hubertus Zdebel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810300200

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Auch ich freue mich auf eine ergebnisoffene Debatte
hier über das Thema Fracking. Wir werden im Laufe der
weiteren Beratungen sehen, inwieweit die Koalition tat-
sächlich bereit ist, die Debatte ergebnisoffen zu führen,
wie es auch Frau Ministerin Hendricks gerade einleitend
eingefordert hat.

Fracking ist eine Gefahr für Mensch und Natur.
Fracking verunreinigt das Grund- und Trinkwasser
durch Chemikalien, aufsteigendes Methan und Lager-
stättenwasser. Fracking und die Verpressung von Lager-
stättenwasser können Erdbeben hervorrufen, wie jüngst
in den USA wissenschaftlich nachgewiesen worden ist.
Die Entsorgung des mit radioaktiven Isotopen, Quecksil-
ber und Benzol belasteten Flowbacks, der gefährlichen
Mischung aus Lagerstättenwasser und Frack-Flüssigkei-
ten, ist ungeklärt. Die Klimabilanz von gefracktem Erd-
gas ist miserabel, teilweise sogar miserabler als die von
Braunkohle.

Ähnlich wie bei der Atomenergie ist mit hohen Folge-
kosten zu rechnen, etwa für Erdbebenschäden, verseuch-
tes Grundwasser, zerstörte Ökosysteme und die Mond-
landschaften durch Fracking-Bohrungen auf engstem
Raum, ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Ri-
siken, die von Fracking ausgehen. Das zeigen insbeson-
dere die Erfahrungen in den USA, wo es tatsächlich, im
Gegensatz zu Deutschland, schon wissenschaftliche For-
schung und Ergebnisse auf diesem Gebiet gibt.

Angesichts dieser Risiken wäre es unverantwortlich,
Fracking selbst unter Einsatz ungefährlicher Frack-Flüs-
sigkeiten und unter verschärften Auflagen zu erlauben.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Hubertus Zdebel


(A) (C)



(D)(B)

Daher fordert die Linke ein gesetzliches Fracking-Verbot
ohne Ausnahmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir stehen damit nicht allein. Nicht nur die Kommu-
nen, in denen zahlreiche Bürgerinitiativen Entscheidun-
gen gegen Fracking herbeigeführt haben – einige Kom-
munen haben dies sogar selber per Ratsbeschluss getan –,
sondern auch die Länder Nordrhein-Westfalen, Schles-
wig-Holstein und Bremen überzeugt der Regierungsent-
wurf nicht. Auf Initiative dieser Länder hat der Umwelt-
ausschuss des Bundesrates ebenfalls ein konsequentes
Fracking-Verbot beantragt. Das können wir nur unter-
stützen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anders als Sie, Frau Ministerin Hendricks, ständig
behaupten, ist ein gesetzliches Fracking-Verbot sehr
wohl möglich. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftli-
chen Dienstes des Bundestages aus dem Jahre 2011 war
bereits zu lesen – ich zitiere mit Genehmigung des Präsi-
denten –:

Ein Verbotsgesetz … könnte aber gerechtfertigt
sein, wenn der Gesetzgeber zur Eindämmung aus
seiner Sicht bestehender Risiken des Fracking ein
Verbot zum Schutz von Mensch und Umwelt für er-
forderlich hielte.

Ich denke, das ist klar genug: Es ist gesetzlich möglich,
Fracking ohne Ausnahmen zu verbieten. Die Frage ist:
Warum passiert es nicht?


(Beifall bei der LINKEN)


Es sind ausgerechnet die beiden sozialdemokrati-
schen Minister, Frau Umweltministerin Hendricks und
Herr Wirtschaftsminister Gabriel, die jetzt dieser Fra-
cking-Lobby ein Geschenk machen wollen; auch das
muss deutlich werden.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Entgegen den Behauptungen der Minister hat die Bun-
desregierung jetzt einen Entwurf für ein reines Pro-Fra-
cking-Gesetz vorgelegt. Durch dieses Gesetz soll Fra-
cking auf drei Vierteln der Fläche Deutschlands möglich
sein, und zwar – das wird häufig gar nicht erwähnt – un-
eingeschränkt für die Erdöl- und Metallgewinnung.

Auch die Gasförderung im Sandgestein – es geht um
das sogenannte Tight Gas – wird ausdrücklich und in
jeder Tiefe erlaubt, obwohl es nie ein systematisches
Umweltmonitoring der bisher durchgeführten Vorhaben
– wie zum Beispiel in Niedersachsen, worauf ja immer
wieder abgehoben wird – gegeben hat. Warum machen
Sie nicht erst einmal dort die Forschung über Jahre?
Dann können wir sehen, wie es damit aussieht. Insofern
entlarvt sich auch das dauernde Fordern von For-
schungsmaßnahmen als das, was es ist: Es soll davon ab-
lenken, dass hier ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz
durch den Bundestag gebracht werden soll.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem, Frau Ministerin Hendricks, erfinden Sie
kurzerhand den Fantasiebegriff des „konventionellen
Frackings“, wohlwissend, dass Technik und Risiken des
Frackings unabhängig von Gesteinsformation und Tiefe
die gleichen sind. Tiefer als 3 000 Meter soll ohnehin
jegliches Fracking erlaubt werden. Dabei verschweigen
Sie, Frau Ministerin, öfter, manchmal systematisch, dass
es gerade unterhalb von 3 000 Metern jede Menge Erd-
gas zu fracken gibt. Oberhalb dieser willkürlich festge-
legten 3 000-Meter-Grenze soll Fracking im Schieferge-
stein oder in Kohlenflözen angeblich untersagt werden.
Doch auch diese Behauptung der Bundesregierung zer-
platzt bei genauerem Hinschauen wie eine Seifenblase;
denn mit der geplanten Durchführung angeblich wissen-
schaftlich begleitender Probebohrungen in diesen Berei-
chen wird die kommerzielle Nutzung vorbereitet. Bei
diesen „wissenschaftlichen“ Bohrungen dürfte es sich in
der Regel um gewöhnliche Aufsuchungsbohrungen han-
deln, den ersten Schritt zur kommerziellen Nutzung. Von
einem Fracking-Verbot kann also keine Rede sein.

Die kommerzielle Schiefer- und Kohlenflözgewin-
nung oberhalb von 3 000 Metern stellen Sie unter den
Vorbehalt einer sechsköpfigen Kommission, deren Zu-
stimmung jedoch als sicher gilt. Viele von den Vertre-
tern, die da benannt werden sollen, sind als industrienah
bekannt. Die Umweltverbände und andere Vertreter der
Zivilgesellschaft, welche die Interessen der Bürgerinnen
und Bürger vertreten, sind hier nicht vertreten. Ich finde,
das ist ein absoluter Skandal, und sage: Diese Kommis-
sion muss auf jeden Fall weg.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das so kommen sollte mit dieser Kommission,
könnten ab Ende 2018 sämtliche Arten von Erdgaslager-
stätten in allen Tiefen durch Fracking kommerziell er-
schlossen werden.

Insofern darf es nicht wundern, dass der Bundesver-
band der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bun-
desverband der Deutschen Industrie die von der Bundes-
regierung vorgelegten Gesetz- und Verordnungsentwürfe
zum Fracking begrüßen,


(Bernd Westphal [SPD]: Die Wasserwirtschaft!)


und das aus gutem Grund: Mit dem Regelungspaket wird
für die Konzerne erst die Rechtssicherheit hergestellt,
um gegen den erklärten Willen der Bevölkerung fracken
zu können; denn was Sie auch gerne nicht erwähnen, ist,
dass die existierenden Ländermoratorien durch das ge-
plante Recht ausgehebelt werden. Die Möglichkeit, dass
ein Unternehmen vor einem Verwaltungsgericht pro-
blemlos eine Genehmigung für Fracking erstreitet, wird
durch Ihre Pläne erst geschaffen, Frau Hendricks. Bisher
klagt ja keiner. Warum wohl? Wenn jetzt Rechtssicher-
heit hergestellt wird, kann geklagt werden.

Außerdem ist zu bemängeln und festzuhalten, dass
die Folgekosten wieder einmal sozialisiert werden sol-





Hubertus Zdebel


(A) (C)



(D)(B)

len; denn entgegen Ihrer Beteuerung, Frau Ministerin,
gibt es bei den Änderungen des Bergschadensrechts ge-
rade keine wirksame Beweislastumkehr. Es kann nach
wie vor durchaus passieren, dass zum Beispiel Erdbeben
entstehen. Die Erdbebenregelung, die in den ursprüngli-
chen Entwürfen noch vorgesehen war, ist im Laufe des
weiteren Verfahrens inzwischen wieder herausgestrichen
worden.

Man könnte über geostrategische Zusammenhänge
und Ähnliches noch viel sagen. Dafür wird in den Aus-
schussberatungen Zeit sein. Diese Fragen, auch der Nie-
dergang des Frackings in den USA und Ähnliches, spie-
len eine Rolle.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was für ein Niedergang?)


Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Diskussionen.
Viele von Ihnen, insbesondere diejenigen, die in ihren
Wahlkreisen versprochen haben, dass sie sich im Bun-
destag gegen Fracking einsetzen werden, stehen schon
unter genauerer Beobachtung der Bürgerinitiativen und
der Parteibasis. Das gilt für die Abgeordneten der CDU/
CSU genauso wie für die der SPD.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300300

Herr Kollege.


Hubertus Zdebel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810300400

Ich bin neugierig auf die von Ihnen angekündigten

Anträge, Herr Mattfeldt und Herr Schwabe. Bisher liegt
ja noch nichts vor.

Wir sagen zusammenfassend: Kein Fracking! Ohne
Ausnahmen! Wir stehen an der Seite der Bürgerinitiati-
ven vor Ort, die sich gegen Fracking ausgesprochen ha-
ben, für ein Fracking-Verbot ohne Ausnahmen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300500

Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Westphal [SPD])



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1810300600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man hier die
Linken und auch die Grünen hört


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben noch gar nicht gesprochen! – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren noch nicht dran!)


– die Zwischenrufe von Herrn Krischer waren nicht zu
überhören; Sie äußern sich ja auch im Vorfeld, außerhalb
des Hauses –, dann kann man den Eindruck gewinnen:
Fracking ist ein Selbstzweck. – Deshalb ist es vielleicht
ganz gut, einmal eine Einordnung vorzunehmen, um was
es eigentlich geht.

Auch wenn wir den Umbau der Energieversorgung in
Deutschland erreichen – mit Energieeffizienz, mit Ener-
gieeinsparung um 50 Prozent bis 2050; der Restbedarf
soll möglichst mit erneuerbaren Energien gedeckt wer-
den –, werden konventionelle Energien sowohl im
Strom- als auch im Gebäudebereich, bei der Heizung,
und im Verkehrsbereich weiterhin eine Rolle spielen.
Wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint,
brauchen wir, um die Grundlast zu decken, auch weiter-
hin konventionelle Energien.

Schauen wir uns die Klimabilanz an: Es ist so, dass
Gas im Grundsatz eine deutlich bessere CO2-Bilanz hat
als andere konventionelle Energien. Wenn wir Gas in
Deutschland haben, dann sind wir, glaube ich, gut bera-
ten, uns zu überlegen, ob wir diese Potenziale auch in
Zukunft nutzen.

Wie ist die Situation weltweit? Die USA wurden an-
gesprochen. In der Tat hat dort eine Revolution stattge-
funden, und zwar nicht in der konventionellen Gasför-
derung, sondern in der nichtkonventionellen, in der
unkonventionellen Schiefergasförderung. Die USA sind
vom größten Energieimporteur zum Selbstversorger und
jetzt zum Energieexporteur geworden. In diesem Jahr
werden die USA beginnen, Gas aus unkonventionellen
Lagerstätten in die Welt zu exportieren. Nach jetzigem
Stand ist es so, dass sie damit über Jahrzehnte, wenn
nicht über hundert Jahre – das zeigen neueste Untersu-
chungen – energieunabhängig werden.

Auch wir in Deutschland haben Potenziale. Anfang
der 90er-Jahre haben wir noch ein Viertel unseres Gas-
bedarfs von rund 100 Milliarden Kubikmeter aus heimi-
scher Förderung gedeckt. Heute sind es nur noch 10 Pro-
zent. Wenn wir uns jetzt anschauen, was wir an
konventionellen Reserven haben, dann erkennen wir: Es
sind gerade mal noch 150 Milliarden Kubikmeter. An
unkonventionellen Potenzialen gibt es in Deutschland
1 300 Milliarden Kubikmeter. Das heißt, wir könnten
13 Jahre eine Vollversorgung aus heimischen Quellen si-
cherstellen oder den jetzigen Bedarf oder die jetzige Ei-
genförderung für 130 Jahre gewährleisten. Deshalb sind
wir, glaube ich, gut beraten, nicht von vornherein Tech-
nologien und Potenziale auszuschließen, sondern uns die
ganz genau anzuschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie ist die Situation? Es wird davon gesprochen, dass
wir Rechtsunsicherheit hätten. Wir haben im Moment
keine Rechtsunsicherheit. Wir haben ein Bergrecht – das
ist die heutige Rechtslage –, das Fracking sowohl im
konventionellen Bereich als auch im nichtkonventionel-
len Bereich ermöglicht. Das ist die Situation.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht sprechen Sie mal mit Ihrer eigenen Fraktion!)


Alles andere, was behauptet wird, etwa, dass dies ein
Fracking-Ermöglichungs-Gesetz wäre, ist falsch, ist eine
bewusste Falschbehauptung der Linken und der Grünen,





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

die sie in den Raum stellen, um die Leute in die Irre zu
führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das Gegenteil ist der Fall.

Mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, verschärfen
wir massiv die Anforderungen gegenüber dem, was bis-
herige Rechtslage ist. Was wird entsprechend unternom-
men? Im konventionellen Bereich, bei der Gewinnung
von Tight Gas, gab es übrigens seit Anfang der 60er-
Jahre – das Fracking in Niedersachsen ist erwähnt wor-
den; der zuständige niedersächsische Wirtschaftsminis-
ter ist hier – über 300 Fälle von Fracking. Im Moment ist
festzustellen, dass die Förderung in Niedersachsen zu-
rückgeht, weil auch im Bereich des Tight Gas im Mo-
ment keine neuen Vorhaben umgesetzt werden.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendwann sind die Lagerstätten auch einmal ausgeschöpft!)


Wir schaffen jetzt Rechtssicherheit im konventionel-
len Bereich, verbleiben aber nicht beim Status quo. Auch
im konventionellen Bereich wird der Rechtsrahmen er-
heblich ausgeweitet: Die Ausschlussgebiete werden aus-
geweitet. Zukünftig werden bergrechtliche Genehmigun-
gen nur im Einvernehmen mit der Wasserbehörde
erfolgen; die Ministerin hat es angesprochen. Der Was-
serschutz ist für uns nicht verhandelbar und hat oberste
Priorität. Deshalb verschärfen wir auch im konventionel-
len Bereich die geltende Rechtslage, auch was den Um-
gang mit Lagerstättenwasser, Bergschadensrecht und an-
derem anbelangt.

Was machen wir jetzt im unkonventionellen Bereich,
im Schiefergasbereich? Da wir, anders als in den USA,
wo nicht nur geforscht wird, sondern das entsprechende
Verfahren großtechnisch angewendet wird – Tausende,
Zehntausende von Fracking-Maßnahmen und -Projekten
sind dort im Gange, ohne dass dort größere Schäden ein-
getreten sind – –


(Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Wovon träumen Sie denn gerade? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie da mal hinfahren? Fahren Sie da mal hin, und schauen Sie sich das an!)


– Ja, ich war schon dort; es waren auch Grüne dabei. Vor
Ort wollen Sie es dann nicht wahrhaben. Aber wie auch
immer! – Trotzdem sagen wir: Wir wollen in der jetzigen
Situation nicht, dass in Deutschland konventionell ge-
frackt wird, sondern wir wollen jetzt in Deutschland er-
proben und die geologischen Formationen untersuchen,
um herauszufinden, ob hier Fracking unbedenklich ist.
Deshalb gibt es hier den Vorschlag, in den nächsten drei
Jahren entsprechende Erprobungsmaßnahmen durchzu-
führen. Wir als Unionsfraktion können uns vorstellen,
dass wir die Erprobungen in den weiteren Verhandlun-
gen auf bestimmte geologische Schichten und auch auf
eine bestimmte Zahl begrenzen – da sind wir offen, da-
rüber können wir sprechen –,

(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Sackgassenforschung!)


damit deutlich wird: Es geht um Erforschung, es geht um
Wissenschaft, es geht darum, im Land der Tüftler und
Denker keine Denkverbote zu erlassen, keine Technolo-
gieverbote zu erlassen, sondern mit Maß und Ziel in aller
Ruhe zu erproben, ob Fracking auch im nichtkonventio-
nellen Bereich, also im Schiefergasbereich, in Deutsch-
land unbedenklich und möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Für die Position haben Sie in Ihrer eigenen Fraktion keine Mehrheit!)


Dafür nehmen wir uns die entsprechende Zeit.

Wir begleiten dies mit einer Expertenkommission.
Die Expertenkommission entscheidet aber nicht, ob zu-
künftig in Deutschland kommerziell Schiefergas geför-
dert wird oder nicht. Vielmehr begleitet die Experten-
kommission den Forschungsprozess der nächsten Jahre.


(Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Die macht dann die Vorgaben!)


Diese Expertenkommission ist, wie die Zusammenset-
zung zeigt, sicherlich nicht verdächtig, von vornherein
pro Fracking zu sein. Ganz im Gegenteil: Das Umwelt-
bundesamt und andere, die darin vertreten sind, haben
sich schon anders eingelassen. Es sind selbstverständlich
auch die Wasserbehörden und diejenigen, die sich wis-
senschaftlich damit befassen, mit dabei. Es ist klar, dass
auch die Bergrechtskompetenz darin vertreten sein muss.
Diese Kommission gibt lediglich eine wissenschaftliche
Einschätzung ab, ob die Probebohrungen, ob das Fra-
cking in bestimmten Gesteinsformationen – davon gibt
es in Deutschland verschiedene, deshalb muss man an
verschiedenen Stellen Probebohrungen durchführen –
unbedenklich sind oder nicht.

Wenn sich dann herausstellen sollte, dass sie unbe-
denklich sind – wenn sie bedenklich sind, dann wird es
keine kommerziellen Vorhaben geben –, dann treten die
rechtsstaatlichen Regelungen in Kraft. Dann erfolgt ein
normales Genehmigungsverfahren nach Bergrecht, in
Zukunft im Einvernehmen mit den Wasserbehörden, wie
in jedem anderen Planfeststellungsverfahren im Ener-
gie-, Rohstoff- oder Verkehrsbereich auch. Das ist kein
Skandal. Im Gegenteil: Das ist das Normalste der Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir nehmen die Bedenken und die Ängste unserer
Bürger ernst.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur samstags!)


Wir nehmen sie ernst, indem wir diesen Ängsten nachge-
hen, indem wir versuchen, diese Bedenken zu objekti-
vieren. Wenn sich herausstellt, dass Fracking unbedenk-
lich ist, dann kann man mit sachlichen Argumenten
überzeugen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Ich erwarte von allen hier im Haus, auch von den
Grünen und von den Linken, dass sie sich dem Abwä-
gungsprozess objektiv stellen


(Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Tun wir ja auch!)


und es akzeptieren, wenn das Ergebnis positiv ausfällt.
Es geht nicht, dass Sie von vornherein, ohne das Ergeb-
nis zu kennen, ohne zu wissen, was erprobt werden soll
und wo erprobt werden soll, sagen: Wir machen das
nicht. – Das machen wir von der Union nicht mit. Wir
nehmen die Befürchtungen der Bürger ernst, aber wir
kanalisieren sie, wir gehen ihnen objektiv nach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erst nachdem die Abwägungen vorgenommen wurden,
kann das normale Genehmigungsverfahren durchgeführt
werden. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, beim
Thema Fracking so emotional und so unsachlich zu agie-
ren.

Wir freuen uns auf eine konstruktive Beratung in den
Ausschüssen und auf die weitere Diskussion. Wir wollen
Deutschland, auch aus Gründen der Versorgungssicher-
heit, fit machen.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein lächerliches Argument!)


Fracking und die unkonventionelle Gasförderung sind
hier eine Möglichkeit, die man mit den erneuerbaren
Energien durchaus sinnvoll kombinieren kann.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300700

Herr Kollege, das hatten Sie schon einmal vorgetra-

gen.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1810300800

Ob kommerzielles Fracking zugelassen wird – die

Ministerin hat es angesprochen –, hängt neben der Prü-
fung der Unbedenklichkeit davon ab, ob es sich wirt-
schaftlich rechnet. Aber dies wissen wir noch nicht, und
deshalb wollen wir es erproben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810300900

Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810301000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Pfeiffer, Sie haben zwar immer Grüne und Linke
angesprochen, aber ich habe den Eindruck: Das war eine
Rede an Ihre eigene Fraktion. Denn der Widerstand ge-
gen das Fracking kommt doch aus Wahlkreisen Ihrer
Fraktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich in unserem Land unterwegs bin, dann erlebe
ich, dass schwarze Bürgermeister bei ihrem Widerstand
gegen Fracking sogar kritischer als die Greenpeace-Ak-
tivisten sind und diese links überholen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen in Ihre eigenen Reihen gucken. Tun Sie nicht
so, als sei das ein Problem der Opposition!

Fracking ist eine Risikotechnologie, die eine unserer
wichtigsten natürlichen Ressourcen, unser Trinkwasser,
in unverantwortlicher Weise gefährdet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In den USA – das ist schon mehrfach angesprochen wor-
den – kann sich jeder und jede ansehen, zu welchen Um-
weltzerstörungen Fracking führt. Man muss kein Pro-
phet sein, um festzustellen, dass die USA diesen
kurzfristigen Gasboom noch teuer bezahlen werden,
dass sie im wörtlichen Sinne den Giftmix ausbaden oder
im schlimmsten Falle sogar austrinken müssen. Das geht
zulasten der nachfolgenden Generationen. Das wollen
wir in Deutschland und in Europa nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Fracking ist die neue Eskalationsstufe der fossilen
Energiegewinnung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Oh Gott!)


Auch wegen der miesen Klimabilanz ist es keine Option
für eine nachhaltige Energieversorgung. Das ist die
Rolle rückwärts ins fossile Zeitalter. Wir brauchen keine
Investitionen in Fracking, wir brauchen Investitionen in
erneuerbare Energien und Energieeffizienz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nun könnte man denken, dass im Energiewendeland
Deutschland diese Entscheidung klar ausfällt und dass
man, wie es die Umweltministerin selber sagt, keine In-
vestitionen mehr in fossile Energiegewinnung braucht,
die nicht zukunftsfähig ist. Aber was passiert? Sigmar
Gabriel und Frau Hendricks legen hier einen Entwurf für
ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz vor, durch das auf
mindestens zwei Drittel der Landesfläche Fracking zu-
gelassen wird, durch das sogar erlaubt wird, unter Natio-
nalparks und Naturschutzgebieten zu fracken. Das ist
kein Fracking-Verbot, Frau Hendricks, sondern das ex-
akte Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Es ist doch ein Treppenwitz, dass
Sigmar Gabriel und die Bundesregierung die Biogas-
branche aus dem Land treiben, aber dem Giftcocktail
von Exxon Mobil die Tür öffnen, sodass er zur Gasge-
winnung in den Untergrund gepresst werden kann. Das
ist nicht nachhaltig. Das ist nicht zukunftsfähig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

Wenn hier immer auf das Ausland verwiesen wird,
dann muss man einmal in das europäische Ausland
schauen. Seit Jahren versucht Polen, Fracking zu ermög-
lichen. Was ist das Ergebnis? In Polen gibt es bis heute
keine einzige kommerzielle Fracking-Bohrung. Nir-
gendwo in Europa wird bisher Fracking durchgeführt.
Die Mehrzahl der Staaten hat entschieden, dass das
keine Zukunftsoption ist, auch deshalb, weil die geologi-
schen Verhältnisse in Europa andere sind als in den
USA. Auch die Ansichten der Bevölkerung und die na-
turräumlichen Gegebenheiten sind anders. Das Vorgehen
in den USA kann für uns daher kein Modell sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der allergrößte Witz war ja, was wir eben von Frau
Hendricks gehört haben. Sie haben das tatsächlich wie-
derholt. Ich hatte ja gedacht, Sie hätten sich da einmal
versprochen, aber Sie haben hier jetzt wieder gesagt:
Fracking ist energiepolitisch bedeutungslos.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Warum beschäftigen Sie uns dann mit diesem Unsinn?
Warum machen Sie das dann?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sagen Sie als Umweltministerin doch einfach Nein zum
Fracking.

Ehrlich gesagt, eine Aussage – auch diese haben Sie
jetzt wiederholt – haut mich wirklich vom Stuhl. Sie als
Umweltministerin sagen: Wir müssen das Fracking-Er-
möglichungs-Gesetz machen, weil Konzerne sonst kla-
gen können. – Dass sich eine Umweltministerin in
Deutschland danach richtet und die Gesetze so gemacht
werden, dass die Konzerne nicht dagegen klagen kön-
nen, ist doch ein Skandal. Das ist der Vorgriff auf die
Konzernjustiz von TTIP und CETA, die Sie im vorausei-
lenden Gehorsam einführen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch! – Frank Schwabe [SPD]: Wo ist da die Logik? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hast du heute Zaubertrank getrunken?)


Wenn Fracking keine Bedeutung hat und die Men-
schen im Land es nicht wollen – in den Kommunen ha-
ben wir überall dort, wo es ein Thema ist, einstimmige
ablehnende Resolutionen über alle Parteigrenzen hinweg –,
dann frage ich mich: Warum tragen Sie mit diesem Ge-
setz die Konflikte in die Regionen? Warum tun Sie das?
Ist Deutschland so arm an energiepolitischen Konflikten,
dass wir Kapazitäten und Langeweile haben, um uns in
den Regionen auch noch damit auseinanderzusetzen, ob
Fracking zugelassen wird? Wir haben viel Wichtigeres
zu tun und viel größere Probleme zu lösen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Die Bundesländer – darauf ist schon
hingewiesen worden – haben mit großer Mehrheit be-
griffen, worum es an dieser Stelle geht. Das sieht man,
wenn man die Anträge im Bundesrat betrachtet.
Hannelore Kraft, Horst Seehofer, Winfried Kretschmann
und Bodo Ramelow sind nun wirklich Ministerpräsiden-
ten unterschiedlichsten Typs, aber in einem sind sie sich
völlig einig. Sie sagen klipp und klar: Wir wollen kein
Fracking. Ich sage Ihnen: Wenn diese Ministerpräsiden-
ten unterschiedlichsten Typs dies so klar sagen, dann fol-
gen Sie dem. Lassen Sie sich nicht auf diesen unsinnigen
und blödsinnigen Konflikt ein, mit dem Sie Fracking ins
Land tragen. Das kann doch nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Eines will ich Ihnen auch sagen – gleich wird ja Herr
Mattfeldt reden –: Wenn ich vor Ort unterwegs bin, er-
lebe ich immer wieder, dass CDU-Abgeordnete die
größten Kritiker auf den Podien sind; die überholen
Greenpeace noch links auf der ökologischen Seite. Es
geht nicht an, dass man in den Wahlkreisen vor Ort sagt,
dass man Fracking ablehnt, hier aber am Ende die Posi-
tion von Herrn Pfeiffer – er hat hier eine Fracking-Jubel-
rede gehalten – beschlossen wird. Wir werden sehr ge-
nau darauf schauen, was Sie an dieser Stelle machen. Es
kann nicht sein, dass Sie sich in den Wahlkreisen dage-
gen aussprechen, aber hier in Berlin ein Fracking-Er-
möglichungs-Gesetz machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haut einen um, was der sagt!)


Sie haben jetzt die Aufgabe, Ihren Ankündigungen
hier in Berlin und vor Ort Taten folgen zu lassen und aus
diesem Fracking-Ermöglichungs-Gesetz von Sigmar
Gabriel und Barbara Hendricks ein Fracking-Verbot zu
machen. Das ist Ihr Job. Da müssen Sie liefern. Wenn
Sie diesen Weg gehen – das kann ich Ihnen sagen –,
dann werden wir uns konstruktiv daran beteiligen. Da
werden wir Sie unterstützen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810301100

Herr Kollege.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810301200

Wenn Sie das aber nur einfach so durchwinken, wie

Herr Pfeiffer es hier ankündigt, dann können Sie mit un-
serem härtesten Widerstand rechnen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810301300

Nächster Redner ist der Landesminister Olaf Lies. –

Bitte schön.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1810301400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute steht ein Thema mit großer öffentlicher
Diskussion auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich da-





Minister Olaf Lies (Niedersachsen)



(A) (C)



(D)(B)

her in fünf Punkten die Position des Landes Niedersach-
sen dazu deutlich machen.

Erstens. Die kritische öffentliche Debatte, die wir ha-
ben, ist gut, weil sie Öffentlichkeit und Politik natürlich
zwingt, genau hinzusehen, welche Technologien in
Deutschland angewendet werden können, welche Risi-
ken bestehen und wie man verhindert, dass Gefahren für
Mensch und Umwelt, insbesondere natürlich für das
Trinkwasser, entstehen. Aber, meine Damen und Herren,
es geht auch um die Verantwortung für den Technologie-
und Industriestandort Deutschland, über den wir hier
heute reden. Themen wie Trink- und Grundwasser-
schutz, Natur- und Landschaftsschutz und Erhalt der Le-
bensqualität der Bürgerinnen und Bürger stehen für uns
als Landesregierung in Niedersachsen auf einer Stufe
mit den Interessen der Rohstoffgewinnung aus heimi-
schen Lagerstätten.


(Zurufe von der LINKEN: Aha! – Interessant!)


Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, die rechtli-
chen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und die
Bürgerinnen und Bürger auch von der Beherrschbarkeit
der Risiken bei der Erdöl- und Erdgasgewinnung zu
überzeugen.


(Zuruf von der LINKEN: Wie bei der Kernenergie?)


Niedersachsen ist nicht nur mit Blick auf die Wind-
energie das Energieland Nummer eins. 95 Prozent des
Erdgases aus deutscher Förderung kommen aus Nieder-
sachsen, und rund ein Drittel der deutschen Erdölför-
derung findet in Niedersachsen statt. Das Erdgas aus
Niedersachsen deckt immerhin rund 10 Prozent des bun-
desdeutschen Gesamtbedarfs. Niedersachsen ist also
auch Erdgasland Nummer eins. Deswegen, meine Da-
men und Herren: Wir haben seit drei Jahren ein freiwilli-
ges Moratorium der Förderunternehmen. Das ist keine
Grundlage für die Zukunft. Wir brauchen jetzt eine
rechtliche Absicherung im Hinblick auf die Verlässlich-
keit des Schutzes von Umwelt und Natur, aber auch im
Hinblick auf die Verlässlichkeit für die Industrie in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Übrigens, meine Damen und Herren: Das hat auch et-
was mit Beschäftigung zu tun. Heute haben wir gehört:
Es droht die Entlassung von 200 Fachkräften in diesem
Bereich in Celle. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze,
sondern auch um Know-how in unserem Land,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


um die technologische Weiterentwicklung in Deutsch-
land voranzutreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wichtig ist für uns, auch und gerade in Niedersach-
sen, die Unterscheidung zwischen der Förderung aus
konventionellen Lagerstätten und aus unkonventionellen
Lagerstätten. „Konventionelle Lagerstätte“ heißt jahr-
zehntelange Erfahrung in Niedersachsen. „Unkonventio-
nelle Lagerstätte“ heißt, es gibt keine Erfahrungen, die
eine Grundlage sind, um an diesem Thema in Nieder-
sachsen weiterzuarbeiten. Es ist wichtig, auch an einer
anderen Stelle zu unterscheiden: Für das eine – davon
sind wir überzeugt – können wir eine Akzeptanz schaf-
fen, weil man es kennt und weil es in der Frage der kon-
ventionellen Erdgasförderung Verlässlichkeit gibt, wäh-
rend es bei dem anderen große Vorbehalte gibt. Die
Trennung der beiden Themen sorgt dafür, dass wir in
Niedersachsen eine gute Grundlage haben, die Förde-
rung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten fort-
zusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich: Warum wird
Erdgasförderung in Deutschland gebraucht? Die Ener-
giewende ist das Ziel in Deutschland, die Energiewende
ist das Ziel in Niedersachsen. Aber ohne fossile Energie-
träger wird uns dieser Übergang nicht gelingen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Daher ist auch Erdgas eine ganz wichtige Brücke zur Er-
reichung der Ziele, die wir uns für 2050 vorgenommen
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich aber un-
weigerlich die Frage: Wie können wir die Erdgasversor-
gung in Deutschland langfristig sicherstellen? Geopoliti-
sche Stresstests, die Ukraine- und die Russland-Krise
zeigen uns die aktuelle Situation. Die Erdgasimporte aus
den Förderländern Norwegen und Niederlande gehen zu-
rück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Im-
port von Gas befreit uns nicht von der Debatte, auf wel-
chen Grundlagen, auch hinsichtlich des Schutzes von
Natur und Mensch, dort Erdgas gefördert wird. Auch da
stehen wir in der Verantwortung. Wir können dies nicht
einfach abspeisen und sagen: Wir importieren nur das
notwendige Erdgas.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Diese Umweltstandards können wir hier in Deutsch-
land erarbeiten. Wir können Vorreiter im Bereich der
Umweltstandards bei der Förderung von Erdgas sein.
Diese können wir dann auf andere Länder übertragen.
Damit schaffen wir es, die Erdgasförderung insgesamt
sicherer zu machen und einen anderen Standard zu
schaffen.

Ein Weiter-so – das ist Punkt drei – kann es nicht ge-
ben. Die Kernforderungen unserer Landesregierung sind
deutlich. Wir haben an verschiedenen Stellen über Bun-
desratsinitiativen, aber, wie ich glaube, auch mit viel Zu-
arbeit berg-, wasser- und naturschutzrechtliche Bestim-
mungen auf den Weg gebracht. Es steckt also ganz viel
Erfahrung aus Niedersachsen – 95 Prozent der Erdgas-
förderung finden in Niedersachsen statt – in den aus mei-
ner Sicht ausgewogenen Gesetzentwürfen.

Ein paar wichtige Eckpunkte: Technisch und wirt-
schaftlich gewinnbare Erdgaspotenziale liegen in Nie-
dersachsen in tief liegenden geologischen Sandsteinla-





Minister Olaf Lies (Niedersachsen)



(A) (C)



(D)(B)

gerschichten. Genau darum geht es: Dort ist der Einsatz
der Frack-Technologie in den letzten 30 Jahren 300-mal
durchgeführt und auch ausgewertet worden. Es liegt also
Erfahrung vor. Die Aussage, es gebe keine Erfahrung
und es komme zu einer Verunreinigung des Trinkwas-
sers, stimmt an dieser Stelle nicht. Insofern müssen wir
zumindest eine offene und ehrliche Debatte darüber füh-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deswegen, meine Damen und Herren, muss Erdgas-
förderung aus diesen konventionellen Lagerstätten wei-
ter möglich sein, aber – anders als bisher – unter der Be-
rücksichtigung sehr viel strengerer Umweltauflagen und
unter Durchführung maximaler transparenter Genehmi-
gungsverfahren, also von Planfeststellungsverfahren mit
Umweltverträglichkeitsprüfung, wie wir es auch von an-
deren Verfahren kennen. Das ist auch hier dringend not-
wendig.

Klar ist dabei auch: Zurückgeförderte Frack-Flüssig-
keiten sind aufzubereiten, sie dürfen nicht versenkt
werden. Die Versenkung von Lagerstättenwasser darf
nur in den ehemaligen Förderhorizonten und auch da
erst nach Planfeststellungsverfahren und Umweltver-
träglichkeitsprüfung unter Einbindung der zuständigen
Wasserbehörden – all das spielt eine Rolle – erfolgen.
Wasserschutzgebiete, Heilquellenschutzgebiete, Trink-
und Mineralwassergewinnungsgebiete stehen für eine
bergbauliche Nutzung, also Fracking- oder Lagerstätten-
wasserverpressung, nicht zur Verfügung; dies als klare
Aussage.

Abschließend: Das Bergschadensrecht ist zu novellie-
ren. Die Umkehr der Beweislast ist unabdingbar. Das
schafft auch wieder ein Stück weit mehr Vertrauen in die
heimische Erdgasförderung. Das ist wichtig für eine Ak-
zeptanz in Deutschland.

Deswegen der Punkt vier: Die Entscheidungen sind
jetzt notwendig, und ich bin dankbar für die intensive
Diskussion. Wenn wir nicht handeln, läuft das Morato-
rium aus. Dann gelten die alten Bedingungen, das heißt:
ein Anspruch auf Erdgasförderung, ein Anspruch auf
Fracking. Das muss allen Beteiligten klar sein, die sich
hier kritisch zu diesem Gesetzentwurf äußern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Allein in Niedersachsen sind es 20 000 Fachkräfte,
die wir brauchen, die wir dringend erhalten müssen, da-
mit wir neue Technologien entwickeln können. Deswe-
gen dürfen wir kein generelles Technologieverbot haben.
Die weitreichende Ausweitung von Ausschlussgebieten
sowie die Einführung von unverhältnismäßigen Prüf-
maßstäben wie dem Besorgnisgrundsatz erhöhen nicht
das Schutzniveau, sondern führen dazu, dass es ein kurz-
fristiges Ende der Erdgasproduktion in Deutschland in-
nerhalb der nächsten fünf Jahre gibt. Damit geht ein
Wegbrechen der Fachkräfte und der Fachkompetenz in
unserem Land einher.

Deswegen komme ich abschließend zum Punkt fünf:
Es ist keine einfache, aber eine dringend notwendige
Entscheidung. Es ist, glaube ich, für die öffentliche Dis-
kussion wichtig. Daher sage ich es noch einmal: Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf ermöglichen wir nicht
neue Wege der Erdgasförderung oder des Frackings,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Doch!)


sondern wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür,
dass wir es begrenzen, dass wir es auf die Bereiche redu-
zieren, bei denen wir es für umweltverträglich und auch
für zulässig halten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist der entscheidende Grundsatz dieses Gesetzent-
wurfs, den wir an dieser Stelle dringend brauchen.

Lassen Sie uns deswegen diesen Weg gemeinsam ge-
hen: Sicherung einer verantwortungsvollen Energiever-
sorgung, umfassender Umwelt- und Trinkwasserschutz,
transparente Bürgerbeteiligung genauso wie die Siche-
rung des Technologiestandorts Deutschland und der Ar-
beitsplätze, Chancen für die Industrie zur Entwicklung
umweltschonender Verfahren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutige
Diskussion ist keine Diskussion allein über die Frage
von Erdgasförderung oder Fracking, sondern es geht
auch um die Frage, ob wir in Deutschland bereit sind,
Technologien anzuwenden und weiterzuentwickeln, oder
ob es in Deutschland in Zukunft die Entwicklung neuer
Technologien nicht mehr gibt.

Ich bin mir sicher: Mit dem Gesetzentwurf schaffen
wir es, den Schutz von Mensch und Natur mit einer si-
cheren Erdgasgewinnung in Einklang zu bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810301500

Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810301600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Fähigkeit, das Wort „nein“ auszusprechen, ist
der erste Schritt zur Freiheit.

Das Zitat stammt aus der Zeit der Aufklärung in Frank-
reich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Linke will uns was von Freiheit erzählen!)


Was hat Fracking mit Freiheit und Frankreich zu tun?
Die Linke ist so frei und aufgeklärt, zum Fracking-Er-
möglichungs-Gesetz Nein zu sagen,


(Beifall bei der LINKEN)


aus vernünftigen Gründen im Sinne des Allgemein-
wohls, nicht im Sonderinteresse von US-Fracking-Fir-
men wie Chevron und Exxon, für die die Bundesregie-
rung ein Türöffnergesetz plant, sondern im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger.





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Ihr Genosse in Paris, Frau Hendricks und Herr
Gabriel, Frankreichs Präsident Hollande, war im Übri-
gen auch so frei: Hollande hat Nein gesagt zu Fracking,
und Frankreichs Verfassungsgericht hat das Verbot
jüngst bestätigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen auch in Deutschland kein Fracking. Es
macht keinen Sinn, weder energie- noch klima- oder um-
weltpolitisch. Wir setzen wirklich auf die Energiewende,
auf Wind und Sonne, nicht auf neue Öl- und Gasförde-
rung mit riesigen Methanemissionen und zerstörter Um-
welt.

Wenn wir heute über Fracking-Technologie sprechen,
dann auch über die Freiheit des Marktes, die Natur auf-
zureißen – das bedeutet nämlich Fracking. Wir sprechen
darüber, wie unfrei die Gesellschaft geworden ist, Nein
zu Gas, Kohle und Öl sagen zu können. Der Widerstand
gegen die Klimaabgabe für alte Braunkohlekraftwerke
zeigt das in aller Klarheit.

Natürlich geht es um Interessen großer Energieunter-
nehmen. Fünf der sechs umsatzstärksten Unternehmen
der Welt sind schließlich Energieunternehmen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!)


Jetzt sprechen wir einmal über Demokratie und da-
rüber, wie Politik gemacht wird.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Oh! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da seid ihr ja sowieso Experten!)


Viele Bürgerinnen und Bürger können die Fracking-De-
batte wegen des hohen fachlichen Niveaus nur schwer
nachvollziehen. Die Skepsis gegenüber dem Experten-
tum ist groß, und das Vertrauen in Gutachten von For-
schungsinstituten, die oft Verbindungen in die Wirtschaft
haben, schwindet – und damit das Vertrauen in die De-
mokratie, die auf verlässliches Wissen angewiesen ist.
Das wissen Sie ja auch.

Schauen Sie sich die Expertenkommission an, die
über Fracking-Vorhaben entscheiden soll. Diese Exper-
tenkommission hat eine personelle Schlagseite. Fast alle
Mitglieder sind Fracking-Befürworter; nicht ein Mit-
glied kommt aus der Zivilgesellschaft. In einem Gre-
mium, das keiner von uns gewählt hat, gilt das Mehr-
heitsprinzip. Wir brauchen aber die direkte Entscheidung
der Betroffenen vor Ort.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Tausende Nein sagen, dann muss das auch gelten.
So funktioniert nämlich Demokratie.

Auch die Art und Weise, wie die Bundesregierung
Gesetzentwürfe in die Öffentlichkeit bringt, schadet dem
Vertrauen in die Demokratie. Fracking soll durch die
Täuschung, man wolle ihm einen Riegel vorschieben,
eingeführt werden. Öl und Gas werden gegenüber dem
geltenden Recht aber neue Privilegien verschafft.
Jetzt komme ich zu den Beispielen.

Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absolu-
ten Vorrang.

So steht es im Koalitionsvertrag auf Seite 44 zum Fra-
cking. Es gelte der „Besorgnisgrundsatz des Wasser-
haushaltsgesetzes“. Das klingt super.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist super!)


Wir haben aber nicht nur Trinkwasser, sondern auch
Grundwasser. Wasser wird nicht nur als Trinkwasser ge-
nutzt, sondern auch für Lebensmittel, für Tiere und für
Getränke entnommen. Auch dieses Wasser ist vom Fra-
cking bedroht. Das gilt auch für das Wasser für das baye-
rische Bier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CSU,


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, das geht natürlich nicht! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Grundnahrungsmittel werden nicht verwässert! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt versteht die CSU die Debatte auch!)


und natürlich brauchen wir auch anständige Heilquellen –
auch in Bayern. Das wissen Sie doch.

Der Besorgnisgrundsatz gilt zwar uneingeschränkt,
die Große Koalition spricht aber nur vom Trinkwasser,
weicht den Besorgnisgrundsatz hinterrücks auf und
schaufelt Fracking den Weg frei. Auch das Bergrecht
bleibt fracking-freundlich. Die Unternehmen haben einen
Rechtsanspruch auf Aufsuchung und Betriebszulassung.
Die Rohstoffsicherungsklausel bleibt, womit ganze Dör-
fer dem Bergbau weichen müssen.

Darum frage ich: Wollen wir einer Fördermethode,
die wir als Risikotechnologie identifiziert haben, die Tür
öffnen? Ja oder nein?


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Nein zur rechten Zeit erspart viel Widerwärtigkeit.


(Zuruf von der LINKEN: Nein!)


Das hat übrigens auch Exxon-Chef Rex Tillerson er-
kannt. Jetzt hört gut zu: Der Millionär hat 2014 zur Fra-
cking-Wasserentnahme in der Nähe seiner Villa Nein ge-
sagt – zusammen mit dem Republikanerführer Armey,
der plötzlich selbst betroffen war. Wenn man selbst be-
troffen ist, wird es plötzlich ganz anders.

Wir alle wissen es doch: Einmal genehmigt, ist ein
Zurück schwierig. Das wissen auch die Wählerinnen und
Wähler – Stichworte: TTIP und Investitionsschutzkla-
gen.

Wir Linken sagen Nein. Darum haben wir einen An-
trag für ein ausnahmsloses gesetzliches Verbot von Fra-
cking vorgelegt – ohne Hintertürchen. Also: Nein!


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinnig! – In den Reihen der LINKEN wird ein Plakat hochgehalten)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810301700

Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir uns aus guten

Gründen darauf verständigt haben, dass im Plenum mög-
lichst argumentiert und nicht demonstriert wird. Mein
persönlicher Eindruck ist auch, dass das, was vorgetra-
gen wurde, durch anschließend hochgehaltene Plakate
nicht an Wirkung gewinnt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beim Nüßlein würde ich auch kein Plakat hochhalten! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Nüßlein nützt kein Plakat! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt fällt dem Präsidenten nichts mehr ein!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1810301800

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Für die

Union hat der Schutz von Mensch, Trinkwasser und Um-
welt oberste Priorität. Ich nehme mir heraus, zu sagen,
dass das genauso für die Kolleginnen und Kollegen der
SPD gilt. Es ist natürlich das gute Recht der Opposition,
das in Zweifel zu ziehen. Nur, Frau Bulling-Schröter,
was gar nicht geht, ist, die Tatsachen so zu verdrehen,
wie ich es gerade bei Ihnen erlebt habe. Sie tun so, als ob
Fracking in Deutschland bislang verboten wäre und wir
es nun erlauben wollten. Das ist falsch; das sage ich Ih-
nen ganz offen. Das lassen wir Ihnen auch nicht durch-
gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie müssen doch konstatieren, dass in Deutschland seit
Jahren bzw. sogar seit Jahrzehnten gefrackt wird. Das zu
regeln, das in geordnete, umweltschutzgerechte Bahnen
zu lenken, ist das Anliegen der Gesetze, über deren Ent-
würfe wir heute in erster Lesung beraten, und nichts an-
deres.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit Jahrzehnten wird in Deutschland, wie gesagt, ge-
frackt. Es wird zwischen konventionellem Fracking und
unkonventionellem Fracking unterschieden. Ich will das
mit Blick darauf, dass viele diese Debatte verfolgen, er-
klären. Das konventionelle Fracking findet dort statt, wo
sich Gasblasen unter festem Gestein angesammelt ha-
ben. Diese Blasen werden angebohrt, und das Gas steigt
aufgrund des eigenen Drucks auf. Wenn dieser Druck
nachlässt, wird gefrackt, um weiteres Gas zu fördern.
Das ist seit den 60er-Jahren gängige Praxis in Deutsch-
land.

Nun kommt eine Technologie hinzu, über die zu
Recht heftig diskutiert wird. Beim unkonventionellen
Fracking wird versucht, das im Muttergestein oberflä-
chennah gebundene Gas durch Sprengen des Gesteins
und hydraulischen Druck zu fördern. Über dieses Thema
reden wir nun. Ich will deutlich unterstreichen: Die Dis-
kussion über das unkonventionelle Fracking hat bei uns
allen den Blick auf Probleme des konventionellen Fra-
ckings geschärft. Ich danke ausdrücklich all den Kolle-
ginnen und Kollegen – auch in meiner Fraktion –, die
über dieses Thema kontrovers diskutieren, die sich mit
eigenen Erfahrungen aus den Wahlkreisen einbringen
und die sich konstruktiv, aber auch kritisch beteiligen.
Ihnen sage ich: Sie haben viel erreicht für eine umwelt-
schonende Rohstoffförderung, die, wie Staatsminister
Lies beschrieben hat, immerhin 12 Prozent des Erdgas-
verbrauchs in Deutschland deckt. Tatsächlich erreichen
wir aber nur dann viel, wenn es uns nun gelingt, die vor-
liegenden Gesetzentwürfe durch die parlamentarischen
Beratungen zu bringen. Dann kommen die UVP und die
geforderten Ausschlussgebiete.

Eine Anmerkung am Rande: Selbst die ganz kriti-
schen Geister in Bayern haben inmitten der Diskussion
plötzlich bemerkt, dass dann, wenn man Fracking kom-
plett verbietet, beispielsweise die Heilquellen vor Ort
versiegen werden; denn auch in diesen Fällen ist man auf
Fracking angewiesen, um wieder an Wasser zu kommen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist selbst für Sie unter Niveau!)


Dass wir bei den Wasserthemen auch die Brauereien be-
rücksichtigt haben, zeigt, wie umfassend und weitge-
hend wir das alles regeln. Wir behalten in diesem Zu-
sammenhang alle Themen im Blick.

Wir werden zudem das Bergschadensrecht und die
Regelungen betreffend das Lagerstättenwasser verschär-
fen. Sicherlich wird es noch manche Diskussion – auch
in meiner Fraktion – über die Frage geben, wie das aus-
gestaltet werden soll. Aber das ist legitim. Solche Dis-
kussionen werden im Rahmen des parlamentarischen
Verfahrens geführt werden. Das ist auch gut so.


(Beifall des Abg. Marco Bülow [SPD])


Wir werden hier zu guten Lösungen kommen.

Ich möchte unterstreichen: Für das unkonventionelle
Fracking gilt das von allen geforderte klare Verbot, aller-
dings unter Erlaubnisvorbehalt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vereinbart war aber etwas anderes!)


– Zuhören hilft Ihnen! Ob es etwas verändert, ob Sie es
nachvollziehen können, ist eine andere Frage.

Wir verbieten – wie von Ihnen gefordert – das, weil es
keinerlei Erfahrungen und möglicherweise Risiken gibt.
Wenn man diese Begründung ernst nimmt, dann bedeu-
tet das: Sobald man Erfahrungen gemacht hat und zu
dem Ergebnis gekommen ist, dass Risiken auszuschlie-
ßen oder zumindest beherrschbar sind, muss es möglich
sein, eine solche Technologie anzuwenden. Deshalb be-
steht der erwähnte Erlaubnisvorbehalt.

Ich möchte hier den beiden SPD-geführten Häusern
für diesen klugen Vorschlag ausdrücklich danken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Sie müssen dem Kanzleramt danken, Herr Nüßlein!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Eine Expertenkommission einzusetzen, die gut und mit
dies durchaus kritisch sehenden Persönlichkeiten besetzt
ist, das Who’s who der Geo- und Wasserwissenschaft, ist
sachlogisch. Ich möchte noch einmal deutlich unterstrei-
chen: Sie genehmigen nichts, sondern begutachten nur
die Versuchsbohrungen. Sie liefern die Eintrittskarte für
ein weiteres Verfahren. Sie ersetzen kein Genehmigungs-
verfahren. Wenn sie zu einem Ergebnis kommen, dann
sind die Berg- und Wasserbehörden der Länder gefragt.
Das ist ein ganz normales Verfahren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810301900

Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bülow

zu?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1810302000

Ja, gern.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: „Gern“ musst du nicht sagen!)



Marco Bülow (SPD):
Rede ID: ID1810302100

Geschätzter Herr Nüßlein, ich freue mich sehr, dass

wir jetzt über den Entwurf diskutieren, der von den Häu-
sern gekommen ist, und dass Sie die Problematik des La-
gerstättenwassers als diskutabel eingeordnet haben.

Herr Pfeiffer hat die Bedeutung der Expertenkommis-
sion so hervorgehoben. Mich würde interessieren, ob wir
damit rechnen können, mit der Union auch noch einmal
über die Expertenkommission zu reden. Ich glaube im-
mer noch, dass wir im Bundestag am besten über diese
Dinge entscheiden können und keine Expertenkommis-
sion brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist in Ordnung, dass die Experten uns beraten, aber
nicht, dass sie letztendlich entscheiden. Ich würde mich
freuen, wenn Sie die Position der Union diesbezüglich
darlegen würden. Wahrscheinlich gibt es auch dazu wie-
der zwei oder drei Positionen. Trauen Sie sich zu, diese
Expertise selber darzustellen?

Danke schön.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1810302200

Ich bin der Überzeugung, dass wir im Deutschen

Bundestag nicht die besseren Experten sind, sondern
dass es sinnvoll ist, sich wissenschaftliche Expertise zu
holen. Die Experten können wir im Bundestag schwer
ersetzen. Was wollen Sie denn dann ersetzen? Das an-
schließende Genehmigungsverfahren?


(Frank Schwabe [SPD]: Die Entscheidung!)


Soll am Schluss der Deutsche Bundestag genehmigen
und die Landesbehörden, die Fachbehörden ersetzen und
vor Ort im Wahlkreis X oder Y Maßnahmen genehmi-
gen? Ich glaube nicht, dass wir uns dazu degradieren
sollten. Wir machen den gesetzlichen Rahmen, meine
Damen und Herren.

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Entscheidung trifft die Expertenkommission? Was ist das denn?)


Dann wird er so, wie es sich gehört, ausgefüllt. Das sieht
dieses Gesetz an dieser Stelle vor. Deshalb habe ich ge-
sagt: Es ist ein kluger Vorbehalt, der nicht wieder zu den
angstgeleiteten Diskussionen führt: Soll man oder soll
man nicht? Auch die Industrie kann sich dann darauf
verlassen, dass dann, wenn die Experten zu dem Ergeb-
nis kommen, dass es keine Bedenken gibt,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie bei der Asse!)


ein Rechtsweg beschritten wird, der in die Richtung
geht, dass wir die Technologie anwenden.

Ich sage auch denen, meine Damen und Herren, die
kritisch sind und sagen, dass die Risiken zu groß und un-
beherrschbar sind: Wenn das so ist, dann wird doch nie-
mals eine so besetzte Expertenkommission, wie es das
Umweltministerium vorschlägt,


(Frank Schwabe [SPD]: Das Bundeskanzleramt!)


zu dem Ergebnis kommen, dass man das in Deutschland
anwenden kann. Dann ist das ausgeschlossen. Dann ist
dieses Verbot so absolut, wie es die einen oder anderen
auch aus unseren Reihen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb glaube ich schon, dass es richtig ist, dass wir
konzentriert an diesem Gesetz weiterarbeiten und dafür
Sorge tragen, dass insbesondere die Verbesserungen, die
im Bereich des konventionellen Fracking angedacht
sind, am Schluss auch so kommen. Das ist ganz ent-
scheidend. Wir erreichen nichts, wenn wir wieder an der
gleichen Stelle steckenbleiben wie in der letzten Legisla-
tur, wo die Verdrehung der Tatsachen – man hat uns auch
da schon angehängt, wir würden ein Fracking-Ermögli-
chungs-Gesetz machen –, genau dazu geführt hat, dass
es diese Verbesserungen nicht gegeben hat.

Die Mehrheit der kritischen Geister in unseren Reihen
beschäftigt sich im Übrigen mit Themen, die mit dem
konventionellen, dem praktizierten Fracking zusammen-
hängen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810302300

Herr Kollege Nüßlein, auch Frau Höhn möchte gerne

Ihre Redezeit verlängern. Sind Sie damit einverstanden?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1810302400

Okay, herzlich gern.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810302500

Herr Kollege Nüßlein, können Sie bestätigen, dass die

Experten hinsichtlich der Wasserfrage bei der Asse ge-
sagt haben, die Asse sei absolut sicher und Radioaktivi-
tät würde nicht ins Wasser gelangen, und zwar für 1 Mil-
lion Jahre nicht, dies aber trotzdem nach 20 Jahren
passiert ist? Können Sie genauso bestätigen, dass die
Experten gesagt haben, dass das PCB-belastete Hydrau-





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

liköl ruhig in den Bergwerken bleiben könne, weil das
nie und nimmer ins Wasser gelange, wir jetzt aber, nach
10, 15 Jahren, PCB im Wasser finden? Können Sie das
bestätigen? Können Sie bestätigen, dass Experten zu ge-
nau diesen Auffassungen gelangt sind?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1810302600

Frau Kollegin Höhn, was wollen Sie mir mit dieser

Frage mitteilen? Dass man sich auf den Rat von Exper-
ten nicht verlassen kann,


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dass man zweifeln darf!)


dass wir ersatzweise lieber alles selbst regeln sollten und
man vorsichtshalber alles verbieten sollte, was man ver-
bieten kann?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dass man das eigene Hirn einschalten muss, will sie sagen!)


Das entspräche nicht der sinnvollen Politik, die diese
Koalition in Verantwortung für die Umwelt in Deutsch-
land auf der einen Seite und für die Wirtschaft in
Deutschland auf der anderen Seite macht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Antwort auf die Frage!)


Ich will ganz deutlich sagen, dass die Expertenkom-
mission und das Verbot unter Erlaubnisvorbehalt der
Kern dieses Gesetzentwurfs sind. Ich glaube, wir sollten
stolz darauf sein, dass wir mit diesem Gesetz einen Weg
finden, der von Angst und Populismus wegführt


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt jemand von der CSU!)


und dafür sorgt, dass in Deutschland auch in Zukunft
neue technische Möglichkeiten ernsthaft erforscht wer-
den können und sich die Industrie daran verlässlich be-
teiligen kann.

Ich will deutlich machen, dass der heimische Beitrag
zur Rohstoffversorgung durchaus beachtlich ist: 12 Pro-
zent unseres Gasbedarfs. Wenn hier jemand sagt, Fra-
cking sei im Zusammenhang mit der Energiewende un-
nötig, sage ich dazu – zumindest stelle ich das fest –, dass
die Konzepte aus dem Bundeswirtschaftsministerium,
die ich bisher zur Kenntnis genommen habe, zeigen,
dass man ganz massiv auf Gas setzt, und zwar als Ersatz-
und Regelenergie. Die Behauptung, man brauche für die
Umstellung, für die Energiewende kein Gas, ist aus mei-
ner Sicht komplett falsch. Das ist zu kurz gedacht.

Wer nicht will, dass in Deutschland geforscht wird,
den nenne ich schon immer einen Ökokolonialisten. Er
sagt: Bei uns nicht; sollen das doch andere bei sich zu
Hause machen; die haben nicht so eine Umwelt, nicht so
eine Natur. – Deutschland muss doch Vorbild sein und
einen anderen Weg gehen. Wir müssen Techniken und
Wege finden, um solche Vorkommen zu erschließen,
ohne die Umwelt dabei zu beschädigen, ohne dass sol-
che Schwierigkeiten entstehen, die wir in anderen Län-
dern sehen.

Man kann in Deutschland nicht einfach eine Techno-
logie pauschal verbieten.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Doch!)


Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. –
Das sage nicht ich, sondern das sagte Bundesumweltmi-
nisterin Hendricks laut einer dpa-Meldung vom 1. April
2015.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt zum Datum!)


Damit hat sie absolut recht. Wir können das nicht pau-
schal verbieten. Deshalb gehen wir sehr klug vor. Wir
stellen sicher, dass Umwelt und Natur geschützt sind,
aber auch, dass weltweit Rohstoffvorkommen in Zu-
kunft verantwortungsbewusst erschlossen werden kön-
nen.

Ich bitte Sie herzlich um eine sachliche Diskussion
und um Unterstützung des bisher Erreichten.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810302700

Julia Verlinden erhält nun das Wort für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810302800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Fracking ist riskant für Umwelt und
Gesundheit, und es ist nicht nötig, wie wir hier heute
schon mehrfach gehört haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem will die Bundesregierung es erlauben. Fra-
cking bedeutet Gift in den Böden, Gift im Wasser und
Gift für die Atmosphäre. Sie kennen die Berichte aus
den USA über Erdbeben, entweichendes Methan und
verdrecktes Wasser. Das sind Probleme des fossilen Zeit-
alters. Diese Epoche müssen wir schnellstmöglich been-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD])


Das können wir, weil die Alternativen zur Verfügung
stehen. Fracking verstärkt die Klimakrise, anstatt sie auf-
zuhalten. Das zuzulassen, ist grob fahrlässig von der
Bundesregierung. Ja, wir brauchen schärfere Regeln für
die Rohstoffförderung. Ja, wir brauchen auch endlich
Regelungen bezüglich Fracking. Die bisherige Rechts-
unsicherheit muss beendet werden – darüber sind wir
uns ja alle einig –; aber da endet auch schon die Einig-
keit mit der Bundesregierung. Denn wir brauchen ein
Fracking-Verbot und kein Fracking-Erlaubnis-Paket.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)

Genau das ist es aber, was Sie, Frau Hendricks, gemein-
sam mit Ihrem Kollegen Gabriel, der heute in der De-
batte leider nicht reden möchte, planen. Selbst Sie, Frau
Hendricks, geben zu: Fracking ist kein Beitrag zur Ener-
giewende. Wir brauchen es nicht. Für den Klimaschutz
bringt es uns nichts. Es ist riskant und hat in einer zu-
kunftsfähigen, enkeltauglichen Energieversorgung nichts
verloren!

Anstatt Vorreiter für die Fracking-Technik in Europa
zu sein – eine Technik, die in eine Sackgasse führt –,
müssen wir in Deutschland überlegen, wie wir mittelfris-
tig ohne Erdgas auskommen und in Innovationen für die
Energiewende investieren. Und darauf haben wir Grüne
sehr gute Antworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Jahr ist ganz entscheidend für den Klima-
schutz weltweit. Es wäre ein fatales Signal, wenn
Deutschland ausgerechnet jetzt wieder einen Schritt
rückwärts macht, anstatt auf die Zukunft zu setzen. Denn
die Zukunft heißt: zuverlässige und umweltfreundliche
Energie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Und der Weg dahin geht über erneuerbare Energien,
Energieeffizienz und Energiesparen.

Einige von Ihnen behaupten, Fracking würde in Zu-
kunft nur noch in ganz wenigen Fällen möglich sein. Die
Satzkonstruktionen, die wir heute dazu schon hören
mussten, sind echt abenteuerlich. Sie sagen, der Gesetz-
entwurf sei doch quasi fast ein Verbot. Die Menschen
lassen sich aber nicht für dumm verkaufen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Lediglich in ganz wenigen Gebieten wird Fracking zu-
künftig wirklich rechtssicher verboten sein. Wenn ich
ganz großzügig rechne, dann wird es in maximal einem
Drittel der Landesfläche verboten sein. Das heißt, Sie le-
gen uns hier kein umfassendes Fracking-Verbots-Gesetz
vor, sondern höchstens ein Drittelverbotsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Ihrem Gesetzentwurf stehen Regeln, die nicht nur
gefährlich, sondern auch total absurd sind.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Beispiel?)


– Gerne! Nehmen wir zum Beispiel die 3 000-Meter-
Grenze. Warum soll Fracking in einer Tiefe von
2 999 Metern gefährlich sein – deswegen lieber nur Pro-
bebohrungen –, in einer Tiefe von 3 001 Metern aber
harmlos? Das ist doch total unlogisch!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sogar den Einsatz von wassergefährdenden Chemikalien
erlauben Sie dort! Und warum gilt die 3 000-Meter-
Grenze eigentlich nicht für Erdöl-Fracking? Bisher hat
mir noch niemand eine überzeugende Antwort liefern
können. Ich weiß auch, warum. Es gibt nämlich keine lo-
gische Begründung für dieses Kuddelmuddel an Aus-
nahmen in Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Her-
ren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein echtes Verbot dieser Technik wäre konsequent. Das
würde dem Vorsorgeprinzip entsprechen.

Die Landesumwelt- und -energieminister haben im
Bundesrat deutlich gemacht, dass Fracking im Bergrecht
und im Wasserrecht verboten werden muss. Das ist die
richtige Regulierung für diese Technik – und nicht ein
vermurkstes Fracking-Erlaubnis-Gesetz voll mit Schlupf-
löchern!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Beschlüsse der
Landesumweltminister aus dem Bundesrat aufnehmen.
Ich will, dass Sie wenigstens die Umweltanforderungen
an die Förderung von Erdgas und Erdöl auch bei der
frackfreien Rohstoffförderung verschärfen. Denn was
viele hier in der Debatte unterschlagen: Man kann Erd-
gas auch ohne Fracking-Technik fördern. Jawohl!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Fracking-Verbot wäre kein automatisches Ende der
Erdgasförderung in Deutschland. Es geht nur um die
eine Form der Erdgasförderung, um eine Form der Tech-
nik.

Wir sehen doch jetzt schon, wie viel bei der Erdgas-
förderung insgesamt schiefgehen kann: unkartierte Bohr-
schlammgruben, beschädigte Gebäude, undichte Rohrlei-
tungen und eine ungeklärte Steigerung von Krebsfällen
in Niedersachsen. Ich sage Ihnen: Es reicht!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und damit bin ich in bester Gesellschaft. Jawohl!
Denn mehr als 2 000 Kommunen in Deutschland sagen
Nein zum Fracking. Auch Gewerkschaften und Wirt-
schaftsverbände kritisieren diesen Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Über zwei Drittel der Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes meinen, dass Fracking von der
Bundesregierung verboten werden sollte. Kanzlerin
Merkel – heute leider nicht anwesend – regiert doch
sonst so gerne nach Meinungsumfragen.


(Karsten Möring [CDU/CSU]: Machen Sie auch so!)


Warum tut sie das an dieser Stelle nicht? Sie hätte die
Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands sicher hinter
sich. Ich sage Ihnen, warum sie das nicht tut: weil ihr die
Interessen der Erdgaslobby viel wichtiger sind. Und das
ist unverantwortlich!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne werden uns nicht damit abfinden, dass Sie
mit Ihrer Großen Koalition gegen die Mehrheit der Be-
völkerung und gegen die Vernunft blind dem Willen der
Konzerne folgen. Ich erwarte von Ihnen, von den Abge-
ordneten der CDU/CSU und der SPD, dass Sie jetzt end-
lich Farbe bekennen! Man kann nicht durch die Lande





Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)

ziehen und den Menschen im Wahlkreis erzählen, man
fände Fracking ja auch irgendwie nicht so gut, und dann
hier so ein Fracking-Erlaubnis-Gesetz durchwinken!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Seien Sie ehrlich! Machen Sie Ihre Entscheidung
transparent! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schul-
ter! Erklären Sie den Wählerinnen und Wählern, wofür
Sie wirklich stehen! Handeln Sie! Machen Sie mit uns
aus diesem Fracking-Erlaubnis-Paket ein echtes Fra-
cking-Verbot!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Berauscht euch an euch selbst!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810302900

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Miersch für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1810303000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei

diesem Thema geht viel durcheinander, und man muss es
sortieren. Aber bei einem, glaube ich, sind wir uns doch
alle einig: Die Regelungen, die wir zurzeit im Bergrecht
und auch im Wasserhaushaltsrecht haben, sind anti-
quiert, und mit Blick auf Erdgasfördermaßnahmen und
auch auf die Ölförderung ist dieser Gesetzentwurf für
alle erst einmal ein Fortschritt, weil die Umweltverträg-
lichkeitsprüfung zur Pflicht wird und eine Beweislast-
umkehr im Bergschadensrecht stattfindet. Das muss man
hier ganz deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundesregierung hat etwas geschafft, was vor
zwei Jahren gescheitert ist; Herr Nüßlein hat darauf hin-
gewiesen. Ich finde, wir Parlamentarier haben, wenn wir
Regelungsbedarf feststellen, die Aufgabe, uns den gro-
ßen Fragen zu stellen. Deswegen bin ich den Kollegin-
nen und Kollegen – Christina Jantz und Lars Klingbeil
für die SPD –, die in ihren Wahlkreisen feststellen, dass
Handlungsbedarf besteht, dankbar, dass sie sich in die
Beratung einbringen und mit uns gemeinsam prüfen
werden, ob das, was vorgelegt wurde, ausreicht, bei-
spielsweise was den Umgang mit Lagerstättenwasser an-
geht. Wir werden uns das anschauen; die parlamentari-
sche Beratung steht jetzt bevor.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ebenso müssen wir uns noch einmal mit dem Thema
Probebohrung beschäftigen, mit dem grundsätzlichen
Verbot des Fracking, das wir aus Amerika kennen, mit
der Frage, ob wir an wissenschaftliche Erkenntnisse ge-
langen können. Ja, Herr Pfeiffer, es ist richtig, sich das
noch einmal genau anzuschauen: die Gesteinsformatio-
nen, die Frage, wie man Probebohrungen durchführt, die
entsprechenden Zahlen. All das müssen wir auch im par-
lamentarischen Verfahren sehr sorgfältig betrachten.

Der entscheidende Punkt ist nach meiner Einschät-
zung die Frage, ob das grundsätzliche Verbot von Fra-
cking dadurch umgangen werden kann, dass eine Exper-
tenkommission grünes Licht gibt und dann eine
Landesbehörde genehmigt.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ich finde, der Deutsche Bundestag muss die Instanz sein
und bleiben, die letztlich über den kommerziellen Ein-
satz von Fracking entscheidet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber dann weg mit der Expertenkommission!)


– Sven Kindler, da fangen wir dann an, miteinander zu
diskutieren. Es wird jetzt im parlamentarischen Verfah-
ren darum gehen, das zu prüfen.

Ich glaube auch, dass man, wenn man die Eckpunkte
von Barbara Hendricks und Sigmar Gabriel mit dem ver-
gleicht, was jetzt vorliegt, feststellen kann, dass die Ex-
pertenkommission ursprünglich nicht vorgesehen war.
Dass sie jetzt im Gesetzentwurf steht, hängt, glaube ich,
durchaus auch mit dem Kanzleramt zusammen; aber das
können wir aufklären.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, im Kanzleramt muss man viel aufklären!)


Herr Mattfeldt, Sie haben gerade gesagt, in den Koali-
tionsverhandlungen zum Thema Fracking werde es knal-
len. Nun weiß ich nicht, was Sie meinen. Sie sagen, hin-
ter Ihnen stehen 80 Abgeordnete. Ich schaue Ihren
Fraktionsvorsitzenden an: Sie haben ja über 200 Abge-
ordnete. Das heißt, es scheint in der Fraktion zu knallen,
mit Herrn Fuchs oder mit Herrn Pfeiffer.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei Ihnen knallt es viel häufiger!)


Aber um eins bitte ich Sie: Klären Sie Ihre Haltung, be-
vor Sie uns attackieren. Denn ich glaube, vieles, was Sie
wollen, wollen wir auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber das ist augenblicklich noch nicht mehrheitsfähig in
dieser Großen Koalition. Deswegen lassen Sie uns
kämpfen.

Was wir Ihnen nicht durchgehen lassen werden, ist:
links blinken und rechts abbiegen. Das darf nicht passie-
ren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810303100

Die Kollegin Herlind Gundelach erhält nun für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1810303200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

denke, es ist heute zwar schon mehrfach betont worden,
aber auch ich möchte es eingangs betonen: Das Geset-
zespaket, das uns heute vorliegt, ist eben kein Fracking-
Ermöglichungs-Gesetz – ganz im Gegenteil. Auch das
ist schon mehrfach gesagt worden: Nach geltender
Rechtslage ist Fracking nach entsprechender Genehmi-
gung, natürlich immer durch die zuständige Behörde, in
Deutschland möglich, auch wenn es gegenwärtig ein
Moratorium gibt; aber von der Rechtslage her ist es
möglich. Wir nutzen diese Technologie schon seit mehr
als 50 Jahren, und wir haben sie bisher auch relativ er-
folgreich genutzt.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
eine revisionsoffene Regelung. Das bedeutet, dass wir
das Fracking in Schiefergestein zunächst nur für for-
schungsbezogene Vorhaben zulassen und auch diese nur
unter strengsten Auflagen. Ansonsten gilt ein grundsätz-
liches Fracking-Verbot für Maßnahmen oberhalb von
3 000 Metern. Darin, dass diese Grenze in der Tat etwas
willkürlich ist, sind wir uns einig; darüber werden wir im
Ausschuss sorgfältig beraten. Der Wissenschaftliche
Dienst bezeichnet das aktuelle Gesetzesvorhaben daher
als Fracking-Verbot mit Forschungsprivileg.

Dieses Gesetzespaket reguliert aber nicht nur das Fra-
cking. Es legt auch – das halte ich für mindestens ge-
nauso wichtig – neue Auflagen für die Erdgasförderung
in diesem Lande fest. Um den Sorgen der Bürger Rech-
nung zu tragen, wurden seit 2011 keine Anträge auf kon-
ventionelle Gasförderung mit Anwendung der Fracking-
Technologie mehr positiv beschieden. Deswegen haben
die Unternehmen keine Anträge mehr gestellt.

Diese Bundesregierung setzt jetzt erstmals einen kla-
ren ordnungsrechtlichen Rahmen, bei dem der Schutz
des Menschen, seiner Gesundheit und der Umwelt im
Vordergrund steht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir setzen einen ordnungsrechtlichen Rahmen – auch
das sage ich –, der aber in einem klaren ordnungspoliti-
schen Denken wurzelt; denn unsere Gesellschafts- und
Wirtschaftsordnung beruht auf dem Gedanken der Frei-
heit, der Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft ins-
gesamt. Dazu gehört in unserem marktwirtschaftlichen
System auch die Freiheit des Unternehmers.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die ökologische und soziale Marktwirtschaft – ich
betone ganz bewusst beides – setzt hierfür in unserem
Land den Rahmen. Das heißt, neben den Belangen der
Wirtschaft stehen gleichberechtigt die Belange der Ge-
sellschaft und des Umweltschutzes. Nur ein solches
Konzept ist nachhaltig. Damit unterscheiden wir uns dia-
metral von den Oppositionsparteien, die am liebsten ent-
weder aus dem Diktat des Sozialen oder des Ökologi-
schen alles verbieten oder zumindest ganz detailliert
vorschreiben wollen, was zu tun und was zu unterlassen
ist. Mit dem Handeln in Freiheit und Verantwortung ist
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das geworden,
was es heute ist: eine der erfolgreichsten Industrienatio-
nen der Welt, in die zu gelangen viele Menschen dieser
Tage sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Wir sollten uns
überlegen, ob wir von diesen Grundsätzen wirklich ab-
weichen wollen.

Das ab heute im Bundestag zu debattierende Geset-
zespaket Fracking hat eine Vorgeschichte, die noch in
die letzte Legislaturperiode reicht. Damals ist der Ver-
such gescheitert – auch das wurde schon betont; über die
Gründe möchte ich mich hier gar nicht auslassen –, Fra-
cking in Deutschland verbindlich zu regeln. Dabei
könnte man meinen, dass das eigentlich gar nicht so
schwierig ist, da diese Technologie ja bei uns bekannt
ist; denn zwischen 1961 und 2011 fanden in Deutschland
im Rahmen der konventionellen Erdgasförderung über
300 sogenannte Fracks statt.

Heute legen wir ein Gesetzespaket vor, an dem sicher
noch das eine oder andere zu verbessern sein wird – auch
das haben wir schon gehört –, das aber aus meiner Sicht
insgesamt ausgewogen ist. Es sieht ein Fracking-Verbot
mit Forschungsoption vor und außerdem deutlich stren-
gere Auflagen für die Förderung von Erdgas aus konven-
tionellen Lagerstätten, das heißt aus dem sogenannten
offenporigen Gestein.

Ich weiß, es gibt Menschen, die fordern, dass wir in
Deutschland grundsätzlich kein Erdgas mehr mithilfe
von Fracking fördern sollten. Diesen Menschen möchte
ich einige Informationen und einige wichtige Punkte
zum Nachdenken mit auf den Weg geben, und bei dieser
Gelegenheit möchte ich auch mit der einen oder anderen
Falschinformation aufräumen.

Erdgas ist – das ist uns allen bekannt – der CO2-
ärmste fossile Energieträger und damit der ideale Beglei-
ter für die Erneuerbaren. Ich denke, da stimmen sogar
die Grünen zu. Wir wenden diese Technologie, wie be-
reits erwähnt, seit 1961 ohne größere Zwischenfälle an.
In Deutschland nutzen wir Erdgas aber nicht nur für die
Stromerzeugung, sondern insbesondere auch für die Er-
zeugung von Wärme. Knapp 50 Prozent unserer Hei-
zungsanlagen in Deutschland werden mit Gas befeuert.
Derzeit fördern wir nur noch rund 10 Prozent unseres
Bedarfs selbst. Dieser Anteil war einmal höher. Wir ha-
ben für die Zukunft deutlich größere Potenziale. Wenn
wir hier allerdings weiter drosseln, werden wir noch ab-
hängiger von ausländischen Gasversorgern.

Wenn im Zusammenhang mit der Fracking-Technolo-
gie von Frack-Fluiden und den darin enthaltenen Chemi-
kalien gesprochen wird, setzen viele Menschen diese so-
fort mit giftigen Chemikalien gleich. Dabei ist es
wichtig, zu wissen, dass schon allein der Begriff „Che-
mikalie“ sehr unscharf ist. Wasser, Luft, Stärke und
Backpulver sind auch Chemikalien. Inhaltsstoffe wie
zum Beispiel Guarkernmehl, was vermutlich keiner von
uns kennt, wird sowohl in Frack-Fluiden als auch in Le-
bensmitteln verwandt.





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)

Der Gesetzentwurf sieht übrigens vor, dass Frack-Flu-
ide nur noch schwach wassergefährdend sein dürfen.
Das heißt, sie dürfen nur die Wassergefährdungsklasse 1
haben. Zum Vergleich – ich gehe einmal davon aus, dass
sich jeder von uns von Zeit zu Zeit seine Haare wäscht –:
Shampoo hat die Wassergefährdungsklasse 2.

In Bezug auf das Grundwasser sollte man übrigens
auch wissen: Nicht jedes Grundwasser ist Trinkwasser.
Trinkbares Wasser befindet sich in circa 200 bis 300 Me-
tern Tiefe. Das Wasser darunter ist definitiv nicht trinkbar.
Salz und natürliche Vorkommen von Quecksilber und
Benzol machen es zum Teil sogar giftig. Insofern diese
Flüssigkeiten bei der Gewinnung von Erdgas anfallen,
werden sie künftig in geschlossenen Behältnissen aufge-
fangen. Anschließend dürfen sie nur noch in kohlenstoff-
haltige, druckabgesenkte Gesteinsformationen eingebracht
werden. Das heißt, sie werden dorthin zurückgeführt, wo
sie herkommen. Auch dieser Vorgang unterliegt einer UVP-
Pflicht mit all dem, was dazugehört, inklusive Beteiligung
der Wasserbehörden, aber auch der Öffentlichkeit. Das
heißt, es muss vorher eine sorgfältige Umweltverträglich-
keitsprüfung durchgeführt werden. Die UVP-Pflichten
weiten wir ohnehin massiv aus; denn in Deutschland wird
in Zukunft bei jeder Gewinnung und sogar schon bei der
Aufsuchung von Erdöl und Erdgas mithilfe der Fracking-
Technologie eine UVP durchgeführt werden müssen.

Ich will an dieser Stelle gar nicht auf weitere Einzel-
heiten des Entwurfs eingehen. Ich gehe davon aus, dass
wir das im Ausschuss noch sehr gründlich diskutieren
werden.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja!)


Zu dieser Diskussion werden wir sicher auch den Sach-
verstand von Wissenschaft und Praxis einfordern.

Für mich – das möchte ich zum Schluss betonen – ist
das Gesetzespaket aus zweierlei Gründen von Bedeu-
tung:

Erstens. Es schafft die Möglichkeit, unter ökologisch
verantwortbaren und wirtschaftlich vertretbaren Voraus-
setzungen den heimischen Energieträger Erdgas zu för-
dern. Das macht uns unabhängiger und auch weniger er-
pressbar; denn ganz ohne fossile Energie – auch das ist
heute schon deutlich geworden – werden wir vermutlich
in dem vor uns liegenden Jahrhundert gar nicht auskom-
men. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gas, des-
sen Vorräte ja durchaus beachtlich sind, dann am Schluss
auch tatsächlich gefördert wird. Es kommt darauf an, zu
zeigen, dass wir prinzipiell bereit sind, es zu fördern,


(Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


und dass es auch verantwortungsvoll zu fördern ist. Ob
es tatsächlich gefördert wird – Herr Krischer, ob Sie es
glauben oder nicht –, entscheiden letztendlich die Unter-
nehmer dadurch, ob sie einen Antrag stellen. Ob sie es
fördern dürfen, entscheiden letztendlich die Behörden.
Das ökonomische Risiko wollen wir den Unternehmern
im Übrigen gar nicht abnehmen. Manchmal würde ich
mich allerdings auch über ein bisschen mehr Risikobe-
reitschaft bei den Förderern der erneuerbaren Energien
freuen; denn die beanspruchen in der Regel ein Rundum-
sorglos-Paket. Das ist aber ein ganz anderes Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Freese [SPD] – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sieht es denn mit Ihrer Risikobereitschaft bei bestimmten Techniken aus?)


Unsere Aufgabe ist es, in diesem Gesetz rechtlich ein-
wandfrei die Voraussetzungen festzulegen, unter denen
eine Gewinnung von Erdgas in Deutschland zukünftig
möglich ist.

Der zweite Punkt, warum meines Erachtens die Ver-
abschiedung dieses Gesetzentwurfs wichtig ist, hängt
damit zusammen, dass wir auch ein Signal nach draußen
setzen: dass sich Deutschland auch in schwierigen Fel-
dern bewegen kann, dass wir uns nach wie vor technolo-
gieoffen zeigen und dass wir nicht ausschließlich an Ver-
teilungsprozessen interessiert sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir zeigen damit, dass wir noch immer in der Lage sind,
Innovationen anzustoßen und diese auch umzusetzen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausgerechnet bei Fracking!)


Das europäische Ausland, aber auch die Vereinigten
Staaten und Kanada blicken gegenwärtig mit großem In-
teresse nach Deutschland, auf unsere Vorschläge und auf
unsere Regelungen, wie wir mit der Fracking-Technolo-
gie umgehen wollen. Ich bin sicher: Wenn wir dies er-
folgreich machen, werden unsere Regelungen früher
oder später auch in die dortige Gesetzgebung Eingang
finden. Im Übrigen freue ich mich auf eine intensive
und, ich denke, sicherlich auch sehr strittige Diskussion
in den Ausschüssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810303300

Das Wort erhält nun der Kollege Bernd Westphal für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])



Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810303400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

ist sicherlich eine schwierige und wichtige Debatte, die
wir hier heute führen. Ich denke – viele meiner Vorred-
ner haben das vorangestellt –, es geht hier auf der einen
Seite darum, mit dieser Vorlage der Absicherung der
Trinkwasserqualität in Deutschland gerecht zu werden.
Das sind berechtigte Interessen, was unser Lebensmittel
Nummer eins angeht. Aber auf der anderen Seite geht es
auch darum, eine Rohstoffförderung in Deutschland zu
gewährleisten. Ich finde es unredlich, wenn in Bezug auf
diesen vorliegenden Gesetzentwurf gesagt wird, wir
würden ähnliche Bedingungen wie in den USA schaffen.





Bernd Westphal


(A) (C)



(D)(B)

Eben das ist nicht der Fall. Der hier von der Bundesre-
gierung beschlossene Gesetzentwurf legt die weltweit
höchsten Standards fest, zu denen Erdgasförderung in
Deutschland in Zukunft stattfinden wird, und das ist ein
Fortschritt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Erdgas ist ein wichtiger Energieträger, nicht nur für
die Wärme- und Stromerzeugung, sondern auch für die
chemische Industrie. Das sieht man, wenn man die gro-
ßen Investitionen der chemischen Industrie beobachtet,
die nicht mehr in Europa getätigt werden, sondern in den
USA, weil dort das Erdgas, das durch die Anwendung
dieser Technologie gefördert wird, sehr günstig ist. Des-
halb gibt es auch für uns einen Grund, diese Technologie
anzuwenden und sie nicht leichtfertig aufzugeben.

Die Importabhängigkeit beträgt bei Erdöl 98 Prozent,
bei Erdgas fast 90 Prozent – das wurde genannt –, bei
Steinkohle, wenn wir das letzte Bergwerk 2018 schlie-
ßen, 100 Prozent. Die Braunkohle ist der einzige heimi-
sche, ohne Subventionen auskommende Energieträger,
der für Preisstabilität sorgt. Deshalb müssen wir auch,
was die Versorgung mit Energie angeht – Energie ist
Wohlstand –, schauen, was national zur Verfügung steht,
und dementsprechend Rahmenbedingungen schaffen.

Seit den 50er-Jahren wird in Deutschland Erdgas ge-
fördert. Der Wirtschaftsminister von Niedersachsen hat
dazu hier einiges gesagt. Ich denke, die Horrorlandschaf-
ten, die hier beschrieben werden, findet man in Nieder-
sachsen eben nicht. Es gibt dort keine Mondlandschaf-
ten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810303500

Herr Kollege Westphal, darf die Kollegin Verlinden

Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810303600

Bitte sehr.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810303700

Vielen Dank, Herr Westphal, dass Sie die Frage zulas-

sen. – Sie haben gerade gesagt, wir müssten aufgrund
der Versorgungssicherheit die Importabhängigkeit, zum
Beispiel von Erdgas, verringern und aufgrund dieser
Thematik auch über Fracking in Deutschland reden. Ich
bin etwas verwundert, weil Ihre Parteikollegin Frau
Bundesumweltministerin Hendricks sowohl heute in ih-
rer Rede als auch öffentlich in Statements etwas anderes
verkündet. So heißt es zum Beispiel in einem Pressebrie-
fing des Ministeriums vom November 2014 wörtlich:

Erdgas-Fracking kann … in Deutschland keinen
substanziellen Beitrag zu unserer Energieversor-
gung leisten. Weder die Reduzierung unserer Ab-
hängigkeit von Energieimporten noch unsere Kli-
maziele werden wir durch den Aufbau einer
kostenintensiven Fracking-Infrastruktur erreichen.

Ich sehe einen gewissen Widerspruch zwischen dem,
was die Umweltministerin sagt, und dem, was Sie gerade
hier verkündet haben, nämlich dass wir aufgrund der Im-
portabhängigkeit und Versorgungssicherheit auch über
Fracking ernsthaft nachdenken müssten. Ich sehe das an-
ders, aber das habe ich schon in meiner Rede gesagt.
Mich würde interessieren, wie Sie zu diesem Wider-
spruch stehen.


Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810303800

Wir haben in Deutschland eine untergeordnete Be-

hörde des Wirtschaftsministeriums, die Bundesanstalt
für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, ansässig in
Hannover. Deren Präsident hat aufgrund geologischer
Erkenntnisse, die die Bundesanstalt bisher hat, prognos-
tiziert, dass wir 1,3 Billionen Kubikmeter Erdgas im
Kohle- und Schiefergasvorkommen in Deutschland ha-
ben könnten. Das weiß man natürlich nicht. Im Bergbau
sagt man: Vor der Hacke ist es duster. – Das heißt, wir
müssen erst einmal Probebohrungen ermöglichen und
Erkenntnisse sammeln, die uns auf der einen Seite dazu
verhelfen, diese Technologie sicher anzuwenden, und
die uns auf der anderen Seite Klarheit darüber verschaf-
fen, wie viel Vorkommen wir in Deutschland überhaupt
haben und welchen Beitrag Erdgas leisten kann. Dann
werden wir auch sicher Klarheit darüber haben, ob das
ein substanzieller Beitrag sein kann oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Völlig richtig! Sehr vernünftig!)


Wie gesagt, seit den 50er-Jahren wenden wir diese
Technologie an. Weil wir Befürchtungen haben, dass wir
mit der Technologie in Kohle- und Schiefergasvorkom-
men durchaus Risiken eingehen, wollen wir diese Tech-
nologie wissenschaftlich begleitet anwenden. Ich glaube,
dass wir auch in Deutschland eine Offenheit für solche
innovativen Dinge brauchen, für Investitionen, die Un-
ternehmen tätigen wollen, wobei wir gleichzeitig den
Schutz von Umwelt und Natur gewährleisten müssen.

Wir haben mehrere Gutachten vorliegen, die sich be-
reits mit diesem Thema beschäftigt haben, übrigens auch
erstellt im Auftrag des Umweltbundesamtes. Keines die-
ser Gutachten kommt zum Ergebnis, dass wir, wie hier
teilweise gefordert, Fracking verbieten sollten; es wird
vielmehr ausgeführt, dass es Risiken gibt, die man aber
durchaus beherrschen kann. Deshalb kommen auch Ver-
bände wie der Bundesverband der Energie- und Wasser-
wirtschaft – der BDEW ist also mit dabei – zu dem
Ergebnis, dass wir bei der unkonventionellen Erdgasför-
derung in Deutschland weiterhin zusätzliche Probeboh-
rungen zulassen sollten.

Wir haben nun strengere Regelungen, von denen ei-
nige genannt worden sind, zum Beispiel für den Umgang
mit der Frack-Flüssigkeit oder das Verbot wassergefähr-
dender Stoffe. Wir haben eine Reihe von Gebieten in
Deutschland ausgewiesen, wo die Anwendung dieser
Technologie ausgeschlossen wird, wir haben Umwelt-
verträglichkeitsprüfungen in vielen Bereichen vorgese-
hen, die es heute noch nicht gibt. Wir werden mit der
unabhängigen Expertenkommission sicherlich Erkennt-
nisse zusammentragen können, die auch uns als Bundes-
tagsabgeordneten eine Entscheidungsgrundlage bieten
können.





Bernd Westphal


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb glaube ich schon – das hat auch Matthias
Miersch gesagt –, dass wir das Thema, vielleicht auch
mit einem Parlamentsvorbehalt, dann noch einmal neu
bewerten können, wenn diese Erkenntnisse vorliegen.
Auch im Bereich Lagerstättenwasser gibt es in dem Ge-
setzentwurf erste Anzeichen, wie wir von den heutigen
durchaus risikoreichen Anwendungen in kohlenwasser-
stoffentspannten geologischen Formationen zu neuen
Entsorgungswegen kommen können.

Mein Fazit ist: Wenn der Grundwasserschutz gewähr-
leistet ist, wenn wir schwierige Gebiete ausnehmen,
kann konventionelle Erdgasförderung wieder an den
Start gehen; wenn wir hohe Standards festlegen, wissen-
schaftlich begleitete Probebohrungen vornehmen, haben
wir die Chance, auf dieser Basis noch einmal neu zu ent-
scheiden.

Seneca hat einmal gesagt:

Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie
nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sie
schwierig.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie lieber einmal die Energiewende!)


Die Sozialdemokratie steht für Fortschritt und für Inno-
vation; deshalb sollten wir – unter strengen Auflagen –
auch dieser Technologie nicht entsagen.

Vielen Dank und Glück auf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810303900

Andreas Mattfeldt ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andreas Mattfeldt (CDU):
Rede ID: ID1810304000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, die
Gesetzentwürfe weisen in die richtige Richtung;


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das haben Sie noch nie erklärt!)


sie sind aber – das sage ich auch – noch weit davon ent-
fernt, ich sage mal, perfekt zu sein.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Dafür haben Sie uns!)


Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Frau Ministerin
Hendricks, dass Sie angekündigt haben, dass Sie sehr of-
fen sind für Verbesserungen.

Leider wird die Debatte – das hören wir auch heute –
um die Erdgasförderung nicht nur in der Öffentlichkeit,
sondern auch hier bei uns, in diesem Hause, nahezu aus-
nahmslos mit dem fast schon missbrauchten Begriff
„Fracking“ geführt. Als jemand, der von der Erdgasför-
derung ganz persönlich betroffen ist, kommt mir bei die-
ser ganzen Diskussion die seit Jahrzehnten praktizierte
konventionelle Erdgasförderung viel zu kurz. Ich
komme aus einer Gemeinde, in der das wohl größte Erd-
gasfördergebiet Deutschlands liegt. Ich sage ganz offen:
Ich bin immer ein großer Verfechter des Bergens heimi-
schen Erdgases gewesen. Ich sage auch: Bei uns in der
Region gab es immer eine riesige Akzeptanz für die Erd-
gasförderung. Leider ist diese Akzeptanz durch negative
Erfahrungen, die wir mit der Erdgasförderung gerade in
der jüngeren Vergangenheit gemacht haben, verloren ge-
gangen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ja, wir brauchen
für die Erdgasförderung dringend verschärfte, gute Ge-
setze, die sich an den heutigen Stand der Technik anpas-
sen, damit großflächige Umweltverschmutzungen, wie
ich sie in meiner Heimat, direkt vor meiner Haustür erle-
ben musste, zukünftig vermieden werden.

Ich sage aber auch: Wir dürfen nicht nur dem Begriff
„Fracking“ hinterherjagen – das wäre viel zu kurzsichtig
und löst langfristig die Probleme nicht. Weil wir die Pro-
bleme langfristig lösen wollen, das Vertrauen in die hei-
mische Erdgasförderung wiederherstellen wollen, enga-
gieren sich zahlreiche Unionskollegen für erhebliche
Verschärfungen im Bereich der Erdgasförderung.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden immer pro Fracking!)


Erst diese Woche hat die NRW-Landesgruppe die Forde-
rungen unserer, ich sage mal, CDU-Erdgasgruppe zur
Verschärfung der vorliegenden Gesetzentwürfe einstim-
mig unterstützt. Was fordern wir als CDU-Erdgasgruppe
konkret? Wir fordern eine oberirdische Aufbereitung des
Lagerstättenwassers durch die Technik der Ultrafiltra-
tion. Wir fordern eine echte Beweislastumkehr, damit
Erdgas-Erdbeben-Geschädigte nicht wie bisher auf ih-
rem finanziellen Schaden sitzen bleiben. Wir fordern,
dass die willkürlich gegriffene 3 000-Meter-Grenze, die
zwischen Schiefergas- und Tight-Gas-Förderung unter-
scheiden soll, gestrichen wird. Wir fordern, dass auch im
Bereich der konventionellen Erdgasförderung eine stär-
kere und vor allen Dingen eine frühere Bürgerinforma-
tion stattfindet und auch eine Bürgerbeteiligung stattfin-
det. Außerdem fordern wir eine Begrenzung der
Erprobungsmaßnahmen im Bereich der Schiefergasför-
derung auf maximal acht Forschungsbohrungen. Ich
sage hier auch, dass es nach Abschluss der Erprobungen
keinen Genehmigungsautomatismus geben darf,


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso überhaupt Probebohrungen? – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso überhaupt acht Probebohrungen? Das ist doch Quatsch! Brauchen wir nicht!)


sondern dass das ganz normale Genehmigungsverfahren
zu durchlaufen ist. Ich verrate auch kein Geheimnis,
wenn ich sage, dass es bei uns viele Kollegen gibt,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die das gar nicht wollen, die kein Fracking wollen!)






Andreas Mattfeldt


(A) (C)



(D)(B)

die nach Abschluss dieser Erprobungsmaßnahmen einen
Parlamentsvorbehalt erwarten, bevor man überhaupt
über eine kommerzielle Förderung nachdenkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich könnte jetzt noch zahlreiche weitere Details auffüh-
ren, die wir als Union, übrigens auch gemeinsam, Herr
Kollege Miersch,


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Eben nicht!)


besprochen und verhandelt haben.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nur das Feigenblatt für die Union, Andreas!)


Aber ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit. Insofern
müssen Sie auf dieses Schmankerl verzichten.

Unsere Gruppe hätte es für sinnvoll gehalten, liebe
Frau Hendricks – Herr Gabriel ist leider nicht mehr da –,
wenn Sie unsere Vorschläge, etwa zur Aufbereitung des
Lagerstättenwassers, schon vor der Kabinettsbefassung
aufgegriffen hätten, gerade auch deshalb, weil ich weiß,
dass es hierfür auch bei den Kollegen der SPD zahlrei-
che Fürsprecher gibt.


(Christine Lambrecht [SPD]: In der Union auch?)


Wenn ich schon von Lagerstättenwasser spreche,
dann komme ich zu Ihnen, zu den Grünen. Meine lieben
Kollegen, Sie fordern ein Verpressverbot von nicht auf-
bereitetem Lagerstättenwasser. Sie wissen, dass ich diese
Forderung voll und ganz unterstütze. Aber wer die Grü-
nen kennt, der weiß auch, wie die Grünen agieren, wenn
sie in Regierungsverantwortung wie zum Beispiel in
Niedersachsen sind


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Blödsinn, völliger Blödsinn! Das ist Bundesgesetzgebung, und das weißt du auch! Das ist doch Quatsch!)


und wenn 700 Millionen Euro Förderzins vielleicht sehr
verlockend sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Anders als Sie von den Grünen hier im Bundestag uns
das glauben machen wollen, haben Sie in Regierungs-
verantwortung keine Probleme mit der Verpressung.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn zuständig? Da sitzt doch Herr Lies!)


Wenn ich Ihre Verbalakrobatik aus dem von Ihnen mit
initiierten niedersächsischen Bundesratsantrag einmal
ausblende, sagen Sie in diesem Papier im Klartext, dass
Sie befürworten, das giftige Lagerstättenwasser weiter-
hin wie bisher zu verpressen,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch wirklich Blödsinn! Das ist doch einfach nur Blödsinn! Ach komm, das kannst du wirklich besser! Billige Polemik! Bitte, Andreas!)


weil – jetzt kommt es – dies für die Industrie am güns-
tigsten ist. Dies ist grüne Politik in Regierungsverant-
wortung, und das hört sich ganz anders an als die Töne,
die Sie hier heute angeschlagen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lieber Kollege Lies, mir ist noch in Erinnerung, wie
Ihre Töne bei der Landtagswahl in Niedersachsen waren.
Da hatten Sie ganz anders gesprochen. Hier war die
Rede davon: links reden, rechts abbiegen. – Das war bei
Ihnen auch anders. Hören Sie sich einfach mal an, was
Herr Weil davor gesagt hat!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810304100

Herr Kollege.


Andreas Mattfeldt (CDU):
Rede ID: ID1810304200

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Meine Da-

men und Herren, ich halte es für ganz wichtig, dass wir
jetzt verschärfte Bedingungen für die Erdgasförderung
bekommen. Die gültigen Gesetze reichen bei weitem
nicht aus. Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam die an-
stehenden parlamentarischen Beratungen nutzen, die
Gesetzeslage weiter zu verschärfen, damit wir in Zu-
kunft mit einer sicheren heimischen Erdgasförderung die
verloren gegangene Akzeptanz und das Vertrauen der
Bevölkerung wiederherstellen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810304300

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1810304400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Mattfeldt, um das gleich am Anfang zu sagen: Es
tut mir ganz schrecklich leid, aber in dem Papier, von
dem Sie immer reden – wir kennen es –, steht leider
nicht so sehr viel.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Machen wir nachher!)


Wir könnten uns jetzt hier einigen. Sie könnten jetzt hier
zusagen, dass wir die Expertenkommission streichen, je-
denfalls klarmachen: Experten sind gut, super – sie müs-
sen uns beraten –, aber am Ende kann uns als Deutscher
Bundestag niemand abnehmen, die endgültige Entschei-
dung zu treffen. Ob Fracking in Deutschland kommer-
ziell genutzt wird, ja oder nein, das muss dieser Deut-
sche Bundestag entscheiden.


(Beifall bei der SPD)






Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Wir könnten hier im Deutschen Bundestag sofort eine
Einigung darüber erzielen, dass wir das Erdgas genauso
behandeln wie das Erdöl. Sie könnten sofort einschlagen
und sagen: Da machen wir mit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir könnten zum Beispiel sofort eine Einigung da-
rüber erzielen, dass die Übergangsfrist von fünf Jahren,
die jetzt im Gesetzentwurf beim Umgang mit Lagerstät-
tenwasser vorgesehen ist, verkürzt wird, zum Beispiel
auf drei Jahre. Wenn Sie alle hier die Hand heben oder
wenn alle nicken, könnten wir das in der Großen Koali-
tion sofort so vereinbaren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, klipp und klar: Ich
weiß heute nicht, ob Fracking für Deutschland eine
Option sein kann oder nicht. Ich sage allerdings auch
klipp und klar: Ökonomische Chancen sind damit ver-
bunden, aber sie sind meines Erachtens nicht so groß,
dass ich jetzt alle Zweifel beiseitelasse und sage: Wir
müssen ein Gesetz machen, um Fracking in Deutschland
sofort zu ermöglichen.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das macht niemand!)


Deswegen ist es gut, dass die beiden Ministerien einen
Gesetzentwurf erarbeitet haben – Herr Nüßlein ist darauf
zu Recht eingegangen – und wir das geschafft haben,
was Sie in der Koalition mit der FDP leider nie geschafft
haben, nämlich zumindest ein beratungsfähiges Geset-
zespaket auf den Tisch zu legen.

Noch einmal: Wir können heute nicht sicher sein, wie
es mit der Belastung von Mensch und Umwelt ist.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Vorsorgeprinzip!)


Es gibt ganz aktuell in den USA die Diskussion über Ra-
donbelastungen und Ähnliches. Herr Pfeiffer, wenn Sie
es einmal googeln, finden Sie zuhauf Probleme für die
Umwelt in den Vereinigten Staaten. Wir wissen es also
heute nicht genau. Deswegen können wir heute nicht
endgültig sagen, ob es Fracking im Schiefergestein in
Deutschland geben soll oder nicht.


(Beifall der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD])


Absolutes Lob – da schließe ich mich Herrn Nüßlein
an – für das Umweltministerium und für das Wirt-
schaftsministerium, weil wir eine Regelung vorgelegt
bekommen haben, wie wir sie im Deutschen Bundestag
bisher noch nie vorgelegt bekommen haben. Allerdings,
Herr Nüßlein, war ein Lob vergiftet: Sie haben die
Ministerien für die Idee der Expertenkommission gelobt.
Sie wissen doch ganz genau, dass die Idee der Experten-
kommission im Bundeskanzleramt entstanden ist.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Die Minister sind selbstbewusst genug!)


Sie können die Sozialdemokratie nicht für die Kommis-
sion in Haftung nehmen.

Ich will es klipp und klar sagen: Ich halte eine solche
Kommission für eine aberwitzige Konstruktion. Exper-
ten sind dafür da, uns zu beraten. Aber wir Abgeordnete
können doch nicht unsere Verantwortung an der Garde-
robe des Deutschen Bundestages abgeben.


(Beifall bei der SPD)


Am Ende müssen wir doch vor die Wählerinnen und
Wähler, vor die Bürger in diesem Land treten und sagen,
ob es Fracking in einer kommerziellen Art und Weise
geben wird – ja oder nein.

Was wir erreicht haben – ich muss aufpassen, wie ich
das formuliere –, ist, dass wir uns in einer Diskussion
über deutliche Verbesserungen im Bereich der konven-
tionellen Erdgasförderung befinden. Darum hat sich in
der Tat kaum jemand gekümmert. Sie, Frau Jantz, Herr
Möring und andere in diesem Hause, haben sich in Ihren
Wahlkreisen darum gekümmert, aber den Deutschen
Bundestag hat dieses Thema bisher nicht richtig erreicht.
Jetzt hat es den Deutschen Bundestag erreicht. Es ist gut,
dass es dazu so weitgehende Regelungen geben soll, wie
es sie noch nie gab. Da wollen wir ran. Ich habe es ge-
rade schon gesagt: Wir wollen mit Ihnen gemeinsam in
den Gesetzentwürfen Verbesserungen im Bereich der
Haftung für Erdbeben verabreden. Wir wollen im Be-
reich des Lagerstättenwassers Verbesserungen verabre-
den. Wir wollen auch, dass das Erdöl in das Gesetzespa-
ket miteinbezogen wird.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren jetzt viele gute Vorschläge!)


Insofern haben wir hier eine gute Grundlage. Ich sage
für die SPD: Wir wollen, dass das Struck’sche Gesetz
zur Anwendung kommt und wir eine gute Vorlage im
parlamentarischen Verfahren noch besser machen. Wir
bauen darauf, dass das in der Großen Koalition sehr kon-
struktiv gelingt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810304500

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karsten Möring (CDU):
Rede ID: ID1810304600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich die Debatte, die wir gerade geführt haben, jetzt
mal Revue passieren lasse, dann wundert mich das eine
oder andere ganz erheblich. Herr Zdebel, mich beein-
druckt schon Ihre Unterstützung für den Import von Gas
aus Russland, die Sie hier zum Ausdruck gebracht ha-
ben. Sie arbeiten mit Formulierungen, von denen Sie ei-
gentlich wissen müssten, dass sie unzutreffend sind.
Wenn Sie in Ihren Antrag schauen, dann sehen Sie, dass
am Ende des ersten Absatzes steht – Stichwort „Frack-
Fluid“ –:

Dabei wird eine mit gefährlichen Chemikalien ver-
setzte Flüssigkeit mit hohem Druck in die Tiefe ge-
pumpt …





Karsten Möring


(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Ja, ja! Das stimmt doch!)


– Nein. Im Gesetzentwurf steht: nicht wassergefähr-
dende Gemische oberhalb von 3 000 Metern Tiefe,
schwach wassergefährdende Gemische unterhalb von
3 000 Metern Tiefe.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gemisch! Aber die einzelnen Chemikalien sind giftig!)


– Ach, liebe Frau Verlinden, worauf kommt es denn an?
Wenn Sie sich zu Hause ein Glas Wasser nehmen und
zwei Teelöffel Salz hineintun, dann ist das giftig,


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ja nicht blöd!)


und wenn Sie zwei Krümel hineintun, dann haben Sie
eine Geschmacksverbesserung. Es kommt darauf an,
dass die Stoffe, die wir einbringen, nicht wassergefähr-
dend oder nur schwach wassergefährdend sind. Das ist
der entscheidende Punkt.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber unglaublich! Ich dachte, Sie sind Umweltpolitiker! Also wirklich!)


Das, was Sie betreiben, nenne ich Volksverdummung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ja, bewusste Volksverdummung und Scheinheiligkeit! – Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Krischer, wer schreit, vertraut seinen Argumenten
nicht – ganz einfach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich gehe nur auf einen Aspekt ein, den Sie in Ihrer
Rede vorgetragen haben. Wie kommen Sie als jemand,
der sich für weltweiten Klimaschutz engagiert, eigent-
lich dazu, einen so verengten Blick auf Deutschland al-
lein zu fassen? Sie wissen doch ganz genau: Wir impor-
tieren 37 Prozent unseres Gases aus Russland. Ich will
das Thema Versorgungssicherheit überhaupt nicht an-
sprechen; aber Sie wissen doch, unter welchen Bedin-
gungen in Russland Gas gefördert wird. Sie wissen
auch, wie viel Gas in den Pipelines auf einer Strecke von
5 000 Kilometern verloren geht. Das, was dort an Me-
than in die Atmosphäre entweicht, ist ein Mehrfaches
von dem, was bei einer Förderung hier bei uns, mit unse-
ren Umweltstandards, entweichen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das nenne ich eine verengte Sichtweise, die Ihrem An-
spruch im Bereich des Klimaschutzes nicht gerecht wird.
Das sollten Sie sich wirklich noch mal überlegen.

Frau Bulling-Schröter, Sie haben gesagt, ein Nein sei
der erste Schritt zur Freiheit; das habe ich noch nie ge-
hört. Sie sagen: Nein, wir bauen keine Autobahnen, nein,
wir bauen keine Infrastruktur, nein, wir bauen keine In-
dustrieanlagen, nein, die Grundlagen für unseren Volks-
wohlstand wollen wir nicht. Das ist kein erster Schritt
zur Freiheit, sondern ein Schritt in eine Sackgasse. Sol-
che Formulierungen reichen nicht, Sie müssen schon mit
Argumenten kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie werfen der Koalition und den entsprechenden
Ministerien vor, dass im vorliegenden Gesetzentwurf nur
von Trinkwasser die Rede ist, und haben als Beispiel die
Brauereien genannt; Herr Nüßlein hat bereits auf die
bayerischen Brauereien hingewiesen. Vielleicht haben
Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen; denn im Gesetz-
entwurf steht ausdrücklich, dass Länder die Möglich-
keit bekommen, Trinkwasserbrunnen, Mineralbrunnen
und Heilquellen zu schützen.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht noch nicht im Gesetz!)


Am Rande bemerkt: Das meiste Wasser, das zum Brauen
von Bier verwendet wird, kommt nicht aus Brunnen,
sondern aus der Wasserleitung. Alles andere ist Marke-
ting.


(Lachen der Abg. Steffi Lemke NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das für ein Argument?)


Gestern hat Herr Müller, Co-Vorsitzender der Endla-
ger-Kommission, den wichtigen Satz gesagt: Die Politi-
ker müssen mehr in Zusammenhängen denken.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihr
Problem im Umgang mit diesem Thema besteht darin,
dass Sie nur in Schwarz-Weiß, nur in Entweder-Oder
denken. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie ein Fra-
cking-Verbot fordern.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben bessere Alternativen!)


Weder die SPD noch die CDU/CSU haben versprochen:
Wir verbieten Fracking in Deutschland. Wir haben in un-
serem Koalitionsvertrag wichtige Vereinbarungen ge-
troffen, an die wir uns halten. Die wichtigste lautet:
„Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absoluten
Vorrang“. Wir wollen einen Wandel: weg von den der-
zeit riskanten Förderverfahren – wenngleich es in den
letzten 50 Jahren zu keinen größeren Unfällen gekom-
men ist –, hin zu erheblich sichereren Verfahren. Denn es
gilt nach wie vor: Die Sicherheit hat Vorrang vor wirt-
schaftlichen Interessen.

Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass wir
beim Frack-Fluid nur nicht wassergefährdende oder
schwach wassergefährdende Gemische zulassen, aber
Sie sprechen immer noch von giftigen Gemischen. Das
ist irreführend. Wir haben aber nicht nur im Bereich
Fluid einiges getan. Wir haben eine ganze Reihe zusätz-
licher Maßnahmen getroffen. Wir ermöglichen es den
Ländern beispielsweise, die Ausschlussgebiete unter be-
stimmten Umständen auszuweiten. Außerdem gilt nach





Karsten Möring


(A) (C)



(D)(B)

wie vor der Besorgnisgrundsatz gemäß Wasserhaushalts-
gesetz.

Man sieht: Wir haben an dem vorliegenden Gesetz-
entwurf mit Hosenträger und Gürtel gearbeitet. Dem Be-
sorgnisgrundsatz wird Rechnung getragen, es werden
zusätzliche Ausschlussgebiete in einem erheblichen Um-
fang vorsehen. Das ist eine doppelte Sicherung, gerade
weil wir die Bedenken aus der Bevölkerung ernst neh-
men. Dazu gehört auch die Einführung der UVP-Pflicht
für die Form von Förderung, die wir seit zig Jahren be-
treiben, zum Beispiel für das konventionelle Fracking.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kümmern Sie sich nicht um das Erdöl-Fracking? Warum fehlt das im Gesetz?)


– Streiten wir uns nicht über Worte; wir wissen doch
alle, was gemeint ist.


(Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Das ist die Form, die wir bisher über viele Jahre erprobt und praktiziert haben, und zwar ohne größere Probleme. Zur Expertenkommission. Es ist eine Schimäre, wenn man argumentiert: Wir überlassen der Expertenkommission eine Aufgabe, die nur der Bundestag zu erfüllen hat. Wir werden uns sicher noch einmal intensiv über diese Frage unterhalten, aber wir wollen unserer Verantwortung bei der Behandlung des vorliegenden Gesetzentwurfs gerecht werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf definieren wir, was nach unserer Meinung zulässig oder auch nicht zulässig sein soll. Auch dann, wenn wir das in einem späteren Gesetz regeln würden, wären wir von einem Votum von Experten abhängig; daran würde sich nichts ändern. Es ändert sich aber sehr wohl etwas, wenn wir eine solche Erprobung ohne Begleitung durch eine Expertengruppe machen würden. Denn korrekt ist: Wir haben mit bestimmten Arten der Förderung bisher keine Erfahrungen. Wir müssen aber wissen, wie die Förderung funktioniert. Wir müssen wissen, ob das Fluid, das im Labor erforscht wurde, auch in der Realität funktioniert. Wir müssen wissen, ob es möglich ist, Fracks in Horizonten, die vielleicht nur 20 Meter mächtig sind, zu beherrschen, wo ein bis zwei Kilometer horizontal gebohrt werden muss, um diese Gebiete zu erschließen. Wir müssen wissen, wie hoch die Ausbeutungsquote ist, die wir bei diesen Vorkommen haben werden. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu sagen: Unternehmen haben ein Geschäftsmodell, mit dem sie Geld verdienen können. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die Grundlagen für unseren Wohlstand, für unsere Arbeitsplätze und für unsere Wirtschaftskraft weiter zu stärken und zu entwickeln. Unsere Verantwortung als Politiker ist es, das mit einer gesunden Umwelt zu verknüpfen. Unsere Aufgabe ist es, bei diesem Gesetzespaket mit all den Änderungen, über die wir noch reden werden, von der Lagerstättenwasserversenkung bis zu all den anderen Punkten, die angestrebt werden, zu einem Ergebnis zu kommen. Ich bin sicher, wir werden es erreichen. Die hier manchmal etwas hämisch angesprochene Diskussion innerhalb der Fraktionen ist ein Bestandteil dieses Prozesses. Es ist völlig legitim, hier einen Ausgleich zu suchen und eine intensive Diskussion zu führen. Das tun wir innerhalb unserer Fraktion. Das tut die SPD in ihrer Fraktion, und das werden wir gemeinsam tun, um zu einem Gesetzentwurf zu kommen, sodass die zurzeit unhaltbare Situation verbessert wird. Ich bin sicher, wir werden zu einem guten Ergebnis kommen und am Ende des Prozesses sagen können: Unser Wasser wird weiterhin trinkbar sein und von uns geschützt werden. Zum Wohl. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810304700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4713, 18/4714 und 18/4810 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Wir haben jetzt noch unter Tagesordnungspunkt 3 d
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz un-
verzüglich reformieren“ zu entscheiden. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/1124, diesen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Hallo? Es wäre ganz gut, wenn sich der
eine oder andere an der Abstimmung beteiligte.


(Heiterkeit – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Präsident, könnten Sie es noch einmal bitte wiederholen?)


– Auf besonderen Wunsch meines Fraktionsvorsitzen-
den rufe ich jetzt noch einmal die Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses auf,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/848 abzulehnen. Wer stimmt dieser Be-
schlussempfehlung zu? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Mehrheitsverhältnisse waren übersichtlich.
Damit ist diese Beschlussempfehlung angenommen.

Wir kommen jetzt zu unserem Tagesordnungspunkt 4
sowie dem Zusatzpunkt 2:

4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel: Eingedenk der Ver-
gangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten

Drucksache 18/4803





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

50 Jahre deutsch-israelische diplomatische
Beziehungen – Einmaligkeit und Herausfor-
derung

Drucksache 18/4818

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Das ist
offenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfah-
ren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter
Steinmeier.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ganz besonders dürfen wir heute Gäste aus Israel begrü-
ßen. Herzlich willkommen hier in Berlin!


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele werden sich
erinnern: An diesem Pult stand vor fünf Jahren Präsident
Schimon Peres. Er erzählte die Geschichte seines gelieb-
ten Großvaters Rabbi Meltzer. Er berichtete von dem
Tag, als die Nationalsozialisten in die Stadt Wiszniewo,
heute in Weißrussland gelegen, eingedrungen waren und
alle Juden gezwungen hatten, in die Synagoge zu gehen.
Der Rabbi ging seiner Gemeinde voran. Er trug densel-
ben Gebetsmantel, in den sich der kleine Schimon an
kalten Tagen eingehüllt hatte. Angekommen in der Sy-
nagoge verriegelten die Nazis die Türen. Die Synagoge
wurde angezündet. Und von der gesamten Gemeinde
blieb nur glühende Asche.

Schimon Peres hielt vor fünf Jahren, am Holocaust-
Gedenktag, hier in diesem Plenarsaal ein, wie ich es in
Erinnerung habe, berührendes Plädoyer gegen das Ver-
gessen. Zugleich sprach er von der – so seine Worte da-
mals – „einzigartigen Freundschaft“ zwischen Deutsch-
land und Israel. Über dem Abgrund der Vergangenheit
hat Israel, das Land der Opfer, dem Land der Täter die
Hand gereicht, und gemeinsam haben wir, Deutschland
und Israel, eine Brücke der Freundschaft gebaut. Dass
diese Freundschaft gelingen konnte, ist, wie ich finde,
nicht weniger als ein Wunder. Dafür dürfen insbesondere
wir Deutsche glücklich und dankbar sein, und das nicht
nur an Gedenktagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall im ganzen Hause)


Wenn wir nächste Woche das 50-jährige Bestehen un-
serer diplomatischen Beziehungen feiern, dann feiern
wir eine Freundschaft, die sich zu Kriegsende vor 70
Jahren wohl niemand hätte vorstellen können. Heute
aber, drei Generationen später, leben unsere Kinder diese
Freundschaft ganz selbstverständlich mit Freude und mit
Neugier. Deshalb ist dieses Jubiläum viel mehr als ein
politischer Meilenstein. Deutsche und Israelis sind ei-
nander im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewach-
sen. Nicht alle Geschichten dieser Freundschaft kann ich
heute würdigen. Lassen Sie mich deshalb stellvertretend
nur drei persönliche Schlaglichter auf die Geschichte
werfen, um deutlich zu machen, wie kostbar das ist, was
wir heute feiern.

Meine Mutter wurde in Breslau geboren – damals ein
Zentrum des jüdischen Lebens, die Stadt von Fritz Stern
und Ignatz Bubis etwa. Beide mussten – viele Tausende
mit ihnen – als Kinder mit ihren Familien vor dem Hass
und Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen. Zehn
Jahre später musste auch meine Mutter mit denen, die
von der Familie übrig geblieben waren, fliehen, nunmehr
vor dem Krieg, den die Nazis über die Welt gebracht hat-
ten und der sich gegen diejenigen gewendet hatte, die
ihn ausgelöst haben. Vor einem halben Jahr war ich in
Breslau zu Gast in der renovierten Synagoge. Dort durfte
ich die erste Ordinierung junger Rabbiner seit dem Krieg
miterleben – Rabbiner, die hier in Berlin und in Potsdam
ausgebildet worden waren. Diese vier jungen Geistli-
chen standen dort, wie ich finde, als lebendiges Zeugnis,
dass heute jüdisches Leben wieder aufblüht – in Europa
und bei uns in Deutschland. Darüber sollten nicht nur Ju-
den sich freuen. Das bereichert uns alle, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, weit über den Gedenktag hinaus.


(Beifall im ganzen Hause)


Das zweite Schlaglicht, an das ich mich erinnere, fällt
in mein 18. Lebensjahr: der erste Besuch eines deut-
schen Bundeskanzlers in Israel. Damals, als Willy
Brandt nach Jerusalem ging, knirschte noch der Boden
unter jedem Schritt. Man beäugte sich vorsichtig. Jeder
Schritt wollte behutsam gesetzt sein. Es gab großes
Misstrauen gegenüber einem Neubeginn mit dem Täter-
volk. Heute gehören deutsch-israelische Besuche zu un-
serem festen politischen Alltag. Wir sitzen sogar mit bei-
den vollständigen Regierungsmannschaften einmal im
Jahr um einen großen Tisch herum, planen Projekte, de-
battieren, es wird gelacht, auch gestritten – ernsthaft und
ehrlich, so wie gute Freunde das eben tun. Die mutige
politische Saat von Ben-Gurion und später Konrad
Adenauer – sie ist aufgeblüht, und sie trägt Früchte, auch
über unsere eigenen Grenzen hinaus, wenn wir uns zum
Beispiel in den internationalen Foren gemeinsam gegen
Antisemitismus und Rassismus einsetzen.

Das dritte Schlaglicht, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, fällt auf die Generation unserer Kinder. Ich denke
an mein eigenes, aber auch an die Kinder meiner israeli-
schen Kollegen. Für unsere Kinder ist die deutsch-israe-
lische Begegnung ein ganz selbstverständlicher Teil ih-
rer Welterkundung geworden. Tel Aviv und Berlin
ziehen junge Leute an als Magneten der Moderne. Junge
Deutsche steigen in Tel Avivs boomende Start-up-Szene
ein. Sie studieren in Jerusalem oder leisten ein Freiwilli-
ges Soziales Jahr. Umgekehrt kommen junge Israelis
nach Berlin. Sie tauchen ins Kunstleben ein, sie eröffnen
Restaurants, starten neue Businessideen. Sie erkunden
auch die Spuren ihrer Großeltern und Urgroßeltern, all
jener, denen unter den Nazis unsägliches Leid geschah.





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Geschich-
ten zeigt sich das menschliche Wunder der deutsch-is-
raelischen Beziehungen. Die Freundschaft ist eben
längst keine diplomatische Eliteveranstaltung mehr.
Diese Freundschaft ist getragen von Menschen. Sie ist in
tausend Facetten des Alltags lebendig, und genau das
macht sie so stark, genau das macht sie so unverzichtbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bewahren,
was da in den letzten 50 Jahren gewachsen ist!


(Beifall im ganzen Hause)


Der Blick zurück über diese 50 Jahre schärft zugleich
den Blick nach vorn, eröffnet uns einen „Horizont der
Hoffnung“; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
Deutschland und Israel nach dem unsagbaren Grauen der
Vergangenheit der Weg zur Freundschaft gelungen ist,
das sendet, wie ich finde, auch eine ganz kraftvolle Bot-
schaft, eine Botschaft von Verständigung und Versöh-
nung, die leuchten kann in dieser Welt, die nach wie vor
voller Gegensätze, voller Hass und leider ohne Frieden
ist. Präsident Peres sprach hier im Deutschen Bundestag
vor fünf Jahren von diesem „Horizont der Hoffnung“
und sagte:

Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräu-
eltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Au-
gen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jun-
gen Menschen, in der es keinen Platz für Hass
gibt …

Wer heute auf den Zustand der Welt blickt, gerade auf
die so unfriedliche Nachbarschaft von Israel, der mag
diese Hoffnung naiv nennen. Wer aber auf die deutsch-
israelische Freundschaft blickt und sich erinnert, aus
welch finsterem Tal sie emporgewachsen ist, der sieht,
dass Hoffnung nicht Ausdruck von Naivität sein muss –
ganz im Gegenteil! Wer das einsieht, der muss sich die
Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die in
dieser Freundschaft steckt, auch zu Herzen nehmen, sie
nicht nur mit Worten feiern, sondern sie, wo immer mög-
lich, in die Tat umsetzen. Das heißt eben, dass wir hier
bei uns zu Hause aufstehen müssen gegen jegliche Form
von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass. All
das darf keinen Platz in dieser Gesellschaft finden – nie
wieder!


(Beifall im ganzen Hause)


Das heißt eben auch, dass wir uns für Frieden für Is-
rael und seine Nachbarn einsetzen. Israels Sicherheit ist
für Deutschland historisches Gebot und unverbrüchli-
cher Teil unserer Freundschaft. Und wir glauben: Nach-
haltige Sicherheit für das jüdische und demokratische Is-
rael wird es nicht ohne einen lebensfähigen und
demokratischen palästinensischen Staat geben. Und des-
halb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-
Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstüt-
zen. Dabei gilt für mich, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Meinungsunterschiede und die dazugehörende Ehr-
lichkeit hält eine gute Freundschaft aus. Umso mehr aber
wehre ich mich dagegen, wenn unsere Freundschaft in
manchen öffentlichen Debatten einzig auf diese Mei-
nungsunterschiede im Nahostkonflikt reduziert wird.
Darum geht es nicht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Israels Sicherheitsbedürfnis haben wir auch im Blick,
wenn die Partner der E3+3 mit dem Iran über den Nukle-
arkonflikt verhandeln. Klar ist: Am Ende wird nur eine
Vereinbarung unterschrieben, die mehr Sicherheit für Is-
rael bedeutet – und nicht weniger. Zugleich steckt auch
in diesen Verhandlungen, wie ich finde, die Botschaft
der Verständigung. Wenn es uns gelingt, Mitte dieses
Jahres das Abkommen zu schließen, dann setzen wir we-
nigstens ein Hoffnungszeichen, das auf die vielen ande-
ren Konfliktherde im Mittleren Osten ausstrahlen
könnte. Auch für diese könnte man vielleicht ähnliche
Lösungen suchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch unsere Gene-
ration, die das deutsch-israelische Wunder hat wachsen
sehen, wird den von Schimon Peres gezeichneten „Hori-
zont der Hoffnung“ nicht erreichen können. Die Welt
ohne Hass, die Schimon Peres entworfen hat, ist leider
noch weit weg. Aber wir geben seine Vision weiter an
eine starke, optimistische Generation von jungen Israelis
und Deutschen, eine Generation, die in allen Gesell-
schaftsbereichen, von Wirtschaft bis Kultur, miteinander
verbunden ist, eine Generation, die kritische Fragen
stellt – an die Politik der eigenen und der jeweils ande-
ren Regierung; auch das gehört dazu –, vor allem aber
eine Generation, die neugierig aufeinander und auf die
Welt ist, die international denkt und international lebt.
Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich:
So unfriedlich die Welt heute auch sein mag, unsere
deutsch-israelische Hoffnung auf Versöhnung und Ver-
ständigung war nicht naiv, und sie wird es auch morgen
nicht sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810304800

Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Nächster

Redner in der Debatte: Dr. Gregor Gysi für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810304900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jü-

dische Diaspora begann in der Folge gescheiterter Auf-
stände vor fast 2 000 Jahren. Über diesen langen Zeit-
raum hinweg hat sich diese Volksgruppe erhalten.
Häufig werden Bevölkerungen, wenn sie vertrieben wer-
den, in andere Bevölkerungen anderer Länder so inte-
griert, dass sie als eigene ethnische Gruppe mit eigener
Kultur nicht bestehen bleiben. Dass die Jüdinnen und Ju-
den über 2 000 Jahre, im Unterschied zu vielen anderen
aus der Antike bekannten Völkern, ihre Identität bewah-
ren konnten, liegt auch und gerade an der jüdischen Reli-
gion.

In christlich und muslimisch geprägten Staaten bilde-
ten Jüdinnen und Juden immer eine besondere Gruppe,





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

die entweder genutzt oder verfolgt wurde. Ich konzen-
triere mich hier auf Europa.

Bestimmte Dinge waren für die Jüdinnen und Juden
verboten, zum Beispiel der Kauf von Grund und Boden
und anderen landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, das
Ergreifen vieler bürgerlicher Berufe. Da sie lange Zeit we-
der Richter noch Staatsanwälte werden durften, wurden
sie halt clevere Rechtsanwälte. Anderes war ihnen im Un-
terschied zu den Christinnen und Christen erlaubt. So
durften zu bestimmten Zeiten nur sie Geld verleihen und
Zinsen einnehmen. In der im Frühkapitalismus ausgebil-
deten Finanzsphäre konnten zunächst nur Juden Banken
gründen; die anderen wurden ihre Schuldner. Alles Unbe-
hagen am aufkommenden Kapitalismus ließ sich auf die
sogenannten jüdischen Bankiers projizieren. Natürlich ha-
ben die christlichen Kirchen irgendwann nachgezogen
und auch den Christinnen und Christen Finanzgeschäfte
erlaubt, aber ein wesentliches weiteres Element des Anti-
semitismus war schon in der Welt.

Interessant ist, dass es unter den herausragenden
Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern und Schriftstellerinnen und Schriftstel-
lern wirklich viele Menschen jüdischer Herkunft gab
und bis heute gibt. Vielleicht besteht auch hier ein Zu-
sammenhang zur Sonderstellung und Ausgrenzung. Jü-
dinnen und Juden hatten nur dann eine Chance, wenn sie
doppelt so viel leisteten. Auch nicht unterschlagen
möchte ich ihre Kultur der Auslegung traditioneller
Texte und die Tatsache, dass sie bis in die Frühmoderne
hinein islamische Universitäten besuchen durften, die
Christen dagegen nicht. Die Juden hatten so einen An-
schluss an die Vermittlung des damals fortschrittlichen
Wissens. Heute sind die kulturellen, künstlerischen und
wissenschaftlichen Leistungen in Israel gut, aber nicht
mehr einzigartig. Ich werte das als Ausdruck einer Nor-
malisierung des jüdischen Lebens in Israel.

Die in vielerlei Hinsicht bestehende Sonderstellung
der Jüdinnen und Juden in Europa und in Deutschland in
früherer Zeit hat auch dazu beigetragen, sie zu Sünden-
böcken für alles Mögliche zu deklarieren. Man musste
nicht einmal Antisemit sein, um eine Minderheit zur
Projektionsfläche für Schuld, Versagen und gesellschaft-
liche Fehlentwicklung zu machen, um von eigener Ver-
antwortung abzulenken und bzw. oder Konkurrenten
auszuschalten.

Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden bis heute
prägen, sind die Möglichkeiten des Aufstiegs und der In-
tegration und gleichzeitig die jederzeit mögliche Diskri-
minierung, schwere Verleumdung und Verfolgung. Im
zaristischen Russland kam es immer wieder zu schweren
Pogromen. Fälschungen wie die Protokolle der Weisen
von Zion wurden in Umlauf gebracht. Aber auch in den
anderen Ländern Europas kam es zu gravierenden anti-
semitischen Vorfällen wie zum Beispiel bei der Dreyfus-
Affäre. Das bildet auch den Hintergrund für die Entste-
hung der zionistischen Bewegung unter Theodor Herzl.
Der Grundgedanke dieser Bewegung war, dass die bür-
gerlichen Emanzipationsversprechen für Jüdinnen und
Juden in gesicherter Weise nur dann erfüllbar sein wer-
den, wenn es gelingt, einen eigenen Nationalstaat zu bil-
den.

Für viele osteuropäische Jüdinnen und Juden war ge-
rade Deutschland ein Einwanderungsland. Seit 1819 gab
es keine pogromartigen Unruhen mehr in Deutschland.
Deshalb galt dieses Land als eines der am wenigsten an-
tisemitischen Länder Europas. Umso bestürzender er-
scheint daher die Machtergreifung der Nazis, die aus ih-
rem extremen Antisemitismus keinen Hehl machten. Der
von den Nationalsozialisten organisierte Völkermord an
den Jüdinnen und Juden weist einen Doppelcharakter
auf. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auf den
rationalen Verwaltungsstaat und die rationalen Organisa-
tionsformen der Industrie zurückgegriffen, um ein grau-
sames Vernichtungswerk zu verrichten. Dabei war je-
doch andererseits ein ideologischer Fanatismus
wirksam, der irrational war. Und was für eine Vernunft
soll auch einem reinen Vernichtungsziel zugrunde lie-
gen? – Diesem Ziel waren sogar sowohl die ökonomi-
sche als auch die militärische Rationalität untergeordnet.
Es ist beispielsweise überliefert, dass ein für die Krieg-
führung in Griechenland benötigtes deutsches Schiff
stattdessen für die Deportation von 200 Jüdinnen und Ju-
den nach Auschwitz genutzt wurde.

Freilich war der Vernichtungswille des NS-Regimes
nicht von Anbeginn in seiner vollen Brutalität ausge-
prägt. Lange versuchten die Nazis, Jüdinnen und Juden
zur Auswanderung zu nötigen und deren Eigentum zu
stehlen. Nach der Reichspogromnacht markierte dann
aber die Wannseekonferenz den Übergang zum Holo-
caust, zum industriellen Massenmord. Auch die mit dem
Holocaust verbundenen beispiellosen Verbrechen an den
Jüdinnen und Juden haben die UNO dazu motiviert, die
Staatsgründung Israels zu beschließen. Nicht weniges
lässt sich am Zionismus auch kritisieren. Aber zu seiner
Entstehung hat der Jahrhunderte anhaltende Antisemitis-
mus deutlich beigetragen.

Unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel er-
klärten mehrere arabische Staaten Israel den Krieg. Mili-
tärhilfe erhielten die Israelis damals nur von der Sowjet-
union und der Tschechoslowakei. Erst später änderte
sich dies, und die USA wurden zum engsten Verbünde-
ten Israels. Man muss wissen: Nur ein jüdischer Staat,
erst recht einer mit einflussreichen Verbündeten, kann
den Jüdinnen und Juden einen wirksamen internationa-
len Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung bieten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist ein großer Unterschied, ob ein Vertreter einer Inte-
ressenorganisation eine Beschwerde vorträgt oder ob ein
Staat dies tut. Deshalb sage ich gerade heute und deut-
lich allen israelischen Bürgerinnen und Bürgern: Auch
die Palästinenserinnen und Palästinenser haben das
Recht auf einen eigenen Staat, auf ihren internationalen
Schutz.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Besetzung der palästinensischen Gebiete muss
aufgegeben werden. Ein lebensfähiger Staat Palästina





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

muss in den Grenzen von 1967 gebildet werden. Das
kann die Basis für Gebietsaustauschverhandlungen sein.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
verhält sich leider nicht sonderlich hilfreich. Mal heißt
es, mit ihm werde es keinen palästinensischen Staat ge-
ben; dann jedoch sagt er das Gegenteil. Das ist nicht ver-
trauensbildend, auch nicht der Siedlungsbau und die ab-
sichtsvollen Demütigungen von Palästinenserinnen und
Palästinensern in den besetzten Gebieten.

Es gibt Ziele und Methoden der palästinensischen Ha-
mas, die wir selbstverständlich eindeutig ablehnen.

Dass die Bundesrepublik Deutschland vor 50 Jahren
diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufnahm,
war richtig und wichtig.


(Beifall bei der LINKEN)


Das trug auch dazu bei, die Bundesrepublik innerhalb
der internationalen Staatengemeinschaft zu etablieren.
Die DDR hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, diplomati-
sche Beziehungen zu Israel aufzubauen. Das war ange-
sichts des Erbes der deutschen Vergangenheit falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf dem Sonderparteitag der SED 1989 habe ich erklärt,
dass die DDR diplomatische Beziehungen zu Israel her-
stellen solle. Das wurde mit großem Applaus aufgenom-
men. Es hatte sich in der DDR auch diesbezüglich etwas
verändert, ein schlechtes Gewissen ausgeprägt.

Wir müssen für enge und gute politische, wirtschaftli-
che, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Is-
rael eintreten. Wichtig ist der wachsende Jugendaus-
tausch über ConAct.

Es gibt für Deutschland jedoch nicht nur eine beson-
dere Verantwortung gegenüber den Jüdinnen und Juden,
sondern auch gegenüber den Palästinenserinnen und Pa-
lästinensern; denn sie bezahlen auch für die von Deut-
schen begangenen Verbrechen. Wir alle wollen Sicher-
heit für Israel. Aber diese Sicherheit wird es nicht geben,
wenn der Konflikt mit den Palästinenserinnen und Paläs-
tinensern nicht dauerhaft beendet wird. Deshalb wün-
sche ich mir mehr Leidenschaft meiner Regierung im
Kampf um einen palästinensischen Staat.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel und
Palästina gibt es nur drei Möglichkeiten:

Bei der ersten Möglichkeit bildeten Jüdinnen und Ju-
den sowie Palästinenserinnen und Palästinenser einen
gemeinsamen demokratischen Staat. Dann gäbe es eine
palästinensische Mehrheit. Es wäre also kein jüdischer
Staat mehr. Die Möglichkeit zum internationalen Schutz
von Jüdinnen und Juden wäre deutlich eingeschränkt.

Die zweite Möglichkeit bestünde in einem gemeinsa-
men Staat, der aber, um jüdischer Staat zu bleiben, ein
Apartheidregime schüfe, in dem die Palästinenserinnen
und Palästinenser deutlich weniger Rechte hätten. Ein
solcher Staat wäre höchst undemokratisch und muss ver-
hindert werden.

Es kann daher – dritte Möglichkeit – nur eine anzu-
strebende demokratische Lösung geben: die Zwei-Staa-
ten-Lösung.

Meine Generation wurde geprägt durch die Erinne-
rung an die Verbrechen gegen die Jüdinnen und Juden.
Es gibt eine schwer zu fassende Vorsicht, Hemmungen
im Umgang mit Jüdinnen und Juden, auch schlechtes
Gewissen. Vielleicht vermag die heutige Jugend wesent-
lich gleichberechtigtere Haltungen zu entwickeln. Schon
deshalb sollte meine Generation ihre Beklemmungen
nicht auf die Jugend übertragen. Es wäre gut, wenn die
heutige Jugend weiter ist, als meine Generation sein
kann. Menschenrechte müssen gleichermaßen für Jüdin-
nen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser,
Deutsche und alle anderen gelten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eige-
nen Landes muss es gerade bei uns immer geben. Diese
Verantwortung hat jede Generation. Deshalb wünsche
ich mir, dass jede und jeder Deutsche, wenn es irgendwie
möglich ist, einmal im Leben Auschwitz, einmal im Le-
ben Israel und einmal im Leben Palästina, das heißt das
Westjordanland und den Gazastreifen, besucht. Antise-
mitismus müssen wir in jeder Form immer wieder und
entschieden zurückweisen. Das gilt ebenso für jede
Form des Rassismus.

50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel sind
mehr als erfreulich. 20 000 Israelis leben inzwischen in
Berlin, eine nach den Naziverbrechen kaum vorstellbare
und deshalb besonders zu begrüßende Entwicklung.
Aber es wird höchste Zeit, auch zu Palästina diplomati-
sche Beziehungen auf höchster Ebene und darüber hi-
naus auch auf allen anderen Gebieten aufzunehmen. Das
schwächt nicht unsere Beziehungen zu Israel – im Ge-
genteil!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305000

Vielen Dank, Gregor Gysi. – Nächster Redner in der

Debatte: Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1810305100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Wenn man heute über das Verhältnis von
Deutschland und Israel spricht, scheint alles ganz normal
zu sein. Aber man kann auch heute, 50 Jahre nach Auf-
nahme diplomatischer Beziehungen, gar nicht genug er-
messen, was vor 50 Jahren tatsächlich geschehen ist.
Richtig ist, dass das Nachkriegsdeutschland, das sich in
eine moderne Demokratie hinein entwickelnde Deutsch-
land, Beiträge dazu geleistet hat – Konrad Adenauer und





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

andere – und auf Israel zugegangen ist. Diese Beiträge
waren aber nicht entscheidend dafür, dass wir zu einem
neuen Verhältnis mit Israel gekommen sind. Entschei-
dend war etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares und
aus unserer Sicht Wunderbares, nämlich dass die Juden
und der Staat Israel uns die Hand ausgestreckt haben und
uns gesagt haben: Wir wollen mit euch einen neuen An-
fang wagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Dank gilt daher heute, an diesem Tag, da wir dieses
Jubiläum feiern, dem Staat Israel und den Juden, die auf
das Tätervolk zugegangen sind. Das dürfen wir nicht
vergessen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war vor
50 Jahren auch nicht einfach. Wenn man sich die Dis-
kussionen, die damals stattgefunden haben, anschaut,
stellt man fest, dass das Näherzusammenrücken von
Deutschland und Israel höchst umstritten war – in Israel
und in Deutschland. Es bedurfte mehr mutiger Men-
schen in Israel, um den Weg so zu ebnen, dass gesagt
werden konnte: Wir wollen es versuchen. – Für uns war
das vergleichsweise leichter. Auch deshalb sind wir den-
jenigen dankbar, die sich trotz der Geschehnisse im Drit-
ten Reich wieder in Deutschland angesiedelt haben und
hier, in diesem Land, Heimat gesucht und gefunden ha-
ben. Daraus resultiert eine ganz besondere Verantwor-
tung.

Es ist etwas Großartiges, dass wir wieder jüdisches
Leben in Deutschland haben, aber es ist beklemmend,
wenn Juden uns erzählen, dass sie Angst haben, sich in
bestimmten Regionen, in bestimmten Gebieten als Juden
zu erkennen zu geben. Meine sehr verehrten Kollegin-
nen und Kollegen, so etwas darf es in diesem Land nicht
geben! Dagegen müssen wir uns entschieden wehren!


(Beifall im ganzen Hause)


Für mich ist es beklemmend und schlimm genug, dass
die Synagoge in der Oranienburger Straße, das Jüdische
Museum und verschiedene andere Einrichtungen in un-
serem Land durch die Polizei geschützt werden müssen.
Aber es ist noch viel beklemmender, wenn wir erleben
müssen, dass Juden, die sich als Juden zu erkennen ge-
ben, in unserer Hauptstadt das Risiko eingehen, überfal-
len und verprügelt zu werden, wie es in der Oranienbur-
ger Straße immer wieder geschehen ist. Das darf einfach
nicht passieren.

Ich kann auch verstehen, dass Juden fassungslos da-
rüber sind, dass die israelische Flagge, die bei einem
Fußballspiel hier in Berlin für einen israelischen Fußbal-
ler ausgerollt wurde, zusammengerollt werden musste,
und zwar nicht auf Veranlassung des Vereins, sondern
auf Veranlassung der Polizei. Das geht einfach nicht!


(Beifall im ganzen Hause)


Wir tragen also Verantwortung dafür, dass jüdisches
Leben in unserem Land wie selbstverständlich stattfin-
den kann. Wir tragen auch Verantwortung dafür, dass die
Erinnerung an das, was im Dritten Reich passiert ist,
wach bleibt. Das wird nicht einfacher, wenn die Zahl der
Angehörigen der Erlebnisgeneration immer weniger
wird und wenn wir uns Gedanken machen müssen, wie
wir das an junge Menschen herantragen.

Diese Erinnerung an das, was geschehen ist, ist zwin-
gend notwendig. Da darf es keine Schlussstrichdiskus-
sion geben; denn für uns selber, für uns Deutsche ist es
existenziell wichtig, dass wir uns immer daran erinnern.
Da müssen die Dinge auch klar angesprochen werden.
Ja, es gibt in unserem Land Antisemitismus bei Men-
schen, die schon lange hier leben und vielleicht auch hier
geboren wurden. Es gibt aber genauso eingewanderten
Antisemitismus. Beides darf in unserem Lande nicht
stattfinden, liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall im ganzen Hause)


Es hat mich fassungslos gemacht und tief berührt, als
in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit 30 000 Einwoh-
nern, im letzten Jahr eine Demonstration von vielen
Menschen mit Migrationshintergrund stattgefunden hat,
auf welcher der Satz „Juden raus“ gerufen wurde. Das
dürfen wir nicht zulassen! Dieser Satz darf in Deutsch-
land nie mehr unwidersprochen fallen. Am besten fällt er
überhaupt nicht mehr!


(Beifall im ganzen Hause)


Wir sind natürlich auch fest an der Seite Israels, wenn
es um ganz wichtige politische Fragen geht. Die Bundes-
kanzlerin hat in ihrer viel beachteten Rede in der Knesset
gesagt, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschen
Staatsräson ist. Das ist ein Satz, der eben nicht nur in
Sonntagsreden gilt, sondern der Konsequenzen in der
Politik hat. Ich bin unserem Außenminister dafür dank-
bar, dass er gesagt hat: Dieses Existenzrecht Israels gilt
es natürlich auch in unseren politischen Verhandlungen
zu beachten, die wir mit dem Iran führen.

In Israel ist man voller Sorge, dass Entscheidungen
fallen könnten, die die Sicherheitsinteressen Israels ver-
schlechtern. Deswegen müssen wir schon klar und deut-
lich sagen: Es kann keinen Abschluss mit dem Iran ge-
ben, der die Sicherheit Israels nicht verbessert, und
keinen Abschluss, der die Sicherheit verschlechtert. Da
dürfen wir auch nicht aus politischer Opportunität weg-
schauen, sondern da müssen wir klar sagen: Die Ver-
handlungen mit dem Iran dürfen das Existenzrecht Is-
raels in keiner Weise gefährden, liebe Kolleginnen und
Kollegen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Freundschaft mit Israel bedeutet allerdings auch,
dass wir unserem Freund Israel helfen, in wichtigen poli-
tischen Fragen richtige Entscheidungen zu treffen –
nicht indem wir hier bevormundend auftreten, sondern
indem wir im Dialog mit der israelischen Regierung
auch auf Sorgen aufmerksam machen, die wir haben,
und indem wir auf mögliche Entwicklungen hinweisen,
die wir uns wünschen. Dazu gehört aber auch, dass wir
als Freund Israels immer Folgendes zu bedenken haben:
Wir können in diesem Jahr 70 Jahre Frieden und Freiheit





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

feiern, während Israel in den vergangenen 70 Jahren
nicht einmal einen Bruchteil von dem Frieden und der
Sicherheit hatte, die wir hier gehabt haben. Israel war
ständig in Sorge, ständig im Abwehrkampf, ständig von
Terrorismus überzogen. Deshalb ist es ein Unterschied,
ob man aus Sicht Israels oder aus Sicht unseres Landes,
eines sicheren Hafens, spricht. Das bitte ich immer wie-
der zu berücksichtigen, wenn man mit Israel über Zu-
kunftsfragen redet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich wissen wir aus unserer eigenen Geschichte,
wie wichtig es ist, dass man in einem Staat leben kann,
dass man seine Interessen entsprechend formulieren
kann. Deswegen muss eine Lösung im Nahen Osten ge-
funden werden. Natürlich gibt es auch das Recht der Pa-
lästinenser, in einem Staat zu leben. Darüber werden wir
mit Israel immer wieder sprechen müssen. Aber eines ist
auch klar: Es gibt kein Recht – schon gar nicht ange-
sichts dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist,
und mit Blick auf unsere politische Ausrichtung nach
dem Zweiten Weltkrieg –, sein Recht mit Gewalt und
Terror zu erzwingen. Das müssen wir den Palästinensern
auch klar und deutlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Da haben wir also einen wichtigen Beitrag zu leis-
ten. Diesen Beitrag können wir vielleicht besser leis-
ten, weil wir definitiv wissen, dass der Staat Israel und
die Juden – für mich immer noch unfassbar nach dem,
was es an Brutalität gab und was an gemeinen Verbre-
chen geschehen ist – uns in besonderer Weise ver-
trauen. Es ist ein besonderer Vertrauensbeweis, dass
der Staat Israel die Vertretung seiner diplomatischen
Interessen und die Vertretung der Interessen seiner Bür-
ger in den Ländern, in denen er keine eigenen diploma-
tischen Vertretungen hat, auf die Bundesrepublik
Deutschland übertragen hat – nicht auf Amerika oder
auf ein anderes europäisches Land, sondern auf
Deutschland. Das ist ein weiterer großartiger Beweis
dafür, dass man uns vertraut.

Ich kann nur sagen – ich glaube, das kann man für den
ganzen Deutschen Bundestag sagen –: Wir werden alles
daransetzen, uns dieses Vertrauens würdig zu erweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305200

Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächste Rednerin in

der Debatte: Katrin Göring-Eckardt für Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Wer 50 Jahre zurückblickt, kommt nicht umhin,
sich zu wundern. Mit diesem Deutschland hat Israel
1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen: 20
Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus war
Deutschland weder frei von Schuld noch frei von Schul-
digen. Ganz im Gegenteil: Es war eine Gesellschaft, de-
ren Kriegsgeneration sich den Fragen ihrer Kinder nach
kollektiver und individueller Schuld noch gar nicht ge-
stellt hatte und auch nicht stellen wollte. Die in der deut-
schen Bevölkerung seinerzeit verbreitete Einstellung
wurde vier Jahre später, im Jahr 1969, von Franz Josef
Strauß so ausgedrückt – ich zitiere –:

Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen
vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz
nichts mehr hören zu wollen.

Wie unglaublich, wie absurd, wie anmaßend – damals
wie heute.

Übrigens: Die DDR hat nicht nur keine diplomati-
schen Beziehungen zu Israel aufnehmen wollen; sie hat
weder eine Debatte über Aufarbeitung noch über Schuld
geführt. Ein antifaschistischer Schutzwall sollte dazu
führen, dass die Täter auf der anderen Seite sind; eine
Hypothek bis heute.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen
Israel und Deutschland war übrigens auch nicht das Re-
sultat sorgfältiger Vorbereitung. Es war das Ergebnis ei-
ner Folge von Skandalen und Enthüllungen im Kontext
des Kalten Krieges: deutsche Raketentechniker in Ägyp-
ten, geheime Waffenlieferungen von Deutschland nach
Israel, die Hallstein-Doktrin, der Besuch von Walter
Ulbricht in Ägypten.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstanden
einerseits sehr enge und tragfähige Beziehungen in den
Bereichen von Politik, Kultur, Zivilgesellschaft, Bildung
und Wissenschaft. Andererseits gab es aber auch immer
wieder Anlässe zu spürbaren Verstörungen in dem Ver-
hältnis beider Länder. Das reichte von der antiisraeli-
schen Wendung vieler Gruppen der westdeutschen Lin-
ken nach 1965, dem Terroranschlag auf die israelische
Olympiamannschaft im Jahr 1972 über die sogenannte
Schmidt-Begin-Kontroverse 1981 und den Israel-Besuch
von Helmut Kohl 1984 bis hin zu dem umstrittenen Ge-
dicht des gerade verstorbenen Autors Günter Grass aus
dem Jahr 2014.

Dass die deutsch-israelischen Beziehungen intensiv
und tragfähig wurden, ist auch, aber nicht nur das Ver-
dienst vieler Regierungs- und Parlamentsvertreter und
-vertreterinnen beider Staaten. Es ist ebenso ein Ver-
dienst vieler Bürgerinnen und Bürger, Kirchen und
Kirchgemeinden, Städtepartnerschaften, Kulturprojekte,
die diese Beziehung mit Leben gefüllt haben und sie tra-
gen, die einander auch in politisch schwierigen Zeiten
vertrauensvoll verbunden geblieben sind.

Eine wichtige Arbeit hat bereits vor 54 Jahren begon-
nen. Ich will sie erwähnen, weil ich ihr persönlich ver-
bunden bin. 1961 kamen die ersten Freiwilligen der Ak-
tion Sühnezeichen Friedensdienste aus Deutschland
nach Israel. Seit 20 Jahren kommen auch junge Israelis
zu Freiwilligendiensten nach Deutschland. Die Ge-
schichten, die die jungen Leute erzählen, sind und blei-
ben beeindruckend: wenn Hilfe im Haushalt plötzlich zu





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

einer tiefen Freundschaft über mehrere Generationen
hinweg wird und wenn ein alter Mann einem Helfer
Dinge erzählt, die er seinen eigenen Kindern nie anver-
trauen wollte. Diese Arbeit ist von unschätzbarem Wert.
Je mehr die Generation der Zeitzeugen schwindet, umso
wichtiger wird die Generation, die Zeugnis für die Zu-
kunft ablegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass wir über
unsere gemeinsame Geschichte reden können. Als ich
Gabriel Bach, den Ankläger im Eichmann-Prozess, in
Jerusalem traf, haben wir über diese Geschichte spre-
chen können. Ich bin sehr froh, dass er das mit vielen Ju-
gendlichen getan hat. Aber noch viel mehr bleibt mir
sein Besuch in Berlin in Erinnerung. Im Gespräch stell-
ten wir fest, dass meine Berliner Wohnung unweit der
Straße war, in der er aufgewachsen ist. Es war Frühjahr,
und er war dort. Überall sah man Geranien an den Bal-
konen, rote Geranien. Gabriel Bach aber hat keine Gera-
nien gesehen. Er sah nur das Rote und dachte an die Fah-
nen der Nazis, die damals auf einmal aus allen Fenstern
hingen.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine erschreckend
hohe Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in unserem
Land einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Ver-
gangenheit ziehen möchte. Ihnen müssen wir widerspre-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Geschichte zu kennen, bedeutet, Verantwortung zu le-
ben, ganz unabhängig vom eigenen Alter und von der
Frage persönlicher Schuld. Nie vergessen ist keine Hy-
pothek, sondern es ist das wichtigste Erbe, das wir wei-
terzugeben haben.

Es muss uns umtreiben, dass im vergangenen Jahr die
Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland um
25 Prozent angestiegen ist. Das ist für unser Land be-
schämend. Ich hoffe trotzdem umso mehr, dass die Men-
schen jüdischen Glaubens, die hier zu Hause sind, es
auch bleiben. Es ist unser gemeinsames Land. Es ist un-
sere gemeinsame Hoffnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Herr Kauder hat eben zu Recht darauf hingewiesen,
wie absurd es ist, dass eine israelische Flagge im Fuß-
ballstadion eingerollt werden musste. Natürlich hat sich
der Polizeipräsident entschuldigt, und wahrscheinlich
sind wir uns auch alle einig darüber, wie falsch diese Ak-
tion war. Das Gefährliche daran ist aber die Gedankenlo-
sigkeit, mit der das passiert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel
und Deutschland, das ist kein gegenseitiges Verteilen
von Streicheleinheiten. Es ist ein gewachsenes Verständ-
nis füreinander, das auch Kritik aushalten kann und
muss, genauso wie Enttäuschungen. Die von Benjamin
Netanjahu im Wahlkampf geäußerte Aussage, an der
Perspektive der Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr arbei-
ten zu wollen, war eine solche Enttäuschung. Darum
muss man nicht herumreden. Aber auch wenn es im Ge-
bälk knirscht: Das Fundament ist stabil. Die Beziehun-
gen sind nicht nur von Geschichte, sondern auch von
Gegenwart geprägt.

Es gibt auch weiterhin viel zu besprechen in und zwi-
schen unseren Gesellschaften. Was wir nicht brauchen,
ist eine gern beschworene Normalisierung des einzigarti-
gen Verhältnisses zwischen Israel und Deutschland. Eine
Normalisierung würde nämlich die Besonderheit unseres
Verhältnisses zu und unsere Verantwortung für Israel ne-
gieren. Wir feiern 50 Jahre diplomatische Beziehungen
im selben Jahr, in dem wir an den 70. Jahrestag der Be-
freiung von Auschwitz erinnern. Beides ist untrennbar
miteinander verknüpft. Diese Erinnerung ist kein kon-
servierendes Geschichtsbild, sondern sie ist Auftrag.

Der Blick auf die Geranien am Balkon in Charlotten-
burg und der Strandspaziergang unserer Kinder und En-
kel in Tel Aviv: Es wird Momente geben, die eben nicht
unbeschwert sind. Von daher zu den 50 Jahren beides:
Schalom und Mazel tov.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305300

Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Nächster Red-

ner: Achim Post für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Achim Post (SPD):
Rede ID: ID1810305400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich darf anfangen mit einem Dank an alle Rednerinnen
und Redner vor mir, die alle auf ihre Art eindrucksvoll
beschrieben haben, wie sich das Verhältnis zwischen
Deutschland und Israel in den letzten Jahren und Jahr-
zehnten entwickelt hat.

In zehn Wochen, am 27. Juli 2015, ist ein richtig guter
Tag. Da beginnen nämlich in Berlin die 14. European
Maccabi Games, das größte jüdische Sportereignis Euro-
pas, eine Art Olympiade für jüdische Sportlerinnen und
Sportler. Dann treffen sich 2 300 Frauen und Männer
und messen sich im Schwimmen, im Laufen, im Schach-
spielen, beim Basketball, und das alles auf dem Gelände
des ehemaligen Reichssportfeldes, das für die Olym-
piade 1936 erbaut worden ist. 70 Jahre nach dem Holo-
caust findet das größte jüdische Sportereignis in Berlin
statt, unterstützt vom Regierenden Bürgermeister und
vom ganzen Senat. Ich finde, auch das ist ein Sieg über
Hitler und Nazi-Deutschland.





Achim Post (Minden)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dazu kommt das vielfältige jüdische Leben in
Deutschland: in jüdischen Gemeinden und außerhalb
von jüdischen Gemeinden. Dazu kommen Tausende und
Abertausende Israelis, die für ein Wochenende, für eine
Woche, für ein Jahr oder für immer nach Berlin und
Deutschland kommen. Das alles sind Hinweise, ja Be-
weise, wie eng die Bande zwischen den Menschen in Is-
rael und Deutschland geworden sind.

Volker Kauder hat gefragt: Ist jetzt also alles wieder
gut? Ist Normalität eingekehrt wie – sagen wir – zwi-
schen Dänemark und Schweden? Ist es Zeit, den soge-
nannten Schlussstrich zu ziehen? Wie alle Vorrednerin-
nen und Vorredner sage ich eindeutig: Nein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Buchstaben und Geist dieses Koalitionsantrags unter-
streichen dieses Nein, wenn vom einmaligen Charakter
der deutsch-israelischen Beziehungen gesprochen wird.
Zugegeben: Die Überschrift des Antrags kommt etwas
holprig daher – „Eingedenk der Vergangenheit die
gemeinsame Zukunft gestalten“ –, aber sie trifft den
Kern.

Als seine Lehrerin den neunjährigen, uns allen be-
kannten Marcel Reich-Ranicki Ende der 20er-Jahre vor
dessen Umzug nach Berlin verabschiedete, tat sie das
mit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der
Kultur.“

Der kleine Marcel kam stattdessen und schlussendlich
in das Land von Auschwitz und Treblinka, von Buchen-
wald und Sachsenhausen. In das Land, in dem Millionen
von Menschen umgebracht wurden, nicht von einigen,
schon gar nicht von einem, sondern von vielen. In das
Land, in dem Millionen von Juden umgebracht wurden,
nicht nur im deutschen Namen, sondern von Deutschen.

Deshalb grenzt all das – Frank-Walter Steinmeier hat
es beschrieben –, was in den letzten 50 Jahren erreicht
wurde, in der Tat an ein Wunder. Aber auch Wunder
werden gemacht, von den Bürgerinnen und Bürgern der
beiden Länder, von weitsichtigen Politikern wie Ben-
Gurion und Konrad Adenauer, wie Golda Meïr und
Willy Brandt, wie Schimon Peres und Johannes Rau,
aber auch von 700 000 Israelis und Deutschen, die mitt-
lerweile an einem Jugendaustausch teilgenommen ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


All das geschah nach dem Tiefpunkt der menschlichen
Zivilisation.

Im Übrigen auch nach vielen Jahren, in denen Schuld
und Verantwortung in Deutschland verdrängt wurden.
Sonst hätten SS-Männer wie Oskar Gröning in Lüneburg
wohl nicht erst mit 93 Jahren vor Gericht gestanden,
sondern mit 33 oder 43 Jahren.

Wie soll es jetzt weitergehen mit unseren beiden Län-
dern, mit Deutschland und Israel, deren Beziehung so
eng und so einzigartig ist, die auf so freundschaftliche
und so schwierige Art und Weise verbunden sind, mit
diesen beiden stabilen Demokratien? Es wird gelegent-
lich unterbewertet, dass wir in beiden Ländern in offe-
nen Gesellschaften leben. Wir sollten das zu schätzen
wissen. Ich jedenfalls habe bei meinen Besuchen in Is-
rael nicht immer politische Zustimmung erhalten, aber
nie persönliche Ablehnung, auch und gerade wenn ich
dafür werbe, dass Verhandlungen mit dem Iran die Si-
cherheitslage Israels verbessern, auch und gerade wenn
ich den fortgesetzten Siedlungsbau ablehne oder die hu-
manitäre Lage in Gaza kritisiere.

Drei Dinge liegen mir besonders am Herzen. Erstens.
Wir sollten uns in diesen Tagen einfach einmal darüber
freuen, was zwischen den Ländern gelungen ist,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


in Wirtschaft und Wissenschaft, bei Städtepartnerschaf-
ten, im Kulturaustausch, im Sport, in sozialen Fragen
und beim Austausch von Auszubildenden. 50 Jahre di-
plomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutsch-
land sind vor allem auch eine Erfolgsgeschichte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Wir sollten den Schwung aus 2015 in die
kommenden Jahre mitnehmen. Das hat der deutsche
Botschafter in Israel vor acht Wochen gesagt. Ich stimme
ihm ausdrücklich zu. Der Botschafter hat recht. Am bes-
ten sollten wir den Schwung in die nächsten 50 Jahre mit
der Vertiefung und der Erweiterung der Zusammenarbeit
und des Dialogs mitnehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit der gemeinsamen Erklärung der letztjährigen Re-
gierungskonsultationen gibt es dafür fast so etwas wie
ein Arbeitsprogramm, mit den neun Punkten des Koali-
tionsantrages gibt es elementare Forderungen des Deut-
schen Bundestages an die Bundesregierung: für das
Existenzrecht Israels, gegen Antisemitismus, für eine
Zwei-Staaten-Lösung, für Erinnerung und Verantwor-
tung in Deutschland.

Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. Zwei
Dinge gilt es zu bekämpfen: Desinteresse und Gleichgül-
tigkeit. Das gilt für das Miteinander, aber auch für jedes
Land allein. Der große Philosoph Edmund Burke hat den
Satz aufgeschrieben: „Für den Sieg des Bösen reicht die
Untätigkeit des Guten“. Wenn ich mich so umschaue,
liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich sagen: Wir
hier im Deutschen Bundestag sind zweifelsohne die Gu-
ten, und zwar in allen Fraktionen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das gilt im Übrigen vor allem für die übergroße
Mehrheit der Deutschen; aber wir dürfen nie die Untäti-





Achim Post (Minden)



(A) (C)



(D)(B)

gen sein oder werden. Deshalb dürfen wir nicht nachlas-
sen in unserem Engagement gegen Antisemiten, gegen
Rechtsradikale, gegen Nazis.


(Beifall im ganzen Hause)


Diese Nazis haben seit der deutschen Einheit über
150 Menschen umgebracht, und sie werden sich weitere
Opfer suchen, wenn wir sie nicht stoppen – mit allen
Mitteln des Rechtsstaates, energisch und nachhaltig. Das
sind wir uns selbst schuldig, das sind wir unseren Freun-
den in Israel schuldig, das sind wir allen Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland schuldig.

Wir haben in den letzten 50 Jahren so viel erreicht.
Arbeiten wir weiter für eine gute Zukunft unserer beiden
Länder, arbeiten wir weiter für eine gemeinsame Zu-
kunft unserer beiden Länder.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305500

Vielen Dank, Achim Post. – Nächste Rednerin: Gerda

Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1810305600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unsere Beziehung, die Beziehung zwischen Deutsch-
land und Israel, wird immer eine ganz besondere Bezie-
hung bleiben. Sie ist in den letzten Jahrzehnten ge-
wachsen. Sie ist vor allem eine Beziehung nicht allein
zwischen den Staaten, sondern sie ist auch eine Bezie-
hung zwischen den Menschen geworden; das ist auch in
den Beiträgen vorhin deutlich zum Ausdruck gebracht
worden.

In meinem Wahlkreis liegt das ehemalige Konzentra-
tionslager Dachau. Dort habe ich immer wieder Gele-
genheit, Überlebende kennenzulernen. Einer davon ist
Abba Naor, der heute in Israel lebt. Wenn er vor 60 Jah-
ren in seinen Pass geschaut hat – in den israelischen
Pass –, dann stand da: Gilt in allen Ländern der Welt au-
ßer Deutschland. – Er konnte in alle Teile der Erde rei-
sen, aber nicht zu uns nach Deutschland. Heute steht der-
selbe Mann in hohem Alter immer wieder vor Schülern
in ganz Deutschland. Er erzählt von seinen Erfahrungen,
von seinem Leiden. Er erzählt das nicht, um anzuklagen,
er erzählt das nicht, um den jungen Leuten ein schlechtes
Gewissen zu machen, sondern er erzählt das, um für
Toleranz zu werben, um für Nächstenliebe zu werben,
für Menschenwürde zu werben. Seine Botschaft ist nicht
Anklage, sondern seine Botschaft ist Versöhnung und
Mahnung, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Ich bin überzeugt davon, dass viele von uns solche
Geschichten erzählen können von Begegnungen mit
Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Diese
Geschichten zeigen, was in den Jahrzehnten seit dem
Krieg in unserem Land geschehen ist, was die Menschen
hier geleistet haben im Bereich Versöhnung und Mah-
nung.

Wenn wir heute, in diesen Tagen, an 50 Jahre diplo-
matische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
denken, dann müssen wir auch noch ein bisschen weiter
zurückdenken; denn das Ganze begann im Jahr 1960, als
die beiden großen Staatsmänner Konrad Adenauer und
David Ben-Gurion sich die Hand reichten. Das Foto ging
damals um die Welt, und es ging zu Recht um die Welt;
denn das war alles andere als selbstverständlich nach
dem, was in deutschem Namen den Juden in der Zeit des
Nationalsozialismus angetan wurde.

Es war sicher für jeden der beiden schwierig – für
David Ben-Gurion wahrscheinlich noch viel schwieri-
ger –, bei seiner Bevölkerung dafür Verständnis zu be-
kommen. David Ben-Gurion sagte schon bald nach dem
Krieg: Ihr müsst wissen, dass da ein anderes Deutsch-
land entsteht. – Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
entstand ein anderes Deutschland: Es entstand ein
Deutschland, das sich zu seiner Geschichte und zu seiner
Verantwortung aus der Geschichte bekennt, ein Deutsch-
land, das zu Werten wie Freiheit, Demokratie und Men-
schenwürde steht, ein Deutschland, das nicht vergisst,
was in der Vergangenheit war, ein Deutschland, das das
Geschehene, die Schoah, immer im Gedächtnis haben
wird – auch das gehört zu diesem Deutschland.

Meine Damen und Herren, warum ist das alles ge-
schehen? Es ist vorhin schon gesagt worden: Es ist ein
großes Wunder, dass wir dieses erleben dürfen – nach all
dem, was wir in der Geschichte zu verzeichnen hatten
und haben. Heute arbeiten die beiden Staaten intensiv
zusammen: im politischen Bereich, im wirtschaftlichen
Bereich, im Forschungsbereich, im kulturellen Bereich.
Es gibt viele Städtepartnerschaften. Das Internationale
Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages
trägt dazu bei, dass Jugendliche aus Israel nach Deutsch-
land kommen und dass deutsche Jugendliche die Mög-
lichkeit haben, einige Monate in der Knesset zu verbrin-
gen.

Das alles ist wirklich ein Wunder. Es ist möglich ge-
worden, weil zunächst einmal Israel bereit war, die Hand
zu reichen. Es ist möglich geworden, weil Konrad
Adenauer, selbst unbelastet, sich eindeutig zu der Ver-
gangenheit bekannt hat, zur Verantwortung der Vergan-
genheit bekannt hat und weil er glaubwürdig für das neu
entstandene Deutschland stand. Meine Damen und Her-
ren, es ist möglich geworden, diese 50 Jahre wirklich als
Erfolgsgeschichte, wie es mein Vorredner bezeichnet
hat, zu sehen, weil jede Bundesregierung in den vergan-
genen Jahrzehnten sich der Bedeutung der besonderen
Beziehungen bewusst war, weil jede Bundesregierung
die Beziehungen intensiviert und noch verbessert hat so-
wie das schon vorhandene Vertrauen immer wieder ge-
stärkt hat. Auch das gilt es in dieser Stunde zu erwähnen.





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aus der Erinnerungskultur der ersten Jahre ist eine
Verantwortungskultur geworden. Was heißt „Verantwor-
tungskultur“ jetzt für uns?

Es bedeutet meines Erachtens erstens, dass wir nicht
schweigen dürfen, wenn die fürchterlichen Gräueltaten
des Nationalsozialismus relativiert werden, dass wir
nicht schweigen dürfen, wenn wir in Deutschland, in Eu-
ropa oder sonst wo auf der Welt wieder antisemitische
Tendenzen erkennen. Für uns muss gelten: Antisemitis-
mus, Rassismus, Abgrenzung, Ausgrenzung, Diskrimi-
nierung – all das darf in Deutschland, darf in Europa,
darf in der Welt keinen Platz haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens bedeutet Verantwortungskultur, das Erin-
nern wachzuhalten, auch in einer Zeit, in der die Zeitzeu-
gen immer weniger werden und vielleicht eines Tages
gar nicht mehr vorhanden sind. Diese Arbeit leisten mei-
nes Erachtens in hervorragender Weise die Gedenkstät-
ten. Sie wird aber auch geleistet – das will ich nicht un-
erwähnt lassen – von Schriftstellern in Büchern, aber
auch in einer ganzen Reihe von Filmen. Auch wir sind
gefordert, dieses wachzuhalten: mit Diskussionen und
mit Förderung der Menschen, die diese Arbeit professio-
nell für uns leisten. Auch das gehört dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens bedeutet Verantwortungskultur, einen offe-
nen Dialog mit Israel über all die aktuellen Fragen zu
führen; es wurde vorhin schon angesprochen. Das Ganze
bedeutet auch, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass in
der Region, wo die Menschen immer wieder mit Ängs-
ten und Schrecken zu tun haben, Frieden einkehrt. Da
gibt es keine Patentlösung. Für uns ist aber klar und für
mich gilt ganz wesentlich: Das Existenzrecht, die Si-
cherheit Israels, das ist für uns nicht verhandelbar, so
wie es die Bundeskanzlerin und die bisherigen Bundes-
regierungen immer wieder zum Ausdruck gebracht ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Viertens bedeutet diese Verantwortungskultur aber
auch, dass wir jüdisches Leben in Deutschland nicht nur
zulassen, sondern dass wir es, wo immer es möglich ist,
auch fördern. Jüdisches Leben gehört zu unserer kultu-
rellen Identität, und es bereichert unser Leben. Auch das
gehört zur Verantwortungskultur.

Das alles, meine Damen und Herren, ist möglich, weil
wir ein gemeinsames Wertefundament haben, ein Werte-
fundament, das da lautet: für Freiheit, für Demokratie,
für die Wahrung der Menschenrechte und Menschen-
würde, und zwar egal woher die Menschen kommen,
egal welches Geschlecht sie haben, welchen Glauben sie
haben. Jeder und jede hat das Recht auf eine Menschen-
würde, wie wir sie verstehen.

Meine Damen und Herren, 50 Jahre diplomatische
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, das ist
ein Glücksfall; es ist in der Entwicklung der Jahrzehnte
für uns eine Erfolgsgeschichte. Geprägt sind diese Be-
ziehungen von der Verantwortung für die Vergangenheit,
von einer gelebten Solidarität und einem gegenseitigen
Vertrauen, von unseren gemeinsamen Werten. Ich denke,
wir sind aufgefordert, diese einzigartigen Beziehungen
in diesem Geist auch künftig zu pflegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305700

Vielen Dank, Frau Hasselfeldt. – Nächster Redner in

der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte

Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
schreiben in Ihrem Antrag, 50 Jahre diplomatische Be-
ziehungen zwischen Deutschland und Israel seien ein
„Wunder“. Richtig ist, dass es alles andere als selbstver-
ständlich war, dass Ben-Gurion die Hand von Konrad
Adenauer ergriffen hat. Es ist sicher nicht nur richtig,
dass wir sehr besondere bilaterale Beziehungen haben,
sondern auch, dass diese Beziehungen einzigartig sind.
Richtig ist auch, dass wir, Israel und Deutschland, bilate-
rale Beziehungen haben, die es sonst zwischen keinen
zwei anderen Ländern der Welt gibt. Dafür können wir
einfach nur dankbar sein.

Allerdings ist die Rede vom „Wunder“ nicht beson-
ders akkurat, weil diese Beziehungen eben nicht vom
Himmel gefallen sind, weil es unglaublich viele Klippen
gegeben hat – meine Fraktionsvorsitzende hat darauf
hingewiesen –, weil wir noch sehr viel daran arbeiten
müssen und weil wir uns bei denjenigen in Deutschland
bedanken müssen, die aus der Zivilgesellschaft heraus
– die Kirchen, die Gewerkschaften und viele andere –
teilweise gegen Widerstände in der Politik, im Übrigen
aus allen Fraktionen, dafür gekämpft haben und durch-
gesetzt haben, dass es diese bilateralen Beziehungen
gibt. Dafür einen herzlichen Dank!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Gleichzeitig glauben wir, dass wir viel tun müssen,
damit die bilateralen Beziehungen nicht rituell werden.
Dazu gehört Ehrlichkeit. Dazu gehört, dass wir ehrlich
sagen, woran es gehapert hat, gerade auf der deutschen
Seite; wir müssen selbstkritisch sein.

Wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich zustim-
men. Das ist nun wirklich der falsche Anlass, um sich
parteipolitisch zu zerlegen. Ich erinnere mich, dass man
sich vor zehn Jahren, als es um den 40. Jahrestag der di-
plomatischen Beziehungen ging, sehr bemüht hat und es
am Ende gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag in den





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Bundestag einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass
es auch dieses Mal möglich gewesen wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nichtsdestotrotz stimmen wir Ihrem Antrag zu und hof-
fen, dass auch Sie nicht mit den üblichen Reflexen auf
unseren Antrag reagieren.

Meine Damen und Herren, Israel und Deutschland
sind nicht mehr dieselben Länder wie vor 50 Jahren.
Beide Gesellschaften sind im Wandel. Damit verändert
sich auch die Erinnerung in beiden Ländern an histori-
sche Ereignisse. Wer die Beziehung in ihrer heutigen In-
tensität erhalten und vor allem ausbauen will, der muss
die neuen gesellschaftlichen Realitäten ernst nehmen.

Deutschland und Israel sind Einwanderungsgesell-
schaften. In beiden Ländern gibt es viele Menschen, die
keine biografischen Bezüge zur Schoah haben. Mein
Großvater war während der NS-Herrschaft Nusshändler
im Westen Irans. Dass es den Zweiten Weltkrieg über-
haupt gibt, das hat er wahrscheinlich erst mitbekommen,
als 1941 erstmals russische Soldaten in seiner Stadt auf-
getaucht sind. Nichtsdestotrotz trage ich als Deutscher,
als Demokrat und als Mensch die Verantwortung für die
Folgen der deutschen Geschichte und damit selbstver-
ständlich auch für die deutsch-israelischen Beziehungen.
Wer sich zu Deutschland bekennt, bekennt sich zur his-
torischen Verantwortung Deutschlands und damit zur
Verantwortung für das Nie-wieder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Manche sagen, dass Antisemitismus in Deutschland
heute vor allem unter Muslimen verbreitet sei. Das ist in
Zeiten, in denen Neonazis leider Gottes immer noch
ganze Stadtviertel zu No-go-Areas für Juden erklären
können,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


eine sehr gewagte These.

Dennoch gibt es ein Problem, wie die Demonstratio-
nen gegen den Gaza-Krieg im letzten Jahr gezeigt haben.
Es ist legitim, israelische Politik zu kritisieren und dage-
gen zu demonstrieren – das Demonstrationsrecht gilt
nicht nur für diejenigen, die politisch ausgewogen de-
monstrieren; das sehen wir Montag für Montag in man-
chen deutschen Städten –; aber Gewaltanwendung ist
nicht legitim. Es ist nicht legitim, antisemitische Parolen
zu dreschen. Es ist erst recht nicht legitim, Hoheitszei-
chen eines anderen Staates zu zerstören oder das Exis-
tenzrecht Israels infrage zu stellen. Es ist unsere Auf-
gabe als Demokratinnen und Demokraten, dagegen
aufzustehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Aus der deutschen Geschichte erwächst eine Verant-
wortung für die Sicherheit Israels und die Sicherheit der
Jüdinnen und Juden in Deutschland. Unsere Verantwor-
tung ist es, für die Sicherheit aller, die hier in Deutsch-
land leben, zu sorgen, und zwar unbenommen davon,
welcher Religion sie angehören. Der Graben verläuft
nicht zwischen Juden und Muslimen, der Graben ver-
läuft zwischen Demokraten auf der einen Seite und Anti-
semiten auf der anderen Seite.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren, ist
und bleibt ein Grundsatz deutscher Außenpolitik, auch
wenn wir über das Wie immer wieder streiten. Diese
Streitereien gibt es unter uns, innerhalb Israels und zwi-
schen Deutschland und Israel.

Das Verhältnis Deutschlands zu Israel ist eng mit dem
Nahostkonflikt verbunden. Gerade in einer Zeit, in der
eine Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne rückt, gerade
in einer Zeit, in der es immer weniger Hoffnung gibt,
müssen wir uns für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen.
Denn klar ist: Es wird keine Sicherheit für die Israelis
und keine Selbstbestimmung für die Palästinenser ohne
eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Es gibt keinen Zaun,
der hoch genug ist, dass er Frieden ersetzen kann.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810305900

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächste Rednerin:

Kerstin Griese für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1810306000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Viele in meiner Generation, die sich politisch
engagieren, tun dies, weil nie wieder passieren darf, was
1933 von Deutschland ausging. In der Schoah wurden
6 Millionen europäische Juden ermordet. In dieser ein-
maligen Menschheitstragödie haben die Deutschen un-
fassbare Schuld auf sich geladen.

Als 16-Jährige habe ich im Rahmen der Jugendarbeit
zum ersten Mal die Gedenkstätte des KZ Auschwitz be-
sucht. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Die
Täter waren aus der Generation meiner Großeltern. Es
waren Deutsche, die im südpolnischen Ort Oswiecim
das größte Grauen der Menschheitsgeschichte angerich-
tet haben, indem sie die Juden Europas dorthin deportiert
haben, misshandelt, gequält und ermordet haben.

Man muss bedenken, dass es nach 1945 viele Akteure
in der jungen deutschen Bundesrepublik gab, die in den
Nationalsozialismus verstrickt waren oder selbst schul-
dig geworden waren. Mir haben Holocaustüberlebende
oft erzählt, wie schwer es für sie in der Nachkriegszeit
war, Deutschen zu begegnen, weil sie immer gedacht ha-
ben: Was hat derjenige wohl von 1933 bis 1945 ge-
macht? Vor diesem Hintergrund war es für den jungen
Staat Israel besonders schwer, mit dem Land der Täter in
einen diplomatischen Austausch zu treten. Es dauerte





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

20 Jahre, bis 1965 – wir feiern erst 50 Jahre diplomati-
sche Beziehungen –, bis das offiziell möglich wurde.

Aber es gab viele – darauf will ich heute besonders
eingehen –, die sich vor 1965 für die deutsch-israeli-
schen Beziehungen engagiert haben. Der Prozess dorthin
hatte viele Wegbereiterinnen und Wegbereiter. Wir sind
den Menschen, die schon in den 1950er-Jahren begon-
nen haben, erste Kontakte nach Israel zu knüpfen, sehr
dankbar. Es waren Gewerkschaften, es waren Jugend-
und Studentenorganisationen, es war die evangelische
Kirche, die weit vor Aufnahme der offiziellen diploma-
tischen Beziehungen, teilweise auch unter abenteuerli-
chen Bedingungen und mit großem persönlichen Ein-
satz, eigene Beziehungen zu den Menschen im
jüdischen Staat geknüpft haben. Darauf können wir
sehr stolz sein.

Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende, hat schon
1947 auf dem SPD-Parteitag gesagt, dass das deutsche
Volk zur Wiedergutmachung und zur Entschädigung ver-
pflichtet ist. Das war 1947 ein bedeutender Satz. Carlo
Schmid hat 1951, damals Bundestagsvizepräsident, da-
rauf gedrungen, den jungen Staat Israel als Rechtsnach-
folger für Rückerstattung und Wiedergutmachungsan-
sprüche anzuerkennen. Auch das war wegweisend, bis es
dann 1952 zum Luxemburger Abkommen kam.

Es waren junge Menschen, die sich schon früh für die
Beziehungen zu Israel eingesetzt haben. Die Falken wa-
ren dabei; und der SDS, die damalige SPD-Hochschulor-
ganisation, hat 1951 die Kampagne „Frieden mit Israel“
gestartet und deutsch-israelische Studierendengruppen
gegründet. Es waren evangelische Jugendgruppen, aus
denen 1958 die Aktion Sühnezeichen entstand. Auch die
Gewerkschaftsjugend war dabei.

Wenn wir uns vor Augen halten, wie Ende der
1950er-, Anfang der 1960er-Jahre die ersten Jugend-
gruppen nach Israel reisten, dann wissen wir, dass das
schwierig war. Sie waren nach dem Holocaust natürlich
oft nicht willkommen. Es war für die deutschen Ju-
gendlichen nicht einfach; aber es war auch für diejeni-
gen Israelis, die deutsche Gäste willkommen heißen
wollten und mit ihnen einen Austausch suchten, nicht
einfach. Sie mussten sich Anfeindungen erwehren.
Frau Hasselfeldt hat es schon erwähnt: Im israelischen
Pass stand bis 1956 noch auf Hebräisch und Franzö-
sisch die Bemerkung: Gültig für alle Länder – mit Aus-
nahme Deutschlands. Es war also auch ganz schwierig,
zueinander zu reisen. Dafür, dass in dieser Zeit schon
Menschen begonnen haben, Partnerschaften und auch
Freundschaften zu knüpfen, sind wir dankbar.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will an ein wenig bekanntes, aber wichtiges Ereig-
nis erinnern. Am 26. März 1957 hat der damalige SPD-
Parteivorsitzende Erich Ollenhauer als erster deutscher
offizieller Gast des Staates Israel dort eine öffentliche
Rede gehalten. Er hat sich in dieser Rede für den Bot-
schafteraustausch eingesetzt. Dies hat übrigens zu Pro-
testen der arabischen Länder im Sinne der Hallstein-
Doktrin geführt. Es war in diesen Zeiten also wirklich
noch sehr schwierig, dafür zu plädieren. 1957 fuhr die
erste offizielle Delegation des Deutschen Gewerk-
schaftsbundes nach Israel. Seitdem gibt es eine lange
und intensive Partnerschaft mit der Histadrut, dem israe-
lischen gewerkschaftlichen Dachverband.

1965 war es dann so weit – dies feiern wir in diesen
Wochen –: Die offiziellen diplomatischen Beziehungen
haben begonnen. Sie konnten aber nur beginnen, weil in
den Jahren davor von Menschen, die sich engagiert ha-
ben und Wegbereiter dieser Kontakte waren, ein Netz
geknüpft wurde. Dazu passt auch, dass es Johannes Rau
war, der im Jahr 2000 als erstes deutsches Staatsober-
haupt vor der Knesset gesprochen hat und auch als Erster
dort eine Rede auf Deutsch gehalten hat, worüber in Is-
rael damals heftig diskutiert wurde. Es war eine wegwei-
sende und bewegende Rede, in der er um Vergebung bat.

Ende der 1960er-Jahre wurde der deutsch-israelische
Jugendaustausch auch offiziell etabliert. Er ist bis heute
sehr lebendig. Mein Kollege Achim Post hat schon da-
rauf hingewiesen: 700 000 Menschen haben bisher teil-
genommen. Etwa 300 Austauschprojekte gibt es pro
Jahr. Seit 2001 wird dies von ConAct organisiert, dem
Koordinierungszentrum für den deutsch-israelischen Ju-
gendaustausch in Wittenberg. Ich danke allen, die sich
dort engagieren, sehr herzlich für diese Begegnungsar-
beit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich selbst hatte 1996 das Glück, gemeinsam mit unse-
rer heutigen Ministerin Andrea Nahles, sie war damals
noch Juso-Bundesvorsitzende, dabei zu sein, als das
Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem gegründet wurde.
Das ist eine einmalige trilaterale Initiative, die es bis
heute gibt, die gemeinsam von Deutschen, Israelis und
Palästinensern getragen wird und die trotz aller Krisen,
Terroranschläge und Kriege, die seither stattgefunden
haben, weiter existiert, weil es junge Menschen gibt, die
immer wieder beharrlich und unverdrossen daran arbei-
ten, dass die zwischen Deutschen, Israelis und Palästi-
nensern geknüpften Fäden nicht zerreißen.

Mir geht es immer wieder so: Wenn man dort ist – ich
bin oft in Israel –, wenn man über die Lage im Nahen
Osten verzweifelt ist und wenn man so gar keine Fort-
schritte, sondern eher Rückschritte wahrnimmt, dann ist
es ein Hoffnungszeichen, dass es dort diese Menschen
gibt, dass dort Begegnung und Verständigung möglich
sind. Ich bin mir ganz sicher: Wenn Menschen die
Chance haben, zueinanderzukommen, sich kennenzuler-
nen, miteinander zu reden, dann ist das schon ein Frie-
densprozess im Kleinen. Davon brauchen wir noch viel
mehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit kann in der Tradition all der Kontakte, die ich auf-
gezählt habe, ein kleiner Beitrag dafür geleistet werden,
dass Israel eine friedliche Zukunft hat.





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

Ich will genau wie meine Vorredner betonen: Wir
müssen gerade in Deutschland besonders sensibel sein,
wenn es um antisemitische Tendenzen in der Gesell-
schaft geht. Wir verzeichnen in diesem Jahr eine Zu-
nahme antisemitischer Straftaten um 25 Prozent. Das ist
ein unhaltbarer Zustand. Dagegen müssen wir uns alle
gemeinsam engagieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Nahostkonflikt wurde im letzten Jahr instrumen-
talisiert, und wir haben offen antisemitische Demonstra-
tionen erlebt. Ich sage ganz deutlich zu Gregor Gysi: Ich
bin Ihnen dankbar, dass Sie hier und heute klare Kante
gezeigt haben. Denn in meiner Nachbarstadt Essen gab
es eine Demonstration, bei der wirklich erschreckende
antisemitische Parolen geäußert wurden und die von Tei-
len der nordrhein-westfälischen Linkspartei unterstützt
wurde. Deshalb: Vielen Dank! Ich glaube, wir müssen
uns gemeinsam gegen jeden Antisemitismus wehren und
ihm entgegenstehen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist selbst-
verständlich immer möglich. Es gibt auch niemanden,
der sie unterbinden will, wenn sie demokratisch geäußert
wird. Was wir aber erlebt haben, ist, dass diese Kritik in
eine Kritik an den Juden insgesamt und an Israel insge-
samt übergesprungen ist und ein Gleichsetzen der Juden
in Deutschland mit der israelischen Regierungspolitik
stattgefunden hat. Gegen diesen Antisemitismus stellen
wir uns mit aller Deutlichkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Israel und Deutsch-
land sind Verbündete, Partner und Freunde. Viele Abge-
ordnete aus allen Fraktionen bemühen sich in der
Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und weit da-
rüber hinaus ganz besonders um diese Beziehungen;
denn sie sind für uns elementarer Bestandteil unseres
politischen Selbstverständnisses. Der freundschaftliche
und kritische Austausch bleibt eine wichtige Grundlage
für die Beziehungen unserer beiden Staaten.

Mir geht es so wie sicherlich vielen von Ihnen – ich
hoffe, allen hier –: Ich werde mich immer dafür einset-
zen, dass der demokratische und jüdische Staat Israel
existieren kann. Ich wünsche den Menschen in Israel,
dass sie in einem Staat mit dauerhaft anerkannten und si-
cheren Grenzen leben können – neben einem unabhängi-
gen, demokratischen und lebensfähigen palästinensi-
schen Staat, Seite an Seite, in Frieden und Sicherheit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810306100

Vielen Dank, Kerstin Griese. – Nächster Redner:

Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1810306200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Auch ich möchte im Namen unserer Fraktion deut-
lich hervorheben, wie wichtig uns diese Debatte ist und
wie wichtig auch das Andenken an das 50-jährige Jubi-
läum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Israel ist.

Kerstin Griese hat aus meiner Sicht gerade sehr schön
beschrieben, dass sich die Sozialisation jüngerer Politiker
über mehrere Jahrzehnte erstreckt und dass das eigene
Verständnis – das gilt über die Parteigrenzen hinweg – na-
türlich vor allem durch die politischen Stiftungen geprägt
wird. Man wächst in Deutschland in dem Bewusstsein
auf, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Is-
rael nicht irgendwelche, sondern besondere Beziehungen
sind. Diese besonderen Beziehungen leiten sich vor allem
aus den schrecklichen Ereignissen des Holocausts ab.

Unsere Fraktion hat diese Woche eine Veranstaltung
durchgeführt und versucht, in diesem Rahmen die junge
Generation, junge Vertreter aus Israel, zu Wort kommen
zu lassen. Mich hat besonders beeindruckt, dass eine
junge Deutsche namens Melody Sucharewicz, die in Is-
rael lebt, sich in München sehr stark für das jüdische Le-
ben eingesetzt hat und bei unserer Veranstaltung aus Is-
rael zugeschaltet war, deutlich hervorgehoben hat, dass
es mit Worten allein nicht getan ist, sondern dass sich
ganz besonders an Taten bemisst, was diese Freund-
schaft wirklich ausmacht.

Da muss ich natürlich sagen: Wir haben in sehr vielen
Diskussionen, auch über die Parteigrenzen hinweg, im-
mer alles getan, um die Existenz des jüdischen und de-
mokratischen Staates Israel zu garantieren. In diesem
Geist sollten wir auch diese Debatte führen. Wir sollten
über die Parteigrenzen hinweg alles tun, was notwendig
ist, um die Existenz des jüdischen Staates dauerhaft zu
garantieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aus dem Holocaust leitet sich nicht nur die Verant-
wortung ab, sich seiner Geschichte bewusst zu sein. Es
ist richtigerweise gesagt worden, dass es auch darum
geht, entschlossen gegen Antisemitismus vorzugehen. Er
ist in vielen gesellschaftlichen Schichten vorhanden. Da-
bei geht es nicht nur um den externen Antisemitismus,
der zu uns gekommen ist – zum Beispiel durch aggres-
sive arabische Jugendliche oder in Form von Debatten,
die eigentlich im Nahen Osten geführt wurden, mittler-
weile aber auch in großen Städten und in Ballungsräu-
men bei uns geführt werden; diese Debatten sind über
das Internet zu uns geschwemmt worden –, sondern na-
türlich auch um Vorurteile und Stereotype, die bedient
werden.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Antisemitismus geht – das besagt auch eine Studie
des American Jewish Committee – quer durch alle Ge-
sellschaftsschichten. Insofern stellt sich nicht nur die
Frage, ob man sich Neonazis entgegenstellt – das ist eine
Selbstverständlichkeit – oder versucht, Widerstand in ir-
gendeiner Form an Demonstrationen und spektakulären
Ereignissen festzumachen; vielmehr spielen auch der all-
tägliche Antisemitismus und die Doppelstandards, die
gegenüber Israel angewandt werden, eine Rolle. Hier
muss man sehr wachsam sein und sagen: Wehret den
Anfängen!

Wenn wir die Forderung „Nie wieder!“ ernst nehmen,
dann geht so etwas wie das, was unser Fraktionsvorsit-
zender Volker Kauder vorhin am Beispiel der Israel-
Fahne beschrieben hat, überhaupt nicht. Es ist nicht ak-
zeptabel, dass wir uns verstecken und unser Bekenntnis
zum Staate Israel so passiv zum Ausdruck bringen, dass
ein Einsatzleiter bei einem Fußballspiel der Meinung ist,
man dürfe keine Israel-Fahne zeigen. Ich glaube, er wäre
bei der Flagge eines anderen Landes nie auf die Idee ge-
kommen, so etwas zu tun. Das war wirklich beschämend
und ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo wir den Weg
für Antisemitismus bereiten. Denn wenn man so wie die
Staatsgewalt an dieser Stelle zurückschreckt, darf man
sich nicht wundern, dass andere das als Einladung wahr-
nehmen, noch viel weiter zu gehen. Deshalb war es
wichtig, dass Volker Kauder das angesprochen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte diese Debatte aber auch nutzen, um auf
die aktuelle Situation in Israel einzugehen. In fast allen
Reden ist gesagt worden, dass wir froh sind, dass Israel
ein demokratisches Land ist. Es ist das einzige demokra-
tische – auch mit einem sehr breiten, pluralistischen Par-
teienspektrum ausgestattete – Land in der Region, das
sich im Grunde zu jedem Thema unterschiedliche Mei-
nungen bildet. Jeder von uns könnte zu jeder politischen
Diskussion in Israel, in der ganz kontroverse Meinungen
vertreten werden, einen Vertreter benennen.

Gerade weil Israel das einzige Land ist, in dem die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, überhaupt die
Herkunft der Menschen keine Rolle spielt, ist es ganz
bemerkenswert, dass Israel diesen demokratischen,
streitbaren Prozess auch bei sich – anders als alle ande-
ren Nachbarn – organisiert und konsequent durchhält.
Mit Blick auf unsere Geschichte, aber auch wegen der
bisherigen Erfolgsgeschichte Israels steht es uns nicht
an, Israels Politik in Oberlehrermanier per se zu kritisie-
ren.

Manche haben sich heute zur Regierungsbildung in
Israel geäußert. Ich bin froh, dass Israel eine Regierung
gefunden hat. Sie ist demokratisch legitimiert. Es ist an
den Israelis, zu entscheiden, welchen Weg sie demokra-
tisch wählen, und es ist nicht an uns, das zu beurteilen.
Deshalb hat die Regierung Netanjahu – auch die neue
Regierung unter ihm – genau dieselben fairen Chancen
wie jede andere demokratische Regierung in der westli-
chen Welt verdient. Insofern sollten wir auch weiterhin
eng und vertrauensvoll mit Netanjahu zusammenarbei-
ten und vielleicht das eine oder andere, was im Wahl-
kampf gewesen ist, hinter uns lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin über die aktuelle außenpolitische Situation
Israels sehr besorgt. Die Freude über das Abkommen mit
dem Iran teile ich dezidiert nicht. Ich nehme die Sorgen
Israels sehr ernst und glaube, der Iran ist nach wie vor
ein großer Unruheherd, eine Gefahr, ein Sponsor des in-
ternationalen Terrorismus. Der Iran versucht, der Hege-
mon des Nahen Ostens zu werden, und mit traumwand-
lerischer Treffsicherheit gehen manche auf das Werben
des Irans ein und unterschätzen aus meiner Sicht die von
ihm ausgehenden Gefahren.

Ich glaube, dass die in der Rede von Netanjahu in
Washington geäußerten Sorgen berechtigt sind. Auch
wenn ich nicht mit allen in diesem Hause überein-
stimme, glaube ich, dass das ein Punkt ist, der definitiv
zur Betrachtung der deutschen Außenpolitik gehören
muss.

Gerade in diesen Tagen, in denen man sagt, man
wolle das Existenzrecht des jüdischen Staates weiterhin
garantieren – das ist nicht nur Staatsräson, sondern auch
Verpflichtung für uns alle –, muss man daraus verschie-
dene außenpolitische Ableitungen vornehmen und im
Nahen Osten, wo es nie nur Schwarz oder Weiß, sondern
auch sehr viele Grautöne gibt, Konzessionen machen,
die, obwohl man sich vielleicht etwas anderes ge-
wünscht hätte, notwendig sind.

Insofern begrüße ich es ausdrücklich, dass unser Au-
ßenminister diese Woche in Ägypten war und Gespräche
geführt hat. Ich möchte an dieser Stelle aber auch unse-
ren Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, hervorheben.
Volker Kauder war der erste Politiker in Europa, der Prä-
sident el-Sisi besucht, ihm die Hand gereicht und gesagt
hat: Bei allen Schwierigkeiten, die Ägypten gerade hat,
brauchen wir Ägypten, brauchen wir eine stabile Regie-
rung in Ägypten. Die jetzige, bedauerlicherweise – das
hätten wir uns anders gewünscht – nicht demokratisch
legitimierte Regierung Ägyptens ist bei weitem besser
als die vorherige unter Mursi, die zwar demokratisch ge-
wählt, aber extremistisch war.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das war ein mutiger Schritt, Volker Kauder. Ich
glaube, es ist auch richtig, dass Frank-Walter Steinmeier
diesem Schritt jetzt gefolgt ist und dass auch die Bun-
deskanzlerin Präsident el-Sisi hier in Berlin treffen wird.

Ein letzter Gedanke. Selbstverständlich ist das Ver-
hältnis zu Saudi-Arabien nicht einfach, sondern bringt
große Schwierigkeiten mit sich. Es tut sich wohl nie-
mand leicht mit dem Verhältnis zwischen Saudi-Arabien
und Westeuropa. Trotzdem ist Saudi-Arabien ein wichti-
ger Partner für Israel. Wir sollten diese Beziehung des-
halb nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern immer
mit Bedacht abwägen, welche Folgen es mit sich
brächte, wenn wir gegenüber dem Iran zu gutgläubig
aufträten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810306300

Danke, Philipp Mißfelder. – Nächster Redner in der

Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1810306400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Redner aller Fraktionen haben die große Bedeu-
tung der diplomatischen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel hervorgehoben. Herr Kollege
Nouripour, Sie haben Bezug genommen auf den Antrag
der Koalitionsfraktionen, den Sie unterstützen wollen,
wofür wir jetzt schon „Herzlichen Dank“ sagen, und
haben bedauert, dass es kein gemeinsamer Antrag mit
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. Herr
Kollege Nouripour, es war nicht beabsichtigt, die
Grünen dort auszuschließen, und wir sollten uns für die
nächste Beratung vornehmen, so etwas gemeinsam zu
formulieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch nicht das gesamte Haus! Es gibt hier vier Fraktionen! Uns auch!)


Ich habe festgestellt, dass es eine große Übereinstim-
mung zwischen dem, was seitens Ihrer Fraktion hier ge-
sagt worden ist, und den Erklärungen von Volker
Kauder, Gerda Hasselfeldt und der sozialdemokratischen
Fraktion gegeben hat. Insofern: Wenn wir in diesem
Punkt gemeinsam an einem Strang ziehen, dann ist das,
glaube ich, insgesamt gut für das Hohe Haus und auch
für die deutsch-israelischen Beziehungen, und darum
geht es uns ja vor allen Dingen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])


Frau Kollegin Sitte, ich komme jetzt zu Ihrem Zwi-
schenruf und auch zu der in der Tat bemerkenswerten
Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden, die gute Ansätze ent-
halten und auch eine große Annäherung an Positionen
der Koalitionsfraktionen gebracht hat. Sie haben aber
– aus meiner Sicht: untertreibend – bedauert, Herr
Kollege Dr. Gysi, dass es zwischen der DDR und Israel
keine diplomatischen Beziehungen gegeben hat. Es war
schon noch weniger: Die DDR hatte geradezu ein Nicht-
Verhältnis zu Israel.

Während sie ihre politische Legitimation immer darin
zu finden meinte, ein antifaschistischer Staat und auch
irgendwie das bessere Deutschland zu sein, war gerade
die Ansicht der SED und der DDR zu Israel und zum
Völkermord, der durch deutsche Hand an den Juden in
Europa verübt worden ist, eine ganz große Lebenslüge
des Kommunismus. Ich glaube, das muss man heutzu-
tage feststellen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Wo hat es denn überall Kommunismus gegeben?)

Die SED-Führung hat im Grunde jede moralische
Schuld und jegliches Bemühen um Wiedergutmachung
für den Völkermord an den Juden abgelehnt. Gerda
Hasselfeldt hat vorhin betont, wie wichtig es als Voraus-
setzung natürlich war, dass Israel ein anderes, ein neues
Deutschland, vertreten durch Konrad Adenauer, Willy
Brandt und viele andere – auf Ollenhauer ist ja auch zu
Recht hingewiesen worden –, gegenüberstand, welches
in großer Dankbarkeit die Offenheit von David Ben-
Gurion und vielen anderen erfahren konnte. Hier muss
man sagen und feststellen: Auch an dieser Stelle hat die
SED-Führung vor der Geschichte Deutschlands vollstän-
dig versagt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: 25 Jahre nach der Einheit!)


Ich finde, wenn wir hier 50 Jahre diplomatische Bezie-
hungen zwischen Deutschland und Israel miteinander
feiern und uns darüber freuen, dann gehört es schon zur
Ehrlichkeit, dies auch zu sagen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Globke haben Sie zum Staatssekretär gemacht! – Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


– Na gut. Herr Kollege Dr. Gysi, Sie versuchen hier jetzt
in dieser Art und Weise, mit kleiner Münze aufzurech-
nen. Ich will schon festhalten, dass das völlige Missver-
hältnis der DDR zu dem, was in der Zeit zwischen 1939
und 1945 geschehen ist, in der Debatte aus meiner Sicht
zu wenig gewürdigt wurde.

Herr Nouripour hat sich hier hingestellt, auf seine ira-
nische Herkunft hingewiesen und gesagt – ich versuche,
Sie sinngemäß zu zitieren; ich habe es mitgeschrieben –:
Wer sich zu Deutschland bekennt, der bekennt sich auch
zur deutschen Verantwortung. – Dazu kann ich nur sa-
gen: Das imponiert mir, und so muss es sein. Das kann
man nur als das Ideal hinstellen. Das ist in der DDR eben
völlig gescheitert. Deswegen bleibe ich dabei: Das, was
Sie dazu gesagt haben, war bestenfalls eine Untertrei-
bung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


– Das trifft Sie an einem empfindlichen Punkt. Wir kön-
nen den Antizionismus in der kommunistischen Bewe-
gung an anderer Stelle gerne noch einmal vertieft aufar-
beiten. Das ist ein wichtiger Punkt, und ich wäre schon
froh, wenn Herr Dr. Gysi in der Zukunft innerhalb seiner
Fraktion die notwendige Kraft hätte, alle Veranstaltun-
gen zu untersagen, die auch nur den Anschein eines anti-
israelischen Zungenschlages haben. So war das kürzlich
bei dem sogenannten Fachgespräch, bei dem sich die
unwürdige Verfolgung des Herrn Vorsitzenden der
Linksfraktion in die Toilettenräume des Deutschen
Bundestages ereignete. Ich wünsche mir im Deutschen
Bundestag keine einzige antiisraelische Veranstaltung,
auch bei den Linken nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


(A)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

Kollege Nouripour hat richtigerweise gesagt, dass wir
das Ganze nicht ritualisieren dürfen. Eine wichtige
Aufgabe in der Zukunft ist, dass wir – neben den
Beschlüssen und all dem Guten, das es gegeben hat – da-
rauf achten, dass die Veranstaltungen und die Austausch-
programme und das, was es an kulturellem und gesell-
schaftspolitischem Austausch gibt, nicht irgendwie
rituell ablaufen, sondern in die Tiefe gehen und die Men-
schen erreichen. Das ist sicherlich leichter gesagt als ge-
tan.

Ich sage israelischen Politikern immer wieder – auch
in aktuellen Debatten –, wenn sie sich beklagen und –
vollkommen zu Recht – auf die geopolitische Situation
hinweisen, in der sie sich befinden, dass es in verschie-
denen Parlamenten in Europa Beschlüsse gibt, die eine
einseitige Anerkennung Palästinas vorsehen – das wird
im Deutschen Bundestag auf Initiative der Linksfraktion
wieder diskutiert; das ist ja politisch legitim –: Es ist
auch eine Aufgabe israelischer Politik, in Europa präsent
zu sein und dafür zu sorgen, dass Deutschland – auf-
grund seiner besonderen Situation – nicht sozusagen
zum letzten Verteidiger israelischer Positionen in Europa
wird. Wir müssen mehr Verständnis für die Situation er-
reichen, in der sich Israel befindet. Das ist auch – das
kann man unter Freunden, glaube ich, durchaus formu-
lieren – eine Bringschuld der israelischen Politik. Israeli-
sche Politiker müssen spätestens jetzt das gesamte Wahl-
kampfgetöse hinter sich lassen und aktiver in Europa
auftreten, um ihre Position und Situation zu erläutern.

Das Zweite ist – das wurde in dieser Debatte schon er-
wähnt; auch das ist leichter gesagt als getan –: Die Besu-
che vor Ort sind – da folge ich Ihnen, Herr Gysi – durch
nichts zu ersetzen, sowohl in Israel als auch in der West-
bank und im Gazastreifen. Da sollte man gewesen sein,
um das einmal selber zu erleben. Aber man muss die be-
sondere geopolitische Situation Israels im Unterschied
zur deutschen sehen. Es ist unser Glück, dass wir nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs von Freunden umzingelt
sind, wie man so schön sagt. Israels geopolitische Situa-
tion ist, dass es, wenn auch nicht überall, ein kleines
Staatsgebiet in einer sehr feindlichen Umgebung zu ver-
teidigen hat. Die Situation auf dem Sinai und in Ägypten
wurde von Philipp Mißfelder schon angesprochen; sie
ist außerordentlich schwierig. Dort gibt es Al-Qaida-
Verbände. Bedrohungen gehen aber auch vom libanesi-
schen und vom syrischen Staatsgebiet aus. Daher gilt in
der Tat das, was praktisch alle Redner dazu gesagt haben:
Das israelische, das jüdische Volk hat nur diesen Staat
bzw. das Staatsgebiet, auf dem es in Frieden und Freiheit
leben kann. Es ist unsere besondere Verantwortung, dafür
zu sorgen, dass das auch in Zukunft möglich ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810306500

Vielen Dank, Johann Wadephul. – Letzte Rednerin in

der Debatte ist Gitta Connemann für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810306600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 50 Jahre

deutsch-israelische Beziehungen, das ist eine einzigar-
tige Geschichte – von Leid, Trauer, Schuld, Versöhnung,
Partnerschaft und Freundschaft. Dazu gehört natürlich
der Blick auf die Wurzeln unserer Beziehungen. Die
Schoah ist zu Recht in jedem Beitrag angesprochen
worden: Die Vernichtung, die Verfolgung und die Ent-
wurzelung sind Teil der Geschichte vieler Familien in Is-
rael, ebenso wie übrigens die Sehnsucht nach Heimat.
Ja, es grenzt an ein Wunder, dass inzwischen mehr als
100 000 Juden diese Heimat wieder in Deutschland
gefunden haben. Ja, es grenzt an ein Wunder, wie die
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sich ent-
wickelt haben: eng, stark, vertraut. Aus meiner Sicht ist
ein aktuelles Abkommen ein besonderer Beleg dafür:
Seit kurzem nehmen wir als Deutschland konsularische
Aufgaben für israelische Staatsangehörige in den Län-
dern wahr, in denen Israel keine Vertretung hat. Das
zeigt, welches Vertrauen mit Blick auf das Wohlergehen
seiner Bürger Israel uns entgegenbringt. Das grenzt auch
an ein Wunder. Aber Wunder müssen behütet werden,
wie übrigens auch Beziehungen gepflegt werden müs-
sen. Sie gestatten mir sicherlich an dieser Stelle, auch
auf Gefahren hinzuweisen.

Erstens: die Gefahr der Oberflächlichkeit. Bei einer
Veranstaltung in dieser Woche wurde ein Witz erzählt,
der diese Gefahr sehr anschaulich beschreibt. Ich erzähle
ihn hier: In einem Café in Tel Aviv treffen sich zwei
Deutsche. Der eine schreibt gerade einen langen Text in
seinen Laptop. Der andere fragt ihn: „Du bist hier, wie
schön. Wann bist Du gekommen?“ – „Gestern.“ –
„Wann fährst Du wieder?“ – „Morgen.“ – „Und was
machst Du hier?“ – „Ich schreibe ein Buch.“ – „Wie ist
der Titel?“ – „Israel – gestern, heute und morgen.“

Leider begegnet man in Deutschland diesem Typus
des Nahostverstehers häufig. Viele haben ein Bild,
geprägt durch die Medien. Israel wird reduziert auf
Begriffe wie Wüste, Krieg, Unterdrückung. Einem wer-
den diese Bilder übrigens nicht gerecht: der Realität.
Wer sich die Mühe macht, genau hinzusehen, entdeckt
ein unglaublich faszinierendes Land: eine lebendige
Demokratie, in der Juden wie Araber wählen dürfen,
eine Vielzahl von Parteien, eine unabhängige Justiz,
freie Medien, eine innovative Wirtschaft, ein unglaub-
lich lebendiges Land. Aber es ist eben auch ein kleines
Land, das seit seiner Gründung mit dem Rücken an der
Wand steht. Ich wünsche uns deshalb zu diesem beson-
deren Geburtstag: Offenheit, die Bereitschaft, sich ein
eigenes Bild zu machen.

Zweitens: die Gefahr der Entfremdung. Neueste Um-
fragen zeigen einen ganz klaren Trend. Viele Menschen
in unserem Land interessieren sich außerhalb des Kon-
flikts mit den Palästinensern nicht mehr für Israel. Sie
sind der steten Erinnerung an die Schoah überdrüssig,
ebenso der Gedenkveranstaltungen, die zum Teil zu Ri-
tualen geworden sind. Sie entfernen sich von Israel, aber
übrigens auch von uns, der politischen Elite mit ihrem
deutlichen Bekenntnis zu und für Israel.





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

Wie lassen sich Interesse und Zuneigung wieder ent-
fachen? Dazu gehört erst einmal, den anderen zu verste-
hen. Das heutige Deutschland und Israel sind zwar zu
nahezu gleicher Zeit entstanden, aber zu vollkommen
unterschiedlichen Bedingungen. Wir sagen: Nie wieder
Krieg. – Die Israelis sagen: Nie wieder Opfer. – Beide
haben dafür Argumente; denn beide haben aus ihrer Ge-
schichte gelernt. Aber es sind eben auch zwei Züge, die
in unterschiedliche Richtungen fahren. Das zeigen auch
die Umfragen: Je jünger die Befragten, desto skeptischer
stehen sie dem jeweils anderen Partner gegenüber. Der
Brückenschlag kann nur über die Menschen gelingen.
Ich wünsche mir deshalb, als zweiten Wunsch zu diesem
besonderen Geburtstag, dass sich vor allem junge Israe-
lis und junge Deutsche begegnen: über Schüleraustau-
sche, Städtepartnerschaften, Studienaufenthalte. Am
Ende ist das Wichtigste: die Begegnung.

Drittens: der Antisemitismus. 20 Prozent der Men-
schen in unserem Land sind der Ansicht: Die Juden sind
doch selber schuld. – Die Folgen erleben wir wöchent-
lich. Menschen werden bei uns angepöbelt, bedroht oder
sogar angegriffen, wenn sie sich als Juden zu erkennen
geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. „Jude,
Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf allein!“ –
Dieser Satz war im vergangenen Jahr auf deutschen Stra-
ßen zu hören. Von Nazis – ja –, aber auch von Islamis-
ten, von rechts wie von links. Ich schäme mich dafür. Ich
frage mich: Wie sollen unsere jüdischen Mitbürger in ei-
nem solchen Umfeld leben? Deshalb wünsche ich mir zu
diesem besonderen Geburtstag ein klares Bekenntnis:
Jüdisches Leben gehört zu uns. Jüdisches Leben ist Teil
unserer Identität und unserer Kultur.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein solches Bekenntnis ist die Debatte heute, hier an die-
sem Ort, das Bekenntnis aller Abgeordneten, über Par-
tei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Das gibt mir Hoff-
nung. Die größte Hoffnung geben mir aber die jungen
Menschen, wie unsere internationalen Parlamentsstipen-
diaten. Auch ich darf einen von ihnen begleiten. Er heißt
Tomer. Ich habe Tomer gefragt, was er sich als junger Is-
raeli zu diesem besonderen Geburtstag wünscht. Er
sagte: Ich wünsche mir Offenheit, Ehrlichkeit, Ver-
trauen. – Ich persönlich glaube, das sind die besten Wün-
sche, um das Wunder, von dem wir sprachen, zu bewah-
ren.

Masel tov!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810306700

Vielen Dank, Gitta Connemann. – Damit schließe ich

eine sehr würdige Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4803 mit dem Titel „50 Jahre diplomatische Bezie-
hungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der
Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Damit ist der Antrag bei Zustimmung von
allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4818 mit dem
Titel „50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Bezie-
hungen – Einmaligkeit und Herausforderung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.

Ich bitte Sie, die Plätze zu wechseln, falls Sie die
nächste Debatte nicht verfolgen wollen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 19 a auf:

5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen
grundlegenden Wandel in der Asylpolitik

Drucksache 18/3839
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine faire finanzielle Verantwortungs-
teilung bei der Aufnahme und Versorgung
von Flüchtlingen

Drucksache 18/4694
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort als erster
Rednerin Ulla Jelpke für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810306800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Zeitpunkt für diese Debatte könnte nicht günstiger sein;
denn morgen findet bekanntlich im Kanzleramt der
Flüchtlingsgipfel statt. Die Linke diskutiert seit langem
mit Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsorganisatio-
nen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch mit den Frak-
tionen in Ländern und Kommunen über einen Wandel in
der Flüchtlingspolitik. Heute stellen wir dieses umfas-
sende Konzept vor. Wir brauchen einen grundlegenden
Paradigmenwechsel in der Asylpolitik: weg von der ge-





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

scheiterten Politik der Abschreckung hin zur Integration
von Flüchtlingen von Anfang an.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir gehen von der Realität aus: Die Mehrheit der
Asylsuchenden – das zeigen auch die Zahlen – erhält ge-
genwärtig einen Schutzstatus in Deutschland. Beispiels-
weise Flüchtlinge aus Ländern, in denen Krieg herrscht,
also aus Syrien, Irak, aber auch Afghanistan, werden
langfristig und dauerhaft hier leben. Deswegen muss das
Leitbild bei ihrer Aufnahme eine schnelle Integration
sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Zeit ihres Asylverfahrens sollte nicht ungenutzt blei-
ben. Selbst der Bundesinnenminister fordert inzwischen,
noch nicht anerkannte Flüchtlinge zu Integrationskursen
zuzulassen – allerdings nur, wenn sie gute Chancen auf
Asyl haben. Das ist zwar ein richtiger Schritt in die rich-
tige Richtung, doch nach unserer Auffassung sollten alle
Asylsuchenden Zugang zu Sprachkursen erhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Flüchtlinge unterliegen integrationshemmenden Son-
dergesetzen. Statt der Anwendung des Asylbewerber-
leistungsgesetzes fordern wir ihre Einbeziehung in das
allgemeine System der sozialen Sicherung, vor allen
Dingen auch der Gesundheitsversorgung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Residenzpflicht muss endlich vollständig aufge-
hoben werden. Asylsuchende sind keine Kriminellen.
Sie müssen das Recht haben, sich frei im Land zu bewe-
gen. Flüchtlinge müssen uneingeschränkt Zugang zum
Arbeitsmarkt haben. Dafür plädiert übrigens auch die
Bundesagentur für Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Flüchtlinge sollen die Möglichkeit haben, selbst zu ih-
rem Lebensunterhalt beizutragen. Wir wollen die Ideen
und die Tatkraft der Neuankömmlinge nutzen und sie
nicht gegen ihren Willen zu abhängigen Leistungsemp-
fängern machen.

Meine Damen und Herren, wir wollen eine Aufnah-
mepolitik in maßgeblicher Verantwortung des Bundes.
Flüchtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung. Da
dürfen wir nicht die Verantwortung auf die Schwächsten,
und zwar auf die Kommunen, abwälzen. Die Folgen die-
ser Politik sind bekannt: Die Kommunen sind überfor-
dert und bringen Asylbewerberinnen und Asylbewerber
in menschenunwürdigen Unterkünften unter. Oft sind es
Liegenschaften, die in der Pampa, im Wald oder sonst
wo liegen. Die Flüchtlinge sind dann von öffentlichen
Verkehrsmitteln abgeschnitten. Das geht so nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieser Willkür wollen wir durch eine bundesgesetzliche
Regelung zur Schaffung einheitlicher und guter Min-
deststandards für die Flüchtlingsaufnahme und -unter-
bringung einen Riegel vorschieben.
Wir sagen auch ganz klar: Flüchtlingsunterbringung
darf nicht zulasten anderer öffentlicher Aufgaben gehen.
Denn wenn deswegen erst einmal ein Schwimmbad oder
ein Jugendklub geschlossen wird, ist die Ablehnung in
der Bevölkerung groß. Damit werden wiederum Rechte
mobilisiert. Auch hierzu müssen wir klar sagen: Wir
wollen dort keinen Pegidas und keinen Neonazis in die
Hände spielen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Wir brauchen eine dauerhafte strukturelle Neurege-
lung zur Entlastung der Kommunen und keine einmali-
gen Geldüberweisungen durch den Bund. Bislang gibt es
nur die Zusage des Bundes für zwei Einmalzahlungen in
Höhe von 500 Millionen Euro für die Jahre 2015 und
2016. Und das reicht hinten und vorne nicht, wie wir
wissen.

Die Linke tritt für ein Flüchtlingsaufnahmegesetz ein,
um eine dauerhafte Übernahme der Kosten für Auf-
nahme und Unterbringung der Asylbewerber während
ihres Verfahrens durch den Bund zu regeln. Durch finan-
zielle Entlastungen könnten Länder und Kommunen ih-
ren eigentlichen Kompetenzen nachkommen, wie bei-
spielsweise Integration, Einbindung in die städtische
Infrastruktur, rechtliche und soziale Betreuung sowie
Bildung und Arbeit. Das wäre genau das, was sicher
leistbar ist.

Meine Damen und Herren, wir wollen nicht allein
eine Umverteilung der Gelder zugunsten von Ländern
und Kommunen – hier hat sich das SPD-Präsidium in-
zwischen unseren Vorschlägen deutlich angenähert –, es
geht uns zugleich um einen inhaltlichen Wandel in der
Aufnahmepolitik. Dazu will die Linke das bisherige
Zwangssystem der Flüchtlingsunterbringung aufbrechen.

Schutzsuchende werden derzeit nach einer bürokrati-
schen Quote über die Länder verteilt und in große Auf-
nahmelager gesteckt, auch dann, wenn sie Verwandte
oder Freunde in Deutschland haben, bei denen sie kos-
tengünstiger und sozial eingebunden unterkommen
könnten. Das wollen wir ändern. Flüchtlinge sollten die
Möglichkeit haben, dezentral und in normalen Wohnun-
gen zu leben. Die zwangsweise Unterbringung in Massen-
unterkünften ist nicht nur in vielen Fällen unmenschlich,
sie ist aufgrund des Bürokratie- und Kontrollaufwandes
sogar mit Mehrkosten verbunden. Das gilt übrigens auch
für die Versorgung mit Sachmitteln anstelle von Geld-
leistungen. Wir sagen daher: Lasst uns in die Integration
investieren, nicht in Abschreckungspolitik!


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die langen Verfahrensdau-
ern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von
durchschnittlich mehr als sieben Monaten sind inakzep-
tabel. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag waren drei
Monate angedacht. Doch dafür braucht das BAMF deut-
lich mehr Stellen. Zugleich müssen sinnlose Aufgaben
gestrichen werden, zum Beispiel die nach drei Jahren
obligatorisch durchgeführten Asylwiderrufsprüfungen,
die in 95 Prozent der Fälle ohnehin zu nichts führen, da





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

das Asyl bestätigt wird. Damit werden Kapazitäten ge-
bunden und bereits anerkannte Flüchtlinge unnötiger
psychischer Belastung ausgesetzt.

Wir schlagen zudem eine einmalige Altfallregelung
durch Erteilung eines Flüchtlingsstatus bei überlanger
Verfahrensdauer vor. So könnte man beispielsweise den
Bearbeitungsstau bei rund 200 000 Anträgen abbauen.

Bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften und
auf Veranstaltungen im ganzen Land lerne ich immer
wieder Menschen kennen, die sich ehrenamtlich, auch in
Willkommensteams, für die Aufnahme und Unterstüt-
zung von Flüchtlingen engagieren. Sie bieten Lernhilfen
für Flüchtlingskinder an, spielen mit ihnen Fußball oder
Theater, sie begleiten Flüchtlinge zu den Behörden oder
bieten ihnen Kirchenasyl. Ich erinnere auch an die vielen
Aktivisten hier in Berlin und in Hamburg, die seit Mona-
ten, zum Teil zwei Jahre lang, für ein Bleiberecht der
Lampedusa-Flüchtlinge kämpfen – bisher leider ohne
Erfolg. Sie alle verdienen unsere Unterstützung in ihrem
Engagement.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie tragen übrigens nicht nur zu einer besseren Integra-
tion bei, sondern helfen auch, Vorurteile in der Bevölke-
rung abzubauen.

Doch leider setzt diese Regierungskoalition in der
Flüchtlingspolitik weiter auf Abschreckung statt auf In-
tegration. Das zeigt zum Beispiel die Neuregelung des
Aufenthaltsbeendigungsgesetzes, über dessen Entwurf
wir demnächst hier abstimmen werden. Verbesserungen
bietet er zweifellos für Geduldete, die gute Sprachkennt-
nisse haben und einen eigenständigen Lebensunterhalt
vorweisen können. Allen anderen Flüchtlingen droht er
damit, dass sie inhaftiert werden können. Die abschre-
ckende Botschaft, die hinter diesem Gesetzentwurf steht,
ist nicht hinzunehmen. Deswegen lehnen wir ihn ab.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Linke lehnt
eine Unterteilung in gute und schlechte Flüchtlinge ab.
Jeder Mensch, der flieht, hat einen Grund; er flieht nicht
einfach mal eben so und verlässt sein Land und seine Fa-
milie. Deswegen sagen wir: Menschenwürde ist für uns
nicht verhandelbar. Die Türen müssen weiter offen blei-
ben für Menschen in Not.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810306900

Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin in der

Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810307000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst sind wir uns, liebe Ulla Jelpke, offensichtlich
in einem Punkt einig: dass nämlich die vielen ehrenamt-
lichen Helfer, die unser Asylsystem mittragen, deutlich
machen, wie groß das Verantwortungsbewusstsein für
Flüchtlinge in ganz Deutschland ist. Bei ihnen sollten
wir uns heute wieder einmal ganz besonders bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine Allensbach-Studie im Auftrag der Robert Bosch
Stiftung von 2014 zeigt, dass die deutliche Mehrheit der
Bevölkerung in Deutschland für die Aufnahme von
Menschen ist, die persönlich verfolgt werden. Gleichzei-
tig spricht sich aber eine klare Mehrheit für strenge
Asylregeln aus. In der Studie wird diese Forderung fol-
gendermaßen erläutert – ich darf sie zitieren –:

Die Bevölkerung möchte offenbar unterschieden
wissen zwischen Asylbewerbern, die aufgrund per-
sönlicher Verfolgung oder akuter existenzieller Be-
drohung bei uns – legitimerweise – um Asyl nach-
suchen, und solchen, die „nur“ aus wirtschaftlichen
Gründen kommen oder gar das vermeintlich laxe
deutsche Asylrecht ausnutzen.

Ich halte diese Forderung grundsätzlich für berech-
tigt. Es ist daher sehr wohl gerechtfertigt, zwischen un-
terschiedlichen Asylbewerbern zu unterscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die vorliegenden Anträge unterstellen wieder einmal,
dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüber
Flüchtlingen nicht gerecht werde. Es wird wieder einmal
davon gesprochen, wir würden Flüchtlinge nicht will-
kommen heißen. Dieser Vorwurf ist komplett absurd.
Wenn die Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland
so schlecht wären, wenn wir keine Willkommenskultur
hätten, dann würde wohl nicht jeder dritte Asylantrag in
Europa in Deutschland gestellt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In beiden Anträgen wird davon gesprochen, dass die
Bewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtstaatliche
Aufgabe sei. Dem kann man uneingeschränkt zustim-
men. Gleichzeitig wird aber gefordert, der Bund alleine
solle sämtliche Kosten für die Verfahren, für die Unter-
bringung und für die Versorgung der Asylbewerber über-
nehmen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ist ein Widerspruch in sich. Die Verantwortung einseitig
auf den Bund abzuwälzen, ist gerade keine Verteilung
der gesamtstaatlichen Aufgabe, sondern das ist ein Weg-
schieben von Verantwortung auf den Bund. Unser föde-
raler Staat besteht aus Bund, Ländern und Kommunen.
Sie tragen gemeinsam Verantwortung, und das ist auch
gut so.

Die Bundesregierung engagiert sich längst massiv in
der Flüchtlingshilfe. Allein für Syrien haben wir
1,5 Milliarden Euro bereitgestellt und leisten damit ei-
nen wichtigen Beitrag, um die Flüchtlingskrise vor Ort
einzudämmen; denn 3,8 Millionen Syrer befinden sich
außerhalb ihres Landes auf der Flucht und 7,5 Millionen
in Syrien. Da frage ich mich, wo diese Menschen in Ih-
ren Anträgen berücksichtigt werden.





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Der Bund unterstützt aber auch die Länder und Kom-
munen bei ihren Aufgaben. In Bundesimmobilien wur-
den bis heute weit über 22 000 Unterbringungsplätze ge-
schaffen. Der Bund stellt den Kommunen seine
Immobilien mietzinsfrei zur Verfügung und entlastet sie
damit um etwa 25 Millionen Euro pro Jahr. Über das no-
vellierte Asylbewerberleistungsgesetz übernimmt der
Bund jährlich Kosten von 43 Millionen Euro. Weitere
10 Millionen Euro nimmt der Bund den Kommunen
dauerhaft bei den Impfkosten ab. Für dieses und nächs-
tes Jahr wird 1 Milliarde Euro als zusätzliche Unterstüt-
zung bei der Flüchtlingsversorgung bereitgestellt. Wir
haben auch das Baurecht geändert und Flüchtlingsunter-
künfte in Gewerbegebieten ermöglicht, um die Unter-
bringung vor Ort zu erleichtern.

Auch die Bundesländer könnten ihre Kommunen ent-
lasten. Der Freistaat Bayern zum Beispiel übernimmt
vollständig die Kosten für die Unterbringung und Ver-
sorgung von Asylbewerbern. Die meisten Bundesländer
speisen ihre Kommunen aber mit viel zu niedrigen Pau-
schalen ab und rufen stattdessen nach neuem Geld vom
Bund. Beim Flüchtlingsgipfel Ende April in Erfurt war
eine der Hauptforderungen an die rot-rot-grüne Landes-
regierung, die 13,5 Millionen Euro, die der Bund für die
Flüchtlinge in Thüringen bereitgestellt hat, doch bitte
vollständig an die Kommunen weiterzureichen. Das
zeigt mir, dass mehr Geld vom Bund alleine keine Lö-
sung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist in Sachsen noch schlimmer!)


– Na, dann ist es noch schlimmer, wenn es in Sachsen
noch schlimmer ist. – Niemand bestreitet, dass die Be-
wältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtgesellschaft-
liche Aufgabe ist. Sie kann aber nicht mit immer neuen
Forderungen nach mehr Geld oder dem Verschieben von
Verantwortung auf den Bund gelöst werden.

Das zeigt uns auch die aktuelle Asylstatistik – diese
Zahlen müsste man einmal zur Kenntnis nehmen –: Im
ersten Quartal dieses Jahres wurden über 85 000 Asylan-
träge in Deutschland gestellt. Mehr als die Hälfte der
Antragsteller stammt aus den Balkanstaaten, obwohl
ihre Anträge seit Jahren zu fast 100 Prozent abgelehnt
werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hat in diesem Jahr bei 8 324 geprüften Asylanträgen von
Serben in keinem einzigen Fall einen Schutzgrund fest-
gestellt. Bei 11 250 Entscheidungen über Asylanträge
von Kosovaren wurde in nur einem einzigen Fall ein
subsidiärer Schutzgrund festgestellt. Hier müssen wir
gegensteuern; denn diese vielen offensichtlich unbe-
gründeten Asylanträge binden wichtige Ressourcen. Nur
wenn wir auch in den Herkunftsländern Fluchtursachen
bekämpfen und wenn wir Fehlanreize in Deutschland
beseitigen, dann werden wir unsere Kommunen dauer-
haft und nachhaltig entlasten.

Ein wesentlicher Fehlanreiz ist die Vermischung von
Asyl- und Arbeitsmigration. Das belegen auch die An-
hörungen der Menschen vom Westbalkan, die ganz offen
sagen, sie wollen zum Arbeiten zu uns kommen. Das ist
auch gut so. Aber wir haben andere Instrumentarien, um
dafür nach Deutschland in zulässiger Weise einreisen zu
können. Asyl dient ausschließlich dem Schutz verfolgter
Menschen und nicht der Fachkräfteanwerbung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ach!)


Die Union will anerkannten Flüchtlingen zügig helfen
und sie integrieren. Natürlich haben wir im letzten Jahr
auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Aber,
liebe Ulla Jelpke, wir sind natürlich dagegen, dass jeder
Flüchtling ab dem ersten Tag bei uns arbeiten kann; das
ist so. Angesichts der steigenden Gesamtschutzquote,
die aktuell bei 37 Prozent liegt, und der immer noch zu
langen Verfahrensdauer müssen wir die Asylbewerber,
bei denen Schutzgründe offensichtlich sind, schneller in-
tegrieren und ihnen schneller Integrations- und Sprach-
kurse zur Verfügung stellen. Insofern begrüße auch ich,
dass der Bundesinnenminister jetzt angekündigt hat,
dass dies erfolgen soll. Aber – auch das gehört dazu –
bei aussichtslosen Asylanträgen müssen wir für eine
schnelle und zügige Rückführung und dem vorgeschaltet
auch für schnelle Verfahren Sorge tragen. Um die Asyl-
verfahren zu beschleunigen, hat das Bundesamt für Mi-
gration und Flüchtlinge im letzten Jahr 650 zusätzliche
Stellen bekommen. Die Besetzung dieser Stellen braucht
seine Zeit. Angesichts der steigenden Antragszahlen –


(Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


– ich weiß es – und auch angesichts des Rückstandes
müssen wir sicherlich über eine weitere Stellenauswei-
sung nachdenken. Das wird auch erfolgen. Ich hoffe,
dass der morgige Flüchtlingsgipfel hier Ergebnisse
bringt.


(Beifall des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Ich will an dieser Stelle aber sagen: Wenn wir mehr Be-
scheide haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass diese
Bescheide entsprechend vollzogen werden, egal in wel-
che Richtung sie gehen.

Wir haben im letzten Jahr drei Westbalkanstaaten zu
sicheren Herkunftsstaaten erklärt, und die entsprechen-
den Anträge können jetzt schneller bearbeitet werden.
Bayern hat im Bundesrat ein Gesetz vorgelegt, um drei
weitere Balkanstaaten ebenfalls als sicher einzustufen.
Leider verweigern sich hier die rot- und grüngeführten
Länder, dieser Erleichterung zuzustimmen, obwohl auch
der Präsident des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge dies erst kürzlich ausdrücklich empfohlen
hat. Mit diesen Maßnahmen und auch mit den Schnell-
verfahren bei den Kosovo-Anträgen konnten wir trotz
steigender Antragszahlen die durchschnittliche Verfah-
rensdauer von sieben auf fünfeinhalb Monate reduzie-
ren. Unser Ziel bleibt eine Verfahrensdauer von drei Mo-
naten.

Aber Personal und Geld alleine lösen die Krise nicht.
Die globale Flüchtlingskrise – ich will daran erinnern:
über 50 Millionen Menschen befinden sich auf der
Flucht – kann man nicht mit kleinteiligen Maßnahmen
auf nationaler Ebene lösen. Deutschland schottet sich
auch nicht ab. 420 Millionen Europäer können bei uns
problemlos einreisen. Der Flüchtlingsschutz genießt bei





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

uns Verfassungsrang. Die Menschen in Deutschland
übernehmen Verantwortung für die Flüchtlinge, und
auch die Bundesregierung tut dies. Wir versuchen nicht
mit Polemik, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln, den
vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden und die
Flüchtlingsproblematik zu lösen, obgleich uns das nie
vollständig gelingen kann. Die Flüchtlingsproblematik
wird uns auch in diesem Jahr noch intensiv beschäftigen.
Wir sollten gemeinsam auf allen Ebenen dafür Sorge tra-
gen, dass wir nicht nur die Symptome bekämpfen, dass
wir nicht nur mehr Geld fordern, dass wir uns nicht auf
Sprachkurse beschränken, sondern dass wir auch das
Globale im Auge behalten, dass wir auch Europa noch
mehr mit in die Verantwortung nehmen und die vielfälti-
gen Ursachen anpacken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810307100

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta

Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810307200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen
und Bürger auf der Zuschauertribüne! Lassen Sie mich
eingangs kurz sagen: Ich bin immer wieder erschrocken
darüber, wie Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
die ja alle auch aus irgendwelchen Wahlkreisen vor Ort
kommen, technokratisch und kalt ein solches Thema, mit
dem wir alle so verbunden sind, besetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Na, na!)


Ich möchte das jetzt nicht noch aufwerten. Deshalb
gehe ich nicht auf einzelne Fragen ein. Aber ich spreche
Sie, die Bürgerinnen und Bürger, die heute zuhören oder
hier im Saal sind, auch ganz gezielt an. Es gibt so viel
Zustimmung. Es gibt so viel Unterstützung. Es gibt so
viel Verständnis dafür, dass wir in einer so unglaublich
privilegierten Situation in unserem Land leben, weil wir
in Frieden leben und weil wir nicht wie Millionen von
Kindern, Frauen und Männern vor Krieg, vor Gewalt,
vor Terror, vor Diskriminierung fliehen und die Heimat
verlassen müssen. Das tun Menschen nicht einfach nur
so, aus Lust und Laune, sondern sie fliehen aus Not und
Verzweiflung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Verdammt noch einmal, Frau Lindholz, verbinden Sie
doch so etwas einmal mit einem solchen Thema! Was
glauben Sie denn, was Bürgerinnen und Bürger in den
Kirchengemeinden tun? Haben Sie sich den Beschluss
der evangelischen Kirche in Deutschland einmal angese-
hen? Wissen Sie, worüber Menschen vor Ort diskutie-
ren? Es gibt eine breite Zustimmung in der Bevölkerung,
dass wir Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen,
hier aufnehmen und unterstützen.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht strittig!)


Das ist der Punkt, um den es heute geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist der Punkt, um den es auch uns in dieser Debatte
geht.

Hören Sie auf, die Menschen, die fliehen, in Flie-
hende erster und zweiter Klasse einzuteilen! Das steht
Ihnen nicht zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie sind nicht die Asylprüfungsverfahrensinstanz. Men-
schen fliehen, und es gibt hier rechtsstaatliche Prinzi-
pien, nach denen geprüft wird, ob jemand asylberechtigt
ist oder nicht. Diese Prüfung steht nicht Ihnen zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810307300

Frau Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Huber?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810307400

Ja, natürlich.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810307500

Bitte schön, Herr Kollege.


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1810307600

Liebe Kollegin, es ist leider Gottes wieder so, dass

wir in dieser Diskussion gewisse Fakten unterschlagen.
Das hat meine Kollegin vorher schon anklingen lassen.
Es gibt wohl einen Unterschied zwischen Flüchtlingen
aus Krisengebieten. Ich möchte jetzt nicht von Wirt-
schaftsflüchtlingen reden; denn Wirtschaftsflucht klingt
so, als ob man seine ohnehin akzeptable Lebenssituation
verbessern möchte. Ich rede von Armutsflucht.

Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich dessen bewusst
sind, welche Zeichen Sie hier in Ihrer emotionalen Rede
in Richtung jener Verantwortlichen setzen, aus deren
Ländern die Armutsflüchtlinge kommen. Ich möchte
auch auf das Bezug nehmen, was Ihre Vorrednerin Frau
Jelpke gesagt hat.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Es wäre sehr nett, wenn Sie mich ausreden ließen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810307700

Herr Kollege Huber, Sie fragen jetzt die Kollegin

Haßelmann.






(A) (C)



(D)(B)


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1810307800

Gut. – Meine Frage ist, ob Sie sich bewusst sind, wel-

che Signale Sie senden; denn Sie werden diesen Flücht-
lingsstrom vergrößern.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Strom, das sind Menschen! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Lassen Sie mich ausreden! – Wir reden hier nicht nur
von Menschen, die es geschafft haben, hierherzukom-
men, sondern wir reden darüber, dass Sie hier die Ar-
mutssituation von Menschen politisch ausschlachten,
unsere Gesellschaft emotionalisieren


(Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und ihr Fakten vorenthalten, was mit Menschen auf dem
Weg zur Ablegestelle über das Meer geschieht.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfassbar!)


Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie viele Leute in
der Wüste enden? Haben Sie sich Gedanken gemacht,
wie viele Leute sterben, bevor sie das Ufer erreichen?
Sind Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, wenn Sie
hier sagen, wir könnten uneingeschränkt Leute in unse-
rer Gesellschaft aufnehmen? Wissen Sie, was Sie damit
verursachen?

Vielen Dank.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist ja widerlich! Das ist die gleiche Argumentation, als wenn man sagt: Wenn wir Schiffe zur Rettung einsetzen, dann kommen noch mehr Flüchtlingsboote rüber! – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810307900

Können wir uns darauf verständigen, dass jetzt Frau

Haßelmann das Wort hat?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810308000

Meine Damen und Herren, noch habe überwiegend

ich das Wort. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr
Huber, seien Sie sich gewiss, dass ich mir meiner Ver-
antwortung, der Verantwortung des Parlamentes und der
Verantwortung für dieses Thema sehr bewusst bin. Des-
halb kann ich Ihren unfassbaren Beitrag im Hinblick auf
die Einschätzung, was Menschen auf der Flucht angeht,
nur zurückweisen und Ihnen sagen: Ich teile Ihre Auffas-
sung nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, morgen findet im Kanzler-
amt ein Treffen statt, zu dem die Kanzlerin eingeladen
hat. Es sind acht von sechzehn Ländern eingeladen. Es
gibt keine Begründung, keine Erklärung der Bundesre-
gierung, warum nur acht Länder eingeladen sind. Wir
haben mehrere Versuche unternommen, herauszufinden,
warum acht von sechzehn Ländern eingeladen worden
sind. Liegt es an der Farbenlehre, liegt es daran, welcher
Ministerpräsident oder welche Ministerpräsidentin inte-
ressant ist? Es gibt keinen Sachgrund dafür. Acht sind
eingeladen, sechzehn Länder haben wir.

Die Kommunen sind gar nicht mit am Tisch,


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Die Kommunen gehören zu den Ländern!)


obwohl sie die Hauptakteure sind, meine Damen und
Herren. Vor Ort in den Städten und Gemeinden werden
Menschen, die auf der Flucht sind, aufgenommen, vor
Ort wissen die Leute ganz genau, welche Unterstützung
gebraucht wird. Es gibt bis heute keine Erklärung dafür,
warum die Kommunen zu diesem Treffen im Kanzler-
amt nicht eingeladen wurden.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Weil die Kommunen zu den Ländern gehören!)


Die Kommunen gehören aber mit an den Tisch; das
ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Leute vor Ort könnten nämlich genau das einfor-
dern, was auch wir einfordern, was die evangelische Kir-
che einfordert: Wo ist die Gesundheitsversorgung für
Flüchtlinge, die Sie den Ländern längst zugesagt haben?
Vor einem halben Jahr ist das zugesagt worden; doch es
gibt sie bis heute nicht. Wo ist die Initiative in Ihrem
Haushalt oder in Ihrem Nachtragshaushalt zur Erhöhung
der Sprachfördermittel, damit endlich alle Menschen
Zugang zu Sprachförderung haben? Wo ist die Initiative
zur Ausbildung junger Flüchtlinge, minderjähriger
Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen? Wo sind die
Unterstützungsleistungen für Integration, für Trauma-
beratung der vielen Fliehenden, die traumatisiert sind?
All das kommt im Haushalt der Bundesregierung, auch
im Nachtragshaushalt, nicht vor. Da ducken Sie sich hier
auf Bundesebene, im Parlament einfach weg und ma-
chen jetzt eine Besprechung mit acht Ländern, aber auf
keinen Fall mit den Hauptakteuren vor Ort; denn die
würden von Ihnen einfordern, dass Sie endlich handeln
und konkrete Unterstützung bieten bei dieser Aufgabe,
die schließlich eine nationale Aufgabe ist. Das dürfen
Sie nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Die Kommunen werden durch die Länder vertreten!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810308100

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt hat das Wort der

Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Lars Castellucci (SPD):
Rede ID: ID1810308200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will jetzt
einfach versuchen, wieder sachlich in diese Debatte ein-
zusteigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Haßelmann war sehr sachlich!)


Ich glaube auch, die Tonalität macht noch nicht eine gute
Politik aus; das kann sich an unterschiedliche Stellen in
diesem Saal richten.

Wir führen diese Debatte heute nicht nur vor dem
morgigen Tag, an dem ein Flüchtlingsgipfel stattfindet,
sondern wir führen diese Debatte auch zu einem
Zeitpunkt, wo wir die Prognose bekommen haben, dass
sich die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland in diesem
Jahr absehbar verdoppeln wird. Das zeigt den Ernst der
Lage. Das zeigt, dass es nicht nur um deutsche Asylpoli-
tik geht. Das zeigt auch, dass es nicht nur um Asylpolitik
geht. Die Herausforderung ist komplex, und einfache
Antworten gibt es nicht. Das Allerwichtigste ist, dass
mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können;
dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir alle wissen, dass das leichter gesagt ist als getan.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nicht nur reden, sondern auch leisten!)


Viele Entwicklungen, die wir in den letzten Monaten
und Jahren hier auch begleiten, laufen in die völlig
andere Richtung. In den Medien und auch in den Sit-
zungswochen löst eine Krisenregion die andere als
Thema ab. Aber das ist eben unsere Zeit. Wir müssen
uns den Herausforderungen stellen, die sie uns bietet,
und dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen.

Die zweite Ebene – das muss heute auch noch einmal
kurz Thema sein – ist Europa. Wir können ja nicht,
jedenfalls nicht sinnvoll, isoliert über Asylpolitik spre-
chen, denn unsere Grenzen sind in Wahrheit die Außen-
grenzen der Europäischen Union; Europa ist der Zu-
fluchtsort. Vor zwei Wochen haben wir uns hier
anlässlich der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittel-
meer zu einer Schweigeminute von den Plätzen erhoben.
In unser Schweigen dringen die Hilfeschreie der Ertrin-
kenden. Mit Blick auf den Ratsbeschluss, der einen Tag
später getroffen wurde, kann man nur sagen: Sie hätten
besser geschwiegen;


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


denn die Ergebnisse sind unter allen Erwartungen ge-
blieben, die man haben konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dass sich Europa nicht einmal auf eine konkrete Zahl
von Flüchtlingen verständigen konnte, denen man ein
Resettlement anbietet, ist aus meiner Sicht schändlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wiederhole: Wir brauchen neben Grenzschutz und
Bekämpfung von Schleusern eine akut wirksame See-
notrettung. Es ist gut, dass jetzt zwei weitere deutsche
Schiffe im Mittelmeer sind und dort auch Unterstützung
leisten; aber es ist doch absurd, dass sie die Menschen
einsammeln und man nicht einmal weiß, wohin mit
ihnen. Wir brauchen einen Verteilungsschlüssel für
Flüchtlinge in Europa. Wir müssen in Kontingenten, die
uns fordern, aber nicht überfordern – es geht immer um
das rechte Maß –, legale Zugangswege nach Europa er-
öffnen. Wenn es also irgendwo ein Umdenken geben
muss, meine Damen und Herren, dann in allererster
Linie in der europäischen Flüchtlingspolitik. Wir sehen:
Die Menschen kommen ohnehin. Wir können das nur
gestalten; wir können es nicht verhindern.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Barbara Woltmann [CDU/CSU])


Damit zu Deutschland. Auch ich bin überzeugt, dass
wir zu großen humanitären Anstrengungen in der Lage
sind – das zeigen wir auch – und dass wir die Hilfsbe-
reitschaft der Menschen sichern können. Das ist aber an
Voraussetzungen gebunden.

Die erste Voraussetzung ist: Es muss klar sein, dass
unsere Hilfe auf Menschen trifft, die vor politischer
Verfolgung, Krieg und Terror fliehen. Jetzt können wir
beklagen, dass in unseren Asylverfahren auch Menschen
landen, auf die das gar nicht zutrifft; aber wir müssen
uns gleichzeitig fragen: Welche Alternativen haben diese
Menschen? Ich will an dieser Stelle für die SPD-
Fraktion klar sagen: Die Einstufung dreier Staaten als si-
chere Herkunftsstaaten haben wir im Koalitionsvertrag
vereinbart. – Für mehr sind wir nicht zu haben.


(Beifall bei der SPD sowie der Abgeordneten Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Beispiel Kosovo zeigt uns eindeutig, dass wir
auch ohne das Konzept von sicheren Herkunftsstaaten
Erfolge haben können. Von dort sind in der Spitze über
1 000 Menschen am Tag zu uns gekommen. Jetzt liegt
das nur noch im zweistelligen Bereich, und das ohne die
Ausweisung als sicherer Herkunftsstaat. Man macht ein
Grundrecht nicht besser, indem man es einschränkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die zweite Voraussetzung ist, dass die Menschen in
Deutschland das Gefühl haben müssen, dass wir uns mit
aller Kraft auch um ihre Alltags- und ihre Zukunfts-
sorgen kümmern. Es muss sichergestellt sein, dass das,
was wir für Flüchtlinge tun, nicht gegen Kinderbetreu-
ung, nicht gegen Schwimmbäder, nicht gegen Kultur
und nicht gegen soziale Infrastruktur vor Ort geht.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])






Dr. Lars Castellucci


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen – das ist der dritte Punkt, ein sehr wichti-
ger Punkt – die Herausforderung organisatorisch gut
bewältigen, und zwar in einer Verantwortungsteilung
zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Vonseiten der
SPD liegen vor dem morgigen Flüchtlingsgipfel hierzu
Vorschläge vor. Wir wollen die Kommunen von den
Kosten der Flüchtlingsunterbringung und Integration
entlasten. Ich sage: Es macht keinen Sinn, dass wir die
Menschen ins flache Land verteilen, wenn ihr Aufent-
haltsstatus noch völlig ungeklärt ist; da müssen wir
gegensteuern. Die Menschen engagieren sich für Inte-
gration – alle Redner haben das völlig zu Recht mit Lob
versehen –, aber man weiß gar nicht: Trifft das auf Men-
schen, die auf Dauer bei uns bleiben können? Da werden
auch Ressourcen vergeudet.

Wenn wir als Bund stärker in die Verantwortung ge-
hen, dann ist es auch unsere Aufgabe, für Standards zu
sorgen, also zu sagen, was wir dafür haben wollen. Wie
sehen die Unterkünfte aus? Wie sieht es mit der Sozial-
betreuung aus? Welche Anstrengungen werden in
Richtung Arbeitsmarkt unternommen? Schließlich: Wir
treten für die Übernahme der Gesundheitskosten nach ei-
nem bundeseinheitlichen Verfahren ein. Das haben wir
vorgelegt.

Damit sind wir insgesamt wieder bei der Frage des
Geldes. Es ist richtig: Es geht darum, Lasten zu teilen, es
geht darum, Verantwortung zu teilen, und es geht um
Ressourcenteilung. Man kann das Ganze als einen
Kuchen sehen. Wenn mehr Menschen ein Stück haben
wollen, dann bleibt für jeden weniger übrig. Aber es gibt
auch die andere Perspektive, und diese andere Perspek-
tive ist ebenfalls richtig, nämlich: Wer teilt, wird reicher.
Genau das ist es, was die vielen tausend Helferinnen und
Helfer vor Ort spüren, wenn sie sich um Flüchtlinge oder
ganz einfach um andere kümmern. Es gilt der alte Satz
von Goethe: Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Sicht, dass das Teilen uns auch reicher machen
kann, gibt uns die Kraft, die vor uns liegenden Heraus-
forderungen nicht nur anzupacken, sondern auch zu
meistern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810308300

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt die Kollegin Barbara Woltmann.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810308400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Jeder, der politisch verfolgt ist und in Deutschland nach
Schutz sucht, soll und muss ihn auch bekommen. Arti-
kel 16 a unseres Grundgesetzes zum Asylrecht ist schon
einzigartig in dieser Welt, in unserer Welt. Daran möchte
hier bei uns auch niemand rütteln.
Wir wissen, wie viele Menschen weltweit auf der
Flucht sind. Viele machen sich nach Europa auf, auch
nach Deutschland. Deutschland verschließt sich diesen
Entwicklungen auch gar nicht. Bei allem Verständnis für
die Emotionalität, Frau Haßelmann oder Frau Jelpke
– ich habe Verständnis dafür; es geht schließlich um
Menschen –: Wir müssen immer zu einer Ausgewogen-
heit kommen.

Was können wir hier in Deutschland leisten? Wir kön-
nen eine Menge leisten. Wir sind ein wohlhabendes
Land. Aber wir müssen hier maßvoll sein, damit die
Menschen in unserem Land, unsere Kommunen – ich
komme noch dazu – das letzten Endes bewältigen kön-
nen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da haben wir ja gerade Vorschläge gemacht!)


– Ja, Sie haben Vorschläge gemacht. Einiges davon ist
schon umgesetzt, anderes ist vielleicht nicht so praktika-
bel. – Die Zahlen hat Kollegin Lindholz schon genannt:
Wir rechnen in diesem Jahr mit 400 000 Asylbewerbern.
Das wird eine große Herausforderung werden.

Wenn ich Ihre Anträge lese, dann habe ich manchmal
das Gefühl, als hätten wir hier in Deutschland noch gar
nichts für diese Menschen getan. Das ist falsch. Wir
haben schon eine ganze Menge getan. Ich möchte an
dieser Stelle den Kommunen einen großen Dank aus-
sprechen. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft der
Kommunen gegenüber Flüchtlingen ist groß; es ist von
den Vorrednern schon angesprochen worden. Überall
gibt es jetzt schon bürgerschaftliches Engagement in
vielfältigster Weise. Die Kommunen, die Kirchen unter-
stützen das. Mein Landkreis stellt Geld für Integrations-
kurse, Sprachkurse zur Verfügung. Integrationslotsen
werden ausgebildet. All das sind sehr positive Beispiele,
die es zu Hunderten gibt.


(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ CSU])


Dazu entnehme ich Ihren Anträgen nicht so viel.

Wir können – auch das muss ich an dieser Stelle
sagen – nicht immer nur mit der Forderung nach mehr
Geld vom Bund kommen. Damit machen wir es uns
wirklich zu einfach.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In einem Punkt bin ich ganz bei Ihnen – Vorredner haben
es auch schon gesagt –: Wenn der Bund wirklich mehr
Geld in die Hand nimmt – ich weiß nicht, was morgen
beim Gipfel herauskommen wird –,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Gipfel ist das nicht! Das ist maximal ein Treffen!)


dann müssen wir aber auch über die Strukturen insge-
samt sprechen, dann müssen wir überlegen: Was können
wir ändern? Was muss besser gemacht werden?

Auch ich möchte zunächst einmal auf ein Grundpro-
blem bei der Aufnahme und der Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern zu sprechen kommen





Barbara Woltmann


(A) (C)



(D)(B)

– auch das findet in Ihrem Antrag keine Erwähnung –,
nämlich die Frage der Schutzbedürftigkeit. Die Zahlen,
auch die Zahl der Anträge, die es in diesem Jahr schon
gab, will ich gar nicht mehr erwähnen; aber immerhin
kommen 50 Prozent der Antragsteller aus dem West-
balkan. Die Anerkennungsquote liegt bei ihnen bei weit
unter 1 Prozent. Ich bin der festen Überzeugung: Wir
müssen weitere sichere Herkunftsländer festlegen – das,
was wir da haben, reicht noch nicht – oder andere Struktu-
ren schaffen, die so gut und sicher sind, dass dies nicht nö-
tig ist, um zu gewährleisten, dass Menschen, die nicht
politisch verfolgt sind – ich beziehe mich auf Artikel 16 a
des Grundgesetzes –, nicht mit der Begründung, hier
Asyl zu beantragen, zu uns kommen können. Hier geht
es um ganz andere Fluchtgründe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen natürlich insbesondere an die Kommunen
denken, weil sie das letzte Glied in der Kette sind und
die Last zu tragen haben: die Last der Unterbringung und
den dadurch entstehenden Kostendruck. Eines muss ich
an dieser Stelle aber auch einmal sagen: Wir haben einen
Dreiklang der Verantwortung. Das ist unserem föderalen
System geschuldet, und es ist auch richtig so. Trotz aller
gesamtstaatlichen Verpflichtungen, die angesprochen
worden sind, würde ich nicht von diesem Dreiklang
abweichen wollen. Da muss man auch die Länder ganz
stark in die Pflicht nehmen. Wir müssen leider feststel-
len, dass viele Länder ihren Verpflichtungen nicht nach-
kommen. Sie sind für die Unterbringung in einer Erst-
aufnahmeeinrichtung zuständig. Da von „Lagerhaltung“
zu sprechen, Frau Jelpke, finde ich ganz schlimm.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: „Lagerhaltung“ habe ich nicht gesagt! Lagerunterbringung!)


– Oder „Lagerunterbringung“. Das finde ich von der Be-
grifflichkeit her schon sehr bedenklich;


(Rüdiger Veit [SPD]: Noch bedenklicher ist, dass das so ist!)


denn da reden wir von Menschen.

Die Länder müssen dafür sorgen, dass die Flücht-
linge, die dort untergebracht werden, wenigstens diejeni-
gen, deren Anträge offensichtlich unbegründet sind, gar
nicht erst auf die Kommunen verteilt werden. Das
Gleiche gilt aus meiner Sicht auch für die Menschen, die
unter die Dublin-Verordnung fallen. Es ist auch richtig,
dass die Menschen erst einmal in eine Erstaufnahme-
einrichtung kommen, weil es dort Außenstellen des
BAMF gibt, in denen die Anträge gestellt werden
können. Da kann sofort die Bearbeitung stattfinden.
Offensichtlich unbegründete Anträge könnten gleich bei
der Erstaufnahme bearbeitet werden; das ist meine Ideal-
vorstellung. Die Antragsteller würden erst dann auf die
Kommunen verteilt werden, wenn wir wissen, dass sie
wahrscheinlich anerkannt und dauerhaft bei uns bleiben
werden. Das würde schon etliche Probleme lösen.

Für die Abschiebung sind die Länder zuständig. Wir
dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass die bisher
wirklich positive Grundstimmung in der Bevölkerung
kippt. Die Menschen haben ein ganz feines Gespür für
Gerechtigkeit, und Sie sprechen doch immer von Ge-
rechtigkeit. Wir haben Gesetze, und diese sollten wir
einhalten und nicht brechen. Die Menschen, die kein
Bleiberecht haben, weil kein Asylgrund vorliegt und de-
ren Antrag daher abgelehnt wurde, müssen konsequent
in ihre Herkunftsländer zurückkehren, und dafür sind die
Länder verantwortlich.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden über Verhindern und Abschieben, aber nicht darüber, wer kommen soll und warum!)


Ich kann nicht immer nur vom Bund fordern: Gib mir
mehr Geld! Ich will die vielen Milliarden, die der Bund
bereits zur Unterstützung der Länder und Kommunen
in die Hand genommen hat, gar nicht erwähnen. Die
Opposition sagt: 1 Milliarde, das ist nichts. 1 Milliarde
– 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 500 Millionen
Euro im nächsten Jahr – ist nichts? Das ist doch eine
ganze Menge! Die vielen anderen Maßnahmen, die wir
bereits ergriffen haben, will ich auch nicht erwähnen.
Frau Kollegin Lindholz hat die neu geschaffenen Stellen
schon angesprochen.

Ein Wort zum Antrag der Linken. Er enthält viele
Punkte, die bereits umgesetzt sind: die Lockerung der
Residenzpflicht nach 3 Monaten,


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wir wollen sie ganz abschaffen!)


die Erleichterung bei der Arbeitsaufnahme: nach 3 Mo-
naten mit Vorrangprüfung, nach 15 Monaten ohne Vor-
rangprüfung. Das sind doch alles positive Regelungen.
Ich weiß gar nicht, warum Sie das alles immer so
schlechtreden oder überhaupt nicht anerkennen, dass wir
diese guten positiven Regelungen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für eine gesamtstaatliche Lösung, für die wir alle of-
fen sind, brauchen wir letzten Endes den bereits ange-
sprochenen Dreiklang der Verantwortung. Hier sind der
Bund, die Länder und die Kommunen in der Pflicht. Der
morgige Flüchtlingsgipfel mit Vertretern von Bund und
Ländern wurde schon angesprochen. Frau Haßelmann,
Sie haben in diesem Zusammenhang bemängelt, dass die
Kommunen nicht dabei sind. Ja, das stimmt, aber für
eine Beschwerde sind wir, der Bund, nicht der richtige
Ansprechpartner.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie laden doch ein!)


– Nein, da müssen Sie die Länder ansprechen. Die Län-
der können die Kommunen mitnehmen. Die Länder sind
für die Kommunen zuständig. Sie wollen doch nicht in
Abrede stellen, dass die Länder für die Kommunen ver-
antwortlich sind? Das ist ein wichtiger Punkt; wir kön-
nen nachher gerne noch einmal darüber sprechen. Un-
sere Fraktion führt ständig Gespräche mit Vertretern der
kommunalen Spitzenverbände.





Barbara Woltmann


(A) (C)



(D)(B)


(Rüdiger Veit [SPD]: Verfassungsrechtlich richtig, aber manchmal nicht der Realität angemessen!)


Ich bin froh – damit komme ich zum Schluss –, dass
in der nächsten Woche auf europäischer Ebene über die-
ses Thema gesprochen wird. Ich bin der Meinung, dass
wir auf europäischer Ebene ein Quotensystem brauchen.
In Europa muss die Last auf mehrere Schultern verteilt
werden. Wir in Deutschland können die Probleme allein
nicht lösen. Vielmehr ist das eine europäische Heraus-
forderung, der wir uns alle stellen müssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810308500

Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kol-

legin Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810308600

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da Frau Woltmann

mich angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nut-
zen, darauf zu erwidern. Ich verstehe wirklich nicht, dass
sich die Große Koalition, also sowohl die Union als auch
die SPD, bei der Frage, warum sie die Kommunen nicht
einlädt, auf billige Art und Weise herausredet, indem sie
argumentiert, das sei eine verfassungspolitische Frage;
denn die Kommunen seien eine abgeleitete Ebene der
Länder.

Alle kommunalen Spitzenverbände fordern, eingela-
den zu werden. Niemand bestreitet, dass sie die Haupt-
akteure sind. In der Vergangenheit wurden die Kommu-
nen zu sehr vielen solcher Gipfel, Termine oder Treffen
eingeladen. Da hat es Sie überhaupt nicht interessiert,
welche staatlichen föderalen Ebenen wir im Sinne des
Verfassungsrechtes haben. Das sind doch wirklich an
den Haaren herbeigezogene Argumente,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


um sich mit den inhaltlichen und sehr präzisen Forderun-
gen der Kommunen nicht auseinanderzusetzen.

Im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der
Bundestag in der letzten Legislaturperiode im Rahmen
der Gemeindefinanzreform beschlossen hat, umfangrei-
che Anhörungs- und Beteiligungsrechte für die Kommu-
nen überall da, wo Themen die Kommunen berühren, zu
verankern. Möchte jemand von Ihnen hier im Saal be-
streiten, dass die Kommunen mit den Themen Flücht-
linge, Begleitung, Betreuung und Erstaufnahme etwas zu
tun haben? Sie können diese Ablehnung und dieses
Fernhalten der Kommunen von diesem Treffen doch gar
nicht begründen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810308700

Frau Kollegin Woltmann.

Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810308800

Vielen Dank. Das gibt mir noch einmal die Gelegen-

heit, darauf einzugehen. – Erst einmal möchte ich fest-
halten, dass diese Bundesregierung, glaube ich, eine der
kommunalfreundlichsten Regierungen ist, auch in Bezug
auf Leistungen in direkter Form an die Kommunen, was
eigentlich gar nicht Aufgabe des Bundes ist.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lässt man die erst recht nicht vor der Tür stehen!)


– Moment, Moment, nicht so aufregen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rege mich aber auf!)


– Sie können sich ruhig aufregen, aber das hilft auch
nicht.

Die Länder – es tut mir leid, jetzt müssen wir doch
einmal auf die verfassungsrechtlichen Dinge zu sprechen
kommen – sind für die Kommunen zuständig. Eigentlich
könnte sich der Bund auch darauf zurückziehen und sa-
gen: Wir regeln das in den Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen. Die Länder müssen dann die entsprechenden
Gelder weitergeben.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Gremium, sondern ein Gespräch!)


– Ich komme gleich dazu, Frau Göring-Eckardt. – Wir
haben deswegen auch gesagt: Wenn die Länder die
Kommunen mitbringen möchten, können sie das natür-
lich gerne machen. Sie scheinen das aber nicht gewollt
zu haben. Insofern sind morgen aller Voraussicht nach
die Kommunen nicht mit am Tisch. Dennoch sind wir
ständig mit den kommunalen Spitzenverbänden im Ge-
spräch. Das möchte ich hier festhalten. Es ist ja nicht so,
dass keine Gespräche stattfinden.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind begeistert von Ihnen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die lachen über Sie!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810308900

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Vor zwei Wochen haben wir hier im Plenum um
die über tausend Toten, die zuvor im Mittelmeer auf der
Suche nach Schutz und Zuflucht hier bei uns ertrunken
waren, getrauert. Aber das Sterben, der Flüchtlingsexo-
dus geht weiter. Seither sind weitere 50 Menschen er-
trunken, Frauen, Kinder, Männer. In den letzten Tagen
erreichten etwa 7 000 Menschen die italienische Küste.
Ich bin am Wochenende dort gewesen. Ich bin nach Sizi-
lien gefahren und konnte erleben, wie Bürgermeister,
wie Präfekten, wie Priester, wie Nonnen, wie Ärzte, wie
Polizisten, wie die italienische Caritas, wie das Rote
Kreuz, wie NGOs wirklich alles tun, um den Flüchtlin-





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)

gen zu helfen und ihnen ihre Menschenwürde wiederzu-
geben. Ich war in Mazara del Vallo und habe mit den Fi-
schern getrauert, die Menschenleben retten und in ihren
Netzen Leichen bergen. Ich habe Solidarität, Humanität
und vor allem Empathie für die Menschen in Not erlebt,
für Menschen wie du und ich, die in einer der ärmsten
Regionen Italiens und Europas angekommen sind und
dort menschlich behandelt werden. Immer wieder habe
ich die Frage gehört: Wo ist eigentlich Europa?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das Mittelmeer ist doch kein italienisches Meer. Es
ist unser Meer. Warum ist Europa von dieser Tragödie so
unendlich weit weg? Was sind denn die Werte eigentlich
wert, auf die man sich in Sonntagsreden so gerne beruft,
wenn die Zahl der Toten bei etwa 27 000 liegt und jeden
Tag etwa 500 Menschen neu ankommen? Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, da habe ich mich für dieses Eu-
ropa geschämt, das sich so gerne mit dem Friedensno-
belpreis schmückt, den doch die Sizilianer viel eher
verdient hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich werde sie nicht vergessen können: die Gesichter
der traumatisierten Überlebenden, die vor wenigen Ta-
gen angekommen sind, die nigerianische Christin, starr
vor Schreck und zitternd vor Angst. Ich werde auch den
jungen Mann aus Eritrea nie vergessen können, der seine
Schwester im Meer verloren hat und jetzt keine Tränen
zum Weinen mehr hat. Sie alle sind der Hölle entkom-
men, auch der entgrenzten Gewalt in Libyen, und hoffen
auf das, was für uns so selbstverständlich ist: Sie hoffen
auf Leben, sie hoffen auf Zukunft, sie hoffen auf ein klit-
zekleines bisschen Glück – nach all dem Elend.

Und wo ist Europa? Am Tag nach der Debatte hier bei
uns im Parlament hat der EU-Sondergipfel der Regie-
rungschefs getagt. Was hat er beschlossen? Die Verstär-
kung der Grenzschutzmaßnahmen, die Bekämpfung der
Schleuserkriminalität, die Zerstörung von Schleuser-
schiffen, die Eindämmung von sogenannten Migranten-
strömen, die freiwillige Erklärung von EU-Mitgliedstaa-
ten, Italien und Malta ein paar Flüchtlinge abzunehmen.
Bekämpfung, Zerstörung, Abschottung, Zurückweisung,
Eindämmung – das ist der eiskalte Sprech, der sich der
Schutzverantwortung verweigert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So, liebe Kolleginnen und Kollegen, stirbt jeden Tag
auch unsere Idee von Europa, die die Menschenwürde in
den Mittelpunkt stellt.

Das Europäische Parlament, Ban Ki-moon, António
Guterres, Papst Franziskus, die EKD, der Bundespräsi-
dent, Pro Asyl, Amnesty und nicht zuletzt eine klare
Mehrheit der Menschen in Deutschland wissen, dass es
doch zuallererst um das Leben und die Rettung von
Menschen gehen muss, dass es aber auch um die Vertei-
digung unserer Werte geht. Sie alle fordern eine umfas-
sende Seenotrettung im ganzen Mittelmeer. Sie fordern
sichere, legale Fluchtwege nach Europa – und nicht ei-
nen neuen, 100 Kilometer langen Zaun in Bulgarien. Sie
fordern humanitäre Visa. Sie fordern eine deutliche
Aufstockung des Resettlement-Programms und eine
unbürokratische Familienzusammenführung. Sie fordern
europäische Solidarität bei der Aufnahme von mehr
Flüchtlingen. Sie fordern eine Entlastung der Nachbar-
regionen Syriens. Sie fordern eine nachhaltige Entwick-
lungspolitik. Das bedeutet nicht, dass man Waffen an die
Saudis schickt, die heute und in diesem Moment im Je-
men Zivilisten bombardieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nie, so scheint es, waren sich Regierende und große
Teile der Zivilgesellschaft fremder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, morgen ist der
8. Mai 2015. Vor 70 Jahren haben 12 Millionen Men-
schen, die ihre Heimat verloren haben, in den Besat-
zungszonen Unterkunft, Schutz und eine neue Heimat
gefunden. Auch daran sollten wir morgen, am 8. Mai, er-
innern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Matthias

Schmidt, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Matthias Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe kürzlich auf der Straße Herrn
Kollegen Frank Tempel von den Linken getroffen. Wir
sind dann gemeinsam zum Büro gegangen und haben da-
bei festgestellt: Im Innenausschuss brummt es ganz
schön. Es gibt viele politisch wichtige Themen, die mo-
mentan bei uns im Innenausschuss landen, und jeden
Tag kommen neue hinzu. Dabei ist die Flüchtlingspolitik
ein Thema, das unsere volle Konzentration und auch un-
seren gemeinsamen Einsatz erfordert. Was unseren ge-
meinsamen Einsatz betrifft, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der Opposition, spreche ich Sie ausdrücklich
mit an. Ich finde, wir können durchaus versuchen, hier
gemeinsam zu agieren.

Aus meiner Sicht stehen wir vor folgenden Heraus-
forderungen:

Erstens. Das Problem der Unterbringung vor Ort, in
den Kommunen, muss gelöst werden. Hier brauchen wir
Akzeptanz und Verständnis in der Bevölkerung. Darauf,
wie wir Akzeptanz und Verständnis erzielen, will ich
später zurückkommen.

Zweite Herausforderung. Das Massensterben im Mit-
telmeer muss sofort beendet werden. Was das Massen-
sterben im Mittelmeer angeht, vergessen wir, die ge-





Matthias Schmidt (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

samte Fluchtroute, auf der ebenfalls sehr viele Menschen
sterben, zu berücksichtigen. Wir sehen im Fernsehen im-
mer nur Bilder vom Mittelmeer und betrachten das an-
dere nicht mehr.

Herr Kollege Huber – er ist nicht mehr da –, ich teile
Ihre These, die Sie in Frageform gekleidet haben, aus-
drücklich nicht: dass wir Menschen zur Flucht animie-
ren, wenn wir sie retten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, wir sollten aus unserer christlichen Tradition
heraus durchaus zu anderen Schlüssen kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine dritte wichtige Herausforderung ist die welt-
weite Bekämpfung der Fluchtursachen. Das lässt sich
nur mittel- oder langfristig bewältigen. Wir sind uns hier
im Parlament sehr schnell einig: Wir werden aus ver-
schiedenen Gründen im Mittelmeer keine Mauer bauen
können. Wir brauchen legale Möglichkeiten, nach Eu-
ropa zu gelangen. Und – Kollege Castellucci hat schon
darauf hingewiesen – wir müssen dafür sorgen, dass
mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können.

Ihre beiden Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, betreffen meinen ersten Punkt. Ich
möchte mich hauptsächlich mit dem Antrag der Linken
auseinandersetzen.

Es ist sicherlich Ihr gutes Recht, vielleicht sogar Ihre
Pflicht, die Regierung mit breit angelegten Anträgen vor
sich herzutreiben, und dabei darf es durchaus auch ein-
mal eine provokante Sprache geben. Meines Erachtens
schießen Sie an dieser Stelle aber weit über das Ziel hi-
naus. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, so finde ich,
dass darin abwegig von einer bisherigen Politik der Ab-
schreckung gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, von
Zwangsunterbringung, Lagerzwang, Zwangsverteilung
– im Angesicht der deutschen Geschichte sollte man da
auch noch einmal über die Wortwahl nachdenken –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das müssen Sie sich mal angucken!)


von jahrelangen Versäumnissen, einer unzureichenden
und halbherzigen Regierungspolitik und von Planungs-
mängeln.

Regierung und Koalition müssen so etwas aushalten.
Aber Sie übersehen dabei, dass Sie mit Ihrem Antrag
auch den Menschen in unserem Land, die sich engagie-
ren, die in Flüchtlingsinitiativen vor Ort oder an runden
Tischen aktiv sind, eine Ohrfeige versetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Was unterstellen Sie diesen Menschen, die so gut hel-
fen, wenn Sie fordern, dass eine antirassistische Präven-
tionsarbeit selbstverständlicher Teil des bürgerschaftli-
chen Engagements sein müsse? Das sind doch die Leute,
die mit uns zusammen – mit den Demokraten – auch auf
die Straße gehen, gegen die NPD zum Beispiel in mei-
nem Wahlkreis, gegen die AfD, gegen Pegida, und die
auch mit Menschen reden, die einfach nur verängstigt
sind.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist beabsichtigt, das wissen Sie ganz genau! So ein Pappkamerad!)


Im Kanonenfeuer Ihres Antrags geht dann unter, dass
Sie auch auf richtige Aspekte hinweisen. Stichworte
hierfür sind die menschenwürdige Aufnahme, die schnelle
Integration – Frau Jelpke, Sie haben das eben noch ein-
mal ausführlich erwähnt – und die Hilfen beim Spracher-
werb.

Hinzu kommt, dass Ihr Antrag schlecht recherchiert
ist. Sie sprechen von 173 000 Asylsuchenden im Jahre
2014. Es waren bekanntlich über 200 000. Die Anzahl
der Altfälle – von Ihnen mit 169 000 beziffert – beträgt
tatsächlich rund 200 000. Allerdings gibt es „nur“ rund
50 000 Altfälle, die seit mehr als einem Jahr auf Bearbei-
tung warten. Das BAMF, das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, ist mit intelligenten Lösungen dabei,
genau diese Fälle zurückzufahren.

Ihre Schlussfolgerung, die ein bisschen als Allheil-
mittel daherkommt, das BAMF mit neuen Stellen zu ver-
sorgen, birgt Tücken. Deswegen sollten wir darüber par-
lamentarisch noch einmal sehr gut nachdenken; denn
von den 650 neuen Stellen, die wir im Parlament bewil-
ligt haben, sind momentan 575 besetzt bzw. werden
demnächst besetzt. Wenn wir jetzt weitere Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter einstellen wollten, müssten diese ir-
gendwoher kommen und würden eine längere Einarbei-
tungsphase benötigen. Ein entscheidender Punkt, den
noch niemand erwähnt hat: Wenn das BAMF entspre-
chend schnell ist, müssen die Ausländerbehörden in den
Ländern und Kommunen das auch umsetzen. Hier würde
sich sofort ein neuer Flaschenhals ergeben.

Ich finde, dass wir im Sinne einer effizienten und
sinnvollen Flüchtlingspolitik ruhig gemeinsam versu-
chen sollten, die Koalition zu unterstützen. Seit 2014 ist
der Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge und Asylbewer-
ber deutlich erleichtert, und die Residenzpflicht ist gelo-
ckert. Der Bund muss verstärkt finanzielle Verantwor-
tung übernehmen und Kommunen bei den durch die
Aufnahme von Flüchtlingen entstehenden Kosten entlas-
ten.

Die Politik allgemein ist auf allen drei Ebenen – Bund,
Länder und Gemeinden – in der Pflicht, zu informieren;
denn nur so gewinnen wir Akzeptanz. Aber die Zivilge-
sellschaft, die wir auch alle unterstützen sollten, muss
Begegnungsmöglichkeiten schaffen; denn nur dadurch
wächst das Verständnis.

In meinem Wahlkreis gibt es inzwischen sechs Unter-
künfte für Flüchtlinge, und alle werden positiv und enga-
giert von einer Vielzahl von Menschen begleitet und
unterstützt. Das Engagement dieser vielen Menschen
verdient Anerkennung, Respekt und unseren Dank. Das
hilft nicht nur den ankommenden Flüchtlingen vor Ort,





Matthias Schmidt (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

sondern bringt auch eines wohltuend zum Vorschein:
Die Unbelehrbaren sind in der Minderheit.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Lassen
Sie uns die runden Tische vor Ort stärken und unsere
politischen Aufgaben ruhig und sachlich angehen. Ich
glaube, unsere Vorstellungen sind gar nicht so weit von-
einander entfernt. Ich freue mich auf die Diskussionen
mit Ihnen allen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309200

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin

Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1810309300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin nun auch schon seit einigen Jahren im Entwick-
lungsbereich tätig und somit durchgehend mit dem
Thema „Flüchtlinge und Migration“ verbunden. Ich
habe viele Flüchtlingslager auf der Welt gesehen und er-
kannt, dass es immer mehr zu einer Ghettoisierung
kommt und dass die Lager immer mehr auf Jahre hinaus
angelegt werden. Wie viele andere Kolleginnen und Kol-
legen auch, habe ich die Hoffnungslosigkeit und das
Elend in den Gesichtern dieser Menschen gesehen.

Ein sehr einschneidender Moment war für mich, als
im Herbst letzten Jahres in meinem Wahlkreis, in Nürn-
berg, auf einem Sportplatz das erste Flüchtlingszelt für
über 200 Flüchtlinge errichtet worden ist. Ich habe mir
das nie vorstellen können. Im Rahmen meiner Aufgaben
als Entwicklungspolitikerin konnte ich mir das weit ent-
fernt in der Welt vorstellen, aber auf einmal gab es in
meinem Wahlkreis Hunderte Flüchtlinge.

Bei meinem ersten Besuch in einem der Flüchtlings-
lager – es war der erste von vielen, die ich im Laufe der
Wochen danach gemacht habe –, habe ich gemerkt, dass
die Vorgänge am Anfang total unkoordiniert abliefen.
Die Behörden waren völlig überfordert. Die minderjähri-
gen unbegleiteten Flüchtlinge hatten keine Betreuung –
weder medizinisch noch psychosozial noch physisch. Es
gab viele Ehrenamtliche, die sich dieser Aufgaben dann
angenommen haben, und inzwischen sind Gott sei Dank
auch die Behörden so weit. Ich glaube, wir sind hier in
einem guten Fluss und haben alles gut in die Wege gelei-
tet.

Aber ich habe auch etwas anderes bemerkt: die un-
wahrscheinliche Hilfsbereitschaft der Bevölkerung vor
Ort, der ehrenamtlich Tätigen. Ich glaube, wir wissen,
dass die Zahl der Flüchtlinge nicht geringer wird.
630 000 Flüchtlinge gab es im letzten Jahr in Europa. In
Deutschland haben sich insgesamt 238 000 aufgehalten.
Man schätzt, dass es in diesem Jahr über 400 000 wer-
den. Wir werden das Verständnis der Bevölkerung nur
aufrechterhalten können, wenn wir vermitteln, dass un-
ser System gerecht ist.

Diejenigen, die Schutz brauchen, erhalten natürlich
Schutz. Für politische Flüchtlinge gibt es keine Ober-
grenze. Das ist durch unser Grundgesetz geregelt. Es
muss aber auch klar sein, dass unser Asylverfahren nicht
für diejenigen gedacht ist, die keinen Schutz brauchen
und eigentlich nur hierherkommen, um ihre Lebensper-
spektive zu verändern. Dafür gibt es andere Wege. Der
Asylmissbrauch muss hier wirklich massiv bekämpft
werden.

Wir haben das Elend vor der syrischen Küste gese-
hen, die Tausenden Toten, darunter auch Kinder und
Frauen. Diese Bilder prägen sich ins Gedächtnis ein, und
es gibt große Diskussionen über folgende Fragen: Wie
können wir verhindern, dass zukünftig weitere Men-
schen auf quälende Art und Weise vor unserer Haustüre
sterben? Wie können wir die Schleuser besser bekämp-
fen? Wie können wir es schaffen, dass die Menschen
ihre Herkunftsländer nicht verlassen?

Wir sehen: Das Thema Flüchtlinge hat etwas Grenz-
überschreitendes. Es betrifft nicht nur Deutschland – den
Bund und die Kommunen –, sondern die Europäische
Union, die Mitgliedstaaten, die Herkunftsländer und die
Transitländer. Es gibt hier nicht nur die eine Lösung. Das
müssen wir wissen, und das müssen wir auch eingeste-
hen. Dafür ist das Thema viel zu komplex, zu vielschich-
tig und zu ideologisiert. Das heißt, wir müssen uns zu ei-
ner Gesamtbetrachtung dieses Themas zwingen.

Wir wissen: Der Großteil der Flüchtlinge kommt aus
Krisen- bzw. Kriegsgebieten, zum Beispiel aus dem Irak
oder aus Syrien, wo es ums Überleben geht. Es kommen
Hebräer, Somalier, Nigerianer, die durch Boko Haram
oder die Taliban bedroht werden. Das sind nur einige
Beispiele, die ich in die Diskussion hier einbringen
möchte.

Wir wissen aber auch, dass der Schlüssel zur Eindäm-
mung der Flüchtlingsströme in den Herkunftsländern
liegt. Es ist aber so einfach gesagt, dass Fluchtursachen
bekämpft werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit tun wir
hier unser Möglichstes. Wir versuchen, dort rechtsstaat-
liche Strukturen aufzubauen und die Lebensperspektiven
zu verbessern. Aber alles, was wir machen können, ist
im Grunde genommen nur ein Tropfen auf den heißen
Stein. Es ist sicherlich richtig, dass wir helfen, ein duales
Ausbildungssystem aufzubauen. Aber wir müssen zu-
künftig viel mehr Krisenprävention betreiben.

Wir wissen, dass in Konfliktgebieten eine dauerhafte
Stabilisierung nicht von außen erreicht werden kann.
Wir sind hier nicht die hauptsächlichen Akteure, die ge-
fragt sind. Vielmehr müssen die betreffenden Länder
eine eigene Dynamik entfalten. Sie müssen selbst rechts-
staatliche Institutionen aufbauen, um eine Rechtsord-
nung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang frage
ich mich: Was ist mit der Afrikanischen Union, dem
Pendant zur Europäischen Union? Warum schweigt sie





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)

zu diesen Themen? Warum zeigt sie nur mit dem Finger
auf Europa und stellt die Frage, warum wir Flüchtlinge
ertrinken lassen? Was macht die Afrikanische Union
selbst? Wie wirkt sie auf die Herrschenden und Regie-
renden in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ein?
Was tut sie, damit die Eliten in den afrikanischen Län-
dern in die Pflicht genommen werden? Afrika ist ein res-
sourcenreiches Land. Aber die Ressourcen sind falsch
verteilt. Gegen die Gleichgültigkeit der Eliten in den
afrikanischen Ländern gegenüber dem armen Bevölke-
rungsteil muss etwas getan werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Rahmen unserer Außenpolitik dürfen wir den Dialog
mit den Eliten und den Regierenden in den betreffenden
Ländern nicht abbrechen. Vielmehr müssen wir den Dia-
log zwischen der Europäischen Union und der Afrikani-
schen Union noch intensivieren.

Es ist wichtig, Asylanlaufstellen in den betreffenden
Herkunfts- und Transitländern zu schaffen. Ich spreche
nicht von Asylbewerberaufnahmezentren, sondern von
Asylanlaufstellen, bei denen sich Menschen, die beab-
sichtigen, ihr Heimatland zu verlassen, Informationen
holen können: Habe ich überhaupt eine Chance auf Asyl,
wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, wenn ich meine
Familie, wenn ich meine Kinder verlasse? Solche An-
laufstellen können natürlich nur in stabilen Rechtsstaa-
ten eingerichtet werden. In Libyen oder in Syrien ist das
auf absehbare Zeit nicht möglich. Aber wir sollten zu-
sammen mit dem UNHCR solche Asylanlaufstellen auf
den Weg bringen.

Zu Recht wurde angesprochen: Ein großes Problem
sind die Asylsuchenden vom Balkan. Wenn wir sehen,
dass allein in den ersten drei Monaten von insgesamt
88 000 Asylanträgen 44 000 von Menschen aus den
Westbalkanländern gestellt wurden – die Anerkennungs-
quote bei diesen Menschen liegt bei gerade einmal
0,1 Prozent –, dann wissen wir, dass es richtig war, Ser-
bien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu siche-
ren Herkunftsstaaten zu erklären. Aber kaum nimmt die
Anzahl der Anträge von Menschen aus diesen Ländern
ab, steigt die Zahl der Anträge von Menschen aus dem
Kosovo und aus Albanien. Innerhalb von acht Wochen
wurden allein 28 000 Asylanträge von Menschen aus
dem Kosovo gestellt. Viele dieser Menschen sagen ganz
offen, dass sie hier bei uns Arbeit suchen. Das heißt, sie
sind keine politisch Verfolgten. Wir müssen diesen Men-
schen sagen, dass es dann falsch ist, hier einen Asylan-
trag zu stellen. Wir müssen Informationskampagnen in
den Balkanländern durchführen, um die Menschen auf-
zuklären: Du wirst keine Chance haben, in Deutschland
Asyl zu bekommen. Du hast vielleicht eine Chance, eine
Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Aber das solltest du
erst erfragen, bevor du dich auf den Weg machst.

Es ist bekannt, dass ich die Abschottungspolitik der
Europäischen Union als nicht zielführend und erfolg-
reich ansehe. Wir sollten aufgrund unserer Geschichte
wissen: Mauern zu errichten, hat noch nie langfristig
tragbare Lösungen gebracht. – Wir brauchen einen ande-
ren Verteilungsschlüssel in Europa. Ich glaube, darüber
besteht im ganzen Haus Konsens. Wir müssen auch die
gesamte Flüchtlingshilfe überdenken. Mit den jetzigen
Gegebenheiten haben wir in der Vergangenheit nicht ge-
rechnet. Wir brauchen neue Strukturen. Leider sieht es
momentan nicht so aus, dass wir zu einem neuen Vertei-
lungssystem in Europa kommen; das müssen wir ehrlich
zugeben. Zwar wird am 13. Mai der neue Migrationsbe-
richt vorgelegt. Aber solange sich Großbritannien wei-
gert, zuzugestehen, dass es sich hier nicht um eine natio-
nale, sondern um eine europäische Aufgabe handelt,
werden wir hier zu keiner Lösung kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich hoffe, dass in dem Zusammenhang irgendwann ein
Konsens und auch die Solidarität aller Mitgliedstaaten
gegeben sein werden.

Ich wünsche dem Asylgipfel morgen viel Erfolg. Es
wird um Geld gehen – das ist ganz klar –, aber Geld ist
nicht alles. Wie gesagt, wir müssen in diesem Zusam-
menhang die Strukturen angehen. Wir müssen auch se-
hen, wie wir mit den vielen jungen, minderjährigen
Flüchtlingen umgehen. Es sind inzwischen 70 000, die
sich hier in Deutschland aufhalten. In Bayern sind es al-
lein 4 000 neue unbegleitete Flüchtlinge. Bei ihnen hat
die Flucht andere Ursachen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309400

Frau Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1810309500

Sie haben andere Fluchtgründe als Erwachsene. Des-

wegen brauchen wir auch Richtlinien für Kinder im
Asylverfahren, damit sie nicht wie Erwachsene behan-
delt werden. Sie sind traumatisiert, sie sind vergewaltigt
worden, sie waren Kindersoldaten und vieles mehr. In
diesem Sinne haben wir noch große Aufgaben vor uns.
Es sind viele Herausforderungen. Ich hoffe, dass wir sie
gemeinsam im ganzen Hause im Sinne der vielen Flücht-
linge und der vielen Hilfsbedürftigen lösen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309600

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1810309700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich habe meine eigene Meinung zu der Frage, ob
es zweckmäßig und sinnvoll gewesen wäre, zu dem mor-
gigen Gipfel im Kanzleramt Vertreter der Kommunen
einzuladen. Ich fasse das einmal in die Worte des Präsi-
denten des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, der
heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auch
zu uns gesagt hat: Ich weiß nicht, was dabei heraus-
kommt. Ich bin nicht dabei. Die Kommunen sitzen nicht
mit am Tisch. Das ist der Hit.





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kommt
trotzdem etwas dabei heraus. Vielleicht unterscheidet
sich dieser Gipfel dann von manch anderem, der in der
Vergangenheit stattgefunden hat. Schon aus Rücksicht
auf die Koalition ist mir eine weitere Würdigung der
Vergangenheit nicht erlaubt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Aber meine Hoffnung richtet sich auf die Zukunft.
Hier reden wir in der Tat nicht nur von Geld. So ist bei-
spielsweise die Frage der sicheren Drittstaaten angespro-
chen worden. Ich will versuchen, dies noch ein bisschen
deutlicher zu zeichnen. Wir haben – das müssen wir So-
zialdemokraten zugestehen – drei Westbalkanstaaten als
sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Was ist in der Zwi-
schenzeit geschehen, nachdem dies Gesetz geworden
ist?


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts!)


Die Anzahl der Flüchtlinge von dort hat sich um 27 Pro-
zent reduziert. Das ist nicht wenig. Das ist aber auch
nicht so dramatisch viel, wie es diejenigen, die das ge-
fordert haben, gedacht haben mögen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dagegen setze ich die Entwicklung der Anzahl der
Flüchtlinge aus dem Kosovo. Die Zahl ist von Lars
Castellucci genannt worden: Wir hatten mehr als 1 000,
fast 1 500 Flüchtlinge am Tag. Jetzt haben wir vielleicht
noch 40 oder 60, ohne dass es sich um einen sicheren
Herkunftsstaat gehandelt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Warum? Weil die Verfahren intensiviert und beschleu-
nigt worden sind, weil vor allen Dingen durch eine in-
tensive Aufklärungsarbeit, auch im Kosovo selbst, den
Menschen die Illusion genommen worden ist, alles sei
ganz wunderbar und man müsse sich nur nach Deutsch-
land auf den Weg machen. Von daher ist das ein ganz
wichtiger Fingerzeig, wie man auch in Zukunft solche
Migrationsbewegungen steuern bzw. ein bisschen beein-
flussen kann, ohne deswegen etwas am Gesetz zu än-
dern;


(Beifall bei der SPD)


ganz abgesehen davon, dass es dafür wahrscheinlich
noch weniger eine Mehrheit im Bundesrat zu erwarten
gibt, als es bei dem anderen Vorgang der Fall war.

Lassen Sie mich zu den Gemeinsamkeiten der An-
träge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen kom-
men. Dort sind einige Elemente, über die man reden
muss. Darüber werden wir auch mit unserem Koalitions-
partner sprechen. Dazu gehört etwa das Abschneiden des
alten Zopfes der Widerrufsverfahren bei bereits gewähr-
tem Asyl. Das wirft die Frage auf, wozu das Ganze noch
gut ist. Dazu gehört im Übrigen auch – es steht auf der
Tagesordnung – die Frage eines gesicherten Aufenthal-
tes für die Zeit einer Berufsausbildung. Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, der Vorstoß der drei Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann, Malu Dreyer und Volker Bouffier ging
noch ein bisschen weiter. Sie haben gesagt, es wäre wün-
schenswert und notwendig, wenn die dann Ausgebilde-
ten auch in der Lage wären, in Deutschland für die
Dauer von zwei Jahren eine ihrer Ausbildung entspre-
chende Tätigkeit auszuüben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darüber reden wir zurzeit mit unserem Koalitionspart-
ner. Wir sind dabei, Überzeugungsarbeit zu leisten.

In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir gemein-
sam mit den Ländern dafür sorgen wollen, dass auch den
Asylbewerbern frühestmöglich Sprachangebote unter-
breitet werden. Wir hoffen, dass wir in der Koalition
diesbezüglich zu Ergebnissen kommen und demnächst
– ich denke an eine Perspektive von vier bis acht Wo-
chen – einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten
können.

Lassen Sie mich zum Schluss auf die Frage nach dem
Geld zu sprechen kommen. Diesbezüglich gibt es Diffe-
renzen zwischen uns und unserem Koalitionspartner. Ich
hoffe, sagen zu können, dass es diese Differenz jetzt
zwar noch gibt, sie aber überwunden werden kann. Viel-
leicht kommt man auf dem Gipfel ja zu anderen Ergeb-
nissen. Ich persönlich und der Großteil der SPD-Frak-
tion – um das klar zu sagen: nicht nur das Präsidium der
SPD – stehen auf dem Standpunkt, dass die Übernahme
der Kosten für die Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern eine staatliche Aufgabe
ist. Die konkreten Leistungen – Integration, Aufnahme,
Betreuung – sind Sache der Kommunen; wir dürfen sie
mit den Belastungen, die sich daraus ergeben, aber nicht
im Regen stehen lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen etwas aus
meiner kommunalen Vergangenheit erzählen. Zu Beginn
der 90er-Jahre, als die Flüchtlingszahlen besonders hoch
waren, war ich Landrat in Gießen. Wir haben, jedenfalls
in meiner Amtszeit, immer, soweit als möglich, auf eine
dezentrale Unterbringung gesetzt. Das Land Hessen hat
uns damals nach Spitzabrechnung die entstandenen Kos-
ten zu 100 Prozent erstattet. Das wurde dem Land Hes-
sen aber zu teuer. Das Land Hessen hat gesagt: Wir ge-
ben jetzt nur noch eine Pauschale. Im ersten Jahr nach
Einführung der Pauschale, nach Einführung dieser Art
der Erstattung und Abrechnung stand meine Kreiskasse
um 900 000 D-Mark – damals waren es noch D-Mark –
besser da, weil die dezentrale Unterbringung, vorwie-
gend in Wohnungen, wesentlich billiger war als die teure





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Unterbringung in großen Gemeinschaftsunterkünften.
Das muss man einmal sagen.

Der Unterschied zu damals ist folgender – deswegen
erwähne ich dieses Beispiel –: Damals hatten wir in der
Bevölkerung eine geringe Akzeptanz für die Aufnahme
von Flüchtlingen und Zuwanderern generell. Als Kom-
munen hatten wir aber wenigstens das Geld dafür. Heute
haben wir, was erfreulich ist und wofür wir dankbar
sind, in unserer gesamten Bevölkerung eine weitgehende
Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in
Deutschland, aber die Kommunen haben kein Geld mehr
dafür. Es gibt einige Bundesländer, die den Kommunen
100 Prozent der Kosten erstatten. Es gibt aber auch an-
dere, die nur 30 Prozent oder knapp unter oder knapp
über 50 Prozent der Kosten erstatten. Das muss sich än-
dern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage es noch einmal: Die Übernahme dieser Kosten
ist eine staatliche Aufgabe. Der Bund ist gefordert. Ich
hoffe, dass wir auf dem Gipfel morgen zu entsprechen-
den Ergebnissen kommen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810309800

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-

che angelangt.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3839 und 18/4694 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:

23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Azize Tank, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE sowie der Abgeordneten Tom
Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Doppelstandards beenden – Fakultativ-
protokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen
und ratifizieren

Drucksache 18/4332
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Freiheit für Mumia Abu-Jamal

Drucksache 18/4722
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss

ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Rechtsstellung und
Aufgaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte (DIMRG)


Drucksache 18/4798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 24 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Matthias Gastel, Sven-Christian
Kindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
zur Erhaltung der Schienenwege jetzt neu
verhandeln

Drucksachen 18/3153, 18/3938

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3938, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3153 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 24 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus
Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard
Blienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Kulturtourismus in den Regionen weiterent-
wickeln

Drucksachen 18/3914, 18/4731

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4731, den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3914
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenom-
men.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 24 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 176 zu Petitionen

Drucksache 18/4696

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 176 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 24 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 177 zu Petitionen

Drucksache 18/4697

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 177 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 24 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 178 zu Petitionen

Drucksache 18/4698

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 178 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 179 zu Petitionen
Drucksache 18/4699

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 24 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 180 zu Petitionen
Drucksache 18/4700

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.

Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Qualität von Studium und Lehre im interna-
tionalen Wettbewerb sichern – Den Europäi-
schen Hochschulraum erfolgreich gestalten
Drucksache 18/4801

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über die Umset-
zung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in
Deutschland
Drucksache 18/4385
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Bologna-Prozess grundlegend reformieren
Drucksache 18/4802
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-
Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bologna 2015 stärken – Den europäischen
Hochschulraum konsequent verwirklichen
Drucksache 18/4815





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Rachel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


T
Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1810309900


Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die
Umsetzung der Bologna-Reformen hat sich in Deutsch-
land positiv entwickelt. Wir erleben an unseren Hoch-
schulen eine dynamische Entwicklung. Seit 2012 ist die
Studierendenzahl in Deutschland weiter gestiegen. Mit
2,7 Millionen Studierenden haben wir an unseren Hoch-
schulen eine halbe Million Studierende mehr als noch
vor vier Jahren. Die Bundesregierung und die Länder
flankieren diese Entwicklung mit dem Hochschulpakt.
Zwischen 2007 und 2023 stellen wir rund 38 Milliar-
den Euro für die Aufnahme der Studierenden durch Ein-
richtung zusätzlicher Studienmöglichkeiten zur Verfü-
gung.

Die Einführung der zweistufigen Studienstruktur war
eines der zentralen Kernziele der europäischen Hoch-
schulreform zur Förderung von Transparenz und zur
Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse. Dies ist weitge-
hend umgesetzt. Im Wintersemester 2013/14 führten
mehr als 87 Prozent aller Studiengänge zu Bachelor- und
Masterabschlüssen.

Die Steigerung der Mobilität ist ein weiteres Kernziel
der Bologna-Reform. Dabei ist für die Studierenden
wichtig, dass ihre im Ausland erbrachten Studienleistun-
gen anerkannt werden. Ich freue mich über die positive
Entwicklung dieser Anerkennungsrate in Deutschland in
den vergangenen Jahren. Sie ist von 41 Prozent im Jahr
2007 auf knapp 70 Prozent im Jahr 2013 angestiegen.

Mit Blick auf die Auslandsaufenthalte von Studieren-
den und Wissenschaftlern zeigt sich, dass im Zuge der
Bologna-Reformen die Auslandsmobilität ganz entschei-
dend gestiegen ist. Rund 140 000 Deutsche studierten
2012 an ausländischen Hochschulen. Das ist fast dreimal
so viel wie vor der Bologna-Reform.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein Drittel der deutschen Studierenden hat mindes-
tens einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absol-
viert. Damit liegen wir deutlich über dem Mobilitätsziel
der Bologna-Staaten. Rund 16 000 deutsche Wissen-
schaftler waren im Jahr 2012 im Ausland, vor allem in
den USA, Großbritannien, Frankreich und China.

Ich denke, diese reinen Zahlen können nicht hinrei-
chend vermitteln, wie wichtig diese Auslandsmobilität
ist; denn sie verschafft unseren Studierenden auch ein
Stück Weltoffenheit, einen Blick für das, was in der
Welt los ist. Gleichzeitig bietet die große Anziehungs-
kraft der Bundesrepublik Deutschland als Gastland für
ausländische Studierende und Wissenschaftler eine
große Chance. Laut OECD steht Deutschland unter den
nichtenglischen Gastländern an erster Stelle;


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


nur in den USA und in Großbritannien gibt es mehr aus-
ländische Studierende.

Ich denke, das ist ein großer Erfolg unserer jahrelan-
gen Bemühungen, den Studienstandort Deutschland
international zu präsentieren. Mittlerweile stellen aus-
ländische Wissenschaftler 10 Prozent der Mitarbeiter an
unseren wissenschaftlichen Einrichtungen und in den
Hochschulen. Mehr als 300 000 ausländische Studie-
rende kamen zum Studium nach Deutschland. Das ist
eine Verdoppelung im Verhältnis zu 1998, und das zeigt
die enorme Bewegung in dieser Zeit; zwei Drittel davon
sind Bildungsausländer.

Bund und Länder verfolgen mit ihrer Internationali-
sierungsstrategie das Ziel, die strategische Internatio-
nalisierung unserer Hochschulen zu befördern, eine
Willkommenskultur zu etablieren – ich nenne nur das
Stichwort „Welcome Center an den Hochschulen“ –,
internationale Campusse zu entwickeln und grenzüber-
schreitende Hochschulkooperationen zu ermöglichen.
Wir im Bundesbildungs- und -forschungsministerium
unterstützen die Internationalisierung beispielsweise
durch Beratungsmaßnahmen wie das Audit der Hoch-
schulrektorenkonferenz oder Programme des DAAD zu
strategischen Partnerschaften und durch Aktivitäten un-
serer Alexander-von-Humboldt-Stiftung.

Zu den Bologna-Zielen gehört auch die Stärkung der
sozialen Dimension.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fehlt noch bei Ihnen!)


Wir möchten gerne den Hochschulzugang auch für die-
jenigen aus bildungsfernen Schichten öffnen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!)


Das BAföG spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Na dann!)


Mit dem 25. BAföG-Änderungsgesetz passen wir die
Ausbildungsförderung an die aktuellen Lebensverhält-
nisse an.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Leider nicht! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Erhöhung kommt erst 2016! Vorziehen und besser machen!)


Gleichzeitig schließen wir die Förderlücke bei der zwei-
stufigen Bachelor- und Masterstudienstruktur. Dies ist
ein richtiger und wichtiger Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: So ein hervorragendes Gesetz!)






Parl. Staatssekretär Thomas Rachel


(A) (C)



(D)(B)

Beim Thema „Lebenslanges Lernen“ zielt die
Bologna-Reform darauf, die Hochschulen für neue Stu-
dierendengruppen zu öffnen. Hier hat die gestufte Studi-
enstruktur mit Bachelor- und Masterabschlüssen eine
Vielzahl von Einstiegs- und Übergangsoptionen zwi-
schen dem Arbeitsmarkt und den Hochschulen eröffnet.
Die Zahl der beruflich Qualifizierten ohne schulische
Hochschulzugangsberechtigung konnte seit 2002 auf
über 12 000 Studierende verzehnfacht werden.


(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])


Das ist schon etwas; aber es ist natürlich noch sehr viel
zu tun.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schneckentempo bei 2,7 Millionen Studierenden!)


Der neue Bund-Länder-Wettbewerb „Aufstieg durch
Bildung: offene Hochschulen“ wird einen wichtigen
Beitrag dazu leisten, die Hochschulsysteme insgesamt
zu verändern und zu öffnen.

In diesen Tagen konnten wir lesen, dass die Studie des
Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und des
Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gezeigt hat,
dass der Bachelor als Abschluss in der Wirtschaft gut an-
kommt und gute Karrierechancen eröffnet. Es werden
fast identische Einstiegsgehälter gezahlt, und es werden
gute Karriereperspektiven angeboten.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Nicht bei den Studierenden von Universitäten!)


Bei der Umsetzung der europäischen Hochschul-
reform können wir natürlich nicht nur national agieren,
sondern wir machen das im Verbund mit 46 anderen
Staaten des Europäischen Hochschulraums. Auf der Bo-
logna-Konferenz in Eriwan am 14./15. Mai gibt es nach
unserer Auffassung einiges zu tun. Ich will einige Stich-
worte nennen:

Wir werden einbringen, dass die Anerkennung akade-
mischer Qualifikationen und Abschlüsse zum Weiterstu-
dium, aber auch zur Berufsausübung verständlicher und
handhabbarer gemacht werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!)


Wir werden die Förderung der Mobilität von Lehr-
amtsstudierenden zum Thema machen;


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


eine sehr wichtige Aufgabe, um die Erfahrung auch in
anderen Ländern einbringen zu können.

Wir möchten gerne den europäischen Ansatz zur
Akkreditierung gemeinsamer Studiengänge, das heißt
die einfachere Handhabung der Qualitätssicherung von
internationalen Studiengängen, den sogenannten Euro-
pean Approach, nach vorne bringen. Das ist keine einfa-
che Aufgabe, aber eine notwendige. Wir sind auch be-
reit, Staaten, die sich bei der Umsetzung der Reformen
noch schwertun, zu helfen und sie aufgrund unserer na-
tionalen Erfahrung bei diesem Prozess zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt mit 46
anderen Ländern einiges zu besprechen; 46 Länder, die
ganz andere Strukturen und Ausgangssituationen haben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie auch mal mit den Studierenden!)


Vielleicht erkennt man daran – das ist mein abschließen-
der Gedanke –: Dieser Bologna-Prozess mit 46 anderen
Ländern ist ein einmaliges Forum, das Brücken
zwischen ganz unterschiedlichen Ländern bauen kann.
Lassen Sie uns diese Brücken gemeinsam bauen, damit
die Hochschulen aus diesen ganz unterschiedlichen Län-
dern zusammenarbeiten. Wenn das im Bereich der Hoch-
schulen gelingt, dann besteht auch die Chance, dass die
Gesellschaften in diesen Ländern das insgesamt schaf-
fen. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Dafür kann die
Konferenz in Eriwan stehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810310000

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Nicole Gohlke,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810310100

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die

Bologna-Reform war wohl die tiefgreifendste Struktur-
reform, die die Hochschulen bisher erlebt haben. Insbe-
sondere die Wirtschaft hatte Druck gemacht mit der
Forderung, dass sie jüngere und auch effizienter ausge-
bildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen
wollte. 1999 wurde die Hochschulreform in Bologna
von den europäischen Bildungsministern und -ministe-
rinnen unterzeichnet.

Die Reform wurde von massiven Protesten der Stu-
dierenden begleitet. Bis heute wird sie heftig kritisiert.
Studierende wenden sich gegen den hohen Prüfungs-
druck. Sie wenden sich dagegen, dass es zu wenige Mas-
terstudienplätze gibt. Sie prangern die fehlende kritische
Auseinandersetzung mit Inhalten an. Dieter Lenzen, Prä-
sident der Universität Hamburg, spricht sogar davon,
dass sich Bildung und Bologna gegenseitig ausschließen
würden. Die Chefs der Hochschulrektorenkonferenz
sagen, dass die Bildung der Persönlichkeit in den
Schmalspurstudiengängen auf der Strecke geblieben sei.

Nun muss man sich nicht jede Kritik zu eigen ma-
chen. Es gibt auch die Haltung – dessen bin ich mir sehr
wohl bewusst –, die darin besteht, von der Exklusivität
der Universität zu träumen und die Abgeschiedenheit
des Elfenbeinturms zu bevorzugen. Darum geht es uns
natürlich nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber keine Haltung ist es, den öffentlichen Diskurs und
die Kritik einfach zu negieren.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)






Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)

Die Bundesregierung schweigt ausnahmslos zu allen
kritischen Punkten. Das geht nicht, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie meinen wohl, es reiche, Erfolge herbeizureden
und den Rest einfach auszusitzen. Das Bildungsministe-
rium beschränkt sich darauf, zu verkünden, dass der Ba-
chelorstudiengang eine Erfolgsstory sei. Aber das sehen
nicht einmal die Unternehmen so. Ihnen müsste auch be-
kannt sein, dass Bachelorabsolventinnen und -absolven-
ten von Universitäten beim Berufseinstieg immer noch
26 Prozent weniger Lohn bekommen als diejenigen mit
traditionellen Abschlüssen. Das kann so nicht bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Fakt ist doch: Gerade einmal 17 Prozent der Bache-
lorstudierenden gehen ins Ausland, obwohl doch Mobi-
lität das große Ziel der Reform war. Nicht einmal jeder
Zweite schafft das Studium in der vorgegebenen Regel-
studienzeit, jeder vierte Studienanfänger bricht das
Studium ab. Das ist im Jahr 16 nach der Reform einfach
eine schlechte Bilanz und auch nicht mit Umsetzungs-
problemen zu erklären.


(Beifall bei der LINKEN)


Zynisch ist es, dass Frau Wanka es Ende letzten
Jahres bedauerte, dass sich die Studierenden heutzutage
so wenig für Politik interessieren. Zynisch ist das deswe-
gen, weil es immer die Unionsparteien waren, die die
Studierendenproteste und die sich einmischenden Stu-
dierenden klein- und schlechtgeredet haben,


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ich finde den RCDS super!)


und weil diese Entpolitisierung, die heute diskutiert
wird, schlicht eine Folge Ihrer Politik ist. Das sollten Sie
einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der dauernde Druck, den der Bologna-Prozess produ-
ziert hat, nimmt den Studierenden die Luft zum Atmen.
Es sind natürlich die Unterfinanzierung und die einsei-
tige Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen, die die Hoch-
schulen als Ort der Kritik, als Ort der Reflexion zuneh-
mend austrocknen.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deswegen müssen die Länder was machen!)


Daran will diese Regierung doch nichts ändern.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deswegen haben wir die BAföG-Milliarden gegeben!)


An all dem halten wir fest, weil Sie die Bologna-Reform
offenbar genau so wollten. Also vergießen Sie keine
Krokodilstränen um mangelndes politisches Engage-
ment, sondern seien Sie an dieser Stelle lieber ehrlich
und sagen Sie, dass es Ihnen so ganz recht ist.


(Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: 38 Milliarden für den Hochschulpakt!)

Die Kollegen Rossmann von der SPD und Kai
Gehring von den Grünen haben vor etwa einem Jahr in
einem gemeinsamen Artikel davon gesprochen, dass das
gestufte Bachelor-/Mastersystem eine Chance für die
Kultur des lebenslangen Lernens sei.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht! Toller Beitrag!)


Ich sage Ihnen: Auch ich wünsche mir das. Aber ich
finde, die Realität gibt das bisher überhaupt nicht her.
Bislang schafft dieses System keine neuen Zugänge,
sondern es schafft leider neue Hürden. Bisher selektiert
es und schließt aus. Und genau davon haben wir mehr
als genug. Wir brauchen wirklich keine neuen Schranken
im Bildungssystem.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich muss Ihnen auch sagen: Die Forderungen, die
Wirtschaftsvertreter wie zum Beispiel die Deutsche In-
dustrie- und Handelskammer jetzt aufstellen, setzen dem
Ganzen doch wirklich noch die Krone auf. Sie fordern
noch mehr Praxisbezug und meinen in Wahrheit einen
noch passgenaueren Zuschnitt auf die eigenen Ansprü-
che. Dafür – so schlagen sie dann zum Beispiel vor –
kann man ja das Auslandssemester auch ganz streichen.
Das bräuchten die meisten doch eh nicht, weil sie ja am
Ende in deutschsprachigen Unternehmen arbeiten.

Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, genau das ist
der Kern der Auseinandersetzung. Genau hier teilen sich
auch die Positionen: Geht es um eine Bildung, verstan-
den als Menschenrecht, verstanden als Horizonterweite-
rung und als Persönlichkeitsbildung, oder geht es um ei-
nen Bildungsbegriff, der nur noch das kurzfristige
Fitmachen für den Arbeitsmarkt im Blick hat? Die Ant-
wort der Linken ist da eindeutig. Wir sagen: Entschleu-
nigung statt Verkürzung und Prüfungsstress. Wir sagen:
Öffnung und Durchlässigkeit statt neuer und alter Hür-
den. Wir wollen nachhaltiges und kritisches Wissen statt
marktkonformes Know-how. Dieses Bildungsverständ-
nis brauchen wir im Übrigen in allen Bildungsbereichen,
nicht nur in der akademischen Bildung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen endlich auch einmal Reformprozesse, die
von unten entstehen, an denen Studierende, Lehrende so-
wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt
sind und beteiligt werden. Damit würde es dann viel-
leicht auch einmal etwas mit dem Europäischen Hoch-
schulraum werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810310200

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt

Dr. Daniela De Ridder.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1810310300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Studierende! 1786 reiste Johann





Dr. Daniela De Ridder


(A) (C)



(D)(B)

Wolfgang von Goethe von Weimar nach Italien. Für den
damals 37-Jährigen waren es beschwerliche 956 Kilo-
meter, bis er endlich Bologna erreichte. Was trieb den
Juristen und Schriftsteller Goethe um, dass er diese Stra-
pazen auf sich nahm?


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Der Bachelor! – Heiterkeit)


– Richtig, Herr Kollege, es waren in der Tat Studien. –
Er interessierte sich für Flora und Fauna; Kunstge-
schichte und Architektur gehörten auch dazu. Dies alles
kann man im Übrigen in seinen Tagebuchaufzeichnun-
gen nachlesen, die er später unter dem Titel Italienische
Reise veröffentlicht hat.

Hatten die europäischen Wissenschaftsministerinnen
und -minister, die vor 16 Jahren den Bologna-Prozess
angestoßen haben, Goethe gelesen? Ich weiß es nicht.
Überliefert ist es nicht. Wohl aber ist die Idee überliefert,
die sie seinerzeit hatten. Es ging und geht um die Öff-
nung des Europäischen Hochschulraumes. Das umfasst
die Stärkung der Mobilität von Studierenden, von Leh-
renden und von Forschenden, aber auch von Beschäftig-
ten im Hochschulwesen. Zu dieser Idee gehören das
Voneinander- und das Miteinander-Lernen, das Aner-
kennen von Studienleistungen sowie die Stärkung der
Berufsbefähigung. Darum geht es, um die sogenannte
Employability. Reisen bildet, und Auslandsaufenthalte
helfen, Fremdheit zu überwinden. Das ist doch immer
ein inspirierender Lernprozess.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute gehören – man höre und staune – 47 Länder
zum Bologna-Hochschulraum. Dazu gehören neben den
bekannten und erwarteten vor allem auch solche Länder
wie Albanien, Aserbaidschan, der Vatikanstaat, Kasach-
stan und die Ukraine. Weißrussland – darüber, finde ich,
könnten wir auch noch einmal nachdenken – führt ge-
rade Beitrittsverhandlungen.

Zunächst – das will ich gerne zugeben, Frau Gohlke –
war der Bologna-Prozess sehr sperrig. Magister- und
Diplomstudiengänge wurden auf Bachelor und Master
umgestellt. Kritisiert wurde der Prozess auch aufgrund
der Verdichtung der Studieninhalte. Man sprach von
Bulimielernen. Aber das ist eine Diskreditierung des
Bologna-Prozesses; denn Probleme an den Hochschulen
gab es auch schon vor dem Bologna-Prozess. Die gilt es
und galt es, zu verringern.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber Reformen sollen die Dinge besser und nicht schlechter machen!)


In den vergangenen 16 Jahren haben wir deshalb
– lassen Sie mich das noch einmal betonen – viel
erreicht und noch mehr getan, um diesen Prozess zu un-
terstützen und zum Erfolg zu machen. Wir haben Studi-
enleistungen anerkannt. Ich erinnere an das ECTS-Sys-
tem. Wir haben das Stipendienprogramm Erasmus+
ausgebaut. Wir haben das Aktionsprogramm „Bologna
macht mobil“ beim DAAD angesiedelt, mit dem Hoch-
schulkooperationen zwischen deutschen und europäi-
schen Hochschulen ausgebaut werden. Wir haben – da-
rauf bin ich besonders stolz – das Auslands-BAföG
ausgebaut. Hier kann man nämlich die Übernahme von
Reisekosten und eine flankierende Finanzierung der
besonders teuren Studiengebühren beantragen. Wir ha-
ben Gott sei Dank keine mehr in der Bundesrepublik.


(Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschafft!)


Wir haben aber noch mehr gemacht. Ich bin ganz
dankbar, dass wir über den europäischen Raum hinaus-
gegangen sind. Jungen Menschen aus Drittstaaten, die
bei uns studiert haben, haben wir jetzt ermöglicht, dass
sie noch 18 Monate nach ihrem Studienabschluss hier-
bleiben können, um einen Job zu finden. Das zeigt doch,
dass wir die Internationalisierung deutlich ausgebaut ha-
ben und uns sicher sein dürfen, dass es auch noch weiter-
gehen kann.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-
sition, ich bin SPD-Bundestagsabgeordnete. Ich glaube,
meine Partei steht keineswegs in dem Verdacht, sich mit
dem Erreichten zufriedenzugeben, im Gegenteil.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Na ja!)


Daher nehmen wir die Herausforderungen, die sich
auch in der Zukunft stellen, gerne an. Ich will einige we-
nige Beispiele nennen. Der Hochschulpakt ist schon ge-
nannt worden. 10 Prozent der Landes- und Bundesmittel
sollen für die Stärkung des Studienerfolgs zur Verfügung
gestellt werden.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie soll das gehen?)


Allein die Bundesfinanzierung – ich habe etwas andere
Zahlen als Herr Rachel – bis 2023 beträgt 20,3 Milliar-
den Euro. Hiermit flankieren wir die Universitäten und
vor allem die Fachhochschulen sehr deutlich.


(Beifall bei der SPD)


Wir stärken die Qualität von Lehre durch den entspre-
chenden Pakt und verbessern noch einmal deutlich die
Betreuung von Studierenden; denn um die geht es. Da
haben Sie recht, aber das machen wir schon. Wir wollen
Studienabbrüche vermeiden und den Studienerfolg aus-
bauen. Im Bund-Länder-Programm sind dafür bis 2020
weitere 2 Milliarden Euro veranschlagt. Sagen Sie doch
bitte nicht, das sei nichts.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir werden auch die Doppelabschlüsse von deut-
schen und europäischen Hochschulen fördern und dabei
– da dürfen Sie sicher sein – auch auf die Qualitätssiche-
rung der Dual Degrees achten. Wir fördern einerseits Be-
rufsorientierung und andererseits Berufsbefähigung
durch Kompetenzlernen. Auch mit dem Projekt „nexus“
– Herr Rachel hat es nicht erwähnt – sowie der Pro-
grammlinie „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschu-
len“ unterstützen wir die vielfältigen Studierendengruppen





Dr. Daniela De Ridder


(A) (C)



(D)(B)

und ihre Lernerverschiedenheit. Diversity Management
heißt hier das Gebot der Stunde.

Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung fördert dezidiert
solche Konzepte, die einen Auslandsaufenthalt von Lehr-
amtsstudierenden, Lehrenden und Forschenden ermögli-
chen. Unser Ziel ist es – auch darauf bin ich stolz –, dass
jeder zweite Studierende während des Studiums im Aus-
land war. Bisher sind es 30 Prozent; wir wollen, dass es
50 Prozent werden. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben wir
im Koalitionsvertrag vereinbart, und darauf dürfen wir
stolz sein.

Mit dem Bologna-Prozess unterstützen wir auch das
Demokratielernen; denn durch den Blick über den Tel-
lerrand können Erkenntnisse gewonnen werden, die für
mehr Offenheit und Toleranz stehen, gerade durch den
Vergleich mit dem Ausland.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Reisen bildet – das wusste nicht nur Goethe. Lieber
Herr Rachel, bitte richten Sie eine kleine Botschaft an
Frau Ministerin Wanka aus: Ich würde mir wünschen,
dass Frau Wanka in der Tat nach Eriwan in Armenien
fährt und persönlich an der Bologna-Konferenz teil-
nimmt. Bitte machen Sie auch deutlich, dass es eine
Mission gibt, die sie dort vertreten sollte, nämlich dass
Bildung insbesondere für junge Menschen, aber auch für
den Bereich des lebenslangen Lernens immer auch Zu-
kunftschancen beinhaltet.

Es ist wichtig, dass wir Armenien nicht nur mit dem
Genozid in Verbindung bringen, sondern auch mit Klug-
heit, Innovation und Wissensdurst. Anders als Goethe
kann Frau Wanka die Distanz von Berlin nach Eriwan
leicht überwinden, auch wenn es 3 306 Kilometer sind.
Mehr als die Überwindung von geografischen Distanzen
gilt es, die Distanzen zwischen Menschen zu überwin-
den und abzubauen. Seien wir also optimistisch und zu-
kunftsorientiert, und stecken wir damit bitte, lieber Herr
Rachel, auch unsere europäischen Nachbarn an.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810310400

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Kai Gehring, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810310500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Studierende!
Der Bologna-Prozess hat die Perspektive auf einen Euro-
päischen Hochschulraum eröffnet und das Studium
grundlegend verändert. Die Ziele: ambivalent bis ambi-
tioniert; die Umsetzung: lange umstritten und mehrmals
korrigiert, heute auf halbwegs vernünftigen Gleisen,
aber unvollendet – so blicken wir Grüne auf 16 Jahre
Studienreform in Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zwei Aspekte sind mir für die nationale Umsetzung
besonders wichtig: erstens die Chancen der Studieren-
den, die sich aus der Bachelor-Master-Struktur ergeben,
und zweitens die soziale Öffnung unserer Hochschulen.
Ich denke, zu beiden Aspekten gibt es noch viel zu tun,
auch für diese Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wissenschaftsministerin Wanka – wenn sie denn wirk-
lich selber fährt – macht sich mit einer durchwachsenen
Bologna-Bilanz auf den Weg zur Ministerkonferenz nach
Eriwan. Bachelor und Master sind als Abschlüsse weitest-
gehend etabliert; erstklassige Studienbedingungen, höhere
Qualität und mehr Mobilität für alle Studierenden lassen
aber weiter auf sich warten. Ein erfolgreiches Studium ge-
hört endlich in den Mittelpunkt der Bologna-Reform,
hierzulande und europaweit. Erfolgreiches Studieren heißt
für mich: persönliches Wachstum, breite Bildung und Per-
spektiven als Absolvent; darum geht’s.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Claudia Lücking-Michel [CDU/CSU])


Zentrales Ziel der Bologna-Reform, lieber Herr
Rachel, ist die Öffnung der Hochschulen, vor allem für
Studierende der ersten Generation. Auf diesem Feld ist
der Fortschritt in Deutschland leider eine Schnecke: Ob
jemand studiert – oder, wenn er oder sie studiert, ob er
oder sie dann wirklich auch mobil ist –, hängt sehr stark
von der sozialen Herkunft und dem Konto der Eltern ab.
Es ist nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen; aber es
ist einfach völlig unbefriedigend, wie wenig die Große
Koalition dafür tut. Warum kommt die BAföG-Erhö-
hung erst im Herbst 2016, und warum fällt sie so zaghaft
aus? Die Studierenden brauchen jetzt eine höhere und
eine bessere Studienfinanzierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, freuen wir uns gemeinsam
über 2,7 Millionen Studierende in Deutschland! Das ist
gut für Bildungschancen und unser Hochtechnologie-
land. Das Herbeireden eines angeblichen Akademisie-
rungswahns ist deplatziert und fahrlässig.


(Beifall der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Anstatt diese Phantomdebatte weiter zu befeuern und
das Studieren zu attackieren, wäre es dringend notwen-
dig, dass CDU/CSU und SPD den Vorschlägen der grü-
nen Opposition folgen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ui!)


Wir wollen sowohl die duale Ausbildung stärken als
auch die Hochschulen sozial öffnen. Durchlässigkeit und
Ausbildungsgarantie, um beides geht es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Machen wir doch!)






Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

Ein sozialeres und wissensbasiertes Europa muss Hür-
den abbauen und Mobilität für alle gleichermaßen er-
möglichen. Dafür muss die Koalition mehr tun!

Die Gesamtverantwortung des Bundes für das Hoch-
schulsystem lässt sich nicht einfach an die Länder und an
die Hochschulen delegieren, so wie Sie das in Ihrem An-
trag machen.

Mit reiner Lobhudelei und Nichtstun riskiert man die
Akzeptanz der Reform, liebe Koalition; denn für Re-
formgegner gilt Bologna wahlweise als neoliberales Un-
geheuer oder als Ruhestörung im exklusiven Elfenbein-
turm. Liebstes Feindbild ist der Bachelor: Glaubt man
manchen Wirtschaftsvertretern, hat ein Bachelorabsol-
vent zwei linke Hände. Glaubt man manchem Konserva-
tiven oder der Linksfraktion, hat ein Bachelor den geisti-
gen Horizont eines Maulwurfs,


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


und erst der Master macht einen zur intellektuellen
Lichtgestalt. All das ist selektive Wahrnehmung und
Schwarz-Weiß-Denken. Die Realität ist differenzierter.
Schönbeten wie schlechtreden, beides wäre verkehrt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)


In einzelnen Fächern ist erst der Master oder gar die
Promotion Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt – das war
aber auch schon zu Diplomzeiten so.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es ist aber nicht jemand nach dem Vordiplom aussortiert worden!)


In der Mehrzahl der Fächer gibt es auch mit Bachelor in
der Tasche sehr gute Einstiegsbedingungen. Darum: Wir
brauchen keinen Masterzwang, sondern Masterplätze für
alle, die Master studieren wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Die Linke sagt aber, der Master müsse Regelabschluss
sein. Ich finde, das muss nicht immer sein. Die zweistu-
fige Struktur – erst der Bachelor, dann der Master –
macht Sinn. Überquellende Curricula und permanenter
Prüfungsstress sind Unsinn. Das Entfrachten von Studi-
engängen ist keine Mission Impossible, da muss einfach
mehr passieren.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wenn man mehr Zeit hätte!)


Wem im Ausland erworbene Studienleistungen nach
der Rückkehr nicht anerkannt werden, der ist natürlich
zu Recht sauer und demotiviert. Deshalb fordern wir als
Grüne seit Jahren eine echte Anerkennungsgarantie, da-
mit Mobilität persönliches Wachstum bringt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Also: Der Druck muss raus, die Zahl der Studienab-
brüche muss runter, Zeitfenster und ein förderliches
Lern- und Arbeitsumfeld müssen her. Allein dafür müs-
sen Bund, Länder und Hochschulen ihre Zusammenar-
beit ausbauen. Ein weltoffenes und modernes Deutsch-
land muss den freizügigen Europäischen Hochschulraum
konsequent verwirklichen, für die junge Generation
mehr Mobilität wagen und Hochschulzugänge öffnen,
unabhängig von der Herkunft. Damit würde das Studie-
ren besser und Europa sozialer und erfahrbar; darum
muss es uns allen gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810310600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Katrin

Albsteiger, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Albsteiger (CSU):
Rede ID: ID1810310700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast

16 Jahre ist es her, da haben sich 29 Bildungsminister
getroffen, um Studiengänge und Studienabschlüsse zu
harmonisieren. Das war der Anfang, der Beginn, der
Grundstein des Europäischen Hochschulraums. Genau
dieser ist inzwischen kein abstraktes, nicht greifbares
rein politisches Gebilde mehr, sondern es ist Normalität
geworden – Normalität für Studenten in insgesamt
47 Staaten, die inzwischen Teil dieses Europäischen
Hochschulraums geworden sind.

Im Rahmen dieser Entwicklung sind nationale Ab-
schlüsse wie der Magister und das Diplom bei uns – das
Diplom war heiß geliebt; wir alle wissen, dass es heftige
Diskussion darüber gab; auch ich habe als Abschluss ein
Diplom, und tatsächlich schlägt auch mein Herz ab und
zu noch dafür; das gebe ich offen zu – zu europäischen
Abschlüssen geworden: zu Bachelor und Master. Das
war vor 20 Jahren noch Science-Fiction. Inzwischen ist
es Realität geworden.

Ebenso Realität ist geworden, dass schwedische, bri-
tische und deutsche Absolventen vergleichbare Studien-
leistungen erbringen und vergleichbare Abschlüsse ma-
chen können. Auch das war vor 20 Jahren noch absolut
undenkbar. An dieser Stelle zeigt sich, dass Europa dann
am allerbesten ist, wenn es konkrete, greifbare Ergeb-
nisse und Verbesserungen für den Alltag der einzelnen
Menschen hervorbringt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich würde es sogar als gelebte europäische Integration
bezeichnen – und das über die Grenzen der Europäi-
schen Union hinaus. Deswegen finde ich, dass die De-
batte heute durchaus Anlass gibt zu Lob und Freude da-
rüber, was sich in den letzten Jahren alles entwickelt hat.
Selbstverständlich kann man an dieser Stelle auch auf
die Punkte hinweisen, wo noch Entwicklungspotenziale
schlummern, wo es noch Verbesserungspotenziale gibt,





Katrin Albsteiger


(A) (C)



(D)(B)


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!)


aber man kann nicht nur Kritik üben um der Kritik wil-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stichwort „Auslandserfahrung“. Auslandserfahrun-
gen sind für Studenten enorm wichtig. Ich habe die
Möglichkeit gehabt, im Ausland zu studieren, und ich
kann sagen, dass ein Auslandsstudium nicht nur eine
Entwicklung bedeutet, eine Erweiterung der persönli-
chen Erfahrung und des Wissens in dem jeweiligen Stu-
diengang, sondern dass es einen persönlich unfassbar
weiterbringt. Das ist für die Persönlichkeitsstruktur,
glaube ich, eine ganz wichtige Sache.

Deswegen ist es auch ein Glück, dass inzwischen im-
mer mehr Studenten die Möglichkeit haben, ins Ausland
zu gehen, und diese Chance auch nutzen. Seit 2009 liegt
die Auslandsmobilitätsquote zwar konstant bei 30 Pro-
zent, aber bei immer mehr Studenten in Deutschland ist
die Anzahl derjenigen, die ins Ausland gehen, massiv
gestiegen, und das ist auch gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da werden wir mit der Internationalisierungsstrategie
noch einen ganz schönen Weg vor uns haben – hin zu
positiven Entwicklungen.

„Vergleichbarkeit der Abschlüsse“ ist ein ganz wichti-
ges Thema. Aber die Vorteile beim Harmonisierungspro-
zess fangen schon früher an, und zwar da, wo es um die
einzelne Studienleistung geht. Da ist sicherlich noch viel
zu tun; denn es ist ein Motivationsfaktor für einen Stu-
denten, ins Ausland zu gehen, wenn er weiß, dass das,
was er dort an Studienleistung erbringt, hier tatsächlich
anerkannt wird. Das ist nicht ganz einfach – trotz der gu-
ten Entwicklung; die Anerkennungsquote ist von 41 Pro-
zent auf inzwischen fast 70 Prozent gestiegen. Die Reali-
tät mag an den Hochschulen unterschiedlich sein. Ganz
problemlos läuft das nicht. Da müssen die Hochschulen
auf jeden Fall ran. Sie müssen ihre Spielräume nutzen,
um schnell zu Verbesserungen bei der Verlässlichkeit der
Anerkennung zu kommen; da ist auch mehr Transparenz
notwendig. Dafür wollen wir uns einsetzen.

Es gilt das, was bei dem Prozess ganz wichtig ist: Wo
„Bachelor“ draufsteht, ist auch „Bachelor“ drin, und
zwar völlig egal, ob man diesen Abschluss in Athen oder
in München erwirbt.

Die Bundesregierung wird auf der Bologna-Konfe-
renz in der nächsten Woche in Eriwan auf viele Punkte
hinweisen, die angesprochen wurden, und sich auch
dafür einsetzen. Es ist ganz wichtig, an dieser Stelle zu
sagen: Wir Deutschen sind in vielen Dingen, was die
Bologna-Reform angeht, Vorbild. Wir haben einige
tolle Projekte und Programme; auch die Kollegin Frau
De Ridder hat sie schon angesprochen. Aber andere
Staaten müssen noch nachziehen. Dafür muss man sich
einsetzen. Darauf verlassen wir uns. Da sind wir auch
guter Dinge.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Schluss noch einen herzlichen Dank an die Kol-
legen Schipanski und De Ridder! Es hat Spaß gemacht,
den Antrag mit Ihnen zusammen zu erarbeiten.

Mein persönliches Fazit ist: Bei so manchem europäi-
schen Projekt stehen wir vielleicht erst im Halbfinale; da
muss noch das eine oder andere Spiel gewonnen werden.
Manchmal reichen auch drei Tore nicht aus. Beim Euro-
päischen Hochschulraum aber sind wir auf jeden Fall
schon im Finale angekommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810310800

Danke schön. – Als Nächstes hat Dr. Ernst Dieter

Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1810310900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist schon gute Tradition, dass wir vor den Bologna-
Konferenzen, auf denen uns die Regierung vertritt, im
Parlament darüber diskutieren, wie wir den Bologna-
Prozess unterstützen können und in welchem Geiste das
geschehen soll. Ich will drei Punkte herausgreifen, die
sich nur im Antrag der Koalitionsfraktionen und nicht in
den Anträgen der Linken und der Grünen finden.

Der erste Punkt. Sie erinnern sich, dass 2001 eine
erste Bologna-Konferenz in Prag stattfand, 2010 eine
weitere in Budapest, 2012 in Bukarest, jetzt in Eriwan.
Wir sagen in unserem Antrag: Ja, wir möchten, dass in
Eriwan die osteuropäische Orientierung praktisch doku-
mentiert wird und dass auch Weißrussland eine Chance
bekommt, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn es ist nicht zu erklären, dass die Russische Födera-
tion, ein so „demokratischer“ Staat wie Kasachstan,
wenn ich das ironisch sagen darf, sowie Moldau dabei
sein sollten, aber Weißrussland 70 Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs nicht. Ich kann es auch anders
ausdrücken: Nichts ist hinsichtlich der Schaffung von
Demokratie subversiver als ein aufgeklärter Student, der
in einem anderen europäischen Land studiert hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das darf man nicht offiziell sagen, aber wir alle dürfen
daran denken. Deshalb werben wir dafür, dass die Bun-
desregierung an dieser Stelle ihr Gewicht einbringt und
dazu beiträgt, dass es einen 48. Staat gibt, der sich der
europäischen Bildungsidee anschließen kann.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist doch keiner dagegen!)


Der zweite Punkt. Herr Rachel, wir begrüßen es sei-
tens der SPD, aber auch der gesamten Koalition aus-





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

drücklich, dass Sie die Lehrerbildung mit in den Mittel-
punkt stellen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


wofür andere mit überzeugt werden sollen. Wenn man
sich die Zahlen vor Augen führt, weiß man, dass nur 25
Prozent der Lehramtsstudierenden – das Lehramt ist eine
Königsdisziplin an den Hochschulen – ein Auslandsstu-
dium aufnehmen; bei den übrigen Studierenden sind es
schon 35 Prozent. Diese Differenz ist nicht zu erklären
und auch nicht zu begründen. Wenn wir tatsächlich In-
ternationalität erreichen und die Selbstverständlichkeit
vermitteln wollen, dass man seinen Geist auch im Aus-
land erweitern und so Weltoffenheit entwickeln kann,
dann doch über den Bildungsträger Lehrer, über die Per-
sönlichkeit des Lehrers. Eigentlich müssten wir, wenn es
nicht arrogant wäre, sagen: 100 Prozent derjenigen, die
ein Lehramtsstudium absolvieren, müssen Auslandser-
fahrungen sammeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das ist ein großes Ziel; aber man darf mit dem Bologna-
Prozess auch große Ziele verbinden. Wir finden es gut,
dass sich auch der DAAD damit auseinandergesetzt hat,
dass er 2013 eine Tagung veranstaltet hat und sieben
konkrete Punkte entwickelt hat. Wir fühlen uns jetzt bei
der Bundesregierung bestens aufgehoben und sind uns
sicher, dass sie diese Punkte mit nach Eriwan und zu den
Folgekonferenzen trägt.

Der dritte Punkt, der sich auch nur im Antrag von
CDU/CSU und SPD findet, ist der Begriff der europäi-
schen Bildungsidee. Es gibt welche, die sagen, dass der
ganze Bologna-Prozess ein technokratischer Prozess ist.
Es ist aber auch gut, wenn es saubere Strukturen gibt;
man darf die Technokratie nicht diffamieren. Aber was
ist die europäische Bildungsidee? Ist die europäische
Bildungsidee nicht die Idee der Freiheit des Geistes?
Geht es nicht darum, die Menschen so zu bilden, dass sie
Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit, die Fähigkeit zur Kri-
tik an Ideologien, entwickeln? Ist es nicht auch die
Ganzheitlichkeit der Bildung, eine europäische Bil-
dungsidee? Ist die europäische Bildungsidee nicht von
Weltoffenheit geprägt? Wenn der Bologna-Prozess jetzt
hinsichtlich der Strukturen auf Internationalität, Ver-
gleichbarkeit, Mobilität und anderes zielt und darüber
hinaus angestoßen wird, dass wir uns zukünftig um die
Qualität der gemeinsamen universitären hochschuli-
schen Bildung in diesem großen europäischen Bildungs-
raum bemühen, dann wird es Streit geben; aber schon
die Qualität des Streites kann zu einer Qualität des euro-
päischen Bildungsraumes werden.

Ich möchte anerkennen, dass die Grünen und die Lin-
ken den Bologna-Prozess technokratisch-strukturell mit
optimieren wollen. Nur, das reicht uns nicht.

Wir werben darüber hinaus dafür, die Bundesregie-
rung mit drei klaren Botschaften zur Konferenz zu ent-
senden: erstens die Osteuropaorientierung komplett ma-
chen, sodass auch Weißrussland seine Chance bekommt,
zweitens die Lehrerbildung zukünftig in den Mittelpunkt
stellen, weil dies ein Treibriemen auf dem Weg zur Vi-
sion des Europalehrers ist, und drittens an der europäi-
schen Bildungsidee mitarbeiten. Das hat der Bologna-
Prozess verdient. Im Jahr 1119 hat es mit der Gründung
der ersten Universität in Europa überhaupt begonnen,
2090 müsste es gut abgeschlossen sein.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810311000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Tankred

Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1810311100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Rossmann hat es gesagt: Es ist eine gute Tradition,
dass wir begleitend zu den internationalen Bologna-
Konferenzen hier im Bundestag eine Debatte führen. Es
ist auch Tradition, dass Koalition und Opposition unter-
schiedliche Sichtweisen haben, aber, lieber Kollege
Gehring, noch nie haben wir hier in Bezug auf Bologna
von einem Akademisierungswahn gesprochen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann Ihnen Herrn Rupprecht zitieren!)


Traditionell ist es auch so, dass der Antrag, den die
Linke alle zwei Jahre erneut einbringt, weit an der Reali-
tät vorbeigeht. Sie haben sich leider nichts Neues einfal-
len lassen. Schon seit Jahren lesen wir: keine Luft, zu
viel Arbeitsdruck, zu viel Anwesenheitspflichten an den
Universitäten.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Weil Sie noch nie mit einem Studierenden gesprochen haben!)


– Frau Gohlke, ich verweise auf die vielen Reden, die zu
diesem Thema schon im Bundestag gehalten wurden.
Schauen Sie sich die Argumente einmal genau an, bevor
Sie in zwei Jahren wieder einen Antrag einbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wir sind schon damals wenig überzeugt gewesen! Das ist das Problem!)


Die Unionsfraktion begleitet den Bologna-Prozess
seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Wir haben unsere Er-
folge in dem vorliegenden gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU und SPD formuliert: der kontinuierliche Auf-
wuchs beim Hochschulpakt, der Pakt für gute Lehre, den
wir auf den Weg gebracht haben, oder die Exzellenzini-
tiative, die vor allen Dingen die Attraktivität, an deut-
schen Hochschulen zu studieren, für ausländische Stu-
dierende, aber auch für ausländische Lehrende ein
ganzes Stück erhöht hat, die Aktivitäten des DAAD
– Frau De Ridder hat darauf hingewiesen: Der DAAD
wird von uns sehr gut finanziell unterstützt, allen voran
vom BMBF –, und natürlich auch der kontinuierliche
Ausbau der Berufs- und Studienorientierung.

Wir haben in dieser Legislaturperiode die große
BAföG-Reform auf den Weg gebracht. Es gibt keine





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Förderungslücken zwischen Bachelor und Master, der
BAföG-Zugang für Angehörige von Drittstaaten wurde
erweitert, und die Länder werden finanziell erheblich
entlastet, und zwar um 1,17 Milliarden Euro pro Jahr.
Das ist ein substanzieller Beitrag zur Grundfinanzierung
unserer deutschen Hochschulen.


(Beifall des Abg. Albert Rupprecht [CDU/ CSU])


Das Geld können die Länder jetzt einsetzen, um die Stu-
dienbedingungen zu verbessern, und insbesondere auch,
um die soziale Dimension von Bologna voll zu finanzie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bund hat eine ganze Menge getan. Dennoch blei-
ben einige Fragen offen. Es gibt einige Probleme vor
Ort.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


– Ja, das betrifft drei Punkte, lieber Herr Gehring. – Das
ist zum einen die Überspezialisierung der Studiengänge.
Wir haben 9 837 grundständige Studiengänge und 8 120
weiterführende Studiengänge. Die Zahlen zeigen: Die
Spezialisierung ist zu extrem. Man kann insbesondere
die HRK nur auffordern, sie auf ein Normalmaß zurück-
zufahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn da machen?)


Ein weiteres Problem – Herr Gehring hat es angespro-
chen – ist die gegenseitige Anerkennungspraxis inner-
halb der deutschen Hochschulen. Das Problem betrifft
aber auch Studierende, die ihre Abschlüsse im Ausland
erworben haben. Das können wir gesetzgeberisch und
auch fiskalisch nicht lösen. Das ist der Autonomie der
Hochschulen geschuldet. Wir appellieren in unserem
vorliegenden Antrag ausdrücklich an die Hochschulrek-
torenkonferenz, hier gemeinsame Standards zu entwi-
ckeln und entsprechende Verabredungen zu treffen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit 16 Jahren appellieren Sie!)


Lieber Herr Gehring, über die Idee einer Anerken-
nungsgarantie muss man nachdenken.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und machen!)


Das ist ein interessanter Ansatz. Aber wir können nicht
festlegen, wann eine Klausur korrigiert wird, wann man
sich in ein Seminar einzuschreiben hat. Das unterliegt
der Hochschulautonomie. Das müssen wir anerkennen.

Was den Master betrifft – darüber wird regelmäßig
diskutiert –: Wir haben einen festen Standpunkt, den wir
in dieser Legislaturperiode nicht geändert haben. Jeder,
der die entsprechende Leistung erbringt, soll einen Mas-
terstudienplatz erhalten.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Kriegt er aber nicht!)

Beim Master geht es um eine wissenschaftliche Vertie-
fung. Der Regelstudienabschluss ist der Bachelor.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ein Bachelorabschluss zählt nicht als Zugang!)


Die Frage, wie die Masterstudienplätze vergeben wer-
den, muss fachspezifisch beantwortet werden. Natürlich
gibt es Studiengänge, in denen der Master als Regelab-
schluss zählt. Aber unsere differenzierte Hochschulland-
schaft macht ein entsprechend differenziertes Angebot.

Abschließend möchte ich darauf verweisen – Kollege
Rossmann hat darauf hingewiesen –, dass in unserem
Antrag der Blick nach Osteuropa wichtig ist. Die Mobi-
lität nach Osteuropa muss erhöht werden. Aus Osteuropa
kommen schon viele Studierende nach Deutschland.
Aber neben Frankreich und Großbritannien haben natür-
lich auch Estland, Polen und Armenien sehr gute Hoch-
schulen. In diesem Sinne sollte der Passus zu Belarus
verstanden werden.

Noch ein Wort zu den Chancen der Bachelorabsol-
venten auf dem Arbeitsmarkt. Es wurden dazu zwei Stu-
dien vorgelegt, eine vom DIHK, eine andere vom Institut
der deutschen Wirtschaft in Köln. Ich empfehle, einen
Artikel aus der Welt vom 2. Mai zu lesen, der die Verwir-
rung über die Erkenntnisse der Studie aufklärt. Für mich
steht fest: Die Zahlen sprechen für die Akzeptanz des
Bachelors in der Wirtschaft. Wir sind da auf dem richti-
gen Weg. Ich wünsche der Bundesregierung und dem
BMBF viel Erfolg auf der Bologna-Konferenz in Eriwan
und bitte Sie herzlich, unserem Koalitionsantrag zuzu-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810311200

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-

che angelangt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4801 mit dem Titel „Qualität von Studium und Lehre
im internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäi-
schen Hochschulraum erfolgreich gestalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkte 6 b bis 6 d. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
18/4385, 18/4802 und 18/4815 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Informationswei-
terverwendungsgesetzes

Drucksache 18/4614





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(9. Ausschuss)


Drucksache 18/4844

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitte
Sie, die Plätze einzunehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Brigitte Zypries.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


B
Brigitte Zypries (SPD):
Rede ID: ID1810311300


Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Schade, dass sich die Reihen hier so
leeren; denn das Thema, über das wir reden wollen, ist
ein Zukunftsthema. Damit sollte man sich befassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen es: Jede und jeder von uns nutzt Apps auf
Smartphones, mit denen wir Navigationshilfen finden,
mit denen wir uns über das Wetter informieren und man-
che von uns auch über die Pollenbelastung. Wir erkundi-
gen uns über die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel.
Wir buchen unsere Tickets darüber. Wir checken uns ins
Flugzeug ein. Wir informieren uns über Rechtsvorschrif-
ten und Gerichtsurteile, und wir erkundigen uns über
Statistiken und Unternehmen.

Ein großer Teil dieser Anwendungen beruht auf Infor-
mationen, die von staatlichen Stellen generiert wurden
und auf diese Art und Weise, also über diese Anwendun-
gen, für alle zugänglich gemacht werden. Staatliche In-
formationen, deren Zugänglichkeit und Weiterverarbei-
tung, sozusagen Open Data, sind der Motor der digitalen
Wirtschaft. Die Europäische Kommission schätzt, dass
der direkte und indirekte wirtschaftliche Nutzen von
Open Data europaweit in einer Größenordnung von jähr-
lich 140 Milliarden Euro liegt. Für uns steht völlig außer
Frage, dass wir das Potenzial, das in der Wirtschaftskraft
der Verarbeitung dieser Daten liegt, nutzen wollen.

Um dieses Ziel besser zu erreichen, haben wir die eu-
ropäische Public-Sector-Information-Richtlinie ange-
passt. Die neuen Vorgaben der Richtlinie setzen wir nun
mit den Änderungen des Informationsweiterverwen-
dungsgesetzes um. Dieses Informationsweiterverwen-
dungsgesetz ist der Rechtsrahmen für die Weiterverwen-
dung von Informationen öffentlicher Stellen, soweit es
nicht um spezielle Regelungen geht wie beispielsweise
bei Geodaten oder bei Umweltinformationen.

Nach diesem Gesetz wird geregelt, welche Informa-
tionen weiter verwendet werden können. Die Entschei-
dung darüber, ob das geht oder nicht, lag bisher im Er-
messen der jeweiligen öffentlichen Stelle. Das gilt jetzt
nicht mehr. Die Daten sind jetzt weiterzuverwenden. Das
ist der eine wesentliche Punkt der Änderung. Der zweite
Punkt ist, dass wir jetzt auch den Anwendungsbereich
erweitern und Museen, Bibliotheken und Archive mit-
einbeziehen. All dies erleichtert die Nutzung staatlicher
Informationen und ist damit ein erster Schritt hin zu ei-
ner umfassenderen Open-Data-Regelung, die wir uns ja
im Koalitionsvertrag vorgenommen haben und bei der
der Bundesinnenminister federführend ist.

Zugleich wollen wir dafür sorgen, dass über die Re-
gister Informationen für interessierte Unternehmen
leichter auffindbar sind. Dafür haben wir das Datenpor-
tal GovData geschaffen. In dieses Portal sollen alle öf-
fentlichen Unternehmen einstellen. Wenn Sie dieses Por-
tal im Internet aufrufen und es sich anschauen, dann
sehen Sie: Es stehen schon jetzt erstaunlich viele Infor-
mationen drin. Aber das wird noch sehr viel besser wer-
den.

Wir wollen für die Wirtschaft Anreize setzen, die Da-
ten, die erhoben werden, auch tatsächlich zu verwenden.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem anderen Zustän-
digkeitsbereich, der Luft- und Raumfahrt, nennen: die
Sentinel-Satelliten, von denen wir den ersten letztes Jahr
ins All geschossen haben. Dieser Satellit hat ein Radar-
system, und dieses Radarsystem vermisst alle sechs Tage
die komplette Erdoberfläche. Einmal in sechs Tagen ist
also die komplette Erde abgescannt. Damit können wir
jetzt zum Beispiel erkennen, ob Eis auf dem Ozean ist
oder wie das Land genutzt wird, und können alle mögli-
chen Schlüsse daraus ziehen. Das gilt vor allen Dingen
dann, wenn man bedenkt, dass es inzwischen viele junge
Unternehmen gibt, die weitere Luftaufnahmen machen,
indem sie unbemannte Flugobjekte wie kleine Drohnen
nutzen, oder eben Luftaufnahmen aus Flugzeugen ma-
chen. All diese Daten aus der Erdbeobachtung können in
unterschiedlichen Datenbanken zusammengefasst wer-
den. Aus diesem Material können sich dann neue Ge-
schäftsmodelle ergeben.

Es gibt beispielsweise ein junges Unternehmen in
Hessen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mithilfe
dieser Daten auszurechnen, wie viel Erde man braucht,
um große Löcher, zum Beispiel in einem Steinbruch, mit
Erde zu verfüllen. Man kann anhand der Daten von oben
zum Beispiel sagen: Es fehlen noch 25 Lastwagen voll
Erde, bis das Loch gefüllt ist.

Sie sehen also: Hier gibt es viele Möglichkeiten. Dazu
gehören auch Apps. Diese können etwa aufzeigen, wo es
nach einer Katastrophe noch Zugangsmöglichkeiten
gibt. Wir konnten beispielsweise mit den Daten des DLR
auch bei dem schweren Erdbeben in Nepal helfen, weil
wir speziellere Daten hatten. Sie können aber auch eine
App nutzen, um zu erfahren, wie Sie mit einem Rollstuhl
durch die Stadt kommen; auch das beruht auf Daten, die
aus der Luft aufgenommen wurden.

Das waren jetzt Beispiele aus dem Bereich der Erdbe-
obachtung. Es gibt natürlich viele andere Beispiele, etwa
Portale, die den Zugang zu Entscheidungen der unter-
schiedlichsten Gerichte ermöglichen, oder in Kürze sol-
che, die Ihnen die Inhalte von Museen in 3-D darstellen,
und vieles andere mehr. Den Geschäftsmodellen und der





Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries


(A) (C)



(D)(B)

Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Ich freue mich,
dass es gelungen ist, das im Rahmen dieser Gesetzesän-
derung zu regeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810311400

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Für die Fraktion

Die Linke spricht jetzt der Kollege Herbert Behrens.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810311500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Zypries hat darauf hingewiesen, welche Möglich-
keiten sich durch öffentlich erhobene und auf den ent-
sprechenden Servern gespeicherte Daten ergeben oder
ergeben könnten. In der Tat: Jeder von uns – auch die äl-
tere Generation, zu der ich schon gehöre – nutzt Infor-
mationen, die über ein Smartphone abgerufen werden
können. Wir haben, wie schon gesagt, die Möglichkeit,
Fahrpläne des öffentlichen Personennahverkehrs abzuru-
fen. Das ist ein tatsächlicher Nutzen, der eine große
Hilfe darstellt.

Wir haben auch die Möglichkeit, Bürgerinnen und
Bürger stärker zu beteiligen, beispielsweise an der Pla-
nung ihrer Städte. Auf der Grundlage entsprechender
Planungen der Stadtverwaltung oder bestimmter Daten
kann man überlegen: Was können und müssen wir in un-
serer Stadt tun? Andere Kommunen sind so weit, dass
ihre Bürgerinnen und Bürger anhand der zur Verfügung
gestellten Daten bei der Planung der Bürgerhaushalte ak-
tiv werden und sich in den demokratischen Prozess in-
nerhalb der Stadtverwaltung direkt einbringen können.
Das ist ein echter Zuwachs an Demokratie, der die ent-
sprechende Technologie voraussetzt.

Das alles ist möglich, weil die Daten öffentlicher In-
stitutionen veröffentlicht und zur Verfügung gestellt
werden und weil diese Daten nach dem Zurverfügung-
stellen von Unternehmen aufgenommen worden sind
und dann zur Darstellung beispielsweise auf einem
Smartphone aufbereitet wurden. Hier werden die Mög-
lichkeiten sichtbar, die die neuen Technologien eröffnen.
Sie machen das Leben leichter, und kreative Köpfe in
Start-ups oder auch in etablierten Unternehmen sind in
der Lage, diese Chancen der Digitalisierung auch ökono-
misch zu nutzen. Die Linke unterstützt diese Weiterver-
wendung von Daten, die sich sozusagen im öffentlichen
Besitz befinden.

Der Gesetzentwurf regelt jetzt die Umsetzung einer
EU-Richtlinie aus dem Jahr 2013. Es wird Zeit, dass wir
sie umsetzen. Damit soll das Informationsweiterverwen-
dungsgesetz aus dem Jahr 2006 den neuen technologi-
schen Möglichkeiten angepasst werden; Frau Zypries hat
darauf hingewiesen. Aber es geht auch nicht einen
Hauch über das hinaus, was erforderlich ist.

Es wäre angesichts der weitergehenden Möglichkei-
ten der Digitalisierung denkbar, mehr zu machen, zum
Beispiel die Entwicklung von Standards voranzutreiben,
die es Kommunen, aber auch Bürgerinnen und Bürgern
möglich machen, die Daten intensiver zu nutzen und zu
verbreiten. Es wäre auch denkbar, die Novelle zum In-
formationsweiterverwendungsgesetz dazu zu nutzen, in
der Form initiativ zu werden, dass Kommunen und an-
dere öffentliche Stellen mehr Informationen – sprich:
Daten – zur Verfügung stellen, die dann weiteren Ver-
wendungen zugeführt werden können. Stattdessen klebt
die Bundesregierung, wie schon gesagt, an einer 1:1-
Umsetzung der Richtlinie. Es handelt sich eigentlich
nicht um mehr als um eine bürokratisch notwendige Um-
setzung der EU-Richtlinie. Das ist keine angemessene
Politik in Zeiten der Digitalisierung. Das ist einfach nur
digitaler Stillstand.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber vielleicht traut man sich aktuell nicht weiter,
weil unter dem Begriff der Informationsweiterverwen-
dung inzwischen etwas ganz anderes verstanden wird.
Der Skandal, dass öffentlich nicht verfügbare Daten
– sprich: Geheimnisse – an die NSA weitergegeben wer-
den, hat das Vertrauen in die digitale Wirtschaft massiv
zerstört, und es wird noch einige Zeit brauchen, an dieser
Stelle wieder Vertrauen aufzubauen. Dieses Vertrauen ist
einfach erforderlich, um sagen zu können: Ja, wir wol-
len, dass öffentliche Daten weiterverwendet werden, da-
mit entsprechende Services angeboten werden können.

Dass es jetzt zulässig sei, weitere Daten zur Verfü-
gung zu stellen, wie Frau Zypries eben angedeutet hat,
ist auch nicht ganz so, wie sie es dargestellt hat. § 1 Ab-
satz 2 a soll nämlich folgendermaßen lauten:

Ein Anspruch auf Zugang zu Informationen wird
durch dieses Gesetz nicht begründet.

Das heißt, auch da stehen öffentliche Einrichtungen
wieder vor der Frage: Was darf ich, und was darf ich
nicht? Die Länderkammer hat bei der Anhörung zu die-
sem Gesetz darauf hingewiesen, dass sie an der einen
oder anderen Stelle Unterstützung braucht, um dieses
Gesetz anwenden zu können. Beispielsweise fordert sie,
dass mit Verabschiedung des Gesetzes eine Handrei-
chung ausgegeben wird, die die Kommunen wirklich ge-
nau darüber informiert, wie sie mit diesem Gesetz umge-
hen sollen. Die Bundesregierung antwortet an dieser
Stelle recht schnöde, das sei alles nicht nötig, außerdem
könne man auf die Erfahrungen der vergangenen Jahre
zurückgreifen.

Der Gesetzentwurf ist ein bisschen zu kurz gegriffen,
um wirklich den großen Sprung, den Sie angekündigt
haben, in Richtung Open Data – das hat ja originär noch
nichts damit zu tun – zu schaffen. Von daher ist zwar gut
gemeint, was dort mit der 1:1-Umsetzung niedergelegt
worden ist, aber es reicht bei weitem nicht aus. Wir wer-
den uns hier auf jeden Fall enthalten.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810311600

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansjörg

Durz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1810311700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir
ist vor allem nach der Rede des Kollegen Behrens noch
einmal wichtig, die Abgrenzung, welches Gesetz eigent-
lich wofür Regelungen schafft, vorzunehmen.

Wenn ein Bürger in Deutschland Informationen von
einer Bundesbehörde einfordert, muss die Verwaltung
darauf reagieren, muss die Daten zur Verfügung stellen,
wenn keine übergeordneten Gründe dagegen sprechen.
Dass jede Person einen Rechtsanspruch auf Zugang zu
amtlichen Informationen von den Bundesbehörden hat,
regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Während die ur-
sprüngliche Intention dieses Gesetzes mehr Transparenz
war, kommt durch die voranschreitende Digitalisierung
eine weitere Dimension hinzu: Ämter und Behörden
speichern zunehmend mehr Informationen digital. Die
verfügbaren Datenmengen nehmen tagtäglich zu, und
auch die Technologien zur Analyse, Nutzung und Verar-
beitung von Daten werden kontinuierlich weiterentwi-
ckelt.

Durch Verwenden, Aggregieren und Kombinieren
von Daten entsteht die Chance, ständig neue Dienste zu
entwickeln, und gerade Daten aus dem öffentlichen Sek-
tor bergen enorme Potenziale für neue Geschäftsmodelle
und auch dafür, Menschen den Alltag zu erleichtern. Die
sicherlich bekannteste Form der Nutzung öffentlicher
Daten findet durch Navigationsgeräte statt; dafür werden
sie jedenfalls am häufigsten verwendet. Welche weiteren
Möglichkeiten in offenen Daten stecken, möchte ich an-
hand dreier Beispiele – einige andere wurden schon an-
geführt – kurz erläutern:

Erstes Beispiel. Auf der Basis öffentlicher Daten ent-
stand die Anwendung „Parken Wien“. Mithilfe dieser
App lässt sich anhand der Position des Nutzers feststel-
len, ob dieser sich in einer Kurzparkzone befindet und
ob diese aktiv ist. Zudem werden kostenpflichtige und
kostenfreie Zonen in unterschiedlichen Farben ange-
zeigt. Über die mobile Anwendung können direkt Park-
scheine gelöst werden. Es werden aktuelle Daten der
Stadt Wien genutzt und ständig aktualisiert. Diese An-
wendung zählte bereits bei Einführung zu den meistge-
kauften Apps in ganz Österreich.

Ein zweites Beispiel. Die App „Bayernnetz für Rad-
ler“ ist durch die Zusammenarbeit bayerischer Ministe-
rien entstanden und beinhaltet mittlerweile 120 Fahrrad-
touren mit einer Länge von insgesamt 8 800 Kilometern.
Diese App verfügt über Radroutenplaner, Karten, Hö-
henprofile, Verknüpfungen zu Bahntransportmöglichkei-
ten, Veranstaltungsinformationen usw. usf. Entstanden
aus Daten, die öffentlich zur Verfügung gestellt wurden,
schafft die App einen Mehrwert für die Nutzer und stärkt
den Radtourismus.
Das dritte Beispiel kommt aus der Landwirtschaft. Im
Ackerbau kommt dem Pflanzenschutz eine hohe Bedeu-
tung zu. Gleichzeitig ist Pflanzenschutz eine sehr infor-
mationsintensive Aufgabe. Seit längerem existieren mo-
bile Anwendungen für Landwirte, mit deren Hilfe die
Landwirte bei ihren Entscheidungen im Bereich Pflan-
zenschutz unterstützt werden. So können beispielsweise
die täglichen Infektionsbedingungen für die wichtigsten
Blattkrankheiten bei Getreide oder Zuckerrüben an ei-
nem bestimmten Standort über das Smartphone abgeru-
fen werden. Auf diese Weise wird durch die Vernetzung
verschiedener öffentlicher und privater Datenquellen
wie Geo- oder Wetterdaten zusammen mit herstellerspe-
zifischen Daten zu Pflanzenschutzmitteln die Möglich-
keit geschaffen, die landwirtschaftliche Betriebsführung
zu unterstützen.

Diese Beispiele zeigen: Offene Daten bergen ein gro-
ßes Potenzial für Innovationen. Liegen Behördendaten
als offene Daten vor, können sie von Bürgern und Wis-
senschaftlern, aber eben auch von Verwaltung und Wirt-
schaft weiterverarbeitet werden. Auf diese Weise können
neue Anwendungen, Produkte, Dienstleistungen und Ge-
schäftsmodelle entstehen.

Der öffentliche Sektor erfasst, erstellt und reprodu-
ziert ein breites Spektrum an Informationen: Geodaten,
Energieverbrauchsdaten, Emissionsdaten, Verkehrsdaten
oder Bevölkerungsdaten. Die EU-Kommission prognos-
tiziert – wir haben es vorhin bereits gehört – den volks-
wirtschaftlichen Nutzen für die 27 Mitgliedstaaten auf
circa 140 Milliarden Euro pro Jahr. Dass die Nutzung
von Informationen des öffentlichen Sektors ein enormes
wirtschaftliches Potenzial birgt, hat die EU-Kommission
bereits mit der ersten „Public Sector Information“-Richt-
linie aus dem Jahr 2003 aufgegriffen. Diese Richtlinie
sollte die Weiterverwendung dieser Daten erleichtern
und allgemeinverbindliche Grundlagen schaffen. Deutsch-
land hat diese Richtlinie im Informationsweiterverwen-
dungsgesetz von 2006 umgesetzt.

Übrigens: Als das Gesetz in Kraft trat, gab es quasi
noch gar keine Smartphones. Allein das zeigt schon die
enorme Dynamik der Digitalisierung und gibt einen Hin-
weis darauf, dass eine Anpassung des Rechtsrahmens
notwendig geworden ist.

Also noch einmal kurz zur Einordnung: Dass Bürger
einen Anspruch auf Zugang zu Informationen und Daten
des Bundes haben, regelt das Informationsfreiheitsge-
setz. Dass diese Daten auch genutzt und weiterverwen-
det werden dürfen, regelt das Informationsweiterver-
wendungsgesetz.

Mit dem neuen IWG setzen wir nun die neue Richtli-
nie der EU aus dem Jahr 2013 in deutsches Recht um.
Die entscheidende Neuerung besteht darin – wir haben
es gehört –, dass Informationen öffentlicher Stellen
grundsätzlich weiterverwendet werden können. Bisher
musste ein Antrag auf Weiterverwendung öffentlicher
Daten gestellt werden, und die öffentliche Stelle musste
dann entscheiden, ob die entsprechenden Daten genutzt
werden dürfen oder nicht. Jetzt gilt grundsätzlich: Was
frei zugänglich ist und beispielsweise nicht durch
Urheberrechte geschützt ist, darf auch weiterverwendet





Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)

werden. Damit sind öffentliche Stellen nunmehr dazu
verpflichtet, Informationen für kommerzielle und nicht-
kommerzielle Zwecke freizugeben. Wir schaffen da-
durch für die Nutzer von Informationen des öffentlichen
Sektors eine deutliche Erleichterung. Übrigens reduziert
das Gesetz auch den Aufwand in der Verwaltung, die
Weitergabe zu prüfen und einen entsprechenden
Bescheid auszustellen. Wir schaffen also etwas ganz Be-
sonderes: weniger Bürokratie für alle.

Dass es notwendig ist, Bewegung in den Bereich
Open Data zu bringen, zeigt ein Blick auf den kürzlich
veröffentlichten Open Government Index 2015. Hier be-
legt Deutschland bei der Qualität und Anzahl der zur
Verfügung gestellten Informationen unter 102 Ländern
nur den 18. Rang. Das bedeutet: Hier können und hier
müssen wir besser werden. Mit der Veröffentlichung des
„Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur
Umsetzung der Open-Data-Charta der G 8“ im vergan-
genen November wurde von der Bundesregierung ein
Weg aufgezeigt, wie es gelingen kann, mehr Verwal-
tungsdaten im Sinne von Open Data zu veröffentlichen.
Das ebenenübergreifende Datenportal GovData ist dabei
hervorzuheben; denn im besten Fall stellen die öffentli-
chen Stellen die Daten freiwillig und automatisch auf
dieser zentralen Plattform zur Weiterverwendung zur
Verfügung.

Doch nicht nur der Bund ist bei der Bereitstellung
offener Daten aktiv. Auch bestehen auf Ebene der Län-
der sowie der Kommunen zahlreiche Open-Data-Platt-
formen. Daher ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sich
die Bundesregierung dafür einsetzt, die Nutzung des
Portals GovData auch durch Länder und Kommunen zu
befördern, um den Anwendern einen möglichst umfas-
senden Datenkatalog anbieten zu können. Gleiches gilt
für den Aufbau einer europäischen Open-Data-
Infrastruktur und die Bemühungen der Bundesregierung,
dass sich GovData mit seinen Schnittstellen darin einfü-
gen lässt. Der Bedeutung von GovData wird das neue
IWG auch gerecht, indem es in dem neuen § 8 hervor-
hebt, dass Daten, die von Behörden online zur Verfü-
gung gestellt werden, auch im nationalen Datenportal
zur Verfügung gestellt werden sollen, wobei klar ist, dass
dieses Portal mit Sicherheit noch etwas attraktiver für
den Anwender gestaltet werden kann.

Die Novelle zum IWG heute zu verabschieden, ist ein
notwendiger und absolut richtiger Schritt. Insgesamt
müssen wir aber feststellen, dass wir bei Open Data noch
in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen von daher
noch viele weitere Schritte gehen, um all die vorhande-
nen Potenziale, die in der Bereitstellung offener Daten
liegen, zu nutzen. So müssen wir unter anderem Antwor-
ten auf folgende Fragen finden:

Erstens. Wie schaffen wir es, dass Daten künftig nicht
nur auf Nachfrage, sondern generell vom öffentlichen
Sektor auf einer Open-Data-Plattform zur Weiterver-
wendung bereitgestellt werden?


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Genau!)

Zweitens. Wie erreichen wir, dass alle öffentlichen
Stellen ihre Daten in einem einheitlichen maschinenles-
baren Format zur Verfügung stellten?

Oder drittens. Wie begegnen wir der Tatsache, dass
der Verwaltung ein erheblicher Aufwand entsteht, wenn
Daten bereitgestellt werden? Kann hier über eine Gebüh-
renrichtlinie ein Lösungsansatz gefunden werden?

Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden. Sie
belegen, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten müs-
sen. Die Novellierung des IWG ist ein erster Schritt.
Weitere müssen folgen. Auf jeden Fall wollen wir mit
öffentlichen Daten digitale Geschäftsmodelle ermögli-
chen, die Wirtschaft stärken und somit Innovation und
Wachstum fördern.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810311800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Jetzt kriegen wir ein ordentliches Lob für die Koalition!)



Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810311900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Offene Daten sind ein Schatz – das haben
viele festgestellt –, ein Schatz, der uns allen gemeinsam
gehört, aber nicht allen so zugänglich ist, wie es sein
könnte. Sie, lieber Herr Durz, haben gesagt: weniger
Bürokratie für alle. – Das ist in der Tat wünschenswert.
Allerdings ist es sowohl beim E-Government als auch
bei Open Data mühsam, die Verwaltungen davon zu
überzeugen, entsprechende Schritte zu gehen. An diesem
Punkt äußern wir auch Kritik: Das ist zwar mühsam,
man könnte das aber auch mit mehr Verve und Engage-
ment vorbringen, als Sie das in den letzten Jahren getan
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es kommt ja noch der Kollege Lämmel!)


Die volkswirtschaftlichen Potenziale sind groß:
140 Milliarden Euro direkter oder indirekter Nutzen, je
nachdem, wie man es sieht. Das heißt Kreative, Selbst-
ständige, Start-ups, aber auch die einfachen Bürgerinnen
und Bürger, NGOs, die Bildungseinrichtungen – jeder
kann diese Potenziale nutzen und mit den Möglichkeiten
von Apps oder von hochskalierten Geschäftsmodellen,
wie man sie in der Digitalwirtschaft vorfindet, abschöp-
fen.

Ich war vor kurzem im Zentrum für Telematik in
Würzburg. Dort beschäftigt man sich mit dem Potenzial
von Kleinsatelliten. Frau Zypries hat auf deren Poten-
ziale bei der Wetterbeobachtung hingewiesen, sowohl
für die Agrarwirtschaft als auch hinsichtlich der Progno-
sefähigkeit. Ab circa 2017 wissen wir sehr genau, wie in
den nächsten vier Tagen das Wetter ist. Mit diesen Daten





Dieter Janecek


(A) (C)



(D)(B)

können wir sehr viel anfangen, egal ob Sie ein Event in
der Freifläche planen oder als Landwirt ihre Saat aus-
bringen möchten.

Der freie Zugang zu und die Verwendung von
öffentlichen Daten bieten aber nicht nur wirtschaftliche
Chancen, sondern es geht hier auch um Fragen, die die
Demokratie und das Gemeinwesen betreffen. Es geht
also um mehr Transparenz, mehr Standards, mehr Chan-
cen für uns alle. Es ist ein Ansatz für mehr Demokratie.
Auch das muss man in dieser Debatte betonen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Gesetz mit dem durchaus sperrigen Titel „Infor-
mationsweiterverwendungsgesetz“ wird nicht zu einer
Debatte anregen, die die Zuschauer auf der Tribüne von
den Stühlen reißt. Es ist aber trotzdem eine wichtige
Debatte, weil Sie, Herr Lämmel – das möchte ich beto-
nen; da ist jetzt auch das Lob –, einen Schritt in die rich-
tige Richtung gehen. Das tun Sie; Sie tun es aber nicht
entschlossen genug. Sie sind aus unserer Sicht zu mut-
los. Ich bin ja mit dem BMI im Digitalausschuss bezüg-
lich E-Goverment und Open Data in Kontakt; da lautet
immer die Prognose, dass wir in den nächsten zehn
Jahren auch noch viel Papier haben werden. Aber
Österreich und Estland machen es besser. Fragen wir uns
einmal, warum sie es besser als wir können! Also, wir
können es auch noch besser, und wir möchten Sie da
heute schon ein wenig anschieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht ja nicht nur um die ökonomischen Potenziale
– diese habe ich angesprochen –, es geht auch um soziale
und gesellschaftliche Potenziale. Es gibt hierfür sehr
viele gute Beispiele, auch im sozialen Bereich. Es gibt
zum Beispiel sehr engagierte Initiativen, die den Wert
von öffentlich zugänglichen Informationen erkannt ha-
ben und für ihr soziales Engagement bereits nutzen.

Die Initiative Wheelmap.org hat sich so zum Ziel
gesetzt, über eine App barrierefreie Orte sichtbar zu
machen, damit Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer
vorab einschätzen können, ob Gebäude für sie zugäng-
lich sind. Damit wird bereits heute konkret zu einem
besseren gesellschaftlichen Zusammenleben beigetra-
gen. Das Problem ist aber: Sie müssen sich bisher die öf-
fentlichen Informationen in mühevoller Arbeit einzeln
zusammentragen und sind auf viele freiwillige Unter-
stützer angewiesen. Technologisch könnten wir das
heute schon längst anders machen – auch Herr Behrens
hat das betont –, aber wir sind noch nicht so weit. Wa-
rum sind wir noch nicht so weit? Weil wir es noch nicht
geschafft haben, den Druck auszuüben, den wir brau-
chen.

Ein weiteres Beispiel ist die Initiative Code for
Germany, die die Entwicklung von Open Data und damit
eine transparente Verwaltung aktiv vorantreibt. Das kann
ich für meine Heimatstadt München sagen. Dort ist viel
getan worden, um – übrigens auch mit offener Software –
zu agieren und Zugänglichkeit zu schaffen. Es ist ein
mühsamer Prozess, bei dem man die Verwaltung mitneh-
men muss. Das ist uns sehr bewusst. Man muss es aber
tun. Auch hier wieder die Ermahnung: Tun Sie das ent-
schlossener, als Sie es bisher getan haben!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Abschließend: Wenn man sich die internationalen
Daten anschaut, so stellt man fest, dass wir nicht vorne
liegen; da sind wir nicht in der Champions League. Als
FC-Bayern-Fan bin ich seit gestern etwas gebrandmarkt,


(Zuruf des Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE])


aber Doro Bär sitzt hier im Bayern-Shirt, wie ich sehe.
Trotzdem darf ich diesen Vergleich machen. In diesem
Fall ist es so, dass wir beim Open-Data-Index, also der
Champions League der Open-Data-Bewegung, weit
hinter Ländern wie Großbritannien, Italien oder Polen
zurückliegen. In Großbritannien – das finde ich hochat-
traktiv – werden zum Beispiel die Fahrpläne für öffentli-
che Verkehrsmittel zentral gebündelt und sind für jeden
zur Nutzung auf einer Internetseite frei zugänglich.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Bei uns fahren nicht einmal Bahnen!)


Also: Lassen Sie uns dies wirklich in Angriff nehmen,
lassen Sie uns die Chancen nutzen! Deutschland sollte
zu einem Open-Data-Land werden. Eine Open-Data-
Gesellschaft ist in demokratischer, ökologischer und
auch wirtschaftlicher Hinsicht erstrebenswert. Wenn
dann noch ein bisschen gutes E-Government hinzu-
kommt, wo wir Einsparpotenziale von bis zu 45 Milliar-
den Euro haben, wird das etwas.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Matthias Ilgen, SPD.


(Beifall bei der SPD)



Matthias Ilgen (SPD):
Rede ID: ID1810312100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

den Rednern von Linken und Grünen zuhört, kann man
das Gefühl haben, dass bald die schöne neue Welt
kommt. Was soll in Zukunft nicht alles open sein! Auch
wir nehmen zur Kenntnis, dass der Datenmarkt durch
Big Data, Linked Data und Open Data derzeit im Um-
bruch, in Bewegung ist.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Bei der Bundesregierung ist Closed Data!)


Nicht zuletzt die Regierungen der USA und Großbritan-
niens – Herr Janecek, Sie haben das gerade angespro-
chen –, aber auch die Europäische Kommission tragen
derzeit viel dazu bei. Wir haben eine spürbare Dynamik
im Markt, die den Lebenszyklus von Datenprodukten
völlig neu definiert.

Sowohl in der öffentlichen Verwaltung und in priva-
ten Unternehmen als auch beim Verbraucher ergeben
sich neue Verortungen entlang dieser Wertschöpfungs-
ketten. Wir stellen das alleine an den vielen Apps – die-





Matthias Ilgen


(A) (C)



(D)(B)

ses Wort ist ja allein in den vorangegangenen vier Reden
etwa 30-mal gefallen – und neuen Anwendungen für
Smartphones und andere Geräte fest, die wir im Internet
finden und die uns das Leben erleichtern sollen. Ich
glaube, dieser Prozess wird weitergehen, und wir müs-
sen uns überlegen, welche weiteren Erfolge durch Open
Data in Deutschland noch möglich sind.

Insbesondere die Kombination aus Open Data und
mobilen Anwendungen wird dadurch erleichtert, dass
wir öffentliche Daten, die von den Verwaltungen des
Bundes, der Länder, der Gemeinden und vielen anderen
staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden, jetzt
zur Weiterverwendung freigeben. Das ist Ziel und Kern
dieses Gesetzes, und das ist auch richtig.


(Beifall bei der SPD)


Der Markt für mobile Apps hängt zugleich aber we-
sentlich vom eigentlichen Kundenpotenzial ab. In den
sogenannten App-Stores werden, wie wir alle wissen,
die entsprechenden Produkte gehandelt, und eine App
wird im Durchschnitt für 1,80 Euro, glaube ich, verkauft.
Schauen wir uns einmal die Segmente an: Eben wurde
eine App für Rollstuhlfahrer angesprochen. In meiner
Heimatstadt, die 22 000 Einwohner hat, ist das Kunden-
potenzial für diese App, glaube ich, relativ klein, selbst
wenn eine staatliche Internetseite wie www.meine-
stadt.de diese App öffentlich machen würde.

Wir müssen also für einheitliche Regelungen in
Deutschland sorgen. Dafür ist die Plattform GovData der
Bundesregierung der erste Ansatz. Nehmen wir als
Beispiel die Rollstuhlfahrer-App, bei der es um Barriere-
freiheit geht: Alle staatlichen Stellen müssen einen
Markt schaffen, der groß genug ist, damit eine solche
App auch wirtschaftlich funktionieren kann; denn an-
sonsten bleibt das Programmierspielkram für den einen
oder anderen. Das mag im Einzelfall vor Ort sinnvoll
sein. Die Frage ist aber, wie wir die wirtschaftlichen Po-
tenziale nutzen können. Deswegen müssen wir dafür
sorgen, dass hier in Deutschland ein einheitlicher Weg
beschritten wird.

Ich möchte ein Beispiel vorbringen, das über die
Anwendungen, von denen wir schon gehört haben, hin-
ausgeht und deutlich macht, dass man über den Teller-
rand schauen muss. Es geht um eine App aus Israel, die
mir besonders ins Auge gesprungen ist. Der Entwickler
Ari Sprung hat die App „Red Alert“ entwickelt. Das
klingt ein bisschen martialisch, und so ist es in diesem
Fall auch. Diese App warnt Nutzer in Israel vor Raketen-
einschlägen. Diese App schlug im letzten Jahr aufgrund
des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis in
dieser Region Tausende Male Alarm. Diese App ist in
der Lage, in Echtzeit, sozusagen im Zwei-Sekunden-
Takt, jede einzelne Rakete, die aus Gaza auf Israel abge-
schossen wird, zu erfassen und zu melden. Sogar wäh-
rend eines Live-Interviews mit dem israelischen Bot-
schafter in Washington war der Ton dieser App in der
Fernsehübertragung zu hören, weil der Diplomat verges-
sen hatte, sie stumm zu schalten. 1 Million Israelis haben
„Red Alert“ mittlerweile heruntergeladen. Das heißt, je-
der achte Israeli besitzt diese Anwendung. Sie könnte
aber auch für andere Länder interessant werden.


(Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE])


Ich hoffe, dass wir für eine solche App – das ist natürlich
ein Extrembeispiel – in Deutschland künftig keine Ver-
wendung haben werden, weil es hier friedlicher zugeht.

Die Frage ist aber, meine Damen und Herren, woher
diese Daten kamen. Auf die Frage: „Wo hast du die
Daten her?“, hat der Programmierer gesagt: Ich habe sie
von einer Webseite; die Daten sind im Internet zugäng-
lich. – Die Daten sind dort tatsächlich öffentlich zugäng-
lich; die eigentliche Frage war aber, wo der Ersteller der
Webseite die Daten herhatte. Diese Daten kommen na-
türlich von einer staatlichen Stelle, aber bisher hat keiner
die Frage beantwortet, woher die Daten genau kommen.
Wir bewegen uns hier also – ich würde es freundlich
ausdrücken – in einem rechtlichen Graubereich. Das
Land Israel hat sicherlich ein Interesse daran, dass diese
App funktioniert. Die Daten werden aber vermutlich
kaum von einer Behörde frei zugänglich eingestellt.

An diesem Extrembeispiel sieht man, in welchen Be-
reichen wir uns in Zukunft mit diesem Gesetz bewegen
könnten. Wir müssen also auch über Einzelfälle nach-
denken. Deswegen finde ich es gut, dass man beim Mel-
deregister und bei anderen Dingen Ausnahmen macht.
Die Frage ist also: Wozu sind Daten verwendbar? Was
bringen Sie uns zum Beispiel in der Sicherheitstechnik?
Was bringen sie uns in der Medizintechnik? Was bringen
sie uns künftig in anderen Bereichen der Wirtschaft?

Ich stimme allen bisherigen Rednern zu – das haben
nämlich wirklich alle gesagt –, dass die Novellierung des
IWG ein erster Schritt ist und wir noch weitere Schritte
auf dem Weg zu Open Data gehen müssen, damit künftig
weitere kommerzielle und nichtkommerzielle Anwen-
dungen entwickelt werden können.

Wir wollen sehen, wie wir diese Open-Data-Strategie
weiterführen. Auch müssen wir fragen: Wie steht es am
Ende um die Rechtsansprüche? Denn die Frage ist natür-
lich, welchen Erfüllungsaufwand wir unseren Behörden
aufgeben, wenn sie jetzt sozusagen alle Informationen,
die sie für veröffentlichungswert halten, einstellen sol-
len. Auf der anderen Seite ist zu überlegen: Welche In-
teraktion gibt es dabei mit Blick auf Bürger und Unter-
nehmen, die diese Daten nutzen wollen und können?

Ich glaube – das sage ich abschließend –, dass wir ein
riesiges Marktpotenzial in der Bundesrepublik Deutsch-
land, aber auch in Europa haben werden. Ich würde mich
freuen, wenn alle Fraktionen das Vorhaben weiterhin un-
terstützen würden.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312200

Zum Schluss dieser Beratung hat der Kollege

Andreas Lämmel, CDU/CSU, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1810312300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es kommt eigentlich relativ selten vor, dass
sich alle Fraktionen im Prinzip mehr oder weniger für
einen Gesetzentwurf aussprechen. Was das Abstim-
mungsverhalten angeht, bin ich gespannt: Wir müssten
diesen Gesetzentwurf heute eigentlich einstimmig ver-
abschieden.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Haben Sie nicht zugehört?)


– Na ja, gut, bei der Linken muss man ja immer ein biss-
chen vorsichtig sein. Das stimmt schon. Zumindest bei
den Grünen war aber schon eine große Übereinstim-
mung erkennbar.

Ich will nur ganz kurz auf drei Punkte eingehen. Es
geht bei der wirtschaftlichen Nutzung von Informatio-
nen aus der öffentlichen Verwaltung nicht nur darum,
neuen wirtschaftlichen Nutzen zu generieren, sondern
auch darum, Waffengleichheit herzustellen. In den
90er-Jahren – daran kann ich mich genau erinnern –
gab es einen Kampf um die Geodaten. Die öffentliche
Verwaltung – auch die bei uns in Sachsen – wollte Geo-
daten nie zur freien Nutzung durch die Unternehmen
herausrücken. Damit war natürlich keine Chancen-
gleichheit mehr gegeben. Das Nachsehen hatten im
Allgemeinen die kleinen und mittleren Unternehmen,
die keinen Zugriff auf solche Daten hatten. Ich denke,
dass dieses Gesetz heute wirklich ein großer Fortschritt
ist.

In den USA geschah das Gegenteil. Da hat Google
ganz einfach die Welt neu vermessen und mit
Google Maps letztendlich den Standard gesetzt. Alle
greifen nun auf diese Daten zu.

Kommen wir aber nun noch einmal auf die Plattform
GovData zurück. Auch Frau Zypries hatte sie erwähnt.
Ich habe mir das einmal angeguckt. Da steckt – um das
einmal vorsichtig auszudrücken – noch viel Verbesse-
rungspotenzial drin. Es ist sehr kompliziert, in diesem
GovData-Portal überhaupt zu navigieren. Man hat keine
guten Suchmasken, um wirklich schnell dahin zu kom-
men, wohin man will.

Zum anderen bin ich auch überzeugt, dass wir – na-
türlich auch politisch – versuchen müssen, entsprechen-
den Druck auf die Behörden auszuüben, dass sie ihre
Daten auf die Plattform bringen. Wir haben schon viele
dementsprechende Versuche gemacht. Sie sind aber ei-
nes schönen Todes gestorben, weil sie, was die darin ent-
haltene Information anbelangt, nicht mehr gepflegt wur-
den. Daraufhin sind sie in Vergessenheit geraten.

Ich denke, dass wir hier gemeinsam – aufgrund des
Föderalismus sind auch die Länder gefragt – vorgehen
müssen. Wir verabschieden jetzt ein Gesetz, aber die
Länder und Kommunen müssen ihre Daten dort einstel-
len. Hier muss man noch einmal an das Bundesinnen-
ministerium appellieren, die gesamte Plattform handhab-
barer bzw. nutzerfreundlicher zu machen. Weiter muss
an die Behörden in Bund, Ländern und Kommunen ap-
pelliert werden, daran zu denken, ihre Daten dort einzu-
stellen, weil das ein großer Vorteil ist.

Ich komme zum letzten Punkt, nämlich zur Gebüh-
renordnung; er ist hier auch schon verschiedentlich an-
gesprochen worden. Meine persönliche Meinung dazu
ist folgende: Die Daten in der öffentlichen Verwaltung
werden mit Steuergeldern erhoben; denn die öffentliche
Verwaltung wird aus den Steuereinnahmen finanziert.
Deswegen kann aus meiner Sicht diese Plattform kein
Modell sein, um Geld für die öffentliche Verwaltung zu
akquirieren. Man kann sicherlich Schutzgebühren ein-
führen, um den einfachen Missbrauch zu verhindern. Es
darf aber nicht versucht werden, damit die Stadtkasse,
die Landeskasse oder die Bundeskasse aufzufüllen. Das
würde ich für völlig verfehlt halten; denn die gesamten
Daten sind schon bezahlt. Sie sind schon auf Kosten der
Allgemeinheit erhoben worden. Deswegen kann man
nur sagen: Bei den Gebührenordnungen muss Maß ge-
halten werden.

Zusammenfassend will ich sagen: Ich freue mich,
dass wir hier heute ein Stück weiterkommen. Es wurde
aber von allen Rednern gesagt, dass das lediglich der
Anfang ist. Deswegen sollten wir sehen, dass wir schnell
die nächsten Schritte folgen lassen und dass wir vor allen
Dingen die Länder und die Kommunen in die öffentliche
Diskussion einbeziehen, damit dieses Modell in
Deutschland zum Erfolg geführt werden kann. Ich
denke, das wird unseren kleinen und mittelständischen
Unternehmen sehr helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben.

Ich hoffe auf große Zustimmung. Unsere Fraktion
wird diesem Gesetzentwurf auf jeden Fall zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312400

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Informationsweiterverwendungsgesetzes.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4844,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Ent-
haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Wir kommen jetzt zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen, und zwar mit den Stim-
men von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Der Völkermord in Ruanda und die deutsche
Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige histori-
sche Aufarbeitung

Drucksache 18/4811
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Wider-
spruch erhebt sich keiner. Dann ist diese vereinbarte Zeit
so beschlossen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin der Kollegin Kordula Schulz-Asche für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in diesem Hause vor rund einem Jahr eine Debatte zum
20. Gedenktag des Völkermordes in Ruanda, 1994, ge-
führt, die unser Bundestagspräsident, Herr Lammert, als
„denkwürdig“ bezeichnete. Am Ende sagte er, es bliebe
„das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinan-
dersetzung mit der eigenen Verantwortung … überzeu-
gender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer
Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt,
als die Ereignisse stattgefunden haben“. Leider ist es bis
heute nicht gelungen, diesen Worten Taten folgen zu las-
sen.

Der Völkermord in Ruanda war der schreckliche Hö-
hepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. Aber spä-
testens ab 1992 wurde klar, dass die ruandische Regierung
und die ihr nahe stehenden Extremisten Menschenrechts-
verletzungen vorantrieben mit dem Ziel, die Bevölke-
rungsgruppe der Tutsi auszulöschen. Am Ende stand der
Völkermord, die Ermordung von über 800 000 Menschen
in weniger als 100 Tagen. Die Opfer waren Tutsi, aber
auch gegen die Regierung opponierende Hutu oder Men-
schen, die sich vor die Tutsi stellten. Die Überlebenden
leiden bis heute. Sie haben unser aller Solidarität und un-
sere Unterstützung verdient.


(Beifall im ganzen Hause)


In der Debatte in diesem Hause vor einem Jahr
herrschte große Einigkeit darüber, dass die internationale
Gemeinschaft in Ruanda in ihrer Schutzverpflichtung
gegenüber einer von der Ausrottung bedrohten Bevölke-
rungsgruppe versagt hatte. Inzwischen haben sowohl die
Vereinten Nationen als auch eine ganze Reihe von Län-
dern, die enge Partnerschaften mit Ruanda eingegangen
waren und auch heute wieder eingegangen sind, ver-
sucht, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Sie haben
ihre eigene Verantwortung aufgearbeitet und Berichte
vorgelegt. Dazu gehören zum Beispiel die Schweiz und
Australien. Auch Frankreich und Belgien, die beide eine
besondere Rolle in Ruanda spielten, haben Berichte vor-
gelegt. Aber auch dort werden immer wieder Rufe laut,
die weitere Aufarbeitung von Fehlern, die damals in die-
sen Ländern gemacht worden sind, voranzutreiben.

Es liegt jetzt nahe – auch hierüber herrschte im letzten
Jahr in allen Fraktionen Einigkeit –, dass auch Deutsch-
land als Teil der internationalen Gemeinschaft Verant-
wortung trägt, gerade als sehr guter und langjähriger
Partner Ruandas.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Deutschland war nach dem Völkermord das erste Land,
das wieder diplomatische Beziehungen zu Ruanda auf-
genommen hat und dort wieder eine Botschaft eröffnet
hat. Ich glaube, das war ein gutes und deutliches Zeichen
an die Überlebenden, dass sie nach dem Völkermord
nicht erneut im Stich gelassen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Aber wenn wir aus gemachten Fehlern lernen wollen
und, wie ich finde, auch müssen, sollten wir uns nicht
scheuen, uns unserer Verpflichtung einer sachlichen und
fundierten Aufarbeitung zu stellen. Über ein Jahr lang
haben einige Abgeordnete aller Fraktionen dieses Hau-
ses versucht, einen gemeinsamen Antrag zustande zu
bringen. Das ist bisher leider gescheitert, sodass wir
heute als Grüne zusammen mit der Linken diesen Antrag
allein einbringen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei
Stefan Liebich für die gute Zusammenarbeit ausdrück-
lich bedanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In diesem Antrag wird die Einsetzung einer unabhän-
gigen interdisziplinären historischen Kommission gefor-
dert, die das Handeln von deutscher Seite in den Jahren
zwischen 1990 und 1994 untersucht und dafür den Zu-
gang zu notwendigen Akten erhält. Nach wie vor sind
sehr viele Fragen offen. Dazu gehören die diplomati-
schen Bemühungen, die in diesem Zeitraum stattgefun-
den haben. Dazu gehört der Umgang mit den Vereinten
Nationen und den Blauhelmen. Dazu gehört das Versa-
gen von Frühwarnsystemen, zum Beispiel in der Ent-
wicklungszusammenarbeit. Dazu gehört sicher auch die
Ablehnung von 47 Visaanträgen von Ruandern, die im
Rahmen einer engen Partnerschaft mit Rheinland-Pfalz
um Asyl gebeten hatten; um nur einige wenige Punkte zu
nennen.

Wir sind uns doch alle einig, dass in sich zuspitzen-
den Krisen die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen
Ministerien und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesell-





Kordula Schulz-Asche


(A) (C)



(D)(B)

schaft, die Zusammenarbeit auf nationaler und interna-
tionaler Ebene für den Schutz der Zivilbevölkerung ent-
scheidend sind. Warum also nicht Fragen zulassen, was
schiefgelaufen ist und in Zukunft besser gemacht werden
könnte?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Gerade angesichts der Vielzahl von Krisen, die auch
heute die Welt, insbesondere die Region der Großen
Seen in Afrika, betrifft, ist das von besonderer Bedeu-
tung. Ich glaube, wir alle beobachten gerade mit sehr
großer Sorge die Entwicklung in Burundi. Auch da ha-
ben wir natürlich Verantwortung und Verpflichtung, ge-
nau hinzuschauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Es wäre auch vor diesem Hintergrund sicher ein gutes
Zeichen, wenn es doch noch gelingen sollte, sich der ei-
genen Verantwortung und den eigenen Fehlern in Ru-
anda in den Jahren von 1990 bis 1994 zu stellen.

Der Antrag enthält eine weitere Forderung, die mir
sehr am Herzen liegt, nämlich die Einrichtung eines
Rechtsfonds für die Zeugen, die in Völkermordprozes-
sen aussagen. Überlebende von Völkermorden haben
eine Vielzahl von Traumatisierungen erfahren. Sie sind
körperlich und seelisch verletzt worden. Sie sind manch-
mal die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Wenn
wir als internationale Gemeinschaft wollen, dass die Tä-
ter von Völkermorden vor Gericht gestellt werden, dann
brauchen diese Zeugen unsere Unterstützung.

Diese Menschen werden oft in verschiedenen Prozes-
sen vor verschiedenen Gerichten in verschiedenen Län-
dern als Zeugen angehört. Wir brauchen ihre Unterstüt-
zung, und sie brauchen unsere Unterstützung. Ich kann
beim besten Willen nicht verstehen, warum wir die Initi-
ierung eines solchen internationalen Rechtsfonds nicht
fraktionsübergreifend zustande bringen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Außenminister Steinmeier sagte am 4. April 2014,
also vor etwas über einem Jahr, an dieser Stelle:

Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute
zu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals
wieder!

Und er fuhr fort:

Wir schulden ihnen,

– damit meinte er die Opfer –

dass wir uns nicht dem Gefühl der Ohnmacht und
schon gar nicht der Gleichgültigkeit hingeben, dass
wir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögli-
che tun, das in unserer Macht steht, um Völkermord
zu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, und
dieser Verpflichtung müssen wir gerecht werden.

Das ist richtig und gut gesagt.

Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312500

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-

zeit?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, ich komme zum Ende. – Wir werden uns als Deut-
scher Bundestag jeden April die Frage stellen müssen,
ob wir das Mögliche getan haben und ob wir unserer
Verpflichtung gerecht geworden sind. Wir haben im letz-
ten Jahr eine denkwürdige Debatte geführt. Lassen Sie
uns gemeinsam dafür sorgen, dass den Worten auch Ta-
ten folgen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312600

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank

Heinrich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1810312700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Völker-
mord, Genozid: ein Thema, das uns in diesen Tagen mit
einer ganz aktuellen Wucht erreicht. Wir haben in der
vergangenen Sitzungswoche, also vor zwei Wochen, des
100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern
mit seinen 300 000 bis 1,5 Millionen Opfern gedacht.
Brutal wurden von den Osmanen ebenso Angehörige der
christlichen Minderheiten der Aramäer, der Assyrer und
der Chaldäer ermordet. Zwischen 100 000 und 250 000
dieser Menschen kamen ums Leben.

Zynisch an dieser Debatte vor 14 Tagen mutete an,
das Geschehen nicht als Völkermord zu bezeichnen
– Sie alle können sich erinnern, wie das auch durch die
Medien ging –, weil es den Begriff damals noch nicht
gegeben hätte. Natürlich gab es erst 1948 die verbindli-
che Definition durch die Vereinten Nationen – ich zi-
tiere die Konvention über die Verhütung und Bestra-
fung des Völkermordes –, doch der Tatbestand an sich,
die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zer-
stören“, lag schon 1915 ohne Frage vor, auch wenn die
Türkei – das ist ein Skandal – das bis heute so nicht an-
erkennen will.

Doch kehren wir noch zusätzlich vor der eigenen
Haustür. Morgen, am 8. Mai 2015, jährt sich zum
70. Mal der – so hat ihn Richard von Weizsäcker be-
zeichnet – Tag der Befreiung, der Befreiung vom größ-
ten Genozid der Historie. 6 Millionen Juden, darunter
1,5 Millionen Kinder, wurden von den Nazis erniedrigt,
entwürdigt, vernichtet. Niemals zuvor gab es eine solche
Maschinerie zur Vernichtung eines Volkes. Das begann
bei der Sprache, der Nutzung von Wörtern, die Menschen
mit Tieren verglichen, und ging über die Pseudowissen-
schaft eines Alfred Rosenberg mit seiner Rassentheorie





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

bis zur akribischen Vorbereitung und systematischen tech-
nischen Umsetzung der sogenannten Endlösung, der Ver-
nichtung der Juden. Dazu kam der Völkermord der Nazis
an den Sinti und Roma. Über 100 000 dieser Menschen
verloren ihr Leben.

1948 waren die Vereinten Nationen zum einen scho-
ckiert, zum anderen optimistisch. Mit der Konvention
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
wurde ein Straftatbestand – meine Kollegin hat das eben
auch erwähnt – geschaffen in der Hoffnung, Völker-
morde verhindern zu können. Und doch kam es wieder
zu Genoziden.

Bereits der Völkermord im Nachbarland Burundi
– die Vorgeschichte in der Region wurde schon ange-
sprochen – durch die Tutsi an den Hutu forderte 100 000
bis 300 000 Tote. Manche nennen es auch die Wurzel für
das, was dann 1990/1992 sichtbarer wurde, was erkenn-
bar vorbereitet wurde und was 1994 in Ruanda geschah.
In 100 Tagen – wir haben die Zahlen gerade gehört – tö-
teten Angehörige der Hutu-Mehrheit 800 000 Menschen,
also etwa 75 Prozent aller in Ruanda lebenden Tutsi, so-
wie moderate Hutu, die sich nicht am Völkermord betei-
ligen wollten oder sich aktiv dagegen eingesetzt haben.

Die internationale Gemeinschaft – das will ich wie-
derholen – hat damals vollkommen versagt. Das steht
außer Frage. Das kam in der Debatte, die wir vor einem
Jahr geführt haben, eindrucksvoll zum Ausdruck. Auch
bei dem Massaker in Srebrenica, mitten in Europa, hat
die Weltgemeinschaft mehr oder weniger zugeschaut.
1995 wurden 8 000 Bosnier getötet. So weit der Blick
zurück, weil wir heute über Völkermord reden.

Nun geht es in dem Antrag um die Rolle Deutsch-
lands und vor allem um die Frage, welche Instrumenta-
rien – das ist der Kern des Antrags – zur Prävention seit-
her entwickelt wurden. Sie fordern unter anderem, zur
Aufarbeitung in Deutschland eine unabhängige interdis-
ziplinäre historische Kommission einzurichten. Dazu
muss man aber auch wissen, dass ein Großteil der Aufar-
beitung a) schon stattgefunden hat und b) in die Schaf-
fung neuer Instrumentarien gemündet hat.

Zwei unabhängige Gutachten zu Ruanda, 1998 und
1999 im Auftrag des BMZ gefertigt, haben dazu geführt,
dass Empfehlungen umgesetzt wurden. Zudem erschien
letztes Jahr, 2014, eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung
mit dem Titel „Deutschland und der Völkermord in Ru-
anda“. Das Bild zu zeichnen, wir würden keine Aufar-
beitung betreiben, führt uns in die Irre. Wenn das die In-
tention war, dann muss ich Ihnen sagen, dass wir uns
Ihnen nicht anschließen können. Zu den Instrumentarien
schreiben Sie selbst in dem Antrag – ich zitiere –:

Die Vereinten Nationen und einige Länder, die bila-
teral mit Ruanda zusammenarbeiteten, haben inzwi-
schen ihre eigene Rolle in den Jahren vor und wäh-
rend des Völkermords vor 20 Jahren aufgearbeitet.

Ich glaube, wir haben dabei nicht die schlechteste Rolle
gespielt.

Dies hat erheblich dazu beigetragen, internationale
Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu
entwickeln. Besonders die Responsibility to Protect
geht auf die Erfahrungen in Ruanda zurück.

Das ist genau richtig, diese Meinung teilen wir.

Deshalb gestatten Sie mir einen kurzen Blick auf die
Instrumentarien, die seitdem entstanden sind, teilweise
vor dem Hintergrund dieser Geschichte. Das Konzept
der gerade genannten Schutzverantwortung, Responsibi-
lity to Protect, beinhaltet folgende drei Prinzipien: Ers-
tens. Jeder Staat hat die Verantwortung, seine Bevölke-
rung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen
Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
zu schützen. Zweitens. Die internationale Gemeinschaft
hat die Aufgabe, Staaten in dieser Verantwortung zu un-
terstützen. Da kommen wir mit ins Spiel. Drittens. Die
internationale Gemeinschaft muss angemessene diplo-
matische, humanitäre und friedliche Mittel anwenden,
um Bevölkerungen vor diesen Massenverbrechen zu
schützen.

Wenn ein Staat zum Schutz seiner Bevölkerung nicht
fähig ist oder selbst die genannten Verbrechen begeht,
muss die internationale Gemeinschaft – wir – bereit sein,
noch stärkere Mittel einzusetzen, inklusive der durch
den Sicherheitsrat beschlossenen kollektiven militäri-
schen Mittel. In diesem Fall geht die Schutzverantwor-
tung auf die internationale Gemeinschaft über. Deutsch-
land ist Mitglied der sogenannten Freundesgruppe
Responsibility to Protect und setzt sich für diese Umset-
zung ein.

Ich möchte noch einige weitere Instrumentarien kurz
nennen. Mit dem Krisenfrühwarnsystem des BMZ wer-
den Entwicklungen beobachtet und Veränderungen von
der Bundesregierung aufmerksam registriert. Weiterhin
gibt es das EU-Early-Warning-System, das Sie in Ihrer
Rede vorhin zitiert haben. Schließlich gibt es die seit
2012 geltenden ressortübergreifenden Leitlinien für eine
kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragi-
len Staaten. Meine Kollegin Frau Schäfer wird kurz da-
rauf eingehen.

Deutschland unterstützt die Vereinten Nationen an
vorderster Front, was dies angeht. So wurde im Jahr
2004 der Posten des Sonderberaters zur Verhinderung
von Völkermord eingerichtet, 2008 der Posten des Son-
derberaters für Schutzverantwortung. Es sind also Dinge
passiert.


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht genug!)


– Ich weiß; das will ich nicht in Abrede stellen. – 2010
formulierte Kofi Annan fünf Grundsätze: Informieren
über bewaffnete Konflikte, Zivilbevölkerung schützen,
Straflosigkeit beenden, klare und frühzeitige Warnungen
aussprechen und schnell und entschlossen handeln. Auf
die klaren und frühzeitigen Warnungen komme ich am
Ende zurück; denn wir haben auch jetzt wieder Warnun-
gen auszusprechen. Was das schnelle und entschlossene
Handeln angeht, so ist das am meisten gescheitert.

Hinzu kommt der UN-Aktionsplan vom Juli 2013.
Darin stehen sechs Empfehlungen, die ebenfalls als
Konsequenz der Ereignisse zu verstehen sind, die wir





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

miterleben mussten. Unter anderem wird ein Menschen-
rechtstraining für alle Mitarbeiter und das gesamte Per-
sonal der Vereinten Nationen und eine Unterrichtung des
Sicherheitsrates durch den UN-Generalsekretär über
schwere Menschenrechtsverstöße empfohlen.

Was leiten wir daraus als Forderungen oder Folgerun-
gen ab? Wir stimmen da nicht genau überein; deshalb
werden wir nicht zustimmen. Ich möchte meine Kollegin
Sabine Weiss zitieren. Sie sagte: Eine der zentralen Lek-
tionen des Völkermords in Ruanda ist es, wachsam zu
sein und frühzeitig auf Fehlentwicklungen zu reagieren.
– Das ist die Intention. So haben Sie auch am Schluss Ih-
rer Rede gesagt: Wir müssen hinschauen. – Deshalb
müssen wir auch jetzt hinschauen. Es sind mindestens
vier Regionen, auf die wir aufmerksam gemacht werden
und in denen jetzt das Risiko besteht, dass wir wieder
versagen, wenn wir nicht Verantwortung übernehmen:

Ich nenne da die Zentralafrikanische Republik. In den
Jahren 2013 und 2014 kam es dort zu ethnischen Säube-
rungen, Vertreibungen der muslimischen Minderheit.

Ich rede vom Südsudan, wo Morde an Angehörigen
der Zivilgesellschaft stattfinden. John Kerry hat letztes
Jahr gewarnt, es gebe dort „verstörende Anzeichen“ eth-
nisch motivierter und gezielt nationalistischer Tötungen.
Kerry weiter:

Wenn diese andauern, stellt das die internationale
Gemeinschaft vor ernste Herausforderungen hin-
sichtlich eines Völkermordes.

Aktion – jetzt aktuell.

Der Nordirak ist das dritte Beispiel: Morde, Massaker
an den Jesiden durch den IS, Vertreibung ins Gebirge,
Verschleppung von circa 3 000 Mädchen und Frauen.

Ich nenne nicht zuletzt – da schließt sich der Kreis ein
bisschen – Burundi. Die Lage in Burundi eskaliert. Am
Dienstag dieser Woche hat dort das oberste Gericht nach
erheblichen Einschüchterungen die verfassungswidrige
dritte Kandidatur von Präsident Nkurunziza bei den
Wahlen im Juni gebilligt. Gewalt macht sich inzwischen
breit zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten.
Circa 25 000 Menschen sind geflohen, die meisten da-
von nach Ruanda. Die internationale Gemeinschaft muss
sich stärker engagieren, für faire und freie Wahlen ein-
treten und auf eine Deeskalation drängen!

Danke für den Antrag, danke für das erneute Themati-
sieren auch ein Jahr nach dieser wirklich guten Debatte!
Im Ziel stimmen wir überein, in der Form so nicht. Jetzt
gilt es aber, Dinge umzusetzen und nicht wieder falsch
oder zu spät zu reagieren, nicht zuletzt in den vier Fällen,
die ich gerade genannt habe; denn die Instrumente dafür
haben wir inzwischen in der Hand.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810312800

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege

Stefan Liebich.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810312900

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im

Februar dieses Jahres ist Außenminister Frank-Walter
Steinmeier nach Ruanda geflogen. Eine kleine Delega-
tion des Bundestages hat ihn begleitet: Der Herr Kollege
Diaby war dabei, Frau Schulz-Asche war dabei, Frau
Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion und ich selbst auch.

Wir haben dort in Kigali im Hôtel des Mille Collines
übernachtet. Wahrscheinlich haben einige von Ihnen den
Film Hotel Ruanda gesehen, einen Film, der sehr ergrei-
fend ist in seiner ganzen Schrecklichkeit. Wenn man in
diesem Hotel übernachtet, wo über tausend Menschen
Zuflucht gesucht haben, dann hat man die Bilder immer
wieder im Kopf und sie lassen einen nicht los. Das ist ein
sehr seltsames Gefühl.

Wir waren dann gemeinsam im Kigali Genocide Me-
morial Centre und haben dort einen Kranz niedergelegt,
und wir haben uns vor den Überresten von über 250 000
Opfern verneigt. Das Gefühl, zu welchen Grausamkeiten
Menschen fähig sind, lässt einen nicht mehr los.

Herr Heinrich, in ebendiesem Museum wird an unter-
schiedliche Völkermorde erinnert. Sie haben einige da-
von erwähnt, aber einen nicht, an den dort auch erinnert
wird – das ist mir in der Debatte zu dem Völkermord an
den Armeniern aufgefallen –: den Völkermord, der an
den Herero und Nama begangen wurde. Ich finde, dass
die Bundesregierung mit der gleichen Konsequenz, mit
der sie von den Türken die Anerkennung des Völker-
mords an den Armeniern einfordert, hier auch zur eige-
nen Verantwortung stehen sollte. Davor schreckt die
Bundesregierung bisher zurück.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage nach dem Warum des Völkermords in Ru-
anda müssen wir uns heute, 21 Jahre danach, stellen. Na-
türlich: Die Hauptverantwortung tragen die Täter in Ru-
anda und diejenigen, die diesen Völkermord geplant und
organisiert haben. Mitverantwortung tragen – darüber
haben wir hier gesprochen vor einem Jahr – jedoch auch
die europäischen Kolonialmächte, die die Unterschei-
dung zwischen Hutu und Tutsi festgeschrieben haben,
um besser in ihren Kolonien regieren und diese ausbeu-
ten zu können. Mitverantwortung tragen auch jene, die
in Berlin, gar nicht weit von hier, Afrikas Grenzen mit
dem Lineal gezogen haben, ohne jene zu fragen, die in
diesen Ländern damals dort lebten. Mitverantwortung
trägt Frankreich. Frau Schulz-Asche hat darauf hinge-
wiesen: Frankreich hat die Genozidregierung unterstützt,
als das Morden lief, und Frankreich leugnet bis heute
seine Verantwortung. Verantwortung trägt die Weltge-
meinschaft, die Ruanda in seiner dunkelsten Stunde al-
leingelassen hat. In Gesprächen mit ruandischen Abge-
ordneten habe ich gesagt, dass ich mich dafür schäme.

Was hat das Ganze mit Deutschland zu tun? Wie
konnte es geschehen, dass unser Land 1994 alle Signale,
was passieren wird, nicht gesehen und nicht gehört hat?





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

Die Beziehungen waren außerordentlich eng. Die Deut-
sche Welle war in Ruanda. Ebenso waren die Gesell-
schaft für Technische Zusammenarbeit, die politischen
Stiftungen, die Kirchen, NGOs dort. Sogar Bundeswehr-
berater hatte Deutschland nach Ruanda entsandt. Warum
haben das Kanzleramt, das Außenministerium, das
Verteidigungsministerium, das Innenministerium, das
Entwicklungsministerium nichts von alldem gesehen?
Wir fordern in unserem Antrag, dass alle dafür notwen-
digen Akten jetzt offengelegt werden.

Warum ist nichts geschehen, obwohl es eine unwahr-
scheinlich enge Zusammenarbeit zwischen Rheinland-
Pfalz und Ruanda gegeben hat und gibt? 650 Projekte
haben beide Länder verbunden. Wie konnte es gesche-
hen – Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen –, dass
damals die Visaanträge von 47 Ruandern abgelehnt wur-
den, obwohl Rheinland-Pfalz versprochen hatte, die
Kosten zu übernehmen?

Herr Heinrich, es ist noch nicht alles geschehen, was
möglich ist. Das Auswärtige Amt sagt selbst, dass
eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung in
Deutschland bis heute aussteht. Deshalb schlagen Grüne
und Linke genau diese vor. Es geht hier nicht darum,
irgendwem Schuld zuzuweisen, sondern es geht tatsäch-
lich darum, aus Fehlern zu lernen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen eine unabhängige historische Kommission.

Sie haben hier das Thema „Responsibility to Protect“
erwähnt. Darüber könnte man jetzt länger diskutieren.
Aber eines ist mir an der Stelle sehr wichtig – das gilt für
alle Konflikte, über die wir im Moment reden –: Vor
dem Einsatz von Militär steht die Responsibility to Pre-
vent, also die Verantwortung, zu vermeiden, dass es
überhaupt so weit kommt. Da haben wir in Ruanda
versagt, und da versagen wir leider bis heute in vielen
Konflikten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir hätten uns gewünscht, dass es hier einen Antrag
aller Fraktionen gibt. Einen solchen haben wir bisher
noch nicht. Aber der Antrag wird jetzt in die Ausschüsse
überwiesen. Vielleicht können Sie von der Union und
von der SPD noch über Ihren Schatten springen. Viel-
leicht ist es möglich, dass wir hier zu einem Konsens
kommen. Wir sind dazu bereit.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen aus un-
seren Fehlern lernen, damit so ein Verbrechen nie wieder
geschieht. Ich denke, das sind wir den Hunderttausenden
von Opfern schuldig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810313000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich,

SPD.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1810313100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Genozid in
Ruanda ist noch nicht lange her. Opfer, Täter, Zeugen,
auch die Deutschen, die damals das Land schnellstmög-
lich verlassen mussten, erinnern sich an die Gräueltaten
von 1994. Sie erinnern sich an die Menschen, die sie
kannten und die sie nicht beschützen konnten. Sie fragen
sich, wie natürlich auch viele andere, wie all das gesche-
hen konnte und warum die internationale Gemeinschaft
so versagt hat.

Tatsächlich sind ja noch lange nicht alle Hintergründe
dieses Versagens geklärt. UNAMIR, die Mission der
Vereinten Nationen, wurde verkleinert, als der Völker-
mord schon in vollem Gange war. Im Vorfeld versagten
internationale Organisationen, und die Berichterstattung
tat den Krieg und die Massenmorde als Stammeskonflikt
ab. Dieses Versagen der internationalen Staatengemein-
schaft darf sich niemals wiederholen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ich halte eine systematische historische Aufarbeitung
von Konflikten und der deutschen Verantwortung und
Reaktion auf diese Konflikte grundsätzlich für richtig.
Zum Teil geschieht das bereits. Wie im Antrag zu lesen
ist – auch Sie haben bereits darauf hingewiesen –, sind
gerade in jüngster Zeit Wissenschaftler und Medien
damit beschäftigt, die Verbindungen Ruandas und
Deutschlands in den 1990er-Jahren zu erforschen.

Auf internationaler Ebene wurden aus dem Völker-
mord in Ruanda und aus dem Versagen der internationa-
len Gemeinschaft Konsequenzen und Lehren gezogen.
Neuere UNO-Missionen erhalten oft robuste Mandate
und legen den Schutz der Zivilbevölkerung als strategi-
sches Ziel fest. Die Responsibility to Protect als interna-
tionale Norm der Vereinten Nationen ist eine weitere
Lehre aus dem Völkermord in Ruanda. Wir haben ge-
lernt, dass wir nicht wegsehen dürfen, wenn ein Land
seine Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will.

Wir tragen auch Verantwortung in der Prävention. Die
Bedeutung der Krisenprävention als Aufgabe der deut-
schen Politik kann gar nicht genug betont werden. In der
Großen Koalition haben wir die Mittel für den Zivilen
Friedensdienst bisher stetig erhöht, zuletzt auf 39 Millio-
nen Euro im Jahr. Die Vermeidung von Konflikten, die
Versöhnungsarbeit, die Deeskalation – all das sind Be-
reiche, die wir weiter ausbauen müssen. Auch das ist
eine Lehre aus dem ruandischen Völkermord.

Meine Damen und Herren, es bleibt trotzdem unbe-
friedigend. Wir erinnern uns an den Völkermord in
Ruanda; wir haben heute schon eine Idee davon, wie der
Genozid zu verhindern gewesen wäre. Wir müssen aber





Gabriela Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

trotz der ganzen Erkenntnisse bei jedem Konflikt von
neuem damit anfangen, zu analysieren, und uns entschei-
den, was wir tun wollen.

Die zentrale Frage ist hierbei: Wie übernehmen wir
Verantwortung in einem bestimmten Konflikt? Ihr An-
trag lässt das noch offen. Sie hoffen, dass neue Erkennt-
nisse der Kommission Antworten auf diese zentrale
Frage hervorbringen. Ich bezweifle, dass die wissen-
schaftliche Aufarbeitung zu solchen Antworten führt.
Eine Kommission kann Schuldfragen klären; sie kann
sogar individuelle Schuld klären, wenn die Archive ge-
öffnet werden. Aber kann sie uns tatsächlich Handlungs-
anweisungen für aktuelle Krisen, Konflikte und Völker-
morde liefern?

Die Diskussionen über unsere Verantwortung, die
auch wir Abgeordnete angesichts aktueller Krisen führen
müssen, kann uns keiner abnehmen. Dafür gibt es kein
Konzept. Spätestens dann, wenn wir über Waffenliefe-
rungen und Blauhelmeinsätze, eingebettet in unsere
internationalen Verpflichtungen, entscheiden müssen,
muss sich jeder und jede von uns fragen, welche Maß-
nahmen im Sinne der Responsibility to Protect Massen-
morde und schwere Menschenrechtsverletzungen ver-
hindern; denn die Responsibility to Protect endet eben
nicht immer bei der Prävention. Da kommen wir nicht
raus, wie viel wir auch immer historisch aufarbeiten mö-
gen.

Deutschland und Ruanda pflegen eine enge Partner-
schaft mit sehr positiven Entwicklungen. Ruanda hat
schon in der Vergangenheit sehr aktiv und völlig zu
Recht seine eigenen Vorstellungen von der Entwick-
lungszusammenarbeit und der Arbeitsteilung benannt.
Zuletzt ging es dabei zum Beispiel um Dezentralisie-
rung, gute Regierungsführung und die Reform des öf-
fentlichen Finanzwesens.

Deutschland hat letztes Jahr insgesamt rund 70 Mil-
lionen Euro für die Zusammenarbeit in den nächsten drei
Jahren zugesagt. Wir sollten die Frage der Aufklärung
– vielleicht auch die unserer eigenen Verantwortung –
da, wo dies noch nicht geschieht, stärker mit der Aufklä-
rung in Ruanda verbinden. Wir dürfen nicht nur fragen:
„Was hätten wir tun müssen?“, sondern wir müssen auch
fragen: „Was hätte Ruanda gebraucht, und zwar aus der
Perspektive der Menschen in Ruanda?“

Ruanda selbst ist längst dabei, den Genozid aufzuar-
beiten. Vielleicht brauchen wir eine stärkere Verknüp-
fung, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Wir müssen
auch abklären, ob und in welcher Weise eine stärkere
Unterstützung Deutschlands bei der Aufarbeitung des
Genozids und weitere Hilfe für die Überlebenden ge-
wünscht ist, auch im Hinblick auf die Zeitzeugen. Wir
sollten ergebnisoffen in Erfahrung bringen, in welcher
Weise Deutschland hierbei weiter unterstützen kann.
Dies ist mit Sicherheit unsere Aufgabe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810313200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Anita Schäfer für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1810313300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem bereits
so viel über die deutsche Politik zur Zeit des Völker-
mords in Ruanda gesprochen wurde, möchte ich die heu-
tige Debatte um einen Blickwinkel aus diesem Land
selbst ergänzen. Kürzlich hatte ich als Vorsitzende der
Parlamentariergruppe Östliches Afrika die Gelegenheit,
im Rahmen einer Delegationsreise in die Region auch
Ruanda zu besuchen. Ein besonderer Schwerpunkt wa-
ren dabei natürlich die Lehren, die aus dem Völkermord
gezogen wurden. Am beeindruckendsten war der Besuch
der Genozidhauptgedenkstätte in Gisozi bei Kigali, wo
ich stellvertretend für die gesamte Delegation einen
Kranz am Grab von über 250 000 Opfern des Völker-
mordes niederlegte. Die Ereignisse von 1990 bis 1994
spielen aber bis heute in jedem gesellschaftlichen Be-
reich, in jeder politischen Facette des Landes eine Rolle.
Bei diesem Aufarbeitungsprozess hat Ruanda bewun-
dernswerte Erfolge erzielt, ganz besonders, wenn man
bedenkt, dass bis heute Gefahren aus dem benachbarten
Kongo drohen, wohin sich Teile der damaligen Hutu-
Milizen zurückgezogen haben.

Bei unserem Besuch hatten wir auch die Möglichkeit,
ein Demobilisierungslager für ehemalige Kämpfer zu
besuchen, eines der weltweit wenigen Beispiele für ein
erfolgreiches Demobilisierungsprogramm, finanziert
durch die Weltbank. Dort werden ehemalige Angehörige
der Rebellengruppe FDLR, der sogenannten Demokrati-
schen Kräfte zur Befreiung Ruandas, demobilisiert und
auf ihre Reintegration in das Zivilleben vorbereitet,
ebenso wie Exkämpfer anderer Gruppen und ehemalige
Kindersoldaten, insgesamt etwa 12 000 seit Dezember
2001. Die Erfolgsquote liegt bisher bei insgesamt
86 Prozent.

Bei diesem und allen anderen Programmpunkten ist
unsere Delegation von hochrangigen Vertretern von
Staat und Gesellschaft sehr herzlich aufgenommen wor-
den. Sie haben uns den Versöhnungsprozess vor dem
Hintergrund der ruandischen Geschichte erläutert. Er-
folge in diesem Prozess sind demnach keinesfalls Selbst-
läufer gewesen. Im Gegenteil: Alle Beobachter hätten
1994 eine fortgesetzte Spaltung und Instabilität des
Landes vorhergesagt. Ruanda sei aber erfreulicherweise
der seltene Fall, in dem sich die Realität besser entwi-
ckelt habe als die Prognose. Aufbauend auf einem politi-
schen Konsens zwischen den Tutsi und den gemäßigten
Hutu-Eliten habe man eine gewollte Politik des Aus-
gleichs, der Versöhnung, der Inklusivität, der Machtteil-
habe und der Gerechtigkeit durchgesetzt. Ziel sei eine
gemeinsame nationale Identität aller Ruander, bei der die
Zugehörigkeit zur Gruppe der Hutu oder der Tutsi keine
Rolle mehr spielt. So weit die ruandische Selbstbetrach-
tung.





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)

Zugleich wurden die Beziehungen zu Deutschland
und die deutschen Bemühungen um eine Aufarbeitung
der Vorgänge aus den 1990er-Jahren sehr gelobt. So hat
Senatspräsident Bernard Makuza uns gegenüber vor
allem den Wunsch nach einer Verstärkung des Austau-
sches und der Zusammenarbeit unserer beiden Parla-
mente geäußert. Als sehr junge Demokratie, deren Ver-
fassung erst 2003 beschlossen wurde, wolle man
ausdrücklich von den deutschen Erfahrungen im Versöh-
nungs- und Aufbauprozess nach Krieg und Wiederverei-
nigung lernen. Besondere Anerkennung fanden auch die
Bewertung der FDLR als terroristische Organisation und
das Vorgehen der deutschen Justiz gegen ihre Führungs-
kader. So hatten die Verhaftung und das Gerichtsverfah-
ren gegen die zwei FDLR-Anführer in Deutschland 2009
erhebliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der Re-
bellen, von denen sich anschließend viele ergaben.

Als Rheinland-Pfälzerin hat mich zudem das große
Lob für die langjährige Entwicklungszusammenarbeit
mit dem Partnerland Rheinland-Pfalz auf deutscher Seite
sehr gefreut. Ich denke, alle Delegationsmitglieder kön-
nen bestätigen, dass von ruandischer Seite uns gegen-
über keinerlei Kritik an der Politik Deutschlands, damals
oder heute, geäußert wurde. Wenn man den Antrag der
Opposition liest, könnte man allerdings meinen, dass
hier große Versäumnisse aufzuarbeiten wären. Dieser
Bewertung kann ich mich nicht anschließen.

Deutschland hat aus dem Völkermord in Ruanda und
aus anderen Ereignissen der vergangenen beiden Jahr-
zehnte Konsequenzen gezogen. Zusätzlich zu dem, was
der Kollege Heinrich vorhin schon erwähnt hat, gelten
seit 2012 ressortübergreifende Leitlinien für eine kohä-
rente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen
Staaten. Ein Austausch erfolgt nicht nur zwischen den
zuständigen Ministerien, sondern auch mit Nichtregie-
rungsorganisationen, etwa im Rahmen länderbezogener
runder Tische. Auch in der Frage militärischer Einsätze
zur Konfliktverhütung haben die Lehren aus den Gräuel-
taten in Ruanda und anderswo Folgen für die deutsche
Politik gehabt.

Vor fast genau einem Jahr haben wir hier im Bundes-
tag über die Beteiligung der Bundeswehr an der EU-
Übergangsmission in der Zentralafrikanischen Republik
abgestimmt. Das Beispiel Ruanda, dessen Wiederholung
es zu verhindern gelte, wurde damals von vielen Red-
nern genannt. Auch ich habe damals darauf hingewiesen,
dass uns die Gefahr eines neuen Genozids in Afrika
nicht egal sein könne. Mancher hat trotzdem gegen einen
Militäreinsatz argumentiert, aber letztlich haben wir im
Bewusstsein der Geschichte mit übergroßer Mehrheit
zugestimmt. Daneben hat es natürlich auch eine wissen-
schaftliche Befassung mit der deutschen Ruanda-Politik
der 1990er-Jahre gegeben, ohne dass die Wissenschaft
dazu Vorgaben der Bundesregierung oder Anträge der
Opposition gebraucht hätte.

Bis heute drückt sich die enge Verbindung zwischen
Deutschland und Ruanda in der bilateralen Beziehung
und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aus. Die Leh-
ren, die es aus der Zeit des Völkermordes zu ziehen galt,
sind in beiden Ländern gezogen worden und werden an-
gewandt. Unser Blick muss nun nach vorne, auf die Ge-
genwart und die Zukunft, gerichtet sein, um Ruanda wei-
terhin auf seinem Weg zu Frieden, Versöhnung und
Stabilität zu unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810313400

Vielen Dank. – Abschließender Redner in dieser Aus-

sprache ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1810313500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herero, Nama, Damara und San 1904 bis 1908 im
heutigen Namibia, Armenier ab 1915, Srebrenica 1995 –
dies sind nur Beispiele einiger vergessener Völker-
morde, ethnischer Säuberungen, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Ich zitiere:

Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.

Das sagte Elie Wiesel am Holocaust-Gedenktag vor
15 Jahren hier vor dem Deutschen Bundestag.

Ich danke den Fraktionen der Linken und der Grünen
für die Einbringung des heutigen Antrags zum Völker-
mord in Ruanda und zur deutschen Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Dieser Antrag lenkt den Fokus auf unsere eigene deut-
sche Verantwortung. Er regt uns zur gewissenhaften
Aufarbeitung an.

Historikerinnen und Historiker sind sich darüber ei-
nig: Der erste Völkermord des vergangenen Jahrhun-
derts wurde an den Herero und Nama in Deutsch-Süd-
westafrika verübt.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Von wem? Von der deutschen Kolonialmacht, von deut-
schen Truppen. Ich meine, Deutschland hat eine beson-
dere historische und moralische Verantwortung für Na-
mibia. Sie wirkt bis heute nach. Deshalb müssen wir die
deutsche Schuld und Verantwortung klar bekennen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor zwei Wochen haben wir gemeinsam in der Arme-
nien-Frage zu Recht von der Türkei erwartet, dass sie
den Völkermord anerkennt, damit eine Aufarbeitung vo-
rankommen kann. Das sollten wir eindeutig auch für die
Herero und Nama tun.





Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn die Anerkennung ist ein Ausdruck des Respekts.
Ich möchte daran erinnern, dass Willy Brandts Kniefall
vor dem Ehrenmahl im ehemaligen Warschauer Ghetto
ein Akt der Demut und ein Symbol für die Bitte um Ver-
gebung für die deutschen Verbrechen war. Noch heute ist
es unsere Aufgabe, Haltung einzunehmen und vor allem
Verantwortung zu übernehmen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als Menschenrechts- und Bildungspolitiker ist mir
unsere Erinnerungskultur besonders wichtig. Vor einigen
Monaten – das wurde von Herrn Liebich schon angedeu-
tet – haben wir gemeinsam mit unserem Außenminister
Frank-Walter Steinmeier die Genozidgedenkstätte in Ki-
gali besucht. Dort werden alle Völkermorde in einer
Ausstellung nebeneinander abgebildet. Das ist ein gutes
Beispiel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Leider ist die deutsche Kolonialgeschichte nicht im
öffentlichen Bewusstsein. Die deutsche Rolle in der Ko-
lonialzeit ist Teil unserer Geschichte und muss bewusst
Eingang in unsere Erinnerungskultur finden. Als deut-
sche Einwanderungsgesellschaft wollen wir eine leben-
dige und verantwortungsvolle Erinnerungskultur.

Meine Damen und Herren, die Schule der Nation ist
bekanntlich die Schule. Unser deutsches Geschichtsbuch
muss auch die deutsche Rolle und die Auswirkungen der
Kolonialzeit erzählen. Und: Wir sprechen heute über
vielfältige deutsche Identitäten. Unsere Klassenzimmer
sind bekanntlich vielfältig. Unsere Kinder müssen des-
halb ihre eigene Geschichte in unserem deutschen Ge-
schichtsbuch wiederfinden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das verstehe ich unter lebendiger Erinnerungskultur.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Sie haben recht:
Wir müssen uns der deutschen Verantwortung stellen.
Kein Völkermord darf im Erinnerungsschatten bleiben.
Das sagte vor kurzem auch unser Bundespräsident.

Ich danke Ihnen.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810313600

Damit schließe ich diese Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4811 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias auf Grund-
lage des Seerechtsübereinkommens der Ver-
einten Nationen (VN) von 1982 und der Reso-
lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816

(2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom

7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezem-
ber 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember
2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009,
1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020

(2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012)

vom 21. November 2012, 2125 (2013) vom
18. November 2013, 2184 (2014) vom 12. No-
vember 2014 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung
mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union (EU) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ra-
tes der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss
2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. De-
zember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP
des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
2014

Drucksache 18/4769
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil ich
keinen Widerspruch sehe, ist auch das hiermit so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Niels Annen für die SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1810313700

Sehr herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Da-

men und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute in
erster Lesung die Verlängerung der EU-Anti-Piraterie-
Operation Atalanta an der Küste Somalias und am Horn
von Afrika, an der sich Deutschland seit 2008 durchge-
hend mit Schiffen und zeitweise auch mit Aufklärungs-
flugzeugen beteiligt. Aktuell beteiligen sich 20 EU-Mit-
gliedstaaten und zwei Drittstaaten an der Operation, die
auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Natio-
nen sowie – das ist bekannt – auf mehreren Resolutionen





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

des UN-Sicherheitsrates fußt. Hauptaufgabe von Ata-
lanta bleibt der Schutz der Seewege und vor allem des
Seetransports der Schiffe des Welternährungsprogramms
und der Friedensmission der Afrikanischen Union sowie
die Bekämpfung von Piraterie und bewaffneter Seeräu-
berei vor der Küste Somalias und am Golf von Aden.

Das alles klingt einigermaßen abstrakt. Aber wenn
man sich einmal vergegenwärtigt, dass das Mandatsge-
biet, das wir festgelegt haben, in etwa 24-mal die Fläche
der Bundesrepublik Deutschland umfasst, bekommt man
eine Ahnung von der Größe und der Komplexität der
Aufgabe, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort er-
füllen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle recht
herzlich bedanken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Somalia
– das gehört zu einer solchen Debatte natürlich dazu; es
würde auch gar keinen Sinn ergeben, darum herumzure-
den – hat sich nicht zu unserer Zufriedenheit entwickelt.
Man kann auch sagen, dass sich die Sicherheitslage trotz
des internationalen Engagements, der fortgesetzten Be-
teiligung auch deutscher Streitkräfte an der Überwa-
chung im Rahmen der Operation Atalanta, aber auch
trotz der beträchtlichen Friedensmission der Afrikani-
schen Union bisher nicht entscheidend verbessert hat.
Ich muss Sie, glaube ich, nicht an die schrecklichen Bil-
der von fortgesetzten Anschlägen in Somalia erinnern.
Al-Schabab, die größte und stärkste Terrormiliz, ist wei-
terhin in weiten Teilen des Landes aktiv. Sie ist zu Ope-
rationen fähig und führt sie auch aus.

Wir haben auch gesehen, dass es längst nicht mehr
nur Somalia ist, sondern dass auch die Nachbarländer
Opfer dieses Terrors werden. Wir alle haben die Bilder
von dem schrecklichen Angriff auf die Universität si-
cherlich noch im Kopf.

Die Rahmenbedingungen für die Bekämpfung des
Terrors und die Stabilisierung von Somalia bleiben aus-
gesprochen schwierig. Ich will einige Zahlen erwähnen:
Im Jahre 2011 sind 250 000 Menschen in Somalia an
Hunger gestorben. Rund 1 Million Menschen benötigen
aktuell humanitäre Hilfe, davon allein 350 000 in der
Hauptstadt. Hinzu kommen 1 Million Binnenvertriebene
und schätzungsweise 1 Million somalische Flüchtlinge
in den Nachbarländern.

Meine Damen und Herren, für die Versorgung der so-
malischen Bevölkerung mit Lebensmitteln bleibt die
Operation Atalanta zentral; denn die Versorgung erfolgt
überwiegend auf dem Seeweg. Deswegen muss man an
dieser Stelle darauf hinweisen: Seit Beginn der Opera-
tion Atalanta sind alle Schiffe des Welternährungspro-
gramms sicher nach Somalia eskortiert worden. Auch
die Transporte der EU-Mission AMISOM werden ge-
schützt. Das ist bei aller Sorge über die Lage in Somalia,
die wir, glaube ich, teilen, ein wichtiger Erfolg.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auch in dem anderen Kernbereich der Mission sind
Erfolge zu verzeichnen. Im Jahre 2009 mussten wir noch
117 Piratenangriffe und 46 Entführungen von Handels-
schiffen registrieren. Die Zahl ist auf 4 versuchte An-
griffe im Jahr 2014 gesunken. Entführungen konnten seit
2012 komplett verhindert werden. Aktuell befindet sich
kein Schiff mehr in der Hand somalischer Piraten. Die
Zurückdrängung der Piraterie ist nicht zuletzt auf das
effektive Zusammenspiel von Schiffseignern und mariti-
mer Präsenz von Atalanta zurückzuführen.

Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss uns
klar sein: Natürlich kann sich die Lage wieder ändern,
kann Piraterie am Horn von Afrika wieder aufflammen.
Auch deswegen ist die weitere Präsenz unserer Schiffe
dort notwendig. Dass dies so ist, dass Piraterie auffla-
ckern kann und dass es eine fragile Stabilität ist, die wir
erreicht haben, hat nicht nur mit dem bewaffneten Terro-
rismus, sondern auch mit den Rahmenbedingungen – mit
Armut, mit Verzweiflung, mit der Destabilisierung der
staatlichen Strukturen, mit der Abwesenheit von Staat-
lichkeit in Somalia – zu tun. Ohne eine langfristige Ver-
besserung der Lebens- und Einkommensverhältnisse vor
Ort wird Somalia auch weiterhin Rekrutierungsgebiet
und Basis für Terrorismus und Piraterie bleiben.

Auch vor diesem Hintergrund, meine Kolleginnen
und Kollegen, hat Deutschland allein zwischen 2008 und
2013 313 Millionen Euro an Hilfsgeldern für Somalia
zur Verfügung gestellt. Trotz dieser Hilfe wird man – das
wissen wir, glaube ich, alle – nicht nur in den Gebieten,
die jetzt von der al-Schabab befreit worden sind, sondern
auch in den Nachbarstaaten, die unter der Last der
Flüchtlinge leiden, mehr leisten müssen. Wir sind nicht
so naiv, zu glauben, dass mit der Verlängerung der Ope-
ration Atalanta das Problem gelöst wäre. Aber ohne die
Operation Atalanta würden uns die Rahmenbedingungen
fehlen. Deswegen glaube ich, auch mit Blick auf die
Krise in der gesamten Region – Stichwort „Jemen“; auch
das muss man in der Debatte erwähnen – sagen zu kön-
nen: Wir leisten einen Beitrag – nur einen, aber einen un-
verzichtbaren – zur Stabilisierung dieser Region, zur
Versorgung der Menschen, die auf unsere Hilfe angewie-
sen sind. Deswegen bitte ich um Zustimmung.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810313800

Kollege Dr. Alexander Neu spricht jetzt für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810313900

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr

Präsident! Ja, die Operation Atalanta läuft seit 2008, also
seit sieben Jahren. Ja, die Zahl der Piratenüberfälle geht
seit einigen Jahren gegen null. Das ist richtig. Die Ursa-
che aber, die sozioökonomische Not, ist bis heute nicht
wirklich effektiv bekämpft worden.

Würde man heute die Operation Atalanta einstellen,
dann gäbe es morgen wieder Piraterie. Wie viele Jahre
– vielleicht Jahrzehnte – soll die Operation Atalanta
denn weiterlaufen? Darauf haben Sie keine Antwort. Es
laufen ja sogar drei Missionen: Atalanta, EUCAP





Dr. Alexander S. Neu


(A) (C)



(D)(B)

NESTOR und EUTM Somalia. Alle drei Missionen ha-
ben den gleichen Grundcharakter: Sie sind militärisch
ausgeprägt und wollen einen staatlichen Repressionsap-
parat aufbauen. Wollen! Geschafft haben sie das noch
lange nicht.

Erst seit 2013 gibt es ein UN-Projekt für den zivilen
Aufbau, nämlich „Peace and Statebuilding Goal“, um
den Staatszerfall in irgendeiner Art und Weise anzuge-
hen. Allerdings ist dieses Projekt noch ausbaufähig, und
ein Ausbau ist auch nötig.

Auffällig ist in diesem Fall, aber auch generell das
massive Ungleichgewicht zwischen zivilen Projekten
und militärischen Abenteuern – immer wieder zugunsten
der militärischen Abenteuer. Genau das ist der Haken
westlicher Sicherheitskonzeptionen: das Primat des Mi-
litärischen plus Parteinahme zugunsten einer Konflikt-
partei, einer Konfliktpartei, die den Interessen des Wes-
tens am besten dient.

Der Nahostexperte Michael Lüders hat in seinem neu-
esten Buch mit dem Titel Wer den Wind sät vor kurzem
die Frage gestellt, was westliche Politik im Orient an-
richtet. Dort fragt Lüders – ich zitiere –:

Gibt es eine einzige Intervention des Westens, die
nicht Chaos, die nicht Diktatur und neue Gewalt zur
Folge gehabt hätte?


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Balkan!)


Lüders nennt Afghanistan, er nennt Irak, er nennt Soma-
lia, er nennt Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien. Ich glaube,
man könnte diese Liste noch etwas verlängern.

In der Tat: Keines der genannten Länder ist stabiler
geworden. Im Gegenteil: Manche sind auch in die Stein-
zeit zurückgebombt worden. Das gilt nicht nur für die
staatliche Infrastruktur; sondern auch für das Aufkom-
men einer Steinzeitideologie, des Islamismus. Der IS ist
ein Produkt auch westlicher Interventionen.


(Beifall bei der LINKEN)


Lüders schreibt weiter – ich zitiere ihn –:

Die westliche Politik glaubt an das Allheilmittel di-
rekter oder indirekter militärischer Intervention –
ohne Rücksicht auf Verluste. Westliche Politik ver-
kündet Demokratie, verbündet Freiheit und Men-
schenrechte, akzeptiert aber Wahlergebnisse nur,
wenn der Gewinner genehm ist.

Ich glaube, das sagt eine ganze Menge über die westli-
che Politik gegenüber der südlichen Hemisphäre aus.

Die wachsenden Flüchtlingszahlen und die wach-
sende Zahl von Toten im Mittelmeer sind der traurige
Beweis für das Versagen der westlichen Sicherheitspoli-
tik,


(Beifall bei der LINKEN)


ein Versagen, dem Hunderttausende, mittlerweile sogar
Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind – und das
sind keine Europäer.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wahrscheinlich glauben Sie das wirklich!)


Der Glaube an das Militärische plus Doppelstandards
in der Politik führen zur Verelendung und zum Tod in
der dortigen Region. Und der Glaube an das Militärische
plus Doppelstandards in der Politik erhöhen auch die
Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland und in
Europa.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Glaube, Liebe, Hoffnung!)


Die deutsche Beteiligung am US-Drohnenterror via
Ramstein gegenüber Nordafrika und dem Nahen und
Mittleren Osten stellt eine wachsende Gefahr für die in-
nere Sicherheit dar. Die Bundesregierung schließt bis
heute die Augen. Ja, sie leugnet sogar die Bedeutung der
Ramstein Air Base der USA für den US-Drohnenterror.
Nur: Wer mitmacht – und sei es nur die Duldung –,
macht sich auch mitschuldig.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung macht sich mitschuldig – poli-
tisch, rechtlich und auch moralisch. Daher fordern wir:
Beenden Sie den Missbrauch des deutschen Territoriums
für den US-Drohnenterror! Schluss mit der Kumpanei
mit den USA! Schluss damit! Beenden Sie es!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Schwacher Applaus!)


Im Übrigen ist der mit deutscher Unterstützung ge-
führte Drohnenterror auch in Somalia aktiv. Der US-
Drohnenterror torpediert den zarten Ansatz eines zivilen
Aufbaus.

Ich fasse zusammen:


(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, lieber nicht!)


Das westliche Sicherheitskonzept ist ein Konzept für
wachsende Unsicherheit und Chaos – global, aber auch
für den Westen. Atalanta ist ein Bestandteil dieses Unsi-
cherheitskonzeptes. Würde heute Atalanta beendet,
würde morgen die Piraterie wieder beginnen. Wie viele
Jahre und Jahrzehnte wollen Sie diese Operation auf
Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – allein
im kommenden Jahr werden 61 Millionen Euro dafür
bereitgestellt; diese 61 Millionen Euro, die Sie zahlen
und für solche Abenteuer ausgeben, fehlen woanders –
und auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten weiterlau-
fen lassen?

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN – Niels Annen [SPD]: Donnernder Applaus aus den eigenen Reihen!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810314000

Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-

sche Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1810314100


Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich denke, es macht Sinn, nach die-
sem letzten irrlichternden Vortrag zur Sache zurückzu-
kommen. Zur Sache ist zu sagen: Vor fünf Jahren lagen
vor der somalischen Küste 47 Schiffe, entführt und fest-
gehalten von somalischen Piraten. Mehr als 600 Seeleute
befanden sich – diese hätten Ihren Vortrag hören sollen,
Herr Kollege Neu – in Geiselhaft auf diesen Schiffen
oder an Land und haben Wochen, nicht selten Monate
unter menschenunwürdigsten Verhältnissen auf ihre
Freilassung gewartet. Heute befindet sich kein Schiff
mehr in der Hand von Piraten. In den Jahren 2014 und
2015 gab es bis zum heutigen Tag insgesamt vier ver-
suchte Piratenüberfälle. Kein einziger war erfolgreich.
Damit wurde der niedrigste Stand seit Beginn der Opera-
tion Atalanta erreicht. Was, wenn nicht dies, ist denn
dann eine Erfolgsgeschichte eines friedenschaffenden
Einsatzes der Europäischen Union und der Bundeswehr?


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Seit Beginn dieser Operation wurden insgesamt
179 Schiffe des Welternährungsprogramms und 121 Schiffe
der internationalen Mission der Afrikanischen Union in
Somalia ohne Zwischenfälle durch Einheiten von Ata-
lanta nach Mogadischu begleitet. Auf 121 Schiffen des
Welternährungsprogramms wurde bei ihrer Passage ein
Sicherungsteam von Atalanta an Bord eingeschifft. Die
Operation ist ein Erfolg und nicht die einzige, wohl aber
die bei weitem sichtbarste Mission im Rahmen der Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
Europäischen Union.

Der vor der Küste von Somalia liegende Golf von
Aden ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, der
Arabischen Halbinsel und Asien. Diesen Seeverbin-
dungsweg sicher und offen zu halten, bleibt unverändert
eine wichtige Aufgabe internationaler Sicherheitspolitik
und liegt in unmittelbarem deutschen Interesse wie auch
im Interesse aller über See Handel treibenden Nationen.
Die Marinen der EU-Staaten und der NATO-Staaten ko-
ordinieren gemeinsam mit den Marinen vieler anderer
Länder, auch denen Chinas, Russlands, Indiens, Neusee-
lands oder Südkoreas, ihre Präsenz, um die Passage
durch dieses Seegebiet sicherer zu machen. Allein an der
EU-Mission Atalanta haben sich nicht nur EU-Staaten
beteiligt, sondern unter anderem auch Norwegen, Mon-
tenegro, Serbien, Neuseeland und die Ukraine mit eige-
nen Beiträgen. Mit der geplanten Beteiligung Kolum-
biens würde erstmals ein Partner aus Lateinamerika an
Atalanta teilnehmen.

Die immer noch schwach ausgeprägten staatlichen
Strukturen in Somalia sind bislang nicht in der Lage, die
Kontrolle über das Staatsgebiet, das angrenzende Küs-
tenmeer und ebenso über den Golf von Aden effektiv
auszuüben. Der Kollege Annen hat, wie ich finde, auf
sehr anschauliche Weise die Probleme geschildert. Das
hat ja nichts mit „Repressionsapparat“ zu tun, was wir
eben gehört haben. Es geht darum, elementarste Grund-
formen von Staatlichkeit zu etablieren und daran zu ar-
beiten, dass sich Menschen ihres Lebens und ihres Ei-
gentums sicher fühlen und langsam einen zivilen
Wiederaufbau in diesem Land starten können. Repres-
sion wird nicht von den schwachen staatlichen Struktu-
ren ausgeübt; Repression wird von kriminellen Banden,
wird von Piraten, wird von Mördern ausgeübt, die ver-
suchen, die rechtschaffene Mehrheit der Menschen in
diesem Land zu terrorisieren. Das sind diejenigen, die
Repression ausüben, und nicht die internationale Ge-
meinschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die zuletzt zum Glück niedrige Zahl versuchter Über-
griffe auf Handelsschiffe darf in der Tat nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die für Überfälle auf See in der
Vergangenheit verantwortlichen kriminellen Netzwerke
an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die Si-
cherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu
bedrohen. Wenn man an diese Sache intellektuell redlich
herangehen will, dann darf man Ursache und Wirkung
nicht verwechseln. Wir Europäer sind nicht an jedem
Problem schuld, das irgendwo auf der Welt besteht. Wir
tragen in vielen Fällen zur Lösung bei und sind nicht die
Ursache der Probleme.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Solange der Rückgang der Piraterie nicht unumkehrbar
ist – genau darauf weisen wir ja hin – und die Erfolge
auf See noch nicht durch handlungsfähige staatliche
Strukturen an Land gesichert werden können, bleibt die
Präsenz internationaler Seestreitkräfte nach übereinstim-
mender Bewertung der EU und des VN-Sicherheitsrats
weiterhin erforderlich.

Vor diesem Hintergrund hält die EU an ihrem Enga-
gement zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von
Afrika weiterhin fest und hat ihr Mandat der Operation
Atalanta bis Dezember 2016 verlängert.

Obwohl der Schwerpunkt von Atalanta weiterhin der
Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms, der
AU-Mission AMISOM auf See sowie die Pirateriebe-
kämpfung bleibt, erwähnt das Mandat auch ausdrücklich
die Unterstützung für andere EU-Instrumente am Horn
von Afrika als weitere Aufgabe im Rahmen freier Kapa-
zitäten. Gerade darin kommt die Einbindung Atalantas
in den umfassenden Ansatz der EU am Horn von Afrika
sichtbar zum Ausdruck.

Für die nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung
Somalias wird es aber in erster Linie auf die Instrumente
der zivilen Konfliktnachsorge und der Entwicklungszu-
sammenarbeit ankommen. Genau darin ist Atalanta ein-
gebunden.

Unsere Beteiligung an der Operation soll bis zum
31. Mai 2016 mit einer Reduzierung der personellen
Obergrenze von 1 200 auf 950 Soldatinnen und Soldaten
fortgesetzt werden. Mit dieser Reduzierung tragen wir
den erreichten Erfolgen Rechnung, genauso wie der wei-
terhin vorhandenen Notwendigkeit, die Piraterie einzu-
dämmen. Diese Reduzierung ist von daher auch aus mi-
litärischer Sicht folgerichtig.





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

Das vorliegende Mandat bleibt im Wesenskern bei
dem, was wir mit unseren Partnern schon für das letzte
Mandat der EU vereinbart und in unser Mandat einge-
bracht haben. Wir wollen im Einklang mit unseren
Partnern die Präsenz auf See aufrechterhalten, um den
augenblicklich anhaltenden Abschreckungseffekt zu ver-
stetigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind da-
bei nicht auf der Seite irgendeiner Partei dort, sondern es
gibt dort autorisierte staatliche Strukturen, die es zu stär-
ken gilt. Es gibt einen Partner in der Regierung, der auf
uns Hoffnung setzt, der auf Kooperation mit den Nach-
barn, auf Kooperation mit der internationalen Gemein-
schaft setzt. Das ist nicht irgendein Partner, den wir un-
terstützen. Er ist für stetige staatliche Strukturen. Wir
unterstützen ihn deswegen, weil wir letztlich bei unseren
Einsätzen auf der Seite der Opfer und der Seite der
Wehrlosen stehen, die geschützt werden müssen vor den
Übergriffen von Mördern, von gewissenlosen Verbre-
chern, die die Menschen als Geiseln nehmen wollen, die
nicht nur im politischen, nicht nur im übertragenen
Sinne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Men-
schen zu Geiseln machen wollen. Das dürfen wir in kei-
ner Weise akzeptieren. Deswegen sind wir dort. So soll-
ten wir es in Zukunft weiter halten. Dafür bittet die
Bundesregierung um Ihre Unterstützung.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810314200

Die Aussprache wird jetzt fortgeführt durch den Kol-

legen Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810314300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Staatssekretär, Sie haben völlig recht: Nicht die Euro-
päer sind an allem schuld, was auf der Welt passiert.
Aber wenn europäische Trawler die Küstengewässer
auch vor Somalia leerfischen und damit den Fischern das
Überleben erschweren, dann hat das selbstverständlich
etwas mit unserer Verantwortung zu tun. Das sollten wir
auch sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Natürlich sind die Raubfischerei und das Leerfischen der
Meere in diesen Regionen der Welt ein Riesenproblem
und eine Ursache für die Verelendung der Menschen.
Deswegen muss man zugeben, dass Atalanta eine Sym-
ptombekämpfung ist, aber eine notwendige und, wie ich
finde, auch eine erfolgreiche.

Es ist völlig zu Recht gesagt worden, dass es seit
längerem schon Gott sei Dank keine erfolgreichen Pira-
tenangriffe mehr gegeben hat. Das erspart unglaublich
vielen Seeleuten Leid. Es ist notwendig, dass die inter-
nationalen Seewege frei sind. Für uns und meine Frak-
tion ist es das Wichtigste, dass gerade in einem so armen
Land, in dem sich eine so unglaublich große humanitäre
Katastrophe abspielt, die humanitäre Hilfe weiter unge-
stört durchgeführt werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Dr. Neu, bei der Ursachenanalyse sind
wir uns einig. Ich habe meinen Marx auch gelesen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber du hast ihn verstanden!)


Aber Sie müssen erst einmal erklären, wie Sie die
200 000 mangelernährten Kinder in diesem Land versor-
gen wollen. Erst dann können Sie sich um die Produk-
tionsmittel weltweit kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt bei Atalanta auch Fortschritte. Es gibt Verän-
derungen im Mandat. Es gibt eine Absenkung der Man-
datsobergrenze. Es ist richtig, dass bei Raubfischerei
endlich Daten gesammelt werden, mit denen man arbei-
ten kann, sodass man eine Grundlage hat. Das alles ist zu
begrüßen.

Wir haben uns vor zwei Jahren und auch im letzten
Jahr enthalten, weil eine Landkomponente hinzugekom-
men ist, die aus unserer Sicht eine immense Eskalations-
gefahr birgt. Auch wenn diese Komponente im letzten
Jahr nicht zum Einsatz gekommen ist, wissen wir, dass
sie eingesetzt werden kann. Das hat Potenziale für eine
militärische Eskalation der Situation. 2013 fanden die
Sozialdemokraten, dass wir damit recht haben. Wir
enthielten uns, Sie haben abgelehnt. 2014 haben Sie ge-
sagt: Ja, die Grünen haben recht; deshalb werden wir im
nächsten Jahr dafür sorgen, dass die Landkomponente
aus dem Mandat gestrichen wird. – Sie ist nicht heraus-
gestrichen worden. Ich bin gespannt, wie Sie abstimmen
werden. Wir werden uns weiterhin enthalten. Es ist ein-
fach fragwürdig, wenn eine Option in das Mandat hin-
eingeschrieben wird, aber nicht gesagt werden kann,
warum, und wenn vor allen Dingen potenzielle Eskala-
tionsmechanismen nicht ausgeklammert werden.

In Somalia gibt es selbstverständlich auch Erfolge:
Al-Schabab ist ein Stück weit zurückgedrängt worden.
Es gibt aber auch sehr verheerende Rückschläge: Immer
wieder gab es Anschläge auf internationale Einrichtun-
gen. Wir wissen, dass die Vereinten Nationen vor gar
nicht allzu langer Zeit einige Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter verloren haben. Wir sind mit unseren Gedanken
bei den Familien dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und gedenken der Verstorbenen. Wir haben in diesen De-
batten ein, wie ich finde, berechtigtes Ritual: dass wir
immer den deutschen Soldatinnen und Soldaten für ihren
Dienst danken. Weil wir sie entsenden, finde ich das
richtig. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, gerade
weil die Zeiten so schwierig sind und Somalia nicht das
einzige Land ist, in dem das passiert ist, um darauf hin-
zuweisen, dass wir sehr dankbar sind für die unglaublich
aufopferungsvolle Arbeit, die die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Vereinten Nationen in Ländern wie So-
malia leisten. Das ist eine unglaublich große Leistung.
Wir sind diesen Menschen zu Dank verpflichtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man Somalia stabilisieren will – bis dahin ist es
noch ein ganz weiter Weg –, muss man fragen, welche





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Prioritäten man setzt. Die Priorität der Bundesregierung
liegt zurzeit darin, dass sie sagt: 2016 wird gewählt. –
Das kann man machen. Aber man muss auch wissen,
dass von den für die humanitäre Hilfe in Somalia not-
wendigen Mitteln – das haben die UN berechnet – ge-
rade einmal 11 Prozent zusammengekommen sind. Das
beißt sich, und es ist angesichts dessen relativ wohlfeil,
zu sagen: Nächstes Jahr müsst ihr gefälligst wählen, und
wir werden schauen, ob wir bis dahin die notwendigen
Mittel für die humanitäre Hilfe zusammenbekommen
oder nicht. – Ich finde, es ist Aufgabe der Bundesregie-
rung, einen Beitrag dazu zu leisten und bei den interna-
tionalen Partnern zu trommeln, damit die Gelder endlich
zusammenkommen, damit dieses Land eine Chance hat,
auf die Beine zu kommen.

Zu Libyen fällt mir ein: Atalanta gilt ja als Modell für
Libyen, als Beispiel, wie man in Libyen mit den Schleu-
serbooten umgehen könnte. Ich glaube, dass das in
mehrfacher Hinsicht falsch ist. Zum einen wäre es
falsch, weil die Flüchtlingsfrage nicht dadurch beant-
wortet werden kann, dass man Schleuserboote versenkt.
Wir brauchen keine militärische Antwort, sondern politi-
sche Antworten. Ein solches Vorgehen wäre zum ande-
ren auch deswegen falsch, weil niemand erklären kann,
wie das militärisch funktionieren soll: Wie will man
denn beurteilen, welches Boot ein Fischerboot ist, wel-
ches Boot ein Schleuserboot ist und welches Boot tags-
über ein Fischerboot und abends ein Schleuserboot ist?
Vor allem aber wäre das vor dem Hintergrund dessen
– so haben Sie es ja beschrieben –, was Atalanta bisher
geleistet hat, nicht das richtige Signal.

Ich möchte noch einen letzten Punkt bezüglich Soma-
lia erwähnen. In den letzten Wochen sind – das wäre vor
einem Jahr undenkbar gewesen – 5 000 Menschen nach
Somalia geflüchtet. Somalia ist ein fürchterlich armes
Land mit chaotischen Verhältnissen; aber die Menschen
flüchten trotzdem aus dem Jemen nach Somalia, um zu
überleben. Da kann man sich vorstellen, wie die Situa-
tion im Jemen sein muss. An dieser Stelle möchte ich
Folgendes hinzufügen, wenn ich darf, Herr Präsident:
Die Bundesregierung sollte diese ohrenbetäubende Stille
endlich beenden und ihre Stimme erheben. Wenigstens
sollte sie die Forderung des UN-Generalsekretärs nach
einem sofortigen Waffenstillstand im Jemen und einem
Stopp der Bombardements, mit denen das Land gerade
in die Steinzeit zurückgebombt wird, unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hans-Peter Bartels [SPD])


Auf diese Art und Weise hilft man dem Jemen nicht. Auf
diese Art und Weise stabilisiert man die Region nicht.
Erst recht hilft man auf diese Art und Weise nicht Soma-
lia.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810314400

Der Kollege Philipp Mißfelder spricht jetzt für die

CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1810314500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gespannt zum Jemen!)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Kollegin
Roth, ich habe am Dienstag mit Herrn Nouripour an ei-
ner Besprechung teilgenommen. Alle dort waren sich ei-
nig: Es gibt auf internationaler Ebene natürlich große
Zweifel am Erfolg der saudischen Operation im Jemen,
gar keine Frage. Aber wenn man so tut, als wäre das,
was Saudi-Arabien gerade im Jemen macht, ganz falsch,
dann möchte ich das zumindest richtigstellen.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal, was daran richtig ist!)


– Jetzt warten Sie doch erst einmal ab, was ich zu sagen
habe, Herr Kollege Nouripour, bevor Sie anfangen, hier
herumzukrakeelen. Ich antworte erst. Dann können Sie
immer noch etwas sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war kein Herumkrakeelen, das war ein Zwischenruf!)


Ich sage Ihnen ganz klar: Die Alternative war doch
nicht, nichts zu tun. Die Frage beim Jemen war, ob man
das vollständige Abgleiten dieses Landes in den islamis-
tischen Terrorismus zulässt oder nicht. Das ist keine
Mission, die wir in irgendeiner Form unterstützen oder
wo wir operationell tätig sind. Vielmehr hat sich Saudi-
Arabien entschlossen, dort, vor seiner Haustür, tätig zu
werden. Das ist der Hintergrund dieser Diskussion. Das
war die Alternative. Die Alternative war nicht, dass
Deutschland in Saudi-Arabien anruft und sagt: Bitte,
lasst das mal. – Die Entscheidung war schon getroffen
worden, es zu tun.

Sie wissen selber genauso gut wie ich, wie der außen-
politische Kontext dieser Entscheidung war, gar keine
Frage. Dass das mit Atalanta gar nichts zu tun hat, liegt
doch auch auf der Hand.


(Beifall bei der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die fliehen gerade nach Somalia!)


– Das hat nichts damit zu tun, überhaupt nichts!


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die fliehen nach Somalia!)


Im Übrigen hat von uns hier nie jemand den An-
spruch erhoben, mit Atalanta die Probleme Afrikas zu
lösen; Staatssekretär Brauksiepe hat das dankenswerter-
weise gesagt. Das machen wir auch nicht mit militäri-
schen Maßnahmen. Das Gegenteil hat auch nie jemand
von uns behauptet. Es ging bei Atalanta – deshalb finde
ich es ziemlich wohlfeil, Atalanta in einen Zusammen-
hang mit den Problemen Afrikas insgesamt zu stellen –





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

darum, die Handelswege und damit auch die vitalen In-
teressen Deutschlands als Exportnation zu sichern.


(Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Das wird mit Atalanta sehr erfolgreich getan. Deshalb
setzen wir dieses Mandat auch fort und werben für die
Verlängerung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Schön, dass Sie das so sagen! Sehr ehrlich, Herr Mißfelder!)


Dass wir uns mehr um Afrika kümmern müssen, dass
wir die Probleme im Zusammenhang mit Krieg, Vertrei-
bung und Flüchtlingswellen besser in den Griff bekom-
men müssen, liegt auf der Hand. Dass man da viel zu
lange weggeschaut hat, ist doch auch klar. Es war aber
auch in der rot-grünen Zeit so – das möchte ich hier ein-
mal erwähnen –, dass man Deals mit nordafrikanischen
Regierungen abgeschlossen hat. Das geschah in der ge-
samten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
aber insbesondere während der rot-grünen Regierung:
Otto Schily ist zu Gaddafi gefahren und hat – auch mit
Zustimmung der Grünen – Deals mit ihm gemacht, um
das Problem einfach abzuschotten und das Thema zu
ignorieren. Jetzt, wo Gaddafi weg ist, kommen das Pro-
blem und die Schwemme zu uns.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kommt zu uns? Die Schwemme? – Gegenruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schwemme!)


Das ist der tiefere Grund dafür, warum wir in der Ver-
gangenheit damit nicht so häufig befasst waren. Deshalb
müssen wir uns natürlich stärker um das Problem küm-
mern.

Niemand von uns hat gesagt, dass man es militärisch
lösen kann, sondern wir sind der festen Überzeugung,
dass das nur über bessere Entwicklungskooperation bzw.
wirtschaftliche Entwicklung geht. Das wurde hier klar
gesagt. Dafür war die Bundeskanzlerin beim Sondergip-
fel der Europäischen Union. Wir sind dafür tätig. Es gibt
da kein dröhnendes Schweigen, sondern da ist ganz viel
Aktivität: seitens unseres Bundesaußenministers, seitens
Gerd Müllers, unseres Entwicklungsministers, sowie auch
vonseiten der Spitzenposition, also Angela Merkels. Ich
finde, dass das auch richtig ist. Wir sollten die Regierung
dabei unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Thema vorbeigeredet!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta ist eine er-
folgreiche Mission. Wir haben oft die Schwierigkeit,
dass viele Menschen in Deutschland – aus meiner Sicht
sicher zu Recht – kritische Fragen stellen, die wir als
Parlament hier auch diskutieren; denn viele Menschen in
Deutschland sind grundsätzlich gegenüber Auslandsein-
sätzen der Bundeswehr sehr kritisch. Viele fragen: Wa-
rum soll Deutschland eigentlich eine so aktive Rolle
spielen?
Wir wollen nicht, dass Auslandseinsätze der Bundes-
wehr ein reines Elitenprojekt sind, bei denen der Bun-
destag, abgekoppelt von der Stimmungslage in der Be-
völkerung, über die Köpfe der Menschen hinweg
entscheidet. Atalanta ist deshalb ein so gutes Beispiel,
weil die Menschen dieses Mandat unterstützen, weil es
in der Bundeswehr anerkannt ist, weil Aufwand und
Nutzen in einem klaren Verhältnis zueinander stehen,
weil man es gut begründen kann und weil wir in der Ver-
gangenheit enorme Erfolge – nämlich das Zurückdrän-
gen der Piraterie – erzielt haben. Das ist ein erfolgrei-
ches Mandat. Deshalb werben wir für die Fortsetzung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810314600

Die Debatte wird durch den Kollegen Dirk Vöpel von

der SPD fortgesetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dirk Vöpel (SPD):
Rede ID: ID1810314700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Beitrag der deutschen Marine zur EU-ge-
führten Operation NAVFOR bzw. Atalanta gehört neben
„Resolute Support“ und KFOR zu den großen Auslands-
einsätzen der Bundeswehr. Das gilt für die Iststärke von
knapp über 300 Soldatinnen und Soldaten. Es gilt trotz
Reduzierung weiterhin für die Mandatsobergrenze, die
künftig immer noch bei 950 Bundeswehrangehörigen
liegen wird. Und das gilt auch für die Kosten: 61,1 Mil-
lionen Euro für ein weiteres Jahr Anti-Piraterie-Einsatz
am Horn von Afrika. Das ist viel Geld. Aber es ist gut
angelegtes Geld, weil diese Mission außerordentlich er-
folgreich ist und einen hohen sicherheitspolitischen Er-
trag liefert.

Im Unterschied zu manch anderem Auslandseinsatz
lässt sich der Grad der Zielerfüllung bei dieser Operation
sehr leicht ermitteln. Noch vor wenigen Jahren galten
die Gewässer vor den somalischen Küsten als die gefähr-
lichsten der Welt. Angriffe von quasi soldatisch gedrill-
ten und sehr professionell organisierten Piratenbanden
auf die Zivilschifffahrt waren an der Tagesordnung.
Diese Piraten hatten es dabei nicht nur auf die Schiffe
und ihre Fracht abgesehen, sondern sie entführten häufig
auch Besatzungsmitglieder, um Lösegelder zu erpressen.
Die Situation eskalierte schließlich so weit, dass selbst
die über die See transportierten Hilfslieferungen von
UNO und Afrikanischer Union nach Somalia akut ge-
fährdet waren.

Heute können wir feststellen: Multinationale Opera-
tionen wie Atalanta und die NATO-Mission „Ocean
Shield“ haben im Zusammenwirken mit den Seestreit-
kräften vieler anderer Nationen dafür gesorgt, dass die
Piraterie rund um das Horn von Afrika drastisch zurück-
gegangen ist. Nach Angaben des Maritimen Büros der
Internationalen Handelskammer, die seit 1992 ein rund
um die Uhr besetztes Meldezentrum für Piraterie unter-
hält, ist die Zahl der registrierten Angriffsversuche von





Dirk Vöpel


(A) (C)



(D)(B)

237 im Jahr 2011 auf weniger als 10 im Jahr 2014 gesun-
ken. Seit 2012 konnten die Piraten kein einziges Schiff
dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. Der Hauptauftrag
der Mission, der Schutz der Schiffe des Welternährungs-
programms der Vereinten Nationen, konnte bisher zu
100 Prozent erfüllt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser unbe-
streitbaren Erfolge: Entwarnung kann nicht gegeben
werden. Es wäre reichlich verfrüht, wenn nicht gar naiv,
anzunehmen, das Geschäftsmodell der somalischen Pira-
tennetzwerke sei bereits endgültig zerstört. Die Piraten
sind nicht weg, sie warten ab. Sie spekulieren darauf,
dass die Intensität der Seeraumüberwachung und der
Fahndungsdruck durch die internationale Gemeinschaft
in absehbarer Zeit nachlassen. Mit anderen Worten: Die
Situation ist unter Kontrolle, aber sie ist keineswegs un-
umkehrbar. Die Kluft zwischen der himmelschreienden
Armut an Land und dem Waren- und Rohstoffreichtum,
der Tag für Tag an der Küste vorbeischwimmt, ist ein-
fach zu groß.

Selbstverständlich dürfen wir die erfolgreiche Be-
kämpfung eines Symptoms nicht mit einer gelungenen
Therapie der Ursachen verwechseln. Eine wirklich nach-
haltige Lösung des Problems kann nicht mit militäri-
schen Mitteln und auch nicht auf See erreicht werden.
Das geht nur mit einer tiefgreifenden Verbesserung der
humanitären Lage und der Lebensbedingungen der Men-
schen an Land.

Das wussten übrigens schon die alten Römer. Bei der
Bekämpfung der großen Seeräuberplage im Mittelmeer
im Jahre 67 vor Christus setzte der römische Feldherr
Pompeius zwar eine große Flotte ein und ließ auch ei-
nige Piratenführer ans Kreuz schlagen. Die viel wirksa-
mere Maßnahme bestand aber in der Ansiedlung von
120 000 Seeräubern auf fruchtbaren Böden entlang der
Südküste der heutigen Türkei – auf dass sie ein besseres
Leben hätten, wie ein römischer Historiker schreibt.
Man kann das durchaus als antike Variante eines umfas-
senden Ansatzes betrachten.

Die Operation Atalanta ist Teil des umfassenden An-
satzes der EU. In diesem Sinne werden wir den Antrag
der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandats in
den Ausschüssen beraten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Fritz Felgentreu [SPD]: Viva Pompeius!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810314800

Vielen Dank, Herr Kollege Vöpel. – Abschließender

Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Florian
Hahn für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1810314900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Operation Atalanta ist eine Erfolgsge-
schichte; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die
Zahlen sind eindrücklich. Während wir in der Hoch-
phase der Piraterie, 2011, insgesamt 251 Piratenangriffe
hatten und allein 30 Schiffe und 900 Menschen in der
Gewalt der Piraten waren, gab es 2014 keinen einzigen
erfolgreichen Piratenangriff mehr. Kein Besatzungsmit-
glied der verschiedenen Handelsschiffe war der Folter,
den Quälereien der Piraten mehr ausgesetzt. Im Gegen-
teil: Alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben
ihre Bestimmungshäfen erreichen können.

Atalanta trägt aber nicht nur zur Eindämmung der
Piraterie bei, sondern es stabilisiert eben auch ein krisen-
geschütteltes Somalia. Atalanta ist ein Leuchtturm, um
zu veranschaulichen, wie europäische und internationale
Zusammenarbeit funktionieren kann und wie wir in ei-
nem umfassenden vernetzten Ansatz eine fragile Region
unterstützen können.

Erfolge wie bei Atalanta sind keine Selbstverständ-
lichkeit. Umso wichtiger ist es, dass wir diese erfolgrei-
che Mission nun nachhaltig fortsetzen. Ein vorzeitiges
Ende, wie von den Linken gefordert, wäre fatal. Die kri-
minellen Strukturen an Land sind bei weitem noch nicht
zerstört. Wenn wir jetzt gehen, werden die Piraten mühe-
los alte Muster wieder aufnehmen, die Zahl der Über-
fälle wird rapide steigen, und wir stehen wieder am An-
fang unseres Engagements. Erst dann, wenn die Piraterie
über einen längeren Zeitraum verschwunden ist, das
heißt, wenn die organisierte Kriminalität darin kein at-
traktives Geschäftsmodell mehr sieht, kann sich die Re-
gion um das Horn von Afrika entwickeln.

Wir wissen, was es bedeuten kann, militärisches, hu-
manitäres Engagement zu früh zu beenden und ein insta-
biles Land sich selbst zu überlassen. Wir sollten diesen
Fehler in Somalia nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die Handelsschifffahrer fordern, obwohl sie mitt-
lerweile bewaffnete Sicherheitsteams an Bord haben,
eine Verlängerung der Mission. Ich kann nur sagen: Bei
einem derart großen Seegebiet von 3,7 Millionen Qua-
dratkilometern ist der zusätzliche Schutz durch Atalanta
unerlässlich.

Aufgrund der Erfolge bei der Reduzierung von Pira-
tenübergriffen ist jedoch eine erneute Reduzierung der
Personalobergrenze auf 950 Soldatinnen und Soldaten
möglich. Für den kommenden Zeitraum wird allein die
Fregatte „Bayern“ den deutschen Beitrag übernehmen.
Als Redner der CSU und bayerischer Abgeordneter
möchte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einen
besonderen Gruß an die Fregatte „Bayern“ zu senden.
Wie Sie wissen, hat der Freistaat Bayern seit der Schiffs-
taufe 1994 die Patenschaft für die „Bayern“ übernom-
men, die uns daher in ganz besonderer Weise am Herzen
liegt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: „Berlin“ und „Hessen“ vergessen wir auch nicht!)


Die „Bayern“ ist im Rahmen des Einsatzes zurzeit
dem Kommando eines schwedischen Konteradmirals





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

unterstellt, der den Verband vom niederländischen Füh-
rungsschiff „Johan de Witt“ leitet.


(Dirk Vöpel [SPD]: Die „Bayern“ auch!)


Zum Verband gehören sechs Schiffe aus Frankreich, Ita-
lien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland.


(Dirk Vöpel [SPD]: Und Bayern!)


– Und Bayern, ganz genau.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Operation Atalanta zeigt somit auf eindrucksvolle
Weise, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit der wich-
tigsten Handelsnationen der Erde möglich ist. Der
Schutz freier Seewege ist gerade für die etablierten wie
auch für die aufstrebenden Wirtschaftsnationen in Eu-
ropa, Asien und Amerika essenziell. Das liegt in unse-
rem ureigenen Interesse.

Die Operation Atalanta ist nicht nur ein gutes Beispiel
für den Erfolg eines nationenübergreifenden Einsatzes,
sondern auch für einen ressortumfassenden Ansatz. Un-
ser Engagement am Horn von Afrika, ja für den ganzen
Kontinent Afrika, kann nur erfolgreich sein, wenn unser
gesamtes außenpolitisches Instrumentarium abgestimmt
zum Einsatz kommt.

In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren eu-
ropäischen Partnern einig. Mit ihrem umfassenden An-
satz für Somalia verfolgt die Europäische Union eben-
falls die Idee des integrierten Handelns. Dabei steht die
Förderung afrikanischer Fähigkeiten und Verantwor-
tungsübernahme im Mittelpunkt. Das militärische En-
gagement dient als Rückversicherung zur See, die es der
EU ermöglicht, verschiedene Instrumente komplementär
zum Einsatz zu bringen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es darf eben
nicht sein, dass die Menschen in Somalia immer nur se-
hen, wie der Wohlstand der Welt an ihnen vorbeifährt
und das eigene Land in Armut und Hoffnungslosigkeit
versinkt. Kriminalität und Piraterie können nur mit ver-
einten und umfassenden Kräften bekämpft werden. Wir
sollten dazu weiterhin unseren Beitrag leisten. Atalanta
ist ein Teil davon.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4769 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann

(Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion DIE LINKE
Gute Arbeit in der Wissenschaft – Stabile
Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf
Kosten der Beschäftigten und Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz grunderneuern

Drucksache 18/4804
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315100

Danke, Frau Präsidentin! – Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Linke hat das Thema „Gute Arbeit in der Wis-
senschaft“ heute auf die Tagesordnung gebracht, weil
wir die neue Betriebsamkeit, die die Bundesregierung
nach doch recht langer Zeit des Stillstandes jetzt endlich
entfaltet, gerne mit ein paar guten Anregungen begleiten
wollen, nicht dass wir am Ende wieder mit ähnlichen
Halbherzigkeiten und Flickschusterei dastehen, wie wir
es leider schon beim BAföG und auch beim Koopera-
tionsverbot erlebt haben.


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Oh Gott, oh Gott!)


Tatsächlich sind die Missstände im Wissenschaftssys-
tem so groß, dass man sie nicht länger vom Tisch wi-
schen kann: befristete Beschäftigung bei weit über
80 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler, Vertragslaufzeiten von unter einem Jahr bei 50 Pro-
zent der Beschäftigten, Teilzeit auf halben, Viertel- und
Achtelstellen oder die Gefahr, den Arbeitsplatz zu ver-
lieren, weil man ein Kind bekommen hat und auf einer
drittmittelfinanzierten Stelle ist. All das, Kolleginnen
und Kollegen, macht Lebensperspektiven zunichte, und
es erschwert gutes wissenschaftliches Arbeiten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das muss man verändern.

Wenn es schon so weit ist, dass sich sogar die
Seehofer-Regierung in Bayern dazu genötigt fühlt, neue
Grundsätze zum Umgang mit Befristungen vorzulegen,
und das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft eine
neue Richtlinie mit Nachbesserungen für Promovierende
beschließt, dann müssen die Zustände wirklich schlimm
und der politische Druck wirklich groß sein. Aber all
diese neuen Richtlinien und Grundsätze lösen nicht das
grundsätzliche Problem. Sie gelten nicht für alle Be-
schäftigtengruppen, es gibt rechtliche Lücken, und es
sind wieder einmal nur freiwillige Selbstverpflichtun-
gen. Nichts ist rechtlich verbindlich geregelt. Jetzt ist es
an der Bundesregierung, endlich die Grundlagen für gute
Arbeit in der Wissenschaft zu schaffen. Bringen Sie da-
bei endlich beide Aspekte zusammen, die dafür nötig
sind, nämlich stabile Finanzen für die Hochschulen und





Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)

die wissenschaftlichen Einrichtungen einerseits und die
rechtlichen Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingun-
gen andererseits.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die letzten Jahre haben bewiesen, dass auf freiwilli-
ger Basis nichts passiert. Im Gegenteil: Das Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz von 2007 ist sogar dazu be-
nutzt worden, selbst das wissenschaftsunterstützende
Personal zu befristen. Das muss man sich einmal vorstel-
len und auf der Zunge zergehen lassen: dass mittlerweile
von der Hausmeisterei über die Verwaltung und die IT-
Abteilung bis hin zur promovierten Wissenschaftlerin
kaum jemand mehr eine unbefristete Stelle hat, weil die
Leitungen sagen, das System müsse flexibel sein. Kolle-
ginnen und Kollegen, was die einen flexibel nennen, ist
für die anderen ein prekäres Leben und eine unsichere
Zukunft, und es ist schlicht und ergreifend Ausbeutung.
Das muss sich dringend ändern.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wo sie recht hat, hat sie recht!)


Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss Mindest-
standards für gute Arbeit definieren, mit Mindest-
vertragslaufzeiten von Arbeitsverträgen, mit einer Ver-
hinderung von Kettenbefristung, mit finanziell
abgesicherten Qualifizierungsphasen und einer echten
familienpolitischen Komponente. Wenn sich Ministerin
Wanka dann mit Sätzen wie: „Befristete Beschäftigungs-
verhältnisse liegen in der Natur der Wissenschaft“,


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das ist so!)


oder der Ansicht, dass die Einschränkungen von Befris-
tungsmöglichkeiten mehr Schaden anrichteten, als dass
sie Nutzen stifteten, in die Debatte einbringt, dann kann
ich nur sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Nicht Flexibili-
sierung und Deregulierung, sondern hervorragende Ar-
beitsbedingungen ermöglichen wissenschaftliches Ar-
beiten auf hohem Niveau, und darauf muss eine Reform
des Gesetzes abzielen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen eine verlässliche und nachhaltige Fi-
nanzierung, gerade an den Hochschulen.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Dafür können Sie in den Ländern sorgen! Was machen Sie in den Ländern dafür?)


Aber statt endlich die Unterfinanzierung zu beenden,
gibt es wieder nur befristete Pakte. Nicht nur der Hoch-
schulpakt 2020 ist wieder befristet und – man muss es
sagen – leider unterdimensioniert. Auch sonst bleibt al-
les beim Alten, zum Beispiel bei der Exzellenzinitiative.
Jetzt streitet die Große Koalition, was unter Exzellenz
eigentlich zu verstehen ist. Während man bei der Union
anscheinend gar nicht genug bekommt von Elite und die
bisherige Spitzenförderung auf noch weniger Leucht-
türme verengen will, sagt die SPD dann wirklich nett
klingende Sätze wie: Man soll Spitze und Breite nicht
gegeneinander ausspielen.


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Was ist daran falsch?)


Das klingt sehr gut, ist aber nicht ehrlich; denn eines ist
doch wohl klar: Wenn Sie die Breite nur unzureichend
finanzieren, geht eine Entscheidung für Spitzenförde-
rung natürlich zulasten der Breite. So viel Ehrlichkeit
gehört dann schon dazu.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zum Thema Planungssicherheit. Bis De-
zember vergangenen Jahres war es unklar, ob es über-
haupt mit dem Exzellenzprogramm weitergeht. Frühes-
tens im nächsten Jahr wird dann der Rahmen klar sein.
Dann müssen die Hochschulen 2017 wieder in einen Be-
werbungs- und Wettbewerbsaktionismus verfallen, um
an dringend benötigtes Geld zu kommen. Der entschei-
dende Punkt ist doch: Eine Finanzierung, die auf Pakte
und auf leistungsorientierte Mittelvergabe setzt, verhin-
dert Planungssicherheit.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Da sind die Länder gefragt!)


Wir brauchen endlich eine öffentliche Grundfinanzie-
rung.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was machen Sie mit den BAföG-Millionen?)


– Wenn Sie glauben, dass diese BAföG-Millionen un-
endlich vermehrbar sind, dann haben Sie ein Problem
mit dem Rechnen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sollen die sich vom Acker machen, die Länder?)


– Was wollen Sie damit noch alles finanzieren? Unbe-
fristete Stellen in der Wissenschaft, soziale Infrastruktur,
studentischen Wohnraum, Kitaplätze? Das alles wollen
Sie damit finanzieren? Entschuldigung, das ist wirklich
nicht solide.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt soll es noch einen Pakt für den wissenschaftli-
chen Nachwuchs geben. Es ist auf jeden Fall sehr ehren-
haft – das muss man erst einmal sagen –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


dass die SPD dem Koalitionspartner etwas abtrotzen
will. Ich nehme an, das hat er nicht ganz freiwillig ge-
macht. Aber wenn man das einmal umrechnet, dann
stellt man fest, dass mit den dafür geplanten Mitteln ma-
ximal 2 000 neue Stellen geschaffen und ausfinanziert
werden können. Wenn wir nun sehr optimistisch anneh-
men, die geschaffenen Stellen würden wirklich unbefris-
tet weiterlaufen, wären das dennoch weniger als 1 Pro-
zent mehr unbefristet Beschäftigte an den Hochschulen.
Das bedeutet schlicht: Es bleibt bei über 80 Prozent be-
fristet Beschäftigten.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein!)






Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)

Um es ganz klar zu sagen: Eine Offensive für den
wissenschaftlichen Nachwuchs darf nicht am Ende zur
Ausweitung befristeter Beschäftigung führen. Wir brau-
chen langfristige Stabilität, wir brauchen sie sofort und
nicht erst in zwei oder drei Jahren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315200

Das Wort hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Alexandra Dinges-Dierig (CDU):
Rede ID: ID1810315300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Gohlke, ich versuche jetzt einmal, das Thema
mehr in Gänze zu erfassen. Erst einmal vielen Dank,
dass Sie den Antrag gestellt haben; denn er gibt uns die
Möglichkeit, hier und heute dieses für den Standort
Deutschland so wichtige Thema anzudebattieren. Es
wird nicht die letzte Debatte sein, das wissen wir; denn
wir stehen, wenn es darum geht, etwas mehr zu tun, erst
am Anfang unserer Überlegungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb finde ich es gut, dass wir das jetzt hier am An-
fang debattieren.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es war nicht die erste Debatte! Wir diskutieren das seit zwei Legislaturperioden!)


Was mich in Ihrem Antrag ein bisschen erschreckt
hat, war Folgendes: Wenn wir alles, was Sie in Ihrem
Antrag geschrieben haben, morgen umsetzen würden,
dann würde sich das gesamte Wissenschaftssystem auf
einen Schlag verändern, aber leider nicht zum Guten,
sondern zum Schlechten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich würde das ganz gerne an einigen Beispielen
– neun Minuten sind zwar lange, aber doch wiederum
nicht so lange – erklären. Zunächst zum Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Ver-
tragslaufzeit von 24 Monaten für Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler in der Qualifizierungsphase ohne
unbürokratische Ausnahmen. Sie fordern weiterhin – das
hat mich dann doch ein bisschen zum Durchschnaufen
gebracht – tatsächlich die Abschaffung der sachgrundlo-
sen Befristung, die wir jetzt in einem Zeitraum von
12 oder auch 15 Jahren haben, aber eingeschränkt nach
bestimmten Kriterien. Wissen Sie eigentlich, was das be-
deutet, wenn Sie das in der Gesamtheit betrachten?


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das bedeutet Lebensperspektive!)


Wenn ein junger Wissenschaftler oder eine junge
Wissenschaftlerin seine bzw. ihre Promotion nicht in der
Regelzeit abschließt und der Vertrag ausläuft, dann
dürfte er bzw. sie in Zukunft nicht so einfach eine Ver-
längerung bekommen. Nur weil sich die Promotion ver-
zögert, aus welchen Gründen auch immer, befinden sich
diese jungen Wissenschaftler in einer völlig unsicheren
Position. Und dann könnte es ja auch noch sein, dass ir-
gendwann eine Anschlussbeschäftigung – sogar eine un-
befristete – in Aussicht steht, zwischen der Promotions-
zeit und dem Beginn der unbefristeten Beschäftigung
aber ein Loch entsteht. Für diesen Fall gibt es jetzt Über-
brückungsverträge. Die wären nach Ihrem Modell nicht
mehr möglich, die wären dann alle obsolet. Das geht
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Der nächste Punkt, den Sie fordern – immer noch in
Verbindung mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz –:
Sie wollen, dass mit ein und demselben Arbeitgeber nur
noch zwei aufeinanderfolgende Verträge abgeschlossen
werden dürfen. Das heißt also: Wenn jemand als Postdoc
einen Vertrag hat und schon eine Verlängerung bekom-
men hat, wäre es für ihn nicht mehr möglich, für seine
Universität Drittmittel einzuwerben, weil er selber keine
Chance mehr hätte, einen Anschlussvertrag zu bekom-
men; denn das wäre der dritte Vertrag, und das wollen
Sie verhindern.

Jetzt frage ich Sie: Wir wollen doch, dass die jungen
Wissenschaftler aus eigenem Antrieb heraus, mit eige-
nen Perspektiven ihre eigenen Forschungsprojekte
umsetzen. Das würden Sie mit den Regelungen, die Sie
vorschlagen, verhindern. Das lassen wir nicht zu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese jungen Wissenschaftler, diese jungen Wissen-
schaftlerinnen müssten sich einen neuen Arbeitgeber
suchen, müssten vielleicht den Ort wechseln, vielleicht
haben sie inzwischen Familie; alles müsste umgemodelt
werden. Ich denke, das ist kein Qualitätskriterium für
gute Wissenschaft, sondern vernichtet Innovation und
Wissenschaft.

Die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen sind
strikt. Sie sagen ja ganz deutlich, dass Sie Flexibilität
vermeiden wollen. Das bedeutet aber auch einen Abbau
der Zuverlässigkeit, weil Starrheit keine Zuverlässigkeit
bedeutet, sondern genau das Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unser Ziel, das Ziel der CDU/CSU – ich bin ganz si-
cher, den Koalitionspartner hier an meiner Seite zu wis-
sen –, ist dagegen, mit der Novelle des Wissenschafts-
zeitvertragsgesetzes die Qualifizierung des jungen
Wissenschaftlers oder der jungen Wissenschaftlerin in
den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen und
den hierfür erforderlichen Zeitbedarf mit einem zeitlich
passenden Arbeitsvertrag zusammenzubinden. Das sind
unbürokratische und vertrauensvolle Verfahren, auf die
jeder aufbauen kann, weil jeder genau weiß, was es zu
erfüllen gilt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Alexandra Dinges-Dierig


(A) (C)



(D)(B)

So entsteht in meinen Augen Verlässlichkeit und Zuver-
lässigkeit.

Meine Damen und Herren, als wenn das nicht genug
wäre, haben Sie, abgesehen von diesen Änderungen am
Wissenschaftszeitvertragsgesetz, auch noch andere „An-
regungen“ – das war Ihr Wort vorhin – gebracht.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Gute Anregungen!)


– Sie hatten gesagt: „gute Anregungen“, richtig.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das darf man nicht vergessen!)


Über diese „guten Anregungen“ und „gute Arbeit“
würde ich jetzt gerne mit Ihnen streiten. In meinen
Augen legen Sie die Axt an das gesamte System unserer
Wissenschaft. Sie wollen die Spitzenforschung abschaf-
fen; das sagen Sie wörtlich.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ich will eine Ausfinanzierung!)


– Lassen Sie doch einmal das Geld weg; wir sprechen
hier von Qualität.


(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])


Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen, For-
schungseinrichtungen gängeln, Sie wollen das Grundge-
setz uminterpretieren – man könnte auch sagen: aushöh-
len –, indem Sie Verantwortlichkeiten von den Ländern
zum Bund verschieben. Sie sägen damit an der Zu-
kunftsfähigkeit Deutschlands. Ist Ihnen das eigentlich
bewusst? Ich glaube, nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie fordern eine gemeinsame Finanzierung. Ich bin ja
bei Ihnen, dass wir als Bund auch etwas tun können. Sie
könnten bei dieser Gelegenheit aber auch ruhig einmal
ansprechen, dass für diesen Bereich die Länder die
Hauptverantwortung tragen. In der Frage, wer was zu
tun hat, haben wir eine ganz klare Zuordnung, und bei
der sollte es auch bleiben. Unser Föderalismus hat sich
bewährt: Wir stehen an der Wissenschaftsspitze, wir sind
unter den Top Five der Wissenschaft auf der gesamten
Welt. Die Arbeitsteilung, die wir bei uns haben, kann
also so schlecht nicht sein. Deshalb sollten wir daran
auch festhalten.

Dennoch muss – das ist überhaupt keine Frage – der
Bund auch steuern können. Die Frage ist nur, wie.
Darüber können wir streiten. Auf jeden Fall sollte er
steuern können in den Dingen, wo es um die gesamte
Gesellschaft oder um ein überregionales Interesse geht.

Ich denke jetzt einmal an etwas, was uns letztes Jahr
doch sehr beschäftigt hat. Es gab eine große Heraus-
forderung für die gesamte Welt: Wir waren plötzlich
konfrontiert mit einem großen Ausbruch von Ebola.
Ebola ist keine neue Krankheit – wir kannten sie –, aber
in diesem Maße wohl kaum. Jetzt war die Frage: Wie ge-
hen wir vor? Welche Rolle spielt hier die Wissenschaft?
Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Moment hat
der Bund die Fähigkeit, zu lenken. Wir haben die
Möglichkeit, kurzfristig – über die Projektförderung des
Bundes – Gelder für die Bewältigung solcher Herausfor-
derungen einzusetzen. Die Projektförderung wollen Sie
aber abschaffen. Gleichzeitig wollen Sie auch noch die
Förderung exzellenter Forschung abschaffen. Das heißt,
wir hätten in Zukunft gar keine Wissenschaftscluster zur
Verfügung, die sich schon mit solchen Erkrankungen
weltweit beschäftigt haben und denen wir sagen könn-
ten: Im Rahmen einer Projektförderung bekommt ihr zu-
sätzliches Geld. Seht einmal zu, ob ihr in kurzer Zeit
Impfstoffe und Ähnliches entwickeln könnt! – Wenn die
gesamte Grundlage wegbricht, so wie Sie es in Ihrem
Antrag beschrieben haben, werden wir auf die Heraus-
forderungen in unserer Gesellschaft nicht mehr reagieren
können. Deshalb ist das für mich keine gute Anregung,
sondern eine schlechte Anregung.

Meine Damen und Herren, wir haben einen Antrag
vorliegen, in dem ich an verschiedenen Stellen inhaltli-
che Widersprüche finde; ich will das nicht noch einmal
aufmachen. Wir finden Gleichmacherei statt Spitzenfor-
schung und Innovation. Die Rolle der Wissenschaft in
Ihrem Antrag ist mir nicht klar. Die qualitativen Verbes-
serungen, die uns wirklich weiterhelfen, habe ich bei
Ihnen vergeblich gesucht. Ich habe den Antrag von
vorne bis hinten und noch einmal von hinten bis vorne
gelesen. Es gibt überhaupt keine Ansatzpunkte für quali-
tative Verbesserungen, und das ist schlecht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen die Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses breiter aufstellen. Bundesministerin
Johanna Wanka hat mit ihrem Programm eines früheren
Einstiegs in unbefristete Beschäftigung einen wichtigen
Schritt getan. Wir werden das umsetzen. Wir werden un-
ser Wissenschaftssystem dazu nicht auf den Kopf stel-
len; denn wir wissen, dass qualitätsfördernde Konzepte
uns weiterbringen.

Wissenschaft verändert sich von innen heraus. Wis-
senschaft verändert sich vor allem nur dann nachhaltig,
wenn sie Impulse und verbesserte Rahmenbedingungen
bekommt und mit ihren eigenen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern neue Karrierewege umsetzen kann. Die
Wissenschaft wird jedoch verkümmern, wenn Sie all
das, was erfolgreich ist, beseitigen. Das gefährdet unse-
ren Wissenschaftsstandort Deutschland, und das werden
wir vonseiten der CDU/CSU nicht zulassen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315400

Der Kollege Kai Gehring hat für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen das Wort.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810315500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mich freut, dass wir im Bundestag wiederholt über die
Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sprechen. Mich





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

ärgert aber richtig, dass wir wieder keinen Koalitionsan-
trag debattieren können


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


und Sie immer noch keine Novelle zum Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz vorlegen. Sie kündigen eine Novelle
schon lange an, verschieben sie aber doch immer weiter
nach hinten.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir haben doch noch zwei Jahre! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Reicht Ihnen dieses Jahr?)


Unser grüner Gesetzentwurf für eine Novelle zum Wis-
senschaftszeitvertragsgesetz liegt seit einem Jahr vor.
Worauf warten Sie eigentlich?


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Dass wir die CSU bewegen! – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Gut Ding will Weile haben!)


Die Rede der CDU-Kollegin Dinges-Dierig eben machte
doch deutlich, wie uneinig die Koalition ist und warum
Sie nicht zu Potte kommen. Da muss sich endlich etwas
ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])


Wir haben als Grüne im Bundestag in der letzten und
in der vorletzten Wahlperiode Nachwuchspakte einge-
fordert. Die Forderungen wurden abgeschmettert. Seit
wenigen Wochen gibt es jetzt nach vielen GroKo-Pirou-
etten zu Nachwuchskräften in der Wissenschaft endlich
sogar Interviews von Frau Wanka und Koalitionsankün-
digungen.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sagen Sie was zur Sache!)


Mit dem Handeln warten Sie aber weiter. Ich sage Ihnen:
Wahlgeschenke im Jahr 2017


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: So lange wollen wir gar nicht warten!)


kommen für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wis-
senschaftler von heute zu spät. Die Zeit, zu handeln, ist
jetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Junge Wissenschaftler sind wichtige Ideengeber. Ihre
Ideen entfachen soziale, ökologische und technologische
Innovationen, und das sind die Quellen zukünftigen
Wohlstands. Anstatt diesen Oasen wissenschaftlicher
Kreativität endlich Sicherheit und Perspektiven zu ver-
schaffen, schicken Sie einen Großteil des Nachwuchses
in die Wüste, in die Wüste aus strukturellen Blockaden,
Existenzsorgen und Zukunftsangst.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber wir haben schon eine Oase gefunden!)


Die Koalitionskarawane zieht jetzt langsam los. Aber ob
und wo sie ankommt, wissen wir nicht. Wir werden wei-
ter Druck machen, damit sich endlich etwas tut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir treiben sie schon! Keine Sorge!)


Die Probleme an den Hochschulen sind seit Jahren
bekannt. Unkulturen zwischen Jugendwahn und Seniori-
tätsprinzip, massenhafte Stückelverträge, wachsende
Flaschenhalsproblematik, zu wenig Dauerstellen, das
alles steht zukunftsgerechten Karrierepfaden und kon-
kurrenzfähigen Personalstrukturen im Weg, und das
muss sich ändern.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was macht Kretschmann in Baden-Württemberg?)


– An Baden-Württemberg könnten Sie sich ein super
Beispiel nehmen.


(Martin Rabanus [SPD]: Wir können gern über Hessen reden!)


Was da mit Theresia Bauer in der Hochschulpolitik pas-
siert, sucht seinesgleichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da wird doch nichts getan!)


Frau Wanka ist dagegen blass.

Nutzen Sie endlich die Gunst der Stunde! Sie haben
sich hier vor Wochen wegen der Änderung von Artikel
91 b des Grundgesetzes abgefeiert, mit der Bund und
Länder die Möglichkeit geschaffen haben, dauerhaft und
institutionell in der Wissenschaftsfinanzierung zusam-
menzuwirken. Ja, dann machen Sie das doch!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur reden, sondern handeln!)


Eine Verfassungsänderung ohne Konsequenzen ist keine
Reform und bringt niemandem etwas.

Es kann doch einfach nicht wahr sein, dass fast
90 Prozent der Verträge an den Hochschulen befristet
sind, noch dazu teilweise unter einem Jahr. Faire Bedin-
gungen, verlässliche Verträge und Planbarkeit sind wich-
tig für das eigene wissenschaftliche Arbeiten und auch
für die Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft. Ich
dachte, die Union wäre für die Familie. Ja, dann tun Sie
da doch etwas!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Hire and Fire in der Wissenschaft geht gar nicht. Dieses
monströse Befristungsunwesen, das wir haben, muss ge-
stoppt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage auch sehr klar: Das Paket der Wissenschafts-
pakte hat das wissenschaftliche Personal allenfalls am
Rande adressiert. Durch zu kurze Paktlaufzeiten wurden
vor allem Lehrkräfte eingestellt und nicht Lebenszeit-
professuren geschaffen. Hier stehen Bund und Länder
als größte Geldgeber von Grund-, Zweit- und Drittmit-
teln ganz klar in der Verantwortung. Von den Hochschu-
len und von den außeruniversitären Forschungseinrich-





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

tungen erwarten wir alle hier gemeinsam eine
vorausschauende und eine aktive Personalentwicklung.


(Dr. Simone Raatz [SPD]: Ja!)


Gute Arbeit muss zum Selbstverständnis jeder Wissen-
schaftseinrichtung gehören. Unser Wissenschaftssystem
benötigt jetzt dringend eine Dekade für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs und einen Mentalitätswechsel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Simone Raatz [SPD]: Genau! Das haben wir schon umgesetzt!)


Wir Grüne fordern einen neuen Vertrag mit dem wis-
senschaftlichen Nachwuchs. Die erste Vertragssäule ist
ein neues Nachwuchsprogramm. Wir wollen ein
Programm für mindestens 10 000 Nachwuchsstellen an
den Hochschulen. Dazu gehören feste Stellen im Mittel-
bau, ab der Postdoc-Phase II und Juniorprofessoren mit
Tenure Track – das ist ganz wichtig –, das heißt überwie-
gend zusätzliche und dauerhafte Stellen: für Professoren
und neben der Professur. Unser Nachwuchsprogramm ist
auf ein Jahrzehnt angelegt und sieht einen Aufwuchs
vor. Damit geht es nicht an aktuellen Nachwuchsgene-
rationen vorbei. Und es verbarrikadiert keine Karrieren
für künftige Nachwuchsgenerationen. Beides ist dabei
wichtig.

Die zweite Säule unseres Vertrages mit dem wissen-
schaftlichen Nachwuchs ist unsere Novelle zum Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz, die bekanntlich längst vor-
liegt – seit einem Jahr –, unter anderem mit generell
zweijährigen Vertragsmindestlaufzeiten, mit einer Strei-
chung der Tarifsperre, damit es bessere Verabredungen
der Tarifpartner vor Ort geben kann, mit Familienkom-
ponente. Es ist doch demotivierend, für die gleiche Auf-
gabe ständig das Personal auszutauschen. Daher muss es
endlich mehr Dauerstellen für Daueraufgaben geben!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])


Ich appelliere an Ministerin Wanka, die dieser hoch-
schulpolitischen Debatte – es ist heute unsere zweite –
wiederum nicht beiwohnt, was ich wirklich als ein Ar-
mutszeugnis für eine Ministerin empfinde;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


ich appelliere an die Regierung und die Koalition: Es ist
jetzt Zeit für substanzielle und lebensnahe Verbesserun-
gen, damit keine Potenziale von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern mehr ausgenutzt oder verspielt
werden. Legen Sie jetzt endlich konkrete Novellen vor!


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315600

Kollege Gehring, Sie müssen Ihren Appell bitte in ei-

nen Satz fassen und einen Punkt setzen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810315700

In meinem letzten Satz sage ich: Es braucht endlich

einen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs,
damit dieser mit Sicherheit gut forschen kann; denn wir
wollen es im Wissenschaftssystem fair statt prekär!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Wir wollen die Befristung grüner Reden!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810315800

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Simone

Raatz das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Simone Raatz (SPD):
Rede ID: ID1810315900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Gehring, Sie haben recht: Es ist nun fast
ein Jahr her, dass die SPD-Bundestagsfraktion ein
Eckpunktepapier mit Forderungen zur Novellierung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vorgelegt hat. Aber
wie hat die Opposition – abgesehen von heute, mit Fal-
ten auf der Stirn und mit Nörgeln – darauf reagiert?


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Antwort der Grünen war ein von der SPD-Fraktion
abgeschriebener Gesetzentwurf aus der vergangenen
Legislatur.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den haben wir zusammen gemacht! Ihre Vorgänger wissen das noch!)


Wir haben hier vor ein paar Monaten darüber debattiert.

Nun, fast ein Jahr später, liegt ein Antrag der Linken
zum Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ vor.
Prima! Sehr schön, dass auch Sie jetzt die große Rele-
vanz des Themas für sich entdeckt haben. Daher freue
ich mich, dass wir heute einen Antrag beraten, über den
wir in der Sache parteiübergreifend – unserem Koali-
tionspartner müssen wir noch ein bisschen unter die
Arme greifen – nahezu einer Meinung sind. Ich denke,
das Thema ist es wert.


(Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn die Koalitionsinitiative?)


– Ich bin am Anfang meiner Rede. Das wird schon alles
noch.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU])


Wir sind uns darin einig, dass unsere Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler planbare und verlässliche
Karriereperspektiven sowie attraktive Arbeitsbedingun-
gen benötigen; das wurde heute schon von mehreren
Rednern betont. Nur so gelingt es, dass wir die besten
Köpfe in unserem Land halten und auch wettbewerbsfä-
hig bleiben.

Wir sind uns sicher darin einig, dass es nicht sein
kann, dass über 80 Prozent der wissenschaftlichen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter an unseren Hochschulen





Dr. Simone Raatz


(A) (C)



(D)(B)

befristete Verträge haben, Frau Gohlke, noch dazu mit
einer Laufzeit von unter einem Jahr bei über der Hälfte
der Verträge. Das ist keine gute Situation.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können das ändern!)


Wir sind uns auch darin einig, dass es nicht zielfüh-
rend ist, dass selbst in unseren außeruniversitären For-
schungseinrichtungen – das verstehe ich noch weniger
als bei den Hochschulen – noch 2012 fast 60 Prozent al-
ler Wissenschaftler befristet beschäftigt waren, davon
viele sogar über Stipendien.

Es ist gut und wichtig, dass sich diese Große Koali-
tion endlich des Problems der prekären Arbeitsbedin-
gungen in unserem Wissenschaftssystem annimmt und
dies noch in dieser Legislatur mit entsprechenden Ergeb-
nissen untermauern wird. Es freut mich, dass wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, mit unserem Eckpunktepapier
die Debatte über den Umgang mit unserem wissen-
schaftlichen Nachwuchs maßgeblich angestoßen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was steht nun in unserem Eckpunktepapier? Für uns
sind insbesondere drei Punkte bei der Novellierung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wesentlich. Das ist
erstens die Befristungsdauer eines Arbeitsvertrages, die
sich am Qualifizierungsziel orientieren muss.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig!)


Das heißt, wenn für eine Promotion üblicherweise drei
Jahre benötigt werden, dann erwarten wir, dass der Ver-
trag eine Laufzeit von drei Jahren hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das betrifft zweitens die Drittmittelbefristungen, die an
die Dauer der Drittmittelförderung bzw. der Projektlauf-
zeit zu koppeln sind.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Drittens sind wir der Auffassung – Frau Gohlke, hören
Sie bitte genau hin –, dass das nicht wissenschaftliche
bzw. das wissenschaftsunterstützende Personal, welches
in der Regel Daueraufgaben übernimmt, im Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz fehl am Platz ist.


(Beifall bei der SPD)


Hier sollten üblicherweise unbefristete Verträge abge-
schlossen werden. Herr Gehring hat es schon gesagt: Zu
Daueraufgaben gehören Dauerstellen. Ich denke, da sind
wir uns einig.


(Beifall bei der SPD)


Wir können als Koalition stolz sein, dass seit der Ver-
öffentlichung des SPD-Eckpunktepapiers in unseren
wissenschaftlichen Einrichtungen viel in Bewegung ge-
raten ist. Ich freue mich, dass das auch den Grünen und
der Linken aufgefallen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Boah! Unglaublich! Seit Jahren beantragen wir, und Sie lehnen es ab!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
hoffe, Sie merken, dass die Novellierung des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes bei der Großen Koalition
ganz oben auf der Agenda steht,


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie konnten wir das übersehen?)


und das nicht erst seit heute, auch nicht erst seit der Vor-
lage des abgeschriebenen Antrags bzw. des vorgelegten
Antrags, über den wir heute debattieren. An den Details
wird derzeit gearbeitet. Ich gehe davon aus, dass das ge-
änderte Wissenschaftszeitvertragsgesetz zum 1. Januar
2016 in Kraft tritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zu Protokoll: Keiner klatscht bei der Union! – Gegenruf des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Vereinzelten Applaus gibt es!)


– Ich spüre viel Zustimmung, auch von meinem Koali-
tionspartner; das freut mich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wo und wann?)


Im vorliegenden Antrag heißt es treffend: Das Wis-
senschaftszeitvertragsgesetz ist nicht die alleinige Ursa-
che für die prekären Beschäftigungsverhältnisse in unse-
rem Wissenschaftssystem. Ja, das stimmt. Mit der
Novellierung stellen wir insbesondere die Befristungs-
praxis wieder vom Kopf auf die Füße. Das alleine kann
es aber nicht sein. Das ist nur ein Baustein, wenn es um
das übergreifende Thema „Gute Arbeit in der Wissen-
schaft“ geht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ein zweiter Baustein ist zum Beispiel der vierte Pakt
für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademi-
schen Mittelbau – meine Kollegin Frau Dinges-Dierig ist
schon kurz darauf eingegangen –, den wir bereits im
Herbst vergangenen Jahres thematisiert und gefordert
haben. Das äußerst Erfreuliche ist doch – und darauf
sind Sie, Herr Gehring und Frau Gohlke, überhaupt nicht
eingegangen; das hätte mich aber gefreut –, dass unsere
Forderung erhört wurde. So konnten wir unsere ge-
schäftsführenden Fraktionsvorstände davon überzeu-
gen, über einen Zeitraum von zehn Jahren zusätzlich
– ich betone: zusätzlich – 1 Milliarde Euro für unseren
wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mit-
telbau zur Verfügung zu stellen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wir haben gerade vorgerechnet, was das bedeutet! Dann machen Sie eine andere Rechnung, wo Sie sagen, dass es mehr als 2 000 Stellen sind!)






Dr. Simone Raatz


(A) (C)



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– Dass Sie sich nicht freuen! 1 Milliarde Euro für unse-
ren wissenschaftlichen Nachwuchs, das ist doch toll. Das
ist doch was.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dafür auch von dieser Stelle noch einmal einen ganz
herzlichen Dank, insbesondere an Hubertus Heil und
Michael Kretschmer, die sich ganz intensiv dafür einge-
setzt haben. Ich finde, das ist ein tolles Ergebnis.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Unsere Vorstellungen zur Ausgestaltung des vierten
Paktes haben wir vor zwei Wochen präsentiert. Im We-
sentlichen geht es darum, dass sich unsere Hochschulen
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen endlich
als gute Arbeitgeber verstehen, das Potenzial ihrer Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig erken-
nen und fördern sowie klare Perspektiven aufzeigen. Ich
denke, Personalentwicklungskonzepte und attraktive
Personalkategorien mit Tenure-Track-Option auch unter-
halb der Professur sollten zukünftig selbstverständlich
sein.

Ich komme zum Schluss. Sie sehen, das Ergebnis von
anderthalb Jahren Großer Koalition im Bereich „guter
Arbeit in der Wissenschaft“ ist erstens eine anstehende
Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und
zweitens 1 Milliarde Euro zusätzlich für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau.
In den nächsten Monaten geht es nun um die konkrete
Ausgestaltung des Paktes und um die Abstimmung zwi-
schen Bund und Ländern. Sie alle sind herzlich eingela-
den, sich an der Diskussion zu beteiligen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316000

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin

Dr. Claudia Lücking-Michel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU):
Rede ID: ID1810316100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Tatsächlich, wir diskutieren
heute schon zum zweiten Mal im Plenum über ein ganz
wichtiges Thema der aktuellen Wissenschaftspolitik.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Auf Initiative der Opposition!)


Es geht um die Zukunftsperspektiven für Nachwuchs-
wissenschaftler und – das haben wir schon gehört – auch
um die Zukunft Deutschlands als Forschungsstandort.

Ich möchte auf vier Punkte Ihres Antrags eingehen,
nachdem wir vieles bereits angesprochen haben:

Erstens. Das heikle und große Thema Befristungen.
Ich will einmal sagen: Befristete Arbeitsverträge in der
Wissenschaft sind für mich nicht per se Teufelszeug,
sondern bringen eine Dynamik in das Wissenschaftssys-
tem, die notwendig ist. Da hat Frau Ministerin Wanka
recht.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Wechsel von Personal und Veränderungen sind nö-
tig, um Innovationen und einen kontinuierlichen Aus-
tausch von Ideen sicherzustellen. Diese Dynamik sollten
wir nicht mehr als nötig beschneiden.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Menschen können trotzdem wechseln; das steht ihnen frei! Da muss man sie nicht schlecht beschäftigen!)


Ein Zweites kommt hinzu; auch das unterscheidet
sich sehr von Ihrem Ansatz. Ich sehe die Arbeitgeber im
Wissenschaftsbetrieb eher als verantwortliche Vorge-
setzte denn als moderne Sklaventreiber. Ich denke, dass
die Forderung im Antrag, feste Mindestvertragslaufzei-
ten per Gesetz zu definieren, in die falsche Richtung
geht. Frau Kollegin Dinges-Dierig hat gerade schon
viele Fälle dargestellt. Wir sollten uns nicht anmaßen,
für all die vielfältigen Wege, auf denen wissenschaftli-
che Qualifizierung verläuft, von Berlin aus arbeitsrecht-
liche Vorgaben zu machen. Es ist vielmehr die Aufgabe
jedes Arbeitgebers, optimale Arbeits- und Forschungs-
möglichkeiten zu schaffen und auf die Vielfalt von Kar-
rierewegen und Lebenssituationen flexibel zu reagieren.

Aber natürlich – ich bin ja nicht blauäugig – stimmt
es: Diese Verantwortung nehmen nicht alle Vorgesetzten
gleichermaßen wahr. Es stimmt: Die Befristung der Ver-
träge von wissenschaftlichem Personal sollte nicht zu oft
hintereinander und zu kleinteilig über kurze Zeiträume
erfolgen.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber bei 90 Prozent kann man nicht von Verantwortlichkeit reden! Wie kommen denn die 90 Prozent zustande?)


In der Union setzen wir auf ein anderes Konzept statt auf
Regelungswahn. Wir setzen auf positive Anreize und auf
die Verantwortung der Vorgesetzten.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das hat doch nicht geklappt!)


Das kann man unterstützen und fördern, zum Beispiel
durch ein Audit oder ein Siegel und durch positive An-
reize. Solch ein Audit sollte festhalten, welche Auswahl-
prozesse und welche Aufstiegsmöglichkeiten gelten und
welche Anforderungen es an Dauerstellen gibt. Es sollte
auch transparente Pläne für eine Gesamtpersonalent-
wicklung einfordern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Konzept kann man auch durch Anreize unterstüt-
zen, zum Beispiel durch die Milliarde Euro – sie wurde
schon genannt – für die Etablierung neuer Karrierewege,
für ein großes Tenure-Track-Programm, aber auch für
Karrierewege unterhalb der Professur, für unbefristete
Stellen im Mittelbau. Aber dafür muss auch von der
Länderseite Verantwortung übernommen werden.

Damit bin ich beim zweiten Punkt Ihres Antrages.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Beim zweiten erst? Oje!)






Dr. Claudia Lücking-Michel


(A) (C)



(D)(B)

Die Fraktion Die Linke will wieder einmal das System
der Wissenschaftsfinanzierung grundlegend ändern und
fordert schon wieder eine verstetigte Finanzierung durch
den Bund. Wir haben es heute Nachmittag schon einmal
gehört, und wir haben es gerade gehört – aber anschei-
nend muss man es immer wieder betonen, damit es auch
bei den Letzten ankommt –: Der Bund hat mit der
BAföG-Entlastung dauerhaft rund 1,2 Milliarden Euro
pro Jahr zur Verfügung gestellt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und offengehalten, was die Länder damit finanzieren sollen!)


Das ist Geld, mit dem die Länder Stellen schaffen kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ging darum, die Grundfinanzierung der Hochschulen
wirklich zu verbessern. Die Möglichkeiten dazu haben
sie jetzt. Ab 2016 kommt hinzu, dass der Bund auch den
Haushaltsaufwuchs der außeruniversitären Forschungs-
einrichtungen komplett übernehmen wird – noch mehr
Geld, mit dem die Länder dann neue finanzielle Spiel-
räume haben, um die Hochschulen zu finanzieren.

Drittens. Ein ganz wichtiger Punkt kommt auch in Ih-
rem Antrag vor: Frauen sind in wissenschaftlichen Füh-
rungspositionen unterrepräsentiert. Ja, das darf nicht so
bleiben. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die
einer ausgewogenen Besetzung der Stellen mit Frauen
und Männern zuträglich sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Weg dahin liegt aber aus meiner Sicht nicht in ei-
ner festen Quote von 50 Prozent weiblicher Neubeset-
zungen all dieser Stellen, wie Sie es in Ihrem Antrag
vorschlagen haben.


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Das Prinzip ist richtig!)


Ich frage Sie, wie Sie sich das vorstellen: Was ist die Be-
zugsgröße für diese Quote?


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es geht ja um eine Zielgröße!)


Gilt sie hochschulweit oder nach Fachbereichen? Dabei
haben wir längst eine, wie ich finde, sehr sinnvolle Me-
thode und Vorgabe für die Verbesserung des Verhältnis-
ses von Männern und Frauen, und zwar sowohl in den
Forschungseinrichtungen als auch an den Universitäten.
Ich meine das Kaskadenmodell. Das ist etwas anderes
als eine feste Quote. Es trägt nämlich den Gegebenheiten
in den jeweiligen Institutionen bzw. den Fachkulturen
Rechnung. Es setzt das Prinzip der Bestenauslese gerade
nicht außer Kraft und nutzt die Potenziale aus, die die je-
weils vorherige Karrierestufe bietet.

Ich bin mit den Veränderungen, die das Kaskadenmo-
dell bisher gebracht hat, nicht zufrieden.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da stimmen wir Ihnen zu!)

An vielen Stellen ist es zu langsam,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben Sie recht!)


wenn es darum geht, mehr Frauen in Führungspositionen
zu etablieren.


(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])


Das heißt, wir sind nicht davon entbunden, die Ursachen
noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was die Ursachen angeht, sind mehrere zu nennen,
zum Beispiel nach wie vor das Thema „Vereinbarkeit
von Familie und Beruf“. Dafür braucht es bessere Lö-
sungen; da stimme ich Ihnen zu. Familienfreundliche
Arbeitsbedingungen sind die Voraussetzung dafür, dass
junge Eltern gleiche Chancen auf Karriere haben. Das
würde Frauen entschieden helfen, aber auch jungen Vä-
tern, den Männern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wer aber meint, damit sei die Frauenfrage schon an-
gemessen adressiert, dem muss ich sagen: Wir müssen
darüber hinaus weiterhin die Berufungspolitik in den
einzelnen Einrichtungen in den Blick nehmen und
schauen, wie sie im Hinblick auf Frauen betrieben wird:
Welche Verfahrensstandards werden vorgegeben? Men-
toringprogramme sind hilfreich. Es geht darum, die
Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen insgesamt zu er-
höhen und die Leistung zu verbessern.

Ich will einen vierten und letzten Punkt nennen, der in
Ihrem Antrag vorkommt. Seit es die Exzellenzinitiative
gibt, fordert die Linke deren Abschaffung. Damit zeigen
Sie, dass Sie aus Erfahrung offensichtlich nicht klug
werden wollen. Die Exzellenzinitiative hat wissenschaft-
liche Leistung aus Deutschland international verstärkt
sichtbar gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie hat es ermöglicht, Spitzenkräfte aus aller Welt nach
Deutschland zu holen. Sie finden hier attraktive For-
schungs- und Arbeitsbedingungen. Die internationale
Seite kommt in Ihrem Antrag mit keinem Wort vor. Das
ist eine sträfliche Vernachlässigung;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn Wissenschaft hört nicht an Ländergrenzen auf. Nur
durch die Honorierung exzellenter Forschungsleistungen
auf internationalem Niveau halten wir beim großen
Wettbewerb um beste Talente und innovative Ideen
wirklich mit.

Zum Schluss lege ich Ihnen Konrad Adenauer ans
Herz – nicht nur, weil ich aus seinem Wahlkreis kom-
me –: Niemand hindert Sie daran, über Nacht klüger zu
werden. Machen Sie was draus!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316200

Der Kollege Martin Rabanus hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Martin Rabanus (SPD):
Rede ID: ID1810316300

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich glaube, die Debatte hat deutlich gemacht, dass wir
anhand dieses Antrags ein grundsätzlich wichtiges und
richtiges Thema diskutieren. Der Antrag geht allerdings
in die völlig falsche Richtung; auch das ist an der einen
oder anderen Stelle der Debatte schon deutlich gewor-
den. Ich will das an wenigen Punkten noch einmal poin-
tieren:

Da liest man auf Seite 2 des Antrags unter anderem,
der Hochschulpakt 2020 und die Exzellenzinitiative
seien wesentliche Ursachen der prekären Situation im
Wissenschaftsbereich. Das muss man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen,


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: So steht es nicht drin!)


auch im Lichte der Diskussion, die wir heute Mittag ge-
führt haben, und auch im Lichte der Tatsache, dass es
ohne den Hochschulpakt und ohne die Exzellenzinitia-
tive überhaupt nicht möglich gewesen wäre, die Heraus-
forderungen, vor denen wir in den letzten Jahren im Wis-
senschaftssystem und an den Hochschulen standen, zu
meistern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist ein Einstieg, den dieser mit der heißen Nadel
genähte, ein Sammelsurium beinhaltende Antrag liefert,
mit dem Ziel, sozusagen ein bisschen Anschluss an die
Diskussion zu finden, die in der SPD, die in der Koali-
tion insgesamt zu diesem Thema längst läuft.


(Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Womöglich hat das etwas mit der Opposition zu tun! – Gegenruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es war eine Oppositionsrede, die du gehalten hast!)


Ich kann auch gut verstehen, dass die Antragsteller die
Bedeutung der Exzellenzinitiative und vor allen Dingen
des Hochschulpakts für das Hochschulsystem nicht an
erster Stelle sehen; denn sie sind die einzige Fraktion,
die nicht in Regierungsverantwortung daran beteiligt
war.

Ich kann auch verstehen, dass die Antragsteller nicht
besonders laut über das Thema „Entlastung der Länder“,
auch über die BAföG-Millionen bzw. -Milliarden spre-
chen wollen. Aber Fakt ist, dass die Große Koalition wie
seit Jahren nicht die Länder entlastet, damit sie ihre Auf-
gaben – auch in der Finanzierung des Hochschul- und
Wissenschaftssystems – besser erfüllen können.

Der Antrag zeigt aber auch eines sehr klar – darauf
haben Frau Kollegin Dinges-Dierig und andere schon
hingewiesen –: Sie haben ein grundsätzlich anderes Ver-
ständnis, wie das Wissenschaftssystem organisiert wer-
den soll, als es die SPD, als es die Koalition insgesamt
hat; ich glaube, auch da kann man die zweite Opposi-
tionspartei einbeziehen.

Sie wollen Förderung von Exzellenz abschaffen. Gut.
Sie wollen themenspezifische Forschungsförderung ab-
schaffen. Okay.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen denn Sie?)


Sie wollen auch den Pakt für Forschung und Innovation
abschaffen. Auch okay. Danke, dass das in dieser Form
wieder einmal deutlich geworden ist; denn dann ist das
auch ganz klar. Ebenso klar kann ich sagen: Das wollen
wir eben nicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Dann müsst ihr einmal sagen, was ihr wollt!)


Wir wollen Spitzenleistungen und Exzellenz, die wir
übrigens vielerorts in unserem Hochschul- und Wissen-
schaftssystem haben, gezielt weiterentwickeln. Wir wol-
len themenspezifische Forschungsprogramme. Wir wol-
len damit auch Steuerungsfunktionen behalten und
Gestaltungsanspruch untermauern.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wir wollen Forschung und Innovation sichern, weil wir
uns als Wissensnation – nur als Wissensnation – im glo-
balen Wettbewerb behaupten können und dies am Ende
des Tages allen Menschen in Deutschland zugutekommt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich komme zurück: Es ist grundsätzlich ein richtiges
und wichtiges Anliegen, das dieser Antrag thematisiert.
Wie er es thematisiert, hilft nicht weiter. Wir werden hin-
gegen – wir haben das in sehr intensiven Gesprächen in
der Koalition begonnen – die Fehlentwicklungen, die
wir auch zu konstatieren haben, anpacken. Das ist be-
nannt worden: Wir wollen den Befristungsanteil reduzie-
ren. Wir wollen die Dauer von Befristungen verlängern,
die Vertragslaufzeiten den tatsächlichen Lebensbedin-
gungen anpassen. Wir wollen dem wissenschaftlichen
Nachwuchs eine Perspektive geben und haben den Pakt
für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf Koalitions-
ebene beschlossen.

Der herzlichen Einladung des Antrages, dass auch die
Länder ihre eigenen Finanzierungssysteme überprüfen
– es geht um den Grundfinanzierungsanteil und die
sogenannten erfolgsabhängigen Faktoren, die dort nie-
dergelegt sind –, schließen wir uns sehr gerne an. Ich
persönlich könnte viel über diesbezügliche Fehlentwick-
lungen in meinem Heimatland Hessen und nur relativ
wenig über dortige Aktivitäten, dem gegenzusteuern, er-
zählen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum Schluss: Die Koalition ist und bleibt
am Thema dran, und sie wird an den richtigen Stell-
schrauben drehen. In dem Antrag steht allerdings vieles,





Martin Rabanus


(A) (C)



(D)(B)

was nicht in die richtige Richtung führt. Er erweist dem
Wissenschaftssystem insgesamt einen Bärendienst.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4804 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit
einem einzigen Gesellschafter
KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen zügig durchzuführen, damit ich die Ausspra-
che eröffnen kann.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1810316500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir die
grenzüberschreitende Tätigkeit gerade von kleinen und
mittleren Unternehmen erleichtern und es für Unterneh-
men vereinfachen, Niederlassungen in anderen EU-Mit-
gliedstaaten ohne hohen Kosten- und Verwaltungsauf-
wand zu betreiben, dann sichern wir damit auch Jobs in
Deutschland.

Ein Problem dabei ist, dass es in Europa keine euro-
paweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haf-
tung gibt, eine GmbH, die in allen Staaten bekannt und
vor allem auch akzeptiert ist. Das führt dazu, dass Unter-
nehmen, die in einem anderen Land eine Niederlassung
gegründet haben, erhebliche Schwierigkeiten haben, in
diesem anderen EU-Staat etwa ein Konto zu eröffnen
oder ein Grundstück zu kaufen, weil die Gesellschafts-
form in diesem Land eben nicht bekannt und auch nicht
anerkannt ist. Deshalb brauchen wir eine europaweit an-
erkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eine
Europa-GmbH.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir sehen beim Kommissionvorschlag zur SUP aber
erhebliche Nachteile und Risiken, und zwar so große
Nachteile, dass wir als Koalition hier im Bundestag ei-
nen entsprechenden Entschließungsantrag verabschieden
wollen, in dem wir ganz klar Position beziehen, dass der
jetzige Vorschlag erhebliche Mängel enthält.

Nach dem jetzigen Richtlinienvorschlag der Kommis-
sion könnten 28 verschiedene Gesellschaftsformen ei-
ner GmbH in der Europäischen Union entstehen. Das
würde die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit na-
türlich ganz erheblich erschweren. Darüber hinaus sieht
der Vorschlag nur vor, dass es sich bei diesen GmbHs
um Einpersonengesellschaften handelt, und keinesfalls
wollen wir – das war ein ganz zentraler Kritikpunkt –,
dass Onlinegründungen ohne Identitätsnachweis mög-
lich sind. Das wäre ein Einfallstor für Steuerhinterzie-
hung, für Geldwäsche und wahrscheinlich auch für Ter-
rorismusfinanzierung.


(Beifall der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD])


Deshalb sind wir froh und danken wir Minister Maas
und allen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
an dieser Stelle ausdrücklich, dass hier erste Verhand-
lungserfolge erzielt und Verbesserungen erreicht werden
konnten. Der aktuelle Stand der Verhandlungen ist der,
dass die Onlinegründung zwar möglich ist, aber durch
die Videokonferenz ein erheblicher Sicherheitsstandard
eingeführt wurde. Das heißt, über eine Webcam ist der
Anmelder mit dem deutschen Notar verbunden. Dadurch
ist eine Identifizierung möglich. Ich glaube, das ist eine
ganz wichtige Maßnahme, durch die Transparenz ge-
schaffen und der notwendige Identitätsnachweis erbracht
wird. Ein ganz herzliches Dankeschön für den Verhand-
lungserfolg des Ministeriums.


(Beifall bei der SPD)


Hauptkritikpunkt ist und bleibt die Möglichkeit, die
deutschen Bestimmungsregeln zu umgehen. Die Mitbe-
stimmung ist gerade für uns Sozialdemokraten einer der
zentralen Pfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Wir
wollen auf jeden Fall verhindern, dass durch die Europa-
GmbH Umgehungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Genau diese Gefahr besteht, wenn Verwaltungssitz und
Satzungssitz getrennt werden können, wie es leider der
Vorschlag der Kommission vorsieht.

Eine Europa-GmbH zu schaffen, ist absolut sinnvoll
und würde gerade bei uns in Deutschland Jobs sichern.
Wir dürfen allerdings nicht die bewährten Grundsätze
der Mitbestimmung in Deutschland aufs Spiel setzen
und Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Deshalb ist es
wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlage
klare Position zugunsten der Mitbestimmung bezieht.
Wir fordern die Bundesregierung ausdrücklich auf, den
Richtlinienvorschlag dann abzulehnen, wenn es in den
anstehenden Verhandlungen nicht gelingen sollte, ein





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)

Verbot der Sitzaufspaltung zu erreichen. Mit einer so ge-
stalteten Richtlinie eröffnen wir den Unternehmen neue
Chancen in Europa. Wir sichern Jobs bei uns, und das al-
les ohne die Mitbestimmung zu gefährden. Es handelt
sich also um eine sehr gute Vorlage, der man auch als
Opposition zustimmen kann.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316600

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Richard

Pitterle das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Sehr geehrte Zuhörer auf der Tribüne! Wo-
rüber sprechen wir heute? Es geht um eine Stellung-
nahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel
23 Absatz 3 Grundgesetz. Das klingt sehr mächtig, ist es
aber nicht. Das, was wir heute behandeln, ist aus meiner
Sicht der Höhepunkt eines parlamentarischen Trauer-
spiels. Aber von Beginn an.

Vor vielen Jahren hat die Europäische Kommission
angekündigt, kleine und mittlere Unternehmen zu för-
dern. Während es bei den großen Konzernen auf euro-
päischer Ebene sehr schnell möglich war, die Europäi-
sche Aktiengesellschaft als Rechtsform zur Verfügung
zu stellen, gab es lange Diskussionen darüber, was dem
Mittelstand zur Verfügung gestellt werden soll. Es wäre
notwendig gewesen, dem Mittelstand etwas Ähnliches
wie eine europäische GmbH zur Verfügung zu stellen.
Sinnvoll wäre auch die Vereinheitlichung des GmbH-
Rechts gewesen, damit es vergleichbare Strukturen bei
Gründung, bei den Kosten der Gründung und beim Min-
destkapital gibt; denn Bedarf an solchen Rechtsformen
gibt es bei den mittelständischen Unternehmen, die in
den Nachbarländern in die Nähe der Märkte kommen
und beispielsweise als deutsche GmbH Angebote ma-
chen wollen. Ich habe als Rechtsanwalt mitgeholfen,
Tochtergesellschaften von mindestens 20 tschechischen
Unternehmen in der Bundesrepublik zu gründen. Ich
weiß deswegen ganz genau, worum es dabei geht.

Natürlich ist das, was auf europäischer Ebene heraus-
kommt, das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Auf
der einen Seite will man möglichst geringe Bürokratie-
kosten verursachen. Auf der anderen Seite gilt es, bei ei-
ner Gesellschaft mit beschränkter Haftung Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Aber auch die
Vertragspartner einer solchen Gesellschaft, die Gläubi-
ger, müssen geschützt werden.

Was kam dabei heraus? 2014 hat die EU-Kommission
dem Bundestag den Vorschlag für eine Einpersonenge-
sellschaft ohne Haftung zugeleitet. Was uns da vorgelegt
wurde, lief darauf hinaus, die Gründung von Briefkas-
tenfirmen europaweit so einfach wie möglich zu ma-
chen: Onlineregistrierung vom heimischen Wohnzimmer
aus ohne Notar, ohne Mindestkapital, nach einem Mus-
tervertrag, mit Sitz in einem Land freier Wahl und dann
noch die Möglichkeit, den satzungsmäßigen Sitz der Ge-
sellschaft vom Sitz der Verwaltung zu trennen.

Da schrillten bei den Interessenverbänden die Glo-
cken. Der DGB schrieb alle Abgeordneten an, weil er
befürchtete, dass das Konstrukt genutzt wird, um die
Mitbestimmung zu umgehen. Selbst der BDI meldete
sich mit Bedenken zu Wort. Befürchtet wurde, dass ohne
eindeutige Identifizierung des Inhabers einer solchen
Gesellschaft der Geldwäsche, der Betrugskriminalität
und der Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet wer-
den.

Meine Fraktion und ich haben 2014 die Bedenken der
Verbände ernst genommen, und wir haben das getan,
wozu DGB und BDI geraten haben, nämlich das parla-
mentarische Mittel zu nutzen, das für diese Verfahren
vorgesehen ist, um auf europäischer Ebene gehört zu
werden: die Rüge der Subsidiarität. Also haben wir im
Juni, kurz vor Fristablauf, im Parlament beantragt, das
Parlament möge diese Rüge erheben. Dies wurde aber
bei der Abstimmung im Hohen Haus abgelehnt: von der
CDU/CSU, von den Grünen und von der SPD.

Nachdem der Prozess auf europäischer Ebene fast ab-
geschlossen ist, kommen Sie mit der heutigen Stellung-
nahme, in der nichts Falsches steht, die aber völlig sinn-
los ist.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Danke für das Lob!)


Das, was Sie uns zumuten, ist eine unverbindliche
Bitte des Parlaments an die Bundesregierung, sich doch
auf Europaebene noch einmal gegen die von mir skiz-
zierten Gefahren einzusetzen. Der Antrag kommt jetzt
auch noch von den Fraktionen, die die Regierung stellen.
Ich frage Sie: Trauen Sie Ihrer eigenen Regierung nicht
über den Weg, oder soll hier nur kaschiert werden, dass
Sie sich durch Ihr aktives Nichtstun die Suppe einge-
brockt haben, die jetzt andere auszulöffeln haben?

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810316800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege

Dr. Stephan Harbarth das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1810316900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir be-
fassen uns heute im Hohen Haus wieder einmal mit dem
Thema Europa-GmbH. Wir haben in Europa folgende
Situation: Wir haben eine supranationale Rechtsform für
die großen Gesellschaften, die Europäische Aktienge-
sellschaft. Aber wir haben kein Pendant für die kleineren
Kapitalgesellschaften. Die Notwendigkeit dazu haben
wir gleichwohl.

GmbHs oder ähnliche Rechtsformen in anderen Län-
dern sind gerade die typischen Rechtsformen, auf die





Dr. Stephan Harbarth


(A) (C)



(D)(B)

mittelständische Unternehmen im europäischen Binnen-
markt zurückgreifen. Es ist für sie ein großes Problem,
wenn sie in 28 Mitgliedstaaten 28 verschiedene Rechts-
formen mit 28 verschiedenen Rechtsvorschriften, mit 28
verschiedenen Rechtsregimen und all ihren Fallstricken
haben. Deshalb liegt es gerade im Interesse Deutsch-
lands, dass wir beim Projekt der Europa-GmbH voran-
schreiten. Warum? Es liegt deshalb in unserem Interesse,
weil wir ein besonders exportorientiertes Land sind, weil
wir ein Land mit einer mittelständisch geprägten Wirt-
schaftsstruktur sind und weil wir deshalb in ganz beson-
derer Weise auf die entsprechende Rechtsform angewie-
sen sind.

Wir sind deshalb auch froh, dass die Europäische
Kommission über Jahre hinweg konsequent eine Strate-
gie zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen
verfolgt hat. Wir haben deshalb auch in der Koalitions-
vereinbarung wieder ein Bekenntnis für die Europa-
GmbH niedergelegt.

Der Vortrag des Kollegen der Linksfraktion, man
hätte eine Subsidiaritätsrüge erheben sollen und sie hät-
ten noch nicht erkannt, worin der Sinn der Stellung-
nahme bestehe, geht an der Wirklichkeit vorbei. Es ist
doch völlig klar, dass die Europäische Union befugt ist,
wenn es 28 verschiedene Rechtsordnungen im Bereich
des Wirtschaftsverkehrs gibt, das im Bereich des Gesell-
schaftsrechts genauso zu vereinheitlichen, zu harmoni-
sieren, wie sie es beispielsweise im Bereich der Europäi-
schen Aktiengesellschaft und an anderer Stelle getan hat.
Herr Kollege Pitterle, wenn Sie den Sinn der Stellung-
nahme nicht verstanden haben, dann kann ich es Ihnen
gerne erklären. Uns geht es darum, dass wir im Deut-
schen Bundestag ein kraftvolles Signal aussenden gegen
die SUP und zugleich ein kraftvolles Signal aussenden
für die SPE.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind überzeugt, dass das Modell der SPE, der Eu-
ropäischen Privatgesellschaft, schon deshalb dem Vor-
schlag der Kommission für eine SUP überlegen ist, weil
die SUP auf Einpersonengesellschaften fokussiert ist.
Sie gilt nur für diejenigen Unternehmen, die zu 100 Pro-
zent an einer Gesellschaft beteiligt sind. Wir brauchen
eine flexible Rechtsform, die der Vielgestaltigkeit des
Wirtschaftslebens Rechnung trägt. Wir brauchen auch
eine Rechtsform auf europäischer Ebene, die zum Bei-
spiel für Joint Ventures, für grenzüberschreitende Ge-
meinschaftsunternehmen, eingesetzt werden kann. Dazu
eignet sich die SUP nicht, die SPE hingegen schon.

Die SUP hat darüber hinaus eine ganze Reihe von
handwerklichen Schwächen. Das gilt insbesondere im
Bereich der Onlinegründung, wenngleich die Kommis-
sion in den letzten Wochen signalisiert hat, dass sie mög-
licherweise etwas stärker auf den Pfad der Vernunft zu-
rückkehren wird, als sie es zunächst einmal hat erkennen
lassen.

Darüber hinaus gibt es große Schwächen im Bereich
des Mitbestimmungsrechts; das ist in der Debatte bereits
angeklungen. Wir wollen nicht, dass mitbestimmungs-
freie Rechtsformen geschaffen werden. Wir wollen, dass
vernünftige Mitbestimmungsregeln Anwendung finden.
Das haben wir in unserem Vorschlag entsprechend nie-
dergelegt. Wir schließen die Sitzaufspaltung aus. Wir ha-
ben damit in etwa die gleiche Situation wie bei der Euro-
päischen Aktiengesellschaft, bei der das ausgeschlossen
ist. Darüber hinaus haben wir geregelt – das ist ein be-
sonderes Entgegenkommen an die Gewerkschaften –,
dass die Mitbestimmung, anders als das im nationalen
Recht aus guten Gründen der Fall ist, bereits ab 250 Ar-
beitnehmern greifen könnte.

Wir meinen, dass Deutschland – als Rechtspolitiker
der Unionsfraktion sage ich das sehr selbstkritisch –, ob-
wohl es in besonderer Weise auf diese Rechtsform ange-
wiesen ist, in den vergangenen Jahren viel zu lange auf
dem Bremspedal stand. Nun senden wir aus Deutschland
endlich ein kraftvolles Signal nach Europa: Wir wollen
die Europäische Privatgesellschaft. Wir sind auch bereit,
vernünftige Kompromisse auf europäischer Ebene zu
schließen. Die SUP ist ein solcher vernünftiger Kompro-
miss allerdings nicht. Deshalb bedarf es einer Ableh-
nung. Herr Kollege Pitterle, damit auch Sie das mitbe-
kommen: Das ist der Sinn der heutigen Vorlage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte allen, die sich daran beteiligt haben, sehr
herzlich danken. Ich danke den Rechtspolitikern meiner
eigenen Fraktion, unserer Sprecherin, Elisabeth
Winkelmeier-Becker, insbesondere aber auch dem Kol-
legen Hirte. Ich danke den Kollegen aus den anderen be-
troffenen AGs.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kann man seine Redezeit auch füllen!)


Ich danke den Kollegen aus der sozialdemokratischen
Fraktion und dem Ministerium. Ich möchte mich auch
bei den Grünen dafür bedanken, dass sie im Rechtsaus-
schuss zugestimmt haben, obwohl es in den vergangenen
Tagen leider, weil wir einen ganz intensiven, schwieri-
gen und komplexen Abstimmungsprozess hatten, nicht
möglich war, sie ins Antragsrubrum aufzunehmen. Ich
möchte mich dafür bedanken, dass sie trotzdem im
Rechtsausschuss zugestimmt haben. Ich glaube, es ist
ein gutes Signal, wenn wir in diesem Parlament einen
breiten Konsens haben. So können wir in Europa mit
lauter Stimme sprechen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810317000

Kollege Harbarth, ich will niemanden um seinen

Dank bringen, bitte aber, in Zukunft auch Dankesworte
in der regulären Redezeit unterzubringen.

Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810317100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Vorredner haben umfangreiche Kritik





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

an dem EU-Vorschlag für eine Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter
vorgebracht. Dieser Kritik kann ich mich weitgehend an-
schließen.

Auch wir Grünen begrüßen zunächst einmal das An-
sinnen, die Rahmenbedingungen für eine grenzüber-
schreitende Geschäftstätigkeit kleiner und mittlerer Un-
ternehmen zu verbessern. Für sie ist es nach wie vor
teuer und aufwendig, grenzüberschreitend tätig zu sein
oder eben eine Tochtergesellschaft im EU-Ausland zu
gründen. Da hier also durchaus ein Bedürfnis nach euro-
päischer Harmonisierung besteht, kann ich nachvollzie-
hen, dass die Bundesregierung keine Subsidiaritätsrüge
erhoben hat. Trotzdem sollten Sie den Vorschlag in die-
ser Form ablehnen.

Die Einpersonengesellschaft kann lediglich online ge-
gründet werden. Das macht die Identifizierung der Per-
son schwierig und kann dazu führen, dass nichtexistente
Personen oder Strohleute registriert werden. Im letzten
Moment ist jetzt wenigstens die Frist so verlängert wor-
den, dass die Einbindung deutscher Notare – wir haben
es gerade gehört – mittels Webcam möglich ist. Notare
sind immerhin auch ein Mittel der Geldwäschepräven-
tion, und die Bekämpfung von Geldwäsche und Terroris-
musfinanzierung sollte uns in Europa wichtig genug
sein.

Die Bundesregierung meint, mit dem jetzt gefunde-
nen Kompromiss leben zu können. Ich kann ehrlich ge-
sagt nicht nachvollziehen, warum es einem Unternehmer
so wichtig sein soll, in einem anderen EU-Land eine Ge-
sellschaft zu gründen, ohne auch nur ein einziges Mal
dort persönlich anwesend zu sein. Wenn es so wichtig
ist, dort ein Tochterunternehmen zu gründen, dann ist
das doch Anlass genug, wenigstens einmal vor Ort ge-
wesen zu sein, selbst wenn das Geschäftsmodell nur di-
gitale Präsenz erfordert. Sicherlich gibt es viel zu viele
Reisen zu irgendwelchen Meetings weltweit, die man
durchaus reduzieren kann. Die Gründung eines Unter-
nehmens als Reisegrund empfinde ich persönlich aber
nicht wirklich als übertriebene Bürokratie.

Ich komme zum nächsten Kritikpunkt. Das Mindest-
stammkapital der SUP – spricht man es englisch aus,
denkt man schon wieder an irgendwelche Fahrzeuge; das
Ganze heißt aber auf Latein „Societas Unius Personae“;
man spricht in Europa also wieder Latein – beträgt nur
1 Euro. Anders als bei einer GmbH nach deutschem
Recht gibt es bei der SUP auch keine Pflicht, finanzielle
Rücklagen zu bilden. Gleichwohl ist die Haftung auf das
Gesellschaftervermögen begrenzt. Das ist eine Schief-
lage, und man fragt sich, wo da Gläubigerschutz und
Verbraucherschutz bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Kompromissvorschlag des Rates vom 7. April sieht
jetzt die Möglichkeit vor, dass eine weiter gehende Re-
gelung zum Stammkapital durch nationale Gesetze ge-
schaffen werden kann. Das ist zwar ein Fortschritt, aber
dennoch wäre es wohl notwendig, dieses Erfordernis eu-
ropaweit vorzusehen.
Der härteste Kritikpunkt allerdings ist, dass die SUPs
ihren Satzungssitz nicht am selben Ort haben müssen
wie ihren Verwaltungssitz. Eine GmbH, die nach deut-
schem Recht mitbestimmungspflichtig wäre, erhält so
die Möglichkeit, sich durch die Umwandlung ihres Un-
ternehmens in eine SUP den in Deutschland geltenden
Mitbestimmungsregeln zu entziehen. Eine solche Aus-
höhlung der Mitbestimmung ginge zulasten der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Das dürfen wir nicht
zulassen. Und ich bin beruhigt, dass die Koalition das
auch so sieht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Da können Sie auch klatschen! Auch wir finden, dass
die Bundesregierung den jetzt vorliegenden Entwurf ab-
lehnen sollte, und werden daher ihrer entsprechenden
Stellungnahme zustimmen.

Trotzdem noch ein Wort zum parlamentarischen Ver-
fahren. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Habarth.
Jeden Freitagmorgen sitzen wir gemeinsam in unserem
Unterausschuss Europarecht und beraten in aller Sach-
lichkeit europäische Vorhaben. Oft genug sind wir uns
dort bei der Bewertung der Sache über Kritikpunkte ei-
nig und haben auch in der Vergangenheit gemeinsame
interfraktionelle Stellungnahmen gegenüber der Bundes-
regierung verfasst und beschlossen. Dass Sie von der
Union die Linken bei Anträgen immer wieder ausschlie-
ßen, ist ja schon peinlich genug. Diesmal aber haben Sie
die Opposition insgesamt – angeblich aus Zeitdruck –
nicht einmal ansatzweise mit eingebunden. Dafür habe
ich kein Verständnis. Sie hätten uns zu Beginn dieser
Woche noch kurzfristig fragen können, ob wir dabei sein
wollen. Sie hätten uns auch vorher in Ihre Überlegungen
einbinden können.

Hier mag es vielleicht niemanden interessieren, aber
international dürfte eine Stellungnahme des Gesamtpar-
lamentes doch wohl mehr Eindruck machen als die einer
Regierungskoalition, auch wenn sie 80 Prozent aus-
macht. Also nächstes Mal, bitte!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Stimmen Sie zu!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810317200

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege

Dr. Volker Ullrich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1810317300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die EU-
Wachstumsstrategie „Europa 2020“ sieht auch die För-
derung von kleinen und mittelständischen Unternehmen
vor. In diesem Geiste ist auch die Richtlinie der Europäi-
schen Union zur Einpersonengesellschaft zu sehen.





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

Die Mehrheit dieses Hohen Hauses sagt klar und
deutlich: Diese Richtlinie wird den Zielen der Förderung
von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht
gerecht. Deswegen lehnen wir sie in dieser Form ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen uns fragen, ob es tatsächlich dem Rechts-
und dem Geschäftsverkehr dienlich ist, wenn Unterneh-
men ohne Notartermin und ohne Haftungskapital auf ei-
nem simplen Onlineweg gegründet werden können. Ich
denke, Europa braucht keine Rechtsform, die anfällig für
Missbrauch – Geldwäsche, Steuerhinterziehung und
möglicherweise auch Terrorismusfinanzierung – ist, son-
dern eine Rechtsform, die sich letztendlich auf Rechts-
sicherheit und Rechtsklarheit stützt. Deswegen wäre die
bessere Alternative keine SUP, die der Idee der ur-
sprünglich britischen Limited nachempfunden ist, son-
dern eine Europäische Privatrechtsgesellschaft, deren
Haftungssystem dem der deutschen GmbH entspricht.

Wenn Sie sich in den Innenstädten Deutschlands be-
wegen und ein Unwohlsein empfinden, wenn Sie einen
1-Euro-Shop sehen, dann müssen Sie auch im Rechts-
verkehr Unbehagen empfinden, wenn Sie Gesellschaften
gegenüberstehen, die lediglich 1 Euro Haftungskapital
haben. Das bringt doch weder den Geschäftsverkehr
noch die Unternehmen voran.

Wir müssen uns auch fragen lassen, ob die Europäi-
sche Kommission bei der Wahl des Rechtskreises und
der Rechtstradition, in der gesellschaftsrechtliche Ver-
änderungen vorgenommen werden, den richtigen Weg
einschlägt. Sicherlich sollten Rechtsinstitute, die auf
europäischer Ebene entstehen sollen und die von der Eu-
ropäischen Union geschaffen werden, nicht auf den
Rechtsgrundsätzen eines einzigen Landes begründet
werden; das ist gar keine Frage. Auch Rechtsgrundsätze
aus Kontinentaleuropa, aus Deutschland sind nicht im-
mer der Weisheit letzter Schluss. Aber ich glaube, bei
der Konstruktion von Gesellschaftsformen kommt es auf
Vertrauen und auf Rechtssicherheit an. Vertrauen und
Rechtssicherheit schaffen Sie mit Haftungskapital, ei-
nem Notartermin und letzten Endes auch durch die Pu-
blizität des Handelsregisters. Davon sollten wir nicht ab-
weichen.

Die Europäische Union hat die sogenannte Europäi-
sche Aktiengesellschaft geschaffen. Diese ist der deut-
schen Aktiengesellschaft nachempfunden: mit Hauptver-
sammlungen, mit Haftungskapital, mit Vorstand und
Aufsichtsrat, und sie hat sich bewährt. Gerade weil sich
die Europäische Aktiengesellschaft bewährt hat, sollte
man auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Ge-
sellschaftsform wählen, die ein solches Haftungsdach
hat und Vertrauen weckt.

Deswegen ist es richtig, dass der Bundestag sich mit
dieser Resolution dafür ausspricht, die SUP als nicht ge-
eignet einzustufen, und gleichzeitig einen Lösungsweg
aufzeigt, nämlich eine europäische Privatrechtsgesell-
schaft, die die Lücke hinter der Aktiengesellschaft
schließt, die damit zur Rechtseinheit in Europa beiträgt
und für unsere Unternehmen, die exportieren und euro-
paweit tätig sein wollen, einen geeigneten Rahmen
schafft. Deswegen plädiere ich für die Annahme dieser
Entschließung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810317400

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Waltraud

Wolff das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1810317500

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Zunächst ein Dankeschön an die Rechtspolitiker meiner
Fraktion dafür, dass ich als Sozialpolitikerin zu diesem
Thema reden darf. Die Mitbestimmung ist ja in weiten
Teilen damit befasst.

Nach deutschem Recht ist es so, dass Unternehmen
mit mehr als 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat bilden
müssen; darin müssen ein Drittel Arbeitnehmervertreter
sein. Damit stellen wir in Deutschland Mitbestimmung
sicher. Bei Betrieben mit über 2 000 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern muss der Aufsichtsrat pari-pari besetzt
sein, also zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern.

Aber immer mehr Unternehmen entziehen sich dieser
Verpflichtung, indem sie ausländische Rechtsformen nut-
zen. Inzwischen sind in Deutschland circa 200 000 Be-
schäftigte davon betroffen. Absolut gesehen mag das ein
kleiner Teil sein; aber die Zahl wird immer größer. Sie
könnte auch noch deutlich ansteigen, nämlich wenn die
Einpersonengesellschaften so kommen, wie in der EU-
Richtlinie vorgeschlagen.

Wir sind gegen Scheinfirmen, wir sind gegen Brief-
kastenfirmen, aber wollen auf europäischer Ebene einer
solchen Richtlinie zustimmen? Ich glaube, die heutige
Debatte hat gezeigt: Wir alle wollen das nicht.

Die Kommission will diesen Gesellschaften unbe-
schränkt die Möglichkeit geben, Satzungs- und Verwal-
tungssitz auf verschiedene Mitgliedstaaten aufzuspal-
ten. Also: Ich nehme 1 Euro Einlage, melde im Internet
meine Firma an und wähle meinen Sitz in einem Mit-
gliedstaat, dessen Wirtschafts- und Sozialsystem die ge-
ringsten Anforderungen stellt, Mitbestimmung inbegrif-
fen. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb stärken wir der Bundesregierung den Rücken.
Als Parlament sagen wir, dass diese Richtlinie nur zu-
stimmungswürdig ist, wenn in weiteren Verhandlungen
das Verbot der Sitzaufspaltung erreicht wird. Das ist
auch in diesem Haus Konsens.

Ich erwarte noch etwas mehr von der Bundesregie-
rung. Ich erwarte, dass sie in den Verhandlungen auch
andere Länder davon überzeugt, zu dieser Richtlinie
Nein zu sagen; denn jetzt ist es noch möglich, nach al-





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

tem Recht abzustimmen und eine sogenannte Sperrmi-
norität zu erreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine
mitbestimmungsfreien Zonen für Unternehmen mit aus-
ländischer Rechtsform. Ich sage das so deutlich, weil
Mitbestimmung in unserem Land ein sehr hohes Gut ist.
Das wollen wir nicht preisgeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810317600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vor-
schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter
Haftung mit einem einzigen Gesellschafter; hier: Stel-
lungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Arti-
kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4843, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz schaffen – Tierhaltungskenn-
zeichnung für Fleisch einführen

Drucksache 18/4812
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810317700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Tierschutz bewegt die Menschen in unserem Land. Über
95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wünschen sich
mehr Tierschutz, wünschen sich, dass Tiere artgerecht
gehalten werden. Über 80 Prozent wünschen sich, dass
die Politik dafür klare und verbindliche Regelungen
schafft, und das ist gut so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vieles von dem, was in unseren Ställen und in den
Schlachthöfen passiert, können wir ethisch nicht mehr
vertreten: Hühnchen, die am Ende ihres kurzen Lebens
nicht mehr aufrecht stehen können; Schweine, die auf
Vollspaltenböden gehalten werden und die die Sonne nur
einmal kurz auf dem Weg zum Schlachthof sehen, oder
Qualzuchten wie die berüchtigten Big-6-Puten, von de-
nen kaum ein ausgewachsenes Tier noch normal stehen
kann.


(Zuruf des Abg. Dieter Stier [CDU/CSU])


Dafür gibt es keine gesellschaftlichen Mehrheiten in die-
sem Land, und das ist gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


An dieser Stelle sind nicht die Verbraucherinnen und
Verbraucher gefragt, sondern an dieser Stelle sind wir
gefragt, da ist der Minister gefragt, klare Kante gegen
Tierquälerei zu zeigen.

Wir haben erst kürzlich den Bericht des Wissenschaft-
lichen Beirats für Agrarpolitik vorgelegt bekommen. Da
haben Ihnen die Gutachter auf 400 Seiten einiges aufge-
schrieben. Ein Zitat gleich am Anfang möchte ich Ihnen
nicht vorenthalten: Die derzeitigen Haltungsbedingun-
gen eines Großteils der Nutztiere sind nicht zukunftsfä-
hig. – Das ist für uns in der Politik ein Handlungsauf-
trag. Aber wir wissen, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher uns hier unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen und
können ihren Teil zu mehr Tierschutz beitragen. Sie wol-
len Bauern unterstützen, die mehr tun. Sie wollen Händ-
ler unterstützen, die mehr tun. Sie würden auch mehr
Platz, mehr Beschäftigte und eine artgerechtere Haltung
für Kühe, Schweine und Hühner finanziell honorieren.

Verbraucherinnen und Verbraucher sind aber von der
Vielzahl an Labeln, Siegeln und Werbeversprechungen
verwirrt. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. Des-
halb sagen wir: Wir brauchen eine klare gesetzliche
Kennzeichnung zum Thema Tierwohl.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag eine Haltungs-
kennzeichnung für Fleisch mit vier einfachen Stufen – 0,
1, 2 und 3 – vor, die klar darüber Auskunft gibt, wie das
Tier gehalten wurde, von dem das Fleisch stammt.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verstehen die Verbraucherinnen und Verbraucher! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bei den Eiern!)


Die Erfolgsgeschichte der Eierkennzeichnung sollten
wir an diesem Punkt wiederholen. Bei den Frischeiern
kann doch jeder entscheiden, ob er Eier aus Bodenhal-





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)

tung, Freilandhaltung oder biologischer Haltung kaufen
will. Bei den Eiern haben wir doch klar gesehen: Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben die Käfigeier
in den Regalen liegen lassen. Die wollten keine Tierquä-
lerei. Die haben sich mit dem Einkaufskorb für mehr
Tierschutz entschieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir möchten das ausweiten. Mit der Fleischkenn-
zeichnung ist es den Verbraucherinnen und Verbrauchern
möglich, dem Schnitzel oder Steak aus industrieller
Massentierhaltung die Rote Karte zu zeigen. Das gefällt
vielen in der Union vielleicht nicht,


(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ihnen gefällt das auch nicht!)


aber das ist das, was wir wollen: die Verbraucherinnen
und Verbraucher ermächtigen, an der Ladentheke mit
dem Einkaufskorb Politik für Tierschutz zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind mit unserer Idee nicht alleine. Die Bundes-
länder arbeiten seit Monaten an einem Modell. Da sind
auch CDU-mitregierte Länder dabei. Da sind alle der
hier vertretenen parteipolitischen Farben dabei. Wir
wünschen uns aber, dass der Bundeslandwirtschaftsmi-
nister Rückenwind für diese Idee gibt. Der muss sich
jetzt nämlich mal entscheiden, ob er Tierschützer sein
will oder der Schutzpatron der industriellen Massentier-
haltung. Alles gleichzeitig geht nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Der ist schon Tierschützer! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)


– Ja, er muss mal Farbe bekennen.


(Dieter Stier [CDU/CSU]: Man kann beides machen!)


Wir sagen: Tierschutz ist eine Frage der Haltung. Hal-
tung kann man nicht nur auf Broschüren zeigen, sondern
die muss man jetzt auch mal beweisen. Hier ist Christian
Schmidt gefragt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dieter Stier [CDU/CSU]: Nicht Entwederoder!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810317800

Der Kollege Alois Rainer hat für die CDU/CSU-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Rainer (CSU):
Rede ID: ID1810317900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir reden heute über den Antrag „Transpa-
renz schaffen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch
einführen“.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Antrag!)

Das hört sich im Grunde genommen gar nicht so
schlecht an.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wenn man aber genauer nachschaut, stellt man fest:


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hilft dem bayerischen Metzger!)


Das ist wieder ein Antrag, der vom Antragsteller ideolo-
gisch geprägt ist. Das zeigen Ihre Begründungen. Ich
komme zu einer völlig anderen Interpretation. Sie zitie-
ren Studien, nennen Zahlen und sprechen dann von Irre-
führung des Verbrauchers.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Studie des Wissenschaftlichen Beirats!)


Wenn Sie schon zitieren – ich komme hier gern auf die
von Ihnen genannte Umfrage von TNS Infratest zurück –,
dann nennen Sie bitte die gesamte Wahrheit und verges-
sen Sie nicht, zu erwähnen, dass gerade die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher, die Sie in Ihrem Antrag anspre-
chen, in der Umfrage bekannt gaben, dass sich ihr
Vertrauen in tierische Lebensmittel deutlich verbessert
hat,


(Beifall bei der CDU/CSU)


und das komplett ohne ein neues, zusätzliches Label.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir machen die Landwirtschaft bzw. die Ernährungs-
wirtschaft nicht interessanter, wenn wir ein zusätzliches
Label einführen. Wir haben derzeit bereits über 150 Sie-
gel, Label oder Gütesiegel in Deutschland. Ich denke
nicht, dass ein weiteres Siegel zur jetzigen Zeit das ge-
eignete Mittel ist, um den Verbraucher aktiv am Tier-
wohl zu beteiligen. Vielmehr sollten wir die Ergebnisse
der von Bundesminister Schmidt initiierten Tierwohl-
Offensive abwarten und dann sehr gern konstruktiv da-
rüber diskutieren.


(Ute Vogt [SPD]: Immer alles abwarten!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin
nicht gegen Innovationen oder Veränderungen, aber ich
habe etwas gegen voreilige Entscheidungen und Ent-
schlüsse. Vor allem bin ich gegen Panikmache und ge-
gen Schwarzmalerei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn das sorgt meistens nur für Verunsicherung und
Misstrauen. Wenn wir die gesellschaftliche Akzeptanz
für die Nutztierhaltung in Deutschland nachhaltig verän-
dern wollen, dann müssen wir – das ist okay – über Tier-
wohl reden. Neben den ethischen dürfen wir aber auch
die wirtschaftlichen Aspekte nicht vergessen. Deshalb
brauchen wir eine praxistaugliche, ökonomische, aber
auch tragfähige Lösung. Wir brauchen eine gute Balance
zwischen Ökonomie und Ökologie und keine weitere
Einschränkung, die den Bürokratie- und Kontrollwahn
nur weiter verstärkt.





Alois Rainer


(C)



(D)(B)

Die Verbraucher müssen über die landwirtschaftliche
Nutztierhaltung wahrheitsgemäß aufgeklärt werden. Die
ständigen Verunsicherungen und Verleumdungen brin-
gen hier gar nichts; denn es ist schlichtweg falsch, zu sa-
gen, dass Tiere in größeren Haltungen grundsätzlich we-
niger Platz haben als in kleinen. Es ist auch falsch, dass
es den Tieren in größeren Haltungen generell weniger
gut geht. Es ist ebenso falsch, Betriebe mit größeren
Tierzahlen als Massentierhaltung abzustempeln, zumal
der Begriff der Massentierhaltung weder definiert noch
zielführend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Wohlbefinden von Nutztieren hängt in der Regel
nicht davon ab, ob jemand 100 oder 1 000 Tiere hält, es
hängt meines Erachtens davon ab, wie ein Betrieb ge-
führt wird und wie es jedem einzelnen Tier geht. Es
hängt auch davon ab, wie die Tiere beobachtet und ver-
sorgt werden. Das müssen die Verbraucher erfahren. Ei-
nes noch dazu: So nachhaltig wie wir – und auch Sie –
mit unserem Kapital umgehen, so nachhaltig und für-
sorglich – das können Sie mir glauben – geht ein Land-
wirt mit seinem Kapital um, und das sind bei einem
viehhaltenden Landwirt nun einmal die Nutztiere.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Noch eines sollten wir ehrlich sagen: Höhere Ansprü-
che an Erzeugungsbedingungen verursachen höhere
Kosten. Wenn die Bereitschaft der Verbraucher, für mehr
Qualität auch mehr Geld auszugeben, nicht vorhanden
ist, bleiben die Erzeuger auf den Mehrkosten sitzen. Das
ist mit uns so nicht möglich.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zu
Ihrer geforderten Agrarwende sagen. Ja, die Landwirt-
schaft befindet sich in einem ständigen Wandel. Diesen
Wandel müssen und sollen wir auch aktiv begleiten,
ohne dabei die Produktionen durch noch größere büro-
kratische Hindernisse und eine übertriebene Regulie-
rungs- und Kontrollwut einzuschränken. Ihre Ideen und
Ihre Vorschläge sind meines Erachtens immer noch reine
Polemik und dienen nur der Verunsicherung der Men-
schen in unserem Land.

Hören Sie deshalb endlich auf mit diesen ständigen
Vorwürfen, hören Sie endlich auf mit dieser Schwarz-
Weiß-Malerei! Das ist nicht gut, das ist keine vernünf-
tige Politik, das ist Politik von gestern, und die brauchen
wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318000

Die Kollegin Karin Binder hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Verbrau-
cherschutz und Tierwohl sind nicht nur eine Frage der
Haltung. Ein Teil des Problems liegt auch in der Fleisch-
industrie und im Lebensmitteleinzelhandel, die beide
den Landwirten immer weniger Geld für Erzeugnisse
wie Fleisch, Milch oder Eier zugestehen. Rohprodukte
werden zu Dumpingpreisen weltweit eingekauft, und da-
bei werden viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
systematisch ausgebeutet.

Dabei entscheidet gerade die Haltungsform von Tie-
ren wesentlich über die Qualität des Fleischs oder der
tierischen Produkte, die auf unseren Teller kommen.
Massentierhaltung, Antibiotika, Pestizide, Gensoja oder
Nitrat im Trinkwasser – da könnte einem schon einmal
der Appetit vergehen. Immer mehr Verbraucherinnen
und Verbraucher haben das satt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sehen nicht nur auf den Preis, sondern auch darauf,
unter welchen Bedingungen Fleisch, Milch und Eier er-
zeugt werden, also unter welchen Bedingungen die Tiere
ihr Leben leben.

Dazu gehört nicht nur, dass der Werbetext und die
Bilder mit dem Inhalt des Produktes übereinstimmen
müssen. Darum ist das Verbraucherschutzportal www.
lebensmittelklarheit.de unverzichtbar, um Tricks und
Täuschungen bei Lebensmitteln zu unterbinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerade bei Fleisch gilt: Nur wer Informationen zur
Herkunft und zur Tierhaltung lückenlos offenlegt, nimmt
Verbraucherschutz wirklich ernst. Doch schon bei der
Frage nach der Herkunft des Fleisches legen sich Her-
steller und Bundesregierung quer: Die Frage nach dem
Ursprungsland soll den Verbraucher bei Fleischsalat, La-
sagne oder Döner nichts angehen. Angeblich seien die
Kosten für eine solche Verbraucherinformation zu hoch.

Ich sage: Wer seine Lieferkette kennt, muss weder
Kosten noch Verbraucher, noch Pferde- oder Gammel-
fleisch fürchten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das EU-Parlament fordert deshalb zu Recht eine ver-
pflichtende Herkunftskennzeichnung für verarbeitetes
Fleisch. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen ist
dieser Schritt das Mindeste, um das Vertrauen der Ver-
braucherinnen und Verbraucher wiederherzustellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine vollständige Rückverfolgbarkeit bei der Fleischpro-
duktion trägt maßgeblich dazu bei, Lebensmittelskan-
dale zu verhindern oder zumindest aufzudecken. 90 Pro-
zent der Verbraucherinnen und Verbraucher halten eine
Ursprungsangabe für notwendig, damit sie selbstbe-
stimmte Kaufentscheidungen treffen können.

Der Vorschlag der Grünen zur Kennzeichnung der
Tierhaltungsform ist im Grundsatz zu begrüßen, aller-
dings bleiben noch viele Fragen offen:

Wie können die Haltungsformen für Rinder,
Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten im
Einzelnen unterschieden werden? Wir brauchen Defini-
tionen.

(A)






Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

Wie sollen bestehende Tierschutzlabel wie „Neu-
land“, „Biopark“, „Demeter“, das Tierschutzlabel des
Deutschen Tierschutzbundes oder auch die Tierwohl-Ini-
tiative des Ministers eingeordnet werden?

Warum soll nur Frischfleisch gekennzeichnet werden,
während bei der Ursprungskennzeichnung und bei Eiern
eine Ausweitung auf verarbeitete Produkte gefordert
wird?

Sollten nicht auch Milch bzw. Milchprodukte einbe-
zogen werden, bei denen die Verbraucher ebenfalls mehr
Tierschutz fordern? Ich denke, die Milchviehhaltung ist
sicherlich auch eines unserer Themen.

Es reicht uns nicht, darauf zu hoffen, dass eine Bund-
Länder-Kommission irgendwann einmal passende Er-
gebnisse liefert. Ich glaube, wir sind auch hier gefordert,
möglichst rasch für Veränderungen zu sorgen. Auch
müssen wir klären, wie sich die Verbraucherinnen und
Verbraucher im wachsenden Schilderwald der Lebens-
mittelkennzeichnungen zurechtfinden sollen. Mehr Klar-
heit ist wünschenswert und notwendig, damit Tierwohl
und Verbraucherschutz zu ihrem Recht kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318200

Das Wort hat die Kollegin Christina Jantz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Jantz (SPD):
Rede ID: ID1810318300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es ist rich-
tig: Wir müssen wirklich transparent machen, wie
Fleisch erzeugt wird, wie die Nutztiere tatsächlich gehal-
ten werden. Da stammen Abbildungen auf den Wurst-
oder Fleischverpackungen doch eher aus einer Traum-
welt als aus dem wirklichen Leben eines Schweins oder
eines Mastrindes. Teilweise sind sie gar absurd; man
denke nur an das Schwein aus der Werbung mit der
Grillzange in der Hand und der Schürze um den Bauch!


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dem Ringelschwänzchen!)


Hier wünsche ich mir deutlich mehr Ehrlichkeit von der
Fleischindustrie.

Aus diesem Grund begrüße ich den Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD])


Er greift ein wichtiges Thema auf: die Tierhaltungskenn-
zeichnung. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns
bereits mehrfach für eine transparente, klare und ver-
bindliche Kennzeichnung ausgesprochen, die zum einen
natürlich dem Tierschutz bzw. der artgerechten Haltung
Rechnung trägt und zum anderen die Landwirte bei ihren
Bemühungen um mehr Tierschutz im Stall auch adäquat
unterstützt.

Leider leistet die Branchenlösung, initiiert vom Bau-
ernverband und vom Einzelhandel, dies genau nicht.
Hier vermisse ich die Verlässlichkeit für die Landwirte
und die Klarheit für die Konsumenten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Landwirte müssen beispielsweise mit mehreren
Zehntausend Euro in Vorleistung gehen und ihre Ställe
umbauen. Vor Ort, in persönlichen Gesprächen in den
Landkreisen – bei mir zu Hause in Osterholz und Verden –
erzählen sie mir natürlich von ihren Sorgen, ihren Exis-
tenzängsten, von der Ungewissheit. Sie wissen nicht, ob
die Investitionen, die sie tätigen, tatsächlich gedeckt
werden, ob ihr Engagement aus dem Fonds gefördert
wird. Leider sieht die Realität zurzeit nicht gut aus.

Natürlich kann man sich funktionärsseitig freuen,
dass die Nachfrage so groß ist. Doch was hilft es, wenn
den Anträgen nicht Rechnung getragen werden kann?


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Nach aktuellen Berichterstattungen wird nicht einmal
die Hälfte der Antragsteller berücksichtigt. Hier werden
wertvolles Vertrauen, so finde ich, und Engagement ver-
spielt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Zudem kann der Kunde an der Fleischtheke nicht erken-
nen, ob er nun Fleisch von Tieren aus artgerechter Hal-
tung kauft oder nicht.


(Zustimmung der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD])


Aber genau dies fordert er, meine Damen und Herren.

Das Beispiel der erfolgreichen Kennzeichnung von
Eiern zeigt, dass eine klare, verbindliche Kennzeichnung
funktioniert. Sie entfaltet die gewünschte Wirkung, und
der Handel kann seiner Verantwortung tatsächlich ge-
recht werden. Leider ist diese Kennzeichnung nicht ver-
bindlich bei Lebensmitteln und Produkten, die Eier als
Zutat enthalten. Ich finde, hier haben wir absolut noch
Nachbesserungsbedarf.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, in seinem Gutachten
„Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztier-
haltung“ präsentiert der Wissenschaftliche Beirat für
Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung
und Landwirtschaft seine Ergebnisse, und sie sprechen
eine klare Sprache. Die Gesellschaft, die Bevölkerung
erwartet umfassende Verbesserungen der Haltungsbedin-
gungen, mehr Transparenz bei der Lebensmittelkenn-
zeichnung und die Einführung eines staatlichen Labels.
Ich bin davon überzeugt, dass nur eine verbindliche, un-
abhängige Kennzeichnung dazu führen kann, dass das





Christina Jantz


(A) (C)



(D)(B)

Vertrauen in Labels gestärkt wird und dass die Landwirte
wirtschaftlichen Erfolg und artgerechte Tierhaltung mit-
einander verbinden können.


(Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zurzeit sind die Erzeugerpreise leider so niedrig, dass
den Landwirten oftmals die Hände gebunden sind; sie
müssen die Tiere teilweise unter unsäglichen Bedingun-
gen halten. Es bestehen keine Spielräume für eine tierge-
rechtere Haltung. Eine differenzierte Kennzeichnung
kann hier nur positive Effekte haben. Durch Label kön-
nen Tierschutzmaßnahmen konkret entlohnt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als Sozialdemokratin ist mir zudem wichtig, dass wir
das Thema differenziert betrachten, dass wir Tierschutz
nicht ohne Landwirte und nicht ohne Konsumenten den-
ken; denn nur dann, wenn wir die Interessen zusammen-
führen, kommen wir zu tragfähigen Lösungen und hin zu
mehr Tierschutz. Genau diese Betrachtung allerdings
vermisse ich in Ihrem Antrag; insbesondere vermisse ich
den sozialen Aspekt. Zwar sehe auch ich die erfreuliche
Bereitschaft in der Bevölkerung, für gute Lebensmittel
mehr zu zahlen; jedoch muss eine Balance in der Preis-
gestaltung gefunden werden. Tierschutz und der Kauf
von Fleischprodukten von Tieren aus artgerechter Hal-
tung dürfen kein Luxusgut sein.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will auch keiner!)


Gutes Essen aus artgerechter Tierhaltung darf nicht nur
den Besserverdienenden vorbehalten sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag auch nicht drin!)


Wir brauchen ein System, das diese Aspekte berücksich-
tigt und den Standard insgesamt anhebt.

Das Nutztiergutachten skizziert einen Weg, den wir
aufgreifen und entwickeln müssen. Zudem sollten wir
auf die Erfahrungen des Deutschen Tierschutzbundes
mit seinem Label zurückgreifen. Ich erwarte die Unter-
stützung aus dem Landwirtschaftsministerium – ich
freue mich darauf –, wenn wir uns als Parlament, als
Fachpolitiker nun auf den Weg machen, das Nutztiergut-
achten konkret aufgreifen und versuchen, in die Umset-
zung zu gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die SPD wird auch weiter-
hin daran arbeiten, ein verbindliches Label zur klaren,
transparenten Kennzeichnung von artgerecht produzier-
tem Fleisch zu entwickeln. Von ihm müssen die Land-
wirte und selbstverständlich auch die Tiere profitieren,
und durch moderate Preise muss es den Rückhalt bei den
Verbraucherinnen und Verbrauchern genießen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Johannes Röring das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1810318500

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

legen! Die Grünen stellen seit September 2014 zum vier-
ten Mal den Antrag, eine Kennzeichnung für Fleisch ein-
zuführen. Damit wird es nicht besser. In der Praxis
erkennt man, dass vieles so nicht möglich ist.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum nicht? – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie besser machen!)


Aber, liebe Kollegen, Sie geben mir dadurch die Gele-
genheit, über das Tierwohl zu sprechen. Schon deswe-
gen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie diesen Antrag einge-
bracht haben.

Ich kann berichten, mit welch großer Empathie sich
die Landwirte täglich um ihre Tiere kümmern, bei der
Pflege und Betreuung. Ich bin Herrn Minister Schmidt
dankbar. Er ist heute nicht hier, aber Frau Staatssekretä-
rin Flachsbarth wird es ihm berichten. Minister Schmidt
hat in vorbildlicher Weise Prozesse angestoßen, die weg-
weisend sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn? – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist an uns vorbeigegangen!)


Ich kann Ihnen berichten, dass die Wirtschaft diese An-
stöße aufgenommen und ein neues System entwickelt
hat, bei dem eine enorme Zahl von Landwirten – das ist
keine Nische – an einer Verbesserung des jetzt schon ho-
hen Niveaus der Tierhaltung in Deutschland mitwirken
kann.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo war denn der Minister dabei? Der war doch gar nicht dabei!)


Der grüne Ansatz, Labels einzuführen – Sie fordern
die Einführung eines weiteren Labels –, ist seit 30 Jahren
bekannt; aber er ist immer gescheitert. Verbraucher sind
verunsichert. Deswegen bin ich dafür, dass wir nicht in
gute und schlechte Bauern aufteilen, sondern das Niveau
insgesamt anheben.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Frage der Haltung!)


Dann kommt es auch nicht mehr zu einer Stigmatisie-
rung.





Johannes Röring


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann Ihnen berichten, meine Damen und Herren:
Am 28. April ist die Frist für die Anmeldung zur ersten
Phase der Tierwohl-Initiative ausgelaufen, und es wur-
den sage und schreibe 25 Millionen Tiere angemeldet.
Zum Vergleich: Das Tierschutzlabel des Deutschen
Tierschutzbundes umfasst 10 000 Tiere. Die Landwirte
haben 25 Millionen Tiere angemeldet, obwohl nur ein
kleiner Anreiz gesetzt wird. Das ist wegweisend. Es geht
nicht nur um Geld,


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, es geht um Geld!)


sondern die Bauern haben wirklich verstanden, dass hier
etwas zu tun ist; sie gehen mit wirklich großem Engage-
ment voran.

Die Tierwohl-Initiative ist auch von Kollegin Jantz
angesprochen worden. Ich möchte an alle Kollegen hier
im Deutschen Bundestag den Aufruf richten, politisch
mitzuhelfen und dafür zu sorgen, dass wir keinen Land-
wirt in Deutschland, der mitmachen will, vor der Tür ste-
hen lassen; alle sollen die Möglichkeit zum Mitmachen
bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD])


Ich glaube, das Engagement einer solch großen Zahl von
Landwirten ist wichtig. Das ist weltweit einzigartig; das
hat es noch nie gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Landwirte machen mit und verweigern sich nicht.
Wir können viel über Labels, über das Bewusstsein der
Verbraucher und darüber, was sie zu zahlen bereit sind,
sprechen. Aber hier haben wir die Chance, gemeinsam
auf den deutschen Lebensmittelhandel zuzugehen, ihn
erstens dafür zu loben, dass er mitmacht, und ihm
zweitens zu sagen: Da geht noch mehr. – Es könnten alle
Vertreter des deutschen Handels mitmachen; es sind
noch nicht alle dabei. Ich glaube, die Initiative ist ein gu-
ter Ansatz, um sich bei diesem wichtigen Thema nicht
zu entzweien, sondern mitzumachen.

Ich komme auf den Antrag der Grünen zurück. Darin
wird wieder von Labels gesprochen. Ich bin dafür, dass
wir das Thema auf breiter Ebene nach vorne bringen.
Die Initiative ist ein erster Ansatz.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318600

Kollege Röring, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung?


Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1810318700

Eine Frage? Ja, gerne.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810318800

Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.


(Max Straubinger [CDU/CSU], an den Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Durftest du nicht reden?)

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich habe nicht das Problem, dass ich nicht reden darf.
Wir haben allerdings leider etwas weniger Redezeit, als
wir gerne hätten. – Kollege Röring, ich habe zwei Fra-
gen. Es führte ein wenig zu Verwirrung, dass Sie die
Tierwohl-Initiative mit Minister Schmidt verbanden.
Uns ist nicht bekannt, dass Minister Schmidt Teil der
Tierwohl-Initiative gewesen ist. Können Sie uns darüber
aufklären, wo er aktiv eingewirkt hat und wann er das
getan hat?

Zweite Frage: Wäre es dann jetzt nicht an der Zeit,
dass Minister Schmidt die Akteure des Lebensmittelein-
zelhandels an einen Tisch holt und gemeinsam mit uns
Agrarpolitikern versucht, hier etwas Schwung in die
Zahlungsbereitschaft des Handels zu bringen? Wäre das
nicht ein hohes Ziel, Herr Kollege Röring?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] – Max Straubinger [CDU/CSU]: Es geht um die Zahlungsbereitschaft des Verbrauchers und nicht um die des Handels!)



Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1810318900

Ich darf feststellen, Herr Kollege Ostendorff: Sie

schalten sehr schnell. Ich habe gerade einen Aufruf ge-
startet, und Sie haben ihn, was die Frage angeht, ob wir
da gemeinsam die Initiative ergreifen können, jetzt
schon umgesetzt. Ich glaube, das sollten wir machen.

Ja, Minister Schmidt hat im Laufe des Prozesses deut-
lich dazu beigetragen, dass dieses Projekt, das in der Tat
seit über drei Jahren vorbereitet wird und ein wirkliches
Novum, einen Paradigmenwechsel darstellt – der Handel
spricht endlich mit den Bauern –, jetzt im Endspurt an-
gekommen ist. Seit knapp einem Jahr hat der Minister
immer wieder erheblich dazu beigetragen, dass dieses
Projekt am Ende gelingen konnte. Ich sage es mit großer
Freude: Wir sind begeistert, dass so viele Landwirte bei
der Tierwohl-Initiative mitmachen wollen. Noch einmal
der Aufruf an Sie alle: Lasst uns das gemeinsam anpa-
cken, damit alle Bauern mitmachen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss. Ich bin der Meinung: Tier-
wohl ist nicht teilbar. Es muss für alle Tiere auf allen
Bauernhöfen gelten. Wir müssen mit der Stigmatisierung
aufhören. Wir haben die große Chance, die Tierhaltung
in Deutschland merklich nach vorne zu bringen. Die
Landwirte bekommen diesen Mehraufwand zum ersten
Mal auch honoriert. Ich kann Sie alle nur noch einmal
aufrufen, mitzumachen. Der Antrag der Grünen sieht an-
deres vor. Deswegen lehnen wir ihn ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das war jetzt überflüssig!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810319000

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4812 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an der durch die Vereinten Nationen
geführten Mission UNMIL in Liberia auf
Grundlage der Resolution 1509 (2003) und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu-
letzt Resolution 2190 (2014) vom 15. Dezem-
ber 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom
2. April 2015

Drucksache 18/4768
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich gehe da-
von aus, dass die lauten Debatten, die im Moment noch
stattfinden, keinen Widerspruch zu dieser Vereinbarung
bedeuten, und bitte, die notwendigen Umgruppierungen
zügig vorzunehmen und die notwendige Aufmerksam-
keit für die folgende Debatte herzustellen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Gabi Weber für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabi Weber (SPD):
Rede ID: ID1810319100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen

und Kolleginnen! Zunächst eine Feststellung: Ich habe
sieben Minuten, um in der Debatte zur Einbringung des
Mandats – es wird noch eine abschließende Debatte ge-
ben – über ein Mandat zu sprechen, das maximal fünf
Soldatinnen und Soldaten umfassen wird.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Unsere Rolle und die
Rolle des Parlamentes insgesamt sind beim Einsatz be-
waffneter deutscher Streitkräfte im Ausland entschei-
dend, auch wenn es bloß um den Beschluss geht, einen
stellvertretenden Befehlshaber inklusive persönlichem
Mitarbeiterstab zu entsenden. Allerdings sieht das Parla-
mentsbeteiligungsgesetz für Fälle wie diesen andere
Möglichkeiten vor, nämlich das vereinfachte Zustim-
mungsverfahren. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, und trotzdem wollten Sie un-
bedingt über diesen Einsatz debattieren.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Als Unterstützerin unserer Parlamentsarmee bin ich
ausdrücklich für eine umfassende Beteiligung des Deut-
schen Bundestages beim Einsatz der Bundeswehr.
Debatten wie diese relativieren aber aus meiner Sicht an-
dere, sehr viel größere Einsätze der Bundeswehr, was
Umfang und Auswirkung betrifft, zum Beispiel in Mali,
im Kosovo oder in Afghanistan. Andererseits gibt mir
das nun die Möglichkeit, verstärkt über nichtmilitärische
Maßnahmen zu sprechen, die Deutschland in Liberia
durchführt. Dafür dann doch vorab meinen herzlichen
Dank an die Damen und Herren der Linken.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gern geschehen!)


– Danke!

Seit Ende des Bürgerkrieges 2003 unterstützen die
Vereinten Nationen Liberia beim Wiederaufbau. UNMIL
hat den Auftrag, Zivilpersonen zu schützen, humanitäre
Hilfsleistungen zu erleichtern und die Regierung bei der
Reform der Justiz- und Sicherheitsinstitutionen zu unter-
stützen. Die Zahl der UNO-Soldaten und -Soldatinnen
reduzierte sich in den vergangenen Jahren von 15 000
auf nun 4 400, dazu 1 400 Polizistinnen und Polizisten.
Ein Wermutstropfen an dieser Stelle: Bisher beteiligte
sich Deutschland mit immerhin 5 Polizisten. Da würde
ich mir eine stärkere Beteiligung unsererseits wünschen.
Denn gerade Polizeiarbeit ist in Nachbürgerkriegslän-
dern ein unglaublich wichtiger Beitrag.


(Beifall bei der SPD)


Eines der größten Hemmnisse bei der Entwicklung
des Landes ist die zerstörte Infrastruktur.


(Unruhe – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Union ist so laut! Da kann man sich ja nicht konzentrieren!)


– Danke für die Unterstützung an dieser Stelle. –
Deutschland fördert besonders den Auf- und Ausbau von
Straßen und den Verkehrssektor insgesamt. Mit deut-
scher Technik und gefördert durch die KfW entsteht zur-
zeit ein Wasserkraftwerk, das Ende 2016 ans Netz gehen
soll und die Stromkosten für die Menschen in Liberia er-
heblich senken wird. Der nachhaltige und wirtschaftlich
günstige Betrieb wird in der Zukunft Mittel freisetzen,
die anderenorts für einen weiteren Ausbau der Infra-
struktur verwendet werden können. Hier machen wir
sozusagen eine Entwicklungsförderung durch die Hin-
tertür, die diesem Land tatsächlich helfen wird. Dies ist
eine gelungene Anschubfinanzierung zur Selbsthilfe.

Seit letztem Jahr richtet sich das Hauptaugenmerk der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf die Be-
kämpfung der Ebolaepidemie in Liberia und den angren-
zenden Staaten Westafrikas. Aufgrund dieser Epidemie
ging das Wirtschaftswachstum zurück. Die liberianische
Regierung rechnet mit Einnahmeausfällen in Höhe von
25 Prozent des Haushalts. Stellen Sie sich das einmal
hier bei uns in Deutschland vor. Ausländische Unterneh-
men zogen ihr Personal sowie Investitionen ab. 46 Pro-
zent der arbeitenden Menschen in Liberia verloren ihre
Arbeit, insbesondere in der Landwirtschaft. Sie wissen
genau wie ich, dass die Aussaat auch aufgrund des Per-
sonalmangels nicht rechtzeitig erfolgen konnte und in
diesem Jahr erhebliche Ernteausfälle erwartet werden.
Das heißt, zwölf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist





Gabi Weber


(A) (C)



(D)(B)

die Stabilität des Landes mehr durch die Folge der Epi-
demie als durch die Folgen des Bürgerkriegs gefährdet.
Das können wir so nicht zulassen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas zu vorsor-
gender Gesundheitspolitik und internationaler Verant-
wortung sagen. Liberias Gesundheitssystem ist wie das
der meisten Staaten der Region bereits ohne Ebola struk-
turell unterfinanziert. Anfang vergangenen Jahres, also
vor dem Ausbruch der Ebolaepidemie, verlangte der
IWF von Liberia eine striktere Sparpolitik. Laut einem
Bericht der Welt vom Dezember letzten Jahres führte
dies zwangsläufig zu einer Reduzierung der Gesund-
heitsausgaben. Ärzte konnten nicht mehr in ausreichen-
der Zahl eingestellt und Krankenhäuser nicht mehr mit
dem notwendigem Material ausgestattet werden. Das
Ergebnis auch davon war die Ausbreitung von Ebola in
dem jetzt bekannten Maß, die wir seither mit vereinten
Kräften zu bekämpfen versuchen. Der IWF musste für
seine strikten Anforderungen nachträglich erhebliche
Mittel aufwenden. Er stellte im September 130 Millio-
nen Dollar zur Verfügung. So kann man nicht zielfüh-
rend Entwicklungsarbeit machen, ein Land stabilisieren
und Aufbauarbeit leisten. An dieser Stelle müssen wir
wirklich überlegen, wie wir das zielführender und saube-
rer machen können.

Aufgrund der Bedingungen der Ebolaepidemie er-
folgte der nun beschlossene Truppenabbau von UNMIL
ein Jahr später als geplant. Trotzdem soll Liberia bis Juni
2016 die gesamte Sicherheitsverantwortung im Land
übernehmen. Mein Fazit: Notfalls steht das Militär im
Hintergrund und sorgt für Sicherheit und Stabilität.
Besser und günstiger wären aber eine vorausschauende
Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschaftspolitik sowie
faire europäische Handelspolitik, die an den richtigen
Stellen ansetzend erst gar keine Notwendigkeit für Mili-
täreinsätze aufkommen lassen.

Unserem Soldaten und seinem Stab wünsche ich viel
Erfolg und eine glückliche Hand. Diese Mission ist seit
vielen Jahren sehr erfolgreich und wird es hoffentlich
mit unserer Beteiligung bis zu ihrem Ende im nächsten
Jahr auch bleiben. Noch mehr hoffe ich allerdings, dass
eine gute und verantwortungsvolle Entwicklungszusam-
menarbeit für die Menschen vor Ort mehr erreichen kann
als jedes Militär und damit nachhaltig faire und stabile
Zustände schafft. Daher – das ist mir wichtig – ist es
dringend geboten – so viel zum Schluss –, dass Deutsch-
land seine ODA-Quote auf 0,7 Prozent erhöht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810319200

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang

Gehrcke für die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810319300

Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin ja froh,

dass ich zum Schluss Ihres Vortrags noch einen Punkt
gefunden habe, bei dem ich sagen kann: Ja, das sehe ich
ähnlich. – Auch ich will eine ODA-Quote von 0,7 Pro-
zent; das ist schon längst fällig. Dazu könnten Regierung
und Opposition ja einen gemeinsamen Antrag einbrin-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte nun aber ein paar Argumente vortragen
und Sie bitten, darüber nachzudenken. Die erste Frage
ist: Warum präsentiert uns die Bundesregierung, einige
Wochen bevor die Rühe-Kommission ihren Bericht, in
dessen Zentrum das vereinfachte Verfahren steht, vor-
legt, hier einen Antrag, der im vereinfachten Verfahren
beschlossen werden soll? Das vereinfachte Verfahren be-
deutet ja: Es gibt keine Debatte im Plenum, und wenn
keine Fraktion widerspricht, läuft das durch. Sie können
uns gerne vorwerfen, dass wir zu falschen Schlussfolge-
rungen kommen.


(Niels Annen [SPD]: Machen wir!)


Aber werfen Sie uns nicht vor, dass wir blöd sind.

Dass wir Ihnen jetzt das Argument an die Hand ge-
ben, einem vereinfachten Verfahren zugestimmt zu ha-
ben, bevor der Bericht der Rühe-Kommission debattiert
worden ist, kann doch keiner ernsthaft von einer Opposi-
tionspartei erwarten. Der Trick, im vereinfachten Ver-
fahren das Mandat beschließen zu lassen – das haben Sie
in der Begründung selbst geschrieben –, zielt auf den
Bericht der Kommission und darauf, dass sich das Parla-
ment festlegt. Mein Abwägungsprozess sieht so aus
– unabhängig davon, ob es nur um einen oder zwei Sol-
daten oder, wie in diesem Fall, um fünf Soldaten geht –:
Die Entsendung jedes Soldaten wird hier im Plenum er-
örtert und dann beschlossen oder abgelehnt. Das ist un-
ser demokratisches Prinzip.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit werden wir uns auseinandersetzen müssen, wenn
das Parlamentsbeteiligungsgesetz hier auf den Tisch
kommt. Man weiß ja mittlerweile, was da alles gelaufen
ist und abgesprochen wurde.

Wir haben ganz andere Belange, über die man ja auch
einmal reden kann: Warum gibt es keine Bereitschaft,
das Quorum im Plenum auf zwei Drittel zu erhöhen? Es
wäre doch viel besser, wenn das Parlament Auslandsein-
sätzen mit zwei Dritteln zustimmen müsste; denn dann
hätte jeder eine größere persönliche Verantwortung. Wir
wollen die Hürde anheben und sie nicht einreißen. Des-
wegen lautet mein erster Punkt: Das vereinfachte Ver-
fahren wird es in diesem Fall und in ähnlichen Fällen mit
uns nicht geben.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wieso mehr persönliche Verantwortung? Das ist doch völliger Blödsinn!)


– Ja; ich weiß, dass es für Sie immer Blödsinn ist, wenn
es schwieriger werden soll, Soldaten ins Ausland zu
schicken.





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Egon Jüttner [CDU/CSU]: Es ging um die Verantwortung!)


– Ja, natürlich. Es geht alles, wenn man es will.

Mein zweites Argument ist: Warum fängt die Bundes-
regierung nicht an, in einer gewissen Logik bis zum
Ende zu denken? Ich finde diesen Antrag ausgesprochen
schlampig.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Begründung dafür, dass man das vereinfachte Ver-
fahren anwenden möchte, beruht darauf, dass man sagt:
Es gibt geringe Gefährdung und geringen Personalein-
satz. – Gleichzeitig schreiben Sie aber, wie zerrüttet das
Land ist und dass dort 4 000 Soldaten im Einsatz sind,
die befohlen werden sollen; es geht hier ja um einen
hochrangigen Kommandeur. Beide Argumente stimmen
also nicht.


(Widerspruch der Abg. Gabi Weber [SPD])


Die Gefährdungssituation ist hoch – es gibt keine Stabi-
lität; sonst haut der Antrag nicht hin –, und der Umfang
wird ganz erheblich sein, da Sie hier einen hohen Kom-
mandeur stellen wollen. Das hätten wir auch vorher mit-
einander klären können. Es ist ja mit Ihnen abgespro-
chen worden, dass sich der Kollege bewirbt; darüber
hätte man ja einmal reden können. Das alles hat aber
nicht stattgefunden.

Es stimmt also weder die Aussage, dass es nur eine
geringe Gefährdung gibt, noch die, dass der Personalein-
satz unerheblich ist. Somit dürfte man aber nicht mit
dem vereinfachten Verfahren operieren. Entweder
stimmt also das eine oder das andere nicht. Deshalb
finde ich den ganzen Antrag außerordentlich schlampig.

Ich würde hier gerne auch eine Debatte darüber füh-
ren, warum solche Einsätze immer auf Grundlage von
Kapitel VII der UN-Charta und nicht unter der Über-
schrift „Blauhelmeinsatz“ durchgeführt werden. Ich
hätte gern die Debatte geführt, ob nicht ein Blauhelmein-
satz in dieser Situation angemessen gewesen wäre; denn
angeblich gibt es ja keine oder nur eine geringe Gefähr-
dung. Das wird aber nicht gemacht. Die Bundesregie-
rung zieht durch. Es gibt in diesen Fragen keinen Wider-
spruch. Für sie war Kapitel VII der UN-Charta die
Grundlage. Dann hat sie auch noch einen Trick ange-
wendet und gefordert, dass wir, bevor der Bericht der
Rühe-Kommission vorliegt, dem vereinfachten Verfah-
ren zustimmen sollen. Sie können aber nicht ernsthaft er-
warten, dass eine Oppositionspartei auf so etwas herein-
fällt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810319400

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Staatsse-

kretär Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1810319500


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In meiner schönen Heimatstadt Hattingen war in den
70er-/80er-Jahren die DKP zehn Jahre lang im Stadtrat.
Da waren wir Schwerpunktbezirk bei der Verteilung der
Parteizeitung.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na also! Seien Sie doch stolz drauf!)


– Ja, es war manchmal unterhaltsam, das zu lesen. Das
waren Berichte wie aus einer anderen Welt. Daran habe
ich mich erinnert gefühlt, als das Gründungsmitglied der
DKP Gehrcke hier Ausführungen gemacht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich finde, das Thema ist zu ernst, als dass man es in
dieser Weise behandeln sollte.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann müssen Sie auch ernsthaft sein!)


Die Ebolakrise ist uns allen ja noch in lebhafter Erinne-
rung. Ihre verheerenden Folgen stellen Westafrika und
speziell Liberia auch heute noch vor große Herausforde-
rungen. Es geht nicht mehr um einen Bürgerkrieg. Die
instabile Lage aufgrund des Bürgerkrieges ist auch dank
internationaler Hilfe überwunden. Aber die Ebolaepide-
mie ist laut Resolution 2177 des UN-Sicherheitsrates aus
dem letzten Jahr eine Epidemie, die zu einer Bedrohung
für den internationalen Frieden und die Sicherheit ge-
worden ist. Erstmals hat die Völkergemeinschaft festge-
stellt, dass eine Krankheit auch eine sicherheitspolitische
Dimension haben kann.

Mir ist es deswegen ein ganz besonderes Anliegen,
mich bei allen Freiwilligen für ihr Engagement und ihre
Bereitschaft, in dieser Ebolakrise für die betroffenen
Menschen mit ihrem persönlichen Beitrag und auch für
unser Land einzustehen, ganz herzlich zu bedanken. Die
Menschen verdienen unseren Dank und unseren Res-
pekt, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gerade vor diesem Hintergrund verdient Liberia auch
weiterhin unverändert unsere besondere Aufmerksam-
keit.

Das Land befindet sich nach Ende des Bürgerkriegs
2003 und nach über einem Jahrzehnt intensiver Wieder-
aufbau- und Stabilisierungsprozesse jetzt in einer wichti-
gen Übergangsphase. Die Sicherheitslage ist dank der
Friedensmission UNMIL der Vereinten Nationen in der
Tat seit Jahren relativ stabil.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Na also!)


Wichtige Erfolge wie die Durchführung demokrati-
scher Wahlen in den Jahren 2005, 2011 und 2014 sind
nicht zuletzt auch dank der unterstützenden Rolle dieser
VN-Mission überhaupt möglich geworden.

Das Hauptaugenmerk dieser Mission liegt derzeit auf
der Unterstützung des Reformprozesses der Justiz- und
Sicherheitsinstitutionen, aber auch auf dem Schutz von
Zivilpersonen. Die Unterstützung der humanitären Hilfe





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

und Förderung bzw. Schutz der Menschenrechte nehmen
ebenfalls eine zentrale Rolle ein.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat darüber
hinaus das Aufgabengebiet von UNMIL im letzten Jahr
auf logistische Unterstützung im Ebolaeinsatz in Liberia
erweitert. Rund 4 500 Soldatinnen und Soldaten sowie
circa 1 500 Polizistinnen und Polizisten leisten durch
zielorientierte Beratung und Unterstützung der liberiani-
schen Regierung einen wichtigen stabilisierenden Bei-
trag.

Im Rahmen seines eigenen Mandates arbeitet UNMIL
zudem mit der Mission der Vereinten Nationen in der El-
fenbeinküste bei der Stabilisierung auch des gemeinsa-
men Grenzgebietes zusammen, eine Kooperation, die für
moderne, multidimensionale VN-Missionen steht und
als Blaupause auch für zukünftige Einsätze dienen
könnte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sicherheitsrat
erwartet, dass die Regierung Liberias spätestens Ende
Juni nächsten Jahres die Sicherheitsverantwortung voll-
ständig von UNMIL übernehmen wird. Die Mission geht
jetzt also in ihre entscheidende Zielphase. Da ist es
schon eine Ehre für uns, dass unser Land am 2. Septem-
ber letzten Jahres vom Sekretariat der Vereinten Natio-
nen gebeten wurde, die Nominierung eines geeigneten
Kandidaten für den Posten des stellvertretenden militäri-
schen Befehlshabers der UNMIL zu prüfen. Der von der
Bundesregierung daraufhin nominierte Bewerber konnte
sich durchsetzen, wie uns die Vereinten Nationen am
15. April, also vor wenigen Wochen, offiziell mitgeteilt
haben. Es ist derzeit beabsichtigt, zu seiner Unterstüt-
zung zwei weitere Soldaten beizustellen. In der Tat:
Über diese drei Soldaten reden wir jetzt hier in dieser
Ausführlichkeit.

Lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben, dass
die Anfrage und die bewusste Entscheidung der Verein-
ten Nationen für den deutschen Bewerber allein bereits
eine Anerkennung unseres Engagements in VN-Frie-
densmissionen ist. Die geplante militärische Beteiligung
fügt sich ein in ein bereits bestehendes umfassendes En-
gagement der Bundesregierung zur Stabilisierung dieses
Landes. Von den Polizistinnen und Polizisten zum Auf-
bau liberianischer Sicherheitsstrukturen ist bereits die
Rede gewesen. Aber auch im Rahmen der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit unterstützen wir Liberia
bereits seit dem Ende des Bürgerkrieges, also seit mehr
als zehn Jahren. Flankiert wird dieses Engagement durch
Sondermaßnahmen und humanitäre Hilfspakete im Zuge
der Ebolaepidemie und zur Linderung der Folgen. So
war es erst durch internationale Unterstützung möglich,
die Ebolakrise einzudämmen und die langfristige Kon-
trolle der Epidemie einzuleiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum vereinfachten
Verfahren hat die Kollegin von der SPD bereits das Not-
wendige gesagt. Dies ist in der Tat ein klassischer Fall
dafür. Wir haben eine vergleichsweise stabile Situation,
aber durch die Ebolaepidemie eben eine neue Herausfor-
derung. Wir reden über drei Soldaten. Aber gut, das wer-
den wir aushalten, und die Argumente können wir gerne
austauschen.

(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ab wann wäre es Ihrer Meinung nach notwendig? 20? 50? 250? 1 000?)


Andere, die dort im Einsatz sind, leisten eine wirklich
wichtige und ehrenwerte Arbeit. Gerade in Zeiten dieser
Krankheit ist sie manchmal auch schwierig. Deren Ar-
beit dort ist sehr anerkennenswert. Wir sind gerne bereit,
auch darüber zu debattieren. Ob vereinfachtes Verfahren
oder nicht: Sie verdienen den Rückhalt dieses Hohen
Hauses. Darum möchte ich Sie bitten.

Herzlichen Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810319600

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr

Dr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Wolfgang Gehrcke, das vereinfachte Verfahren
gibt es ja nun schon seit Jahren. Das muss also nicht neu
eingeführt werden. Insofern sollte man einfach immer
von der Sache her beurteilen, ob das sinnvoll ist oder
nicht. Ich will einfach sagen: Da es im Kern darum geht,
dass ein deutscher Offizier die Leitung einer sehr wichti-
gen UN-Mission übernimmt und noch zwei bis vier Mit-
arbeiter mitbringen darf, hätte meine Fraktion einem
vereinfachten Verfahren zugestimmt, weil wir finden,
dass das in der Tat ein Fall ist, bei dem man das tun
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich finde es aber überhaupt nicht schlimm, dass wir
jetzt einmal Gelegenheit haben, eine halbe Stunde über
die Situation in Liberia zu diskutieren. Insofern hat das
Ganze auch eine nützliche Seite; denn das Thema ver-
dient dies schon.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte deswegen auch noch einmal darauf hinwei-
sen, warum wir diese Mission unterstützen wollen. Das
hat mir bei Ihrem Beitrag ein bisschen gefehlt. Ich habe
auch nicht ganz verstanden, ob die Linke die UNO und
ihre Arbeit in Liberia jetzt unterstützen will oder nicht.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein, das wollen sie nicht!)


Das ist ja eigentlich die politisch wichtige Frage.

In Liberia hat 14 Jahre lang einer der schlimmsten
Bürgerkriege auf dem afrikanischen Kontinent getobt.
Das war wirklich brutal. Und es war eine ganz große He-
rausforderung für die UNO, dort 2003 nicht nur den
Waffenstillstand zu stabilisieren – das war einer der we-
nigen Fälle, wo so etwas einmal erfolgreich war –, son-





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

dern auch die Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen. Des-
wegen machte es in diesem Fall auch Sinn, auf
Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen zurückzu-
greifen, weil man eine Entwaffnung nicht ohne Weiteres
hinbekommen hätte, wenn man nicht die entsprechenden
Möglichkeiten dazu hat.

Die UNO musste in diesem völlig zusammengebro-
chenen Land alle Staatsaufgaben übernehmen, weil fast
alle Strukturen zusammengebrochen waren. Das ging
weit über das klassische Peacekeeping hinaus. Jetzt sind
sie seit zwölf Jahren da, und nach diesen zwölf Jahren
gibt es in der Bilanz natürlich Licht und Schatten. Auch
UNMIL konnte die Korruption im Land nicht eindäm-
men, und noch immer funktioniert vieles in Liberia nicht
gut. Trotzdem muss man sagen: UNMIL war und ist eine
der erfolgreichsten Missionen der Vereinten Nationen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Es konnte eine stabile Staatsstruktur aufgebaut wer-
den. Es ist wirklich gelungen, einen politischen Versöh-
nungsprozess im Land anzustoßen; das ist eine große
Leistung. Das Ansehen der UN-Soldaten bei den Bürge-
rinnen und Bürgern Liberias ist sehr hoch. Die politische
Lage ist wieder stabil. 2005, 2011 und 2014 konnten
Wahlen durchgeführt werden, die das Wort „Wahlen“
wirklich verdient haben, und mit Ellen Johnson Sirleaf
wurde 2005 auch die erste afrikanische Präsidentin ge-
wählt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niels Annen [SPD])


Man kann also sagen: Es gibt dort eine demokratische
Entwicklung. Das ist mehr, als man über viele andere
Krisenländer, in denen man interveniert hat, sagen kann.
Deshalb unterstützt meine Fraktion diese UN-Mission
wirklich nachdrücklich, und deshalb ist es auch richtig,
dass sich Deutschland dort etwas stärker – so viel ist es
ja nicht, aber das will ich gar nicht weiter kritisieren –
engagiert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann einfach festhalten: Liberia ist noch lange
nicht am Ziel. Justiz- und Sicherheitsreformen müssen
durchgeführt werden. Der Wiederaufbau einer funk-
tionsfähigen Polizei muss vollendet werden. Humanitäre
Unterstützung ist weiterhin nötig. Wir haben bereits über
die Ebolakrise gesprochen. Dafür, dass man diese Epide-
mie überhaupt einigermaßen in den Griff bekommen
konnte, war die Tatsache ganz zentral, dass UNMIL
staatliche Strukturen wiederaufgebaut hatte und dort
auch aktiv Hilfe geleistet hat. Auch in diesem Zusam-
menhang ist diese Mission ungeheuer wichtig gewesen.

UNMIL ist jetzt in einer entscheidenden Phase. Bis
2016 soll die Sicherheitsverantwortung an die liberiani-
sche Regierung übergeben werden. Von ehemals 15 000
Soldaten sind jetzt noch etwa 4 500 im Land. Die Anzahl
soll weiter heruntergefahren werden. In dieser entschei-
denden Phase hat die UNO einen deutschen Kandidaten
für die stellvertretende Leitung der Mission ausgewählt
und bittet nun Deutschland, diesen und bis zu vier wei-
tere Soldatinnen und Soldaten für die Arbeit in UNMIL
freizustellen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut; und
wenn wir der UN-Mission an zentraler Stelle helfen und
sie stärken können, dann sind wir dafür.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Letzte Bemerkung. Wenn wir die vielen internationa-
len Krisen sehen, dann ist für uns die Stärkung der Ver-
einten Nationen auf allen Ebenen das politische Gebot
der Stunde. Das gilt auch und gerade für den Peace-
keeping-Bereich. Die UNO stellt immer wieder drän-
gende Anfragen, und wir sollten unsere Fähigkeiten so
aus- und umbauen, dass wir verstärkt helfen können. Für
uns gehört das ins Zentrum der sicherheitspolitischen
Diskussion. Ich empfehle meiner Fraktion nachdrück-
lich, diesem Mandat zuzustimmen.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810319700

Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte

spricht Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1810319800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Den Worten meines Vorgängers möchte ich mich
gerne anschließen; denn Herr Schmidt hat aus meiner
Sicht sehr gut deutlich gemacht, dass UNMIL eine der
erfolgreichsten UNO-Missionen ist. Das zeigt, wie wich-
tig es ist – wir diskutieren hier ja immer wieder über
ganzheitliche bzw. nachhaltige Auslandseinsätze und
über Lösungsansätze für schwierige Regionen wie die in
Afrika –, dass man versucht, die Mittel zu kombinieren.
Das betrifft Entwicklungszusammenarbeit und wirt-
schaftliche Zusammenarbeit, aber auch finanzielle In-
strumente, und letztendlich gehören dazu auch Polizei-
maßnahmen – wir sind auch mit fünf Polizisten im Land
aktiv – und militärische Maßnahmen, auch wenn sie in
diesem Fall nur in sehr begrenztem Maße stattfinden.

Ich bin Staatssekretär Brauksiepe besonders dankbar,
dass er die Worte von Herrn Gehrcke, was den militäri-
schen Charakter dieses Mandats angeht, richtig einge-
ordnet hat. Der humanitäre Beitrag, den UNMIL leistet,
ist nicht außer Acht zu lassen. Man sollte das aber nicht
mit einem Kampfeinsatz verwechseln und so tun, als ob
es darum ginge, in einen Krieg zu ziehen. Das ist nicht
der Fall. Diese Ihre Beschreibung, Herr Gehrcke, fand
ich genauso wenig passend wie die Tatsache, dass Sie
sich bei Verfahrensfragen aufgehalten haben. Aber da-
rauf ist Herr Staatssekretär Brauksiepe bereits ausführ-
lich eingegangen.

Wir haben über das hinaus, was wir im Rahmen von
UNMIL leisten, sehr viel für die Entwicklung des





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Landes getan, und zwar nicht allein im Rahmen der bila-
teralen Entwicklungszusammenarbeit. So wurde im
Rahmen des Pariser Clubs die Entschuldung des Landes
herbeigeführt – ein Beispiel für finanzielle Maßnahmen,
die ich eben angesprochen habe. Man sollte nämlich
nicht glauben, dass es möglich ist, ein Land nur durch
Spenden oder einmalige Wohltaten auf den richtigen
Weg zu bringen. Vielmehr muss man versuchen, auch
die fiskalischen Probleme in den Griff zu bekommen.
Das ist mithilfe der internationalen Gemeinschaft ge-
schehen.

Die Präsidentin ist mittlerweile wiedergewählt wor-
den; Herr Schmidt hat das bereits angesprochen. Die
große Bewährungsprobe für afrikanische Länder ist – in
Ghana ist das sehr gut gelungen; Nigeria steht nun vor
dieser Herausforderung –, ob auch ein friedlicher Macht-
wechsel gelingt. Ich würde die Funktionsfähigkeit von
Demokratien in Afrika also nicht nur an einer Wieder-
wahl festmachen. Die Transition von der Opposition zur
Regierung ist eigentlich der entscheidende Lackmustest
dafür. Ich finde, dass Liberia auf einem guten Weg ist.
Aber die letztendliche Entwicklung lässt sich heute noch
nicht voraussehen.

Es wurde bereits von mehreren Rednern angespro-
chen: Zu Elend und Armut in diesem Land kam die
Ebolakatastrophe als großes Unglück hinzu. Vor diesem
Hintergrund ist es notwendig, das Land weiterhin zu un-
terstützen. Ich halte jeden für mutig, der bereit gewesen
ist, in die Ebolaregion zu gehen, seien es in diesem Fall
die Angehörigen der Bundeswehr, die Polizeiangehöri-
gen, unsere Entwicklungshelfer, die Menschen, die dort
ehrenamtlich tätig sind, oder die Vertreter des Auswärti-
gen Amtes. Wir haben in dieser Region tatsächlich eine
Situation, die sehr viel persönlichen Mut abverlangt,
überhaupt dort hinzugehen. Deshalb möchte ich nicht
nur für das Mandat werben und um Zustimmung in der
weiteren Beratung bitten, sondern auch denjenigen dan-
ken, die sich auf diesen schwierigen und mutigen Weg
gemacht haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810319900

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4768 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Unabhängige Historikerkommission zur Ge-
schichte des Bundeskanzleramtes einsetzen

Drucksache 18/3049
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist es auch so beschlossen.

Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle-
ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-
sprache. Als erster Redner hat Jan Korte für die Fraktion
Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810320000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Morgen, am 8. Mai, danken wir den Alliierten für die
Befreiung Europas von der Herrschaft des Haken-
kreuzes. Wir gedenken der Opfer. Heute aber wollen wir
einen Blick auf die Täter richten; denn diese prägten
maßgeblich die Geschicke der frühen Bundesrepublik.

Die frühe Bundesrepublik war geprägt von der Rück-
kehr der alten Eliten in Staat, Wirtschaft, Militär und,
besonders verheerend, in die Justiz; denn sie kehrten
nicht nur zurück als Täter und Massenmörder, sondern
sie prägten die Rechtsprechung in der Bundesrepublik,
zum Beispiel bei der Gehilfenrechtsprechung. Selbst der
Adjutant von Auschwitz, der an Vergasungen selber be-
teiligt war, wurde nicht als Täter verurteilt, sondern als
Gehilfe.

In der Gesellschaft damals, bei der Masse der Bevöl-
kerung dominierte Verdrängung. Die großen Sozial-
psychologen Alexander und Magarete Mitscherlich
nannten es „die Unfähigkeit zu trauern“. Erst durch mi-
noritäre Gegenpositionen bewegte sich etwas. Ich denke
dabei an Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbe-
kenntnis, an Eugen Kogon und natürlich an den großarti-
gen Fritz Bauer. Noch in den 50er-Jahren galt Stauffen-
berg übrigens aufgrund seines Attentatsversuchs am
20. Juli als Landesverräter bei den Eliten und weiten
Teilen der Gesellschaft. Erst im Remer-Prozess führte
Fritz Bauer den brillanten Nachweis, dass ein Unrechts-
regime wie der Nationalsozialismus gar nicht hochver-
ratsfähig sein kann. Er brachte es auf die Formel: Un-
recht kennt keinen Verrat.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst durch diese Gegenpositionen und viele andere
änderte sich etwas. Ich erinnere an den vom hessischen
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Auschwitz-
Prozess. Ich erinnere an Emigranten wie Willy Brandt,
die damals übrigens in der Politik als Landesverräter
beschimpft wurden, und insbesondere Willy Brandts
großartige Geste, den Kniefall im Warschauer Ghetto.
Willy Brandt tat das als Opfer; er war kein Täter. Die
Täter haben sich nicht entschuldigt. Schließlich erinnere
ich an die 68er, die maßgeblich zur Aufarbeitung beige-
tragen haben durch unzählige Geschichts- und Gedenk-
initiativen. So gab es vor 20 Jahren – auch das ein Jubi-
läum – die erste Wehrmachtsausstellung. Auch daran





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

sollten wir uns erinnern, und wir sollten den Machern
von damals noch einmal einen großen Dank für diese Tat
der Aufklärung zollen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Kehrseite ist allerdings, dass die Deserteure erst
im Jahre 2002 rehabilitiert wurden, die Kriegsverräter
erst im Jahre 2009, und die sowjetischen Kriegsgefange-
nen bis dato immer noch eine vergessene Opfergruppe
sind und bis heute immer noch nicht entschädigt worden
sind. Auch das wird höchste Zeit. Es leben nur noch we-
nige.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


All diese Gegenpositionen, all diese Initiativen und
das Insistieren von kritischer Wissenschaft, von enga-
gierten Journalisten führten zu einem Umdenken. Die
Erfolge will ich auch benennen.

Die Studie Das Amt und die Vergangenheit über den
verbrecherischen Charakter des Auswärtigen Amtes in-
nerhalb des NS-Regimes ist ein Meilenstein gewesen,
nicht nur weil dort sehr viel Neues stand – es stand auch
vieles drin, was schon bekannt gewesen ist –, sondern
vor allem deswegen, weil ein damaliger Außenminister
– in diesem Fall Joschka Fischer – eine solche Histori-
kerkommission offiziell eingesetzt hat und diese von
Guido Westerwelle als weiterem Außenminister fortge-
setzt wurde. Das ist gar nicht hoch genug anzurechnen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch die unabhängige Historikerkommission zur Er-
forschung der Geschichte des BND hat entgegen meinen
Annahmen – ich hätte das gar nicht für möglich gehalten –
extrem viel Gutes, Neues und Kritisches über die brau-
nen Wurzeln beim BND hervorgebracht. Auch das war
eine gute Sache.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Heute muss es um die damalige politisch-administra-
tive Schaltzentrale gehen, nämlich um das Kanzleramt.
Wer die anderen aktuellen Projekte, auch das beim BMI,
für sinnvoll hält, kann nicht allen Ernstes gegen die Ein-
setzung einer unabhängigen Historikerkommission zur
Geschichte des Kanzleramts sein;


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn im Kanzleramt wurde politisch entschieden, dass
die alten Eliten zurückkommen, und von dort aus wurde
das kollektive Schweigen politisch organisiert und ge-
steuert. Hans Globke war ja nur die Spitze des Eisbergs.
Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Globke war
von 1953 bis 1963 Chef des Kanzleramtes, und er war
zuvor Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger
Gesetze; das sollte man nicht vergessen.
Adenauer, der nun gewiss kein Nazi war, nicht einmal
ansatzweise,


(Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Das ist aber nett, Herr Korte! Diese Aussage freut uns aber!)


hat diese Politik willentlich in Kauf genommen; denn sie
hat bei Wahlen in der Bevölkerung Mehrheiten gebracht
– und das ist das eigentlich Traurige. Wer für lückenlose
Aufarbeitung ist, kann um diese exekutive Schaltzen-
trale keinen Bogen machen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Beste wäre natürlich, wenn die Initiative dafür vom
Kanzleramt selbst ausgehen würde. Im Übrigen, Kollege
Lengsfeld, ist das auch eine Gelegenheit für die CDU,
über ihre Rolle bei der Politik der 50er- und 60er-Jahre
nachzudenken.

Zum Schluss. Ralph Giordano, der kürzlich verstor-
bene große Publizist, hat in seinem Buch Die zweite
Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein zu dieser
Zeit Folgendes gesagt – ich zitiere –:

Als sei die Adenauerära bis hinein in die sechziger
Jahre so etwas gewesen wie eine gigantische
Korrumpierungsofferte der konservativen Herr-
schaft an ein mehrheitlich auseinandersetzungsun-
williges Wahlvolk, eine Art Stillhalteangebot, das
sich teils wortlos aus der allgemein konspirativen
Atmosphäre ergab, teils aber auch kräftig organi-
siert war. Diese Offerte lautete: Für die kollektiven
Wiedereinstellungen selbst schwerstbelasteter
Berufsgruppen, für Pensionskontinuität, für die Ex-
kulpierungsagitation – für all das: demokratisches
Wohlverhalten! Diese Offerte ist akzeptiert worden
– der große Frieden mit den Tätern.

Politisch trägt dafür in besonderer Weise das Kanzleramt
von damals die Verantwortung. Daher sollte die Ge-
schichte des Kanzleramtes jetzt aufgearbeitet werden.
Das wäre ein ganz kleiner Schritt zur Abtragung der
„zweiten Schuld“.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810320100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr

Dr. Lengsfeld das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Philipp Lengsfeld (CDU):
Rede ID: ID1810320200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Rede, Herr
Kollege Korte, hat der Antrag der Linksfraktion auf den
ersten Blick eine gewisse seriöse Anmutung: „Unabhän-
gige Historikerkommission zur Geschichte des Bundes-
kanzleramtes einsetzen“. Man könnte denken: Ja, wir
klären die NS-Geschichte der Fachministerien auf, also





Dr. Philipp Lengsfeld


(A) (C)



(D)(B)

könnten wir doch darüber diskutieren, diese Aufklärung
auf das Bundeskanzleramt auszuweiten.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Trotzdem hatte ich bei diesem Antrag von Anfang an ein
komisches Gefühl, und Ihre Rede hat dieses Gefühl
natürlich massiv verstärkt, Herr Kollege. Dies regte sich
schon angesichts des Zeitpunktes der Einbringung Ihres
Antrags. Der ursprüngliche Antragstext stammt vom
November 2014, eingebracht hat die Linksfraktion ihn
aber erst jetzt, in der Plenarwoche mit dem 8. Mai, dem
Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror-
regime, den wir morgen begehen. Dieser Antrag ist ganz
offenbar Teil einer größeren PR-Kampagne.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Oh Gott!)


Jetzt könnte man sagen: Okay, die Linkspartei ist auf-
grund ihrer eigenen, schwer belasteten Vergangenheit
eben sehr geschichtsbewusst und möchte mithelfen, dass
diese Demokratie die Verbrechen und Fehlleistungen ih-
rer Geschichte nie vergisst; und ein bisschen PR machen
wir ja alle. Leider ist die Sachlage aber eine ganz andere.
Diesen Antrag in dieser Form zu diesem Zeitpunkt von
dieser Fraktion empfinde ich als Frechheit, meine Da-
men und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Die NS-Aufarbeitung der Fachressorts ist in vollem
Gange. Dies wird eindrücklich durch die ausführliche
Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4238 vom März
dieses Jahres belegt.

Ich gehe gerne auch in die Details. Es ist klar, dass für
die Bundesfachressorts sehr intensive Arbeiten zur Auf-
arbeitung ihrer NS-Zeit laufen. Auch über die Nachwir-
kungen auf deren Wiederaufbau wird geforscht. Auslö-
ser war, wie erwähnt, die Arbeit der Unabhängigen
Historikerkommission für das Auswärtige Amt, welches
als Pionier voranging. Jetzt laufen solche Arbeiten – um
nur einige wichtige Ministerien zu nennen – auch für das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundes-
ministerium der Finanzen, das Bundesministerium der
Justiz und das Bundesministerium des Innern. Übrigens
wird auch die Vergangenheit des Fachressorts BKM
aufgearbeitet. Gleiches gilt – das wurde auch schon er-
wähnt – für den BND und das BKA.

Das ist aber noch nicht alles. Die Aufarbeitung findet
auch in nachgeordneten Bundesinstitutionen statt: in der
Bundesagentur für Arbeit, in der Deutschen Nationalbi-
bliothek, im Bundesarchiv oder im Bundesamt für Be-
völkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch diese
Aufzählung ist nur exemplarisch.

Auf Seite 14 der Beantwortung der Kleinen Anfrage
finden Sie eine übersichtliche Tabelle mit der vollständi-
gen Liste der Ministerien und Institutionen inklusive der
gar nicht so geringen Kosten und des Bearbeitungssta-
tus. Die NS-Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf
die Nachkriegszeit werden für die Fachressorts der Bun-
desrepublik also sehr umfassend aufgearbeitet, meine
Damen und Herren. Das ist auch kein Zufall; denn diese
Koalition hat sich dazu im Koalitionsvertrag gemeinsam
verpflichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Dörmann [SPD])


Um ganz sicherzugehen, dass keine Lücken bestehen,
wurden von der Staatsministerin für Kultur und Medien
die zwei großen zeitgeschichtlichen Forschungsinstitute
mit einer Bestandsaufnahme beauftragt. Deren Ergeb-
nisse werden sicherlich von den entsprechenden Res-
sorts berücksichtigt.

Die NS-Zeit der Fachressorts wird also umfassend
aufgearbeitet. Dem würde vermutlich – so habe ich Sie
auch verstanden, Herr Kollege Korte – nicht einmal die
Linkspartei widersprechen. Was also soll der Antrag der
Linksfraktion? Er möchte eine Aufarbeitung der demo-
kratisch legitimierten Nachkriegszeit des Bundeskanz-
leramtes von 1949 bis 1984 bewirken. Die Stoßrichtung
des Antrags zielt auf den Umgang des Bundeskanzler-
amtes mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in den Fachmi-
nisterien und der Gesellschaft insgesamt. Herr Korte hat
dies ja gerade wortreich erläutert. Und wieder sage ich:
Es ist ja nicht so, dass dieses Anliegen der Linksfraktion
vollkommen abwegig wäre. Im Bundeskanzleramt wie
in Westdeutschland insgesamt ist sicherlich nicht alles
gleich richtig gemacht worden.

Ich sage es noch einmal: Wenn man unterstellt, dass
eine schwer gebrandmarkte Partei aufgrund der scho-
nungslosen Aufarbeitung der eigenen Geschichte beson-
ders sensibilisiert ist für mögliche Schwächen bei ande-
ren und hier quasi helfen will, dann gäbe es – ich
wiederhole mich ausdrücklich – eine gewisse Legitima-
tion für diese Diskussion heute. Leider ist dem aber nicht
so; denn im Antrag wird ein sehr, sehr wichtiger Aspekt
verschwiegen. Wenn wir über die Nachkriegszeit in
Westdeutschland nachdenken – gerade im Hinblick auf
den Umgang mit der NS-Vergangenheit –, dann müssen
wir auch über die Rolle der SED und der DDR-Staats-
macht reden. Denn die SED hat jahrzehntelang unter
ungeheurem Einsatz von Geld, Archivmaterialien, des
Staatsapparats, aber auch vieler informeller Mitarbeiter
in den Medien und der Wissenschaft in Ost und West
eine massive Kampagne gegen die demokratische BRD
gefahren, und zwar mit dem klaren Ziel, den demokrati-
schen Staat zu denunzieren. Es wurde suggeriert, dass in
Westdeutschland die NS-Vergangenheit nicht nur nicht
aufgearbeitet wurde, sondern dass es eine personelle,
geistige und strukturelle Kontinuität gab. Im Visier die-
ser Propagandakampagnen waren immer zuerst die Re-
präsentanten der Demokratie, allen voran das Bundes-
kanzleramt.

Die Kampagnen waren übrigens gar nicht so erfolg-
los, auch deswegen, weil nicht alle Vorwürfe völlig
falsch waren. Das prominenteste Beispiel – es ist hier
auch schon erwähnt worden – ist natürlich die NS-Ver-
strickung des langjährigen Kanzleramtschefs Hans
Globke. Trotzdem waren die Mittel der SED im Kampf
gegen Bonn alles andere als rechtsstaatlich oder fair. Es
wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, fehlendes be-
lastendes Material selbst nachzufabrizieren oder existie-





Dr. Philipp Lengsfeld


(A) (C)



(D)(B)

rendes Material stark anzuspitzen. Der Zweck heiligt die
Mittel; so haben es die Stalinisten immer gemacht. Es
war eine schmutzige, asymmetrische, antidemokratische
Propagandaschlacht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufhören! – Jan Korte [DIE LINKE]: Jetzt sagen Sie doch mal was zum Kanzleramt! Das ist ja neurotisch!)


Meine Damen und Herren, der Antrag der Linksfrak-
tion blendet diesen Teil der gemeinsamen deutschen Ge-
schichte völlig aus. Auch in Ihrer Rede, Herr Kollege
Korte, habe ich davon kein einziges Wort gehört.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Darum geht es auch überhaupt nicht!)


– Darum geht es nur aus Ihrer Sicht nicht; aber natürlich
geht es darum. – Dabei wäre ein Verschweigen, wie Sie
es hier an den Tag gelegt haben, gar nicht nötig gewesen;
denn die massive Kampagne der SED hatte auf verquere
Art und Weise eine durchaus positive Wirkung, und
zwar für die Demokratie in Westdeutschland, da sie die
tatsächlich oft zu zögerliche Aufarbeitung massiv befeu-
erte. Trotzdem ist von den Propagandalügen der SED ge-
gen das damalige Kanzleramt und seine demokratisch
gewählten Verantwortungsträger – Konrad Adenauer,
Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt,
Helmut Schmidt und Helmut Kohl; der von Ihnen vorge-
schlagene Zeitraum geht ja bis 1984 – zu viel im kollek-
tiven Gedächtnis dieses Landes verblieben, sodass man
das bewusste Verschweigen – das ist ja Ihr Thema – die-
ses Teils der Geschichte als weiteres Kapitel genau sol-
cher Propaganda ansehen kann oder vielleicht sogar an-
sehen muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, der
vernünftige Teil Ihrer Fraktion – ich denke immer noch,
dass es den gibt; vielleicht täusche ich mich da auch –


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestimmt!)


hat hier wieder einmal eine große Chance vertan. Diesen
Antrag in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt einzu-
bringen, war kein ernstgemeintes Gesprächsangebot,
sondern ein rein taktisches Manöver der Scharfmacher in
Ihren Reihen, und genauso werden wir Ihren Antrag
auch behandeln.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810320300

Vielen Dank. – Jetzt hat Jan Korte von der Linken das

Wort für eine Kurzintervention.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist Demokratie! Das haben Sie doch eben selber gesagt!)


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810320400

Es ist in der Tat die Frage, ob es sich lohnt, darauf

einzugehen. Aber das steht ja nun einmal im Raum, und
zumindest drei Anmerkungen will ich dazu machen.

Erstens. Kollege Lengsfeld, man muss im Kopf schon
wirklich sehr schräg drauf sein, um bei diesem Antrag zu
dieser Debatte darauf zu kommen, dass das eine Fortset-
zung von SED-Propaganda aus dem Kalten Krieg wäre.
So schräg muss man erst einmal drauf sein.

Zweitens. Es interessiert mich ja schon: Was bitte
hatte die SED, über die wir zu Recht immer wieder kri-
tisch diskutieren und deren Geschichte wir aufarbeiten


(Lachen bei der CDU/CSU)


– ich war nicht in der SED; ich bin wie die Kollegin
Högl in Osnabrück geboren; also bitte, was soll das
denn? –, mit der Vergangenheit von Hans Globke zu
tun? Was hatte die SED damit zu tun, dass Hans Globke
an der Verfassung der Nürnberger Gesetze beteiligt war?
Das ist doch aberwitzig, was Sie hier erzählen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Das sei dann schon noch einmal gesagt: Wir
reden hier über schwerstbelastete NS-Täter, die maßgeb-
lich durch das Kanzleramt, durch die politische Wei-
chenstellung damals, wieder in Amt und Würden kamen.
Ich finde es nicht angemessen, das Thema so zu behan-
deln. Denn es geht hier um eine Vergangenheit als Ein-
satzgruppenleiter, die Zehntausende von Frauen, Kin-
dern und Männern hingemetzelt haben. Es geht um
Auschwitz, um Treblinka und vieles andere mehr. Wie
kommen Sie eigentlich bei so einem Thema auf eine sol-
che Argumentation?

Wenn hier irgendjemand im Kalten Krieg voll hängen
geblieben ist, dann sind es Sie.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810320500

Herr Lengsfeld.


Dr. Philipp Lengsfeld (CDU):
Rede ID: ID1810320600

Lieber Herr Kollege Korte, ich hatte mir vorher über-

legt, was als Gegenreaktion von Ihnen kommen könnte.
Ich hatte nicht erwartet, dass Sie sich hier einfach hin-
stellen und so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte.
Ich könnte meinen gesamten Vortrag noch einmal halten.
Stattdessen frage ich Sie ganz klar: Wollen Sie etwa be-
haupten, dass es die massive Propagandakampagne der
SED und der DDR überhaupt nicht gegeben hat?


(Jan Korte [DIE LINKE]: Nein! Wer hat das denn gesagt? Es geht aber gar nicht darum! – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe hier überhaupt keine Taten relativiert. Aber
ist Ihnen klar, dass die DDR Schauprozesse vor der
Weltpresse inszeniert hat, mit Hans Globke, aber auch
mit anderen?





Dr. Philipp Lengsfeld


(A) (C)



(D)(B)


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, aber darum geht es in diesem Fall doch nicht!)


Ist Ihnen klar, dass Erich Mielke Materialien fabriziert
hat, ein eigenes Archiv geführt und eine große Abteilung
gegründet hat, die sich den lieben langen Tag nur mit
den von Ihnen hier dargestellten Themen beschäftigt
hat?


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Geschichte des Bundeskanzleramtes!)


Ziel dieser Kampagnen war das Bundeskanzleramt.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Was hat das damit zu tun?)


Ich empfinde es schon als eine Frechheit – dass Sie
später geboren wurden und dass Sie aus dem Westen
sind, ist schön und gut –, dass Sie sich hier hinstellen
und Ihre eigene Geschichte oder vielmehr unsere ge-
meinsame Geschichte leugnen wollen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird nicht besser!)


Dass Sie hier so tun, als ob der zugegebenermaßen klei-
nere Staat gar keinen Einfluss auf die ganze Debatte
hatte und dass die ganze Art und Weise, wie gegen West-
deutschland, gegen die Kanzler und das Bundeskanzler-
amt gehetzt wurde, mit Ihrer Diskussion und mit der his-
torischen Aufbereitung, die Sie hier machen, gar nichts
zu tun hat, finde ich ziemlich dreist.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ach Gott! Ihnen ist nicht zu helfen!)


Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das versuchen.

Ich empfehle Ihnen gerne die Lektüre der verschiede-
nen Fachhistoriker. Sie können auch gerne einmal in Ho-
henschönhausen vorbeischauen. Hubertus Knabe ist auf
diesem Gebiet ein Experte. Sie haben da offensichtlich
ein Stück weit Nachholbedarf. Ich bin wirklich ent-
täuscht.

Ich bin ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass dieses
Verhalten für Ihre Fraktion repräsentativ ist. Herr
Gehrcke, den ich gerade anschaue, weiß genau, wovon
ich rede. Sie, Herr Korte, scheinen das nicht zu wissen.
Ich empfehle Ihnen ein gewisses Maß an historischer
Aufbereitung dieses Teils der Geschichte; denn er gehört
nun einmal dazu. Da können Sie sagen, was Sie wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema verfehlt! – Jan Korte [DIE LINKE]: Oberpeinlich!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810320700

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulle Schauws

von den Grünen das Wort.


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810320800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Kollege Lengsfeld, ich finde schon,
dass das, was Sie gerade gesagt haben, ein wenig am
Thema vorbeigeht. Wenn Sie das, was Sie gerade ausge-
führt haben, in Form eines Antrags hier einbringen wol-
len, können Sie das machen. Heute geht es aber um die
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeskanzler-
amtes. Darüber reden wir hier.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Morgen Vormittag kommen wir hier im Bundestag
zusammen, um gemeinsam des Endes des Zweiten Welt-
kriegs vor 70 Jahren und der Befreiung vom menschen-
verachtenden System der Nazigewaltherrschaft zu ge-
denken. Genau darum geht es: Wir tragen Verantwortung
für unsere Vergangenheit, und wir tragen Verantwortung
für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozia-
lismus. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unserer
deutschen Geschichte aktiv und kritisch auseinanderset-
zen und diese systematisch und schonungslos aufarbei-
ten müssen, Herr Lengsfeld. Das ist der Fokus, den wir
heute hierauf legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das gilt neben privaten Institutionen und Unterneh-
men insbesondere auch für die NS-Vergangenheit der
Ministerien und der Behörden des Bundes. Ihre Aufar-
beitung steckt auch 70 Jahre nach Kriegsende in den
Kinderschuhen. Weil wir in einer Kleinen Anfrage nach-
gefragt haben, liegen die Antworten hierzu heute auf
dem Tisch, aus denen Sie zitiert haben.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!)


Sie haben nicht gesagt, dass das Bundeskanzleramt hier
etwas gemacht hat. Es hat nämlich noch nichts gemacht.
Das ist aus Ihren Worten ganz klar hervorgegangen.

Unter Rot-Grün hat 2005 der damalige Bundesaußen-
minister Joschka Fischer ein Forschungsprojekt zur
NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes in Auftrag
gegeben. Damit wurde ein längst überfälliger Schritt in
Richtung Aufarbeitung gemacht. Fischer musste damals
gegen erheblichen Widerstand angehen. Wichtig war
aber, dass so eine gesellschaftliche Debatte in Gang
kam.

Der 2010 veröffentlichte Abschlussbericht „Das Amt
und die Vergangenheit“ entlarvte dabei eine lange auf-
rechterhaltene Legende. Das Auswärtige Amt war kei-
nesfalls ein Hort des Widerstandes. Nein, es war tief in
die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Es hat
NS-Verbrechen nach außen gedeckt und war aktiv an ih-
nen beteiligt. Nur wenige der Diplomaten und Mitarbei-
ter wurden zur Rechenschaft gezogen. Viele haben ihre
Karrieren nach dem Krieg fortgesetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, wie
wichtig Untersuchungen zu personellen und sachlichen
Kontinuitäten in der Nachkriegszeit auch in anderen
Bundesministerien und Behörden sind. Sie leisten einen
entscheidenden Beitrag zur Klärung der Frage, warum
nationalsozialistische und rassistische Einstellungen
auch heute noch in unserer Gesellschaft bis weit in die
Mitte hinein verbreitet sind. Und genau deshalb haben
wir uns als grüne Bundestagsfraktion in den letzten Jah-





Ulle Schauws


(A) (C)



(D)(B)

ren mit zahlreichen Kleinen Anfragen und Anträgen da-
für eingesetzt, dass die nach wie vor stockende Aufar-
beitung vorangetrieben wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
es steht in Ihrem Koalitionsvertrag – die Bundesregie-
rung hat es groß angekündigt –, die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden
voranzutreiben. Die Frage ist: Wo stehen Sie damit? Bis
heute haben bei weitem nicht alle Bundesministerien
ihre Vergangenheit im Dritten Reich und in der Nach-
kriegszeit beleuchtet. Einige haben, wie gesagt, noch
nicht einmal damit begonnen.

Aber dass auch das Bundeskanzleramt sich bis heute
davor drückt, seine Geschichte von einer Historikerkom-
mission aufarbeiten zu lassen, das, muss ich sagen, ist
wirklich skandalös.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Fadenscheinige Begründungen, historische Forschung
sei grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft oder Akten-
einsicht beim Bundesarchiv könne zu Forschungszwe-
cken ermöglicht werden, bedeuten doch keinen verant-
wortungsvollen Umgang mit der Aufarbeitung der
eigenen Geschichte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es reicht auch nicht aus, auf die Aufarbeitung der
Vergangenheit des BND zu verweisen. Ich sage ganz
klar: Das Kanzleramt darf sich nicht länger um eine ehr-
liche Antwort auf Fragen über seine Vergangenheit und
die eigene historische Verantwortung drücken.

Die Fraktion Die Linke verweist in ihrem Antrag zu
Recht darauf, dass eine ernstgemeinte wissenschaftliche
Aufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eine Untersu-
chung der Rolle des Bundeskanzleramtes nicht sinnvoll
ist. Das ist richtig, aber das alleine reicht nicht aus. Da
muss mehr passieren. Statt eines Flickenteppichs von
einzelnen Untersuchungen brauchen wir eine koordi-
nierte Aufarbeitung der Geschichte aller Bundesministe-
rien und -behörden. Dort, wo es bereits Vorstudien gibt,
dürfen sie nicht länger unbearbeitet liegen bleiben. So
gibt es zum Beispiel im Landwirtschaftsministerium
Voruntersuchungen, die damals von Renate Künast in
Auftrag gegeben wurden und jetzt nicht weiter bearbeitet
werden. Da müssen weitere Forschungsarbeiten folgen,
auch über die Nachkriegszeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss vor allem
sichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit bei der
Aufarbeitung der NS-Zeit aktiv einbezogen wird. Das
muss auch Teil politischer Bildungsarbeit werden. Des-
halb sollten Untersuchungsergebnisse aufgearbeitet und
zugänglich gemacht werden, gerade auch für junge Men-
schen, beispielsweise in Form einer Dauerausstellung
oder in einem digitalen Format. Denn eine umfassende
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist nicht nur wichtig
für das Verstehen von Kontinuitäten der Gegenwart, son-
dern vor allem auch für einen verantwortungsvollen Um-
gang mit der Zukunft unserer Demokratie.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810320900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Martin

Dörmann für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1810321000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Morgen früh werden wir hier im Plenum in einer ge-
meinsamen Gedenkveranstaltung mit dem Bundesrat
den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
würdigen und damit auch die Befreiung von der NS-Dik-
tatur.

Auf die Rede von Professor Heinrich August Winkler
bin ich schon sehr gespannt. In seinen Arbeiten hat er
sehr präzise und differenziert die Rolle Deutschlands vor
und nach 1945 betrachtet. Er hat sich dabei auch immer
dezidiert gegen jede Verharmlosung der nationalsozialis-
tischen Verbrechen und Strukturen ausgesprochen. Ich
glaube, uns allen hier im Haus muss an einer umfassen-
den Aufarbeitung der NS-Geschichte und ihrer Folge-
wirkungen sehr gelegen sein. Dazu gehören auch und
gerade die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Aus-
einandersetzung mit den personellen und institutionellen
Kontinuitäten, die es eben leider auch gegeben hat. Ja,
das ist eine schmerzhafte Erfahrung der deutschen Ge-
schichte, und zwar sowohl der westdeutschen als auch
der ostdeutschen Geschichte, die es sorgfältig aufzuar-
beiten gilt.

Ganz sicher hat sich die junge Bundesrepublik allzu
viele Jahre mit diesem Erbe sehr schwergetan. Es ist be-
reits erwähnt worden: Es war gut, dass dann unter rot-
grüner Regierungsverantwortung eine Kommission die
Geschichte des Auswärtigen Amtes aufgearbeitet hat
und dass auch die Geschichte des BND in der Frühzeit
der Bundesrepublik aufgearbeitet wurde. Dabei können
wir aber nicht stehen bleiben.

Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich die
ehemalige DDR, deren Funktionseliten sich übrigens
gerne als das bessere Deutschland bezeichnet haben, der
Aufarbeitung dieser Kontinuitäten, die es im Osten
Deutschlands eben auch gegeben hat, beinahe gänzlich
verweigert hat.

In dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
wird nun die wissenschaftliche Aufarbeitung zu den NS-
Belastungen der frühen Bundesrepublik Deutschland,
aber auch nur dieser, thematisiert. Ein besonderer Fokus
wird auf die systematische Untersuchung der Rolle des
Bundeskanzleramts gerichtet. Zu diesem Zweck solle
eine Historikerkommission eingerichtet werden.

Nun ist es so, dass wir in Bezug auf die Rolle des
Bundeskanzleramtes, die wichtig ist, im Hinblick auf die
NS-Thematik nicht bei null anfangen müssen. Sie ist
zum Teil bereits in zahlreichen Untersuchungen und Pu-
blikationen dargestellt worden. Auch war sie gerade Teil
der Untersuchung zur Erforschung der Frühgeschichte





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)

des Bundesnachrichtendienstes in den Jahren 1945 bis
1968. Das Bundeskanzleramt hat der damaligen Kom-
mission Zugang zu allen Aktenbeständen gewährt, so-
weit diese Gegenstand des Forschungsauftrages waren.
Das wurde übrigens auch in großem Umfang in An-
spruch genommen.

Dennoch müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Frage
beschäftigen, wo es noch Defizite in der Aufklärung gibt
und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Genau
das macht die Große Koalition, und das macht die Bun-
desregierung. Wir sind nämlich gerade in einem Prozess,
in dem geklärt werden soll, wie der gegenwärtige Stand
der Forschung ist, ob es weitere Bedarfe gibt und, wenn
ja, wo.

Zu verweisen ist zunächst auf die Antwort der Bun-
desregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vom März dieses Jahres. Darin wird
ein umfassender Überblick über bereits abgeschlossene
oder begonnene und laufende Forschungsprojekte von
Bundesministerien oder nachgeordneten Behörden zur
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Häusern ge-
geben.

Ich will zudem daran erinnern, dass in der vergange-
nen Wahlperiode ein überfraktioneller Antrag, wenn
auch nicht von allen Fraktionen getragen, zu dieser The-
matik verabschiedet wurde. Nicht zuletzt auf das Bestre-
ben der SPD-Bundestagsfraktion wurde damals die For-
derung nach einer Bestandsaufnahme in den Antrag
aufgenommen, und zwar einer Bestandsaufnahme, in der
neben einem Status quo der bisherigen Forschung auch
die weiterhin bestehenden Forschungsdefizite im Hin-
blick auf die Geschichte der staatlichen Behörden und
Institutionen im frühen Nachkriegsdeutschland aufge-
zeigt werden sollen, also sowohl in der Bundesrepublik
als auch in der DDR. Dass dabei auch die DDR mit in
den Blick genommen wird, ist übrigens ein wesentlicher
Unterschied zu den Anträgen der Linksfraktion zu die-
sem Thema.


(Zuruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Herr Korte, Ihr Enthusiasmus wäre noch glaubwürdi-
ger gewesen – es liegt jetzt immerhin ein Antrag vor –,
wenn Sie wenigstens mit einem Satz erwähnt hätten,
dass es diese Kontinuitäten auch in der DDR gegeben
hat.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Das habe ich doch nicht geleugnet! Darum geht es aber nicht!)


Dem damaligen Auftrag des Bundestages an die Bun-
desregierung, den ich erwähnt habe, eine solche Be-
standsaufnahme zu beauftragen, kommt die Koalition
nach. Sie ist bereits fest im Koalitionsvertrag verankert,
in dem wir uns verpflichtet haben, die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden
voranzutreiben.

Wir lassen dieser Grundsatzposition auch Taten fol-
gen. Die Beauftragte für Kultur und Medien hat diesen
Auftrag einer Bestandsaufnahme mittlerweile an das In-
stitut für Zeitgeschichte und an das Zentrum für Zeithis-
torische Forschung erteilt. Bis zum Ende des Jahres sol-
len erste Ergebnisse der Studie vorgelegt werden. Es
sollen dabei sowohl Forschungsstand als auch For-
schungsdefizite bei einzelnen Ressorts aufgezeigt wer-
den, und zwar auch beim Bundeskanzleramt. Damit ist
diese Bestandsaufnahme die systematische Vorberei-
tung für mögliche weitere Untersuchungen über die NS-
Belastungen ebendort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es bedarf
nicht des vorliegenden Antrags, damit sich die Koalition
und die Bundesregierung mit einer vertieften Auseinan-
dersetzung und Untersuchung der NS-Geschichte befas-
sen. Welche Schlussfolgerungen dann zu ziehen sind und
welche konkrete Ausgestaltung weitere Forschungsauf-
träge haben sollten, das wird nach Abschluss der ge-
nannten Studie zu entscheiden sein, sei es im Hinblick
auf Ministerien oder auf das Bundeskanzleramt. Ich
denke, das ist der richtige Weg, um mit einem ernsten
und wichtigen Thema angemessen und verantwortungs-
voll umzugehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810321100

Vielen Dank. – Als nächste und letzte Rednerin in

dieser Debatte hat Dr. Freudenstein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810321200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Es gibt Dinge, die dulden
keinen Aufschub, die muss man jetzt und sofort anpa-
cken, es gibt Dinge, die für Gerechtigkeit sorgen oder
die revolutionär sind, und es gibt Dinge, die einfach die
Situation vieler Menschen in unserem Land verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion,
ich muss Sie enttäuschen: Ihr Antrag gehört nicht zu all
diesen Dingen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ihr Anliegen ist ja
grundsätzlich nicht unbedeutend: Eine Aufarbeitung der
deutschen Geschichte, auch der demokratischen Institu-
tionen nach 1945, in besonderer Weise auch des Bundes-
kanzleramtes, kann in vielerlei Hinsicht wichtig sein,
und sie kann vor allem aus wissenschaftlicher Sicht
hochinteressant sein. Das haben die bisherigen Untersu-
chungen schon gezeigt; in allen Bundesministerien mit
Vorgängern in der NS-Zeit und in vielen nachgeordneten
Bundesbehörden fand ja oder findet eine historische
Aufarbeitung statt.

Vermutlich hat kein Land der Welt seine Geschichte
und die seiner Institutionen so intensiv wissenschaftlich
aufarbeiten lassen wie wir Deutsche. Das war und ist
nach den Verbrechen und Verirrungen des 20. Jahrhun-
derts auch unsere Pflicht. Ich meine deshalb, dass man
uns mangelndes Bewusstsein oder gar Untätigkeit nicht
vorwerfen kann.





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie ha-
ben eine Anfrage gestellt und erst kürzlich eine Antwort
erhalten. Sie wissen also sehr gut, dass die beiden größ-
ten und bedeutendsten deutschen Forschungsinstitute auf
diesem Gebiet bereits mit einer Bestandsaufnahme be-
auftragt worden sind; sie werden die Quellenlage, den
Forschungsstand und die Forschungsdesiderate bei den
einzelnen Ressorts benennen. Sie wissen, dass Ergeb-
nisse bis Ende dieses Jahres vorliegen sollen. Trotzdem
stellen Sie heute diesen Antrag. Warum tun Sie das? Ich
will es Ihnen sagen: Es geht Ihnen vermutlich nicht
wirklich um die Aufarbeitung selbst, sondern es geht Ih-
nen vermutlich darum, sich selbst als etwas darzustellen,
nämlich als Speerspitze der historischen Aufklärung.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Mann, ist das blöde!)


Sie haben zu diesem Zweck ja auch eine ganz eigene
„Historische Kommission“ in Ihrer Partei. Deren Ergeb-
nisse habe ich mir einmal angeschaut. Die Historische
Kommission der Linkspartei schreibt zum Beispiel im
Jahre 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus – ich zi-
tiere –:

Die sowjetische Führung und im Gefolge die DDR
entschieden sich 1961 auch zum Mauerbau, um ei-
nen Krieg zu verhindern. Dieser war angesichts der
fortschreitenden Destabilisierung der DDR und un-
ter den Bedingungen der militärischen Konfronta-
tion in Mitteleuropa nicht auszuschließen.

Die Mauer als ein Werk des Friedens – so dargestellt von
einer Historikerkommission im Jahre 2011.

Es gibt noch mehr zu lesen in dieser historischen Auf-
arbeitung, was mit ehrlichem Willen zur Aufklärung we-
nig zu tun hat. So hat Ihre Historische Kommission im
Jahre 2011 auch geschrieben – ich zitiere –: „Für Millio-
nen Menschen in unserem Land“ – also in der Bundesre-
publik – gibt es wegen des geringen Einkommens „die
Reisefreiheit nur auf dem Papier“. Ihre Historikerkom-
mission schreckt also nicht davor zurück, eine Parallele
zu ziehen zwischen dem staatlichen Freiheitsentzug
durch den Unrechtsstaat DDR und dem heutigen Leben
in der freien Bundesrepublik. Das ist nicht nur Ge-
schichtsklitterung, das ist Revisionismus.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Aber es geht noch weiter: Zum 60. Jahrestag des
17. Juni 1953, also im Jahre 2013, schreibt die Historische
Kommission der Linkspartei wörtlich – ich zitiere –:

Obwohl die Befunde der zeitgeschichtlichen For-
schung den sowjetischen Truppen ein maßvolles
Vorgehen bescheinigen, hält sich das Narrativ, die
Unruhen seien „blutig niedergewalzt“ worden.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist denn Ihre historische Auffassung in der CDU? Und bei der CSU?)


Das läuft bei Ihnen unter historischer Aufarbeitung!
Ich möchte daran erinnern: Es wurden am 17. Juni 1953
mindestens 40 Demonstranten erschossen. Die Rote Ar-
mee ist mit Panzern gegen die Menschen angefahren.
Meine Damen und Herren von der linken Aufarbeitungs-
fraktion, das ist ein „blutiges Niederwalzen“ und war
keineswegs „maßvoll“. Ich kann nur sagen: Sie haben da
eine ziemlich tolle Historische Kommission.

Warum erzähle ich das alles? Es hat ja wirklich nichts
mit dem Kanzleramt zu tun. Aber wenn Sie ehrlich sind,
hat Ihr Antrag mit dem Kanzleramt auch nicht viel zu
tun. Es geht Ihnen keineswegs um eine ordentliche wis-
senschaftliche Aufarbeitung; sonst würde Ihnen ja die
Antwort der Bundesregierung genügen, in der klar fest-
gehalten ist, wie alles nun seinen Lauf nehmen wird und
dass es eine wissenschaftliche und eben keine politische
Frage ist.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810321300

Frau Dr. Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage

von Herrn Korte zu?


Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810321400

Nein, ich bin gleich fertig.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Dann haben Sie ein paar Minuten länger!)


Der Antrag entlarvt nur Ihr Verständnis von Ge-
schichtsschreibung. Sie fassen Geschichtsschreibung als
Instrument des Politischen auf, und das gehört eigentlich
ins 19. Jahrhundert. Wir sind da weiter. Die Bundesre-
gierung geht den Weg, den die Geschichtsschreibung in
einer demokratischen und freien Gesellschaft im
21. Jahrhundert geht, und zwar wissenschaftlich fundiert
und nicht politisch motiviert.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich eindeutig vor der Antwort gedrückt! Sie haben sich genauso gedrückt wie das Kanzleramt! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie sollten die Vergangenheit Ihrer Partei ein bisschen aufarbeiten!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810321500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 18/3049 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Kultur und Medien liegen soll.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung auch so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetiket-
tierungsgesetzes

Drucksache 18/4615

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft

(10. Ausschuss)


Drucksache 18/4800





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Der
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4800,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen worden.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Empfehlungen der Vereinten Nationen zur
Behindertenrechtskonvention zügig umsetzen

Drucksache 18/4813
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die-
ser Debatte hat Corinna Rüffer von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810321600

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

verbliebene – so muss man zu dieser Uhrzeit sagen –
Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass Sie noch hier sind.
Oft debattieren wir viel weniger Bedeutsames zu deut-
lich früherer Stunde. Jetzt geht es aber um nicht weniger
als um die Menschenrechte, und die dürfen nicht nur zu
Protokoll gehen.

Woran denken Sie, wenn die Rede davon ist, dass die
Menschenrechtssituation in einem Land besorgniserre-
gend ist? An Syrien, Somalia, Eritrea? Jedenfalls nicht
an Deutschland, oder? Der Fachausschuss der Vereinten
Nationen, der gerade die Umsetzung der Behinderten-
rechtskonvention geprüft hat, sieht das anders. Der Ab-
schlussbericht der internationalen Fachleute ist ein ver-

1) Anlage 2
nichtendes Urteil. Von den insgesamt elf Seiten sind fast
zehn Seiten, also nahezu der gesamte Bericht, gefüllt mit
Verstößen gegen die Konvention und mit Maßnahmen,
wie diese beseitigt werden sollen.


(Kerstin Tack [SPD]: Das ist bei Empfehlungen immer so!)


Ein paar Beispiele daraus – Frau Tack, hören Sie zu –:

Jeder Mensch soll frei entscheiden können, wo er
wohnen will. – Vielen behinderten Menschen wird das
verwehrt, weil Sozialämter die notwendige Unterstüt-
zung nur im Rahmen von Wohnheimen bewilligen. Das
ist unerträglich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem fehlen schon heute 2,5 Millionen barriere-
freie Wohnungen. Geschäfte, Gaststätten und Kinos sind
für Menschen mit Behinderungen oftmals unbetretbar –
wegen ein paar anscheinend unüberwindlicher Stufen.
Politik darf sich nicht weiter davor drücken, auch den
Privaten verbindliche Vorgaben zur Barrierefreiheit zu
machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE])


Jeder Mensch soll über Bildungsweg, Beruf und Ar-
beitsplatz selbstbestimmt entscheiden können. Für viele
Menschen mit Behinderungen ist das eine Illusion. Für
sie ist der Weg von der Förderschule in eine Werkstatt
für behinderte Menschen vorgezeichnet. Wer das nicht
will, muss sehr hart kämpfen, um die nötige Unterstüt-
zung zu erhalten. Hier ist die Politik gefragt, um den
Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Jeder Mensch soll frei über alle Fragen seines tägli-
chen Lebens entscheiden können. –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist für manch einen nur ein schöner Traum; denn in
der Praxis entscheidet oft der rechtliche Betreuer stell-
vertretend für den Betreuten. Hier ist die Politik gefragt,
das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung
durchzusetzen. Allzu oft werden Menschen mit einer
psychischen Behinderung gegen ihren Willen in Psychi-
atrien untergebracht und dort zwangsbehandelt. Das
muss sich ändern. Gemeinsam mit den Ländern, mit Be-
troffenen und Sachverständigen muss der Bund alle nöti-
gen Anstrengungen unternehmen, um das Recht auf
Selbstbestimmung auch für psychisch beeinträchtigte
Menschen umzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und zuletzt: Jeder Mensch soll das Recht haben, zu
wählen. – Eine Selbstverständlichkeit? Behinderten
Menschen, die in allen Angelegenheiten unter rechtli-
cher Betreuung stehen, wird dieses Grundrecht verwei-
gert. Anstatt dass wir, die Parlamentarier und Parlamen-
tarierinnen, gemeinsam die Ausschlusstatbestände aus
den Gesetzen streichen, lässt die Bundesregierung der-
zeit prüfen, ob für bestimmte Personengruppen eine
Wahlfähigkeitsprüfung eingeführt werden sollte.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unerhört!)






Corinna Rüffer


(A) (C)



(D)(B)

Allein, dass man darüber nachdenkt, den Wahlrechtsaus-
schluss rechtssicher festzuzurren, ist nicht zu fassen.
Noch schlimmer ist aber, dass künftig noch mehr Men-
schen das Recht auf politische Teilhabe verlieren könn-
ten. Das wäre ein Schlag gegen die Menschenrechte.
Deshalb muss Andrea Nahles dieses Verfahren umge-
hend stoppen. Darin sind wir alle uns hoffentlich tat-
sächlich einig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
unser Antrag ist darauf gerichtet, die Empfehlungen der
Vereinten Nationen zügig umzusetzen und die Peinlich-
keit eines so schlechten Zeugnisses schnellstmöglich zu
beenden. Zumindest dieses Interesse sollten hier alle tei-
len. Sie haben bisher darauf verzichtet, eigene Vor-
schläge in den parlamentarischen Prozess einzubringen.
Deshalb hoffe ich jetzt auch, dass Sie unserem Vorschlag
folgen werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810321700

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Uwe

Schummer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1810321800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-

gin Rüffer, ich schätze Sie ja, aber ich muss sagen:


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Sie auch, Herr Schummer!)


Ich war auch an den beiden Tagen in Genf dabei. Das
Bild, das Sie gemalt haben, ist falsch. Der Vergleich der
Menschenrechtsverletzungen in Syrien und im Irak mit
dem, was in Deutschland passiert, ist völlig maßlos.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das habe ich nicht gesagt, Herr Schummer!)


Im Gegensatz zu Ihrer Rede war die Staatenprüfung
sachlich. Es wurden Handlungserwartungen ausgearbei-
tet, mit denen wir differenziert arbeiten können.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass die Menschenrechtssituation besorgniserregend ist! Das ist ein Zitat!)


Wir sollten differenziert argumentieren. Nur dann neh-
men wir den Prüfungsausschuss in Genf wirklich ernst.

In den Schlussbemerkungen der meisten Redner im
Prüfungsausschuss wurde uns bescheinigt, dass wir in
Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention auf einem guten Weg sind, dass aber
die Wege und Verfahren insgesamt beschleunigt werden
müssen. Das war eine Kernbotschaft, die uns in der
Schlussaussprache des Prüfungsausschusses mitgeteilt
wurde. Das ist eine Botschaft, die wir politisch aufneh-
men.

Es gab Licht, es gab Schatten. Schatten gibt es mit Si-
cherheit bei der Frage der psychiatrischen Einrichtun-
gen, aber auch bei der Frage der noch nicht vorhandenen
Gleichstellung und Entschädigung behinderter Men-
schen, die in Heimen missbraucht oder misshandelt wur-
den. Wir setzen uns gemeinsam mit den Ländern mit die-
ser Frage auseinander und verhandeln darüber. Wir
müssen durchsetzen, dass es endlich zu einer Entschädi-
gung kommt.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann aber nicht alles sein!)


Es gibt aber auch Licht, beispielsweise beim Nationa-
len Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention mit über 200 Maßnahmen im Bereich
der gelebten Inklusion in unserer Gesellschaft. Deutsch-
land ist nicht die Sahelzone der Inklusion, in der alles
nur wüst und leer ist, so wie Sie, Frau Rüffer, es eben ge-
schildert haben.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Menschenrechtssituation ist besorgniserregend!)


Wir sollten die Wirklichkeit anerkennen und die Leistun-
gen und Fortschritte der letzten Dekade nicht unterschät-
zen.

Inklusion ist – das wissen Sie auch – kein Schalter,
den man umlegt, und schon ist alles so, wie man es sich
wünscht, sondern sie bedarf, wie es der Mainzer Arbei-
terbischof von Ketteler einmal im 19. Jahrhundert for-
mulierte, einer Zustände- und einer Gesinnungsreform.
Das heißt, die Inklusion wächst nach mehr als einem
Jahrhundert der Separierung behinderter Menschen all-
mählich auch in Deutschland, gerade durch den Druck,
der von der UN-Behindertenrechtskonvention ausgeht.
Die Inklusion beginnt, sie ist noch auf Kindesbeinen,
und sie beginnt auch mit den Kindesbeinen. Wir brau-
chen gute Erfahrungen mit Vielfalt in den Kitas, in den
Schulen, in den Hochschulen und in der betrieblichen
Wirklichkeit, damit Inklusionsstärke auch in Deutsch-
land Normalität wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen politische Rahmenbedingungen!)


Bildung ist ein Schlüssel hierfür.

Bundesbildungsministerin Wanka hat ein 500-Millio-
nen-Euro-Programm für die Lehrerausbildung aufgelegt.
Damit sollen schwerpunktmäßig innovative Konzepte
zur Inklusion in der Lehrerausbildung unterstützt und fi-
nanziert werden. Es ist notwendig und sinnvoll, dass die
Bundesländer diese Abschlüsse der Lehrerausbildungen
gegenseitig anerkennen. Projekte, die im Rahmen dieses
Bundesprogramms vom Bildungsministerium gefördert
werden, sind derzeit „Gemeinsam verschieden sein –
Lehrerbildung an der RWTH Aachen“ oder „Heterogeni-
tät und Inklusion gestalten – Zukunftsstrategie LehrerIn-
nenbildung“ an der Uni Köln. Das sind Maßnahmen, die





Uwe Schummer


(A) (C)



(B)

die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Inklusion über
die Lehrerausbildung an allen Schulen und Hochschulen
künftig verstärkt stattfindet.

Der UN-Menschenrechtsausschuss hat den Föderalis-
mus in der Bildung kritisiert. Für uns ist der Föderalis-
mus aber – gerade nach der Diskussion, die ich eben ver-
folgt habe – eine Konsequenz aus der leidvollen
Geschichte eines starken und verhängnisvollen Zentral-
staates. Deshalb hat der Föderalismus für mich eine de-
mokratiestärkende Funktion. Wer den Föderalismus si-
chern will, der muss gemeinsame, vergleichbare
Standards setzen, der braucht die Kooperation der Län-
der in der Bildung und der braucht auch eine Koopera-
tion zwischen Bund und Ländern. Viele Aspekte der
Kritik des UN-Menschenrechtsausschusses am Födera-
lismus und an der mangelnden Inklusion in der Bildung
werden jetzt aufgearbeitet. In allen Bundesländern, ob in
Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen, wer-
den derzeit Inklusionsstärkungsgesetze verabschiedet.
Das sind alles Entwicklungen, die bei der Bewertung in
Genf überhaupt keine Rolle spielten, weil der Prozess
noch in vollem Gange ist.

Die Teilhabe in der Arbeitswelt wird ein Schwer-
punktthema des Teilhabegesetzes und der Richtlinien
sein. Wir wollen beispielsweise die Weiterentwicklung
von Integrationsunternehmen zu Inklusionsunterneh-
men quantitativ, aber auch qualitativ fördern. 1,2 Millio-
nen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung sind
auf dem ersten Arbeitsmarkt, 300 000 in Werkstätten.
Dabei ist ein starker Zugang psychisch kranker Arbeit-
nehmer zu verzeichnen. Was können wir in der betriebli-
chen Gesundheitsprävention tun? Wie können wir
Arbeitsplätze so organisieren, dass psychische Erkran-
kungen erst gar nicht entstehen?

Durchlässigkeit und Differenzierung, das war die
Botschaft aus Genf. Wir sind auf einem guten Weg. Das
war die Aussage des UN-Menschenrechtsausschusses.
Aber wir sollten unsere politischen Maßnahmen be-
schleunigen, und das werden wir auch tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810321900

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Katrin

Werner für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810322000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Am 5. Mai 2005 war der Europäische Protesttag
zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.
Viele Protestaktionen fanden in dieser Woche – genauso
wie in jedem Jahr – statt. Heute reden wir über die
Rechte von Menschen mit Behinderung, und das leider
nicht in der Kernzeit oder in einer Aktuellen Stunde,
sondern zu fortgeschrittener Stunde im Rahmen eines
der letzten Tagesordnungspunkte, bei dem es um einen
Antrag der Grünen geht.
Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert die Gleichheit
vor dem Gesetz für alle Menschen und verbietet Diskri-
minierung. 1949 bestand Artikel 3 Absatz 2 des Grund-
gesetzes lediglich aus fünf Worten: „Männer und Frauen
sind gleichberechtigt“. Menschen mit Behinderung exis-
tierten im Grundgesetz damals noch nicht. Vor 21 Jahren
wurde im Grundgesetz klargestellt, dass es keine Be-
nachteiligungen von Menschen mit Behinderung geben
darf.

Ich möchte es noch einmal sagen: Niemand darf we-
gen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ich finde,
die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes ins Grund-
gesetz ist eine Bürgerrechtserklärung. Die vollumfängli-
che Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in
Deutschland muss diesen Ansatz konsequent verfolgen.
Menschen mit Behinderung werden immer noch massiv
an der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben gehindert. Wer zum Beispiel auf persönliche As-
sistenz angewiesen ist, darf nicht mehr als 2 600 Euro
ansparen. Menschen mit Behinderung leben teils in Son-
derwelten. Ihr Umfeld ist in keiner Weise barrierefrei.

Vor gut sechs Wochen verabschiedete der UN-Aus-
schuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behin-
derungen in Genf seine Empfehlungen zur Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Wir
begrüßen diese Empfehlungen sehr; denn sie zeigen uns
für Deutschland eines ganz deutlich: Wir sind immer
noch meilenweit entfernt von einer inklusiven Gesell-
schaft, in der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichbe-
rechtigt teilhaben kann, egal ob jung oder alt, egal ob mit
Beeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrationshin-
tergrund oder ohne. Der Bundesregierung fehlt nach wie
vor eine Menschenrechtsperspektive. In Genf waren die
Antworten der Bundesregierung meist unkonkret. Bei
Themen der Entwicklungszusammenarbeit wurde keine
einzige Frage konkret beantwortet. Würde die Regierung
aus einem Menschenrechtsbewusstsein heraus agieren,
würde sie die noch offenen Fragen des UN-Ausschusses
endlich konkret beantworten.


(Beifall des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE])


Die Linke sagt: Wir brauchen eine Neufassung der
gesetzlichen Definition von Behinderung als menschen-
rechtsbasiertes Modell. Wir brauchen bessere Maßnah-
men, um Mehrfachdiskriminierung zu bekämpfen. Wir
brauchen einen besseren Gewaltschutz für Frauen mit
Behinderung. Wir brauchen für alle Kinder und Jugend-
lichen Leistungen aus einer Hand und nicht von ver-
schiedenen Ämtern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein inklusives Bildungssystem und einen
inklusiven Arbeitsmarkt und keine Abschiebung in Son-
derwelten, wie zum Beispiel in Werkstätten oder Sonder-
schulen. Wir brauchen eine Reform des Betreuungs-
rechts. Wir meinen, Menschen, die unter Betreuung
stehen, brauchen unterstützende Entscheidungsfindung
und keine ersetzende. Wir brauchen nicht nur im öffent-
lichen, sondern auch im privaten Bereich eine gesetzli-

(D)






Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)

che Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Wir brauchen die
Abschaffung des Ausschlusses vom Wahlrecht für Men-
schen mit Betreuung in allen Angelegenheiten. Das
Wahlrecht ist Bestandteil jeder Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, ist menschen-
rechtswidrig. Vielmehr brauchen wir hier ein barriere-
freies Informationssystem.

In knapp zwölf Monaten muss die Bundesregierung
erneut darüber berichten, was sie zur Umsetzung der
Empfehlungen unternommen hat. Die Hausaufgaben
sind umfangreich. Die ersten sechs Wochen sind verstri-
chen. Geben Sie Ihr Bestes, und fangen Sie morgen an.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810322100

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kerstin Tack

von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1810322200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir 2009
in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ra-
tifiziert haben und sie damit auch für Deutschland für
gültig erklärt haben, da war jedem klar – ganz unabhän-
gig von der Ebene, auf der er sich bewegt, also unabhän-
gig davon, ob er politisch aktiv ist, ob er ehrenamtlich
oder hauptberuflich in der Szenerie arbeitet –: Hier ha-
ben wir eine Mammutaufgabe vor uns, der wir uns mutig
annehmen wollen und müssen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])


Im Jahre 2011 hat die damalige Bundesregierung den
ersten Staatenbericht vorgelegt. Dieser Bericht war
Grundlage der Staatenprüfung in Genf. Es muss auch
einmal gesagt werden, dass dieser Bericht zum Zeit-
punkt der Staatenprüfung bereits vier Jahre alt war und
sich natürlich auf die entsprechenden Maßnahmen be-
zog.

Mittlerweile haben wir in Deutschland die Situation,
dass nicht nur der nationale Bildungsbericht der Bundes-
regierung vorgelegt wurde, sondern dass auch in fast
allen Bundesländern und in vielen Kommunen Aktions-
pläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion erstellt wurden oder auf dem Weg sind. Ich finde, da
kann man nicht sagen, dass die UN-Behindertenrechts-
konvention auf den verschiedenen Ebenen in Deutsch-
land noch keine Beachtung gefunden hat. Vielmehr ha-
ben sich viele auf den Weg gemacht und für ihre
jeweiligen Zuständigkeitsbereiche genau die erforderli-
chen Maßnahmen herausgearbeitet und entsprechende
Konzepte verfasst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Allerdings fehlt noch eine Strategie, die über die ver-
schiedenen Ebenen ein übergreifendes Gesamtumset-
zungskonzept für die UN-BRK zum Ziel hat. Ich glaube,
dass es in den nächsten Jahren wichtig und nötig wird,
die Erstellung einer solchen Gesamtstrategie stärker in
den Fokus zu nehmen. Wir haben auch bei der Staaten-
prüfung gemerkt, dass die Empfehlungen, die sehr stark
und deutlich sind, ganz häufig nicht nur eine Ebene in
ihrer Zuständigkeit ansprechen, sondern genau diese ge-
meinsame Verantwortung für die UN-Behindertenrechts-
konvention verlangen.

Das heißt für uns natürlich, dass wir auf der Bundes-
ebene vieles regeln können. Aber im Sinne einer Verant-
wortungsgemeinschaft brauchen wir auch die Kommu-
nen und die Länder. Gerade wenn es um ein inklusives
Bildungssystem, einen inklusiven Arbeitsmarkt und eine
inklusive Betreuung von Menschen mit Behinderungen
geht – ambulant und stationär, aber auch in der Alten-
hilfe –, ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich.
Hier haben wir uns in dieser Legislaturperiode eine
ganze Menge vorgenommen, um in Deutschland mit
Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention Stück
für Stück voranzukommen.

Erst vorgestern – das hat die Kollegin Werner ange-
sprochen – haben wir beim Europäischen Protesttag zur
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung den bar-
rierefreien Ausbau von Wohnraum und Infrastruktur
zum Thema gehabt. Ich finde es hervorragend, dass die
Bundesregierung in ganz unterschiedlichen Programmen
zur Umsetzung der Anforderungen an barrierefreien
Wohnraum über 5 Milliarden Euro bereitgestellt hat.
Diese Mittel können unter anderem für den barriere-
freien Ausbau genutzt werden. Das, meine Damen und
Herren, ist ein sehr ernst zu nehmender, sehr ehrlicher
Schritt und eine deutliche Unterstützung all derer, die
jetzt einen barrierefreien Umbau oder Ausbau in Angriff
nehmen müssen. Dieser Betrag ist fünfmal so hoch wie
der, den die Kolleginnen und Kollegen von der Links-
fraktion in ihren bisherigen Anträgen von uns gefordert
haben; sie forderten nämlich immer 1 Milliarde Euro.
Wir sind deutlich weiter gegangen. Ich finde, das kann
sich richtig gut sehen lassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auch bei unserem allergrößten Vorhaben, nämlich
eine große Sozialrechtsreform durchzuführen und ein
Bundesteilhabegesetz zu verabschieden, werden wir auf
dem Weg hin zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention sehr deutliche Fortschritte machen. Dadurch
werden wir für diese Personengruppe richtig gute Verän-
derungen auf den Weg bringen können.

Wir machen Schluss damit, dass es für Menschen mit
Behinderungen ein separierendes System gibt. Wir ma-
chen Schluss damit, dass ihnen nur ein separierender Ar-
beitsmarkt zur Verfügung steht. Wir wollen all diejeni-
gen, deren Wunsch es ist und die ihr Wahlrecht gerne
dementsprechend ausüben möchten, den Weg auf den
ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Wir möchten, dass diese





Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)

Menschen nicht in großen Wohnheimen untergebracht
sind, sondern dass sie im Sozialraum, also mitten unter
uns leben – da, wo sie hingehören und wo sie hinwollen.
Es ist Auftrag und Ziel der Bundesregierung, die Rah-
menbedingungen so zu setzen, dass dies endlich möglich
wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber natürlich ist das nicht alles, was wir uns vorge-
nommen haben. Insbesondere wird es um die Frage ge-
hen – dies wird eine ganz große Herausforderung –: Wie
schaffen wir es, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er
den Anforderungen an Inklusivität Rechnung trägt? Es
ist nicht unser Auftrag, für Menschen mit Behinderun-
gen als ausschließliche Arbeitsform Werkstätten für
Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen.
Wir möchten die Integrationsbetriebe viel stärker aus-
bauen und den Menschen die Gelegenheit geben, sozial-
versicherungspflichtig und mindestlohnrelevant auf dem
ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und wann machen Sie das?)


– Sie werden sehen: Bereits in Kürze wird Ihnen ein ent-
sprechender Vorschlag von uns vorliegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann machen Sie das?)


Auch was die Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rungen angeht, sind wir ein großes Stück vorangekom-
men, insbesondere beim Zugang zur Demokratie. Damit
bin ich beim Petitionsrecht. Gerade bei dieser Möglich-
keit der Beteiligung am Parlamentarismus gibt es noch
eine ganze Menge Barrieren. Der Bundestag hat sich
vorgenommen, diese abzubauen. Das ist auch sein Auf-
trag.


(Beifall bei der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie reden jetzt nicht über Ihre Vorschläge zum Petitionsrecht, oder?)


Die allergrößten Barrieren – daran kann kein Gesetz
etwas ändern – sind die Barrieren in den Köpfen. Man-
che Menschen glauben noch immer, dass man Menschen
mit Behinderungen am besten schützt, indem man sie
sehr individuell und abgeschottet in ein Fördersystem
steckt. Wir sagen dazu Nein. Wir haben den Auftrag, ge-
nau diese Hürden durch Bewusstseinsbildung zu über-
winden. Das ist unser Auftrag.

Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Staa-
tenprüfung haben uns wichtige Hinweise mit auf den
Weg gegeben. Wir sind dankbar für diese Hinweise, weil
wir in der politischen Arbeit eine Menge Unterstützung
bekommen, wenn wir auch mit einem internationalen
Auftrag zur Umsetzung argumentieren können. Das neh-
men wir mutig an. Auf geht‘s!

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810322300

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Frau

Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810322400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Fachausschuss für
die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Pro-
bleme in Deutschland benannt und Empfehlungen gege-
ben. Um ehrlich zu sein: Ich war schon überrascht von
der Radikalität des Papiers. Da folgen ganzen sechs Zei-
len mit positiven Aspekten ganze zehn Seiten mit Miss-
ständen und Aufforderungen.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist schon bemerkenswert!)


Wenn man das Papier liest, hat man den Eindruck, der
Prozess der Inklusion in Deutschland stehe ganz am An-
fang und es sei bisher schlichtweg nichts passiert. Ich
meine, dass das auch den vielen Menschen nicht gerecht
wird, die sich jeden Tag beruflich oder auch ehrenamt-
lich für Behinderte einsetzen.

In vielen dieser Empfehlungen aus Genf schwingen
pauschale Urteile mit, die mit der heutigen Behinderten-
hilfe in Deutschland nicht mehr viel zu tun haben. Die
Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behin-
derungen und von Förderschulen zu fordern, mag in ein
theoretisches Konzept von Inklusion gut passen. Prak-
tisch passt es aber nicht, vor allem nicht für die Gesamt-
heit der betroffenen Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, dass 85 Prozent der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen gehen?)


Wir sprechen hier über gewachsene Strukturen und
Einrichtungen in unserem Land. Ich bin sicher: Nicht
alle diese Strukturen und Einrichtungen sind auf einmal
schlecht.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810322500

Frau Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Rüffer zu?


Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810322600

Ja. – Bitte, Frau Rüffer.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810322700

Frau Freudenstein, das hört sich jetzt ein bisschen so

an, als wären Sie der Meinung, dass Werkstätten für be-
hinderte Menschen inklusive Einrichtungen wären. Mich
würde jetzt schon interessieren, was Ihre Haltung dazu
ist.

Was sagen Sie dazu, dass 85 Prozent aller Mittel aus
der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen flie-
ßen? Was hat das mit Personenzentrierung zu tun? Was
hat das mit Inklusion zu tun? Sind Sie wirklich der Mei-
nung, dass wir schon so weit sind, wie Sie suggerieren?
Ich kann mir das nicht vorstellen.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1810322800

Ich meine tatsächlich, dass wir, wenn es um das Wohl

der Menschen mit Behinderungen geht, in allererster Li-
nie nicht über das Geld reden sollten, wie Sie das tun,


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja billig! Das habe ich nicht getan! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat sie nicht getan!)


sondern dass wir einmal schauen sollten, was die Men-
schen eigentlich wollen, wie sie leben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen sind die Zugänge zu den Werkstätten
rückläufig.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt auch nicht!)


– Doch! Dass mehr Menschen in Behindertenwerkstät-
ten arbeiten, liegt daran, dass die Lebenserwartung
steigt, und nicht daran, dass mehr behinderte Menschen
in Behindertenwerkstätten arbeiten wollen.

Ich meine in der Tat, dass Werkstätten für Menschen
mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben ge-
währleisten. Ich meine nicht, dass alle 300 000 Männer
und Frauen, die dort beschäftigt sind, in Sonderwelten
leben. Ich glaube, damit täte man den Menschen Un-
recht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich mit Ihrem Koalitionspartner auseinandersetzen! Vielen Dank!)


Es gab so viele Veränderungen im Denken und in der
Politik der vergangenen 60 Jahre, und es gab auch viele
Veränderungen in den Einrichtungen der Behinderten-
hilfe,


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das geht nicht zusammen!)


und dieser Prozess hat sehr lange vor der Verabschie-
dung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen –
Gott sei Dank!

Werkstatt bedeutet meiner Meinung nach tatsächlich,
nicht mehr in einer Sonderwelt zu arbeiten. Es gibt Au-
ßenarbeitsplätze. Das sind natürlich viel zu wenige;
keine Frage. Aber es werden mehr. Es gibt Integrations-
firmen, und es gibt das Budget für Arbeit, das in vielen
Bundesländern in Anspruch genommen werden kann.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! In Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, aber sonst nicht! Das stimmt doch nicht!)


Eine Öffnung der Einrichtungen hat bereits stattge-
funden. Das gilt auch für die Förderschulen, Kollegin
Rüffer, die vielerorts längst zu mobilen Förderzentren
geworden sind und Partnerklassen oder einzelinkludierte
Kinder in Regelschulen betreuen.

Natürlich läuft vieles nicht optimal. Natürlich müssen
wir unser System immer und immer wieder verbessern.
Natürlich muss der Prozess der Inklusion politisch be-
schleunigt und unterstützt werden. Aber was ich meine,
ist: Wir sollten auf guten Strukturen aufbauen, statt sie
niederzureißen. Ich meine, wir sollten die Strukturen er-
gänzen, statt sie gegeneinander auszuspielen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir wollen die Strukturen weiterentwickeln!)


Die Vehemenz, mit der Deutschland in den Empfeh-
lungen des UN-Ausschusses als rückständig dargestellt
wird, stört mich in der Tat. Selbst Sie von den Grünen
trauen sich in Ihrem Antrag nicht, die Forderungen des
Fachausschusses eins zu eins zu übernehmen, und das
völlig zu Recht; denn sie sind radikal und in weiten Tei-
len einseitig.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollten Ihnen eine Chance geben, zuzustimmen!)


Der Antrag enthält einerseits Forderungen, die mo-
mentan im Rahmen der Erarbeitung des Bundesteilhabe-
gesetzes behandelt werden. Wir werden zum Beispiel
Anreize schaffen, um mehr Beschäftigungsmöglichkei-
ten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Wir
setzen also durchaus Forderungen des Fachausschusses
um. Wir wollen das aber mit den Betroffenen tun, und
deshalb geht das auch nicht von heute auf morgen.

Der Antrag enthält andererseits aber auch Forderun-
gen, die reichlich wirklichkeitsfern und ideologienah
sind, etwa die Erhebung der Deinstitutionalisierung zum
Königsweg der Inklusion. Sie schreiben, dass der ge-
schützte Raum für manche Menschen mit Behinderung
nicht der richtige Weg sei, und das stimmt. Es gibt viele
– gerade auch jüngere Menschen –, die ihr Leben mit
Handicap gut alleine organisieren können, wenn sie nur
hie und da Unterstützung bekommen.

Ich sage aber auch: Es gibt auch Menschen, für die
gerade dieser geschützte Raum einer Einrichtung wich-
tig ist. Sie wollen ihn, oder sie brauchen ihn. Ich habe
viele Werkstätten für Menschen mit Behinderungen be-
sucht. Da war von den Menschen sehr viel Positives zu
hören. Selbst die beiden jungen Männer – die ich be-
sucht habe –, die einen Außenarbeitsplatz bei einer Me-
tallfirma haben, wollen weiterhin den Kontakt zu ihrer
Werkstatt der Lebenshilfe.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 180 Euro pro Monat bei 35 Stunden pro Woche arbeiten!)


Es gibt also nicht den einen Königsweg, sondern für
jeden einzelnen Menschen gibt es einen eigenen Königs-
weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Vorstellung von Inklusion hat nichts mit dem
Wegreden von Verschiedenheit zu tun, sondern sie hat
mit Individualisierung zu tun. Was zählt, ist der Mensch.

Danke schön.





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810322900

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4813 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit rufe ich Zu-
satzpunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

zum Grünbuch
Schaffung einer Kapitalmarktunion
KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15
hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens der Europäischen Kom-
mission
Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der
Drucksache 18/4807. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Wer
enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Dann ist der An-
trag mit den Stimmen der Koalition angenommen wor-
den.

1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf
gegenseitigem Respekt begründen

Drucksache 18/4799
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Auch hier sehe ich, dass Sie damit einver-
standen sind.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4799 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist auch der Fall. Dann ist das so ge-
schehen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Debatte.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 8. Mai 2015, ein, und
ich erinnere daran, dass die morgige Plenarsitzung auf-
grund der hier im Plenarsaal stattfindenden Gedenkver-
anstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des
Zweiten Weltkrieges erst um 10.30 Uhr beginnt.

Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
einen schönen Abend.