2) Anlage 4
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9909
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.05.2015
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.05.2015
Becker, Dirk SPD 07.05.2015
Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 07.05.2015
Ehrmann, Siegmund SPD 07.05.2015
Dr. Fabritius, Bernd CDU/CSU 07.05.2015
Hartmann (Wackern-
heim), Michael
SPD 07.05.2015
Hintze, Peter CDU/CSU 07.05.2015
Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 07.05.2015
Dr. Kofler, Bärbel SPD 07.05.2015
Lotze, Hiltrud SPD 07.05.2015
Motschmann, Elisabeth CDU/CSU 07.05.2015
Müntefering, Michelle SPD 07.05.2015
Nietan, Dietmar SPD 07.05.2015
Pflugradt, Jeannine SPD 07.05.2015
Rawert, Mechthild SPD 07.05.2015
Dr. Rosemann, Martin SPD 07.05.2015
Roth (Heringen),
Michael
SPD 07.05.2015
Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.05.2015
Schlecht, Michael DIE LINKE 07.05.2015
Steinbrück, Peer SPD 07.05.2015
Strothmann, Lena CDU/CSU 07.05.2015
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.05.2015
Zertik, Heinrich CDU/CSU 07.05.2015
Zimmermann
(Zwickau), Sabine
DIE LINKE 07.05.2015
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Rindfleischetikettierungsgeset-
zes (Tagesordnungspunkt 15)
Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Vor 15 Jahren ver-
setzten Bilder von an BSE erkrankten Rindern die Ver-
braucherinnen und Verbraucher in ganz Europa in Angst
und Schrecken. Der sogenannte Rinderwahnsinn, der in
torkelnden, aggressiven oder stürzenden Kühen auf
grausam anschauliche Weise sichtbar wurde, und insbe-
sondere der Verdacht des Auslösens der Creutzfeldt-
Jakob-Krankheit beim Menschen, verunsicherte nach
Auftreten der ersten BSE-Fälle auch in Deutschland die
Bevölkerung erheblich. Maßnahmen wurden schnell er-
griffen. Eine Folge der BSE-Krise ist, dass seit dem
1. September 2000 in allen Mitgliedstaaten der EU die
Verpflichtung zur Rindfleischetikettierung besteht, um
die Herkunft des Rindfleischs transparent zu machen.
Von der Ladentheke über sämtliche Stufen der Vermark-
tung bis hin zum Einzeltier bzw. einer Gruppe von Tie-
ren sollte jedes Stück Rindfleisch zurückverfolgbar sein.
Dazu werden die Tiere seither gleich nach der Geburt
mit zwei identischen Lebendohrmarken gekennzeichnet
und mit einer Ohrenmarkennummer registriert, über die
das lebende Rind jederzeit identifiziert werden kann.
Nach der Schlachtung dann wird die Rückverfolgbarkeit
über die Etikettierung gewährleistet, die vom Schlacht-
hof bis zum Einzelhandel auf frischem, gekühltem oder
gefrorenem Rindfleisch sowie Hackfleisch, für verpack-
tes oder unverpacktes Fleisch erfolgt. Obligatorisch
müssen dabei angegeben werden: eine Referenznummer
oder ein Referenzcode, mit dem die Verbindung zwi-
schen Fleisch und Tier gewährleistet wird, die Zulas-
sungsnummer des Schlachthofs sowie der Staat, in dem
der Schlachthof liegt, die Zulassungsnummer des Zerle-
gebetriebes sowie der Name des Staates, in dem der Be-
trieb liegt, und der Staat bzw. die Staaten, in denen Ge-
burt und Mast des Rindes erfolgten.
Darüber hinaus konnten bisher zusätzlich freiwillige
Angaben, zum Beispiel zu regionaler Herkunft, Rasse,
Kategorie oder Bedingungen der Erzeugung des Flei-
sches gemacht werden, wenn durch die Bundesanstalt
für Ernährung und Landwirtschaft das eigene Etikettie-
rungssystem genehmigt wurde, oder in einer Organisa-
tion, deren Etikettierungssystem genehmigt wurde eine
Mitgliedschaft bestand. Mit der Gesetzesänderung, die
wir heute Abend beschließen, wird das System der fa-
kultativen Etikettierung von Rindfleisch abgeschafft.
Freiwillige Angaben der Marktbeteiligten zum Rind-
fleisch bleiben zwar möglich, müssen künftig aber nicht
mehr im Vorhinein genehmigt werden. Sie müssen künf-
tig lediglich den horizontalen, allgemein geltenden Vor-
schriften entsprechen. Wir setzen damit 1:1 geändertes
EU-Recht in nationales Recht um.
Anlagen
9910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Die Verpflichtung zur obligatorischen Herkunfts-
kennzeichnung von Rindfleisch dagegen bleibt unverän-
dert bestehen. Die Kontrollzuständigkeit wird zukünftig
aber vollständig auf den Bund übertragen und von der
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung wahr-
genommen. Damit verbessern wir die Funktionsfähig-
keit der Kontrollen. Die bisher zwischen Bund und Län-
dern geteilte Zuständigkeit hat sich aufgrund größerer
Reibungsverluste bei der Feststellung der Zuständigkeit
nicht bewährt. Die Mehrzahl der Betriebe wird zudem
bereits jetzt durch den Bund kontrolliert.
Gleichzeitig werden die Aufgaben des Bundes ver-
schlankt, da dieser dann keine privaten Kontrollstellen
mehr anerkennen muss, die bisher von den Ländern be-
auftragt wurden. Dies vereinfacht zum einen den Ver-
waltungsaufwand und stärkt zum anderen die Effektivi-
tät. Darüber hinaus entspricht die Vereinfachung der
Rechtsvorschriften übrigens auch einer nachhaltigen
Entwicklung.
Zudem wird es in Zukunft leichter möglich sein, länder-
übergreifende Betrugsfälle im Bereich der Rindfleischeti-
kettierung zu bekämpfen. Schnelle Überprüfungen kön-
nen nunmehr auch über Ländergrenzen hinweg erfolgen.
Insgesamt wird dadurch der gesundheitliche Verbrau-
cherschutz gestärkt und dazu beigetragen, dass sich die
Verbraucherinnen und Verbraucher gesund ernähren
können. Es ist daher gut, dass dieses bewährte und er-
folgreiche Transparenz- und Überwachungssystem, wel-
ches das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumen-
ten in Rindfleisch nach der BSE-Krise wiederhergestellt
hat, durch die gesetzliche Anpassung noch effektiver
und effizienter wird.
Rita Stockhofe (CDU/CSU): Das Vierte Gesetz zur
Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes setzt
geändertes EU-Recht in nationales Recht um. Die Ver-
pflichtung zur obligatorischen Herkunftskennzeichnung
von Rindfleisch bleibt unverändert bestehen. Die Zu-
ständigkeit für die Kontrolle der obligatorischen Anga-
ben sollen vollständig dem Bund übertragen und von der
Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft wahr-
genommen werden. Durch eine Verwaltungsvereinfa-
chung und Effektivitätsvereinfachung wird das Bürokra-
tieabbaugebot umgesetzt.
Die Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch gibt es ja
schon lange. Die wenigsten Verbraucher und somit Ge-
nießer wissen, wie das gewährleistet wird: Schon wenn
ein Kalb geboren wird, erhält es den sogenannten Tier-
pass. Gleichzeitig wird in jedes Ohr eine Ohrmarke ein-
gezogen, auf der ein Strichcode und eine Nummer ange-
geben sind. Wenn eine dieser Ohrmarken verloren wird,
muss sie umgehend ersetzt werden. Gleichzeitig müssen
alle wichtigen Angaben wie Geburtstag, Geschlecht und
Mutter in eine Datenbank eingegeben werden. Wenn die-
ses Kalb dann irgendwann den Betrieb verlässt, muss
dieser Vorgang als Abgang in dieser Datenbank ver-
merkt werden, genauso wie jeder Zugang. Auch die
Viehhändler und Schlachthöfe müssen diese Datenbank
pflegen.
Auch innerhalb des Schlachthofes muss jedes
Fleischstück zu jeder Zeit den entsprechenden Daten zu-
geordnet werden können. Diese Kette wird bis zur
Fleischtheke weitergeführt.
Von einigen Seiten werden immer noch weitere Kenn-
zeichnungsvorschriften gefordert. Wenn man sich im
Detail mit solchen Forderungen auseinandersetzt, wird
allerdings häufig klar, dass viele Verbraucher sich nicht
umfassend informiert fühlen. Häufig wissen sie aber
auch nicht, welche Vorgaben bereits bestehen.
Der Verbraucher hat einen Anspruch auf Wahrheit
und Klarheit. Beim Gang durch den Supermarkt kann
dem Verbraucher schwindelig werden angesichts der
Vielzahl an Produkten und Werbeversprechen.
Um es sich einfach zu machen und ein gutes Gewis-
sen beim Einkauf zu haben, greifen viele Verbraucher
gerne zu den Bioprodukten. Doch Fakt ist, was alles un-
ter dem Biosiegel in den Regalen zu finden ist, hat oft
nichts mit ländlicher, reiner, handwerklicher Herstellung
zu tun, die so gerne suggeriert wird. Lassen Sie mich ein
Beispiel nennen: Immer wieder gerne wird der Begriff
der Massentierhaltung angeführt, wenn über die konven-
tionelle Tierhaltung gesprochen wird. Zum einen gibt es
bislang keine abgestimmte Definition für eine soge-
nannte Massentierhaltung. In Umfragen empfinden
Verbraucher häufig schon Ställe mit 100 Tieren als
„Massentierhaltung“. Dennoch erlaubt die EU-Biover-
ordnung erstaunlich große Herden, beispielsweise dür-
fen bis zu 3 000 Legehennen zusammen gehalten wer-
den, bis zu sechs Hühner teilen sich einen Quadratmeter.
Als Auslauffläche genügen vier Quadratmeter pro Tier,
aber der Bauer hat einen großen Ermessensspielraum: Er
muss die Tiere auf diese Fläche nur schicken, wenn „die
klimatischen Verhältnisse es zulassen“.
Das Tierwohl hängt nicht davon ab, ob ein Landwirt
10, 500 oder 2 000 Tiere hält. Entscheidend ist das Tier-
wohl jedes einzelnen Tieres, nicht in erster Linie die Ge-
samtzahl.
Hierfür ist maßgeblich, wie der Betrieb geführt wird,
ob Tiere regelmäßig versorgt werden und wie sich die
Qualität der Stallanlagen darstellt, und nicht, ob es ein
Biohof oder ein konventionell betriebener Hof ist.
Für mehr Transparenz sorgt auch die im Dezember
2014 auf den Weg gebrachte Lebensmittelinformations-
verordnung mit mehr Klarheit bei Klebeschinken, Trans-
parenz bei Allergenen, Hinweise auf Energydrinks, Infos
zu Einfrierdatum und Nanomaterialien sowie einheitli-
che Bedingungen für den freien Warenverkehr.
Dies ist ein weiterer Meilenstein für mehr Klarheit
und Wahrheit bei der Aufmachung und Kennzeichnung
von Lebensmitteln und sorgt an vielen Stellen dafür,
dass die Menschen besser erkennen, was in den Lebens-
mitteln enthalten ist. Ab Dezember 2016 wird auch die
einheitliche Angabe von Nährwerten für vorverpackte
Lebensmittel verpflichtend.
Wir haben schon viel auf den Weg gebracht und wer-
den noch mehr zur besseren Information der Verbraucher
tun, beispielsweise will das Europäische Parlament, dass
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9911
(A) (C)
(D)(B)
auch die Ursprungskennzeichnung von Fleisch in verar-
beiteten Lebensmitteln vorgeschrieben wird.
Aufpassen müssen wir allerdings auch, dass die Ver-
braucher nicht mit Informationen überladen werden. Ich
halte es deshalb für eine gute Idee, alle Informationen zu
einem Produkt in einem QR-Code aufzulisten. Schon im
Supermarkt könnten Kunden sich dann per Smartphone
über das jeweilige Produkt informieren. Hierfür müssten
sie einfach den Code auf der Verpackung einscannen.
Idealerweise bietet jeder Supermarkt zukünftig einen
Scanner für die Kunden an, die kein Smartphone besit-
zen.
Ich bin Mitglied im Petitionsausschuss und lese dort
häufig Forderungen von Petenten, die seit Jahren umge-
setzt werden. Deshalb appelliere ich hier an dieser Stelle.
Wenden Sie sich bei Fragen, aber auch bei Forderungen,
an die Praktiker. Gehen Sie zum Erzeuger, fragen Sie
beim Fleischer, auf Bauernhöfen oder Wochenmärkten.
Dort kann man Ihnen berichten, wie die Praxis aussieht.
Nur wenn wir im Dialog zwischen Verbrauchern und
Herstellern bleiben, kann auch ein guter Informations-
austausch stattfinden. Und das ist die Basis für ein gutes
Miteinander und beugt Misstrauen, das häufig durch
Nichtwissen, aber auch durch fehlgeleitete Informatio-
nen besteht, vor.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Viertes Gesetz zur
Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes“. Ich
weiß: Man möchte erst einmal spontan einschlafen,
wenn man das hört. Aber halt! Bei der Rindfleischetiket-
tierung handelt es sich um ein System der Herkunfts-
kennzeichnung für Fleisch. Und das ist ein Thema, das
uns und die Verbraucherinnen und Verbraucher mächtig
bewegt.
Die Menschen wollen zu Recht wissen, wo ihr Fleisch
herkommt. Leider erfahren sie das im Moment nur,
wenn sie es als Steak oder Hackfleisch kaufen, nicht
aber, wenn es bereits zu Lasagne oder Fleischsalat verar-
beitet wurde. Das muss sich ändern. Und die Technik,
die von Unternehmen aufgebaut wurde, um die Vorga-
ben des Rindfleischetikettierungsgesetzes zu erfüllen –
die kann das möglich machen.
Aber eins nach dem anderen.
Warum gibt es das Gesetz überhaupt, über das wir
heute reden?
Die BSE-Krise Anfang der 2000er erschütterte das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in
Rindfleisch massiv. Daraufhin ist EU-weit ein transpa-
rentes System der Herkunftskennzeichnung für Rind-
fleisch eingeführt worden. Die Ohrmarkennummer der
Tiere werden in Datenbanken eingegeben, und fortan ist
nachvollziehbar, wo die Tiere geboren, gemästet, ge-
schlachtet und zerlegt worden sind. Diese Angaben sind
Pflicht. Über die Verpackung können das deshalb auch
Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehen. Wei-
tere freiwillige Angaben – zum Beispiel zur Herkunfts-
region – dürfen ebenfalls gemacht werden.
Was ändert sich jetzt?
Wir müssen das Rindfleischetikettierungsgesetz an
geänderte EU-Vorgaben anpassen.
Die freiwilligen Angaben mussten bisher von der
Bundesanstalt für Ernährung, kurz BLE, genehmigt wer-
den. Die Betriebe mussten bisher auch die Systeme, die
sie zur Rückverfolgung installiert haben, von der BLE
zertifizieren lassen. Beides entfällt jetzt. Das ist auch in
Ordnung, denn die Systeme sind inzwischen installiert
und erprobt. Beides wird aber selbstverständlich weiter-
hin von der Lebensmittelüberwachung überprüft. Alle
Angaben auf der Verpackung müssen nach wie vor stim-
men und objektiv nachvollziehbar sein.
Die Stellen, die bei der BLE dadurch frei werden, ge-
hen in die Überwachung. Denn die dritte wichtige Neue-
rung ist, dass die Kontrolle der Rindfleischetikettierung
und Rückverfolgbarkeit nun vollständig auf die BLE,
also den Bund, übergeht. Vorher teilte der Bund sie mit
Ländern und privaten Kontrollstellen. Damit ist die
Überwachung in einer Hand. Reibereien um Zuständig-
keiten haben ein Ende.
So viel zum Rindfleisch. Es wird viele Verbraucherin-
nen und Verbraucher beruhigen, dass es gut überwacht
ist und sie an der Fleischtheke nachvollziehen können,
wo es herkommt.
Das können sie seit April dieses Jahres übrigens auch
bei Schweine-, Schaf-, Geflügel- und Ziegenfleisch. Sie
können es aber – ich sagte es eingangs – leider immer
noch nicht beim schon panierten Schnitzel, Hühnchen-
burger oder Fleischsalat. Die Kolleginnen und Kollegen
im EU-Parlament haben die Kommission im Februar
aufgefordert, endlich einen Gesetzesvorschlag vorzule-
gen, der die Herkunftsangabe auch bei verarbeitetem
Fleisch vorschreibt.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im
Bundestag unterstützen diese Forderung. Wir haben im
Koalitionsvertrag auch vereinbart, dass sich unsere Bun-
desregierung dafür in Brüssel einsetzen soll. Noch war-
ten wir darauf, dass das passiert. Minister Schmidt –
übernehmen Sie!
Dabei zeigt die Rindfleischetikettierung: Es geht. Die
Unternehmen sind – selbstverständlich – in der Lage,
Systeme aufzubauen, mit deren Hilfe sie Fleisch lücken-
los zurückverfolgen können. Diese Technik, diese Sys-
teme und auch die Erfahrungen aus der Überwachung
können und müssen wir nutzen, um endlich umfassende
Transparenz über die Herkunft von Fleisch zu schaffen.
Dass das Lasagne und Co. massiv verteuern würde,
ist eine Ausrede. Die Zahlen, auf denen diese Ausrede
basiert, stammen von der Lebensmittelwirtschaft. Eine
französische Verbraucherorganisation hat dagegen aus-
gerechnet, dass es nur zu Preissteigerungen von ein bis
zwei Prozent kommen würde. Das ist zu verkraften.
Schon allein deshalb, weil es wirklich alle Unternehmen
zwingt, funktionierende Systeme der Rückverfolgbarkeit
aufzubauen. Mehr Transparenz bedeutet mehr Lebens-
mittelsicherheit.
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wo
das Fleisch in der Lasagne herkommt. Wir müssen dafür
9912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
sorgen, dass sie diese Informationen endlich auch be-
kommen.
Karin Binder (DIE LINKE): Mit dem hier vorliegen-
den Gesetz zur Änderung der Etikettierung von Rind-
fleisch wird im Wesentlichen eine Vereinfachung für die
Betriebe vorgenommen. Das ist sinnvoll und findet un-
sere Unterstützung.
Die dafür erforderlichen Kontrollaufgaben sollen
vollständig auf den Bund übertragen werden. Auch das
ist überaus sinnvoll. Die Linksfraktion fordert seit lan-
gem, dass der Bund mehr Verantwortung bei der behörd-
lichen Überwachung im Lebensmittelbereich über-
nimmt.
Der Grund liegt auf der Hand: Das Lebensmittelrecht
ist fast vollständig EU-einheitlich geregelt. Doch in
Deutschland sind über 400 Kontrollbehörden zuständig,
zersplittert und verteilt auf Bundesländer und Kommu-
nen. Dem gegenüber stehen globalisierte Lebensmittel-
konzerne, die Zutaten weltweit zusammenkaufen und
europaweit vermarkten. Hinzu kommt: Lebensmittel
werden zunehmend im Internet angeboten. Ich frage Sie:
Welche Gemeinde und welcher örtliche Lebensmittel-
kontrolleur soll hier zuständig sein? Die Linke sagt: Der
Bund muss bei überregionalen und internationalen Un-
ternehmen die Verantwortung für die Lebensmittelüber-
wachung haben.
Ärgerlich ist, dass sich diese Bundesregierung einmal
mehr um eine vollständige Ursprungskennzeichnung bei
Fleisch herumdrückt. Denn dabei geht es um ein Kern-
anliegen des Verbraucherschutzes und um die Glaubwür-
digkeit der ganzen Fleischbranche. 90 Prozent der Ver-
braucher halten eine Ursprungsangabe bei allen
Fleischprodukten für notwendig, damit sie eine selbstbe-
stimmte Kaufentscheidung treffen können.
Auch das EU-Parlament fordert deshalb eine ver-
pflichtende Herkunftskennzeichnung von verarbeitetem
Fleisch. Das ist unverzichtbar für glaubwürdige Verbrau-
cherinformationen. Nach zahlreichen Verstößen und
Skandalen ist dieser Schritt das Mindeste, um das Ver-
trauen der Verbraucher – auch in die Behörden – wieder-
herzustellen.
Ein konsequentes Rückverfolgbarkeitssystem trägt
maßgeblich dazu bei, Verstöße gegen Lebensmittelvor-
schriften aufzudecken und zu verhindern. Im Vergleich
zu diesem Nutzen sind die zusätzlichen Kosten von etwa
2 Prozent zu vernachlässigen.
Abschließend noch ein Hinweis zur Frage, ob das
Rindfleischetikettierungsgesetz „nachhaltig“ ist. Der
Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung
weist in seiner Stellungnahme zu diesem Gesetz darauf
hin, dass der Nachhaltigkeitsbegriff durch die Bundesre-
gierung gern und häufig und nicht immer sinnvoll ver-
wendet wird. Die Bundesregierung erklärt dann auch,
dass dieses Gesetz einer nachhaltigen Entwicklung
dient, weil Vorschriften vereinfacht werden. Das Zusam-
menstreichen von Rechtsvorschriften an sich ist keine
Maßnahme der Nachhaltigkeit. Gerade im Tierschutz,
im Umweltschutz und im Verbraucherschutz geht es da-
rum, wirksame Vorschriften zu erlassen – auch wenn sie
für die Wirtschaft nicht immer zu Vereinfachungen füh-
ren.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Torkelnde, stürzende Kühe, brennende Rinderka-
daver und zerfressene Gehirne, verunsicherte Verbrau-
cher, bestürzte Politiker – der Rinderwahnsinn vom
Jahre 2000 ist uns allen noch gut im Gedächtnis geblie-
ben. Eine der vielen Sofortmaßnahmen damals war der
Beschluss des Rindfleischetikettierungsgesetzes, wel-
ches ein System der Herkunftssicherung für Rindfleisch
schaffen sollte. Rindfleisch sollte EU-weit von der Be-
dientheke über alle Vermarktungs- und Erzeugungsstu-
fen bis zu einer Gruppe von Tieren zurückverfolgt
werden können. Das war damals ein Gewinn für den
Verbraucherschutz und schuf Transparenz über die Her-
stellung von tierischen Erzeugnissen. Vor allem war es
notwendig angesichts der Situation und der Gefahren,
die mit dem System der Haltung und Fütterung von Tie-
ren verbunden waren. Ein System, in dem Tiere zu den
Abfallverwertern der industriellen Schlachtkörperver-
wertung und anderer industrieller Abfälle degradiert
wurden.
Für das damalige Problem wurden so Lösungen ge-
funden, die sinnvoll waren. Was damals gut war, gilt
heute als nicht schlecht. Aber wo stehen wir heute? Hat
sich an dem System, in dem Tiere gehalten werden,
etwas verändert? Hat sich die Transparenz über die Her-
kunft tierischer Erzeugnisse verbessert? Hat die Etiket-
tierung zum Beispiel verhindert, dass wir 2013 in unse-
rer Lasagne Pferdefleisch kosten durften oder dass die
fleißigen Ikea-Gänger auf die schwedischen Köttbullar
verzichten mussten? Nein, das nicht. Aber ich denke, zu-
mindest hat sich ein Bewusstsein gebildet, zumindest hat
sich eine Offenheit entwickelt, über Probleme zu spre-
chen und nach Lösungen zu suchen.
Die Herausforderungen vor 15 Jahren waren andere
als heute. Heute führen wir eine Debatte, die sich weiter-
entwickelt hat. Heute müssen wir weiter gehen. Das Gut-
achten des wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik
hat das gezeigt. Gestern haben wir im Agrarausschuss
mit Herrn Professor Grethe über die Konsequenzen da-
raus gesprochen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich der
gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit von
Änderungen in der Tierhaltung weiterentwickelt hat. Die
Gräben, die vorhanden waren, beginnen sich zu schlie-
ßen.
Die Herausforderungen sind groß. Es gibt viel zu tun.
Eine reine Etikettierung reicht heute deshalb nicht mehr
aus. Notwendig ist eine hundertprozentige Transparenz
über die Art und Weise der Haltung von Tieren, damit
der Verbraucher eine Orientierung hat und nach eigenem
Wissen und Gewissen entscheiden kann und entscheiden
soll. Außerdem darf der Weg vom Produzenten über
Händler und Weiterverarbeiter hin zum Endverbraucher
keine Lücken oder Möglichkeiten des Betrugs zulassen.
Wir begrüßen die Weiterentwicklung des Rindfleisch-
etikettierungsgesetzes. Es führt zu einer Effektivitätsstei-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9913
(A) (C)
(D)(B)
gerung und verhindert landesgrenzenüberschreitende
Betrugsfälle. Doch wir fordern mehr:
Wir brauchen eine Kennzeichnung von frischem und
auch verarbeitetem Fleisch: Es muss klar nachvollzieh-
bar sein, woher jedes Fleisch kommt, das sich im Handel
befindet, egal ob Frischfleisch oder Raviolifüllung –
oder in der Lasagne. „Nur wer gut informiert ist, kann
bewusst entscheiden“, mit dieser Devise hat Bundes-
minister Christian Schmidt im Rahmen der Infokampa-
gne zur Lebensmittelkennzeichnung agiert. Doch wie,
verehrter Herr Schmidt, soll der Otto Normalverbrau-
cher an der Ladentheke entscheiden können? Da hilft
auch Ihr nettes, kleines Broschürchen „Kennzeichnung
von Lebensmitteln“ nicht wirklich weiter, wenn es um
die Herkunft und Haltungsverfahren geht.
Um dem Verbraucher einen guten und vor allem ein-
fachen Überblick zu geben und die Wahlmöglichkeit
zwischen unterschiedlichen Qualitäten und Herkünften
zu ermöglichen, braucht es ein Gesetz zur klaren Defini-
tion von Haltungsverfahren bei Rindfleisch, um die Ent-
scheidung beim Kauf zumindest von Rindfleisch wieder
nachvollziehbarer und strukturierter zu gestalten. Es
braucht ein Konzept mit der Kennzeichnung 0 bis 3, so
wie meine Kollegin Nicole Maisch es just erläutert hat.
Den Erfolg dieses Konzepts zeigt die vor einigen Jahren
eingeführte Eierkennzeichnung. Wir sind mit unserer
Idee nicht alleine – die Länder arbeiten seit Monaten an
einem Modell. Im Gegensatz zur Tierwohl-Initiative
hielte unser Konzept auch tatsächlich das, was es ver-
spräche.
Dieses Thema könnte man sehr leicht unter „eine
Frage der Haltung“ stecken. Und wer war das noch mal,
der diesen Ansatz so lauthals vertritt? Ach ja, der Herr
Minister Schmidt. Wollen wir mal schauen, ob er nur
mal wieder Großes ankündigt, was dann versandet, oder
tatsächlich mal die richtige Haltung einnimmt.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: zum Grünbuch –
Schaffung einer Kapitalmarktunion –
KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier:
Stellungnahme im Rahmen eines Konsultations-
verfahrens der Europäischen Kommission
(Zusatztagesordnungspunkt 4)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Erstens. Wenn man
die zahlreichen europäischen Richtlinien und Verord-
nungen vor Augen hat, die in den letzten Jahren zur Ver-
einheitlichung des Kapitalmarkts in Europa verabschie-
det wurden, hat man den Eindruck, dass es einen
einheitlichen europäischen Kapitalmarkt längst geben
müsste. Das ist – leider – nicht der Fall, weil – wie so oft –
der „Teufel im Detail“ liegt. Das von der Europäischen
Kommission am 18. Februar 2015 vorgelegte Grünbuch
„Schaffung einer Kapitalmarktunion“ zielt daher durch-
aus zu Recht darauf ab, diese noch vorhandenen Defizite
zu beseitigen. Was dabei leider fehlt, ist eine klare Prio-
risierung der verschiedenen in den Raum gestellten Vor-
schläge.
Zweitens. Andererseits ist bei manchen Vorschlägen
leicht absehbar, dass es Widerstand aus den Mitglied-
staaten geben wird. Denn die aus der Sicht der Kommis-
sion wünschenswerte größere Rolle für die europäischen
Aufsichtsbehörden wird sich nur erreichen lassen, wenn
die Mitgliedstaaten davon überzeugt werden, dass dies
per Saldo zu deutlichen (!) Effizienzgewinnen für die
Marktteilnehmer – und auch für die Mitgliedstaaten
selbst – führt. Ein einheitliches Genehmigungsverfahren
für Prospekte wäre hier sicher denkbar. Aber „mehr
europäische Regulierung“ ist beileibe kein Selbstläufer.
Drittens. Die Kommission führt für ihr Ziel die Paral-
lele zur Bankenunion ins Feld, für die wir in diesem
Haus vor wenigen Monaten die letzten Weichen gestellt
haben. Diese Parallele ist freilich nur halb richtig: Denn
bei der Bankenunion stand die Vermeidung von „Sys-
temrisiken“ – also Dominoeffekten – im Vordergrund,
insbesondere im Zusammenhang mit der Währungs-
union, während es hier um die Schaffung bzw. Verbesse-
rung des Marktzugangs auch für die einzelnen Marktteil-
nehmer geht. Deshalb wird, wenn die Kommission sich
– zu Recht – für eine verbesserte grenzüberschreitende
Eigenkapitalfinanzierung ausspricht, ebenso berechtigt
die Frage gestellt, ob denn wirklich bereits ein funktio-
nierender grenzüberschreitender Kreditmarkt existiert.
Was hier als Kreditsicherheit in Betracht kommt, unter-
liegt beträchtlichen nationalen Unterschieden: Zu nennen
sind etwa die verschiedenen Wege der Hypothekenfinan-
zierung einerseits und die Möglichkeit der Unterneh-
menshypothek – „floating charge“ – andererseits. Das
gehört durchaus auch in den Kontext der von der Kom-
mission anvisierten Maßnahmen zu Kreditinformationen
über kleine und mittlere Unternehmen, KMU, und zur
Wiederbelebung der Märkte für Verbriefungen.
Viertens. Zu Recht bezieht die Kommission auch die
indirekt den europäischen Kapitalmarkt berührenden
Rechtsbereiche in ihre Überlegungen ein, vor allem das
Gesellschafts-, das Insolvenz- und das Steuerrecht. Im
Insolvenzrecht seien zwei Hürden genannt, die durchaus
einer europäischen Regelung harren: So stellt sich die
Frage, ob im Rahmen von Sanierungen die Prospektkon-
trolle auch in das Insolvenzverfahren – insbesondere das
Planverfahren – integriert werden kann. Zum Zweiten ist
im Übernahmerecht zu prüfen, ob der systematische
Aufkauf von Forderungen mit dem Ziel einer „Umwand-
lung“ in Eigenkapital – „loan to own“ – im Rahmen ei-
nes Insolvenzverfahrens nicht auch den übernahmerecht-
lichen Schutzmechanismen zu unterwerfen ist. Große
Probleme bei der grenzüberschreitenden Finanzierung be-
reitet die konzerninterne Finanzierung – Stichwort: Cash
Pooling. Hier wäre Rechtssicherheit durch Adressierung
in der geplanten „Konzernrichtlinie“ nachdrücklich
wünschenswert. Gerade was die Eigenkapitalseite an-
geht, bleibt im Übrigen das Thema „Grenzüberschrei-
tende Stimmrechtsausübung“ auf der Agenda.
9914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Fünftens. Stichwort Rechnungslegung: Rechnungsle-
gung ist heute nicht mehr nur ein Thema des Gesell-
schaftsrechts, sondern – jedenfalls auch – des Kapital-
marktrechts, geht es doch darum, die Vergleichbarkeit
der verschiedenen am Kapitalmarkt gehandelten Emit-
tenten zu gewährleisten. Die Internationalen Rechnungs-
legungsstandards, IFRS, haben hier einen bedeutenden
Beitrag zur – auch über Europa hinausgehenden – Ver-
einheitlichung der Kapitalmärkte geleistet. Geht es aber
um nicht börsennotierte Unternehmen, insbesondere also
KMU, tritt dieser Gesichtspunkt zurück. Die Bedeutung
des Rechnungslegungsrechts als Ordnungsrahmen für
die gesellschaftsinternen Beziehungen, insbesondere
auch die Ausschüttungsbemessung und allgemeiner der
Gläubigerschutz, tritt in den Vordergrund. Bestrebungen,
auch hier eine zwingende Bilanzierung nach den IFRS
vorzusehen, halten wir daher nicht für gerechtfertigt.
Denn ganz unabhängig davon, ob der theoretische An-
satz der IFRS auch für die eher gesellschaftsrechtlichen
Zwecke der KMU passend ist, lässt er sich nur mit einem
beträchtlichen zusätzlichen Kostenaufwand verwirkli-
chen. Das von uns favorisierte Festhalten an der Bilan-
zierung nach HGB ist daher auch eine Maßnahme der
Bürokratievermeidung.
Das schließt freilich nicht aus – und darüber wird man
im Einzelfall nachzudenken haben –, dass nicht auch
einzelne Elemente der IFRS in das HGB übernommen
werden, wie wir das auch in der Vergangenheit schon ge-
tan haben. Ebenso kann es Situationen geben, wo auch
für KMU eine internationale Vergleichbarkeit notwendig
ist. Ihnen fakultativ eine Bilanzierung nach IFRS oder
einem dritten Standard zu ermöglichen, wäre daher si-
cher denkbar.
Sechstens. Ein letzter Blick soll dem Thema Steuern
gelten – zweifellos vermintes Gelände: Hier besteht
– vor allem aus der Sicht des Insolvenzrechtlers – das
Grundproblem bereits im Ansatz – nämlich, dass Eigen-
kapital im Verhältnis zu Fremdkapital steuerlich benach-
teiligt wird. Zu diesem allgemeinen Problem kommt
aber im europäisch-grenzüberschreitenden Kontext
hinzu, dass das System des Quellensteuereinbehalts sehr
unterschiedlich praktiziert wird – vor allem was die Be-
messungsgrundlage und das Anrechnungs- und Erstat-
tungssystem angeht. Die Lösung dieser Fragen auf der
Grundlage der Grundfreiheiten sollte nicht allein dem
EuGH überlassen werden.
Alexander Radwan (CDU/CSU): Die Europäische
Kapitalmarktunion ist das Projekt in der Finanzmarkt-
regulierung in der Verantwortung von Kommissar Hill.
Derzeit findet die Grünbuchkonsultation der Europäi-
schen Kommission statt, zu der die CDU/CSU-Fraktion
und die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen haben, dass
der Deutsche Bundestag sich beteiligt. Brüssel soll vom
gewählten Parlament nicht erst hören, wenn schon alles
entschieden ist und nur noch implementiert werden soll.
Mit diesem Antrag wollen wir uns frühzeitig einbrin-
gen und der Kommission, insbesondere dem Engländer
Lord Jonathan Hill und natürlich dem BMF, unsere
wichtigen Punkte mit auf den Weg geben – mit der nach-
drücklichen Bitte um Berücksichtigung.
Die Idee eines integrierten Binnenmarktes für Finanz-
dienstleistungen ist nicht neu, bereits im Jahr 1999 gab
es die Initiative für den FSAP, den Aktionsplan für
Finanzdienstleistungen.
Doch lassen sie mich zunächst kurz das Vorhaben der
Kapitalmarktunion schildern, bevor ich unsere Punkte
vertiefe.
Die Kommission ist der Ansicht, die europäische Un-
ternehmensfinanzierung gestalte sich zu wenig über den
Kapitalmarkt und zu sehr über die reine Bankenfinanzie-
rung. Hier setzt Hill an und komplettiert damit Junckers
Beschäftigungs- und Wachstumsinitiative, die aufseiten
der Investitionen im Juncker-Plan, dem 315-Milliarden-
Euro-Paket, verankert ist.
Auch sieht die Kommission kritisch, dass der europäi-
sche Finanzmarkt seit der globalen Finanzkrise 2007/
2008 zu sehr an nationalen Grenzen haltmache.
Durch die Kapitalmarktunion soll das Angebot an al-
ternativen Finanzierungsoptionen für Unternehmen ver-
breitert werden, um Kapitalmarktfinanzierung insbeson-
dere zugunsten von kleinen und mittelständischen
Unternehmen zu diversifizieren und zusätzliche Alterna-
tiven zur klassischen Bankenfinanzierung zu ermögli-
chen.
Auch soll die Kapitalmarktunion für mehr Investitio-
nen aus Drittstaaten attraktiver werden und das Finanz-
system durch die Erschließung einer breiteren Palette an
Finanzierungsquellen stabilisieren.
Immer wieder betont Hill, auch zuletzt hier im Bun-
destag in einem Gespräch mit dem Finanzausschuss, die
Kapitalmarktfinanzierung könne für Deutschland nur er-
gänzend sein.
Lassen Sie mich nun erläutern, welche Punkte wir
hier kritisch sehen und uns auch im Antrag dementspre-
chend äußern.
Bei all den Reformen, die Hill hier anstrebt, dürfen
vor allem der deutsche Schuldschein- und Pfandbrief-
markt nicht leiden.
Auch muss Hill sich Gedanken dazu machen, welche
Maßnahmen für die Eigenkapitalfinanzierung ergriffen
werden können – hier muss es vor allem grenzüber-
schreitende Lösungen geben, damit Risiken verantwor-
tungsvoll gestreut werden.
Zwingend, und das ist mein Hauptpunkt, darf der Zu-
gang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapitalmarkt-
union nicht erschwert werden.
Seit Jahrzehnten bewährt sich das deutsche Drei-Säu-
len-Modell, insbesondere in Krisenzeiten, wie die letzten
Jahre zeigen. Die Sparkassen und Genossenschaftsban-
ken haben sich tapfer durch die Krise geschlagen und sie
sicher nicht verursacht. Kleine und mittlere Unterneh-
men vertrauen seit jeher auf die verlässliche Finanzie-
rung bei ihrer Hausbank, mit der sie eine Vertrauensbe-
ziehung eingegangen sind – aus gutem Grund. Hier ist
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9915
(A) (C)
(D)(B)
jemand greifbar, man kennt sich, man kennt die Um-
stände, weiß, mit wem man es zu tun hat. Die Vertrau-
ensbeziehung droht in der Kapitalmarktfinanzierung
kaputtzugehen – und ich sehe kein kleines oder mittel-
ständisches Unternehmen in meinem Wahlkreis in Bay-
ern, das nun Prospekte anfertigen lässt und Anleihen
ausgibt. Hier kann die Rede nur von einem sehr geringen
Anteil an den kleinen und mittelständischen Unterneh-
men sein, die davon Gebrauch machen würden – und
wohl auch zu Recht.
Viel eher müssen wir hier darüber sprechen, wie klei-
nen Unternehmen der Zugang zur Bankenfinanzierung
erleichtert werden kann – und hier dürfen wir nicht nur
an deutsche Unternehmen und Kreditinstitute denken,
sondern auch an die von der Kreditklemme bedrohten
Unternehmen und Banken in den europäischen Mitglied-
staaten. Hier erwarte ich von der Kommission, dass sie
sich mit gleichem Elan dafür einsetzt, in diesen Staaten
eine leistungsfähige Bankenstruktur, insbesondere Re-
gionalbanken, zu etablieren.
Den Proportionalitätsgrundsatz bei Regulierung und
Finanzierungsauflagen dürfen wir nicht aus den Augen
verlieren, das heißt, keine Finanzierungsform darf be-
vorzugt oder benachteiligt werden. Insgesamt müssen
hier Wirkungen und Wechselwirkungen bestehender und
noch nicht in Kraft getretener Finanz- und Kapitalmarkt-
regelungen umfassend analysiert und evaluiert werden,
bevor neue Vorhaben kommen.
Strukturen lokal und regional ausgerichteter Kreditin-
stitute müssen europaweit verankert und gefördert wer-
den.
Die Kapitalmarktunion ersetzt in keinem Falle not-
wendige Investitionen und Strukturreformen.
Hier müssen wir trotz des Hill-Vorhabens zusehen,
dass sowohl Investitionen europaweit als auch Struktur-
reformen endlich kommen und durchgesetzt werden.
Dazu gehört natürlich auch die konsequente Anwendung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts – hier müsste die
Kommission viel strikter sein.
Wichtig ist uns auch, im Antrag zu verdeutlichen,
dass wir für KMU eine Bilanzierungspflicht nach IFRS
vehement ablehnen. In Deutschland hat sich die Rech-
nungslegung nach HGB bewährt, sie funktioniert.
Auch die hohe Qualität der Verbriefungen muss gesi-
chert sein, gerade nach der Erfahrung der Finanzkrise!
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Jeder Mitgliedstaat der EU besitzt sein ganz eigenes,
historisch gewachsenes Finanzsystem. Wie und wo
Menschen Geld anlegen, wie hoch ihre Sparquote ist und
welchen Partnern sie bei ihren Finanzierungsentschei-
dungen vertrauen, beruht auf individuellen Erfahrungen
und ist oft auch eine Mentalitätsfrage.
Prägend für Deutschland sind die hohe Mittelstands-
quote und der große Anteil an Kreditfinanzierungen, ge-
tragen vom Drei-Säulen-Modell der Kreditwirtschaft.
Diese Strukturen haben sich insbesondere in der
Finanzkrise als robust erwiesen. Mehr Kapitalmarkt
kann allenfalls eine sinnvolle Ergänzung sein. Ich er-
warte von der Kommission, dass sie sich für eine effi-
ziente Bankenfinanzierung mit starken Regionalbanken
mit gleichem Elan einsetzt wie für den Kapitalmarkt.
Aus meiner Sicht, und das machen wir im Antrag
deutlich, müssen die Rahmenbedingungen für kleine und
mittlere Kreditinstitute und KMU gestärkt werden.
Wir haben es hier mit einer gesunden Symbiose zu tun,
die, wenn wir nicht aufpassen, in Parasitismus umschla-
gen kann, wenn erst dubiose Unternehmen Anleihen emit-
tieren, die möglicherweise ahnungslose Verbraucher kau-
fen. Dann ist nichts gewonnen. Im Gegenteil, dann heißt
es: „Zurück auf Los!“
Christian Petry (SPD): Im Februar 2015 hat EU-
Finanzmarktkommissar Jonathan Hill sein Grünbuch zur
Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion vor-
gestellt. Kern dieser Vorschläge ist eine stärkere Har-
monisierung der europäischen Kapitalmärkte, um so zu-
sätzliche, grenzüberschreitende Finanzierungsquellen
für kleine und mittlere Unternehmen zu schaffen. Durch
diese neuen Finanzierungsmöglichkeiten sollen Wirt-
schaftswachstum und Beschäftigungszuwachs generiert
werden.
Die europäische Kapitalmarktunion ist damit vor al-
lem eines: ein weiterer Schritt hin zu mehr Europa und
einer noch engeren Verflechtung mit unseren europäi-
schen Nachbarn. Mehr als 50 Jahre nach Unterzeichnung
der Römischen Verträge ist es an der Zeit, den freien Ka-
pitalverkehr in der EU endlich umzusetzen. Ich denke,
dass dieses Ziel grundsätzlich sehr unterstützenswert ist.
Gerade im südlichen Europa ist die Kreditfinanzie-
rung durch Banken für Unternehmen oftmals schwierig.
Trotz der anhaltenden Niedrigzinsphase werden dort nur
wenige Bankkredite zur Unternehmensfinanzierung ver-
geben. Eine europäische Kapitalmarktunion kann hierbei
zusätzliche Finanzierungsquellen für Unternehmen
schaffen.
Mit Blick auf die Schaffung einer europäischen Kapi-
talmarktunion ist die entscheidende Frage, was wir ge-
nau unter einer solchen Kapitalmarktunion verstehen
und welche Einzelmaßnahmen aus dem Grünbuch der
Kommission in welchem Umfang umgesetzt werden. Es
ist wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem
vorliegenden Antrag am Konsultationsverfahren der
Kommission beteiligt und zum Grünbuch klar Stellung
bezieht. Das enge Zeitfenster zur parlamentarischen An-
tragsberatung ist der Tatsache geschuldet, dass der Kon-
sultationsprozess der Kommission bereits Mitte Mai
2015 endet.
In dieser Wahlperiode haben wir viele europäische
Vorgaben umgesetzt. Ich denke da beispielsweise an die
einheitliche Bankenaufsicht, den Bankenabwicklungs-
mechanismus oder an die neuen Vorgaben für die euro-
päischen Einlagensicherungssysteme.
Ein Ziel stand für uns Parlamentarier dabei immer im
Zentrum unseres Handelns: die Verbesserung des Ver-
braucher- und Anlegerschutzes. Es ist kaum eine Debatte
9916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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vergangen, in der wir nicht auf die Lehren aus der letzten
Finanzmarktkrise eingegangen sind und die damit ein-
hergehende Notwendigkeit besserer und transparenterer
Regulierung der Finanzmärkte.
Hinter diesen Anspruch dürfen wir in der Debatte um
die Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion
nun nicht zurückfallen. Wenn die Kommission etwa die
Novellierung der Prospektrichtlinie ins Spiel bringt,
dann dürfen Vereinfachungen zur besseren Handhabbar-
keit der Vorgaben nicht mit einem niedrigeren Standard
beim Anlegerschutz einhergehen.
Laut Grünbuch sollen darüber hinaus Anreize für pri-
vate Haushalte geschaffen werden, verfügbares Geld
verstärkt in Wertpapiermärkten anzulegen. Die Kommis-
sion zieht diesen Schluss aus ihrer Analyse, wonach Pri-
vathaushalte ihr Vermögen einseitig und wenig ertrag-
reich auf Bankkonten halten. An dieser Stelle teile ich
die Ansicht der Kommission nicht. Ich glaube, dass viele
Kunden in Europa die Sicherheit von Bankkonten be-
wusst wählen und risikoreichere Investitionen am Kapi-
talmarkt scheuen. Anlageformen, die ein hohes finan-
zielles Verlustrisiko bergen, sind für Kleinanleger
oftmals nicht geeignet. Die von der Kommission in die-
sem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen müs-
sen daher sehr genau geprüft werden. Das gilt auch für
die im Grünbuch angesprochenen „hochwertigen“ Ver-
briefungen.
Neben dem Aspekt des Verbraucherschutzes darf die
Umsetzung der Kapitalmarktunion auch nicht zur
Schwächung etablierter Strukturen in Deutschland füh-
ren. Bei den anstehenden Verhandlungen auf europäi-
scher Ebene werden wir uns daher dafür einsetzen, dass
das in der Bundesrepublik etablierte bankbasierte Sys-
tem der Unternehmensfinanzierung durch die Schaffung
eines europäischen Binnenmarktes für Kapital nicht ge-
schwächt wird.
Die Kommission regt ferner an, den Markt für Privat-
platzierungen zu erleichtern. Auch dies ist ein interes-
santer Vorschlag, um ruhendes Kapital, das zurzeit au-
ßerhalb Europas investiert wird, wieder nach Europa
zurückzuholen.
Richtig ist auch das langfristige Ziel der Kommission,
weitere Rechtsgebiete wie etwa das Wertpapier-, das In-
solvenz- oder das Steuerrecht europaweit anzugleichen.
Die höchsten Standards müssen dabei der Maßstab für
jegliche Angleichung sein.
Das aktuelle Konsultationsverfahren der Kommission
sowie die anschließende Analyse und Priorisierung der
umzusetzenden Maßnahmen sind wichtig, um die euro-
päische Kapitalmarktunion innerhalb des anvisierten
Zeitfensters umsetzen zu können. Als zuständiger Be-
richterstatter meiner Fraktion werde ich diese Konsulta-
tionen kritisch begleiten. Bis Herbst 2015 erwarten wir
den Aktionsplan der Kommission, die Kapitalmarkt-
union soll dann bis 2019 umgesetzt werden. Das ist sehr
ambitioniert und wird uns noch viele Gelegenheiten zur
Diskussion in den parlamentarischen Gremien bieten.
Die Krise der vergangenen Jahre hat eines ganz deut-
lich gemacht: Perspektivisch muss die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion durch die Harmonisie-
rung weiterer Politikbereiche weiterentwickelt werden.
Nur so können wir unsere Ziele bei Wirtschaftswachs-
tum und Beschäftigung erreichen.
Klar ist: Die Europäische Union profitiert von der
Angleichung weiterer, bislang national geregelter Poli-
tikbereiche. Mit der Harmonisierung der europäischen
Kapitalmärkte sind wir hier auf einem guten Weg hin zu
mehr Europa.
Manfred Zöllmer (SPD): Die Europäische Kommis-
sion hat im Februar dieses Jahres das Grünbuch „Schaf-
fung einer Kapitalmarktunion“ veröffentlicht. Bis zum
13. Mai läuft hierzu eine öffentliche Konsultation. Die
Koalitionsfraktionen legen deshalb den vorliegenden
Entschließungsantrag vor, der sich auf das Verhand-
lungsmandat der Bundesregierung bezieht und die deut-
sche Position zu diesem Vorhaben beschreibt.
Mit dem Grünbuch verfolgt die Europäische Kom-
mission das Ziel, durch einen integrierten Kapitalbin-
nenmarkt den Zugang zu Finanzmitteln für alle Unter-
nehmen in ganz Europa – insbesondere für KMU – zu
verbessern, die Finanzierungsquellen für Anleger aus
der EU und dem Rest der Welt auszuweiten und zu di-
versifizieren sowie effizientere Märkte zu schaffen, die
Anleger und Unternehmen mit Finanzierungsbedarf so-
wohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch grenzüber-
greifend wirksamer und kostengünstiger zusammenzu-
bringen.
Das Ziel, für mehr Wachstum und Beschäftigung in
Europa unter anderem durch erleichterte Finanzierungs-
möglichkeiten zu sorgen, wird von uns sehr begrüßt. Es
geht darum, zu analysieren, welche Strukturen bewährt
sind und wo Reformen notwendig sind, um die Finan-
zierungsmöglichkeiten für Unternehmen zu verbessern.
Die im Grünbuch von der Europäischen Kommission
geäußerte Kritik an der zu starken Abhängigkeit der Un-
ternehmensfinanzierung von Banken und die daraus re-
sultierende Forderung nach mehr ergänzenden Kapital-
marktfinanzierungen können wir für Deutschland nicht
teilen. Wir haben zu 80 Prozent eine Bankenfinanzie-
rung. Das deutsche Bankensystem kann die Unterneh-
men ausreichend mit Krediten versorgen.
Wir haben deshalb im Antrag darauf hingewiesen,
dass der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge einer
Kapitalmarktunion zukünftig nicht erschwert werden
darf. Das deutsche Drei-Säulen-Modell hat sich bei der
Kreditversorgung bewährt. Es gibt in Deutschland keine
Kreditklemme. Insbesondere KMU werden weiterhin
auf Finanzierung durch ihre Hausbank vertrauen. Eine
erweiterte Finanzierung über die Kapitalmärkte kann
deshalb nur eine Ergänzung sein.
Wir sollten daher nicht nur einseitig nach neuen
Finanzierungsmöglichkeiten durch den Kapitalmarkt
schauen, sondern auch über Verbesserungen der Banken-
finanzierung für kleine Unternehmen nachdenken. So
kann die Kreditversorgung des Mittelstands durch kleine
Banken erleichtert werden, wenn ein auf sie zugeschnit-
tenes regulatorisches Regime genügend Freiräume lässt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9917
(A) (C)
(D)(B)
und der Proportionalitätsgrundsatz in der Regulierung
zukünftig noch stärkere Beachtung findet. Darüber hi-
naus darf eine Reform die Finanzmarktstabilität nicht
gefährden. Darüber hinaus darf der Verbraucher- und
Anlegerschutz nicht ausgehöhlt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die vorgeschla-
gene Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes. Durch
Verbriefungen hoher Qualität kann ein Finanzierungs-
spielraum bei den Banken geschaffen werden, der den
KMU zugutekommen könnte.
Wir erinnern uns aber gleichzeitig und sehr ungern an
die Finanzmarktkrise, bei der Verbriefungen eine un-
rühmliche Rolle gespielt haben. Das gilt jedenfalls für
die USA.
Sicherlich ermöglicht die Verbriefung den Banken,
die Kreditrisiken nicht bis zur Endfälligkeit zu tragen,
sondern an diejenigen Marktteilnehmer zu übertragen,
die die besseren Voraussetzungen zur Risikotragfähig-
keit mitbringen. Dies gilt aber nur, wenn sie einfach und
transparent sind. Nur dann kann der Markt die Qualität
und damit die Risiken dieser Produkte bewerten. Nur
dann ergeben sich keine neuen Risiken für die Finanz-
marktstabilität.
Aus unserer Sicht müssen deshalb die von der Kom-
mission als prioritär eingestuften Maßnahmen zur Wie-
derbelebung eines qualitätsorientierten und nachhaltigen
europäischen Verbriefungsmarktes intensiv geprüft wer-
den.
Zudem wollen wir an der bewährten Rechnungsle-
gung für den deutschen Mittelstand nach dem Handels-
gesetzbuch festhalten und lehnen für kleine und mittlere
Unternehmen eine Bilanzierungspflicht nach den Inter-
national Financial Reporting Standards oder nach einem
neu zu schaffenden dritten vermittelnden Standard ab.
Insgesamt begrüßen wir die Initiative der Europäi-
schen Union, mit der Schaffung einer Kapitalmarktunion
die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen durch
eine breitere Produktpalette, mehr Transparenz und mehr
Wettbewerb zu verbreitern, damit zusätzliches Wachs-
tum und Beschäftigung in Europa entstehen.
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit dem
Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion liegt
nun eine Diskussionsgrundlage vor, mit der die Harmo-
nisierung der Kapitalmärkte innerhalb der Europäischen
Union skizziert wird. Nachdem sich im Zuge der Finanz-
und Staatsfinanzierungskrise die Finanzmärkte wieder
ein Stück nationalisiert hatten, sollen diese wieder stär-
ker integriert werden. Mit dem Mehr an Harmonisierung
sollten aber gleichzeitig die europäischen Aufsichtsbe-
hörden EBA, ESMA und EIOPA gestärkt werden.
Wichtig ist ebenfalls, klein- und mittelständischen
Unternehmen, KMU, sichere und vielfältige Finanzie-
rungswege zu bieten.
Bei der Gesamtbetrachtung sollte man sich die zwei
vorherrschenden Motive für die geplante Kapitalmarkt-
union vor Augen führen:
Zum einen sollen zusätzliche Finanzmittel freige-
schaufelt werden, um Investitionen von Unternehmen
anzukurbeln, verbunden mit der Hoffnung, mehr Wachs-
tum zu schaffen. Das ist insoweit verständlich, als Ban-
ken in der Krise weniger Kredite vergaben, da sie bei-
spielsweise mehr Eigenmittel aufbauen mussten. Diese
Probleme sind aber hausgemacht, weil der Bankensektor
nicht neu geordnet wurde und weil Kürzungsdiktate
dazu führten, dass nicht mehr so viele Bankkredite nach-
gefragt wurden. Doch darf dies nicht dazu genutzt wer-
den, wichtige Regulierungen wieder zurückzufahren –
solche Stimmen sind leider schon wieder allzu häufig zu
vernehmen.
Zum anderen ist der deutliche Trend zu beobachten,
dass die althergebrachte starke Abhängigkeit von der
einlagenbasierten Kreditwirtschaft bzw. von der Ban-
kenfinanzierung gebrochen werden soll. Die Folge ist
eine viel stärker kapitalmarktfinanzierte, kaum regulierte
und intransparentere Wirtschaft, mit einer hervorgehobe-
nen Rolle von spekulativen Investmentfonds beispiels-
weise. Wir brauchen jedoch keinen Shareholder-Value-
Kapitalmarkt, sondern einfache, wirtschaftliche und so-
ziale Kriterien erfüllende, langfristig orientierte Finanz-
instrumente.
Daher klingt es im Antrag der Koalitionsfraktionen
wie ein Lippenbekenntnis, wenn Sie schreiben, dass „der
Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapital-
marktunion nicht erschwert“ und das deutsche Drei-Säu-
len-Modell bewahrt werden soll. Das wird lediglich als
windelweiche Erwartung an die Kommission formuliert,
wobei deutlich mehr Druck und entschiedenes Handeln
angesagt wären. Lippenbekenntnis auch deswegen, weil
Sie mehrmals unverhohlen „alternative kapitalmarktba-
sierte Unternehmensfinanzierung“ oder „Alternative zur
klassischen Bankenfinanzierung“ schreiben, womit Sie
Ihre eigenen Erwartungen konterkarieren.
Die Linke wird weiterhin kein Bankenschwächungs-
programm zugunsten von wild wuchernden, anonymen
Kapitalmärkten und Riesenfonds durchwinken. Wir wer-
den es nicht zulassen, dass durch strikte Abhängigkeit
vom Kapitalmarkt noch mehr die Finanzstabilität ge-
schwächt wird.
Ein weiterer Punkt ist, dass vielfältigere Finanzie-
rungsmittel vor allem dann effektiv wirken, wenn unter
anderem der Schattenbanksektor in der EU reguliert ist.
Hier ist der Antrag der Koalition bemerkenswert, weil
Sie schreiben, dass die Kapitalmarktunion nicht dazu
führen darf, dass rein spekulative Anlagemöglichkeiten
gefördert werden. Das unterstützen wir. Doch damit er-
teilen Sie Ihrer eigenen Regierung eine gewaltige
Schelte. Auf EU-Ebene wurde bisher lediglich ein zwei-
felhafter Verordnungsvorschlag zur Regulierung von
Geldmarktfonds vorgelegt. Daneben gab es bislang
nichts. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Bundesregie-
rung ernsthaft für eine strenge Regulierung des Schatten-
banksektors einsetzt. Insofern unterstützen wir als Linke
diese Kritik der Koalition an der Bundesregierung.
Das Grünbuch Kapitalmarktunion regt an, die Ver-
briefung von Krediten wieder anzufeuern und damit den
Markt für wertpapierbesicherte Verbriefungen wiederzu-
9918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
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(D)(B)
beleben. Auch wenn die Koalition in ihrem Antrag von
Verbriefungen mit „hoher Qualität“ spricht, so ist diese
Betrachtung zu unkritisch. Obwohl Verbriefungen ersten
Grades – und gerade nicht das Bündeln und Wiederver-
packen – realwirtschaftlich sinnvoll sein können, sollten
Sie Giftpapiere und das ganze Finanzmonopoly lieber
unterm Tisch lassen, damit niemand sagen kann „Nicht
aus der Krise gelernt, gehen Sie zurück auf Los“. Sie
sollten die Kommission besser dahin drängen, das Si-
cherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen, anstatt
sie in waghalsige Abenteuer zu locken.
Wir unterstützen es, wenn die Prospektrichtlinie tat-
sächlich streng unter Verbraucherschutzaspekten überar-
beitet wird. Neben einer Standardisierung der Prospekte
ist es dringend notwendig, dass ein Prospekt vollständig
in die Sprache des Zielstaates, also des Staates, wo das
Produkt vertrieben werden darf, übersetzt werden muss
und der Anleger in seinem Heimatstaat klagen kann. Sie
wollen es doch nicht länger zulassen, dass der Anleger auf
eigene Kosten den Prospekt übersetzen lassen muss, falls
er einen Schaden erleidet und prüfen möchte, ob der Pros-
pekt fehlerhaft ist? Das kostet locker mal 20 000 Euro.
Aus unserer Sicht muss der Emittent für die Übersetzun-
gen und deren Kosten geradestehen. Auch hier darf der
Verbraucherschutz nicht zugunsten des Binnenmarktes
geopfert werden.
Abschließend möchte ich noch darauf zu sprechen
kommen, dass im Grünbuch vorgeschlagen wird, Inves-
titionen in öffentliche Infrastrukturprojekte insbesondere
privaten Investoren – Versicherungen und Banken –
leichter zu machen. Hier in Deutschland wurden durch
die sogenannte Fratzscher-Kommission unter anderem
die „öffentlichen Infrastrukturfonds“ vorgestellt. Was
wir vergangene Sitzungswoche in der Aktuellen Stunde
in Bezug auf Deutschland kritisiert haben, wird auf euro-
päischer Ebene nicht besser: Die Linke sieht die Gefahr,
dass eine große Welle an Privatisierung öffentlicher In-
frastruktur auf uns zurollt.
Gewinner werden zum Beispiel Versicherungen sein,
die leichter und mehr in solche Projekte investieren kön-
nen. Dabei investieren sie primär Kundengelder. Für
diese Investments ist nun laut Grünbuch sogar geplant,
Infrastrukturinvestitionen, insbesondere in den Eigenka-
pitalvorschriften für Banken und Versicherungen, weni-
ger streng regulatorisch zu behandeln. Dadurch werden
diese zweifellos riskanteren Investments weniger abgesi-
chert, wodurch noch schneller Kundengeld weg sein
kann. Da der Staat ein öffentliches Projekt aber kaum
fallen lassen wird, wird er einspringen. Die Zeche wer-
den die Steuerzahler, also erneut die Bürger, zahlen – in
doppelter Weise –, während sich Versicherungen genüss-
lich die fast risikolose Zusatzrendite einverleiben. Diese
Öffentlichen Privaten Partnerschaften begünstigen ein-
seitig Versicherungen und Banken und schaden letztlich
uns allen. So wird man auf lange Sicht gerade nicht die
Investitionsbremse lockern und für nachhaltiges Wachs-
tum sorgen.
Daher sollten wir uns dringend dafür einsetzen, dass
die Anregungen aus dem Grünbuch in dieser Art nicht
Wirklichkeit werden und wir eine Kapitalmarktunion
schaffen, die herkömmliche Kreditvergabe nicht behin-
dert und Verbraucher nicht hinters Licht führt.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorab: Das Grünbuch
der Europäischen Kommission zur Kapitalmarktunion
wurde am 18. Februar dieses Jahres veröffentlicht. Seit-
dem läuft das Konsultationsverfahren. Eigentlich genü-
gend Zeit, um sich eine Meinung zu bilden. Schade, dass
die Koalition ihre Stellungnahme in Form des nun vor-
liegenden Antrags erst vorgestern angekündigt hat. Wir
hätten hier als Deutscher Bundestag die Chance gehabt,
gemeinsam ein starkes Signal nach Brüssel zu senden.
Dies hätte ich schon für möglich gehalten, denn es ist ja
nicht alles schlecht, was im Antrag der Koalition steht.
Wir Grüne begrüßen, dass der Antrag der Koalition so
großen Wert auf das Proportionalitätsprinzip legt. Kleine
Banken müssen regulatorisch anders behandelt werden
als große. Auch die Senkung von Markteintrittsbarrie-
ren, um regionale Bankgründungen in Europa voranzu-
bringen, ist richtig. Zurück zum Bankgeschäft, das der
Realwirtschaft dient, sozusagen zum Boring Banking,
das ist der richtige Ansatz. Wir sollten in der Tat dafür
sorgen, dass das klassische Einlagen- und Kreditge-
schäft, betrieben von lokal agierenden Banken mit regio-
nalem Wissen und intensiver Beziehung zu ihren Kredit-
nehmern, wieder Kern der Finanzintermediation wird.
Ein anonymer Kapitalmarkt kann diese individuellen
Finanzierungsmodelle für einen Großteil der Unterneh-
men gar nicht bereitstellen, und der bürokratische Auf-
wand für die Unternehmen wäre viel zu hoch.
Richtig an dem Antrag ist auch die Aussage, dass die
Förderung von Kapitalmarktfinanzierungen nicht auf
Kosten der Finanzstabilität geschehen darf. Deshalb ist
das Problem der Regulierung des Schattenbankenbe-
reichs zu Recht angesprochen. Die Regulierung muss
verhindern, dass sich die Risiken aus dem Bankbereich
schlicht in das Schattenbanksystem verlagern lassen.
Wir als Gesetzgeber müssen außerdem verhindern, auch
das ist in dem Antrag der Koalition adressiert, dass wir
Begehrlichkeiten aus der Branche nachgeben und Regu-
lierungsvorschriften wieder auf Kosten der Finanzstabi-
lität lockern.
Die Stärkung des Marktes für Beteiligungen am Ei-
genkapital erachten wir für zentral, da es Risiken streut
und den Finanzmarkt durch gestärkte Verlustabsorption
stabilisiert. Hier bleibt der Antrag der Koalition leider
unkonkret. Ich halte es für wichtig, dass die steuerpoli-
tisch unsinnige Bevorzugung von Fremdkapital gegen-
über Eigenkapital ernsthaft angegangen wird. Die Ab-
schaffung der Abgeltungsteuer ist dafür ein wichtiger
Schritt, den wir Grünen seit Jahren fordern.
In der Gesamtbetrachtung können wir dem Antrag je-
doch nicht zustimmen, weil er ganz wesentliche Dinge
schlicht nicht anspricht. An den Finanzmärkten sind der-
zeit teilweise immer noch, teilweise erneut extreme Risi-
ken zu beobachten. Dies bestätigen auch die Analysen
des Internationalen Währungsfonds, der im April in sei-
nem Finanzstabilitätsbericht dargestellt hat, wie diese
Risiken im letzten halben Jahr noch einmal gestiegen
sind. Auch aus den Analysen des Europäischen System-
risikorats und dem Ausschuss für Finanzstabilität
schließe ich, dass es fatal wäre, aus den zahlreichen Ge-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9919
(A) (C)
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setzen zur Finanzmarktregulierung, die wir in den letz-
ten Jahren verabschiedet haben, zu schließen, dass die
Märkte sicherer oder stabiler geworden sind. Das lässt
sich nicht belegen. Es bauen sich im Finanzmarktsystem
vielmehr Risiken auf, die schwer zu kontrollieren sind.
Die globalen Ungleichgewichte sind teilweise größer als
vor Ausbruch der Finanzmarktkrise. Insofern sind wir
mit der Regulierung nicht am Ziel. Dennoch wäre ein
„Mehr desselben“ falsch. Europa braucht nicht noch
mehr Regulierung, sondern Europa braucht eine andere
Regulierung. Finanzmärkte sind in Relation zur Real-
wirtschaft in den letzten Jahrzehnten in einem schwin-
delerregenden Ausmaß gewachsen. Das gilt nicht nur,
aber auch im Bankensektor. Hier schlummern noch im-
mense Risiken in Europa: Die Höhe der notleidenden
Kredite ist weiterhin besorgniserregend hoch, laut IWF
bei 900 Milliarden Euro allein in der Euro-Zone. Auch
spricht der IWF von einer Verschiebung der Risiken vom
Bank- in den sogenannten Schattenbankenbereich. Die
Kapitalmarktunion löst keines dieser Probleme. Die
Koalition hat recht, wenn sie im Antrag fordert, dass
Europa bei der Regulierung des sogenannten Schatten-
bankenbereichs vorankommen muss, da sich genau hier
neue Risiken aufbauen. Aber auch der Antrag der Koali-
tion springt zu kurz. Ein Grünbuch, das das Aushänge-
schild eines Kommissars sein soll, der für Finanzstabili-
tät zuständig ist, das nicht auf die wesentlichen
Stabilitätsprobleme des europäischen Finanzmarktes
eingeht, muss aus unserer Sicht grundsätzlicher ange-
gangen werden, als Sie es in Ihrem Antrag tun. Wir müs-
sen die Finanzmärkte endlich an die Leine legen und die
Risiken in den Griff bekommen.
Zudem fehlt mir in Ihrem Antrag Kritik an der Kom-
mission zu einigen Punkten, die ich im Grünbuch ver-
misse. Die Kapitalmarktunion hat das anspruchsvolle
Ziel, Investitionen in Europa und damit Beschäftigung
und Wachstum zu fördern. Dabei vernachlässigt die
Europäische Kommission jedoch den Aspekt der Nach-
haltigkeit – eigentlich doch eine Priorität der Kommis-
sion! Ein Finanzsystem, das die Erhaltung unserer Le-
bensgrundlagen außer Acht lässt, ist nicht stabil. Gerade
Reformen, die langfristige Investitionen erleichtern, sind
ein zentrales Vehikel, die grüne Transformation unserer
Volkswirtschaften voranzutreiben. Mit dem Green New
Deal streiten wir Grüne seit Jahren für eine nachhaltige
und soziale Ausrichtung der Finanzmärkte. Die spekula-
tiven Exzesse der Branche müssen gestutzt werden, um
realwirtschaftliche, insbesondere „grüne“ Investitionen
zu ermöglichen. Hier wünschen wir uns eine klarere
Positionierung im Grünbuch als in Ihrem Antrag, damit
zukunftsweisende Infrastrukturen wie erneuerbare Ener-
gien oder nachhaltige Geschäftsmodelle auf adäquate
Finanzierungen zurückgreifen können. Diese Chance
darf im Zuge der Errichtung einer Kapitalmarktunion
nicht vertan werden.
Wir stehen der Wiederbelebung des Marktes für hoch-
wertige Verbriefungen nicht prinzipiell skeptisch gegen-
über. Allerdings bemängeln wir, dass das Grünbuch hier
sehr unkonkret bleibt. Bei der Auslagerung von Kredit-
portfolios aus Bankbilanzen muss dringend darauf ge-
achtet werden, dass Risiken für alle Marktteilnehmer
transparent bleiben. Eine Verbriefung, die lediglich Kre-
dite in Zweckgesellschaften zusammenbringt und durch
Pooling der Risiken die Marktfähigkeit erhöht, ist durch-
aus sinnvoll. Wenn allerdings durch intransparente
Strukturierungen Risiken verschleiert werden, dann
schlittern wir in ähnliche Verhältnisse wie diejenigen,
die zur Subprime-Krise 2007 und letztendlich zur
schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Welt-
krieg geführt haben.
Außerdem fehlt uns an dem Antrag der Koalition die
Kritik, dass die Kommission zum Teil mit ihren Vor-
schlägen lediglich öffentlichkeitswirksame Symptombe-
kämpfung betreibt. So richtig es ist, dass wir angebots-
seitig einen Kapitalüberhang und Überschussliquidität
beobachten können, so entscheidend ist es, die zugrunde
liegenden Ursachen für die mangelnde Investitionstätig-
keit zu analysieren und politisch gegenzusteuern. Die
Investitionsschwäche liegt nicht primär, wie von der
Kommission suggeriert, in mangelndem Zugang zu
Finanzierungsmitteln, sondern zuvorderst an einer stag-
nierenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dies hat
auch der Internationale Währungsfonds jüngst in seinem
Frühjahrsbericht gezeigt. In den europäischen Krisenlän-
dern ächzen Unternehmen und Privathaushalte unter ex-
zessiver Verschuldung und investieren nicht, die Staaten
dürfen es aufgrund der Vorgaben des Fiskalpakts oder
der Strukturanpassungsprogramme nicht.
Richtig ist, dass kleine und mittlere Unternehmen ins-
besondere in Krisenstaaten nur noch erschwert an Bank-
kredite kommen, da die Institute unter dem großen An-
teil notleidender Kredite in den Büchern ächzen und
daher risikoavers agieren. Aber auch hier wäre eine
grundsätzlichere Sanierung des Bankensektors die ziel-
führendere Alternative. Bis 2016 müssen die europäi-
sche Richtlinie zur Bankensanierung und -abwicklung,
BRRD, und die darin enthaltenen Instrumente der Gläu-
bigerbeteiligung in nationales Recht umgesetzt werden.
Dieses neue Regime zur Bankenrestrukturierung muss
dann auch genutzt werden, um endlich Klarheit zu schaf-
fen und die schlummernden Lasten in den Bankbilanzen
auf die Eigentümer und Gläubiger zu verteilen.
Europa muss endlich aufwachen und ehrlich die
Probleme auf den Bankbilanzen und hinsichtlich der
schwachen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage anpa-
cken, anstatt endlos an Symptomen auf der Angebots-
seite herumzudoktern.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: EU-Lateinamerika-
Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Re-
spekt begründen
(Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Bei diesem Antrag
der verehrten Kollegen der Linken drängt sich doch die
Frage auf, ob man sich nicht einfach torschlusspanikar-
tig genötigt sah, auf eine Entwicklung in Kuba zu reagie-
9920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
ren, die man nicht vorhergesehen hat, und auch noch
jetzt nicht dazu bereit ist, zu konzedieren, dass das sozia-
listische System vor den Realitäten kapituliert hat.
Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass es schon
sehr schmerzlich sein muss, mit anzusehen, dass 50 Jahre
ideologische Diskussion einfach nicht in der Lage wa-
ren, die realen Lebensverhältnisse der Menschen in
Kuba und auch in den sozialistisch regierten Staaten La-
teinamerikas in funktionierende Gemeinwohlsysteme
umzuformen.
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
hatte offenbar in einer weisen Voraussicht oder Einge-
bung schon vor über einem Jahr eine Reise nach Kuba in
den Reiseplan aufgenommen, die nun im April 2015
durchgeführt wurde – wenige Monate, nachdem es zu
denkwürdigen Öffnungen und Begegnungen gekommen
war bzw. kommen sollte. Eigentlich gehört es zur politi-
schen Ehrlichkeit, bei diesem Ablauf nicht ernsthaft dem
BMZ und Minister Müller den Vorhalt zu machen, dass
dieser Prozess noch nicht im neuen Lateinamerika-Pro-
gramm verarbeitet worden ist. Es gehört schon viel Fan-
tasie dazu, diese Entwicklung als Akt der Befreiung von
hegemonialer Beherrschung durch die USA zu bezeich-
nen.
Wie sehen denn die Realitäten in Kuba aus?
70 Prozent der Ackerflächen sind nicht bearbeitet.
80 Prozent der benötigten Nahrungsmittel werden im-
portiert und werden mit 2 Milliarden Dollar aus Erlösen
venezuelanischer Öllieferungen refinanziert. Die Misere
der Nahrungsmittelversorgung kann nun aber keines-
wegs der Blockadepolitik der USA angelastet werden.
Vielmehr sieht man die Perspektive in einer akademi-
schen Ausbildung, die durchaus auch beachtliche Leis-
tungen in der medizinischen Ausstattung hervorbringt.
Doch diese Errungenschaft wird in Exporte medizini-
scher Leistung gegen Devisen umgesetzt.
Die von Ihnen verurteilte Privatwirtschaft bahnt sich
demgegenüber selbst ihre Bahn und mündet nun in
zaghaften Entwicklungen von Handel, Tourismus und
Gastronomie.
Privatwirtschaft war nicht die Knute, sondern ist nun
die Basis für eine wirtschaftliche Entwicklung der Ge-
sellschaft und die Bildung selbstständiger Strukturen.
Das sozialistische System der Geschlossenheit und
der staatlichen Daseinsvorsorge ohne Refinanzierung hat
den Niedergang des Systems vorprogrammiert. Kuba
braucht nun Hilfe zur Strukturbildung und zur Nutzung
der unzweifelhaft vorhandenen Ressourcen und Rah-
menbedingungen für Landwirtschaft und Handwerk. Ein
Wirtschaftssystem kann nicht direkt in reine dienstleis-
tungsorientierte Strukturen überführt werden.
Wenn sie im Antrag von Verdrängungswettbewerb
bzw. Privatisierungs- und Liberalisierungsforderungen
sprechen und diese verurteilen, wird dies durch die jet-
zige Entwicklung exakt widerlegt. Privatisierung hat mit
Sicherheit keinen Schaden angerichtet, wie Sie im An-
trag vorwerfen, sondern ist der notwendige Weg in die
Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und
damit in eine wirtschaftliche Belebung. Dies ist bereits
jetzt im Tagesgeschehen auf den Straßen Kubas zu se-
hen, und es ist schon bedauerlich, liebe Frau Kollegin
Hänsel, als Mitreisende der Delegation, dass Sie vor ei-
nem solchen Aufbruch wider besseres Wissen die Augen
verschließen und uneinsichtig der Ideologie das Wort re-
den wollen. Das kubanische Volk hat lange genug darun-
ter gelitten. Es hat nun verdient, dass seine Bemühungen
auch in persönliches Wohlergehen münden.
Natürlich weist Lateinamerika durch die besondere
Bevölkerungsstruktur, durch die indigenen Bevölke-
rungsanteile und den historisch dramatischen Anteil an
Gewalt und Rechtlosigkeit eine schwierige Ausgangs-
lage auf, die auch eine besondere Vorgehensweise erfor-
dert. Gerade deshalb weist das Lateinamerika-Programm
des BMZ den richtigen Ansatz auf, die Gesellschaft
durch Bildung zu stabilisieren und vor allem bei der
wirtschaftlichen Entwicklung die Verpflichtung zur
Nachhaltigkeit zu beachten. Dabei geht aber keineswegs
die Augenhöhe mit den Staaten verloren.
Lateinamerika sieht sich kulturell sehr mit Europa
verbunden, und wir wissen seine besonderen Natur-
schätze zu würdigen und arbeiten an deren Erhalt mit.
Dies bedeutet Unterstützung zum Schutz gegen den Kli-
mawandel und dies bedeutet auch die zur Verfügungstel-
lung von modernem Know-how. Dies bedeutet aber auch
die Einbindung der Wirtschaft. Subsistenzwirtschaft ist
keine Entwicklungspolitik, sondern Stillstand und Resi-
gnation. Die Bildung von Sozialsystemen funktioniert
nur bei wirtschaftlichem Aufschwung. Dies haben die
Erfolge der Schwellenländer Mexiko und Brasilien vor-
geführt, auch wenn dort sicher noch viel Arbeit vor uns
liegt.
Die wirtschaftlichen Ansätze sind in der Region mit
Mexiko und Brasilien durchaus erkennbar. Auch dort be-
stehen aber in eklatantem Maße Rechtsstaatsdefizite, die
nur durch Stärkung der staatlichen Rechtssysteme besei-
tigt werden können. Ausbildung von Justizsystemen, Be-
seitigung der Straflosigkeit und vor allem Bekämpfung
der Korruption sowie des organisierten Verbrechens sind
vorrangige Ziele, die der Bevölkerung die Möglichkeit
eröffnen, sich in wirtschaftlichen Betätigungen eine Le-
bensgrundlage zu verschaffen.
Hier zeigt das Konzept des BMZ ebenfalls wertvolle
Ansätze und Kooperationen. Gerade die Thematik Bil-
dung – vor allem für Mädchen und junge Frauen – führt
zu einer massiven Zurückdrängung der Gewaltexzesse
und zur Stabilisierung des Gesellschaftssystems. Die
sehr geschätzte und nachgefragte Duale Ausbildung
setzt aber zwingend die Zusammenarbeit mit der Wirt-
schaft voraus. Dieses Konzept muss auf die besonderen
Lebens- und Produktionsverhältnisse zugeschnitten wer-
den. Genau dies leistet ebenfalls unsere Wirtschaft, weil
sie weiß, wie Produktivität zu optimieren ist. Dies ist
entgegen Ihrer Meinung kein Fluch und auch keine Aus-
beutung, sondern geboten. Der Aufruf zur Bildung von
Wirtschaftspartnerschaften ist das effektivste und sogar
kostengünstigste Entwicklungsmittel, mit dem gerade
auch der Gefahr der Korruption entgegengewirkt werden
kann.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9921
(A) (C)
(D)(B)
Dabei ist dann aber auch die Wahrung von wirtschaft-
lichen Interessen unserer Unternehmen nicht schädlich,
sondern konsequent und legitim. Wirtschaftliche Zusam-
menarbeit bedeutet den angemessenen Austausch von
Leistung und Gegenleistung – auch in der Form von
Handelsabkommen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
die Entwicklung in Kuba als exemplarischer Aufbruch
aus dem Sozialismus als Auslaufmodell heraus ist die
konsequente Antwort der Menschen auf natürliche Be-
dürfnisse nach Versorgung und Lebensqualität, nach Ge-
sundheit und gesunder und ausreichender Ernährung,
nach Bildung und Gleichberechtigung.
Die ideologische Predigt Ihres Antrags wird der
Würde dieser Menschen nicht gerecht.
Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Der Bot-
schafter von Honduras hat es erst kürzlich gut auf den
Punkt gebracht. Er sagte in einem Interview:
CELAC ist ein Forum des politischen Dialogs – wir
tauschen uns über bewährte Kooperations- und
Handelsverfahren aus. … Wenn wir mit Einzelstaa-
ten, oder auch der EU, an den Verhandlungstisch
treten, wird Honduras nicht mehr als ein einzelnes
Land wahrgenommen, sondern eher als Teil einer
aufstrebenden Wirtschaftsregion, deren dynami-
sches Wirtschaftswachstum ein ungeheures Poten-
zial birgt.
Die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Ka-
ribischen Staaten, CELAC, und die Europäische Union
werden sich in diesem Sinn dieses Jahr in Brüssel am
10. und 11. Juni zum achten EU-CELAC-Gipfel versam-
meln. Die Regierungen werden genau diesen Dialog
weiter pflegen und das angesprochene Potenzial in ihren
Regionen gegenseitig weiter fördern.
Das Format des internationalen Austauschs zwischen
61 teilnehmenden Staaten hat sich bewährt. Der Gipfel
bietet ein Forum, um die strategische Partnerschaft bei-
der Regionen fortzusetzen. Er bietet Raum für kontro-
verse Diskussionen, politische Erklärungen und Abkom-
men. Dieser Dialog ist nicht zu unterschätzen.
Die EU ist in der CELAC-Region der größte auslän-
dische Investor. Und sie ist zweitgrößter Handelspartner
der CELAC.
Zwischenstaatliche Bündnisstrukturen in Lateiname-
rika, wie die Pazifik-Allianz, können durch solche inter-
nationalen Formate gestärkt werden. Wie Sie wissen, ist
die Pazifik-Allianz eine Initiative der Staaten Peru, Me-
xiko, Chile und Kolumbien, welche sich im Bereich
Handel und Integration und bei der Entwicklung stabiler
demokratischer Strukturen unterstützen.
Besonders in Zeiten vielfältiger Krisen und teilweise
bedrohlicher Entwicklungen von fragilen und sich im
Zerfall befindlichen Staaten ist so ein friedlicher und re-
gelmäßiger menschenrechtsbasierter Dialog auf interna-
tionaler Ebene zentral. Die Folgen von fehlender Rechts-
staatsförderung, von fehlenden strukturellen Reformen
und fehlender sozialer Wirtschaftsförderung müssen wir
aktuell in Venezuela beobachten.
Ein Mittel der Gewaltprävention sind stabile Bünd-
nisstrukturen. Sie schaffen Transparenz und Sicherheit.
Sie sind die Grundlage für eine friedliche und nachhal-
tige Entwicklung von Gesellschaften auf der sozialen,
ökologischen und ökonomischen Ebene.
Die EU und CELAC sind gleichberechtigte Partner,
die sich zum großen Teil auf dem gleichen Werteparkett
bewegen. Sie begegnen sich trotz vorhandener Kontro-
versen in ihren Verhandlungen respektvoll und handeln
und lernen im gegenseitigen Interesse.
Der Gipfel trägt den Titel: „Gestaltung unserer ge-
meinsamen Zukunft: Für eine prosperierende, durch Zu-
sammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaft für
unsere Bürger“. Gefördert werden soll eine gemeinsame
Identität, die auf gemeinsamen Werten basiert. Teil des
Gipfels ist der Dialog über „bürgerorientierte Initiati-
ven“ und Innovationen im Bereich „nachhaltiges Wachs-
tum, Bildung, Sicherheit und Klimaschutz“.
Identität geschieht durch Dialog und Förderung von
Entwicklung. Die wirtschaftliche Entwicklung eines
Landes berührt auch alle anderen Entwicklungsbereiche
einer Gesellschaft.
Wenn wirtschaftliche Entwicklung ganzheitlich ge-
fördert wird, berücksichtigt sie die sozialen, ökologi-
schen und menschenrechtlichen Dimensionen. So sind
soziale marktwirtschaftliche Strukturen ein wesentlicher
Motor für Stabilität und Frieden. Das ist es, was wir wol-
len und begleiten.
Staatliche Überregulierung und das Abbrechen von
internationalen Verhandlungen tragen nicht zu einer
freien, ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung
von Gesellschaften bei.
Ganzheitliche Förderung von wirtschaftlicher Ent-
wicklung bedeutet im konkreten Fall auch, dass die Be-
reiche Bildung, Demokratieförderung, Förderung von
sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Stan-
dards Teil des politischen Dialogs mit nationalen, euro-
päischen und internationalen Akteuren sein müssen.
Genau das geschieht im Bereich der nachhaltigen
Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika immer
mehr. Natürlich sind die Themen der Armutsbekämp-
fung und Reduzierung von sozialer Ungleichheit in die-
sem Kontext zentral. Sie sind Teil eines beschwerlichen
Entwicklungswegs.
Das Bewusstsein für die Einhaltung der sozialen und
menschenrechtlichen Standards wächst mit dem Be-
wusstsein des betroffenen Staats und seiner von Unrecht
betroffenen Gemeinschaften. Das Thema der Landver-
treibungen im Zusammenhang mit der Rohstoffförde-
rung ist uns aus vielen lateinamerikanischen Staaten be-
kannt.
Sichtbarer werden auch die erhöhten Anstrengungen
deutscher Unternehmen, um für Transparenz in ihren
Lieferketten und im Umgang mit ihren internationalen
Zuliefererfirmen zu sorgen.
9922 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Vor wenigen Wochen sind die neuen Leitlinien für
Lateinamerika vom BMZ veröffentlicht worden. Auch
dort liegt der Fokus auf der Förderung der gemeinsamen
Werte und Interessen der Regionen diesseits und jenseits
des Atlantiks. Lateinamerikanische Staaten wollen, dass
europäische Unternehmen in ihren Ländern nachhaltig
investieren, und sie wollen im Bereich Klimaschutz und
Umweltschutz zusammenarbeiten. Damit verbunden ist
der Bedarf an stärkerem Know-how-Transfer. Denn es
ist bekannt, dass das Duale System in Deutschland eine
entscheidende Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg war
und ist. Daher sollten die Anfragen aus mehreren latein-
amerikanischen Ländern im Bereich des Exports von
dualen Ausbildungsstrukturen noch stärker berücksich-
tigt werden.
Deutschlands Entwicklungszusammenarbeit legt in
Abstimmung mit der EU ihren Fokus auf die Bereiche
Umweltschutz, Klimaschutz, Schutz von Regenwald und
Meeren sowie auf die nachhaltige Bekämpfung des Kli-
mawandels. Exzellenzzentren für erneuerbare Energien
und Geothermie-Entwicklungsfazilität sollen geschaffen
werden. Außerdem sind die Themen Dezentralisierung,
Strukturpolitik, Ordnungspolitik und Rechtsstaatsförde-
rung besonders in den Andenländern, aber auch in Zen-
tralamerika weiterhin ein Schwerpunkt. Auch die
Gewaltprävention, die Stärkung von Menschenrechtsin-
stitutionen und besonders die Unterstützung beim Frie-
densprozess in Kolumbien sind wichtige Anliegen deut-
scher EZ. Die gemeinsame Bearbeitung dieser Themen
und die Begleitung durch uns Parlamentarier tragen zur
friedlichen Entwicklung der Regionen bei.
Mit 1 Milliarde Euro jährlich fördert Deutschland
seine EZ in Lateinamerika und fördert dabei auch immer
mehr das Modell der Dreieckskooperationen, um den
Einsatz von Eigenmitteln aus den Partnerländern zu ver-
stärken. Das unterstreicht das Prinzip der Hilfe zu
Selbsthilfe und die Stärkung der Zusammenarbeit der
Akteure vor Ort. Denn Staaten wie Mexiko und Brasi-
lien sind als Schwellenländer bereits selbst in der Lage,
andere lateinamerikanische Staaten zu unterstützen, und
tun es auch.
Natürlich ist es entscheidend, dass auch bekannte und
aktuelle Probleme auf dem Gipfel angegangen werden.
Lateinamerika ist immer noch eine Region, in der ex-
treme Unterschiede in der Einkommensverteilung inner-
halb der Gesellschaften existieren. Auch der Zugang zu
Bildung, zu Gesundheitssystemen und zum Arbeits-
markt ist nicht für jeden Bürger gleich garantiert. Starke
Defizite in der Armutsbekämpfung und damit auch im
Bereich Kriminalitätsbekämpfung und Korruptionsbe-
kämpfung müssen noch mehr thematisiert und bearbeitet
werden.
Auch soziale Teilhabe und das Einfordern von sozia-
len und ökologischen Rechten ist in einigen Ländern La-
teinamerikas noch immer sehr gefährlich. Regierungen
in Guatemala, Mexiko, Kolumbien und Honduras müs-
sen hier noch viel mehr tun und unterstützt werden. Vor
allem die Regierungen selbst müssen die Rechte ihrer
Bürger schützen – und das heißt konkret, die Menschen
vor dem gewaltsamen Tod, der sozialen Diskriminie-
rung, der Folter, Erpressung und dem systematischen
Verschwinden schützen. Die strukturelle Korruptionsbe-
kämpfung stellt hier sicherlich ein Schlüsselthema dar.
Darauf gehen Sie in Ihrem Antrag nicht ein, sondern
konzentrieren sich – das war ja nicht anders zu erwarten –
auf die Aufhebung der TTIP-Verhandlungen und die an-
gebliche positive Wirkung der staatlichen Regulierung.
Wichtiger als die Verdammung der aktuellen Han-
delspolitik ist im Rahmen der aktuellen Dialoge und Ver-
handlungen eine Sensibilisierung für die vielfältigen Be-
dürfnisse und Rechte der einzelnen Gesellschaften und
Gesellschaftsschichten in den einzelnen Ländern Latein-
amerikas. Eliten können sich effizient für benachteiligte
Akteure und Gruppen wie Indigene und die Landbevöl-
kerung einsetzen, wenn das entsprechende Bewusstsein
gefördert wird.
Hier geht es besonders um das Thema Rechtsschutz
von Menschenrechtsaktivisten, aber auch um flächende-
ckende und nachhaltige Bildungsprogramme. Die Men-
schenrechte und der Schutz von Menschenrechtsvertei-
digern sind integraler Bestandteil der auswärtigen Politik
der EU. Eine entsprechende Resolution des Europäi-
schen Parlaments aus dem Jahr 2010 ist zwar wie die
Richtlinien nicht unmittelbar rechtlich verpflichtend, hat
aber dennoch eine starke politische Wirkung. Sichtbar
wird dies immer wieder beim nationalen und europäi-
schen Dialog zu anstehenden Verhandlungen mit Kuba.
Europäische und nationale Entwicklungszusammen-
arbeit mit Kuba kann jedoch erst dann verwirklicht wer-
den, wenn eine allgemeine Verhandlungsbasis geschaf-
fen worden ist. Dazu zählt auch die Einhaltung der
Menschenrechte in Kuba.
Die staatliche und die nichtstaatliche EZ leisten in
vielen Staaten Lateinamerikas seit Jahren kontinuierli-
che Arbeit. Die EZ unterstützt einerseits strukturell in
den genannten Themenbereichen. Andererseits engagie-
ren sich die politischen Stiftungen sowie auch zahlreiche
Nichtregierungsorganisationen und vor allem die Kir-
chen durch jahrzehntelange Präsenz. Sie arbeiten auf
mehreren Ebenen mit parlamentarischen Akteuren, Ver-
bänden, kommunalen Verantwortungsträgern und ländli-
chen Gemeinschaften und stärken Rechte und Rechtsbe-
wusstsein von Kindern, Frauen, Männern, Familien und
Gemeinschaften. Der Dialog zwischen Regierungen,
Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Volksvertretern ist hier
ein zentrales Element.
Da Sie den Dialog auf verschiedenen Ebenen abbre-
chen wollen und bestehende und tragfähige europäische
Handelsabkommen nicht mittragen, wollen wir Ihrem
Antrag nicht zustimmen.
Als Parlamentarier müssen wir im Gespräch mit den
Unternehmen stehen, die beispielsweise ihre Kohle von
internationalen Unternehmen in Kolumbien importieren.
Wir müssen an ihre Moral appellieren, aber auch an die
Regierungen in den jeweiligen Rohstoffländern, damit
sie ihr Volk und besonders die indigenen Völker schüt-
zen. Genauso müssen wir auch zukünftige internationale
Handelsabkommen mit unseren Standards füllen und uns
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9923
(A) (C)
(D)(B)
an den weltwirtschaftlichen Handelsbewegungen beteili-
gen, anstatt sie abzulehnen.
Das ist ein langer Weg des Dialogs, aber einer, bei
dem es sich auch in unserem eigenen Interesse der
Glaubwürdigkeit Europas lohnt, ihn weiterzugehen.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Wir debattieren heute
Abend den Antrag der Fraktion Die Linke zum EU-La-
teinamerika-Gipfel, der in diesem Jahr im Juni in Brüs-
sel stattfinden wird. Auf den Gipfel mit dem diesjähri-
gen Titel „Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft:
Für eine prosperierende, durch Zusammenhalt geprägte
und nachhaltige Gesellschaft für unsere Bürger“ werde
ich in meiner Rede nicht näher eingehen. Vielmehr
möchte ich mich in meinem Beitrag auf die Kernbot-
schaft des hier zur Debatte stehenden Antrages konzen-
trieren.
Der Antrag liest sich teilweise leider wie eine unkriti-
sche Lobeshymne auf alle linksgerichteten Regierungen
Lateinamerikas und trägt meiner Meinung nach mehr zur
Polarisierung der bereits gespaltenen Gesellschaften in
Lateinamerika bei. Um nicht missverstanden zu werden:
Als Entwicklungspolitiker bin ich sehr erfreut darüber,
dass insbesondere in Ländern mit linken Regierungen
die Armutsbekämpfung große Fortschritte gemacht hat.
Es ist schön, dass mehrere Millenniumsentwicklungziele
in vielen Teilen Lateinamerikas in diesem Jahr fristge-
recht erreicht werden. Allerdings interessiere ich mich
nicht nur für die sozialen, sondern auch für die politi-
schen Menschenrechte. Und da sieht es in einigen von
der Linkspartei überschwänglich gelobten Ländern kei-
neswegs nur gut aus.
Was Kuba betrifft, begrüßen wir als SPD-Fraktion die
Annäherungsbestrebungen zwischen den USA und Kuba.
Präsident Obama hat einen mutigen und lange überfälli-
gen Schritt getan. Wir sehen dies als eine große Chance
für Europa, die bisherige Kuba-Politik zu überdenken.
Daher begrüßen wir auch die aktuellen diplomatischen
Bemühungen der EU-Außenbeauftragten Mogherini und
ihr Vorhaben, bis zum EU-Lateinamerika-Gipfel im Juni
ein neues, auf Dialog basierendes Abkommen mit Kuba
beschließen zu wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
Sie werden sich sicherlich noch daran erinnern, dass wir
uns als SPD bereits Anfang 2000 mit der damaligen Ent-
wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stets
um einen konstruktiven entwicklungspolitischen Ansatz
mit Kuba bemüht haben. Auch in den darauffolgenden
Jahren haben wir uns für eine Neuausrichtung der Kuba-
Politik in der EU regelmäßig eingesetzt. So sehr ich die
neuen Entwicklungen begrüße, wird aber Kuba nicht da-
rum herumkommen, den Menschen endlich volle politi-
sche Meinungsfreiheit zu garantieren. Nach wie vor ist
freie, regierungskritische Meinungsäußerung gefährlich
und kann im Gefängnis enden. Auch der Zugang zum In-
ternet ist verboten bzw. wird staatlich erschwert, und die
Reisefreiheit ist immer noch äußerst restriktiv. Warum
werden diese Missstände von meinen Kollegen der Lin-
ken immer ignoriert? Warum fordern sie nicht an dieser
Stelle die Einhaltung der Menschenrechte, so wie sie es
sonst immer so vehement tun?
In diesem Zusammenhang ist für mich die unkritische
Haltung der Linksfraktion in Bezug auf Venezuela ge-
nauso inakzeptabel. Seit nun fast 20 Jahren stellt die so-
zialistische Partei von Hugo Chavez die Regierung, und
die Lebenssituation der Venezolaner – trotz einiger Er-
folge in der Armutsbekämpfung und Basisversorgung –
war noch nie so desolat. Es herrscht Lebensmittelknapp-
heit in einem fruchtbaren Land, sodass fast bis zu
80 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden müs-
sen. Die Industrie und die Wirtschaft liegen brach am
Boden, nachdem die meisten Betriebe teilweise zwangs-
weise verstaatlicht wurden. Und obwohl Venezuela eines
der erdölreichsten Länder ist, muss es regelmäßig Neu-
kredite in Milliardenhöhe von China aufnehmen.
Der jetzige Präsident Maduro setzt den autoritären
Regierungsstil seines Vorgängers und Ziehvaters Chavez
ungehindert fort. Er duldet keine politische Opposition
und macht sie entweder mundtot oder steckt sie gleich
ins Gefängnis, so wie es mit den zwei Oppositionspoliti-
kern Leopoldo Lopez und dem Bürgermeister der Stadt
Caracas, Antonio Ledezma, derzeit der Fall ist. Beiden
Politikern wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen,
einen Staatsstreich geplant zu haben. Darüber zu berich-
ten, ist nicht einfach, denn in Venezuela ist derzeit so gut
wie keine freie oder unzensierte Berichterstattung mög-
lich.
Und genau vor diesem Hintergrund fordern die Lin-
ken in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die „so-
zialen und demokratischen Errungenschaften“ Venezue-
las auf dem Gipfel in Brüssel zu loben. Das wird bei den
europäischen Kollegen mit Sicherheit nicht auf viel Zu-
stimmung stoßen, nachdem das EU-Parlament bereits im
vergangenen Jahr mit großer Mehrheit eine Resolution
verabschiedet hat, die die unverzügliche Freilassung al-
ler willkürlich verhafteten Demonstranten, Studenten
und Oppositionsführer forderte.
Der Antrag enthält durchaus auch einige Forderun-
gen, die ich mittragen könnte. So bin auch ich für eine
„Neuausrichtung“ der europäischen Handelspolitik.
Denn trotz Formulierungen in den bereits bestehenden
Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru,
in dem sich die Vertragspartner dafür ausgesprochen
haben, arbeits- und umweltrechtlich Mindestnormen ein-
zuhalten, sind beide lateinamerikanische Staaten in
Wirklichkeit noch sehr weit davon entfernt, diesen Ver-
pflichtungen nachzukommen. Und obwohl es auch in
beiden Ländern zu einem Rückgang der Gewalt gegen
Gewerkschafter insgesamt gekommen ist, finden weiter-
hin brutale und tödliche Übergriffe auf Gewerkschafter
statt. An dieser Stelle wäre in dem Abkommen eine ver-
pflichtende und sanktionsbehaftete Regelung unbedingt
notwendig gewesen.
Der kommende Gipfel in Brüssel sollte dazu genutzt
werden, um genau auf diese Missstände hinzuweisen. Es
sollten klare Botschaften formuliert werden, die im
Sinne der Kohärenz in anderen Politikbereichen – wie
beispielsweise in der Außenhandelspolitik – ihre An-
9924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
wendung finden. Es sollte in Brüssel nicht darum gehen,
Regierungen je nach politischer Couleur zu loben. Men-
schenrechte kennen kein Parteibuch.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Der 7. Gipfel der Orga-
nisation der Amerikanischen Staaten, OAS, im April
2015 stellte eine historische Zäsur dar. Erstmals reichten
sich die Präsidenten der USA und Kubas während eines
offiziellen, geplanten Gesprächs die Hände. Mit dieser
Begegnung zwischen Barack Obama und Raul Castro
verbindet sich die Hoffnung auf neue, auf gegenseitigem
Respekt basierende Beziehungen zwischen den USA so-
wie den Staaten Lateinamerikas. Diese Entwicklung ist
das Ergebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in
Lateinamerika, der in den vergangenen zehn Jahren von
linken Regierungen vorangetrieben worden ist. Er hat
die hegemoniale Rolle der USA auf dem Kontinent er-
heblich geschwächt und damit den Staaten Lateinameri-
kas eine gleichberechtigtere Position gegenüber den
USA verschafft.
Es freut mich besonders, dass Fidel Castro diesen his-
torischen Moment erleben kann. Das sozialistische Kuba
hat der aggressiven Politik der USA widerstanden. Fidel
Castro selbst hat elf US-Präsidenten und zahllose Atten-
tatsversuche der CIA überlebt. Aber Kuba konnte auch
durch eine völkerrechtswidrige Handelsblockade und
Terrorakte nicht in die Knie gezwungen werden. Weil in
ganz Lateinamerika die Solidarität mit Kuba in dem
Maße gewachsen ist, wie die Anfeindungen aggressiver
wurden.
Und das nicht ohne Grund. Wir wissen, dass Kuba ei-
nen großen Anteil an der Armutsbekämpfung in Latein-
amerika hat. Zehntausende von kubanischen Ärzten ar-
beiten weltweit, auch in vielen lateinamerikanischen
Ländern, und versorgen dort die Menschen, die bis dahin
keinen Zugang zu medizinischer Betreuung hatten. Auch
in den von Ebola betroffenen Regionen Westafrikas. Me-
dizinstudentinnen und -studenten aus vielen Ländern des
Südens werden in Kuba für den Dienst in ihren Heimat-
ländern ausgebildet. Kubanische Pädagoginnen und
Pädagogen haben ein Alphabetisierungsprogramm ent-
wickelt, das auf dem gesamten Kontinent zum Einsatz
kommt und durch das Millionen Menschen lesen und
schreiben gelernt haben.
Kuba spielt eine Schlüsselrolle im Prozess der politi-
schen Einigung des Kontinents. Die Integrationsprojekte
ALBA und CELAC gehen maßgeblich auf das kubani-
sche und venezolanische Engagement zurück. Und nicht
zufällig finden in Havanna die Friedensverhandlungen
statt, die den ältesten bewaffneten internen Konflikt der
Region, den Krieg in Kolumbien, der Zehntausende von
Toten gefordert hat, beenden sollen.
Der Weg nach Lateinamerika führt deshalb über
Kuba. Doch die Bundesregierung bringt es fertig, in
diesen bewegten Zeiten – in Zeiten einer epochalen Ver-
änderung, die sich in Lateinamerika vollzieht – ein La-
teinamerika-Konzept zu formulieren, das diese Entwick-
lungen in keinem Wort erwähnt. Dabei liegen hier große
entwicklungspolitische Potenziale.
Kuba verfolgt seit 1959 eine vielfach von internatio-
nalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisa-
tion und sogar der Weltbank belobigte erfolgreiche
Orientierung auf freien Zugang zu Bildung und Gesund-
heit. Kuba gehört zu den wenigen Ländern des Südens,
in denen niemand Hunger leiden muss. Andere links re-
gierte Länder wie Venezuela, Ecuador, Bolivien, Brasi-
lien und Nicaragua gehören zu den Ländern, die in der
Bekämpfung von Hunger und Armut in den letzten Jah-
ren die größten Erfolge erzielt haben. Sie haben die Ar-
mutsraten erheblich gesenkt und es zugleich geschafft,
die soziale Ungleichheit, die in ihren Ländern traditio-
nell sehr stark ausgeprägt war, zu verringern. Das bewei-
sen unter anderem die jährlichen Statistiken der UN-
Wirtschaftskommission für Lateinamerika, CEPAL.
Alle diese Prozesse sind auch widersprüchlich. Das
sage ich ganz bewusst angesichts der derzeitigen schwie-
rigen ökonomischen Lage in Venezuela. Die Prozesse
weisen innere Widersprüche auf. Ihnen stehen mächtige,
über Jahrzehnte gewachsene Macht- und Profitinteressen
im Inneren der Gesellschaften entgegen – und geostrate-
gische Interessen von außen. Es ist vielen lateinamerika-
nischen Ländern bisher auch nicht gelungen, sich aus
einseitigen Handelsbeziehungen, Export von Rohstof-
fen, Import von Industriegütern, zu befreien. Auch die
Abhängigkeit von der Förderung fossiler Rohstoffe
wurde bisher nicht überwunden. All das sind gemein-
same Herausforderungen auf dem Weg zu einer interna-
tionalen Klimaschutzpolitik. Hier gäbe es viele Poten-
ziale für eine Kooperation zwischen Europa und
Lateinamerika. Zum Beispiel einen Transfer von Tech-
nologie und Ausbildung im Bereich der regenerativen
Energien. Auch Kuba, das der Entwicklungsausschuss
erst vor wenigen Wochen erstmalig besucht hat, hat da-
ran ein großes Interesse.
Die Realität ist aber eine andere. Die US-Regierung
unter Präsident Obama hat dem sozialistischen Venezu-
ela offen den Kampf angesagt. Präsident Obama selbst
hat vor einigen Wochen ein skandalöses Dekret erlassen,
das Sanktionen gegen die demokratisch gewählte Regie-
rung von Präsident Nicolas Maduro Tür und Tor öffnet.
Wie überzogen, wie realitätsfern diese Linie ist, zeigt
sich in der Formulierung, Venezuela würde eine „Bedro-
hung für die nationale Sicherheit“ der USA darstellen. In
Lateinamerika hat das massive Empörung und heftige
Gegenreaktionen provoziert. Die neue, aggressive Linie
Washingtons führte auch dazu, dass auf dem Amerika-
Gipfel in Panama wieder einmal keine gemeinsame Ab-
schlusserklärung zustande kam. Aber hat die Bundesre-
gierung die neuen Fehlentwicklungen in der US-Politik
angesprochen, die quasi ein Spiegel der historisch ver-
fehlten Kuba-Politik sind? Fehlanzeige. In Berlin
herrschte und herrscht Schweigen. Wir lehnen jegliche
Angriffe auf Venezuela ab. Das venezolanische Volk
muss sein Schicksal selbst bestimmen können. Und wer
ernsthaft abstreitet, dass dies bei Wahlen in dem südame-
rikanischen Land möglich ist, wie dies aus den Reihen
der Union zu vernehmen ist, ist politisch einfach nicht
ernst zu nehmen.
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Auch der Friedensprozess in Kolumbien braucht in-
ternationale Unterstützung, nachdem sich bisher vor al-
lem Kuba, Venezuela, Chile und Norwegen engagiert ha-
ben. Es bleibt zu hoffen, dass der Abschluss eines
Friedensabkommens in Havanna den Anfang für eine
demokratischere und sozialere Entwicklung bedeutet.
Dafür wird es aber notwendig sein, dass die breite so-
ziale Bewegung tatsächlich in den Prozess aktiv inte-
griert und die Menschenrechtsverteidigerinnen und -ver-
teidiger und Opferverbände nicht mehr verfolgt, sondern
geschützt werden. Ich appelliere an die kolumbianische
Regierung: Rufen Sie auch einen umfassenden Waffen-
stillstand aus! Dies wäre ein deutliches, glaubwürdiges
Zeichen der Regierung und Armee für die Friedensver-
handlungen.
Wir können viel aus der erfolgreichen Armutsbe-
kämpfung in den progressiv regierten Ländern Latein-
amerikas lernen – für unsere Entwicklungspolitik, aber
auch für den Umgang mit der Krise im Euro-Raum. Im
linken Lateinamerika sinkt die Armut, im neoliberalen
Europa wächst sie. Wir haben also etwas von den Latein-
amerikanerinnen zu lernen und ihnen keine Ratschläge
zu erteilen. Dies wäre ein wichtiges Signal, das von dem
kommenden EU-CELAC-Gipfel im Juni in Brüssel aus-
gehen könnte.
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
im Juni stattfindende Brüsseler Gipfeltreffen zwischen
der EU und dem Staatenbündnis CELAC eröffnet die
Chance, sich für eine strategische Partnerschaft zwi-
schen Europa und Lateinamerika stark zu machen.
Lateinamerika hat mit seinen rund 560 Millionen
durchschnittlich sehr jungen Menschen, einer starken
Zivilgesellschaft, positiven wirtschaftlichen Kennzah-
len und einem enormen Reichtum an natürlichen Res-
sourcen großes Potenzial. Der Staatenverbund kann ein
wichtiger Bündnispartner für Europa auf der Suche nach
Lösungen für globale Herausforderungen wie die
Finanz-, Wirtschafts-, Klima- und Ernährungskrisen
sein.
Die Bundesregierung muss den anstehenden Gipfel
zum Anlass nehmen, sich auf EU-Ebene für eine grund-
sätzliche Veränderung der derzeit durch wirtschaftliche
Interessen dominierten Beziehung mit Lateinamerika
und der Karibik stark zu machen, und Impulse für eine
menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung auf
beiden Kontinenten setzen.
Derzeit werden die globalen Krisen durch die Han-
delsstrategie der EU und der CELAC-Staaten noch ver-
schärft. Intransparenz und geringe politische Partizipa-
tion führen dazu, dass unter Umgehung von Parlamenten
und Ausschluss der Zivilgesellschaft Abkommen und
Verträge abgeschlossen werden, die zu ökologischen und
sozialen Verwerfungen führen und Partikularinteressen
den Vorrang vor dem Gemeinwohl geben. Dabei finden
die Menschenrechte nicht genug Beachtung.
Hoher Fleischkonsum und Massentierhaltung in
Europa sind mitverantwortlich für den ressourceninten-
siven Anbau von genmanipuliertem Soja, der zu einer
massiven Belastung von Mensch und Umwelt, zur Ver-
treibung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und In-
digenen sowie zum Verlust wertvoller Ökosysteme führt.
Der ungebremste Rohstoffhunger der EU treibt den ex-
tensiven Bergbau und die Gewinnung seltener Erden vo-
ran. Dadurch werden vor Ort unter anderem der Energie-
und Wasserverbrauch, der Druck auf Wälder und Böden
gesteigert und Land Grabbing gefördert. Daran trägt die
EU eine Mitschuld.
Ziele des Gipfeltreffens müssen deshalb die Erarbei-
tung von Konzepten für eine diversifizierte und nachhal-
tige Wirtschafts- und Handelsstrategie und der Beginn
einer intensiven Diskussion mit den lateinamerikani-
schen Parlamenten und der Zivilgesellschaft sein. Ein
verstärkter Einsatz beider Regionen für den Schutz der
Menschenrechte ist zudem von größter Wichtigkeit. Ei-
nige der LAK-Staaten weisen alarmierende Anzeichen
fragiler Staatlichkeit auf. Der Kampf gegen die organi-
sierte Kriminalität und die Drogenkartelle hat in vielen
Ländern zu hohen Opferzahlen geführt. Zuletzt zeigte
die schreckliche Ermordung der Studenten in Mexiko,
wie es die dortigen Sicherheitskräfte mit den Menschen-
rechten halten. Dazu darf Deutschland nicht weiter
schweigen.
Die Kanzlerin darf neben ihrem Bemühen, auf diesen
Gipfeln Zutritt zu den attraktiven lateinamerikanischen
Märkten zu gewinnen, nicht vergessen, auch für die
Frauenrechte einzutreten, so wie sie es für den G-7-Gip-
fel angekündigt hat. Lateinamerika schlägt Deutschland
zwar in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, in den Frau-
enanteilen in der Politik und einer geringeren Einkom-
mensschere zwischen Männern und Frauen. Gleichzeitig
hat der lateinamerikanische Kontinent für seine herr-
schende soziale Ungleichheit Berühmtheit erlangt. Nicht
nur sind Frauen überproportional von politisch-sozialer
Teilhabe ausgeschlossen; sie sind auch stärker von den
Auswirkungen der extensiven Ressourcenausbeutung,
von Klimawandel und bewaffneten Konflikten betroffen.
Die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen nimmt
nicht ab. Die Straflosigkeit bei den unterschiedlichen
Gewaltformen liegt bei weit über 90 Prozent.
Die Verhandlungen auf den EU-CELAC-Gipfeln ver-
nachlässigen nicht handelspolitische Dimensionen der
Partnerschaft: den politischen Dialog und die Zusam-
menarbeit in Bereichen wie der Armutsreduzierung, den
Menschenrechten, der Stärkung des Rechtsstaates, dem
Klima- und Umweltschutz, sozialer Kohäsion und Ge-
schlechtergerechtigkeit, Bildung und Beschäftigung,
Innovation und Technologie und der Vereinbarung von
Nachhaltigkeits-, Transparenz- und Menschenrechtskri-
terien im Agrar- und Bergbausektor.
All dies sind Themen, die die „strategische Partner-
schaft“ der EU und der LAK-Staaten mit konkreten In-
halten füllen können. Die aktuellen multilateralen Pro-
zesse im Gipfeljahr sollten dafür als geeigneter Rahmen
dienen. Lateinamerika ist eine sehr selbstbewusste Re-
gion. Dies zeigt sich zum Beispiel in der zunehmenden
Selbstständigkeit regionaler Institutionen und der zuneh-
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menden Unabhängigkeit von klassischen Finanzorgani-
sationen wie dem Internationalen Währungsfonds, IWF,
und der Weltbank. Nicht zuletzt die Initiativen für die
SDGs gehen auf lateinamerikanischen Anstoß zurück.
Die CELAC-Staaten haben ihre Abhängigkeit von den
USA deutlich verringert und sind auch weniger auf
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Europa angewiesen. Sollten es die europäischen Regie-
rungen erneut verpassen, die LAK-Staaten als strategi-
sche Partner im Kampf gegen Armut und Klimawandel
ernst zu nehmen und einzubinden, so könnten diese die
wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Regionen vor-
ziehen und die zu Europa in Zukunft vernachlässigen.
(D)
kerei, Bessemerstraße 83–91, 1
lefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
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103. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Fracking, Bergschadenshaftung, Bergbaurecht
TOP 4, ZP 2 50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel
TOP 5, 19 a Asylpolitik, finanzielle Verantwortungsteilung
TOP 23, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 24 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 6 Europäische Hochschulbildung
TOP 7 Informationsweiterverwendungsgesetz
TOP 8 Völkermord in Ruanda – Historische Aufarbeitung
TOP 9 Bundeswehreinsatz Operation Atalanta vor Somalia
TOP 10 Arbeit in der Wissenschaft
TOP 11 EU-Richtlinie über GmbH mit einem Gesellschafter
TOP 12 Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch
TOP 13 Bundeswehreinsatz in Liberia
TOP 22 Geschichte des Bundeskanzleramtes
TOP 15 Rindfleischetikettierungsgesetz
TOP 16 Empfehlung der VN zur Behindertenrechtskonvention
ZP 4 Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion
TOP 17 EU-Lateinamerika-Gipfel
Anlagen