Protokoll:
18100

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 100

  • date_rangeDatum: 23. April 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:20 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/100 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 100. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Maria Böhmer, Heinz Wiese (Ehingen), Lothar Binding (Heidelberg) und Dr. Diether Dehm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9479 A Begrüßung der neuen Abgeordneten Iris Eberl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9479 B Wahl der Abgeordneten Julia Obermeier und Dr. Bernd Fabritius als Vertreter der Bun- desrepublik Deutschland zur Parlamenta- rischen Versammlung des Europarates . . . 9479 B Wahl des Abgeordneten Eckhardt Rehberg als Mitglied des Verwaltungsrates der Kre- ditanstalt für Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . 9479 C Wahl der Abgeordneten Dr. Anja Weisgerber als Mitglied des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur . . . . . . . . . . . 9479 C Wahl der Abgeordneten Birgit Menz als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9479 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9479 D Absetzung des Tagesordnungspunktes 18 . . . 9480 C Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 9480 C Begrüßung des Präsidenten des Repräsen- tantenhauses von Neuseeland, Herrn David Carter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9491 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung eines Nach- trags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2015 (Nachtragshaushaltsgesetz 2015) Drucksache 18/4600 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9480 D b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung von Ländern und Kommu- nen bei der Aufnahme und Unterbrin- gung von Asylbewerbern Drucksache 18/4653 (neu) . . . . . . . . . . . . 9480 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Katja Dörner, Oliver Krischer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Heute für morgen investieren – Damit unsere Zukunft nachhaltig und ge- rechter wird Drucksache 18/4689 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9481 A Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9481 B Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 9483 C Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . 9485 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9486 D Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9488 B Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9490 A Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9491 B Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9493 A Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9494 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9496 A Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9497 B Bernhard Daldrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9498 D Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9500 B Tagesordnungspunkt 4: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Kleinanlegerschutzgesetzes Drucksachen 18/3994, 18/4708 . . . . . . . . 9501 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/4709 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9501 D Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9502 A Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9503 D Heiko Maas, Bundesminister BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9504 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9505 D Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 9506 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 9508 A Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9509 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9510 C Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9511 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9512 D Dr. Jens Zimmermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9513 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9514 B Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9515 C Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9517 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 9519 A Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Özcan Mutlu, Omid Nouripour, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- wirklichung des Geburtsrechts im Staats- angehörigkeitsrecht Drucksache 18/4612 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9520 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9520 C Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9521 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9523 B Dr. Lars Castellucci (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9524 D Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9526 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9528 A Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) . . . . . . . 9528 D Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9530 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9533 B Tagesordnungspunkt 30: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Informa- tionsweiterverwendungsgesetzes Drucksache 18/4614 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- ten Gesetzes zur Änderung des Rind- fleischetikettierungsgesetzes Drucksache 18/4615 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 A c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundes- jagdgesetzes Drucksache 18/4624 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 A d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Häftlingshilfe- gesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes Drucksache 18/4625 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 B e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Neun- ten Gesetzes zur Änderung des Weinge- setzes Drucksache 18/4656 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 B Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsame Grundwerte stärken – Europa stärken Drucksache 18/4686 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 B b) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte in- digener Völker stärken durch Ratifika- tion der ILO-Konvention 169 Drucksache 18/4688 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 III Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Einfluss von Interessenvertre- tern auf die Infrastrukturpolitik der Bun- desregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 C Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 9534 D Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9535 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9536 D Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9538 B Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9539 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 9541 A Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär für Wirtschaft und Energie . . . . . . . . . . . . . . . 9542 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9544 B Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 9545 C Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9546 C Mark Hauptmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9548 A Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9549 B Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9550 C Tagesordnungspunkt 6: Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- beauftragten: Jahresbericht 2014 (56. Be- richt) Drucksache 18/3750 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9551 C Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . 9551 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . 9554 A Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9555 A Heidtrud Henn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9555 D Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9557 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . 9558 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9559 C Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kin- derfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags Drucksache 18/4649 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9560 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9560 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 9562 A Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9563 A Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9564 B Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9565 C Frank Junge (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9566 B Gudrun Zollner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9567 C Tagesordnungspunkt 8: Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krieg in Afghanistan – Eine Bilanz Drucksachen 18/2144, 18/4168 . . . . . . . . . . . 9568 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9568 C Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 9569 D Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . 9570 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9571 B Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9572 C Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9573 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9574 B Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9575 B Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre Drucksache 18/4630 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9576 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9576 B Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9577 C Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) . . . . . . . 9578 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9580 C Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9581 C IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 Tagesordnungspunkt 10: a) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Dr. Franziska Brantner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Solidari- tät zeigen – Aufnahme von syrischen und irakischen Flüchtlingen ausweiten Drucksachen 18/3154, 18/4163 . . . . . . . . 9582 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für Jesiden, Kur- den und andere Schutzbedürftige im Norden des Irak und Syriens Drucksachen 18/2742, 18/4417 . . . . . . . . 9582 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9582 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9584 A Christina Kampmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9585 A Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9586 C Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9588 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9589 B Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 9590 A Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der zivilrechtlichen Durch- setzung von verbraucherschützenden Vor- schriften des Datenschutzrechts Drucksache 18/4631 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9591 B Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9591 C Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9592 B Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9593 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9594 A Michelle Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9595 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9595 D Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Staat Palästina anerkennen – Vollmitglied- schaft Palästinas in der UNO aktiv unter- stützen Drucksache 18/4334 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9596 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9596 C Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 9597 C Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9598 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9599 B Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9600 D Tagesordnungspunkt 13: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung der Verfolgung der Vorberei- tung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG-Änderungsgesetz – GVVG- ÄndG) Drucksachen 18/4087, 18/4705 . . . . . . . . 9601 D – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ver- folgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG-Änderungsgesetz – GVVG- ÄndG) Drucksachen 18/4279, 18/4705 . . . . . . . . 9602 A Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9602 B Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9603 A Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9603 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9604 D Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9605 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9606 B Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9607 A Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Tabea Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fluglärm wirksam reduzieren Drucksache 18/4331 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9608 B Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9608 C Ulli Nissen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9609 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 V Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9610 A Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9611 B Arno Klare (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9612 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9613 A Florian Oßner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9614 C Tagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personal- ausweises und zur Änderung des Pass- gesetzes Drucksachen 18/3831, 18/4706 . . . . . . . . 9616 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Perso- nalausweisgesetzes zur Einführung ei- nes Ersatz-Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes Drucksachen 18/4280, 18/4706 . . . . . . . . 9616 B Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine be- enden Drucksachen 18/3314, 18/3932 . . . . . . . . . . . 9616 C Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Perso- nalrechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost Drucksachen 18/3512, 18/4707 . . . . . . . . . . . 9616 D Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer (Bochum), Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: UN-Ziele für nach- haltige Entwicklung global gestalten – Post 2015-Agenda auf den Weg bringen – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Armut und soziale Ungleichheit weltweit überwinden, na- türliche Grundlagen bewahren – zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Annalena Baerbock, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtigkeit Drucksachen 18/4088, 18/4091, 18/3156, 18/4669 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9617 A Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfah- ren (3. Opferrechtsreformgesetz) Drucksache 18/4621 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9617 D Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb Drucksache 18/4535 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9617 D Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung so- wie zur Änderung soldatenrechtlicher Vor- schriften Drucksache 18/4632 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9618 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9618 B Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9619 A VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Metin Hakverdi (SPD) zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfolgung der Vorberei- tung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG-Änderungsgesetz – GVVG-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 13) . . . 9619 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes (Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes (Entwurf der Bundesregierung) (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 9620 B Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9620 C Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . 9621 B Ulla Jelpke (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . . 9622 C Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9623 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Deutsche Beteiligung an der EU- Polizeimission in der Ukraine beenden (Ta- gesordnungspunkt 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9624 A Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . 9624 A Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9624 D Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9625 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9627 C Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9628 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterent- wicklung des Personalrechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundes- post (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . 9629 C Dr. André Berghegger (CDU/CSU) . . . . . . . 9629 C Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . 9630 C Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9631 C Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9632 B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu den Anträgen: – UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung global gestalten – Post 2015-Agenda auf den Weg bringen – Armut und soziale Ungleichheit weltweit überwinden, natürliche Grundlagen be- wahren – Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtigkeit (Tagesordnungspunkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . 9633 A Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9633 A Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9634 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9636 B Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9637 A Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin BMUB . . . . . . . . . 9638 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Op- ferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechts- reformgesetz) (Tagesordnungspunkt 20) . . . . 9638 D Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 9638 D Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 9639 D Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9641 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9642 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9643 A Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9644 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 21) . . . . . . 9644 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . 9644 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9646 A Christian Flisek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9646 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 VII Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9647 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9647 D Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9648 D Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften (Tagesord- nungspunkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9649 B Wilfried Lorenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9649 B Dr. Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9650 A Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . 9650 D Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9651 B Markus Grübel, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9651 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9479 (A) (C) (D)(B) 100. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 Beginn: 9.01 Uhr
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    2) Anlage 9 (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9619 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 23.04.2015 Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 23.04.2015 Gabriel, Sigmar SPD 23.04.2015 Groth, Annette DIE LINKE 23.04.2015 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 23.04.2015 Hochbaum, Robert CDU/CSU 23.04.2015 Dr. Högl, Eva SPD 23.04.2015 Kassner, Kerstin DIE LINKE 23.04.2015 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 23.04.2015 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2015 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2015 Nahles, Andrea SPD 23.04.2015 Post (Minden), Achim SPD 23.04.2015 Rawert, Mechthild SPD 23.04.2015 Rebmann, Stefan SPD 23.04.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 23.04.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2015 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2015 Werner, Katrin DIE LINKE 23.04.2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 23.04.2015 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Metin Hakverdi (SPD) zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf ei- nes Gesetzes zur Änderung der Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährden- den Gewalttaten (GVVG-Änderungsgesetz – GVVG-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 13) Dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung der Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten, stimme ich zu. Gleich- wohl will ich in einer persönlichen Erklärung meine Be- denken hinsichtlich der Verfassungmäßigkeit des Geset- zes und hinsichtlich der rechtspolitischen Entwicklung bei der Terrorbekämpfung niederlegen. Meine Bedenken hinsichtlich der Verfassungmäßigkeit des Gesetzes sind erheblich, aber nicht so durchgreifend, dass ein Nein zum Gesetzentwurf gerechtfertigt wäre. Anlass für die Gesetzesänderung ist die Resolution 2178 aus dem Jahr 2014 des UN-Sicherheitsrates. Die Resolution war die Reaktion auf den wachsenden inter- nationalen Terrorismus insbesondere durch den Islami- schen Staat, IS, im Irak und Syrien. In beiden Konflikten wurde offenbar, dass ausländische terroristische Kämp- fer die Intensität, Dauer und Hartnäckigkeit von Kon- flikten erhöhen. In der Resolution des Sicherheitsrates werden die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf- gefordert, Personen, die in einen Staat reisen oder zu rei- sen versuchen, der nicht der Staat ihrer Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit ist, oder andere Personen, die von ihrem Hoheitsgebiet in einen Staat reisen oder zu reisen versuchen, der nicht der Staat ihrer Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit ist, um terroristische Handlun- gen zu begehen, zu planen, vorzubereiten oder sich daran zu beteiligen, in einer der Schwere der Straftat an- gemessenen Weise strafrechtlich zu verfolgen. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ist wichtig und hinsichtlich seiner Ziele auch umzusetzen. Diese Umsetzung muss allerdings im Rahmen unseres Verfas- sungssystems stattfinden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt diese Forderung durch die Erweiterung des 2009 eingeführten § 89 a StGB um. Diese weite Vorverlagerung der Strafbarkeit einer Tathandlung ist nach deutschem Recht höchst problema- tisch. Indem wir ein Verhalten soweit im Vorfeld einer Straftat unter Strafe stellen, laufen wir Gefahr, bereits die bloße Gesinnung zu bestrafen, ohne dass eben diese Gesinnung zu einem Unrecht geführt hat. Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates. Sein Einsatz muss Ultima Ratio erfolgen. Deshalb ist ihr Anknüpfungs- punkt zu Recht ein Unrecht, das erst die Strafwürdigkeit erzeugt. Alleine die Gesinnung gibt grundsätzlich keinen Anlass für eine Bestrafung. Das Reisen als eine neutrale Handlung ist kein Unrecht, das die Strafverfolgung und Bestrafung hervorrufen kann. Das Reisen ist grundsätz- lich ein neutrales Verhalten. Die geschaffene Norm will nun dem vermeintlichen Terroristen in den Kopf schauen und versucht aus seiner negativen/terroristischen Gesin- nung die Strafbarkeit herzuleiten. Das ist wie die Fest- Anlagen 9620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) nahme eines Neonazis beim Einstieg in die Bahn am Berliner Bahnhof, der nach München reist, um dort ein Flüchtlingsheim anzuzünden. Zum Zeitpunkt des Ein- stiegs in die Bahn hat sich dieser Neonazi trotz seiner negativen Gesinnung und seines Tatentschlusses noch nicht strafbar gemacht. Die Gefährdung des Rechtsguts ist eben noch weit weg. Daher würde man den Neonazi nicht festnehmen und bestrafen, weil er in den Zug ein- gestiegen ist. Deshalb ist eine so weite Vorverlagerung von Straf- barkeit verfassungsrechtlich problematisch. Bereits der alte § 89 a StGB war wegen der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit im Schrifttum stark kritisiert. Der Bun- desgerichtshof hat sie als verfassungsmäßig gebilligt, indem er eine zusätzliche Einschränkung durch die „feste Entschlossenheit“ des Täters gefordert hat. Die aktuelle Norm hat die Strafbarkeit aber noch mal weiter in das Vorfeld der Rechtgutsverletzung gelegt, sodass nicht davon auszugehen ist, dass mit der Rechtsprechung des BGH zum alten § 89 a StGB von der Verfassungsmä- ßigkeit der Norm auszugehen ist. Meine Bedenken wurden in der öffentlichen Anhö- rung von den Sachverständigen auch so formuliert. Die Ausreise von Terroristen kann aus dem Gesichts- punkt der Gefahrenabwehr durch ein Ausreiseverbot – wie zum Beispiel bei Hooligans – im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung gewährleistet werden. Eben die- ser Weg würde unsere Rechtsordnung nicht so weit auf den Kopf stellen, dass wir drohen, wegen der Terroris- musbekämpfung unser tatorientiertes Strafrecht in Teilen auf ein gesinnungsorientiertes umzustellen. Problematisch ist auch, dass diese Strafrechtsnorm den Ermittlungsbehörden erheblichen Spielraum ein- räumt. Die Bundesdatenschutzbeauftragte Frau Voßhoff hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass durch die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, weit in das Vorfeld der eigentlichen Terrorgefahr, ein viel größerer Personenkreis in den Kreis der Verdächtigen gerät, die Ermittlungsverfahren über sich ergehen lassen müssen. Das sind dann Maßnahmen wie Wohnraumüberwa- chung, Wohnungsdurchsuchung etc. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gerichte hinsicht- lich der von mir vorgebrachten Bedenken verhalten werden. Für mich waren sie erheblich, aber nicht durch- greifend genug. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung ei- nes Ersatz-Personalausweises und zur Ände- rung des Passgesetzes (Entwurf der Frak- tionen der CDU/CSU und SPD) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung ei- nes Ersatz-Personalausweises und zur Ände- rung des Passgesetzes (Entwurf der Bundes- regierung) (Tagesordnungspunkt 15) Clemens Binninger (CDU/CSU): Nahezu täglich erhalten wir Nachrichten über Gräueltaten islamistischer Terroristen in Syrien und Irak. Unter den Tätern sind zahlreiche Ausländer. Unsere Nachrichtendienste gehen von etwa 3 500 europäischen Kämpfern in den Reihen des selbsternannten Islamischen Staates aus. Darunter sollen sich rund 600 Deutsche befinden. Bei all diesen Kämpfern muss man befürchten, dass sie – radikalisiert und an Waffen ausgebildet – nach Europa zurückkehren, um auch hier Anschläge zu begehen und Menschen zu töten. Genau das ist im vergangenen Jahr geschehen, als ein Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel be- gangen wurde. Wir müssen deshalb alles tun, um zu ver- hindern, dass Islamisten in die Krisengebiete ausreisen. Sie dürfen sich dort weder radikalisieren noch trainieren lassen. Das gebietet schon unser ureigenes Sicherheitsin- teresse. Wir haben aber auch Verantwortung gegenüber den Menschen in Syrien und Irak. Sie dürfen nicht Opfer deutscher Islamisten werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Terror aus Deutschland in andere Länder expor- tiert wird. Wir müssen verhindern, dass deutsche Staats- angehörige in den Nahen Osten reisen, um dort mordend und brandschatzend die Bevölkerung zu drangsalieren. Dazu sind wir nicht nur moralisch verpflichtet, sondern auch völkerrechtlich: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat vergangenes Jahr eine Resolution verab- schiedet, wonach die Staaten alles unternehmen sollen, damit Extremisten aus ihren jeweiligen Heimatländern nicht in die Krisengebiete ausreisen können. Diese Reso- lution gilt es ohne Wenn und Aber umzusetzen. Die ent- scheidende Frage lautet: Wie können wir das tun? Um gewaltbereiten Islamisten aus Deutschland das Reisen zu erschweren, können die Behörden ihnen heute schon den Reisepass entziehen und die Ausreise untersa- gen. Für Reisen in die aktuellen Krisengebiete ist aber oft gar kein Reisepass notwendig. Die Krisenregion liegt nicht am Hindukusch, sondern direkt am Mittelmeer. Wenn wir Reisebewegungen erschweren möchten, müs- sen wir also konsequenterweise auch gesetzliche Mög- lichkeiten zum Entzug des Personalausweises schaffen. Genau das tun wir mit dem nun vorgelegten Gesetzent- wurf. Damit sich die betroffenen Personen innerhalb Deutschlands weiterhin ausweisen können, benötigen sie ein geeignetes Ersatzdokument. Auch das regelt der vor- liegende Gesetzentwurf. Allein damit lässt sich die Ausreise oder die uner- kannte Wiedereinreise von gewaltbereiten Islamisten zwar nicht vollständig verhindern. Das zu glauben, wäre naiv. Aber der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weite- rer wichtiger Baustein unserer Sicherheitsarchitektur. Wir werden in diesem Zusammenhang auch noch über das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum und die Antiterrordatei sprechen, ebenso über Prävention und die Verschärfung der Strafbarkeit des Aufenthalts in Ter- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9621 (A) (C) (D)(B) rorcamps und selbstverständlich auch über die sachliche und personelle Ausstattung der Sicherheitsbehörden. Heute entscheiden wir also nur über eine einzelne Maßnahme, die Teil eines umfassenden Maßnahmenpa- kets ist. Aus den Reihen der Opposition höre ich immer wie- der, das Gesetz könnte überhaupt keine Wirkung entfal- ten. Kein Islamist würde freiwillig seinen Personalaus- weis abgeben. Die zuständigen Behörden wären mit der Einziehung überfordert. Das sehe ich anders. Wenn die Sicherheits- und Verwaltungsbehörden im direkten Voll- zug eng zusammenarbeiten, wird das Gesetz sehr wohl Wirkung entfalten. Aber auch für den Fall, dass es je- mandem gelingen sollte, mit dem Personalausweis aus- zureisen, bevor er eingezogen werden konnte, geben wir den Sicherheitsbehörden mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf neue Werkzeuge an die Hand: Sie werden den Personalausweis zukünftig im Schengener Informations- system und in der „Stolen and Lost Travel Documents“- Datenbank von Interpol ausschreiben können. Damit wird das Aufgreifen von gewaltbereiten Islamisten be- reits in Transitländern oder bei der Rückkehr deutlich er- leichtert. Der Personalausweis hat in den vergangenen Jahren immer stärker die Funktion des Reisepasses ersetzt. Im- mer mehr Staaten akzeptieren den Personalausweis als Einreisedokument. Um den Sicherheitsbehörden die Einreisekontrollen zu erleichtern, übermitteln die Flug- gesellschaften und Reiseunternehmen üblicherweise die Passagierdaten aus dem Einreisedokument elektronisch. Für den Reisepass ist das bereits gesetzlich geregelt und funktioniert bestens in der Praxis. Für den Personalaus- weis fehlte es bislang an einer solchen gesetzlichen Regelung. Mit einem Änderungsantrag zum vorliegen- den Gesetzentwurf übernehmen wir nun die bewährte Regelung aus dem Passgesetz auch in das Personalaus- weisgesetz. Damit erleichtern wir allen unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern das Reisen mit dem Personal- ausweis. Das macht deutlich: Uns geht es in keiner Weise darum, Reisebewegungen Unbescholtener zu be- hindern oder das Reisen generell zu erschweren. Das wäre mit unserer Rechtsordnung auch nicht zu vereinba- ren. Uns geht es darum, die Ausreise und unerkannte Wie- dereinreise gewaltbereiter Islamisten gezielt zu verhin- dern. Der Entzug des Personalausweises ist dazu ein zu- sätzliches Instrument – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich bitte Sie darum, den Gesetzentwurf mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen anzunehmen und den Sicherheitsbehörden dieses zusätzliche Instru- ment an die Hand zu geben. Es dient der Sicherheit der Menschen sowohl in unserem Land als auch im Ausland. Gabriele Fograscher (SPD): Am 30. Januar 2015 hatten wir die erste Lesung zu diesem Gesetzentwurf. In der Debatte hat der Bundesinnenminister die damals ak- tuellen Zahlen genannt: 3 400 Personen aus Europa seien entschlossen, für den sogenannten Islamischen Staat zu kämpfen. Davon seien 600 bereits aus Deutsch- land ausgereist, 200 inzwischen zurückgekehrt. In der Anhörung im Innenausschuss am 16. März 2015 nannte der Präsident des Bundeskriminalamtes die damals aktuellen Zahlen: Für Europa sei die Zahl auf 4 000 gestiegen, aus Deutschland seien es inzwischen 650 Kämpfer für den IS. Laut Informationen des Bundesamtes für Verfas- sungsschutz von gestern sind bisher 680 Personen aus Deutschland in Richtung der Kampfgebiete des IS aus- gereist, gut 230 sind zurückgekehrt, davon etwa 50 mit Kampferfahrung. Wie groß die Dunkelziffer ist, vermag niemand zu sa- gen. Die Zahlen zeigen, dass die Gefahr durch Islamisten aus Deutschland und Europa stetig steigt und damit auch die Gefahr für die innere Sicherheit. Deshalb ist es wichtig, dass wir schnell mit einem Maßnahmenpaket agieren, um diese Entwicklung zu stoppen. Eine Maßnahme haben wir vorhin schon beschlossen, nämlich die Strafbarkeit des Reisens sowie der Versuch des Reisens als weitere Vorbereitungshandlung einer ter- roristischen Tat. Zudem haben wir einen neuen Straftat- bestand die Finanzierung des Terrorismus betreffend ge- schaffen. In Zukunft können wir auch bei kleinsten Beträgen, die in die Unterstützung des Terrorismus flie- ßen, mit Mitteln des Strafrechts vorgehen. Dieses ist im Übrigen eine Forderung des UN-Sicherheitsrates gewe- sen. Die nächste Maßnahme folgt jetzt. Mit dem Gesetz, das wir gleich verabschieden werden, schaffen wir die Möglichkeit, neben dem Reisepass auch den Personal- ausweis einzuziehen und einen Ersatzpersonalausweis auszustellen. Warum wollen wir diese Möglichkeit schaffen? Mit dem Personalausweis können deutsche Staatsbür- gerinnen und Staatsbürger in der Europäischen Union und weiteren 23 Ländern, darunter die Türkei und Ägyp- ten, reisen und sich frei bewegen. Das nutzen auch die Personen, die sich radikalisiert haben, in Terrorcamps reisen oder sich dem IS anschließen wollen. Sie reisen in die Staaten, in denen sie Freizügigkeit genießen, um dann über die sogenannte Grüne Grenze in den Irak oder nach Syrien zu gelangen. In der Anhörung im Innenausschuss hat der Präsident der Bundespolizei einige Beispiele aufgeführt: Einem Deutschen wurde in Düsseldorf der Pass ent- zogen und per Anordnung berechtigte der Personalaus- weis nicht mehr zum Verlassen der Bundesrepublik, weil die Person sich mutmaßlich dem Dschihad anschließen wollte. Daraufhin wurden Personendaten und Personal- ausweis in die nationale Sachfahndung im geschützten Grenzfahndungsbestand gegeben und im SIS zur Sach- fahndung bei „Lost and Found Documents“ ausgeschrie- ben. Knapp zwei Jahre später reiste die Person per Flug- zeug von Istanbul zurück nach Düsseldorf und wies sich mit dem Personalausweis aus. Durch Zufall wurde der Verstoß gegen das Ausreiseverbot entdeckt und ange- 9622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) zeigt. Wenige Monate später reiste die Person, wieder mit ihrem Personalausweis, über Amsterdam in die Tür- kei und ließ sich dann in Syrien von dem IS ausbilden. Dabei verletzte er sich und kehrte in die Türkei zurück. Die Türkei schob ihn nach Deutschland ab, wo bereits ein EU-Haftbefehl vorlag. Es ist immer dasselbe Schema: Passentzug, Personal- ausweisbeschränkung, die nicht sichtbar ist, nationale Grenzfahndung, SIS, erfolgreiche Ausreise. Es gab in den letzten zweieinhalb Jahren 100 Ord- nungsverfügungen der Behörden, in nur fünf Fällen konnte die Bundespolizei die Ausreise verhindern, zwölf Rückkehrer wurden festgestellt. Eine 100-prozentige Hinderung an der Ausreise ist nach derzeitiger Rechtslage somit nur möglich, wenn alle 500 Millionen EU-Bürger beim Außengrenzübertritt genau kontrolliert werden würden. Das ist nicht prakti- kabel und mit EU-Recht nicht vereinbar. Deshalb ist die Einziehung des Personalausweises und Ausgabe eines Ersatzpersonalausweises, in dem das Ausreiseverbot vermerkt ist, eine vernünftige, verhält- nismäßige und praktikable Alternative. Neben den oben beschriebenen gesetzgeberischen Maßnahmen wie der Entziehung des Personalausweises oder der Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten ist die Prävention von großer Bedeutung. Wir müssen verhindern, dass Menschen, und es sind vorwiegend junge Männer, in den gewaltbereiten Sala- fismus einsteigen. Wir müssen uns auch um diejenigen kümmern, die bereits den Weg dorthin begonnen haben. Dabei müssen wir vor allem an dem Umfeld ansetzen: bei der Familie, bei Freunden oder auch bei Lehrern und Arbeitskollegen. Für sie müssen wir Anlaufstationen schaffen, zu de- nen sie mit ihren Sorgen, Vermutungen oder Verdächti- gungen kommen können. Dort müssen sie auf geschulte Mitarbeiter treffen, die sie individuell beraten und unter- stützen können. Das Land Nordrhein-Westfalen hat bereits ein Prä- ventionsprogramm aufgelegt. Es heißt „Wegweiser – gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“. Dort ar- beiten Verfassungsschutz, lokale Experten und Projekt- träger und das Ministerium für Inneres und Kommunales zusammen. Das Programm gibt es erst in wenigen Städ- ten in NRW, soll aber weiter ausgedehnt werden. Es wäre gut und richtig, wenn wir auf Bundesebene etwas Vergleichbares schaffen würden. Dabei ist die Zu- sammenarbeit mit den Ländern unverzichtbar. Das heute zu verabschiedende Gesetz ist nur ein Bau- stein, um gegen den gewaltbereiten Salafismus anzuge- hen. Weitere müssen und werden folgen. Dabei sollten wir auch auf die Erfahrungen in anderen Ländern und in unseren Bundesländern zurückgreifen. Noch ein Wort zum Entschließungsantrag von Bünd- nis 90/Die Grünen: Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag einige For- derungen, die wir durchaus unterstützen können, so zum Beispiel eine Präventions- und Deradikalisierungsstrate- gie oder die bessere personelle und funktionale Ausstat- tung der Sicherheitsbehörden. Wir teilen aber nicht Ihre Einschätzung, dass dieser Gesetzentwurf ungeeignet, un- verhältnismäßig und unbestimmt ist. Sie halten den Ersatzpersonalausweis für stigmatisie- rend, sprechen aber in Ihrem Entschließungsantrag von einer „Gesetzesinitiative zum Terroristen-Perso“. Das halte ich für stigmatisierend. Frau Mihalic, seit Ihrer Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich den Eindruck, dass Sie sich des Ernstes der Situation nicht bewusst sind. Damals haben Sie ausgeführt: „Sie fördern mit die- sem Gesetz die Radikalisierung solcher Leute. Denn am Ende sind die Gefährder vielleicht sogar noch stolz da- rauf, mit einem amtlichen Dokument endlich als IS-treue Dschihadisten eingestuft zu werden. Mit der Übergabe des Ersatzpersonalausweises machen Sie aus einem Ge- fährder einen staatlich anerkannten Terroristen.“ Frau Mihalic, das ist wirklich grober Unfug. Wir leh- nen Ihren Entschließungsantrag ab und stimmen dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung zu. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will die Möglichkeit schaffen, deutschen Staatsbürgern den Personalausweis zu entziehen. Zur Begründung erklärt sie, damit sollten mutmaßliche Dschihadisten gehindert werden, sich dem sogenannten Islamischen Staat anzu- schließen. Kein Zweifel: Der Islamische Staat ist eine abscheuli- che Terrororganisation, der man die Rekrutierung neuer Kämpfer so schwer wie möglich machen muss. Und zwar rechtsstaatlich – genau daran hapert es aber. Die Linke hält das Gesetzesvorhaben für erstens untauglich, weil es nichts nützen wird, und zweitens für unverhält- nismäßig, weil es Bürger auf Verdacht hin einer hohen Stigmatisierung aussetzt. Es ist ja bisher schon möglich, den Reisepass zu ent- ziehen und eine Ausreiseuntersagung in der Grenzfahn- dungsdatei zu speichern. Wenn Sie jetzt behaupten, das genüge nicht, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie das belegen. Das können Sie aber nicht, weil diese Maßnah- men überhaupt nicht erfasst werden. Ohne solide Fak- tenbasis, sagen wir, darf man solche freiheitseinschrän- kenden Gesetze aber nicht machen. Auf eine Kleine Anfrage der Linken hat die Bundes- regierung mitgeteilt, in den letzten drei Jahren seien 20 Fälle bekannt geworden, in denen jemand trotz Reise- verbotes ausgereist sei. Das mögen 20 Fälle zu viel sein, aber ich habe starke Zweifel, dass diese Zahl angesichts von 3 000 EU-Bürgern, die beim IS mitkämpfen, ein sol- ches Gesetz rechtfertigt – zumal schon sehr fraglich ist, ob diese 20 Ausreisen mit dem jetzt geplanten Gesetz hätten verhindert werden können. Wer unbedingt zum IS will, lässt sich daran doch nicht durch einen Sperrver- merk in einem Ersatzausweis hindern. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9623 (A) (C) (D)(B) Auf das hohe Stigmatisierungspotenzial haben auch die Experten in der Anhörung hingewiesen: Wer einen solchen Ausweis vorlegt, outet sich damit zwangsläufig als Terrorverdächtiger. Der Schalterbeamte bei der Post, der neue Vermieter, der Bankangestellte und wo man sich sonst noch ausweisen muss, alle erfahren, dass der Inhaber des Ausweises vom Staat als mutmaßlicher Djihadist angesehen wird. Das ist aber überhaupt nicht zu rechtfertigen. Den Ersatzausweis soll jeder bekommen, der mut- maßlich eine rechtswidrige Gewaltanwendung „unter- stützt oder vorsätzlich hervorruft“, heißt es im Entwurf. Auch das wurde bei der Anhörung als viel zu unbe- stimmt kritisiert. Was soll denn das Hervorrufen einer Gewaltanwendung sein? Dazu fehlt jede Definition, so- dass hier erhebliche Willkür ermöglicht wird. Die Linke befürchtet zudem, dass die Möglichkeiten, die den Behörden hier gegeben werden, sich nicht auf Djihadisten beschränken müssen. Das Bundesinnen- ministerium hat ja schon mitgeteilt, dass es zum Beispiel Kurden, die gegen den IS kämpfen wollen, für genau so schlimm hält. Als Nächstes lässt man sich vielleicht ein- fallen, linken Globalisierungsgegnern die Ausreise zu ei- nem G-7-Gipfel im Ausland zu verbieten. Dieses Gesetzesprojekt nützt unserer Sicherheit nichts, und unseren Freiheitsrechten schadet es bloß. Also ziehen Sie es lieber zurück, ehe es vom Verfas- sungsgericht gekippt wird. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eines ist völlig richtig: Wir sehen uns einer konstant hohen ter- roristischen Bedrohung ausgesetzt. Hier in Deutschland, in Europa und global. Und unser Rechtsstaat muss alle Anstrengungen unternehmen, um dieser Gefahr ange- messen zu begegnen. Das bedeutet: Alle Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus müssen geeignet, hinreichend bestimmt und verhältnismäßig sein. Ihr Gesetzentwurf zum Terroris- ten-Perso, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali- tion, reißt all diese Kriterien. Er wird den Anforderungen nicht gerecht und ist nichts als Symbolpolitik – und das auch noch mit erheblichen Risiken für die innere Sicher- heit. Und genau das war auch das Ergebnis der Anhörung im Innenausschuss: Selbst die Präsidenten von Bundes- polizei und das BKA taten sich ja schwer, Ihrem Gesetz- entwurf etwas Positives abzugewinnen. Und von den Ar- gumenten der anderen Experten haben Sie sich gar nicht erst beeindrucken lassen. Ganz nach dem Motto: Mit dem Kopf durch die Wand! So bleibt es dabei: Mögliche Dschihadisten werden auf dem Postweg zum Austausch ihrer Dokumente auf- gefordert. Trotz aller Gefahren, die damit in Verbindung stehen, dass die Empfänger solcher Briefe gleich zur Tat schreiten, statt der Aufforderung nachzukommen. Sie sa- gen ja immer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dass das nicht stimmt, dass die betreffende Person von der Personalausweisbehörde einen entspre- chenden Bescheid mit der Aufforderung erhält, den Per- sonalausweis einzutauschen. Das habe ich mir aber nicht ausgedacht. Das ist die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage. Und selbst wenn es zu einem Tausch der Dokumente kommt: Der Terroristen-Perso ist ein Ausweis, mit dem sich an der Grenze keiner ausweist. Davon geht sogar die Bundesregierung aus. Das finden Sie auch in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage. Ich zitiere: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Inhaber eines Ersatz-Personalausweises aufgrund fehlender Reisedo- kumente der verfügten räumlichen Beschränkung ent- spricht.“ Also für mich heißt das, die Bundesregierung hat ein unerschütterliches Vertrauen darin, dass sich mutmaßli- che Terroristen an die Gesetze halten. Dass dieses Ge- setz eine solche Wirkung entfaltet, das glauben Sie doch nicht im Ernst. Das macht den Grundrechtseingriff umso gravierender. Denn der Ersatz-Personalausweis führt im Alltag zu erheblichen Einschränkungen – sei es bei der Kartenzahlung im Supermarkt oder beim Optiker. Und wenn man dann bedenkt, wie unbestimmt der betroffene Personenkreis ist, wird die Unverhältnismäßigkeit noch deutlicher. Es reicht ja bereits aus, wenn „bestimmte Tatsachen die Annahme begründen“, dass jemand eine terroristi- sche Vereinigung nach §§ 89 a, 129 a und b StGB „un- terstützt“. Das halten Sie für hinreichend bestimmt? Ja woran soll man das im Einzelfall festmachen? Das kann doch nicht die Grundlage für eine solche Maßnahme sein. Wenn aber jemand im Verdacht einer Straftat steht, zum Beispiel nach § 129 a, und die Absicht hat, nach Syrien auszureisen, dann haben Sie doch schon nach heutiger Rechtslage sogar einen Haftgrund, zum Bei- spiel den der Fluchtgefahr – und damit hätten Sie die Ausreise tatsächlich verhindert. Wir brauchen diesen Terroristen-Perso nicht! Es gibt deutlich bessere Mittel, die Ausreise zu kontrollieren. Schon heute können Sie die Gültigkeit von Personalaus- weisen räumlich begrenzen und das auch im Grenzfahn- dungsbestand hinterlegen. Was fehlt, sind rechtliche Klarstellungen auf europäischer Ebene. Doch anstatt ge- nau dafür zu sorgen oder zum Beispiel die Ausreisekont- rollen personell zu stärken, verschwenden Sie Ihre und unsere Energie mit diesem Gesetzesvorhaben. Auch die Rücknahme der Privatisierung der Luftsi- cherung gehen Sie nicht an. Dabei sind die festgestellten Sicherheitsmängel an vielen deutschen Flughäfen doch ein echtes Warnsignal. Nach unseren Informationen wer- den zum Beispiel am Flughafen Düsseldorf regelmäßig bis zu 100 private Kontrollkräfte weniger bei der Passa- gierkontrolle eingesetzt, als von der Bundespolizei vor- gegeben, und das, obwohl die Sicherheitsfirmen vertrag- lich dazu verpflichtet sind. Dieser Zustand ist doch nicht tragbar. Hier liegen die Hausaufgaben, die Sie zu erledigen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Terroristen- Perso löst keines der Probleme, die von der Bundesre- gierung ja richtig beschrieben werden. 9624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Ungeeignet – unbestimmt – unverhältnismäßig – das ist unser Fazit. Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück und konzentrieren Sie sich auf Maßnahmen, die tatsäch- lich geeignet sind. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine been- den (Tagesordnungspunkt 12) Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Ich möchte zu Be- ginn meines Beitrages verdeutlichen, worüber wir prak- tisch reden. Bis zu 100 Polizisten und Zivilpersonen aus den EU-Mitgliedstaaten melden sich freiwillig, um bis zu zwei Jahre lang, fern von ihrem sozialen Umfeld, ih- ren Familien und Freunden, in einem fremden Land für mehr Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Dies verdient un- seren allergrößten Respekt! Wenn wir deutsche Polizeibeamte in Krisenregionen entsenden, wie dies in ähnlich gelagerten Missionen zum Beispiel in Mali, Darfur oder dem Südsudan der Fall ist, dann geht damit natürlich ein gewisses Risiko an Leib und Leben einher. Umso höher ist der Einsatz dieser Männer und Frauen zu bewerten. Wir würden diese Courage mit Füßen treten, wenn wir diesen Antrag heute annehmen und unsere Beteili- gung an der EUAM-Ukraine-Mission beenden würden. Auch der vorgegebene Grund, die Beamten dürften keine Beratung für Organisationen leisten, die von Fa- schisten durchsetzt seien, zeugt von Realitätsferne und Fehlverständnis. Von Anfang an, seit Beginn der Proteste auf dem Mai- dan, versucht die russische Berichterstattung, die Re- formbewegung zu diskreditieren. Sie erzählt die Le- gende, die Protestbewegung stütze sich maßgeblich auf Rechtsradikale, Nationalisten und Faschisten. Dies ist schlicht falsch! Ja, es gibt den einen oder anderen Rechtsradikalen in der Ukraine, aber auf die stützt sich niemand, sie sind politisch nicht relevant. Berichte über rechtsextreme Tendenzen in einigen Einheiten der ukrainischen Sicherheitsbehörden sind be- kannt. Dieser Sachverhalt wird sehr aufmerksam be- obachtet. Die Gremien des Deutschen Bundestages wie auch die Bundesregierung setzten sich in den vielen Ge- sprächen mit der ukrainischen Seite der vergangenen Monate immer klar gegen Rechtsextremismus ein. Wenn ich jedoch russische Medien und die Wortbei- träge der Linken im Plenum oder in den Ausschüssen höre, dann wimmelt es in der Ukraine nur so von rechts- radikalen Kräften und Faschisten auch außerhalb des Si- cherheitssektors. Träfe dies zu, dann frage ich mich, wie es bei den Par- lamentswahlen im vergangenen Jahr zu einer Zweidrit- telmehrheit des proeuropäischen Lagers kommen konnte? Wie kam es überdies dazu, dass die Swoboda- Partei an der 5-Prozent-Hürde scheiterte und der Rechte Sektor mit 0,7 Prozent gar völlig bedeutungslos ab- schnitt? Mir liegt es fern, die Gefahr rechtsradikaler Kräfte in der Ukraine und weltweit herunterzuspielen. Diese aller- dings auch noch durch derartige Anträge aufzuwerten und aufgrund einiger Fälle gleich eine ganze EU-Mis- sion abzubrechen, wäre falsch und blinder Aktionismus. Ein solches Vorgehen wäre sogar in höchstem Maße kontraproduktiv, was durch den Auftrag der Mission deutlich wird. Die Beamten sollen – und ich zitiere aus dem Ratsbe- schluss zur EUAM-Mission – „einen Rahmen für die Planung und Durchführung von Reformen erstellen, aus denen dauerhaft funktionsfähige Sicherheitsdienste her- vorgehen, die – unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte und im Einklang mit dem Verfassungs- reformprozess – der Rechtsstaatlichkeit zur Geltung ver- helfen“. Es wäre höchst sinnlos, eine solche Mission in ein Land zu entsenden, in dem sich die Sicherheitskräfte ausschließlich aus vorbildlichen Demokraten zusam- mensetzen. Wenn dort noch vereinzelt undemokratisches Gedan- kengut vorhanden ist, sind es gerade jene Rechtsstaat- lichkeit stärkenden Missionen wie die EUAM, die dann Abhilfe schaffen. Falls es, wie Sie ja unterstellen, eine sehr viel höhere Zahl von Rechtsradikalen und Faschisten in der Ukraine gäbe, dann müssten Sie doch eine Aufstockung einer solchen Mission fordern und nicht deren Beendigung. Gerade weil es in der Ukraine noch Defizite im Bereich Rechtsstaatlichkeit und der vollständigen Beachtung der Menschenrechte auch bei den Sicherheitskräften gibt, benötigt die Ukraine unsere Unterstützung. Das Land, seine Behörden und auch die Sicherheits- kräfte befinden sich in einem Reformprozess, den die Bundesrepublik positiv begleiten möchte. Dies haben wir nicht zuletzt durch das erst kürzlich hier im Bundes- tag ratifizierte Assoziierungsabkommen zum Ausdruck gebracht. Von diesem Weg lassen wir uns nicht abbrin- gen. Nicht durch russische Märchen und schon gar nicht durch derartige Anträge. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Der Antrag der Frak- tion Die Linke mit dem Titel „Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie diese Partei außenpolitisch denkt – oder, man sollte besser sagen: fühlt. Der Antrag wirft der Bundesregierung durch ihre Be- teiligung an der EU-Polizeimission außenpolitisches Fehlverhalten in zweierlei Hinsicht vor: Der erste Vorwurf zielt in die Richtung, Deutschland würde durch seine Beteiligung an dieser Mission eine Seite in einem Bürgerkrieg übervorteilen und somit die angebrachte Neutralität nicht wahren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9625 (A) (C) (D)(B) Der zweite Vorwurf lautet, die EU-Mission würde Anleitung und Beratung für Organisationen leisten, die sich zu einem erheblichen Teil aus rechtsextremistischen Aktivisten zusammensetzen. Nun haben die Kolleginnen und Kollegen der Links- partei ja zum gleichen Thema eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, die das ihnen eigene Denken schmissig auf den Punkt bringt: „Mögliche Zusammen- arbeit der EU-Polizeimission in der Ukraine mit rechts- extremen bewaffneten Kräften“ lautet der Titel der An- frage. Da stellt man sich vor, wie der reaktionäre deutsche Bundespolizist dem ewiggestrigen ukraini- schen Rechtsextremen das Schießen beibringt. Doch wenn man die Antworten der Bundesregierung auf die Anfrage liest, so bleibt von diesem Vorwurf nichts übrig: Es handelt sich bei der EU-Mission um eine zivile Mission, an der derzeit fünf deutsche Polizisten beteiligt sind, die die ukrainischen Sicherheitskräfte auch auf Einhaltung der Menschenrechte und in Gender-Fragen schulen. – Warum stellen Sie dann aber in Wirklichkeit diesen Antrag, in dem ein Ende der EU-Polizeimission gefordert wird? Der Antrag der Linkspartei hat im Grunde ein Ziel, das weit über die eigentlichen Forde- rungen des Antrags hinausgeht: Es geht der Linken pri- mär darum, den Maidan und den Kampf der Ukraine für eine Ausrichtung nach Europa zu desavouieren. Dafür versucht man die Geschichte zu erzählen, die Proteste des Maidan und der Kampf gegen die Aufständischen in der Ostukraine wurden und werden maßgeblich von Rechtsextremen geführt. Niemand bestreitet die Exis- tenz von extremen Nationalisten und Rechtsextremen in der Ukraine – auch auf russischer Seite sind sie vorhan- den. Aber die Behauptung der Linkspartei, dass Rechts- extreme ein maßgeblicher Machtfaktor und Träger der Revolution seien, ist ein Schlag ins Gesicht aller ukraini- schen Menschen, die aufgestanden sind, auch aller Men- schen, die ihr Land verteidigen wollen gegen eine Ag- gression, die zu einem großen Teil von außen gelenkt ist. Damit komme ich zum zweiten Vorwurf des Antrags, nämlich den der Einmischung der EU in einen Bürger- krieg, für den die Linke auch die Gründe in ihrem An- trag nennt – ich zitiere –: „Der Bürgerkrieg in der Ukraine hat historische, politische und soziale Ursa- chen.“ Ich bewundere bei dieser Formulierung die Hart- näckigkeit, mit der die Rolle Russlands ausgeblendet wird. Das Gleichgewicht der Kräfte in der Ukraine haben nicht die fünf deutschen Polizisten gestört, die das ukrai- nische Innenministerium beim Aufbau des zivilen (!) Si- cherheitssektors beraten und dabei mit der OSZE zusam- menarbeiten. Es war Russland, das das Gleichgewicht der Kräfte gestört, die Krim annektiert, Separatisten un- terstützt hat, die nicht davor zurückschrecken, zivile Flugzeuge abzuschießen, und es war Russland, das ei- gene Soldaten zum Urlauben in die Ostukraine entsandt hat. Russische Truppen „verfahren“ sich immer wieder auf ukrainisches Gebiet, und dass Russland die Separa- tisten mit Waffen und sonstigem Nachschub versorgt, steht außer Frage. Ich frage mich nur, wo die wohlmei- nenden Appelle der Linkspartei bleiben, Russland möge in diesem Bürgerkrieg Neutralität wahren. Europa hat Stellung bezogen: nicht nur verbal, son- dern mit Sanktionen, Sanktionen, zu denen die große Mehrheit dieses Hauses steht. Wir müssen nicht neutral und tatenlos zusehen, wie sich Russland die Ostukraine einverleibt oder zumindest die Gewichte zu seinen Gunsten ändert. Neutral sein hieße in diesem Fall, einer Aggression Russlands Vorschub zu leisten. Wir müssen die Ukraine unterstützen beim Aufbau ei- ner funktionierenden Demokratie, bei der wirtschaftli- chen Entwicklung, bei der Herstellung von Sicherheit und natürlich bei der Beendigung des Krieges, für den Russland eine Schlüsselrolle spielt. Die EU-Polizeimission leistet einen Beitrag dafür. Deshalb wird sich Deutschland auch weiterhin daran be- teiligen. Franz Thönnes (SPD): Am 26. März 2015 haben wir hier im Parlament über die Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Ländern Ge- orgien, Moldau und Ukraine diskutiert. Mit einer großen Mehrheit haben wir diesen Abkommen zugestimmt und damit in einem seit Jahren laufenden Verhandlungs- und Diskussionsprozess einen weiteren wichtigen Schritt ge- macht. Nun liegt es an den Vertragsstaaten und, nach endgültiger Ratifikation aller europäischen Mitgliedslän- der, an der Europäischen Union, das Vertragswerk er- folgreich umzusetzen. Neben den vielen vereinbarten Regelungsbereichen gibt es darin auch mehrere Komplexe, die sich mit dem Thema der Inneren Sicherheit in den Vertragsländern und damit auch in der Ukraine befassen. So heißt es hier im Artikel 6 unter der Überschrift „Dialog und Zusammenarbeit bei internen Reformen“, dass die Vertragsparteien zusammenarbeiten, um zu ge- währleisten, dass ihre Innenpolitik auf den gemeinsamen Grundsätzen der Vertragsstaaten, insbesondere der Stabi- lität und der Effizienz der demokratischen Institutionen und Rechtsstaatlichkeit, sowie auf der Achtung der Men- schenrechte und der Grundfreiheiten beruht, wie sie ins- besondere im Artikel 14 genannt sind. Im Artikel 14 wird die Festigung des Rechtsstaats be- schrieben und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten als Richtschnur der gesamten Zusam- menarbeit im Bereich Handel, Freiheit und Sicherheit hervorgehoben. In den Artikeln 22 und 24 wird aus- drücklich die Bekämpfung von Kriminalität und Korrup- tion, auch im Justizbereich, betont. Während der Verhandlungen über das Assoziierungs- abkommen und vor dem Hintergrund der zu vereinba- renden Regelungsbereiche hat der Rat für Außenbezie- hungen der Europäischen Union am 22. Juli und 17. November 2014 völlig zu Recht und den Herausfor- derungen entsprechend die EU Advisory Mission for Ci- vilian and Securtity Sector Reform Ukraine, EUAM Ukraine, beschlossen. 9626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Wir haben vielfach über die Entwicklung in der Ukraine, die teilweise von heftiger Gewalt begleitet war und teilweise auch noch ist, hier im Deutschen Bundes- tag diskutiert. Da sind die leider bis heute immer noch kriegerischen Auseinandersetzungen mit Separatisten sowie zeitweilig mit militärischen Akteuren aus Russ- land. Es wird Zeit, dass der Waffenstillstand von Minsk endlich von allen eingehalten wird und keine fremden Kampfeinheiten mehr auf ukrainischem Boden stehen. Aber es entspricht auch nicht unserem Verständnis ei- nes demokratischen Rechtsstaates, dass ein Staatswesen von Korruption, direkten politischen Einflüssen von Oligarchen, illegalen Waffenträgern und illegalen, mili- tärisch agierenden Privatarmeen gekennzeichnet ist. Deshalb sind und waren wir uns auch einig über die vor- rangige Notwendigkeit der Wiederherstellung des staat- lichen Gewaltmonopols. Dazu bedarf es aber auch hand- lungsfähiger und wirksamer staatlicher Sicherheitsstrukturen. Das Ziel von EUAM Ukraine ist die Unterstützung der Reform des zivilen Sicherheitssektors, einschließlich der Polizei und der Rechtsstaatlichkeit. Zu diesem Zweck soll EUAM Ukraine als nichtexe- kutive Mission Aufgaben wahrnehmen wie die Beratung bei der Reorganisation sowie Restrukturierung und die Anleitung bei der Ausarbeitung neuer Sicherheitsstrate- gien. Dazu gehört auch die entsprechende Umsetzung. Ziel ist die Erstellung eines konzeptionellen Rahmens für die Reform des zivilen Sicherheitssektors, um diesen dauerhaft funktionsfähig, kontrollierbar und rechen- schaftspflichtig zu machen, seine Legitimität und das Vertrauen in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Die Bundesregierung hat in ihrer Kabinettssitzung am 17. September 2014 deshalb eine deutsche Beteiligung mit bis zu 10 bis 20 Polizisten sowie zivilen Experten beschlossen. Von den derzeit 56 Missionsmitgliedern vor Ort sind 8 aus Deutschland, 5 Polizisten sowie 3 zivile Experten. Mitbeteiligte Nationen sind Belgien, Bulgarien, Däne- mark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien und Ungarn. Im Mittelpunkt der Arbeit der Mission steht die Reform des Innenministeriums und der ihm unterste- henden Sicherheitskräfte. Dabei wird die Mission bera- tend tätig und unterstützt die Ukraine auch bei entspre- chenden Regionalprojekten. Dies ist nur zu begrüßen, genauso wie die Beratung des ukrainischen Innenministeriums zu den Aspekten Menschenrechte und Gender. Es ist ebenso darauf zu verweisen, dass die Mission ihre Aktivitäten eng mit den übrigen internationalen Akteuren sowie insbesondere mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, koordiniert. Positiv ist gleichfalls die Unterstützung des Pilotprojektes „Community Policing“ des ukrainischen Innenministeriums in Lviv sowie der damit verbundene Austausch mit lokalen Akteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft. Der enge Austausch mit dem ukrainischen Parlament, der Zivilgesellschaft sowie lokalen Thinktanks trägt zur Offenheit und Transparenz und damit auch zu einer öffentlichen Kontrolle der euro- päischen Mission bei. Mit dem heute hier zu beratenden Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die eingesetzten deutschen Polizei- kräfte abzuziehen, jegliche weitere Unterstützung der Mission einzustellen und sich innerhalb der EU für ihre Beendigung einzusetzen. Begründet wird dies mit einer der Bundesregierung unterstellten einseitigen Partei- nahme in einem Bürgerkrieg und der angebliche Einbe- ziehung deutscher Polizistinnen und Polizisten auf der Seite einer Bürgerkriegspartei. Das ist fadenscheinig und würde unsere Bemühungen um die Stärkung einer rechtsstaatlichen Entwicklung in der Ukraine torpedie- ren. Innen- und Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestages haben sich in ihren Sitzungen am 4. Fe- bruar 2015 damit befasst und mit übergroßer Mehrheit der Regierungsparteien sowie der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen den Antrag abgelehnt. Und dies zu Recht! Deshalb bitte ich den Deutschen Bundestag, auch nach dieser Debatte der Entscheidung des Auswärtigen Aus- schusses sowie des mitberatenden Innenausschusses zu folgen und den Antrag der Fraktion Die Linke ebenfalls abzulehnen. Die Bunderegierung hat in zwei Antworten – auf den Drucksachen 18/2327 sowie 18/4084 – klar und deutlich zu den zwei das Thema behandelnden Kleinen Anfragen Stellung genommen. Die von den Antragstellern vorge- tragenen Begründungen für den von ihnen geforderten Abzug der eingesetzten Angehörigen der Bundespolizei wie einseitige Unterstützung einer Bürgerkriegspartei, die pauschale Verdächtigung, dass die neue ukrainische Regierung und die Behörden kein ernsthaftes Interesse am Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates hätten, sowie die angebliche Stützung der ukrainischen Regie- rung auf faschistische Politiker und Politikerinnen sind unzutreffend und gehen fehl. Die Ukraine befindet sich in einer rasanten Veränderung. An der einen oder ande- ren Stelle sind am politischen Prozess durchaus noch Personen beteiligt, die extrem rechtes Gedankengut ver- treten haben oder es noch vertreten; doch ist deren An- zahl und Einfluss durch die Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger deutlich zurückgedrängt wor- den. Auch dass in einigen Einheiten rechtsextreme Ten- denzen vorhanden sind, ist bekannt. Doch haben sowohl Bundesregierung wie auch die Fraktionen dieses Hauses sich gegenüber der ukrainischen Regierung sowie Parla- mentariern der Werchowna Rada immer wieder klar ge- gen Rechtsextremismus eingesetzt und deutlich gemacht, dass man die Entwicklung aufmerksam beobachtet. Freiwilligenverbände, dazu in dem einen oder ande- ren Fall auch noch politisch ausgerichtet – auch rechts- extremistisch –, neben der ukrainischen Armee, der Na- tionalgarde oder anderen unter staatlicher Hoheit und staatlichem Befehl stehende Einheiten sind keine Per- spektive für die Zukunft der Ukraine, schon gar nicht Privatarmeen. So ist es gut, dass die ukrainische Regie- rung aktiv daran arbeitet, die Freiwilligenverbände voll- ständig in die Struktur der Streitkräfte oder der Natio- nalgarde zu integrieren. Die Absetzung und die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9627 (A) (C) (D)(B) Auseinandersetzungen mit dem ehemaligen Gouverneur Kolomojski aus Dnjepropetrowsk und seinen Bataillo- nen durch Präsident Petro Poroschenko zeigen in die richtige Richtung. Im Übrigen entspricht ein derartiges Vorgehen auch den vereinbarten Maßnahmen von Minsk, wonach alle illegalen Gruppen zu entwaffnen sind. Vollends ins Leere geht der Vorwurf der Fraktion Die Linke, die Bundesregierung habe im bisherigen Kon- fliktverlauf nicht ein Mindestmaß an Neutralität gezeigt und damit zur Eskalation beigetragen. Von Anfang an, von den Bemühungen, das Blutvergießen auf dem Mai- dan am 20. Februar 2014 zu beenden, über die Vielzahl von Verhandlungen in den unterschiedlichsten Formaten und unzähligen Telefonaten, über die ersten Verhandlun- gen in Minsk bis zu den Vereinbarungen dort am 12. Fe- bruar 2015 haben Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel die Linie einer friedlichen Lösung des Konfliktes nachhaltig verfolgt. Eine militärische Lösung schied von Anfang an aus. Im Übrigen wurde ebenso intensiv darauf hingewie- sen, dass die Todesschüsse auf dem Maidan genauso zügig aufzuklären sind wie der schreckliche Tod der Brandopfer von Odessa. Inzwischen wurden über 1 150 Untersuchungsverfah- ren zu den Tötungen rund um den Maidan eröffnet. Eine Benachrichtigung hierüber konnte jedoch nur gegenüber circa 45 Personen bis Mitte November des letzten Jahres erfolgen. Eine detaillierte Aufarbeitung wird wohl dadurch er- schwert, dass in einem erheblichen Umfang Beweisma- terial durch ehemalige Amtsträger vernichtet wurde. Kritisch hat sich das vom Europarat eingerichtete inter- nationale Beratergremium, das sich um die Sicherstel- lung internationaler Rechtsgrundsätze bei den Ermittlun- gen kümmern soll, in einem Bericht vom 31. März 2015 zu den Maidan-Ermittlungen geäußert. Die ukrainische Regierung hat hier die Aufgabe, die geäußerte Kritik einer mangelnden Aufklärungsbereitschaft im Innenmi- nisterium und im Geheimdienst sowie die nicht ausrei- chenden Ressourcen bei der Generalstaatsanwalt auszu- räumen bzw. ihre Ursachen zu beseitigen und für eine nachdrückliche Aufklärung zu sorgen. Gleiches gilt für die Ermittlungen infolge des Brandes in Odessa mit 42 Toten. Obwohl inzwischen Strafverfah- ren gegenüber 120 Personen eingeleitet worden sind und ein Prozess gegenüber 20 Verdächtigen begonnen hat, sind leider, was den eigentlichen Brand angeht, wohl bislang keine Verdächtigen ermittelt worden. Der erste Prozess gegen 20 Verdächtige hat Ende November 2014 begonnen. Das internationale Beratergremium des Euro- parates soll auch die Aufarbeitung dieses gesamten Vor- falles begleiten, und ich erwarte auch hier, dass seitens der ukrainischen Behörden konsequent an einer Aufklä- rung und Strafverfolgung gearbeitet wird. Der Pauschalvorwurf des Nichtstuns läuft jedoch ebenfalls ins Leere, wobei durchaus die Erwartung da ist, dass die ukrainische Regierung hier noch nachdrück- licher aktiv wird. Doch ist dies allemal kein Anlass zum Rückzug aus der EU-Polizeimission, sondern eher ein Grund, die Unterstützung und die Beratung der ukraini- schen Sicherheitseinrichtungen zu intensivieren und weiter auszubauen. Wenn die Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar 2015 zu einem Erfolg werden sollen, was alle Fraktionen im Deutschen Bundestag in Redebeiträgen unterstrichen haben, um der Ukraine und der Region eine Perspektive für einen friedlichen Weg in die Zukunft zu ermöglichen, dann wäre es gerade jetzt angesichts der großen Heraus- forderungen falsch und kontraproduktiv, deutsche Bera- tungskompetenz und die aus anderen europäischen Län- dern abzuziehen. Abzuziehen sind vielmehr alle ausländischen bewaff- neten Formationen, Militärtechnik und Söldner vom Ter- ritorium der Ukraine, wie die Minsker Vereinbarungen es vorsehen. Es wäre besser und zielgerichteter gewesen, wenn die Fraktion Die Linke hierzu aktiv geworden wäre. Ihr Antrag sollte damit vor diesem Hintergrund abgelehnt werden, indem das Parlament der Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses folgt, damit die zivil orientierte EU-Polizeimission zur Beratung beim Auf- bau eines staatlichen, demokratisch legitimierten Ge- waltmonopols in der Ukraine mit deutscher Unterstüt- zung fortgesetzt werden kann. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke beantragt, die deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine zu beenden. Wir wollen nicht, dass deutsche Polizisten am Aufbau des ukrainischen Sicherheitsappa- rates beteiligt werden. Denn die Mindestvoraussetzung dafür müsste sein, dass es ernstzunehmende Indizien da- für gibt, dass die ukrainische Regierung die Menschen- rechte garantiert und demokratische Zustände anstrebt. Das ist aber absolut nicht zu erkennen. Ganz im Gegen- teil gibt es in den letzten Monaten schwerwiegende Indi- zien dafür, dass dort eine zunehmend autoritäre Herr- schaft aufgebaut wird. Unsere Ablehnung der EU-Mission hat zwei wesent- liche Gründe: Die Mission ist eine direkte Beteiligung am innerukrainischen Bürgerkrieg, und sie unterstützt ei- nen Sicherheitsapparat, der in hohem Maße von faschis- tischen Kräften beeinflusst wird. Die militärische Relevanz zeigt sich schon darin, dass zu den Ansprechpartnern auch der ukrainische Geheim- dienst SBU gehört. Diesem obliegt die Leitung der soge- nannten Antiterror-Operation, wie der Krieg im Osten des Landes von der ukrainischen Regierung bezeichnet wird. Ein noch deutlicheres Indiz ist die Beratung der Na- tionalgarde durch die Mission. Die Nationalgarde unter- steht zwar formal dem Innenministerium, ist aber eine ausgesprochen militärische Truppe. Die Bundesregie- rung hat in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke – 18/2327 – nicht einmal ausschlie- ßen wollen, dass sich das Beratungsangebot der deut- schen Polizisten auch auf konkrete militärische Einsätze der Nationalgarde im Krieg in der Ostukraine bezieht. 9628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Hinzu kommt, dass in einem „Reformpapier“ des ukrai- nischen Innenministeriums vom November 2014 aus- drücklich festgelegt wird, dass die Nationalgarde und der Grenzschutz – der ebenfalls von der EU-Mission be- raten wird – den „Status paramilitärischer Formationen“ erhalten sollen. Dass deutsche Polizisten dabei mithelfen sollten, Paramilitärs zu schaffen, lehnt Die Linke eindeu- tig ab. Hinzu kommt die Rolle faschistischer Kräfte in der ukrainischen Politik. Zwar ist bei den Parlamentswahlen im Herbst 2014 die faschistische Swoboda-Partei aus dem Parlament und damit aus der Regierung geflogen. Andererseits hat die „Radikale Partei“ von Oleg Ljaschko mit einem radikal-nationalistischen Programm die Swoboda beerbt, 7 Prozent erhalten und, was weit schwerer wiegt, ist wiederum Teil der Regierungskoali- tion. Insgesamt ist Die Linke hochgradig darüber besorgt, dass es eine nicht zu übersehende Zusammenarbeit der ukrainischen Regierung mit faschistischen und extrem- nationalistischen Kräften bzw. deren Anführern gibt. So genießen etliche faschistische Politiker und Chefs fa- schistischer Milizen die offene Unterstützung der angeb- lich „prowestlichen“ Regierungsparteien. So hat etwa Andrij Bilezky mit Unterstützung der Volksfront ein Di- rektmandat für die Oberste Rada gewonnen. Bilezky ist Kommandant der Asow-Miliz, deren Angehörige offen Hakenkreuze, SS-Runen und die faschistische „Schwarze Sonne“ tragen. Selbst die Bundesregierung hat diese Miliz als rechtsextrem eingeschätzt. Neben Bi- lezky sind zwei weitere Asow-Milizionäre in die Rada gelangt, über die Listen des Poroschenko-Blocks und der Vaterlandspartei. Die Asow-Miliz ist nicht das einzige rechtsextreme Bataillon. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta- ges hat in einer Ausarbeitung vor wenigen Wochen auch bei den Bataillonen Aidar, Dnipro und Donbass alarmie- rende Hinweis auf eine rechtsextreme Ideologie konsta- tiert. Man kann sich vorstellen, wie diese Milizen im Osten der Ukraine wüten. Amnesty International, die OSZE und der UNO-Menschenrechtskommissar haben bestür- zende Hinweise über Menschenrechtsverbrechen dieser Kräfte zusammengetragen: Plünderei, widerrechtliche Festnahmen, Behinderung von Lebensmittellieferung, Misshandlungen usw. Die ukrainische Regierung unternimmt aber keinerlei Anstrengung, diese Milizen aufzulösen und ihre Verbre- chen zu untersuchen. Das Asow-Bataillon ist vielmehr offiziell in die Nationalgarde integriert worden. Man muss sich das mal vorstellen: Würden wir es in Deutsch- land hinnehmen, wenn eine rechtsextreme Wehrsport- gruppe formell in die Bundeswehr aufgenommen würde? Die Bevölkerung in der Ostukraine wird sich in ihrer Ablehnung der Kiewer Regierung noch bestärkt fühlen, wenn sie sehen muss, dass faschistische Bataillone für ihre Verbrechen nicht bestraft, sondern von der Regie- rung sogar noch legalisiert werden. Wie ich schon erwähnt habe, gehört die Beratung der Nationalgarde zu den Aufgaben der EU-Mission – damit auch die Beratung des Asow-Bataillons und anderer fa- schistischer Kräfte. Die Bundesregierung hat auf An- frage bestätigt, dass es keinerlei Empfehlungen an die deutschen Polizisten gegeben hat, sich der Beratung von Nazimilizen zu enthalten. Die Verbindungen insbesondere zwischen dem ukrai- nischen Innenministerium und faschistischen Anführern gehen aber noch weiter. So hat Innenminister Arsen Avakov den Vizekommandanten des Asow-Bataillons, Wadim Trojan, zum Polizeichef der Oblast Kiew er- nannt. Die Polizei der Stadt Kiew ist eine offene Koopera- tion mit dem „Rechten Sektor“ in einem Kiewer Stadtteil eingegangen, um gegen Drogen und illegales Glücks- spiel vorzugehen. Der Chef des Rechten Sektors, Dmitro Jarosch, ist jetzt offizieller Berater des Generalstabes. Der frühere Swoboda-Abgeordnete Juri Michaltschischin, der schon mal den Holocaust als „Lichtblick in der euro- päischen Geschichte“ bezeichnet, arbeitet jetzt beim Ge- heimdienst, nach eigenen Angaben zuständig für „opera- tive Information“, also Propaganda. Die ukrainische Regierung arbeitet also offen mit Fa- schisten zusammen, ja befördert sie in hohe Funktionen in Militär, Polizei und Geheimdienst. Damit ist der ukrainische Sicherheitsapparat in hohem Maße unter fa- schistischem Einfluss – dass die EU da noch Beihilfe zur weiteren „Optimierung“ dieser Sicherheitskräfte leistet, ist ein ungeheuerlicher Skandal. Es darf nicht sein, dass deutsche Polizisten Faschisten unterstützen – weder im Inland, noch im Ausland. Des- wegen muss die Unterstützung für die EU-Mission so- fort eingestellt werden. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer wie die Linke in der vergangenen Wo- che die EU-Assoziierung mit der Ukraine, Moldau und Georgien abgelehnt hat, ist offenbar an einem inneren zi- vilen Aufbau dieser Länder nicht interessiert. Die EU- Polizeimission in der Ukraine ist eine durch und durch zivile Mission. Sie dient dem Aufbau von rechtsstaatli- chen, menschenrechtsorientierten und korruptionsfreien Polizeistrukturen in der Ukraine. Deutschland beteiligt sich mit 20 Polizistinnen und Polizisten. Die Ukraine steht ganz am Anfang vieler demokratischer und rechts- staatlicher Veränderungsprozesse. Wer in diesen Zeiten die EU-Polizeimission abziehen möchte, will am demo- kratischen Aufbau des Landes offensichtlich nicht teil- haben. Wir nähern uns dem 8. Mai und damit dem 70. Jahres- tag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus. Das fordert dazu auf, noch einmal einen genauen Blick auf die deutsche Geschichte – gerade auch mit Bezug auf die Ukraine – zu werfen. Das berechtigte historische Verantwortungsgefühl gegenüber der Sowjetunion führt heute oft zu einem verkürzten Geschichtsmodell, weil Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9629 (A) (C) (D)(B) wir geografische und damit mentale blinde Flecken auf der Landkarte haben. Diese betreffen die Ukraine, Belarus, Polen, das Baltikum, die gesamte Region, die Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands als Zwi- schenländer zwischen Berlin und Moskau bezeichnet. Hier fanden in der kurzen Zeitspanne zwischen 1930 und 1945 etwa 14 Millionen Menschen einen gewaltsamen Tod: Opfer der von Stalin herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine, des zwischen Hitler und Stalin vereinbarten Einfalls in Polen, der Exzesse der Wehrmacht in Belarus und der Ukraine sowie des Völkermords an den Juden. Es grenzt geradezu an den Versuch einer historischen Schuldumkehr, wenn heute von deutscher Seite mit Übereifer auf rechtsextreme Umtriebe in der Ukraine hingewiesen wird – die es zweifelsohne gibt, wie aber auch in Frankreich mit dem Front National, in Griechen- land mit der „Goldenen Morgenröte“ und den Rechts- populisten in der jetzigen Regierung. Dies könnte – ge- rade in den Zwischenländern – den Verdacht aufkommen lassen, dass eine Verwischung der deutschen Spur dort stattfinden soll, wo von deutschem Boden ausgehend der Faschismus so sehr gewütet hat. Heute melden Medien, dass das amerikanische Au- ßenministerium Russland und den von ihnen unterstütz- ten Separatisten schwere Verletzungen des Minsker Abkommens vorwirft. Die russische Armee soll Flugab- wehrgeschütze und weitere schwere Waffen in die Ost- ukraine liefern, verstärkt die Kämpfer vor Ort ausbilden und außerdem bis zu zwölf Bataillone an der Grenze zu- sammengezogen haben. In Europa bildet sich derzeit eine interessante Querfront aus Links- und Rechtspopu- listen, die von Moskau unterstützt wird. Sie eint die Ablehnung des transatlantischen Bündnisses, und es ist bekannt, dass sie den Aussagen von NATO und USA den Wahrheitsgehalt abspricht. Mich allerdings erinnert vieles an Bosnien, als ebendiese Kenntnisse der Aggres- sion oder Aggressionsvorbereitungen der NATO – und damit auch uns – bekannt waren und wir solche Informa- tionen zurückgehalten haben, weil wir die Konsequen- zen fürchteten. Ja, beide Seiten müssen die Waffenstill- standsvereinbarungen von Minsk einhalten. Aber wie wollen wir der Kiewer Regierung abverlangen, sich noch wehrloser zu machen, während wir sehen, dass die russische Seite wieder aufrüstet und möglicherweise ei- nen nächsten Aggressionsschritt vorbereitet? Während Europa endlich – viel zu spät – beginnt, auf die Flüchtlingskatastrophe vor unseren Küsten zu reagieren, vermeiden wir den Blick auf die humanitäre Katastrophe, die sich in der Ukraine abspielt. Etwa 1,2 Millionen ukrainische Binnenflüchtlinge werden bei uns erstaunlicherweise kaum zur Kenntnis genommen. Wir müssen vermuten, dass in den dörflichen Regionen, in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollier- ten Gebieten, Menschen verhungern. Aber sie verhun- gern still und ertrinken nicht vor unseren Augen. Ich fordere dringlich auf, dass wir diese humanitäre Kata- strophe in der Ukraine nicht genauso verdrängen, wie wir es mit dem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer durch die Beendigung von Mare Nostrum getan haben. Wer be- ansprucht, aus der Krise gelernt zu haben, muss sein Handeln jetzt auch auf den Osten Europas ausdehnen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Personalrechts der Be- amtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost (Tagesordnungspunkt 17) Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Vor mehr als 20 Jahren gab es mit der Postreform eine historische Zä- sur. Durch das Poststrukturgesetz und das Postumwand- lungsgesetz wurde die Privatisierung der Deutschen Bundespost eingeleitet. Seitdem werden die drei Nach- folgeunternehmen in den Bereichen Postdienst, Post- bank und Telekom als separate Aktiengesellschaften er- folgreich fortgeführt. Diesen Weg wollen wir mit dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Personal- rechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deut- schen Bundespost weitergehen. Dabei verfolgen wir insbesondere das Ziel, die orga- nisatorischen Strukturen und rechtlichen Instrumentarien im Postnachfolgebetrieb weiterzuentwickeln. Gleichzei- tig soll die Beschäftigung der Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten, die bei den drei Postnachfolgeunter- nehmen tätig sind, nachhaltig gesichert werden. Die Weiterentwicklung des Personalrechts der Beam- tinnen und Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen liegt deshalb auch im Interesse aller Beteiligten. Die Be- amtinnen und Beamten haben einen Anspruch auf eine ihrem Amt angemessene Verwendung. Dieser Anspruch kann künftig bei gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen besser gewährleistet werden als unter der geltenden Rechtslage. Den Postnachfolgeunternehmen hilft die be- hutsame Weiterentwicklung des dienstrechtlichen Instru- mentariums, sich gemeinsam mit den bei ihnen beschäf- tigten Beamtinnen und Beamten in einem globalen Wettbewerb zu behaupten und die dafür notwendigen unternehmerischen Entscheidungen zu treffen. Das dient zugleich auch der Beschäftigungssicherung. Und für den Bund schließlich reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, bei einer Auflösung oder Umwandlung der Postnachfol- geunternehmen wieder unmittelbar selbst für eine amtsangemessene Weiterbeschäftigung der dort beschäf- tigten Beamtinnen und Beamten und für deren Personal- kosten sorgen zu müssen. Mit dem Gesetz ändern wir das Personalrecht und weitere Rechtsvorschriften für die rund 100 000 Bundes- beamtinnen und Bundesbeamten, die noch bei den drei Nachfolgeunternehmen der früheren Deutschen Bundes- post beschäftigt sind und für die der Bund als Dienstherr weiterhin die Verantwortung trägt. Doch auch die rund 275 000 Versorgungsempfänger sind teilweise betroffen. Im Wesentlichen geht es bei den Änderungen um vier Bereiche. Zum einen wird die Bundesregierung ermächtigt, ne- ben den drei primären Postnachfolgeunternehmen durch Rechtsverordnung weitere Unternehmen zu sekundären Postnachfolgeunternehmen zu bestimmen und mit ho- heitlichen Aufgaben zu beleihen. Dafür kommen aller- dings ausschließlich Unternehmen infrage, die in einem 9630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachfolgeverhältnis zu einem der drei primären Postnachfolgeunternehmen ste- hen. Das ergibt sich schon aus den verfassungsrechtli- chen Vorgaben nach Artikel 143 b des Grundgesetzes. Leider ist dieser Aspekt in der Öffentlichkeit gelegent- lich verzerrt dargestellt worden. Das hat zu ebenso unnö- tigen wie unberechtigten Sorgen bei den Betroffenen ge- führt. Die Neuregelung liegt aber gerade auch im Interesse der Beamtinnen und Beamten. Denn ohne diese Neuregelung würde bei einer Umwandlung der drei primären Postnachfolgeunternehmen – beispiels- weise durch Verschmelzung, Aufspaltung oder andere gesellschaftsrechtliche Maßnahmen – die Pflicht zur Weiterbeschäftigung wieder unmittelbar den Bund als Dienstherrn treffen. Der Bund könnte aber in den meis- ten Fällen kaum für eine angemessene Verwendung sor- gen. Vermutlich würden die betroffenen Beamtinnen und Beamten oft auch mit ihrem Fachwissen bevorzugt in dem Unternehmen weiterhelfen. Gegebenenfalls kann der Bund Sicherheitsleistungen festsetzen, um im Inte- resse der Beamtinnen und Beamten zu gewährleisten, dass die neuen Postnachfolgeunternehmen ihren Zah- lungspflichten dauerhaft nachkommen. Als Zweites sind künftig die Postnachfolgeunterneh- men nur noch für aktive Beamte dienstrechtlich zustän- dig. Die Zuständigkeit für Versorgungsempfänger wird auf die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost übertragen. Das gewährleistet eine einheitliche Anwendung der Vorschriften. Außerdem müssen die Nachfolgeunternehmen so nicht noch auf Jahre hinaus dienstrechtliches Fachwissen vorhalten. Das wäre schließlich weder wirtschaftlich noch beam- tenrechtlich sinnvoll. Doch die Unternehmen haben die Verwaltungskosten der Bundesanstalt zu tragen und leis- ten dadurch einen Beitrag zur Finanzierung der Versor- gungsausgaben. Drittens erfolgt eine Zentralisierung der Beihilfebear- beitung für alle bei Postnachfolgeunternehmen beschäf- tigten Beamtinnen und Beamten. An der Finanzierung der Beihilfeausgaben wird sich nichts ändern. Abschließend ist als vierter Punkt zu nennen, dass die dienstrechtlichen Vorschriften fortentwickelt werden, um den Anspruch der Beamtinnen und Beamten auf eine amtsangemessene Weiterbeschäftigung bei den Post- nachfolgeunternehmen zu gewährleisten. Schließlich hat es seit der Postreform am Markt Entwicklungen gege- ben, die bei den damaligen Gesetzen nicht absehbar wa- ren. Insbesondere geht es um Vorschriften zur Beurlau- bung im dienstlichen Interesse und zur Zuweisung von Tätigkeiten bei anderen Unternehmen. Dabei haben wir die schutzwürdigen Belange der Beamtinnen und Beam- ten berücksichtigt und die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gewahrt. Zu dem Gesetzentwurf hat der Haushaltsausschuss am 23. Februar 2015 eine öffentliche Anhörung durch- geführt. Dabei wurde mit den Sachverständigen unter anderem die Vereinbarkeit der Neuregelungen mit Arti- kel 143 Absatz 3 des Grundgesetzes erörtert und aus un- serer Sicht bestätigt. Darüber hinaus wurden in der An- hörung vonseiten der Gewerkschaften weitergehende Änderungen vorgeschlagen. Im Ergebnis sind diese nach unserer Auffassung jedoch nicht erforderlich. Der Ge- setzentwurf trägt in der vorliegenden Fassung den Be- langen der Beamtinnen und Beamten ausreichend Rech- nung. Er ist ausgewogen mit Blick auf die Interessen der Beschäftigten und Unternehmen. Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Über 100 000 Bun- desbeamtinnen und Bundesbeamte sind derzeit noch bei den Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank AG aktiv beschäftig. Demgegenüber übersteigt die Zahl der Ver- sorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger der früheren Deutschen Bundespost mit 275 000 Perso- nen die der Aktiven um ein Vielfaches. Dieses Verhältnis wird sich, da keine neuen Beamtenverhältnisse mehr begründet werden dürfen, in Zukunft noch weiter in Richtung der Versorgungsempfängerinnen und Versor- gungsempfänger verschieben. Ziel des heute zu be- schließenden Gesetzentwurfes ist es einerseits, eine sta- bile Rechtsgrundlage für künftige wirtschaftliche Weiterentwicklungen zu finden, mit der die bisherige Beleihung der Postnachfolgeunternehmen – Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG, Deutsche Postbank AG – auch auf Tochter- und Enkelunternehmen erstreckt und auch eine Lösung für Umwandlungen und Verschmel- zungen angeboten wird. Andererseits muss dem Anspruch der Beamtinnen und Beamten auf eine ange- messene Vergütung und einen angemessenen Schutz Rechnung getragen werden. Wir haben es uns in den letzten Wochen und Monaten nicht einfach gemacht und unzählige Gespräche geführt und eine Anhörung durchgeführt. Vor allem ging es mir dabei darum, die Interessen der Beamtinnen und Beam- ten, deren Status sich aufgrund des vorliegenden Geset- zes keinesfalls verschlechtern darf, zu wahren. Hierbei wurden vor allem drei Kernpunkte erörtert, die in der Beurteilung des Gesetzentwurfes strittig waren und auf die ich hier kurz eingehen möchte: So war erstens zu prüfen, ob die Übertragung der Hoheitsgewalt per Rechtsverordnung auf sogenannte sekundäre Postnach- folgeunternehmen mit den Bestimmungen des Artikels 143 b GG vereinbar ist. Die Anhörung hat gezeigt, dass es hier durchaus unterschiedliche Meinungen gibt. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob Artikel 143 b Absatz 3 GG eine Begrenzung auf die ursprünglichen drei Postnachfolgeunternehmen fordert. Nach herrschen- der Meinung ist der im Gesetzentwurf vorgeschlagene Weg gangbar, wenn nur Unternehmen infrage kommen, die in einem rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachfol- geverhältnis zu einem der drei primären Postnachfolge- unternehmen und damit mittelbar zum ehemaligen Son- dervermögen Deutsche Bundespost stehen. Insofern trifft infolge einer solchen Beleihung diese Unternehmen die Beschäftigungs- und Kostentragungspflicht für die ihnen zugeordneten Beamtinnen und Beamten. Die Bedenken hinsichtlich der Verfassungsgemäßheit der geplanten Fassung konnten meines Erachtens deut- lich widerlegt werden. Die Frage der Vereinbarkeit des Gesetzentwurfes mit Artikel 143 b GG ist ausreichend geklärt worden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9631 (A) (C) (D)(B) Zum anderen kam die Frage auf, ob man § 38 des Ent- wurfes ergänzt. Es ist die Meinung vertreten worden, dass sich die Ausübung der Dienstherrenbefugnisse durch delegierte Unternehmen immer weiter auf das Be- schäftigungsverhältnis der Beamtinnen und Beamten von ihren Dienstherren entfernt. Die Wahrung der Rechtsstellung in Artikel 143 b Absatz 1 GG müsse da- her spezifiziert werden, damit die Situation der Beschäf- tigten sich nicht verschlechtern werde. Dies gelte auch für die Arbeitsverhältnisse von beurlaubten Beamtinnen und Beamten. Insgesamt sind knapp 25 000 Beamtinnen und Be- amte – also immerhin ein Viertel der aktiven Beamtin- nen und Beamten – bei den Postnachfolgeunternehmen beurlaubt – sogenannte In-Sich-Beurlaubungen – und ar- beiten projektbezogen in einem privatrechtlichen Ar- beitsverhältnis für dasselbe Postnachfolgeunternehmen, oft zu wesentlich besseren Konditionen. An diesen spe- zifischen Gegebenheiten ändert sich durch das vorlie- gende Gesetz nichts. Auch bei einer Umwandlung oder Verschmelzung behalten diese Beschäftigten ihre Rechte und Pflichten. Aber: Beurlaubungen gibt es nicht auf ewig. Sie sind immer projektbezogen und zeitlich limitiert. Beurlaubte Beamte sind und bleiben Beamte. Der vorliegende Ent- wurf ändert am Beamtenstatus nichts. In diesem Zusam- menhang erscheint es mir sehr wichtig, auf die entspre- chenden Arbeitsbedingungen der Beamtinnen und Beamten zu achten. Es sollte keine Aufgabenverschlech- terung stattfinden, und zudem sollten auch Perspektiven und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für die Be- amtinnen und Beamten bei den sekundären Postnachfol- geunternehmen vorhanden sein. Diese Bestimmungen werden aber meines Erachtens auch durch den vorlie- genden Entwurf hinreichend umgesetzt. In § 38 Absatz 2 heißt es ausdrücklich: „Der Wechsel ist unter Wahrung der Rechtsstellung der Betroffenen und der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten bei den Aktiengesellschaften im Sinne von § 1 Absatz 1 PostUmwG vorzunehmen. Es dürfen nur Unternehmen mit Sitz im Inland als weitere Postnachfolgeunternehmen bestimmt werden …“. Hinzu kommt, dass vor Erlass einer Rechtsverordnung die Spit- zenorganisationen der zuständigen Gewerkschaften nach § 118 des BBG zu beteiligen sind. Sollte dann ein ande- res Unternehmen beliehen werden, gelten selbstver- ständlich die bisherigen beamtenrechtlichen Grundsätze fort. Zum einen werden die Beamtinnen und Beamten unter Wahrung ihrer Rechtsstellung zu den bisherigen Konditionen weiterbeschäftigt, zum anderen greifen die Benachteiligungsverbote des Postpersonalrechtsgeset- zes. Aus diesem Grunde bedurfte es keiner weiteren ge- setzlichen Regelung. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen dritten Punkt der Kernthemen kurz skizzieren, die Versorgungs- lage. Zurzeit ist es so, dass bei allen Beschäftigten der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Versor- gungsansprüche nach handelsrechtlichen Grundsätzen gebildet werden, während bei den Beschäftigten der Postnachfolgeunternehmen Unternehmensbeiträge in Höhe von 33 Prozent der Beamtenbezüge gelten. Nach dem Gesetzentwurf wird – richtigerweise – die Bundes- anstalt die dienstrechtlichen Befugnisse für die Ruhe- standsbeamten wahrnehmen und mit der Beihilfe- bearbeitung betraut werden. Hierfür werden circa 200 zusätzliche Beamte zur Bundesanstalt übergeleitet. Dies verursacht – das sehe ich absolut ein – aufgrund der derzeitigen Kapitalmarktzinsen mehr Kosten bei den Postnachfolgeunternehmen. Ich kann auch verstehen, dass die Unternehmen dafür plädiert haben, den Kapital- fonds aufzulösen und für alle Beschäftigten 33 Prozent der Beamtenbezüge zu leisten. Aus haushälterischer Sicht ist diese Forderung zum jetzigen Zeitpunkt aber abzulehnen. Da je nach versiche- rungsmathematischer Berechnung für den Bund zukünf- tig die Höhe der Zahlungen anfallender Versorgungsfälle nicht überblickbar und kalkulierbar ist, wäre dies eine einseitige Risikoumverteilung auf den Bund und letzt- endlich auf den Steuerzahler. Alles in allem ist der vorliegende Gesetzentwurf ge- eignet, die entstandene Lücke zu schließen und auch die Interessen der beschäftigten Beamtinnen und Beamten sicherzustellen und zu bewahren. Es ist aber selbst- verständlich, dass die weitere Entwicklung der Post- nachfolge- und eventueller sekundärer Postnachfolge- unternehmen genau im Auge behalten wird und wir gegebenenfalls im Sinne und für das Wohl der aktiven Beamtinnen und Beamten eingreifen werden, um deren Beschäftigungsverhältnisse neu zu regeln. Frank Tempel (DIE LINKE): Die öffentliche Anhö- rung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Wei- terentwicklung des Personalrechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost hat deut- lich gemacht, dass erhebliche verfassungsrechtliche Ri- siken bestehen, wenn der Entwurf in der jetzigen Form beschlossen werden sollte. Mehrere Sachverständige be- zogen sich auf das Gutachten von Professor Dr. Heinrich Amadeus Wolff, der die vorgesehene Beleihung an an- dere als im Artikel 143 b Absatz 3 Satz 2 GG vorgese- hene Unternehmen verwirft. Auch eine Beleihung an Tochter- und Enkelunternehmen lässt sich aus den ent- sprechenden Verfassungsartikeln nicht ableiten. Der Ar- tikel 143 b stellt eine abschließende Sonderregelung dar, welche die Abweichungen von den allgemeinen dienst- rechtlichen Prinzipien klar begrenzt und keine weitere Veränderbarkeit in Aussicht stellt: Die überführten Be- amtinnen und Beamten sind weiter Bundesbeamte unter dem Dienstherren Bund. Die benannten Unternehmen üben die Dienstherrenbefugnis auf verfassungsrechtli- cher Grundlage aus. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird Kraft verfassungsrechtlicher Zusicherungen ge- wahrt. Dieser mit Artikel 143b des Grundgesetzes beab- sichtigte Schutz für die Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost ist nicht mit einer einfa- chen gesetzlichen Regelung aufhebbar. Wenn die Große Koalition entsprechende Änderungen durchsetzen will, muss sie eine Grundgesetzänderung durchsetzen. Neben diesen schwerwiegenden rechtlichen Bewer- tungen des Gesetzentwurfes gibt es eine politische Be- wertung. 9632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Die Postprivatisierung ist mit den Versprechen an die Beamtinnen und Beamten einhergegangen, ihren Rechts- status zu wahren. Verdi weist in ihrem Gutachten zur Anhörung auf die heutigen Realitäten hin, und die stel- len sich völlig anders dar: Die Beförderungs- und Auf- stiegsmöglichkeiten sind minimal ausgeprägt. Personal- konzepte, die in der öffentlichen Verwaltung dem Laufbahnrecht entsprechend erarbeitet und durchgesetzt werden, finden in den Nachfolgeunternehmen der Post nicht statt. Die als Ausnahme gedachten Tätigkeits- zuweisungen nach Paragraf 4 des Gesetzes zum Perso- nalrecht der Beschäftigten der früheren Deutschen Bundespost – PostPersRG – werden zehntausendfach angewandt. 20 Jahre nach der Privatisierung sind rund 170 000 Be- amtinnen und Beamte abgebaut worden. Die verbliebe- nen über 100 000 Beamtinnen und Beamten fürchten um ihren Status, falls weitere Unternehmen die Diensther- renbefugnisse zugeschrieben bekommen. Die besondere Rechtslage, dass Beamtinnen und Beamte in einem Pri- vatunternehmen beschäftigt werden, setzt im Umgang ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung voraus. Es ist schwer vorstellbar, wie sich andere Unternehmen kurz- fristig, praktikabel und rechtssicher in diese schwierige Rechtslage einarbeiten könnten. Die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den Beamtinnen und Beamten gebie- tet es, keine Experimente auf dem Rücken der Betroffe- nen durchzuführen. Besonders problematisch im Sinne des Gleichbehand- lungsgrundsatzes ist die im Gesetz vorgesehene Mög- lichkeit der Zuweisung unterwertiger Tätigkeiten. Wieso die Große Koalition ehemaligen Beschäftigten der Bun- despost im Beamtenstatus Dinge zumuten will, die den übrigen Beamtinnen und Beamten nicht zugemutet wer- den können, ist nicht nachvollziehbar und abzulehnen. Der dbb beamtenbund und tarifunion hat in seiner Stellungnahme einen Änderungsvorschlag zum Paragraf 38 PostPersRG gemacht, der die Interessen der Beschäf- tigten, die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und das Interesse des Bundes vermitteln soll. Wir halten diesen Kompromissvorschlag aufgrund der Implikatio- nen des Grundgesetzes für schwierig, aber für eine denkbare Möglichkeit. Dort wird die Wahrnehmung der Dienstherrenbefugnisse neu betrauter Postnachfolge- unternehmen an die Fortsetzung der bisherigen arbeits- vertraglichen Bedingungen und an den kontrollierbaren Nachweis der notwendigen Fachkenntnis zur Bearbei- tung beamtenrechtlicher Angelegenheiten gebunden. Leider hat die Große Koalition weder Schlussfolge- rungen aus der öffentlichen Anhörung gezogen noch eine Kompromissvariante aufgegriffen. Sie wird sich se- henden Auges den Folgen einer aussichtsreichen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ausgesetzt sehen. Die Verantwortung für die absehbaren politischen, wirt- schaftlichen und rechtlichen Verwerfungen trägt alleine die Große Koalition. Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sowohl bei den eingereichten Stellungnahmen der Sach- verständigen als auch bei der Anhörung im Haushalts- ausschuss des Deutschen Bundestages wurde deutlich, dass dieser Gesetzentwurf erhebliche Mängel und Pro- bleme aufwirft. Insbesondere die Möglichkeit, dass die Dienstherrenaufsicht über die ehemaligen Postbeamtinnen und -beamten nicht mehr alleine den drei Postnachfolge- unternehmen – Post, Postbank und Telekom – unterstellt ist, sondern diese im vorliegenden Gesetzentwurf erwei- tert wird, stellt eine weitreichende Veränderung dar. Wir sehen hierin eine verfassungswidrige Änderung. Die Ausweitung der Dienstherrenbefugnis auf andere Unternehmen als die direkten Postnachfolgeunterneh- men steht im Widerspruch zu Artikel 143 b Grundgesetz. Er geht davon aus, dass die Postnachfolgeunternehmen einen rechtlichen Einfluss auf weitere Unternehmen aus- üben können müssen, wenn Dienstherrenrechte übertra- gen wurden. Unsere verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen in der deutlichen Ausweitung der Beleihungs- möglichkeiten. Was bei den Beratungen im Bundestag schlichtweg verschwiegen wurde ist, dass wegen des anstehenden Verkaufs der Postbank hier schnell Vorsorge getroffen wer- den soll. Der Bund trägt die Verantwortung für die Beam- tinnen und Beamten, und dies erfolgt nach Artikel 143 b Grundgesetz „unter Wahrung ihrer Rechtsstellung“. Kritisch sehen wir auch, die ausdrücklich im Grund- gesetz erwähnten Postnachfolgeunternehmen und die Ausweitung der Dienstherrenfähigkeit im Zuge einer Verordnungsermächtigung zu regeln. Ohne eine Ände- rung des Grundgesetzes scheint uns diese Ausweitung der Beleihung verfassungswidrig. Wir sehen die zwin- gende Notwendigkeit, dass sich das Parlament mit dieser Frage beschäftigt, da es sich hierbei um Beamtinnen und Beamte des Bundes handelt. Weitere Kritik besteht an der neuen Regelung, dass zukünftig Zuweisungen einer unterwertigen Tätigkeit, wenn auch befristet, möglich sein sollen. Dies stellt die Beamtinnen der Postnachfolgeunternehmen schlechter als andere Bundesbeamte. Im § 38 sehen wir die Gefahr, dass jedes Unterneh- men zum Postnachfolgeunternehmen werden kann, ohne jegliche Kenntnis des Beamtenrechts. Hier sind wir an- gehalten, die Rechte der Beamtinnen und Beamten zu wahren. Wie gesagt: Sie stehen in unserer Verantwor- tung. Mit einem abschließenden Beispiel möchte ich noch aufzeigen, welche weitere Regelungslücke durch das Gesetz entsteht: Was würde mit den Beamtinnen und Be- amten passieren, wenn die Postbank beispielsweise an ein ausländisches Unternehmen verkauft würde? Eine Ausleihe ins Ausland ist im Gesetz nicht geregelt. Sie würden dann in die Beschäftigungslosigkeit versetzt werden. Auch hierfür bedarf es einer klaren Regelung. Auf Grundlage der eingegangenen Stellungnahmen, die einige Unklarheiten im Gesetzentwurf definiert ha- ben, und als Ergebnis der Anhörung des Haushaltsaus- schusses des Deutschen Bundestages lehnen wir den Ge- setzentwurf ab. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9633 (A) (C) (D)(B) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu den An- trägen: – UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung glo- bal gestalten – Post 2015-Agenda auf den Weg bringen – Armut und soziale Ungleichheit weltweit überwinden, natürliche Grundlagen bewah- ren – Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtigkeit (Tagesordnungspunkt 19) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Diese Aussprache zum Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „UN- Ziele für nachhaltige Entwicklung global gestalten – Post 2015-Agenda auf den Weg bringen“ möchte ich nutzen, um die Öffentlichkeit erneut für dieses weitrei- chende Projekt der Vereinten Nationen zu sensibilisie- ren. Es wird unseren Alltag berühren und ist bisher in der breiten Wahrnehmung eher untergegangen. Bereits aus der Debatte zu diesem Thema Ende Fe- bruar hier in diesem Haus ist hervorgegangen, welche großen Umbrüche in der internationalen Entwicklungszu- sammenarbeit 2015 vollzogen werden. Bundesentwick- lungsminister Gerd Müller sprach von einem „Welt- zukunftsvertrag“, der durch 17 neue Sustainable Development Goals, SDGs, – also nachhaltige Entwick- lungsziele – zwischen entwickelten Staaten, Schwellen- und Entwicklungsländern dadurch geschlossen werden soll. Beobachter des Post-2015-Prozesses sprechen so- gar von einem Paradigmenwechsel in der internationalen Entwicklungspolitik, da die klassische Aufteilung in Ge- ber- und Empfängerländer aufgebrochen wird. Die von einer offenen UN-Expertengruppe formulierten Haupt- entwicklungsziele für die kommenden 15 Jahre, mit ei- ner Vielzahl von Unterzielen, lösen die seit dem Jahr 2000 gültigen Millenniumsentwicklungsziele, MDGs, ab. In unserem Antrag stellen wir fest, dass die Millen- niumsentwicklungsziele in vielen Bereichen bedeutende Fortschritte gebracht haben. Wir zeigen jedoch auch die Schwachstellen einiger Vorhaben der vergangen Jahre auf, deren Lösung wir nicht länger aufschieben dürfen. Deshalb begrüßen wir die internationalen Bemühun- gen, auf dem soliden Fundament der Millenniumsziele nachvollziehbare Vorhaben für eine nachhaltige Ent- wicklung zu gestalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, die internationalen Entwicklungsbemühungen auch in Deutschland durch kohärente Politikgestaltung sowie durch Einbindung von Verbänden, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft zu untermauern. Viele dieser Aspekte hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung, BMZ, mit der Erarbeitung einer „Zukunftscharta“ bereits aufgegriffen. Hervorhe- ben möchte ich auch die im Antrag genannten Schlüssel- elemente für Entwicklungszusammenarbeit: Krisenprä- vention, zivile Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit – mit diesen Instrumenten tragen wir international dazu bei, die SDGs zu einem Erfolg zu machen. Neu ist auch: Die Eigenverantwortung aller Staaten für die Entwicklung auf ihrem Territorium bekommt in Zukunft einen höheren Stellenwert. Die CDU/CSU-Frak- tion begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Gleichzei- tig schreiben die neuen Ziele erstmals nachhaltige und globale Entwicklungsvorgaben für alle Unterzeichner vor. Somit formulieren die SDGs – im Gegensatz zu ih- rem „Vorgängermodell“ – auch klare Erwartungen an die bisherigen Geberländer, insbesondere in den Bereichen Klimaschutz, Produktions- und Konsumgewohnheiten. Die deutschen Beiträge zur Umsetzung nachhaltiger Entwicklung sind breit aufgestellt. Hierzu zählen Maß- nahmen zu Ernährungssicherung und nachhaltiger Land- wirtschaft, der Erhalt und Schutz der Biodiversität oder der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen und regio- naler Gesundheitsversorgung. Wir verpflichten uns auch dazu, die Emission von Treibhausgasen weiter zurückzu- fahren. Der Antrag fordert die Bundesregierung dazu auf, sich auf den UN-Konferenzen in Lima und Pyeongchang dafür einzusetzen, die globale Erderwär- mung bis 2050 auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Bevor von der Opposition der Einwand kommt, unser Fokus auf Eigenverantwortung der Staaten würde einem Teil der Weltbevölkerung in fragilen Staaten den Zugang zu Entwicklung verschließen, möchte ich kurz darauf eingehen: Das BMZ identifiziert die Gruppe der fragilen Länder anhand einer jährlichen internen Bewertung der Regierungsführung. Rund 1,5 Milliarden Menschen le- ben in Ländern, die von Gewalt, Konflikten, unsicheren politischen Verhältnissen geprägt sind. Die Bundesre- gierung wird sich deshalb dafür stark machen, dass auch diktatorische Staatsführungen, die die Post-2015- Agenda der Vereinten Nationen unterzeichnen, ihren Anteil für den Erfolg der Ziele leisten. Fakt ist aber auch: Durch Not- und humanitäre Hilfe helfen wir wei- terhin jenen, die durch fragile staatliche Strukturen von Hunger, Flucht und Vertreibung betroffen sind. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass wir dem Pri- vatsektor eine Rolle bei der Umsetzung von nachhaltiger Entwicklung beimessen. Insbesondere kleinere und mitt- lere Unternehmen schrecken bisher vor Investitionen und Kooperationen in Entwicklungsländern zurück. Das hat vielfältige Gründe. Wir wollen jedoch versuchen, die bestehenden Hürden weiter abzubauen und damit zu ei- ner verstärkten Entwicklung beitragen. Hier könnte ich mir beispielsweise Erleichterungen bei der Kreditver- gabe durch Förderbanken und einen Abbau von Regula- rien vorstellen. Wir müssen es schaffen, dass öffentliche Mittel eine Vorreiterfunktion einnehmen und als Kataly- sator für private Finanzierung fungieren. Gute Ansätze bestehen bereits – sie müssen weiter vorangetrieben wer- den. Aus den Reihen der Opposition ist zum Thema Post- 2015-Strategie ein ganzer Chor an konfusen Vorschlägen zu hören: Da wird gesagt, dass „ein klares Bekenntnis 9634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) der Bundesregierung“ zur Agenda fehle, dass das Trans- atlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten, TTIP, ein „Wahnsinn“ sei oder der Text der Entwicklungsziele zu „technokratisch“ da- herkomme. Die neuen Entwicklungsziele mögen in ein- zelnen Punkten für manch einen Betrachter oder eine In- teressengruppe nicht weit genug gehen, sie bilden aber – und das ist der essenzielle Punkt – einen Konsens der Weltgemeinschaft für die kommenden Jahre ab. Mit die- sem Realismus erreichen wir in den nächsten Jahren mehr als durch einen überzogenen Idealismus, den bei- spielsweise die Schwellenländer China, Indien und Russ- land nicht teilen. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Deutschland eine entschlossene Botschafterin für nachhaltige Entwicklungsarbeit. Mit Blick auf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wie ich bereits erwähnte, überfrachten Sie die Entwicklungs- ziele in Ihrem Antrag. Sie unterstellen den Entwicklungszielen, eine „neoli- berale Agenda“ zu verfolgen. Dies sehen Sie insbeson- dere im geplanten Freihandelsabkommen der EU mit In- dien, im EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit afrikanischen Staaten oder bei TTIP. Auch der Wahler- folg von Syriza in Griechenland wird Ihrerseits als An- lass genommen, um „Hoffnungen für einen grundlegen- den Wandel und die Abkehr von der unsozialen Austeritätspolitik“ zu propagieren. Da in Ihrer Initiative der Fokus zur Verabschiedung eines neuen Zielsystems für die Entwicklungspolitik vollkommen aus den Augen gerät, lehnen wir den An- trag ab. Zum Antrag von Bündnis90/Die Grünen: Dieser geht davon aus, dass die Industrieländer eine besondere Ver- antwortung für den globalen Nachhaltigkeitsprozess in Entwicklung und Umwelt haben. Hiermit fordern Sie eine deutsche Vorleistung, die von Schwellenländern wie Brasilien, China und Indien nicht geteilt wird. Aber: Ein nicht abgestimmtes Handeln der Bundesre- gierung bringt keinen Erfolg und belastet deutsche und europäische Unternehmen und Arbeitsplätze, ohne dass dadurch nennenswerte Fortschritte auf globaler Ebene erreicht werden. Nach dem Abschluss der Arbeit der Open Working Group, OWG, der Vereinten Nationen – für unser Land arbeitete Staatsministerin Maria Böhmer maßgeblich mit – muss nun die Umsetzbarkeit der neuen Agenda analysiert werden. Und hier muss gelten: Die Umset- zung der 17 Ziele ist für alle Staaten der Vereinten Natio- nen gültig – auf nationaler Ebene dürfen einfachere Ziele nicht gegen schwerere ausgespielt werden, nur weil sie einer größeren Anstrengung bedürfen. Die 17 Ziele bil- den einen guten Katalog. Aus diesem Grund muss sich die Bundesregierung auch dafür einsetzen, die SDGs in ihrer Gesamtheit zu verabschieden. Meine Botschaft an die Kritiker: Mit Blick nach vorne ist es viel wichtiger, ein Monitoring-System für die neuen Entwicklungsziele und ihre Unterziele zu eta- blieren, statt den Wunschkatalog auf immer weitere Ziele zu erweitern. Nur durch einen funktionierenden Kontroll- und Evaluierungsprozess werden wir die SDGs zu einem noch größeren Erfolg als die MDGs ma- chen können. Die Herausforderung ist es, einen Prozess zu entwickeln, der es ermöglicht, auch in Ländern, die keine etablierten Mechanismen zur Datenerhebung ha- ben, Entwicklung messen zu können. Wenn wir es schaf- fen, die Ergebnisse des Monitorings in die praktische Umsetzung zurückfließen zu lassen, werden wir zügig einer nachhaltigen Entwicklung näherkommen. Aus die- sem Grund begrüße ich das Eintreten der Bundesregie- rung für messbare und quantifizierbare Ziele, „soweit es der Charakter des jeweiligen Zieles zulässt“. Hier sind wir auf dem richtigen Weg. Machen wir uns nochmals klar, wo wir 2015 auf dem internationalen Entwicklungspfad stehen: Der Gipfel- Kalender ist dieses Jahr enggestrickt. Der G7-Gipfel in Elmau unter deutscher Präsidentschaft, der Klimagipfel in Paris, das Entwicklungsfinanzierungstreffen in Addis Abeba und die UN-Konferenz in New York im Septem- ber, wo das neues Zielsystem der Entwicklungszusam- menarbeit beschlossen werden soll, werfen ihre Schatten voraus. Als Gesamtheit sind diese Konferenzen eine Chance für die Weltgemeinschaft, die Weichen für unse- ren Planeten auf nachhaltiges Wirtschaften zu stellen. Das klingt für einige vielleicht pathetisch. Wollen wir je- doch Fragen der globalen Gerechtigkeit und einer sozia- len Weltordnung in den nächsten Jahrzehnten zufrieden- stellend beantworten, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Seit Januar laufen die in- ternationalen Verhandlungen zur Post-2015-Agenda, de- ren Herzstück die 17 Nachhaltigkeitsziele sind. Jeden Monat wird derzeit ein weiteres Paket verhandelt, damit beim UN-Gipfel im September ein neuer Zielkatalog verabschiedet werden kann. Erst wurde die politische Erklärung zu Beginn der Agenda verhandelt, dann der Zielkatalog mit 17 Zielen und 169 Unterzielen, jetzt die Implementierungsinstrumente, dann ein Kontrollmecha- nismus und Fragen der Finanzierung. Die neuen Ziele lösen die Millenniumsentwicklungs- ziele ab, denn 2015 läuft die Frist zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele aus. Die Bilanz ist gemischt: So sind Erfolge etwa bei der Armutsbekämpfung, im Kampf gegen Malaria und Tuberkulose, beim Zugang zu Trinkwasser oder bei der Grundschulbildung von Mädchen zu verzeichnen. Diese Fortschritte sind teilweise jedoch regional sehr unter- schiedlich. Gerade im Bereich Gesundheit hat uns die Ebola- Krise eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig funk- tionierende Gesundheitssysteme für alle Länder sind. Funktionierende Systeme flächendeckend aufzubauen, ist sicher keine leichte Aufgabe. Aber sie sind das Fun- dament, das gebraucht wird, wenn wir erreichen wollen, was die Nachhaltigkeitsziele zum Thema Gesundheit vorschlagen. Auch im Bereich Bildung bedarf es weiterer Anstren- gungen, um „Bildung für alle“ Wirklichkeit werden zu Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9635 (A) (C) (D)(B) lassen. Der im April vorgestellte Weltbildungsbericht der UNESCO zeigt: Viel zu oft entscheiden Armut, Wohnort, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder Be- hinderung darüber, welche Bildungschancen Menschen haben. Das Risiko, die Grundschule nicht beenden zu können, ist für Kinder aus sehr armen Familien heute fünfmal höher als für solche aus sehr reichen. Auch auf weiterführenden Schulen und Universitäten sind die Chancen extrem ungleich verteilt, besonders arme, auf dem Land lebende Mädchen und Frauen werden ausge- schlossen. Dabei ist Bildung ein Schlüssel, um soziale Ungleich- heit zu überwinden und ein Leben ohne Armut zu errei- chen. Wir brauchen gute öffentliche und gebührenfreie Bildung, um diese Ungleichheit zu beseitigen, auch das ist Aufgabe der neuen Nachhaltigkeitsziele. Mit den Nachhaltigkeitszielen müssen wir es also schaffen, die guten Entwicklungen der letzten Jahre zu verstetigen und dort, wo Mängel bestehen, besser zu werden. Deutliche Defizite gibt es bei der Frage von ökologi- scher Nachhaltigkeit, aber auch bei der Aufgabe der Industrieländer, eine substanzielle Entwicklungspartner- schaft einzugehen und ein entwicklungsfreundliches in- ternationales Umfeld zu schaffen. Insgesamt haben sich die Fortschritte angesichts des Klimawandels und der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 in den letzten Jahren verlangsamt. Das bedeutet, dass viele Themen der Millenniums- ziele auch in einer neuen Post-2015-Agenda noch einmal aufgerufen werden müssen. Dennoch sind die Nachhaltigkeitsziele nicht nur eine Fortsetzung der bisherigen Entwicklungsziele. Im Un- terschied zu den Millenniumszielen adressieren die 17 Nachhaltigkeitsziele auch globale Themen, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Lassen Sie mich einige der neuen Themen und Ziele nennen: Abbau inner- und zwischenstaatlicher Ungleich- heiten mit Ziel 10, menschenwürdige Arbeit weltweit mit Ziel 8, Klimawandel und Energie mit Ziel 7, Urbani- sierung mit Ziel 11, Menschenrechte, Frieden und Sicherheit. Neu ist auch die universelle Geltung der Nachhaltig- keitsziele. Die Universalität, also die Geltung der Ziele für alle Länder dieser Erde, macht nachhaltige Entwick- lung auch zur Aufgabe für Industriestaaten. Es handelt sich somit nicht mehr um eine auf den Süden bezogene, rein entwicklungspolitische Agenda, sondern um eine globale Agenda, die auch für unsere nationalen Politik- felder Richtschnur wird. Das ambitionierte Ziel lautet, das Recht auf ein men- schenwürdiges Leben und soziale Entwicklung mit den ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten in Ein- klang zu bringen. Dies wird uns nur dann gelingen, wenn in New York alle vorgeschlagenen Ziele verabschiedet werden – auch die politisch vermeintlich unbequemeren wie die Redu- zierung von Ungleichheit. Gut zu hören, dass die deutsche Bundesregierung alle 17 Ziele unterstützt und auch in New York kein Staat den vorliegenden Zielkatalog verändern möchte. Wollen wir zukünftig die Nachhaltigkeitsziele errei- chen, so wird es entscheidend darauf ankommen, dass wir unsere Politikkohärenz verbessern. Eine bessere Kohärenz muss zwischen Themenfeldern ebenso ge- sucht werden wie eine bessere Kooperation zwischen In- stitutionen. Die Frage muss sein: Wie kann nationale Politik so abgestimmt und gestaltet werden, dass sie mit Blick auf Entwicklungszusammenarbeit und den Erhalt globaler Güter wie Umwelt und Klima, soziale Gerechtigkeit und stabile Finanzmärkte an einem gemeinsamen Strang zieht? Gerade bei dem Thema „Gute Arbeit weltweit“ zeigt sich, dass viele nationale Politikfelder betroffen sind, um globale Missstände zu beheben. Die Industrieländer sind gefordert; denn oft sind es europäische oder US-ameri- kanische Unternehmen, die unter ausbeuterischen Be- dingungen in ärmeren Ländern produzieren lassen. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen der Internationalen Arbeiterorganisation zeigt: Im Jahr 2013 verdienten rund 900 Millionen Beschäftigte so wenig, dass sie und ihre Angehörigen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag aus- kommen mussten. Fast 400 Millionen Menschen ver- dienten sogar weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. Bei Menschen mit diesem geringen Einkommen spricht die Weltbank von absoluter Armut. Zu Recht! Fast ein Drittel der Beschäftigten in Entwicklungslän- dern lebt in großer Armut, sogenannte Working poor. Diesen Menschen ist es nicht möglich, von ihrem Arbeitslohn die grundlegendsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die fehlende finanzielle Sicherheit ist dabei jedoch nicht das einzige Problem. Fast 21 Millionen Menschen schuften unter sklavenähnlichen Bedingungen. Häufig finden diese Formen der Ausbeutung versteckt statt. Katastrophal sind auch die Bedingungen der Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer in der Textil- oder auch Elektroindustrie oder im Kohle- und Rohstoffabbau. Ein besonderes Problem stellt gerade in Entwick- lungsländern die informelle Arbeit dar. Sie ist nicht registriert, nicht reguliert und deshalb auch nicht arbeits- und sozialrechtlich geschützt. Eben aus all den genannten Gründen ist es wichtig, hier zu verbindlichen, einheitlichen Standards in der Lie- ferkette zu kommen. Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen und ein positives Beispiel für einen ressortübergreifenden Ansatz zum Thema „Gute Arbeit weltweit“ vorstellen: Den Vision Zero Fund. Letzten Monat haben Arbeitsministerium und Ent- wicklungsministerium gemeinsam einen Fund konzi- piert, den Vision Zero Fund, der in den Produktionsstät- ten in ärmeren Ländern Arbeitsschutzmaßnahmen möglich machen wird. 9636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Der Fund steckt noch in den Kinderschuhen, wird aber auch im Rahmen von G 7 in Elmau beraten werden. Auch Unternehmen aus Industrienationen sollen zur Fi- nanzierung beitragen und machen es somit möglich, dass in ihre Zulieferketten hinein Arbeitsschutzmaßnahmen aufgebaut werden. Nach Verabschiedung der Nachhaltigkeitsziele im September 2015 wird es darum gehen müssen: Wer wird die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zukünftig kon- trollieren? Eines ist für mich klar, in jedem Fall müssen Parlamente zukünftig aktiv in die Umsetzung der Nach- haltigkeitsziele und deren Kontrolle einbezogen sein. Und noch ein Wort zur Finanzierung der Nachhaltig- keitsziele. Parallel zu den Post-2015-Verhandlungen in New York wird die dritte Konferenz zur Entwicklungs- finanzierung vorbereitet, die im Juli in Addis Abeba stattfindet. Diese Verhandlungen können wir nicht losge- löst voneinander betrachten. Wenn wir im Herbst in New York eine ambitionierte Post-2015-Agenda verabschieden wollen, müssen wir im Sommer in Addis eine verbindliche Aussage dazu machen, wie unser finanzieller Beitrag zur Umsetzung dieser Agenda aussieht. Wichtig für unsere internationale Glaubwürdigkeit ist auch eine klare und verbindliche Aussage dazu, bis wann wir das 0,7-Prozent-Ziel umsetzen werden. Die Einführung der Finanztransaktionsteuer müssen wir wei- ter voranbringen. Die Einnahmen aus der Finanztransak- tionsteuer müssen auch für Entwicklungszusammenar- beit und den internationalen Klimaschutz eingesetzt werden. Das wäre ein wichtiger deutscher Beitrag für eine nachhaltige globale Entwicklung. Heike Hänsel (DIE LINKE): Unter dem Eindruck der Flüchtlingskatastrophe mit mehr als 1 000 Toten der vergangenen Tage und Wochen diskutieren wir heute über die kommenden Entwicklungsherausforderungen und nachhaltigen Entwicklungsziele, SDGs, auch im Vorfeld des G-7-Gipfels im Juni in Bayern. Deshalb möchte ich auch zunächst meiner Trauer und meiner Wut Ausdruck verleihen über den Tod so vieler, für uns namenloser Menschen, der eindeutig hätte ver- hindert werden können! Der Tod von Frauen, Männern, Kindern und Alten hätte verhindert werden können, wenn sich die Bundesregierung für die Verlängerung von Mare Nostrum oder noch besser für ein rein ziviles See- notrettungsprogramm eingesetzt und im Haushalt Geld dafür eingestellt hätte. Die Anträge der Fraktion Die Linke lagen im letzten Haushalt dazu vor, Sie hätten nur zustimmen müssen! Das heißt, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, Sie können auch nicht sagen, Sie waren nicht informiert; nein, es wurde schlichtweg aus politischem Kalkül kein Geld für ein Seenotrettungspro- gramm im Mittelmeer zur Verfügung gestellt, weil Sie es für wichtiger erachtet haben, ein deutliches Signal an die Schlepperbanden und die potenziellen Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent zu senden: Es gibt auch in höchster Not keine Rettung mehr auf hoher See, deshalb wagt nicht die Überfahrt! – Und das unter Inkaufnahme von Toten. Die Frontex-Initiative Triton kann und will ja auch keine Alternative dazu sein. Das ist ein Grenzsiche- rungsregime, kein Rettungsprogramm. Deshalb kann und muss die einzige ernsthafte menschliche und zivili- satorische Antwort auf die Katastrophe im Mittelmeer sein: Sofortige Wiederaufnahme eines umfassenden See- notrettungsprogrammes, legale, sichere Fluchtwege schaf- fen und eine Erhöhung der geregelten Aufnahme von Flüchtlingen in Europa. Robuste militärische Mandate, wie nun von der EU vorgeschlagen, um Schlepperbanden bzw. Flüchtlings- boote zu bekämpfen und zu zerstören, ähnlich der mili- tärischen Pirateriebekämpfung, lehnen wir ab; das be- deutet in seiner Konsequenz nichts anderes als einen bewaffneten Krieg gegen Flüchtlinge. Wenn wir über Flüchtlinge reden, dann müssen wir vor allem auch über Fluchtursachen reden. Dazu zählen Krieg, Unterdrückung, Verfolgung, Armut, Umwelt- und Klimazerstörung. Das zeigt, Europa bzw. die Regierun- gen in der EU werden mit den Folgen ihrer eigenen Poli- tik nun massiv konfrontiert. Viele Flüchtlinge kommen aus Staaten mit (Bürger-) Kriegen, die durch Waffenexporte und militärische Inter- ventionen – siehe Irak – sowie eine dezidierte Regime- Change-Politik – siehe Libyen und Syrien – vonseiten der USA und EU-Staaten destabilisiert wurden. Viele Krisenländer auf dem afrikanischen Kontinent wurden und werden durch IWF- und Weltbankprogramme sozial destabilisiert und durch die neoliberale Freihandelspoli- tik der EU ausgebeutet. Wer weiterhin, wie die Bundesregierung in ihrer Afrika-Strategie, den Zugang zu billigen Rohstoffen, die aggressive Öffnung von Märkten und die militärische Präsenz ausbauen will, braucht sich über noch mehr Flüchtlinge nicht zu wundern. Andersherum gesprochen: Die weltweite Diskussion und Verabschiedung neuer nachhaltiger Entwicklungs- ziele – zu denen unter anderem gehören: Armut been- den, Abbau von Ungleichheiten in und zwischen Staa- ten, Ernährungssicherheit, nachhaltige Landwirtschaft, Wirtschaft und menschenwürdige Arbeit, nachhaltiger Konsum und Produktion, Kampf dem Klimawandel – muss mit der neoliberalen Doktrin von Profitmaximie- rung, Wettbewerbsfähigkeit, marktkonformer Demokra- tie und Privatisierungswahn brechen, sonst werden so- ziale und Umweltkrisen verschärft werden. Soziale Rechte und Menschenrechte müssen im Rah- men des SDG-Prozesses nachweislich gestärkt und sys- tematisch kontrolliert werden. Rüstungsexporte müssen gestoppt und Rüstungsausgaben nicht, wie nun beschlos- sen, erhöht, sondern im Gegenteil für Armutsbekämp- fung und Klimaschutz umgewidmet werden. Alternative Handelsmandate, die nachhaltige Entwicklung ermögli- chen, müssen im Rahmen der EU entwickelt und einge- führt werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9637 (A) (C) (D)(B) Der bereits beschlossene Aufwuchspfad für die Kli- maschutz- und Anpassungsfinanzierung bis zu 100 Mil- liarden US-Dollar pro Jahr bis 2020 durch die Industrie- länder muss realisiert werden, und die Mittel müssen zusätzlich zu bereits gemachten Zusagen bereitgestellt werden. Für den 2-Grad-Celsius-Grenzwert als absoluten Höchstwert für die globale Erwärmung unter besonderer Berücksichtigung der Verantwortung der Industrieländer muss endlich ein Ausstieg aus der Braunkohleverstro- mung bundesweit bis 2040 angegangen werden. Wir fordern zudem einen internationalen Kompensa- tionsfonds bei den Vereinten Nationen, der den kostenlo- sen Transfer klimafreundlicher Technologien organisiert und einen Ausgleich für koloniales Unrecht ermöglicht. All diese Forderungen können nur in einem breiten Prozess gesellschaftlicher Beteiligung umgesetzt wer- den. Deshalb brauchen wir auch keine undemokrati- schen G-7/G-8-Formate auf weltpolitischer Bühne, son- dern die Stärkung der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen. Diese Forderungen werden wir auch im Rahmen der Proteste gegen den G-7-Gipfel in Elmau im Juni auf die Straße tragen. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das Jahr 2015 als große Chance für einen Durch- bruch bei Klimaschutz und globaler Gerechtigkeit zu be- greifen, das ist die Aufgabe, die die Bundesregierung immer noch viel zu wenig annimmt. Nur so kann der richtige Schritt hin zur sozial-ökologischen Transforma- tion gelingen. Denn die Ergebnisse der Verhandlungen um ein neues Klimaabkommen, die Konferenz zur Ent- wicklungsfinanzierung sowie die Verhandlungen über globale Nachhaltigkeitsziele – SDGs – werden für die kommenden Jahrzehnte die internationale, europäische und deutsche Politik prägen und die Spielräume für nachhaltiges Handeln definieren. Vieles wird davon ab- hängen, wie ambitioniert und glaubwürdig die EU und die Bundesregierung im Vorfeld der Konferenzen auftre- ten. Als Gastgeber des G-7-Gipfels hat Deutschland hier eine ganz besondere Verantwortung und muss zum Vor- reiter werden. Aber wir vermissen bei der Bundesregierung den politischen Willen zu einer völkerrechtlich verbindli- chen Klima- und Gerechtigkeitspolitik, zu einem Regie- rungshandeln, das seine Politikfelder aufeinander ab- stimmt. Es braucht eine deutliche Erhöhung der Mittel zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung. Und wir for- dern, das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedli- chen Verantwortlichkeiten auf alle Bereiche der Nach- haltigkeitsagenda auszuweiten und nicht nur für den Klimawandel anzuwenden. Wir sagen, der Prozess muss politischer und in die Gesellschaft getragen werden. Der Diskussionsprozess im Vorfeld zu den SDGs ist bislang insgesamt zu techno- kratisch. Die 17 Ziele gilt es beizubehalten. Es müssen ambitionierte und aufeinander abgestimmte Ziele be- schlossen werden, die den bestehenden Herausforderun- gen begegnen und den Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation bereiten. Und die Gipfel in 2015 müssen endlich zusammengedacht und zusammengebracht wer- den. Immer noch ist unklar, wie der Nachhaltigkeitspro- zess und der Klimaprozess miteinander verschränkt wer- den sollen. Dabei ist Klima ein eigenes Ziel der Nachhaltigkeitsagenda, wie sie von der Open Working Group vorgeschlagen wurde. Für uns in Deutschland heißt das konkret, dass der Kohleausstieg auf den Weg gebracht werden muss. Es geht darum, teure Energieimporte einzusparen und die- ses Geld besser in unsere Zukunft zu investieren. Deutschland braucht ein Klimaschutzgesetz, um bis 2050 jährliche Reduktionsziele verbindlich festzulegen und einen CO2-Mindestpreis einzuführen. Wir fordern, bis zur Finanzierungskonferenz in Addis Abeba im Juli endlich einen transparenten und realistischen „Aufhol- plan“ für das 0,7-Prozent-Versprechen vorzulegen. Denn trotz des Zuwachses für Entwicklungszusammenarbeit und internationale Klimafinanzierung ist das 0,7-Pro- zent-Ziel noch immer in weiter Ferne. Das lässt sich aber leicht erreichen, wenn wir nur den Willen dafür haben, indem wir Maßnahmen ergreifen, die eine doppelte Steu- erungsfunktion haben, die Fehlentwicklungen zurück- nehmen und damit Gelder zur Finanzierung des sozial- ökologischen Umbaus bereitstellen: den Abbau von über 50 Milliarden Euro umwelt- und klimaschädlicher Sub- ventionen, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer, die insbesondere den Hochfrequenzhandel weniger at- traktiv macht und die Finanzindustrie an den Kosten der sozial-ökologischen Transformation beteiligt, sowie die Verabschiedung vom deutschen Versprechen gegenüber der NATO, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszuge- ben. Stattdessen sollten wir diese Gelder lieber in Ent- wicklung und Klima investieren. Aber der Antrag der Koalition erscheint mir wie ein Antrag aus der Entwicklungspolitik der Vergangenheit. Darin wird so getan, als ob die Nachhaltigkeitsagenda lediglich eine Verlängerung der Millenniumsentwick- lungsziele wäre. So werden zahlreiche Anforderungen an den internationalen Prozess und vor allem an die Ent- wicklungsländer, wie etwa der Aufbau von Steuersyste- men, beschrieben. Welche Anpassungen in Deutschland bei unserer Wirtschaft, unserer Landwirtschaft, unserer Energiepolitik gemacht werden müssen, dazu schweigt der Antrag aber vollständig. Dementsprechend verharrt der Antrag in der Silomentalität des 20. Jahrhunderts. So stocken die Verhandlungen etwa vor allem bei der Anerkennung des Prinzips der Common but Differentia- ted Responsibilities, das auf alle Bereich der Nachhaltig- keit angewendet werden soll und nicht bloß auf den Klimabereich. Hier sperrt sich auch die Bundesregie- rung, da dies teuer wäre sowie eine Politikveränderung hier in Deutschland erfordern würde. Gleichzeitig sper- ren sich die Schwellen- und Entwicklungsländer vor al- lem bei den Verhandlungen zum Ziel 16, wo es um gute Regierungsführung geht. Ziel 16 ist jedoch entschei- dend. Es ist inzwischen anerkannt, dass große Teile der Finanzierung von Entwicklung durch Eigenmittel der Entwicklungsländer erbracht werden müssen. Darum ist der Aufbau von fairen und eigenen Steuersystemen ein zentraler Hebel für nachhaltige Entwicklung. Um die Blockaden entlang eigentlich überholter Nord-Süd-Kon- stellationen aufzubrechen, käme es auf reiche Staaten 9638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) wie Deutschland an, um in Vorleistung zu treten. Dazu ist Deutschland aber nicht bereit. Die Debatte um Nachhaltigkeit betrifft alle Politikfel- der in Deutschland. Auf dem Antrag stehen aber nur die Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker von CDU/CSU und SPD. Andere Fachpolitiker wurden offensichtlich gar nicht gefragt. Auch frage ich mich, wozu es diesen Antrag überhaupt braucht, wenn im Ver- gleich zum Kabinettsbeschluss vom 3. Dezember gar nichts wesentlich Neues drinsteht. Stattdessen über- nimmt dieser Antrag die vielen schönen Worte von Minister Müller, während es der gesamten Bundesregie- rung an einer klaren Linie in ihrem politischen Handeln fehlt. Jedes Ressort kocht sein eigenes Süppchen, gerne auch einmal im Widerspruch zu anderen Politikfeldern. Frau Merkel will TTIP und redet vom freien Handel, während Minister Müller von einem fairen Handel spricht. Minister Steinmeier reist für Friedensgespräche durch die Krisen dieser Welt, während Frau von der Leyen weitere Milliarden für teure und unsinnige Rüs- tungsprojekte ausgibt. Mit einer solchen Politik ohne ge- meinsamen Kompass wird es für Deutschland unmög- lich sein, die Chancen, die das Gipfeljahr bietet, zu nutzen. Aufgrund dieser widersprüchlichen Politik und aufgrund der fehlenden Anerkennung, dass die Nachhal- tigkeitsziele sich in erster Linie an uns selbst richten, können wir diesem Antrag nicht zustimmen, sondern werden uns enthalten. Der Antrag der Linken dagegen anerkennt die breite und universelle Agenda des Post-2015-Prozesses und spricht zahlreiche Politikfelder wie Handel, Böden, Wald oder Ozeane an, in denen die Nachhaltigkeitsa- genda umgehend und vor allem auch von Deutschland umgesetzt werden muss. Als besonderen Fokus der Nachhaltigkeit konzentriert sich der Antrag auf die Überwindung der sozialen Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten. Allerdings gerät dabei der Zusammen- hang mit den notwendigen ökologischen Maßnahmen et- was in den Hintergrund. Ökologie, soziale Ungleichheit und der Schutz der Menschenrechte müssen für die so- zial-ökologische Transformation zusammen angegan- gen werden. Außerdem ist der Antrag der Linken, wenn er von „Entwicklungshilfe“ statt von „Entwicklungszu- sammenarbeit“ spricht, auch noch nicht in der Gegen- wart angekommen. Darum werden wir uns auch zu die- sem Antrag enthalten. Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Das BMUB setzt sich gemein- sam mit dem BMZ dafür ein, dass beim UNO-Gipfel der Staats- und Regierungschefs im September dieses Jahres in New York eine ambitionierte Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung beschlossen wird. Diese Agenda soll der Welt neuen Rückenwind für den Wandel zu einer nachhaltigeren Entwicklung geben. Denn wir brauchen ein globales Entwicklungsmodell, das neben den ökonomischen und sozialen Chancen auch die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde res- pektiert. Klimawandel, Verlust von Biodiversität, Armut, Hun- ger und ein mit einem hohen Ressourcenverbrauch ver- bundenes Wirtschaften zeigen, dass weltweit umgesteu- ert werden muss. Damit der Wandel zu einem wesentlich nachhaltige- ren Wirtschaften weltweit gelingt, müssen alle Staaten dazu beitragen. Daher wird die Post-2015-Agenda – an- ders als die Millenniumsentwicklungsziele – universell anwendbar sein. Das heißt, wir müssen die Post-2015- Agenda auch hier in Deutschland entschlossen umset- zen. Mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir ein gutes Instrument, das wir für die Umsetzung der globalen Ziele der Agenda nutzen und weiterentwickeln werden. Der von den Vereinten Nationen vorgelegte Katalog mit 17 weltweit gültigen Nachhaltigkeitszielen ist ein klares Bekenntnis zur weltweiten Verbesserung der Le- bensbedingungen und zum Schutz natürlicher Ressour- cen. Die Ziele erfassen alle drei Dimensionen der Nach- haltigkeit: Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Besonders bemerkenswert ist, dass es gelungen ist, einen Konsens zu erreichen, der weit über die Millen- niumsziele hinausgeht und der wichtige neue Heraus- forderungen wie Ressourceneffizienz und umweltver- trägliches Wirtschaften aufgreift. Für den weiteren Verhandlungsprozess bis September gilt es nun, dieses Ambitionsniveau zu halten. In den bisherigen Sitzungen in New York ist erfreulicherweise deutlich geworden, dass kein Staat eine Neuverhandlung des Katalogs will. Allerdings müssen wir den Schwel- len- und Entwicklungsländern Wege zur Umsetzung der Agenda aufzeigen und sie dabei auch unterstützen, wenn wir wollen, dass sie voll hinter dem Zielkatalog stehen. Nur wenn der Finanzierungsgipfel im Juli in Addis Abeba zu einem für alle Seiten zufriedenstellenden Er- gebnis kommt, werden wir im September die Agenda, die die Welt braucht, verabschieden können. Für den Erfolg der Agenda wird ferner wichtig sein, dass ihr Kern weltweit für alle Menschen verständlich ist. Die Bundesregierung hat daher sechs politische, leicht verständliche Hauptbotschaften formuliert, die wir in die Verhandlungen eingebracht haben. Aus unserer Sicht wird dies die Kommunikation der inhaltlich komplexen Agenda wesentlich erleichtern und zur erfolgreichen Umsetzung beitragen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) (Tagesordnungs- punkt 20) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Betrachtet man die Geschichte der Strafverfolgung, die historische Kriminologie und den Umgang mit Schuld und Sühne, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9639 (A) (C) (D)(B) so muss man feststellen, dass es eigentlich erst viel zu spät, genau genommen erst seit 1986, auch um Opfer- schutz geht. Vorher stand nur die Ermittlung des Täters und dessen Bestrafung im Vordergrund. Und dies zunächst auch ohne Berücksichtigung der Belange des Opfers. Erst die modernen Erkenntnisse der Kriminologie, vor allem aber der Psychologie offenbarten, welche massiven Auswirkungen für das Opfer oftmals mit dem Ermittlungsverfahren und dem prozessualen Verfahren verbunden waren. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren schließen wir nun letzte Opferschutzlü- cken. Wichtig erscheinen mir hierzu vor allem die folgen- den Bestandteile des vorliegenden Entwurfs: Mit dem neuen § 48 Absatz 3 StPO wird nochmals ganz beson- ders dem Erfordernis besonderer Schutzbedürftigkeit be- gegnet, wenn der Zeuge auch zugleich der Verletzte der Straftat ist. Mögliche Maßnahmen wie die getrennte oder die au- diovisuelle Vernehmung, der Ausschluss der Öffentlich- keit oder der Verzicht auf nicht unerlässliche Fragen zum persönlichen Lebensbereich können zukünftig weitere Traumatisierungen des Opfers verhindern. Ich erachte diesen verfeinerten „Instrumentenkasten“, so will ich es einmal nennen, als einen der wesentlichen Aspekte des vorliegenden Entwurfs. Denken wir daran: Es gibt psychologische Erhebungen, die belegen, dass in Einzelfällen die Aufarbeitung der Geschehnisse in der Verhandlung für manche Opfer ebenso traumatisch war wie das Erleiden und Durchleben der Tat selbst. Genau in diese Richtung geht auch das neu einge- führte Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung. Hier kann der schutzbedürftige Verletzte nichtjuristische Betreuung vor, während und nach der Hauptverhandlung erfahren. Es soll ein Instrument sein, um im gesamten Strafverfahren die psychische Belastung für das Opfer möglichst gering zu halten, um eine Sekundärviktimisie- rung zu vermeiden. Hierfür können sogar psychosoziale Prozessbegleiter während der Hauptverhandlung, spe- ziell auch während der Vernehmung des Verletzten, an- wesend sein. Diese Prozessbegleitung muss selbstverständlich für den Verletzten kostenfrei sein. Deshalb war es wichtig, die Kosten durch Erhöhung der Gerichtsgebühren abzu- gelten. Sicher ist hier im Gesetzgebungsverfahren die Schwierigkeit deutlich geworden, diese Kosten der Höhe nach ungefähr zu kalkulieren – zumal sich Erfahrungen aus anderen Ländern nicht einfach übertragen lassen. Aber diese Schwierigkeit sollte uns nicht schrecken. Wer dem Opfer effektiven Schutz zur Seite stellen will, der muss auch Sorge dafür tragen, dass der Verletzte die Leistungen ohne finanzielle Hürden in Anspruch neh- men kann. Damit wichtige Opferschutzinstrumente aber über- haupt zielgerichtet eingesetzt werden können, müssen die Betroffenen auch wissen, welche Rechte ihnen tat- sächlich in welcher Phase des Verfahrens zustehen. Des- halb war es wichtig, umfassende Unterrichtungspflich- ten zu formulieren. Der Verletzte muss wissen, welche Befugnisse ihm zustehen. Hier zeigen die neuen §§ 406 i und 406 j StPO sehr eindrucksvoll, über welche Mög- lichkeiten an Opferschutzmaßnahmen im Verfahren und außerhalb des Strafverfahrens der Verletzte zu unterrich- ten ist. Noch eindrucksvoller ist für mich persönlich jedoch der Umstand, dass die Lektüre der dort aufge- führten Möglichkeiten zeigt, wie ausgereift und fein- gliedrig unsere Opferschutzsystematik in der StPO mitt- lerweile ist. Diese Unterrichtungs- und Informationspflichten sind umfassend. So ist der Verletzte auch darüber zu infor- mieren, bei welcher Stelle welche Opferschutzmaß- nahme angeboten wird. Abschließend darf ich feststellen, dass wir im vorlie- genden Entwurf nicht nur europäischen Vorgaben der Opferschutzrichtlinie gerecht geworden sind, sondern ich glaube, dass es uns durchaus gelungen ist, Rahmen- bedingungen zu schaffen, durch die sich der oder die Verletzte einer Straftat ernst genommen und angenom- men fühlt. Sicher wird man das Geschehene damit nicht rück- gängig machen können. Betrachtet man die Realität, ist meines Erachtens jedoch schon viel gewonnen, wenn die Situation des Opfers durch die Aufklärung der Straftat nicht noch verschlechtert wird. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Bera- tung. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 25. Oktober 2012 wurde auf europäischer Ebene die Richtlinie 2012/ 29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 57; Opferschutzrichtlinie 2012/ 29/EU) verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bei den Verhandlungen dieser Opferschutzricht- linie aktiv für die Schaffung gemeinsamer Mindestrechte innerhalb der Europäischen Union eingesetzt. Die Opferschutzrichtlinie ist bis zum 16. November 2015 umzusetzen. In verschiedenen Bereichen des Strafverfahrensrechts löst die Richtlinie Umsetzungsbedarf aus, dem eine An- passung des geltenden Rechts durch konkretisierende Änderungen Rechnung tragen muss. Dies ist auch in Deutschland der Fall. In dem vorliegenden Gesetzentwurf werden vor allem punktuelle Änderungen in der StPO vorgenommen. Soweit die Opferschutzrichtlinie erweiterte Informa- tionsrechte des Verletzten vorsieht, werden diese in den Vorschriften der §§ 406 d ff. StPO-E geregelt. Ebenso werden erweiterte Informationsrechte des Verletzten bei Anzeigeerstattung nach § 158 StPO-E ein- geführt. 9640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Schließlich wird mit dem Entwurf die psychosoziale Prozessbegleitung im deutschen Strafverfahrensrecht verankert. Die neuen Vorschriften hierzu knüpfen an die Regelungen zum Verletztenbeistand in den §§ 406 f und 406 g StPO-E an. Letztlich sieht der Entwurf eine Korrektur an den mit dem StORMG eingeführten Neuerungen in § 171 b des Gerichtsverfassungsgesetzes, GVG, vor. Obwohl der vorliegende Gesetzentwurf bereits viele wichtige Aspekte beachtet, sind noch dringend Verände- rungen vorzunehmen. Der Bundesrat hat am 27. März 2015 eine Stellung- nahme zu dem Gesetzentwurf abgegeben. Zu dieser Stel- lungnahme liegt auch bereits die Gegenäußerung der Bundesregierung vor. Zu den in der Stellungnahme angesprochenen sieben Punkten möchte ich zunächst in der gebotenen Kürze Stellung nehmen. Erstens. Der Bundesrat geht zunächst auf den hohen Erfüllungsaufwand ein. Er führt hierzu aus, dass der Ge- setzentwurf von einem jährlichen Erfüllungsaufwand von 90 000 Euro ausgeht. Grundlage für diese Schätzung sind laut Gesetzent- wurf die Erfahrungen aus Mecklenburg-Vorpommern. Hierzu führt der Bundesrat aus, dass davon auszugehen ist, dass die Beträge in Mecklenburg-Vorpommern in un- mittelbarem Zusammenhang mit der Zahl der Einwohner stehen. Rechnet man den Erfahrungswert auf die Ein- wohnerzahl in Deutschland hoch, ergibt sich daraus be- reits der 50-fache Betrag, also über 8,7 Millionen Euro. Die Bundesregierung tritt dieser Berechnung entge- gen. Sie verweist darauf, dass der Erfüllungsaufwand sich danach richten wird, welches Finanzierungsmodell die Länder wählen. Nach § 406 g Absatz 2 Satz 2 StPO-E können die Länder selbst entscheiden, welche Strukturen und damit auch welches Finanzierungsmodell – stellen- bezogen oder fallbezogen – sie zur Umsetzung der psy- chosozialen Prozessbegleitung wählen. Ebenso können die Länder bestimmen, welche Pauschalen oder Vergü- tungen angesetzt werden. Dies scheint folgerichtig und ist demnach zugrunde zu legen. Zweitens. Der Bundesrat fordert, dass in § 406 d Ab- satz 3 Satz 2 die Wörter „wenn die Anordnung von Un- tersuchungshaft gegen den Beschuldigten zu erwarten ist“ durch die Wörter „wenn Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten vollzogen wird“ zu ersetzen. Der Bundesrat hält den im Gesetzentwurf genannten Zeitpunkt für verfrüht. Eine belastbare Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer späteren Untersuchungshaft ist bei Anzeigeerstattung nur in Ausnahmefällen möglich. Die Bundesregierung hält der Stellungnahme des Bundesrates insofern entgegen, dass es sich bei der Re- gelung nur um eine Belehrungspflicht gegenüber dem Verletzten handelt. Er soll darüber informiert werden, dass er ein Recht hat, auf Antrag mitgeteilt zu bekom- men, ob gegen den Beschuldigten freiheitsentziehende Maßnahmen angeordnet oder beendet sind oder ob Voll- zugslockerungen oder Urlaub gewährt wurden. Da eine Belehrungspflicht dann überflüssig wäre, wenn der Verletzte nur dann belehrt wird, wenn die Un- tersuchungshaft bereits vollzogen ist, ist der Einschät- zung der Bundesregierung insoweit zuzustimmen. Drittens. Der Bundesrat fordert, dass in § 406 g Ab- satz 2 Satz 2 nach dem Wort „es“ die Wörter „nach Maß- gabe des § 406 f Absatz 2“ eingefügt werden. Bei der Regelung des § 406 g Absatz 2 Satz 3 gibt es keine Mög- lichkeit für das Gericht, einen ohne Beiordnung gewähl- ten Prozessbegleiter abzulehnen, obwohl dessen Anwe- senheit bei der Vernehmung des Verletzten vielleicht untunlich ist. Im Gegensatz hierzu enthält § 406 f Absatz 2 bei der Wahl der Vertrauensperson eine entsprechende Möglich- keit. Das Gericht muss die Anwesenheit der Vertrauens- person bei der Vernehmung ausnahmsweise nicht gestat- ten, wenn hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Eine entsprechende Regelung auch für den gewählten Prozessbegleiter einzufügen hält die Bundesregierung richtigerweise für eine gute Idee und wird den Vorschlag weiterverfolgen. Viertens. In seiner Stellungnahme spricht der Bundes- rat einen besonders wichtigen Punkt an. Im Einzelnen geht es darum, dass in § 406 g StPO-E eine genaue De- finition der Befugnisse, Aufgaben und Pflichten des psychosozialen Prozessbegleiters ergänzt werden muss. Hierbei ist vor allem darauf zu achten, dass die Regelung ein Verbot von Gesprächen über die tat- und fallbezo- gene rechtliche Beratung enthält. Bereits in ihrer Gegenäußerung räumt die Bundesre- gierung ein, dass diesem Anliegen – der Trennung von Beratung und Begleitung durch die psychosoziale Pro- zessbegleitung – grundsätzlich Rechnung zu tragen ist. Auf einer solchen Änderung der Regelung muss be- standen werden. Fünftens. Der Bundesrat wendet sich weiter mit der Prüfbitte, ob nach § 406 g StPO-E ein Auslagenersatz- und Honoraranspruch des beigeordneten Prozessbeglei- ters zu ergänzen ist, an die Bundesregierung. Die Bundesregierung lehnt eine entsprechende Rege- lung ab. Zur Begründung führt die Bundesregierung in- soweit aus: Eine bundeseinheitliche Regelung eines Auslagenersatz- und Honoraranspruchs erscheint weder notwendig noch sachgerecht, da derzeit zwei Finanzie- rungsmodelle bestehen: Ein Teil der Länder wird stellen- bezogen finanzieren, sodass die – zusätzliche – Begrün- dung eines Honoraranspruchs des Prozessbegleiters mit diesem Finanzierungsmodell nicht vereinbar ist. Ein an- derer Teil der Länder, die private Prozessbegleiter aner- kennen wollen, haben die Möglichkeit, eine eigene Ver- gütungsregelung zu schaffen. Eine bundeseinheitliche Regelung könnte nicht beiden Finanzierungsmodellen gleichzeitig gerecht werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9641 (A) (C) (D)(B) Dieser Auffassung der Bundesregierung ist zuzustim- men. Sechstens. Der Bundesrat verlangt weiter, Artikel 3 Nummer 2 des Kostenverzeichnisses in der Gebühren- spalte zu ändern. Zur Begründung seiner Forderung verweist der Bun- desrat in seiner Stellungnahme darauf, dass im Kosten- recht das Veranlassungsprinzip gilt. Dieses gebiete es, dem Verurteilten die Kosten der wegen seiner Tatbege- hung erforderlich gewordenen Prozessbegleitung grund- sätzlich in voller Höhe aufzuerlegen. Dass diese Kosten durchschnittlich mindestens 1 100 Euro betragen, sei all- gemein anerkannt. Die Bundesregierung verwirft diesen Vorschlag mit der Begründung, dass der Gesetzentwurf für Strafverfah- ren mit psychosozialer Prozessbegleitung Zuschläge auf die Gerichtsgebühren vorsieht. Im Interesse der Resozia- lisierung des Verurteilten wurden diese Zuschläge auf maximal 750 Euro begrenzt. Eine Erhöhung der Gebüh- renzuschläge würde auch zu einem Missverhältnis zu den Ausgangsgebühren für Verfahren ohne psychosozi- ale Prozessbegleitung führen. Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Siebtens. Letztlich fordert der Bundesrat, das Inkraft- treten des Gesetzes von 2016 auf 2017 zu verschieben. Der Umsetzungsbedarf bei der Einführung der psycho- sozialen Prozessbegleitung erfordert mehr Zeit. Diesem Anliegen will zwar die Bundesregierung Rechnung tra- gen. Da die Umsetzungsfrist für die Richtlinie aber am 16. November 2015 abläuft und bei Nichtumsetzung ein Vertragsverletzungsverfahren droht, bin ich gegen eine solche zeitliche Verschiebung. Neben diesen Forderungen aus den Ländern ist es be- sonders wichtig und unabänderlich, dass die folgenden Forderungen umgesetzt werden: Erstens ist eine gesetzliche Definition des „Verletz- ten“ dringend notwendig, weil § 48 Absatz 3 StPO-E. („Ist der Zeuge zugleich Verletzter...“) dem erkennenden Gericht die zwingende Prüfung auferlegt, festzustellen, ob einem Zeugen als „Verletztem“ besondere Schutz- rechte zuzubilligen sind. Dabei muss das Gericht ver- bindlich entscheiden, ob ein Zeuge „Verletzter“ ist. Damit muss das Gericht immer bereits einen Teil der Beweisaufnahme vorwegnehmen, da es ja feststellen muss, dass der Verletzte durch die angeklagte Tat ver- letzt wurde. Eine solche vorweggenommene Beweis- würdigung ist mit den Grundsätzen des Strafverfahrens kaum vereinbar. Zweitens sollte für die psychosoziale Prozessbeglei- tung das Verbot des Gesprächs über den Tatvorwurf als Standard vorgegeben werden. Hierbei kann auf die wei- teren Ausführungen in der Stellungnahme des Bundesra- tes Bezug genommen werden. In der parlamentarischen Debatte über den vorliegen- den Gesetzentwurf werden sicher noch einige Punkte diskutiert und verhandelt werden müssen. Ich bin aber sicher, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf bereits auf dem richtigen Weg sind. Dirk Wiese (SPD): Heute ist ein guter Tag für den Schutz von Opfern schwerer Straftaten. Bundesminister Heiko Maas hat die Umsetzung der EU-Richtlinie als Chance genutzt und legt nun einen Gesetzentwurf vor, der im Bereich der psychosozialen Prozessbegleitung neue Maßstäbe setzt und weit über die Anforderungen der EU-Richtlinie hinausgeht. Lassen Sie mich aber kurz weitere Änderungen des vorliegenden Gesetzentwurfs skizzieren, bevor ich auf die psychosoziale Prozessbegleitung eingehe. Wir stärken die Informationsrechte des oder der Ge- schädigten hinsichtlich Zeit und Ort der Hauptverhand- lung und der gegen den Angeklagten erhobenen Be- schuldigungen. Zusätzlich werden die bislang in §§ 406 d bis 406 h StPO normierten Informationspflichten zum besseren Verständnis neu strukturiert und erweitert. Bei der Erstattung der Anzeige hat der Geschädigte nunmehr Anspruch auf eine schriftliche Anzeigebestäti- gung und – sofern erwünscht – sprachliche Unterstützung. In den §§ 161 a und 163 StPO ist künftig die Zuziehung von Dolmetschern bei Vernehmungen des Geschädig- ten durch die Ermittlungsbehörden vorgesehen. Damit berücksichtigen wir die besonderen Schutzbedürfnisse der Geschädigten. Aus Klarstellungsgründen wird ein entsprechender Hinweis auf die besondere Schutzbe- dürftigkeit der Geschädigten auch in § 48 StPO veran- kert. Damit komme ich auch schon zum Kernpunkt des 3. Opferrechtsreformgesetzes, der psychosozialen Pro- zessbegleitung. Nach geltender Rechtslage wird diese le- diglich im Rahmen der Belehrungspflicht nach § 406 h Satz 1 Nummer 5 StPO erwähnt. Mit dem 3. Opfer- rechtsreformgesetz räumen wir ihr nunmehr einen eige- nen Standort in der Strafprozessordnung ein, um sie da- mit, ihrer praktischen Bedeutung entsprechend, fest im deutschen Strafverfahrensrecht zu verankern. Worum geht es genau bei der psychosozialen Prozess- begleitung? Es handelt sich dabei um eine besonders intensive Form der Begleitung von Geschädigten schwerer Straf- taten, die eines besonderen Schutzes während und nach der Hauptverhandlung bedürfen. Umfasst werden die Betreuung durch qualifizierte Mitarbeiter, Informations- vermittlung und eine grundsätzliche Unterstützung im Strafverfahren. Ziel ist es, die individuelle Belastung der Opfer so weit wie möglich zu reduzieren. In der Schweiz und in Österreich gibt es bereits de- taillierte gesetzliche Regelungen zur psychosozialen Prozessbegleitung, in Deutschland hingegen wird diese Form der psychosozialen Prozessbegleitung derzeit nur in einzelnen Bundesländern wie Niedersachsen oder Schleswig-Holstein durchgeführt. Die Erfahrungen sind aber durchweg positiv, gerade die Begleitung von kindli- chen und jugendlichen Opfern von Sexual- und Gewalt- 9642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) delikten reduziert die Belastung der Heranwachsenden durch die Gerichtsprozesse erheblich. Deshalb ist auch vorgesehen, den Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung von Kindern oder vergleichbar schutzbedürftigen Personen als Opfer schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten kostenlos zu hal- ten. Auch Opfer von besonders traumatisierenden Taten haben grundsätzlich Anspruch auf eine solche Prozess- begleitung; darüber entscheidet jedoch das Gericht im Einzelfall und auf Antrag der Geschädigten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit die- sem Gesetzentwurf bekommen wir jetzt in Deutschland ein Regelungssystem, das dem gestiegenen Bedarf ge- recht wird. Wir setzen außerdem ein deutliches Zeichen, dass wir den Staat in der Pflicht sehen, nicht nur dem Beschuldigten ein rechtsstaatliches und faires Verfahren zu gewährleisten, sondern dass es ebenso Pflicht ist, den Opfern schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten die emo- tionale und psychologische Unterstützung an die Seite zu stellen, die sie benötigen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Mit dem vorlie- genden Gesetz soll die Opferschutzrichtlinie umgesetzt werden. Dabei gibt es gleich das erste Problem; denn die Information und Unterstützung, die Teilnahme am Straf- verfahren und der Schutz des Verletzten fallen nur teil- weise in den Zuständigkeitsbereich der Bundesgesetzge- bung. Wesentliche Bereiche – etwa die Regelungen über den Zugang zu Opferhilfeeinrichtungen – liegen in der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Soweit die Bundeszuständigkeit berührt ist, sind zudem viele der in der Opferschutzrichtlinie vorgesehenen Rechtsinstru- mente zum Schutz des Verletzten dem deutschen Verfah- rensrecht bereits bekannt. Gerade die durch die Opfer- rechtsreformgesetze eingeführten Neuerungen gehen in Teilen über den neuen europäischen Mindeststandard hi- naus. Durch das 3. Opferrechtsreformgesetz wird der vierte Abschnitt des Fünften Buches der Strafprozessordnung ergänzt und erweitert, der die für alle Verletzten gelten- den Vorschriften zusammenfasst. Daneben werden aber auch Ergänzungen im Ersten und Zweiten Buch der StPO eingeführt, zu nennen sind hier die erweiterten In- formationsrechte des Verletzten bei Anzeigeerstattung nach § 158 StPO und die neue Ausgangsnorm für die besondere Schutzbedürftigkeit von Verletzten in § 48 StPO. Die Richtlinienumsetzung wird zudem zum An- lass genommen, die in der Justizpraxis bereits bewährte psychosoziale Prozessbegleitung im deutschen Strafver- fahrensrecht zu verankern. Die neuen Vorschriften hierzu knüpfen an die Regelungen zum Verletztenbei- stand in den §§ 406 f und 406 g StPO an. Im Rahmen des Strafprozesses ist die Stellung des Opfers – und der Opferangehörigen – die letzten Jahre verstärkt in den Vordergrund gerückt und hat zum Aus- bau der Rechte von Opfern im Strafverfahren geführt, teilweise auch zulasten von Beschuldigtenrechten. Es ist eine grundsätzliche Herausforderung für einen Rechts- staat, die Balance zwischen Beschuldigten- und Verletz- tenrechten zu wahren. Die Entwicklung der letzten Jahre, insbesondere die umfassende Zulassung von Nebenkla- gevertretungen gerade auch bei weniger schwerwiegen- den Delikten, wird von Kriminologinnen und Krimino- logen sowie Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern mitunter kritisch gesehen. Diese Kritik stellt nicht in Ab- rede, dass es sehr wichtig und notwendig ist, Opfer bei der Aufarbeitung der Tat zu unterstützen und vor weite- rer Traumatisierung zu schützen. Dies muss aber den- noch immer auch berücksichtigen, dass erst im Verlauf des Strafverfahrens geklärt wird, ob überhaupt eine Straftat stattgefunden hat und es tatsächlich ein Opfer gibt bzw. wer konkret für die Tat verantwortlich ist. Erst am Ende des Strafverfahrens wird die Schuld des poten- ziellen Täters oder der potenziellen Täterin und die Rol- lenverteilung zwischen Täter bzw. Täterin und Opfer festgestellt. Die Berücksichtigung von Opferinteressen darf nicht zulasten der Rechtsstellung des Beschuldigten gehen, die im reformiert inquisitorisch konzipierten Strafverfahren der Strafprozessordnung angesichts der beherrschenden Rolle der Staatsanwaltschaft im Ermitt- lungsverfahren und der überragenden Stellung des Ge- richts in der Hauptverhandlung ohnehin nur schwach ausgestaltet ist. So jedenfalls sah es die Bundesrechtsan- waltskammer in ihrer Stellungnahme zum 2. Opferrechts- reformgesetz (vergleiche Stellungnahme der Bundes- rechtsanwaltskammer zum 2. Opferrechtsreformgesetz, Seite 3, http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellung- nahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2009/maerz/ stellungnahme-der-brak-2009-09.pdf). Dieser Kritik auf der einen Seite steht eine Kritik von Verbänden der Angehörigen von Opfern gegenüber. ANUAS e. V. beispielsweise kritisiert, dass nur Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren oder vergleichbar schutzbedürftige Personen, die Opfer eines Sexual- oder Raubdeliktes oder eines schweren Körperverletzungsde- likts sind, einen Rechtsanspruch auf eine psychosoziale Prozessbegleitung haben (§ 406 h Absatz 5 Satz 1 StPO n. F. i. V. m. § 397 a Nummer 4, 5 StPO). Heranwach- sende oder Erwachsene, die von diesen Delikten betrof- fen sind, müssen besondere persönliche Defizite bei der Interessenwahrnehmung wie Einschränkungen des – psychischen – Gesundheitszustands vorweisen und ha- ben keinen Rechtsanspruch. Das Gericht kann aber auf Antrag einen psychosozialen Prozessbegleiter beiord- nen, wenn die besondere Schutzbedürftigkeit des Verletzten dies erfordert. Es wäre aus meiner Sicht emp- fehlenswert, generell wegen der regelmäßigen Traumati- sierung jedenfalls für Angehörige von Tötungsopfern so- wie für den Bereich schwerer Gewaltkriminalität einen Rechtsanspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung vorzusehen. Zumindest aber wenn die Schutzbedürftig- keit feststeht, sollte auch ein Anspruch bestehen und kein Raum für Ermessenserwägungen bleiben. Sicherzu- stellen wäre auch, dass keine zu hohen Anforderungen an die Schutzbedürftigkeit gestellt werden. Der Gesetzentwurf insgesamt ist aber zustimmungs- fähig, da er einige Verbesserungen für die Opfer enthält, die kaum Belastungen für die Beschuldigten und ihre Rechtsposition bedeuten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9643 (A) (C) (D)(B) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Auch wir Grünen wollen Opfer von Straftaten besser schützen und deren Rechte stärken. Deshalb be- grüßen wir, dass die Bundesregierung nun ein Gesetz vorlegt, dass diesem Anliegen Rechnung trägt. Viele der vorgeschlagenen Ergänzungen in der Strafprozessord- nung bedeuten eine Verbesserung der Rechte von Ver- letzten im Strafverfahren. Insbesondere eine Ausweitung der Informationsrechte der Verletzten und zusätzliche Belehrungspflichten waren längst überfällig. Das gilt auch für die Neustrukturierung der Belehrungsvorschrif- ten betreffend die Befugnisse der Verletzten im oder au- ßerhalb des Strafverfahrens. Zu begrüßen ist auch die gesetzliche Verankerung der psychosozialen Prozessbegleitung. Qualifizierte Pro- zessbegleitung durch Opferschutzverbände kann einen Beitrag leisten, dass Verletzte möglichst schonend durch die Verhandlungen, weitere Vernehmungen und gegebe- nenfalls die Konfrontation mit Tätern kommen. Dennoch sehen wir an verschiedenen Stellen Diskus- sions- und Nachbesserungsbedarf. Für Kinder und Jugendliche, die Opfer von den in § 397 a Absatz 1 Nummer 4 und 5 StPO genannten schweren Gewalt- und Sexualstraftaten sind, ist grund- sätzlich ein Rechtsanspruch auf kostenlose psychoso- ziale Prozessbegleitung vorgesehen. Das ist gut und richtig. Für erwachsene Opfer solcher Delikte ist eine solche kostenlose Begleitung hingegen nur dann vorge- sehen, wenn eine besondere Schutzbedürftigkeit besteht. Ob eine solche anzunehmen ist, liegt im Ermessen des Gerichts. Das muss man sich so vorstellen, dass dann je- mand, der Opfer einer schweren Gewalttat oder sexuell missbraucht wurde, dem Gericht erst mal ausführlich darlegen muss, warum er besonders „schutzwürdig“ ist – wie es im Gesetzentwurf heißt – und die Unterstützung der kostenlosen psychosozialen Begleitung in Anspruch nehmen möchte. Das aber sollte doch gerade vermieden werden, denn die Verletzten sollen nicht ein zweites Mal in eine Opferrolle gedrängt werden. Insofern ist zu überlegen, den Gesetzentwurf dahin- gehend zu ändern, dass auch für volljährige Opfer der genannten Straftaten eine Begleitung vorgesehen sein „soll“ oder sogar zwingend vorzusehen „ist“. In diese Richtung gehen auch verschiedene Stellungnahmen zum Gesetzentwurf. Personen, die eine psychosoziale Begleitung überneh- men, können nach dem Gesetzesvorschlag bei Verneh- mungen während der Hauptverhandlung, aber auch schon während der polizeilichen Vernehmung anwesend sein. Die Länder können selbst bestimmen, „welche Per- sonen und Stellen als psychosoziale Prozessbegleiter an- erkannt werden und welche Voraussetzungen hierfür an Berufsausbildung, praktische Berufserfahrung und spe- zialisierte Weiterbildung zu stellen sind.“ Es gelten also keine bundesweiten verbindlichen Standards. Ob es sinn- voll ist, das hier so offen zu lassen – ich bin skeptisch –, denn die Begleitung muss doch zwingend durch Perso- nen übernommen werden, bei denen sicher ist, dass sie die Aussagen oder gar das Verfahren nicht beeinflussen. Um die Gefahr der Beeinflussung einzudämmen, soll- ten im Gesetzentwurf zudem die Befugnisse und Aufga- ben eines psychosozialen Prozessbegleiters möglichst noch klarer gemacht werden. Es muss sichergestellt sein, dass er mit Opfer(-zeugen) nicht über die Tat redet und sie nicht dahin gehend in irgendeiner Form berät, son- dern stattdessen nur „emotionale und psychologische Unterstützung“ leistet. Im Kontext der Diskussion über Opferrechtsreformen sollten wir auch darüber nachdenken, wie wir abseits von strafprozessualen Änderungen bzw. Neuregelungen Opferschutz zukünftig noch besser sicherstellen und weiterentwickeln können. Hierzu wäre notwendig zu überprüfen, welchen Nutzen die bisher geltenden Vor- schriften haben: Bieten sie den Opfern tatsächlich den Schutz und die Unterstützung, die sie brauchen? Wichtig sollte bei allen Maßnahmen doch vor allem sein, dass das Opfer die Wahlfreiheit behält und nichts aufgenötigt bekommt. Mir ist klar, dass einige der angesprochenen Punkte größere Projekte sind und nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können. Aber hier ist der richtige Ort, die Diskussion anzustoßen. Manchmal hilft auch – wie der Deutsche Anwaltsver- ein in seiner Stellungnahme anregt – ein Blick ins Aus- land: Dort gibt es teils alternative Modelle, mit deren Hilfe die Rechte von Opfern und Beschuldigten glei- chermaßen gesichert werden sollen. In den USA kann ein vom Strafprozess völlig abgekoppeltes Verfahren ge- führt werden, das sich nur auf das Opfer konzentriert. Das nennt sich „parallel justice“. Ein solches Verfahren muss nicht zurückgreifen auf die Entscheidung des Strafprozesses oder diese abwarten, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit dem Opfer. Auch solche Ansätze und Modelle können als Gedankenanstoß dienen. Einen Punkt habe ich noch gar nicht angesprochen, den wir im Zusammenhang mit Opferschutz jedoch nicht unbeachtet lassen können: die Unschuldsvermutung, die für den Angeklagten bis zum Schuldspruch gelten muss. Jede Vorentscheidung in einem Strafverfahren dahin ge- hend, ob es sich bei einem Zeugen um ein Opfer einer bestimmten Straftat handelt, um ihm zum Beispiel eine psychosoziale Begleitperson beiordnen zu können, kommt mehr oder weniger in Konflikt mit der Un- schuldsvermutung. Beide Prinzipien, die prozessuale Opfervermutung wie auch die Unschuldsvermutung dür- fen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das muss bei jedem Gesetzentwurf mitgedacht und berücksichtigt werden. Und noch etwas: Stellen Sie sich eine Schlägerei mit mehreren Beteiligten vor. Häufig ist dabei anfangs gar nicht so einfach festzustellen, wer Verletzter bzw. Opfer oder Täter ist. Auch hier kann die Annahme einer „Op- fervermutung“ für einen der Beteiligten eine Vorent- scheidung für das Verfahren bedeuten. Wie kann man das verhindern? Auch das ist eine knifflige Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen. Es ist nicht immer leicht, verschiedene schutzwürdige Interessen und Rechtsstaatsprinzipien in ein ausgewoge- 9644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) nes Verhältnis zu bringen. Die Gesetze, die die Bundes- regierung dem Bundestag zur Entscheidung vorlegt, müssen sich aber genau daran messen lassen. Wir werden hoffentlich noch Gelegenheit haben, die- sen Gesetzentwurf vertiefter – vielleicht im Rahmen ei- ner Anhörung – zu diskutieren. Die Ergebnisse einer sol- chen Diskussion sind sicher nützlich, um ihn an einigen Stellen nachzubessern. Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Die Inte- ressen der Opfer in den Blick zu nehmen und dafür zu sorgen, dass ihnen mehr Rechte zukommen, war und ist ein wichtiges rechtspolitisches Ziel. Zahlreiche Gesetz- gebungsvorhaben der letzten Jahre haben die Situation der Opfer weiter verbessert und dazu geführt, dass der Opferschutz seinen festen Platz in der Strafprozessord- nung hat. Mit dem 3. Opferrechtsreformgesetz gehen wir nun weitere wichtige Schritte, um den Schutzstandard für die Opfer zu erhöhen. Zum einen setzen wir die Verpflichtungen der Bun- desrepublik aus der Opferschutzrichtlinie um. Umset- zungsbedarf hat sich für uns nur in Teilbereichen, insbe- sondere bei den Verfahrens- und Informationsrechten, ergeben, da wir bereits ein breites Spektrum an opfer- schützenden Maßnahmen in der Strafprozessordnung verankert haben. Die Umsetzung der Richtlinie muss bis zum 16. November 2015 erfolgen. Wir wollen aber nicht nur die Richtlinie umsetzen, sondern das Gesetzgebungsvorhaben auch nutzen, einen Riesenschritt gerade für besonders schutzbedürftige Op- fer zu tun. Kinder und Jugendliche, die Opfer schwerer Gewalt- und Sexualdelikte geworden sind, bedürfen un- serer besonderen Unterstützung. Wir wollen sie im Straf- verfahren nicht allein lassen. Wir wollen ihnen die emo- tionale und psychologische Unterstützung während des gesamten Verfahrens geben, die sie benötigen. Mit der Regelung zur psychosozialen Prozessbegleitung haben diese Kinder und Jugendlichen künftig einen kostenlo- sen Rechtsanspruch auf Prozessbegleitung. Auch erwachsene Opfer können bei schwersten Straf- taten unseren Schutz benötigen. In bestimmtem Fällen haben wir daher einen Ermessensanspruch auf Bei- ordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters oder ei- ner -begleiterin eingeräumt. Psychosoziale Prozessbegleitung ist eine besonders intensive Form der Begleitung vor, während und nach der Hauptverhandlung. Sie umfasst die qualifizierte Be- treuung, Informationsvermittlung und Unterstützung im Strafverfahren. Damit soll vor allem die individuelle Be- lastung der Opfer reduziert werden. Prozessbegleitung ersetzt also nicht den Anwalt oder die Anwältin. Rechts- beratung ist und bleibt die Aufgabe allein der Anwälte oder Anwältinnen. Prozessbegleitung ist eine nichtrecht- liche Begleitung und damit ein zusätzliches Angebot für besonders schutzbedürftige Opfer. Eine erfolgreiche Prozessbegleitung setzt voraus, dass qualifizierte und geschulte Fachkräfte nach klaren Grundsätzen tätig sind. Professionelle Prozessbegleitung wird daher nicht umsonst sein. Aber die Erfahrungen aus Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schles- wig-Holstein zeigen, dass es sich lohnt. Es lohnt sich für die Betroffenen, die schweren seelischen Belastungen durch die Tat und den Prozess ausgesetzt sind. Es lohnt sich aber auch für die Justiz. Ein emotional gestärkter Zeuge ist auch ein guter Zeuge, und wer ein Strafverfah- ren schon einmal geführt hat, weiß, was ein guter Zeuge wert ist. Opferschutz lohnt sich! Lassen Sie uns daher weiter auf diesem Weg voranschreiten! Ihr Ja zur psychoso- zialen Prozessbegleitung ist vor allem ein Ja zum besse- ren Schutz für Kinder und Jugendliche, die Opfer schwerster Straftaten geworden sind. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes gegen den un- lauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 21) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb hat die Umsetzung der „Richtlinie 2005/29/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im bin- nenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unterneh- men und Verbrauchern“ zum Ziel. Zielsetzung der Richtlinie ist eine Vollharmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis von Unternehmen und Verbrauchern im europäischen Binnenmarkt. Die Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten insofern eine voll- ständige Rechtsangleichung vor. Eine solche Vollharmo- nisierung bedeutet, dass das nationale Recht nicht hinter dem Schutzniveau der Richtlinie zurückbleiben, aber auch nicht über dieses hinausgehen darf. In Deutschland haben wir diese Richtlinie aus dem Jahre 2005 bereits durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb umge- setzt. Dieses Gesetz ist seit dem 30. Dezember 2008 in Kraft. Seinerzeit verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, bei der Umsetzung möglichst viel vom erst 2004 neu ko- difizierten Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, beizubehalten. Von besonderer Bedeutung war dabei die Beibehaltung eines einheitlichen Lauterkeits- rechts, das gleichermaßen dem Schutz der Verbraucher wie auch der Mitbewerber und sonstigen Marktteilneh- mer dient. Folge war, dass bei der Umsetzung der Richtlinie Vor- schriften zum Verhältnis von Unternehmen und Verbrau- chern, B2C, nicht mit der notwendigen Klarheit von den Vorschriften zum Verhältnis von Unternehmen zu Mit- bewerbern und sonstigen Marktteilnehmern, B2B, ab- gegrenzt wurden. B2C-Vorschriften wurden dabei mit Regelungen verbunden, die für den B2B-Bereich gelten und teilweise anderen Wertungen folgen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9645 (A) (C) (D)(B) Infolge dieses Ansatzes weicht das deutsche UWG sowohl vom Wortlaut als auch von der Systematik her an zahlreichen Stellen von der Richtlinie ab. Dies beanstan- det die Europäische Kommission. Sie hält die deutsche Umsetzung der Richtlinie für unzureichend und hat da- her ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Richtig ist zwar, dass es in der Rechtsanwendungs- praxis bei uns in Deutschland zu keinerlei Abweichun- gen von den inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie oder dem vorgegebenen Schutzniveau gekommen ist. Denn die Rechtsprechung hat die Vorschriften unseres UWG stets richtlinienkonform ausgelegt und insofern ein Aus- einanderfallen von Wertungen und Schutzmaßstäben vermieden. Allerdings ist auch richtig, dass es nach der Recht- sprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht aus- reicht, der Rechtsprechung im Wege der richtlinienkon- formen Auslegung gleichsam die Umsetzung einer Richtlinie zu überlassen. Das entspricht nicht der unionsrechtlich gebotenen Klarheit und Bestimmtheit bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht. Klarheit und Bestimmtheit sind aber notwendig, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit, insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzes, zu genügen. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb reagieren wir nun auf diese unzureichende Umsetzung der Richtlinie und das eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren: Das Lauter- keitsrecht soll deutlich stärker als bisher an die zugrunde liegende Richtlinie angepasst werden, um die vorge- gebene Vollharmonisierung zu erreichen. Das bedeutet zugleich, dass der Spielraum, den wir als nationaler Ge- setzgeber haben, sehr begrenzt ist. Der Gesetzentwurf sieht daher im Wesentlichen klarstellende Anpassungen beim Wortlaut und in der Gesetzessystematik des UWG vor. Regelungsgehalt und Struktur bleiben dagegen un- verändert. Unter anderem werden die Vorschriften im Verhältnis von Unternehmen gegenüber Verbrauchern, B2C, sowie im Verhältnis von Unternehmen zu anderen Unterneh- men, B2B, klarer voneinander unterschieden. Das UWG hat sich aber insofern bewährt, als dass es das Lauter- keitsrecht einheitlich regelt. Es wird daher weiter an dem Grundsatz festgehalten, dass sowohl der lauterkeits- rechtliche Schutz von Verbrauchern als auch derjenige von Mitbewerbern und sonstigen Marktteilnehmern in ein und demselben Gesetz geregelt wird. In diesem Zusammenhang wird die Generalklausel in § 3 UWG neu gefasst und klarer strukturiert. Insbe- sondere wird nun der Begriff der Unlauterkeit für den Nichtverbraucherbereich definiert. Als Lauterkeitsmaß- stab wird der Begriff der „fachlichen Sorgfalt“ auch im Verhältnis von Unternehmen zu Mitbewerbern und sons- tigen Marktteilnehmern, B2B, neu eingeführt. Das ent- spricht den Vorgaben der Richtlinie. An diesem Begriff der „fachlichen Sorgfalt“ hat sich zum Teil erhebliche Kritik geregt, nämlich dass dieser sowohl Maßstab für das Verhalten gegenüber Verbrau- chern wie auch im Verhalten gegenüber Wettbewerbern sein soll. Hier wird moniert, dass es zu Abgrenzungspro- blemen und Rechtsunklarheiten führen könnte, wenn für den B2C- und den B2B-Bereich die gleichen Kriterien herangezogen würden. Ob dies tatsächlich zutrifft, müssen wir uns im parlamentarischen Verfahren anse- hen. Allerdings glaube ich durchaus, dass man diesen unbestimmten Rechtsbegriff – wie auch andere unbe- stimmte Rechtsbegriffe wie Treu und Glauben oder frü- her den Begriff der guten Sitten im UWG – konkretisie- ren und umfassend auf die jeweilige Lebenssituation anwenden kann. Insofern bietet ein solch unbestimmter Begriff zugleich auch den Vorteil, hinreichend flexibel zu sein und damit auch bislang unbekannte Werbe- oder Wettbewerbsstrategien rechtlich einhegen zu können. Darüber hinaus wird künftig durch eine Anpassung des § 4 UWG stärker herausgestellt, dass es sich bei den Beispielen für Verstöße gegen die „fachliche Sorgfalt“ nur um eine Beweislastregelung zu den Generalklauseln des § 3 UWG handelt. Ist einer der Tatbestände erfüllt, wird ein Sorgfaltsverstoß vermutet. Eine Widerlegung dieser Vermutung ist möglich. Bislang war dies nicht der Fall, weil das Gesetz in der beschriebenen Konstellation von einem Verstoß ausging. Mit § 4 a UWG wird zudem – auch wieder mit Blick auf die Richtlinie – eine eigene Regelung zu aggressiven geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern in das UWG neu aufgenommen. Bislang waren aggressive geschäftliche Handlungen lediglich als Unterfälle der Unlauterkeitstatbestände der Generalklausel geregelt. Hier wird noch einmal verdeutlicht, dass es sich bei diesen aggressiven geschäftlichen Handlungen um ein vom Gesetzgeber missbilligtes Wettbewerbsverhalten handelt. Lassen Sie mich festhalten: Der Gesetzentwurf ist im Interesse eines Gleichlaufs von Richtlinie und UWG zu begrüßen. Die Auswirkungen in der Praxis werden sich in engen Grenzen halten. Schon bislang haben die Ge- richte das bisherige UWG richtlinienkonform ausgelegt. Jetzt vollziehen wir das nach und passen den Gesetzes- text ausdrücklich in diesem Sinne an. Nicht im Gesetzentwurf aufgegriffen wurden die viel- fachen Forderungen nach einer umfassenden Reform des UWG wie etwa nach der Neuordnung der Katalog- beispiele des § 4 UWG oder der Regelung zum fliegen- den Gerichtsstand. Mit Blick auf das laufende Vertrags- verletzungsverfahren erachte ich dies für richtig; wir müssen jetzt ein schnelles Gesetzgebungsverfahren durchführen. Für diese inhaltlichen Fragen bleibt Zeit und Raum, wenn wir das Gesetz über unseriöse Ge- schäftspraktiken evaluieren. Das wollen wir im Laufe des Jahres angehen. Insgesamt führt der Entwurf zu einer verbesserten Verständlichkeit der die Unlauterkeit begründenden Normen. Dies dient sowohl Verbrauchern wie Unterneh- men. Die in den einzelnen Stellungnahmen vorgebrachte Kritik an Details können wir im parlamentarischen Ver- fahren miteinander diskutieren. Darauf freue ich mich. 9646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Verbraucher brau- chen klare Rechte. Vorschriften müssen so eindeutig wie möglich formuliert sein. So können Verbraucher ge- schützt und Verstöße gegen geltendes Recht geahndet werden – in Deutschland und in ganz Europa. Die Ver- braucherpolitik von CDU/CSU will einen klaren Rechts- rahmen und eine wirksame Rechtsdurchsetzung schaf- fen. Ein wichtiger Schritt ist das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, welches am 8. Juli 2004 in Kraft trat. Mit dem zweiten Änderungsgesetz, das wir heute hier bera- ten, möchten wir noch mehr Rechtssicherheit schaffen. Das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb enthält be- reits strenge Regeln. Täuschende Werbung, falsche Gütezeichen oder der Aufbau eines Schneeballsystems sind bereits unzulässige geschäftliche Handlungen. Das Gesetz tritt diesen unseriösen Geschäftspraktiken und Wettbewerbsverzerrungen entgegen und ahndet Ver- stöße. Es muss nun Ansporn sein, weitere Verbesserun- gen zu erreichen und Ungenauigkeiten klarzustellen. Für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch für Mitbewerber untereinander und andere Marktteilnehmer wollen wir ein einheitliches Lauterkeitsrecht schaffen. Dazu werden Begriffe konkreter formuliert und klarer definiert. Der Gesetzentwurf setzt die Vorgaben aus der EU- Richtlinie 2005/29/EG nun vollständig um. Damit wird einmal mehr eine Harmonisierung des Rechts innerhalb der Europäischen Union erreicht. Es kommt nicht mehr auf das Rechtssystem an, wenn die rechtlichen Maßga- ben für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind. Der Ver- braucher, der sich nicht in Deutschland aufhält, kann im Ausland den gleichen Schutz erwarten und bekommt ihn auch. Die Gerichte in Deutschland legen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb bereits vollständig im Sinne der Richtlinie aus. Damit ist bereits den Erfordernissen der Richtlinie Genüge getan und ein hohes Niveau an Rechtssicherheit erreicht. Den Parteien wird vor Gericht ein umfassender und einheitlicher Rechtsschutz gewährt. Allerdings dürfen wir uns damit nicht zufriedengeben. Die nötige Rechtssicherheit ist noch nicht erreicht. Es muss zusätzlich eine Rechtsangleichung durch den Ge- setzeswortlaut erfolgen. Dazu ist der parlamentarische Gesetzgeber aufgerufen, ebenfalls zu handeln. Der Blick ins Gesetz muss die nötige Klarheit schaf- fen. Im Sinne des Schutzes von Verbrauchern muss die Gestaltung der Gesetzessprache in klarer und eindeutiger Form erfolgen. Diese Vorgabe des Europäischen Ge- richtshofs ist gut, da sie den Verbrauchern nützt. Es ist nicht zumutbar, sich durch eine Vielzahl von Urteilen verschiedenster Gerichte zu schlagen, wenn es einen einfacheren Weg gibt. Mit dem Blick ins Gesetz soll sich die Lösung für ein rechtliches Problem bereits finden lassen. Rechtsklarheit wird durch einen verbindli- chen Gesetzeswortlaut erreicht. Hierzu sind wir in die- sem Haus aufgerufen. Diese Rechtsklarheit führt zu mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen. Im Ergebnis wird dies zu mehr Rechtssicherheit und Zufriedenheit führen. Einen besonderen Schutz erfahren hierdurch die Ver- braucher. Ich bin zuversichtlich, für die offenen Detailfragen in den Ausschussberatungen eine Lösung im Sinne einer gerechten und verbraucherschützenden Umsetzung der Richtlinie zu finden. Christian Flisek (SPD): Mit der Richtlinie 2005/29/ EG über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegen Verbraucher im Binnenmarkt – und weiteren euro- päischen Richtlinien – wurde das Lauterkeitsrecht im Verhältnis von Unternehmen zu den Verbrauchern auf europäischer Ebene weitgehend vollharmonisiert, mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten eine vollständige Rechtsangleichung vornehmen mussten. Damit darf das von der Richtlinie geschaffene Schutzniveau weder un- ter- noch überschritten werden. Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb haben wir 2008 die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Es hat sich je- doch gezeigt, dass noch Klarstellungsbedarf besteht, dem bisher nur auf dem Wege der Rechtsprechung Ge- nüge geleistet wurde. Obgleich die Rechtsanwendung den Vorgaben der Richtlinie entspricht, genügt das, nach Auslegung des EuGH, jedoch nicht einer vollkommenen Rechtsangleichung und leistet auch nicht die erforderli- che Rechtsicherheit – insbesondere nicht im Bereich des Verbraucherschutzes. Mit dem jetzt vorliegenden Zweiten Gesetz zur Ände- rung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, nehmen wir die Kritikpunktpunkte der EU-Kom- mission auf. Der Gesetzentwurf ist von dem Grundsatz geleitet, das UWG als einheitlich regelndes Gesetz für das Lauterkeitsrecht zu bewahren. Das heißt, den lauter- keitsrechtlichen Schutz von Verbraucherinnen und Ver- brauchern auf der einen Seite und der Schutz von Mitbe- werbern und sonstigen Marktteilnehmern auf der anderen Seite auch weiterhin in ein und demselben Ge- setz zu regeln. Durch den Gesetzentwurf werden im UWG die ent- sprechenden Stellen klarer formuliert, ohne dass an der Struktur des Gesetzes grundlegende Veränderungen vor- genommen werden. So wird zum Beispiel noch schärfer zwischen den Regelungen für geschäftliche Handlungen gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern einer- seits und Unternehmen andererseits unterschieden (§ 3 Absatz 2 und 3 UWG). Um die Verbraucher noch besser vor aggressiven geschäftlichen Handlungen zu schützen, wird eine eigene Regelung hinsichtlich eines solchen Verhaltens geschaffen (§ 4 a UWG neu). Damit wird der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, insbeson- dere in Situationen, in denen das Urteilsvermögen beein- trächtigt sein kann – zum Beispiel Unglückssituationen –, gestärkt. Wir werden allerdings noch prüfen müssen, ob die neuen Formulierungen im Gesetzentwurf zur Abgren- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9647 (A) (C) (D)(B) zung von B2B/B2C-Verhältnissen – § 3 Absatz 2 und 3 UWG – tatsächlich nur klarstellende Wirkung haben sol- len oder ob dadurch ein neues Tatbestandsmerkmal für die Anwendbarkeit der Verbrauchergeneralklausel ge- schaffen wird. Zudem wird noch zu prüfen sein, ob wir neben den reinen Anpassungen an die Richtlinie weitere Änderungen aufnehmen wollen, um das UWG noch schlagkräftiger zu machen. Die Verbände haben ihre Vorschläge hierzu schon vorgelegt. Und auch der Bun- desrat hat in seiner Stellungnahme weitere Änderungen angemahnt. Zu nennen sind zum Beispiel Verschärfun- gen beim Gewinnabschöpfungsanspruch, § 10 UWG, die Einschränkung des sogenannten fliegenden Gerichts- stands, § 14 UWG, und die Schaffung eines zusätzlichen Bußgeldtatbestands für im elektronischen Geschäftsver- kehr erfolgende unmittelbare Kaufaufforderungen ge- genüber Kindern. Ich bin diesen Vorschlägen gegenüber sehr offen, bei- spielsweise der Frage, wie man Plattformen, deren Ge- schäftsmodelle auf Urheberrechtsverletzungen beruhen, die Werbeeinnahmen entziehen kann. Vor dem Hinter- grund des laufenden Vertragsverletzungsverfahrens ist das Ziel der Bundesregierung, dieses zügig zu beenden, allerdings verständlich. Wir werden also im anstehenden Beratungsverfahren klären müssen, ob wir weiter- gehende Änderungen im jetzigen Gesetzentwurf aufneh- men wollen oder diese im Verlauf der Legislaturperiode erneut behandeln wollen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ist im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb umgesetzt. Sie zielt auf den Ver- braucherschutz. Von ihr sollen direkt die wirtschaftli- chen Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher geschützt werden. Rechtssicherheit und ein hohes Ver- braucherschutzniveau waren die Motive des europäi- schen Gesetzgebers für die Richtlinie. Auch mit dem vorliegenden Entwurf werden diese Ziele nicht erreicht. Das Gegenteil ist der Fall. Ein hohes Verbraucherschutzniveau ist ohne Rechtssicherheit nicht denkbar. Rechtssicherheit setzt jedoch voraus, dass die Regelungen verständlich und eindeutig sind. Ich frage die Bundesregierung und insbesondere den Bundesjustizminister, ob sie sich den vorliegenden Ent- wurf überhaupt angesehen haben. „Unlauter handelt, wer dem Verbraucher eine Infor- mation vorenthält, die im konkreten Fall unter Berück- sichtigung aller Umstände wesentlich ist.“ Weniger klar und präzise lässt sich eine Regelung kaum fassen. Ob eine geschäftliche Handlung „aggressiv“ ist, soll sich auch nach „belastenden und unverhältnismäßigen Hindernissen nichtvertraglicher Art“ bemessen. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich selbst Rechtsanwalt. Diese Re- gelung erschließt sich mir erst, wenn ich die Begründung des Entwurfes und die Richtlinie selbst lese, wo erklärt wird, was sich die Verfasserinnen und Verfasser der Norm eigentlich gedacht haben. Ein Gesetz, das ohne Kommentierung nicht verstanden werden kann, eignet sich nicht, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu ge- währleisten. Wie kommt es zu solchen Formulierungen? Eigent- lich gibt es seit 2009 eine Sprachberatung in den Bun- desministerien, die aus dem Modellprojekt „Verständli- che Gesetze“ hervorgegangen ist. Bevor Gesetze im Bundeskabinett behandelt werden, muss geprüft werden, ob sie sprachlich richtig und verständlich sind. Wurde dieser Entwurf nicht geprüft oder empfand man ihn gar als verständlich? Es ist nicht der erste Entwurf mit diesem Makel. Vor allem Gesetze, die europäische Vorgaben umsetzen wol- len, leiden an mangelnder Verständlichkeit und kaum er- kennbarer Systematik. Ursachen sind eine völlig miss- verstandene Pflicht, wie Richtlinien in das nationale Recht umzusetzen sind und welche Vorgaben der Euro- päische Gerichtshof dazu macht. Im Entwurf heißt es, es bestehe „noch Klarstellungs- bedarf gesetzessystematischer Art, um auch bereits im Wortlaut eine vollständige Rechtsangleichung zu erzie- len“. Die Verfasserinnen und Verfasser setzen dies hand- werklich um, indem sie auch diese Richtlinie ohne ei- gene Denkleistung einfach wörtlich abschreiben. Richtlinien sind jedoch weder nach ihrer Entste- hungsgeschichte, ihrer Struktur noch nach ihrer Ziel- gruppe dazu geeignet, wörtlich übernommen zu werden. Das nationale Recht ist den Richtlinien anzupassen. Ver- bindlich ist das Ziel, nicht die Form. So steht es im Ver- trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Mehr fordert auch der Europäische Gerichtshof nicht, was die Verfasserinnen und Verfasser behaupten. Richtig ist lediglich, dass eine Richtlinie in den Gesetzen Aus- druck finden muss und nicht allein durch Auslegung und Rechtsprechung umgesetzt werden darf. Der Europäische Gerichtshof fordert nur, dass die Rechtslage hinreichend bestimmt und klar zum Aus- druck kommen muss. Ich bezweifle, dass die wörtliche Übernahme von Richtlinien ohne Anpassungen an die Systematik und Gepflogenheiten des nationalen Rechts dieser Forderung entspricht. Der Marke „Law – Made in Germany“ wird es jedenfalls nicht gerecht. Abschließend möchte ich meinem Bedauern Aus- druck verleihen, dass sich der europäische Gesetzgeber ausgerechnet das Wettbewerbsrecht für eine Vollharmo- nisierung ausgesucht hat: Vorschriften, die ein höheres Verbraucherschutzniveau als die Richtlinie erreichen, sind danach verboten. Davon ist auch aktuell geltendes Recht in Deutschland betroffen. Der Europäische Ge- richtshof zwingt uns, mit diesem Entwurf ein Stück Ver- braucherschutz aufzugeben. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass die Bundesregierung endlich handelt und einen Gesetz- entwurf zur Änderung des UWG vorlegt, ist lange über- fällig. Gegen Deutschland ist bereits ein Vertragsverlet- zungsverfahren der EU anhängig. In einigen Punkten schafft der Gesetzentwurf jetzt Rechtsklarheit. Die Voraussetzungen der Unlauterkeit 9648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) von Schneeballsystemen und Pyramidensystemen wer- den gesetzlich klargestellt. Damit wird den Vorgaben des EuGH Rechnung getragen. Allerdings enthält der Gesetzentwurf zahlreiche Schwachstellen. Zuallererst muss ich auf die Regelungen zur Ab- schöpfung von Unrechtsgewinnen in § 10 UWG hinwei- sen. Dieser Gewinnabschöpfungsanspruch ist in der Praxis ein weitgehend wirkungsloses Instrument. Ich halte es für einen großen Fehler, dass die Bundesregie- rung hier nicht nachbessern will. Die Abschöpfung von Unrechtsgewinnen, die sich Unternehmen durch unseriöse Geschäftsmodelle wie etwa versteckte Abofallen aneignen, ist auf Grundlage der jetzigen Regelung praktisch kaum möglich. Illegales Verhalten lohnt sich also viel zu oft, weil die Unterneh- men das ergaunerte Geld behalten können, wenn Ihnen zum Beispiel kein Vorsatz nachzuweisen ist. Dieses Problem ist seit Jahren bekannt: Eine Studie aus 2011, vom Bundesverbraucherministerium in Auf- trag gegeben, kommt zu dem klaren Ergebnis, dass die Regelung, in der derzeitigen Form wirkungslos ist. Es bedarf meiner Ansicht nach also keiner „Evaluierung“, wie mir die Bundesregierung in der Beantwortung auf meine kleine Anfrage „Stärkung der Verbraucherrechte durch Sammelklagen“ im Juni 2014 angekündigt hat. Es besteht ein klarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Was geändert werden muss, haben die Bundesländer bereits mehrfach festgestellt. Ich zitiere aus der Stellung- nahme des Bundesrates zum UWG-Änderungsgesetz: „Die Möglichkeit der Gewinnabschöpfung sollte unab- hängig vom schuldhaften Handeln des Unternehmens bestehen. Der Gewinnabschöpfungsanspruch ist als ein Anspruch eigener Art nicht auf Schadensersatz gerichtet, sondern auf Herausgabe eines ungerechtfertigt erlangten Gewinns. Rechtssystematisch ist daher ein Verschulden nicht zwingend erforderlich, sodass eine Abkehr vom Verschuldenserfordernis als gerechtfertigt zu betrachten ist. Auch Gewinne aus unverschuldeten Verstößen stehen dem Handelnden nicht zu.“ Dem ist nichts hinzu- zufügen. Ein zweiter Mangel in Ihrem Gesetzentwurf ist, dass wieder nicht die Gelegenheit genutzt wird, bei Rechts- verletzungen im Internet endlich die Möglichkeit des fliegenden Gerichtsstands abzuschaffen. Dies hatte sich die Bundesregierung schon in der letzten Wahlperiode 2013 bei dem Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäfts- praktiken vorgenommen, doch war sie im letzten Mo- ment zurückgerudert. Nun wird § 14 UWG wieder nicht reformiert, und es bleibt dabei, dass der Kläger sich in Fällen, in denen die Verletzungshandlung an verschiede- nen Orten stattgefunden hat, aussuchen kann, an wel- chem Gericht er klagt. Dies hat mit Verbraucherschutz nichts zu tun. Diese Regelung ermöglicht es, für Geschäfte im Onlinehandel abmahnfreudigere Gerichte bewusst aus- zuwählen, wo die Abmahner mit besseren Erfolgsaus- sichten und höheren Kosten für die Beklagten rechnen dürfen. Darunter leiden besonders kleine und mittlere Unternehmen, für die ein Gerichtsverfahren weit weg von Wohnort und Geschäftssitz oft mit Kosten verbun- den ist, die kaum zu schultern sind. Wir wollen, dass auch im Onlinehandel der allgemeine Gerechtigkeits- grundsatz gilt, nachdem am Wohn- bzw. Geschäftssitz des Beklagten Klage zu erheben ist. Drittens hätten Sie mit dem vorliegenden Gesetz auch den Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern können. Bei digitalen Diensten wie Smartphone-Apps und Online-Spielen lauern Kostenfallen, die etwa Kinder auffordern, bei einem Bauernhof-Spiel virtuelle Heubal- len zu kaufen, da sonst ihr virtuelles Pferd verhungert und nicht weitergespielt werden kann. Wir fordern die Einführung eines eigenen Bußgeldtat- bestandes in § 20 UWG für Verstöße gegen das Verbot direkter Kaufaufforderungen gegenüber Kindern und ha- ben in dieser Frage die Bundesländer hinter uns. Das wäre ein schärferes Schwert gegen unlautere Werbung an Kinder als die rein privatrechtliche Sanktion, die in der Realität kaum zur Anwendung kommt. Viertens möchten wir auf einen agrarpolitischen Aspekt hinweisen, der direkt vom Wettbewerbsrecht berührt wird. Wir möchten das Wettbewerbsrecht so aus- gestaltet wissen, dass es der Stärkung der berechtigten Interessen der Bäuerinnen und Bauern, die heimische Milcherzeugung zu sichern und ihre Position gegenüber den mächtigen Handelsunternehmen zu stärken, nicht im Wege steht. Zum Schluss möchte ich noch auf eine aktuelle War- nung des VZBV bezüglich der Änderungen der General- klausel in § 3 UWG hinweisen, die alle Abgeordneten aus dem Rechtsausschuss erhalten haben. In dem Brief erklären die Verbraucherzentralen, dass die Änderung in der Generalklausel „von ausschlaggebender Bedeutung u.a. für die Klagebefugnis von Verbraucherverbänden“ sein könnte und Rechtsunsicherheiten schaffen könnte. Dies muss im weiteren Gesetzesverfahren überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Ich wünsche uns allen gute und konstruktive Beratun- gen. Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir be- handeln heute in erster Lesung den Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes ge- gen den unlauteren Wettbewerb. Die hiermit verbunde- nen Gesetzesänderungen dienen insbesondere dem Zweck, das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, besser an die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken von Unter- nehmen gegenüber Verbrauchern – Richtlinie 2005/29/ EG vom 11. Mai 2005 – anzupassen. Das UWG dient dem Schutz von Mitbewerbern, Ver- braucherinnen und Verbrauchern und sonstigen Markt- teilnehmern vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Es schützt zugleich das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. Das UWG beruht in großen Teilen auf europarechtlichen Vorgaben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9649 (A) (C) (D)(B) Aufgrund der europarechtlichen Vorgaben für den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher soll das Gesetz nun in einigen Punkten neu strukturiert und geän- dert werden. Insbesondere wird noch trennschärfer als bisher zwi- schen den Regelungen für geschäftliche Handlungen ge- genüber Verbraucherinnen und Verbrauchern einerseits und Unternehmen andererseits unterschieden werden. Diese sind unterschiedlich schutzbedürftig. Neu soll in das UWG zudem eine Regelung aufgenommen werden, die Verbraucherinnen und Verbraucher ausdrücklich vor der Beeinflussung durch aggressive geschäftliche Hand- lungen schützt. Zwar verbietet schon das UWG in seiner bisherigen Fassung die Beeinflussung von Verbrauche- rinnen und Verbrauchern, etwa durch die Ausübung von Druck oder andere aggressive geschäftliche Handlun- gen. Nun wird jedoch erstmals ein eigener Paragraf zum Schutz vor Aggression geschaffen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir ei- nerseits zwingende EU-rechtliche Vorgaben um. Wir tun andererseits aber auch etwas für die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie für den lauteren und gegen den unlauteren Wettbewerb. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat den Gesetzentwurf sogfältig vorbereitet und ausführlich mit den beteiligten Kreisen diskutiert. Im Ergebnis sind daher die beteilig- ten Kreise weitestgehend mit den vorgeschlagenen Re- gelungen einverstanden. Auch der Bundesrat hat dem Gesetzentwurf im Grundsatz zugestimmt. Er hat allerdings zusätzliche Vorschläge zur Verbesserung der UWG-Regelungen gemacht. Das sind wichtige Punkte. Im vorliegenden Verfahren müssen wir aber auch darauf achten, einen ambitionierten Zeitplan einzuhalten, um eine Klage we- gen verspäteter Umsetzung von EU-Recht zu vermeiden. Das alles können wir aber in den kommenden Bericht- erstattergesprächen noch vertiefen. Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es uns im Rahmen des Entwurfs gelungen ist, einerseits die euro- parechtlichen Vorgaben im Interesse der Verbraucherin- nen und Verbraucher angemessen umzusetzen, anderer- seits den im deutschen Recht bewährten einheitlichen Ansatz der Regelung sowohl des Verbraucherschutzes als auch des Mitbewerberschutzes in ein und demselben Gesetz soweit als möglich beizubehalten. Für eine Unterstützung dieses Gesetzgebungsvorha- bens wäre ich Ihnen daher dankbar. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 22) Wilfried Lorenz (CDU/CSU): Die Sprachen dieser Welt halten nicht selten Überraschungen parat. So auch die unsrige. Die Aneinanderreihung von gleich drei Sub- stantiven im Wort Unterhaltssicherungsgesetz, USG, nö- tigt manchem Bewunderung, manchem Erstaunen ab. Wieder andere denken unversehens an Unterhalt für die geschiedene Ehefrau oder Alimente für Kinder. Vielleicht sollte das Gesetz eher Reservedienst- und Freiwilligwehrdienstleistendeunterhaltssicherungsgesetz, RDLFWDLUSG, heißen. Dann wären nicht nur mehr Substantive in einem durchaus beachtlichen Wortunge- tüm untergebracht und eine stattliche Abkürzung kre- iert, sondern es wäre auch klarer, worum es darin geht: Erstens, um die Anpassung des noch aus dem Jahre 1957 stammenden Unterhaltssicherungsgesetzes an ak- tuelle Entwicklungen seit Aussetzung der Wehrpflicht. Zweitens, um die Zentralisierung der Abläufe sowie um die Zusammenfassung und Vereinfachung aller Leistungen für Reservedienstleistende – früher: Reser- visten –, die bislang auch im Wehrsoldgesetz, WSG, ge- regelt waren, zu einem Anreizsystem. Die Durchführung des Gesetzes wird von den Län- dern auf den Bund übertragen und in einer Hand zusam- mengefasst. Zuständig sind ab 1. November 2015 also nicht mehr die Unterhaltssicherungsstellen auf lokaler Ebene, sondern das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr. Drittens, um die angemessene Erhöhung und Erweite- rung der Mindestleistungen für Reservedienstleistende, auf ein Niveau in Höhe mindestens der Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades. Die Mindestleistungen wurden zuletzt 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, angehoben. Sie dienen der Si- cherung des Einkommens während des Dienstes – daher die Begrifflichkeit Unterhaltssicherung. Viertens, um die Sicherung des Unterhalts von Fami- lienangehörigen freiwillig Wehrdienstleistender durch Nachvollzug von Änderungen im Unterhaltsrecht. So die Gleichstellung nichtehelicher und ehelicher Kinder sowie die Aufnahme der Unterhaltsansprüche von Müttern und Vätern nichtehelicher Kinder. Warum ist das wichtig für die Bundeswehr? Weil der Dienst in der Bundeswehr bislang nicht nur wenig gesellschaftliche Anerkennung fand, sondern auch nicht mehr zeitgemäße Arbeitsbedingungen bot, die eine Tätigkeit des zivilen Bereiches in den Streitkräf- ten attraktiver machten. Weil wir qualifizierte Freiwillige brauchen, damit die Bundeswehr trotz der demografischen Entwicklung ein- satzfähig bleibt. Weil das bisherige Verfahren kompliziert und mit Ad- ministration überfrachtet war und viele abschreckte. Und weil mit dem novellierten USG – spiegelbildlich wie für aktive Soldatinnen und Soldaten – bestehende Benachteiligungen beseitigt werden. Zum Glück heißt die gesetzliche Regelung, die für ak- tive Soldaten bereits beschlossen wurde und Abhilfe schaffen wird, übrigens wunderbar selbsterklärend 9650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr (Bundeswehrattraktivitätssteigerungs- gesetz). Darin sind Maßnahmen in den verschiedensten Berei- chen enthalten – wie auch im jetzigen Entwurf zum Unterhaltssicherungsgesetz. Dort mit Schwerpunkt Ver- sorgung der Reservisten und freiwillig Wehrdienstleis- tenden. Warum sind die vorgeschlagenen Änderungen im Ge- samtkontext wichtig? Weil Gesetze, wenn sie gut gemacht und durchdacht sind, einen inneren Zusammenhang bilden. Novelliert oder schafft man das eine, muss man Auswirkungen auf andere Regelwerke mit ähnlichem Bezug betrachten. Das haben wir erfolgreich geschafft, Anreize für Berufs-, Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistende und Reser- visten geschaffen. Damit wird eine Kette guter Entwick- lungen in Gang gesetzt, mit einem Stubs – wie bei Dominosteinen –, indem wir über die Bundeswehr, ihre Struktur und Verbesserung nachgedacht und die Ergeb- nisse in konkrete, aufeinander abgestimmte gesetzliche Maßnahmen haben einfließen lassen. Wir werden den Gesetzesantrag der Bundesregierung jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren positiv begleiten. Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Mit dem vorliegenden Entwurf zur Novelle des Unterhaltssicherungsgesetzes setzt die Koalition ihr Vorhaben um, auch auf der Ebene der Versorgung von Reservistinnen und Reservisten und von freiwillig Wehrdienstleistenden die notwendigen Konsequenzen aus dem Umbau der Bundeswehr in eine moderne und attraktive Freiwilligenarmee zu ziehen. Das Unterhaltssicherungsgesetz ist zuletzt 1980 grundle- gend überarbeitet worden. Den Anforderungen, die die nicht als Berufs- oder Zeitsoldaten in der Bundeswehr dienenden Menschen stellen, kann dieses Gesetz nicht mehr angemessen gerecht werden. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion, dass die Bundesregierung nunmehr tätig geworden ist, um die Versorgung der Dienstleistenden auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen. Zwei Aspekte verdienen dabei besondere Beachtung: Erstens. Wie begleitet das Gesetz die Umstrukturierung der Bundeswehr funktional? Zweitens. Wie ordnet sich das Gesetz in die Bemühungen ein, den Dienst in der Bundeswehr für alle Dienstleistenden möglichst attraktiv zu machen? Dass beides mit Geld zu tun hat, liegt auf der Hand. Funktional haben wir zwei Aufgaben zu lösen: Ers- tens muss die Versorgung der Dienstleistenden wie bis- her die Verluste mindestens ausgleichen, die ihnen durch den Wehr- oder Reservedienst im zivilen Leben entste- hen, und zweitens können und müssen angesichts der deutlichen Verkleinerung der Streitkräfte die Verwal- tungsabläufe gestrafft werden. Mit der Novelle werden jetzt alle Reservedienstleis- tenden durch neue, deutlich angehobene steuerfreie Ta- gessätze mit aktiven Soldaten des gleichen Dienstgrades mindestens gleichgestellt. Wenn ihr ziviler Verdienstaus- fall höher ist als die Tagessätze der Soldtabellen, wird wie bisher ein entsprechender Ausgleich geleistet. Län- ger Dienende erhalten Leistungszuschläge, die ihr be- sonderes Engagement auf eine wirtschaftlich solide Grundlage stellen. Beim Unterhalt für Angehörige wird ein moderner Familienbegriff zugrunde gelegt, der den Veränderungen unserer Gesellschaft seit Anfang der 80er-Jahre Rechnung trägt. Die freiwillig Wehrdienst- leistenden werden außerdem bei der Miete und Betriebs- kosten für Wohnraum unterstützt, wo es durch die Unter- bringung in der Kaserne zu unzumutbaren Härten kommen kann. In Zukunft wird es in der kleiner gewordenen Freiwil- ligenarmee mehr Reservedienstleistende als freiwillig Dienstleistende geben, die die Bundeswehr als Erben der Grundwehrdienstleistenden ausbildet. Deshalb wird die Versorgung der Reservedienstleistenden im neuen Un- terhaltssicherungsgesetz an erster Stelle geregelt. Die Bearbeitung aller Anträge wird zentralisiert – eine deut- liche Vereinfachung des Verwaltungsaufwands. Alle diese Maßnahmen hält die SPD-Fraktion für sinnvoll. Entscheidend für die Attraktivität insbesondere von Wehrübungen wird aber die deutlich bessere Min- destentlohnung, mit der Reservisten und Aktive nun- mehr weitestgehend gleichgestellt werden. Die geteilte Verantwortung für die Auftragserfüllung spiegelt sich in der gleichen Entlohnungsstruktur wider. In diesem Sinne, aber auch durch die Ausweitung der Versorgungs- leistungen für Angehörige fügt sich die vorliegende No- velle überzeugend als ein weiterer Baustein in das At- traktivitätsprogramm der Koalition ein. Die Kritik aus Kreisen der Reserve, die sehr grund- sätzlich den Entschädigungsgedanken für eine frei- willige Dienstleistung in Zweifel zieht, hat rechts- theoretisch sicherlich ihre Berechtigung. Dass die Dienstleistung nicht einfach angemessen entlohnt bzw. besoldet wird, sondern stattdessen auf Antrag eine Ent- schädigung gewährt wird, bleibt eine unbequeme, weil bürokratische Begleiterscheinung der Wehrübungen. Qualitativ aber bedeutet das Gesetz einen großen Schritt hin zu besserer Würdigung der Einsatzleistung von Re- servisten und somit hin zu größerer Attraktivität. Die SPD-Fraktion freut sich auf die parlamentarische Bera- tung und auf die zügige Umsetzung dieser sinnvollen Initiative. Christine Buchholz (DIE LINKE): Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Unter- haltssicherung. Die Bundesregierung will das veraltete Unterhaltssicherungsgesetz neu fassen. Dagegen ist im Grunde nichts zu sagen, wenn das zum Beispiel zur Ent- lastung von Ländern und Kommunen führt. Auch kann es Sinn machen, dass die auf 400 Behörden zersplitterte Bearbeitung aufgrund der erheblich zurückgegangenen Fallzahlen in der Bundeswehrverwaltung konzentriert wird. Die Linke ist aber der Meinung, dass ein Gesetz, das den Reservistendienst und den freiwilligen Wehrdienst Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9651 (A) (C) (D)(B) attraktiver machen soll, in die falsche Richtung geht. Wir teilen die Grundauffassung nicht, dass die Bundes- wehr zu einer Einsatzarmee umgebaut wird und die „Einsatzbereitschaft“ der Armee für Auslandseinsätze durch das Fithalten einer Reservearmee gestärkt werden soll. Die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir be- grüßt, aber wir lehnen die Verstärkung der Rekrutie- rungsbemühungen für freiwilligen Wehrdienst ab. Das Gesetz soll explizit die „Attraktivität“ des Reser- vistendienstes und auch des freiwilligen Wehrdienstes steigern. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der freiwil- lig Wehrdienstleistenden innerhalb der ersten sechs Mo- nate abbrechen, hat nicht in erster Linie mit der Vergü- tung zu tun, sondern damit, dass jungen Menschen in Werbeshows und Adventure-Camps eine Welt vorgegau- kelt wird, die der Realität in der Bundeswehr nicht ent- spricht. Zu einzelnen Aspekten des Gesetzes: Wir verweisen darauf, dass es bereits jetzt ein Missverhältnis zwischen der Besoldung von freiwillig Wehrdienstleistenden einerseits – bis zu 1 146 Euro im Monat – und dem Taschengeld für FSJler und FSJlerin- nen sowie Bundesfreiwilligendienstleistende – Ober- grenze 363 Euro – gibt. Die flexiblere Anerkennung der Erstattung von Miete und Betriebskosten für freiwillig Wehrdienstleistende wirft bei uns die Frage auf, warum die Tätigkeit von frei- willig Wehrdienstleistenden gegenüber anderen Berufs- gruppen im unteren Einkommenssegment privilegiert werden soll. Die Zusammenlegung der Administration für die Fra- gen der Unterhaltssicherung von Reservisten und frei- willig Wehrdienstleistenden kann, wie bereits erwähnt, sinnvoll sein. Dass Arbeitgeber und Finanzbehörden verpflichtet werden sollen, Daten über die Arbeitnehmer an das Bundesamt für Personalmanagement der Bundes- wehr zu übermitteln, halten wir im Sinne des Daten- schutzes für bedenklich. Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir beraten in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur Än- derung soldatenrechtlicher Vorschriften. Mit diesem Gesetz verfolgt die Bundesregierung das Ziel, nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Steigerung der Attrak- tivität des Dienstes in der Bundeswehr, das Maßnahmen für die Berufs- und Zeitsoldatinnen und -soldaten be- inhaltete, nun auch die Attraktivität des Dienstes der Re- servedienste und freiwillig Wehrdienstleistenden zu er- höhen. Diese Zielsetzung ist richtig und notwendig, wenn die Bundeswehr auch in diesen Gruppen motivier- tes Personal gewinnen und halten möchte. Mit diesem Gesetzentwurf sollen die Durchführung der Unterhaltssicherung auf den Bund übertragen und vor allem Maßnahmen umgesetzt werden, die das Ein- kommen der Reservedienstleistenden und den Unterhalt von Angehörigen von freiwillig Wehrdienstleistenden be- treffen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen erscheinen sinnvoll. Nach dem Wegfall der Wehrpflicht scheint bei gesunkenem Antragsaufkommen eine dezentrale Ver- waltung tatsächlich nicht mehr die effizienteste Struktur zu sein, sodass es mehr Sinn macht, wenn diese Aufgabe zentral durch den Bund übernommen wird. Die Verein- fachung des Antragsverfahrens soll zudem den Aufwand reduzieren, der benötigt wird, um Leistungen zu bezie- hen. Eine Anhebung der Leistungen nach dem Unter- haltssicherungsgesetz, mehr als 20 Jahre nachdem dies zuletzt geschah, ist nachvollziehbar. Die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern scheint längst überfällig. Klar ist, dass solche finanziellen Maßnahmen wichtig sind, alleine aber nicht für einen attraktiven Dienst in der Bundeswehr sorgen werden. Dies gilt für Berufs- oder Zeitsoldatinnen und -soldaten genauso wie für freiwillig Dienende. Sie muss den Soldatinnen und Soldaten An- gebote machen, die es auch jenseits von finanziellen An- reizen attraktiv machen, sich für einen freiwilligen Dienst in der Bundeswehr zu melden. Sie muss die Men- schen vor allem mit sinnvollen Tätigkeiten und einer modernen Führungskultur für sich gewinnen. Im parlamentarischen Verfahren werden wir die ein- zelnen Punkte des Gesetzentwurfes noch genauer be- trachten. Das grundsätzliche Anliegen von Verwaltungs- vereinfachung, die Anpassung der Unterhaltssicherung auf einen aktuellen Stand und die Schaffung von Anreiz- systemen, scheint uns sinnvoll. Wir werden den Gesetz- entwurf aber auch dahingehend hinterfragen müssen, ob die hier vorgeschlagenen Maßnahmen in ihrer Höhe an- gemessen sind. Im Raum stehen zudem Vorwürfe, dass das hier gewählte Verfahren der Entschädigung nach der Abkehr von der Wehrpflicht systemwidrig sei und die Reservedienstleistenden trotz gleicher Leistung gegen- über den aktiven Soldatinnen und Soldaten erheblich be- nachteiligt werden. Wir werden uns mit dieser Kritik auseinandersetzen. Ich würde es zudem begrüßen, wenn wir diesen Gesetzentwurf auch zum Anlass nähmen, uns mit den konzeptionellen Grundlagen des Reservediens- tes und des freiwilligen Wehrdienstes zu befassen. Diese Grundlagen sind schließlich in der Frage der Attraktivi- tät von erheblicher Bedeutung. Markus Grübel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Verteidigung: Nicht nur als Parlamen- tarischer Staatssekretär, sondern insbesondere auch als langjähriger Reservedienstleistender bin ich von der be- sonderen Bedeutung des Reservistendienstes überzeugt. Daher ist mir der Gesetzentwurf, den wir unter dem ak- tuellen Tagesordnungspunkt behandeln, ein besonderes Anliegen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD haben die Bundesministerin der Verteidigung gebeten, Maßnah- men zur Attraktivitätssteigerung des Reservistendienstes zu prüfen, zeitnah einzuleiten und mit den notwendigen Haushaltsmitteln in der mittelfristigen Finanzplanung zu unterlegen. Dies unterstreicht den gemeinsamen Willen der Regierungsfraktionen, den Reservistendienst attrak- tiver zu machen. Das Bundesministerium der Verteidigung strebt zu diesem Zweck unter anderem eine Neufassung des aus 9652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 (A) (C) (D)(B) dem Jahr 1957 stammenden Unterhaltssicherungsgeset- zes an. Denn aufgrund der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten besteht ein erheblicher Änderungsbedarf. Die Vielzahl der notwendigen Änderungen macht dabei eine konstitutive Neufassung erforderlich. Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, die Situation insbesondere der Reservistendienstleistenden sowie der freiwillig Wehrdienstleistenden zu verbessern. Zunächst möchte ich auf die Gruppe der Reservisten- dienstleistenden eingehen. Für diese Personengruppe werden Verbesserungen insbesondere in drei Bereichen angestrebt: Erstens soll die Mindestleistung angehoben werden. Zweitens soll zur Qualitäts- und Effizienzsteigerung die Antragsbearbeitung von den Ländern auf eine Stelle in der Bundeswehr konzentriert werden. Drittens sollen die Voraussetzungen für Leistungen an Selbstständige erheblich vereinfacht werden. Zunächst zur geplanten Leistungserhöhung: Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Mindestleistungen an die Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades in der ersten Erfahrungsstufe an- geglichen werden. Dies bedeutet konkret, dass die Leis- tungen von bislang circa 40 Prozent des Einkommens der aktiven Soldatinnen und Soldaten auf künftig circa 100 Prozent angehoben werden. Hierdurch sollen die Reservistendienstleistenden eine Sicherung ihres Lebensbedarfs nach ihrem Dienstgrad erhalten. Durch die Erhöhung der Mindestleistung wird eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode erfüllt, nach der die Attraktivität des Reservistendienstes gesteigert werden soll. Zweitens soll die Durchführung des Unterhaltssiche- rungsgesetzes von den Ländern auf den Bund übertragen werden. Die Bearbeitung der Anträge auf Leistungen nach dem Unterhaltssicherungsgesetz soll nicht mehr wie bisher bei rund 400 Behörden erfolgen, sondern stattdessen bei einer Stelle in der Bundeswehrverwal- tung konzentriert werden. Damit wird unter anderem eine entsprechende Forde- rung des Bundesrechnungshofes umgesetzt. Dieser hatte zuvor bei Stichproben eine hohe Zahl von fehlerhaften Bearbeitungen kritisiert. Durch diese „Leistung aus einer Hand“ wird das An- tragsverfahren für den Antragsteller außerdem verein- facht und Kompetenz gebündelt. Die Bundesregierung erwartet durch diese Bündelung der Aufgabenwahrnehmung eine größere Routine bei der Bearbeitung der komplexen Rechtsmaterie, eine Verein- fachung der Verfahren und somit im Ergebnis eine grö- ßere Zufriedenheit seitens der Reservistendienstleisten- den. Drittens werden die Grundlagen für Leistungen an Reservistendienstleistende erheblich vereinfacht. Die Praxis hat gezeigt, dass es für Reservistendienstleistende wichtig ist, vor dem Reservistendienst einschätzen zu können, wie hoch die Leistungen dafür ausfallen wer- den. So sollen Reservistendienstleistende, die selbststän- dig berufstätig sind, künftig eigenverantwortlich entscheiden, ob ihr Betrieb während des Reservisten- dienstes ruht oder eine Ersatzkraft beschäftigt wird. Die Einkommensverluste sollen nunmehr pauschal auf der Grundlage des letzten Einkommensteuerbescheides er- stattet werden. Neben der Sicherung des Einkommens der Reservis- tendienstleistenden sollen aber auch weitere finanzielle Leistungen wie Zulagen und Prämien, die bisher im Wehrsoldgesetz geregelt waren, in diesem Gesetz zu ei- nem neuen Anreizsystem für mehr Reservistendienst- leistung gebündelt werden. Lassen Sie mich abschließend auf die freiwillig Wehr- dienstleistenden eingehen. Ziel des Gesetzes ist es, den Lebensbedarf der freiwil- lig Wehrdienstleistenden und ihrer Familien zu sichern. Diese sollen nicht aufgrund des freiwilligen Wehrdienstes Anträge auf Sozialleistungen stellen müssen. Um von vornherein Härtefälle zu vermeiden, entfallen bei der Er- stattung der Wohnraumkosten die Höchstgrenzen. An die Stelle tritt die Erstattung der tatsächlichen Kosten. Zu- dem werden im Gesetz zukünftig nichteheliche Kinder und Adoptivkinder den ehelichen Kindern gleichgestellt. Zur Vorbeugung gegen Gesetzesmissbrauch wird die Erstattung von vertraglichen Verpflichtungen wie für Wohnraum und Versicherungen gegen Krankheit sowie Vermögensnachteile, die nicht für die Zeit des Wehr- dienstes gekündigt werden können, für freiwillig Wehr- dienstleistende zurzeit davon abhängig gemacht, dass die Leistungsverpflichtungen sechs Monate vor Beginn des freiwilligen Wehrdienstes bestehen. Ziel dieser derzeit bestehenden Regelung ist es, aus- zuschließen, dass freiwillig Wehrdienstleistende im Hin- blick auf zu erwartende Erstattungen während des frei- willigen Wehrdienstes gezielt Verträge abschließen. Durch diese starre Frist kam es jedoch in der Praxis regelmäßig zu Härten. Deswegen sollen in Zukunft Ver- träge nur dann grundsätzlich keine Berücksichtigung fin- den, wenn sie in Kenntnis eines bevorstehenden freiwil- ligen Wehrdienstes abgeschlossen werden. Diese Kenntnis erlangen freiwillig Wehrdienstleis- tende insbesondere durch einen schriftlichen oder elekt- ronischen Einplanungsvermerk des Karrierecenters der Bundeswehr. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf zu unterstützen. Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 100. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3, ZP 2 Nachtragshaushalt und Unterstützung von Kommunen TOP 4 Kleinanlegerschutzgesetz TOP 5 Geburtsrecht im Staatsangehörigkeitsrecht TOP 30, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren ZP 4 Aktuelle Stunde: Einfluss von Interessen-vertretern auf die Infrastrukturpolitik TOP 6 Jahresbericht 2014 des Wehrbeauftragten TOP 7 Grundfreibetrag, Kinderfreibetrag und -geld TOP 8 Bilanz des Krieges in Afghanistan TOP 9 Karenzzeit für Regierungsmitglieder TOP 10 Aufnahme syrischer und irakischer Flüchtlinge TOP 11 Verbraucherschutz im Datenschutzrecht TOP 16 Status Palästinas in der UNO TOP 13 Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten TOP 14 Fluglärm TOP 15 Einführung eines Ersatzpersonalausweises TOP 12 EU-Polizeimission in der Ukraine TOP 17 Personalrecht der früheren Bundespostbeamten TOP 19 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung TOP 20 Opferrechte im Strafverfahren TOP 21 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb TOP 22 Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810000000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich und bitte um Aufmerksamkeit für einige Mittei-
lungen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten.

Zunächst möchte ich im Namen des ganzen Hauses
der Staatsministerin Dr. Maria Böhmer zu ihrem heuti-
gen 65. Geburtstag gratulieren.


(Beifall)


Es ist nicht nur für Sie eine besondere Freude, Ihren Ge-
burtstag im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu-
mindest beginnen zu können. Auch wir freuen uns natür-
lich darüber.

In der Osterpause gab es einige besondere Geburts-
tage. So feierte der Kollege Heinz Wiese seinen 70. Ge-
burtstag und die Kollegen Lothar Binding und Diether
Dehm ihren 65. Geburtstag.


(Beifall)


Der Kollege Peter Gauweiler hat sein Bundestags-
mandat niedergelegt. Für ihn ist die Kollegin Iris Eberl
nachgerückt, die ich herzlich begrüßen möchte.


(Beifall)


Ich wünsche uns eine gute Zusammenarbeit.

Wir müssen nun noch eine Reihe von Wahlen durch-
führen.

Zunächst geht es um die Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des
Europarates. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, die
Kollegin Julia Obermeier als Nachfolgerin für den Kol-
legen Dr. Bernd Fabritius als ordentliches Mitglied und
den Kollegen Fabritius als Nachfolger für den Kollegen
Florian Hahn als persönliches stellvertretendes Mitglied
von Julia Obermeier zu wählen. Können Sie dem zu-
stimmen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
beiden Kollegen als Vertreter der Bundesrepublik in die
jeweiligen Funktionen gewählt.
Als Nächstes schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor,
für den Kollegen Norbert Barthle den Kollegen
Eckhardt Rehberg als Mitglied des Verwaltungsrates
der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu wählen. Darf
ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – Das ist of-
fenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Rehberg ge-
wählt.

Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor,
als Nachfolgerin für die Kollegin Daniela Ludwig die
Kollegin Anja Weisgerber als Mitglied des Stiftungs-
rates der Bundesstiftung Baukultur zu wählen. –
Auch hierzu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist die
Kollegin Dr. Weisgerber damit gewählt.

Schließlich müssen wir noch eine Schriftführerwahl
durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, die
Kollegin Birgit Menz als neue Schriftführerin zu wäh-
len. – Auch hierzu stelle ich allgemeines Einvernehmen
fest. Damit ist die Kollegin Menz als Schriftführerin ge-
wählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:

ZP 1 Vereinbarte Debatte

Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer

(siehe 99. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Katja Dörner, Oliver Krischer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Heute für morgen investieren – Damit unsere
Zukunft nachhaltig und gerechter wird

Drucksache 18/4689
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 30)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Gemeinsame Grundwerte stärken – Europa
stärken

Drucksache 18/4686
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte indigener Völker stärken durch Rati-
fikation der ILO-Konvention 169

Drucksache 18/4688
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:

Einfluss von Interessenvertretern auf die In-
frastrukturpolitik der Bundesregierung

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem
Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter
Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gedenken an den 100. Jahrestag des Völker-
mords an den Armeniern – Versöhnung durch
Aufarbeitung und Austausch fördern

Drucksache 18/4687
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele,
Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Zäsur und einen Neustart in der
deutschen Sicherheitsarchitektur
Drucksache 18/4690
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die europäische Sicherheitsstruktur retten –
Übereinkommen in Gefahr

Drucksache 18/4681

Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Tagesordnungspunkt 18 – hier geht es um die Stel-
lungnahme nach Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit be-
schränkter Haftung – soll abgesetzt werden.

Die Tagesordnungspunkte 12 und 16 sowie 23 und 25
tauschen unter Beibehaltung der vereinbarten Redezei-
ten jeweils ihre Plätze.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam:

Der am 20. März 2015 (95. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) und dem
Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera-
tung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Gesundheitsförderung und der Prä-
vention (Präventionsgesetz – PrävG)


Drucksache 18/4282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Ich frage Sie, ob Sie diesem Paket von Veränderungen
oder Verschiebungen in der Tagesordnung etwas abge-
winnen können. – Es ist überall Begeisterung zu erken-
nen. Dann ist das damit so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:

3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung eines Nachtrags zum Bun-
deshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2015 (Nachtragshaushaltsgesetz 2015)


Drucksache 18/4600
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Förderung von Investitionen finanzschwa-
cher Kommunen und zur Entlastung von
Ländern und Kommunen bei der Auf-
nahme und Unterbringung von Asylbe-
werbern

Drucksache 18/4653 (neu)

Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Katja Dörner, Oliver Krischer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Heute für morgen investieren – Damit unsere
Zukunft nachhaltig und gerechter wird

Drucksache 18/4689
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda

Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionel-
len Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen. – Dazu stelle
ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Nachtrags-
haushalts 2015 und dem Entwurf eines Gesetzes zur För-
derung von Investitionen finanzschwacher Kommunen
und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei der
Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern setzt
die Bundesregierung ihre Politik für eine größere Trag-
fähigkeit der öffentlichen Finanzen und für Wachstum
fort. Eine nachhaltige Finanzpolitik ist eine wesentliche
Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum. Dies beweist
die Politik der Bundesregierung seit Überwindung der
Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahre 2009.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Ergebnisse dieser Politik, die Wachstum fördert,
werden gerade in diesen Tagen noch deutlicher: Alle in-
ternationalen Institutionen haben die Prognosen für die
wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland angehoben.
Die Bundesregierung rechnet damit, dass wir in diesem
Jahr, nachdem wir im vergangenen Jahr ein reales
Wachstum von 1,6 Prozent hatten, ein reales Wachstum
von 1,8 Prozent erreichen können, und im kommenden
Jahr sind wir ebenfalls dazu in der Lage. Die Beschäfti-
gung in Deutschland ist auf einem Rekordstand, und die
Arbeitslosigkeit ist erfreulich niedrig. Dies alles zeigt,
beweist und unterstreicht, dass eine konsequente nach-
haltige Finanzpolitik einen wichtigen Beitrag leistet, um
nachhaltiges Wachstum und eine nachhaltige wirtschaft-
liche Entwicklung zu verstärken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit einer solchen Politik leisten wir wichtige Beiträge
zur Stärkung des Vertrauens bei Unternehmern, Investo-
ren und Konsumenten. Deswegen wird die wirtschaftli-
che Entwicklung in Deutschland im Wesentlichen durch
die Binnennachfrage, und zwar durch die Konsumnach-
frage, wie durch die Investitionen getragen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Mindestlohn!)


Mit dem Verzicht auf neue Schulden in Zeiten norma-
ler konjunktureller Auslastung leisten wir zugleich einen
Beitrag, die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haus-
halte zu verstärken, und das nutzen wir mit dem vorlie-
genden Gesetzespaket zur Verstärkung der Investitionen
beim Bund genauso wie bei den finanzschwachen Ge-
meinden. Das ist der eigentliche Zusammenhang.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen führt diese Finanzpolitik dazu, dass wir
uns in Richtung auf die Maastricht-Kriterien des euro-
päischen Stabilitäts- und Wachstumspakts hinbewegen.
Wir liegen bei der Schuldenstandsquote noch immer
deutlich über der Grenze des Maastricht-Vertrags. Wir
müssen also wissen, dass wir uns in diese Richtung be-
wegen. Aber wir sind eines der Länder in Europa, die
sich an die Regeln des europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakts halten. Wir leisten damit auch einen
Beitrag, anderen Ländern zu zeigen, dass diese Regeln
richtig sind und dass es sich für die Bevölkerung aus-
zahlt, wenn man sich an diese Regeln hält, weil eine bes-
sere Wirtschaftslage und eine bessere Lage am Arbeits-
markt das Ergebnis einer solchen Politik ist. Es gibt
keine bessere Alternative dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will gleich hinzufügen: Es gibt nicht den gerings-
ten Anlass, auch wenn wir derzeit eine gute wirtschaftli-
che Lage haben, in unseren Anstrengungen nachzulas-
sen. Die weltwirtschaftliche Entwicklung ist nach wie
vor durch eine Reihe von Risiken geprägt. Die Verände-
rungen der Wettbewerbssituation durch die Rahmenbe-
dingungen der Globalisierung – dazu gehört auch die Di-
gitalisierung der Wirtschaft – sind so rasend schnell,
dass jeder, der glaubt, er habe Anlass dazu, sich ein we-
nig selbstzufrieden zurückzulehnen, sehr schnell die Zu-
kunft verspielt. Genau deswegen machen wir das nicht.
Vielmehr haben wir zu Beginn dieser Legislaturperiode
verabredet – das setzen wir gemeinsam in der Koalition
um –, dass wir jeden Spielraum, den wir mit dieser Fi-
nanzpolitik erschließen, konsequent dazu nutzen, um die





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Investitionen zu stärken, die öffentlichen wie die priva-
ten. Wir arbeiten nicht nur an der Stärkung der öffentli-
chen Investitionen beim Bund, übrigens auch bei den
Ländern und bei den Kommunen, sondern genauso da-
ran, die Rahmenbedingungen für die privaten Investitio-
nen zu verstärken. Das ist die gemeinsame Bemühung
der Bundesregierung.

Weil wir alle Spielräume nutzen, um nachhaltig
Wachstum und Beschäftigung zu stärken, will ich daran
erinnern: Wir haben in den letzten Jahren die Ausgaben
für Bildung und Forschung in einem nie dagewesenen
Maße in der Bundesrepublik Deutschland erhöht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Im Jahr 2011 haben wir im Bundeshaushalt 14 Milliar-
den Euro für Bildung, Wissenschaft und Forschung aus-
gegeben. Im Haushalt 2016 steigern wir diese Ausgaben
auf 21 Milliarden Euro. Wir liegen bei den Ausgaben für
Forschung und Entwicklung im Verhältnis zum Brutto-
inlandsprodukt mit an der Spitze im Vergleich zu ande-
ren europäischen Ländern. Das ist der entscheidende
Schlüssel zur Stärkung dynamischer Wachstumskräfte in
unserer Volkswirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu gehört übrigens auch, obwohl das in den Ausga-
ben noch gar nicht enthalten ist, dass wir die Länder
durch die vollständige Übernahme der Leistungen für
das BAföG – es sind immerhin Kosten von jährlich
1,17 Milliarden Euro, die wir den Ländern abgenommen
haben, indem wir das BAföG vollständig aus dem Bun-
deshalt finanzieren – wiederum in ihrer prioritären Zu-
ständigkeit für Schule und Hochschule stärken; denn sie
haben sich verpflichtet, alle diese Mittel, die sie für das
BAföG nicht aufwenden müssen, in Schule und Hoch-
schule zu investieren. Auch von daher leistet die Bun-
desregierung einen entscheidenden Beitrag, dass wir in
unserem Land die Mittel für Bildung, Wissenschaft und
Forschung konsequent, nachhaltig und kontinuierlich
steigern.

Daneben konzentrieren wir uns auf die Stärkung der
Investitionen. Wir wollen die öffentlichen Investitionen
verstärken, und wir stimulieren damit zugleich die In-
vestitionen im privatwirtschaftlichen Bereich. Mit dem
vorliegenden Paket setzen wir zunächst einmal um, dass
wir insgesamt im Bundeshaushalt im Zeitraum der mit-
telfristigen Finanzplanung die investiven Ausgaben um
weitere 10 Milliarden Euro erhöhen, und wir leisten da-
rüber hinaus mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu-
gleich einen Beitrag, dass finanzschwache Kommunen
insgesamt ihre investiven Leistungen erhöhen können.

Die Kommunen sind von den Ebenen Bund, Länder
und Kommunen die wichtigste Ebene für Investitionen.
Sie hatten in den beiden vergangenen Jahren eine hohe
Investitionstätigkeit. Sie haben insgesamt – einschließ-
lich der Extrahaushalte – ihre Investitionen um über
15 Prozent gesteigert, davon im Wesentlichen Bauinves-
titionen. Aber die Finanzkraft der Kommunen ist unter-
schiedlich entwickelt. Durchschnittszahlen hervorzuhe-
ben, hilft den schwächeren Kommunen nicht. Deswegen
hat sich die Bundesregierung entschieden, die Finanz-
kraft der Kommunen, gerade der schwächeren Kommu-
nen, konsequent zu stärken.

Der Sinn dieses Gesetzentwurfes ist, einen Fonds auf-
zulegen, mit dem wir finanzschwächere Kommunen in
ihrer Investitionskraft konsequent stärken. Damit leisten
wir wiederum einen wichtigen Beitrag nicht nur zur
Stärkung der kommunalen Ebene, sondern auch zur Stär-
kung der Finanz- und Investitionskraft der Wirtschaft in
unserem Lande insgesamt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal sa-
gen, dass wir mit diesem Paket insgesamt die öffentli-
chen Investitionen im Zeitraum von 2014 bis 2018 um
über 40 Milliarden Euro steigern. Das sind rund 1,3 Pro-
zent unseres Bruttoinlandsproduktes. Deswegen steigern
wir unsere Investitionsquote im Verhältnis zum Bruttoin-
landsprodukt im internationalen Vergleich. So viel zu
manchen internationalen Debatten, die durch Zahlen-
und Faktenkenntnisse nicht immer allzu sehr beeinträch-
tigt werden. Es ist wichtig, das gelegentlich einmal zu
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich weiß, dass leistungsfähige Kommunen die Grund-
lage eines leistungsfähigen Gemeinwesens gerade in ei-
nem föderalen System sind. Gelegentlich muss man da-
ran erinnern, dass nach der Ordnung des Grundgesetzes
die Zuständigkeit für die Kommunen bei den Ländern
liegt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Diese Zuständigkeit achtet die Bundesregierung voll-
ständig.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Wir müssen ja immer darauf achten, dass wir im Rah-
men der Zuständigkeitsverteilung unseres Grundgeset-
zes unsere Aufgaben jeweils wahrnehmen. Insofern will
ich sagen: Die Bundesregierung zeigt, dass sie sich ihrer
Verantwortung für die kommunale Ebene insgesamt
durchaus bewusst ist. Wir haben in den letzten Jahren
mit einer Vielzahl von Maßnahmen die Finanzkraft der
Kommunen entscheidend erhöht. Wir haben die Kom-
munen durch die vollständige Übernahme der Kosten für
die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
erheblich entlastet.

Wir werden weitere Maßnahmen ergreifen. Wir stärken
nicht nur mit der 1 Milliarde Euro, die wir im Koalitions-
vertrag vereinbart haben, sondern auch mit zusätzlichen
1,5 Milliarden Euro im Jahre 2017 die Leistungskraft der
Kommunen. Darüber hinaus legen wir diesen Fonds auf,
mit dem finanzschwache Kommunen in ihrer Investi-
tionskraft entscheidend gestärkt werden. Das alles zeigt,
dass die Bundesregierung insgesamt konsequent eine
Politik zur Stärkung von Kommunen und Ländern be-
treibt. Ich behaupte, es hat niemals in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland eine Regierungszeit gege-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

ben, in der die Bundesregierung die Kommunen stärker
unterstützt hat als diese Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Kriterien für die Qualifikation der Kommunen für
diese Investitionshilfen sind im Wesentlichen eine Mi-
schung aus Einwohnerzahl, Kassenkreditbeständen und
Anzahl der Arbeitslosen. Das zeigt: Die Kommunen, die
in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage sind, sollen
diese Mittel erhalten. Wir erwarten natürlich, dass die
Länder in ihrer Verantwortung dafür sorgen, dass die
Mittel durch die Kommunen zügig in Anspruch genom-
men werden können. Die Investitionsschwerpunkte müs-
sen sein – das ist nach der Ordnung des Grundgesetzes un-
sere Zuständigkeit –: Infrastruktur, Bildungsinfrastruktur
– hier mit dem Schwerpunkt auf energetischer Sanierung
von Bildungseinrichtungen –, Klimaschutz. Damit haben
wir unseren vom Grundgesetz gegebenen Rahmen voll-
ständig ausgeschöpft.

Ich will in diesem Zusammenhang auch erwähnen,
dass wir uns unserer Verantwortung für die Länderfinan-
zen durchaus bewusst sind. Ich sage das auch im Hin-
blick auf die Notwendigkeit, dass wir uns in den kom-
menden Wochen und Monaten dringend gesamtstaatlich
auf die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen ab Ende 2019 einigen müssen. Das werden schwie-
rige Verhandlungen sein. Da gibt es sehr unterschiedli-
che Interessen. Aber wir alle, Länder und der Bund,
haben eine gesamtstaatliche Verantwortung, und wir
müssen rechtzeitig die Weichen stellen, dass auch nach
2019, nach dem Auslaufen des Solidarpakts II, Klarheit
herrscht, wie die Entwicklung weitergeht.

Ich will im Übrigen angesichts der vielfältig drängen-
den Debatte, die wir im Augenblick führen, hinzufügen:
Die Bundesregierung hat vor kurzem mit den Ländern
vereinbart, dass sie den Ländern 500 Millionen Euro in
diesem Jahr und im kommenden Jahr an zusätzlichen
Leistungen zur Verfügung stellt – auch das ist in dem
Gesetzespaket enthalten –, damit die Länder mit der gro-
ßen Aufgabe, die wachsende Zahl von Menschen, die in
unserem Land Zuflucht sucht, unterzubringen, vom
Bund nicht alleingelassen werden; vielmehr wollen wir,
der Bund, somit unseren Anteil an gesamtstaatlicher
Verantwortung wahrnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dies alles, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dient
dem Ziel, auf dem Pfad der nachhaltigen wirtschaftli-
chen Entwicklung zu bleiben und damit in einer schwie-
rigen Zeit, bei einer nicht unproblematischen demografi-
schen Entwicklung die Leistungen für die Menschen in
unserem Land auch in der Zukunft erbringen zu können.

Ich will in diesem Zusammenhang wiederholen: Wir
sollten nicht glauben, dass wir uns auf der guten Lage
ausruhen können. Wenn wir uns den hohen Anteil an So-
zialleistungen in unserem Land weiter leisten wollen
– über 50 Prozent des Bundeshaushalts entfallen auf So-
zialleistungen –, müssen wir dafür sorgen, dass eine leis-
tungsfähige Wirtschaft die Voraussetzungen dafür er-
bringt, also die Mittel dafür erwirtschaftet. Nur so
werden wir den hohen Stand sozialer Sicherheit für die
Menschen in unserem Land bei einer schwieriger wer-
denden demografischen Entwicklung in der Zukunft er-
halten können.

Darin begründet sich die Politik der Stärkung von In-
vestitionen, privaten wie öffentlichen Investitionen, mit
der Priorität auf Bildung und Forschung sowie Innova-
tion. Durch stärkere Entbürokratisierung und Beschleu-
nigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren gilt
es, dafür zu sorgen, dass Investitionen auch realisiert
werden; es genügt nicht, nur Mittel bereitzustellen. Es
gilt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Bundesrepublik Deutschland, die heute in einer guten
Lage ist, auch für die Zukunft gute Perspektiven hat.
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte ich
Sie um Zustimmung zu den hiermit eingebrachten Ge-
setzentwürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810000100

Das Wort erhält nun der Kollege Dietmar Bartsch für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Ein paar lobende Worte für den Nachtragshaushalt)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810000200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Oppermann ruft gerade: „Ein paar lobende Worte für den
Nachtragshaushalt!“


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will schon sagen, dass die Grundrichtung nicht ver-
kehrt ist; das ist ja unbestritten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darauf, dass Deutschland mehr investieren muss und
dass die Lage der Kommunalfinanzen teilweise verhee-
rend ist, haben Wirtschaftsexperten in Deutschland und
in der EU hingewiesen. Darauf hat die Opposition Sie
auch mehrfach in Debatten hingewiesen. Sogar Abge-
ordnete der die Regierung tragenden Fraktionen weisen
in Hinterzimmern immer wieder darauf hin, dass dort
Defizite sind. Aber das, was Sie hier tun, ist völlig unzu-
reichend.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich nehme mal das DIW als Maßstab. Das DIW
– wahrhaftig nicht links – sagt, dass wir einen zusätzli-
chen Investitionsbedarf von 75 Milliarden Euro pro anno
haben. Das ist die Zahl, die der Maßstab ist. Mit jedem
Tag des Ausbleibens von Investitionen verfällt die Infra-
struktur in Deutschland. Zentrale Zukunftsfragen müs-
sen viel konsequenter angegangen werden. Wissenschaft
und Forschung, Schulen, Klimaschutz – das sind die Be-
reiche, für die der Nachtragshaushalt eine Chance gebo-
ten hätte.





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)

Zum Beispiel: Sie kündigen an, dass Sie innerhalb
von drei Jahren für die öffentliche Verkehrsinfrastruktur
und die digitale Infrastruktur 4,4 Milliarden Euro einset-
zen wollen. Allein für den Ersatz von Verkehrsinfra-
struktur benötigen wir 3,8 Milliarden Euro pro anno. Das
heißt, dass Sie über die digitale Infrastruktur im Prinzip
sehr viel reden, aber real nicht handeln. Als jemand, der
aus Mecklenburg-Vorpommern kommt, kann ich Ihnen
sagen: Unternehmen und auch viele Menschen beschwe-
ren sich immer wieder, dass wir da weiter rückständig
sind. Das ist eine Aufgabe, die Sie in Angriff nehmen
sollten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das, was Sie machen, ist nicht mehr als der Versuch,
Risiken und Nebenwirkungen Ihrer seit Jahren verfehl-
ten Politik ein Stück weit zu bekämpfen. Um das Land
zukunftsfähig zu machen, braucht es mehr Entschlossen-
heit und deutlich mehr Investitionen. Wann, frage ich
mich, wollen Sie das eigentlich machen? Sie haben ges-
tern das prognostizierte Wirtschaftswachstum nach oben
gesetzt. Wir haben eine Situation der absolut niedrigen
Zinsen. Das ist doch die Gelegenheit, hier mehr zu tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das wäre die große Chance, jetzt im Nachtragshaushalt
etwas zu machen.

Dann haben Sie hier über die Kommunen gesprochen.
Sie wollen jetzt einen Kommunalinvestitionsförderungs-
fonds mit 3,5 Milliarden Euro schaffen. Das ist völlig in
Ordnung; natürlich brauchen die Kommunen in Ost und
West mehr Geld – unbestritten. Aber die kommunalen
Kernhaushalte sind derzeit mit 130 Milliarden Euro ver-
schuldet, und der Investitionsstau bei den Kommunen
beträgt 120 Milliarden Euro, meine Damen und Herren.
Da wundert es natürlich nicht, dass niemand in den
Kommunen etwa in Jubelschreie ausbricht. Die nehmen,
was völlig in Ordnung ist, das Geld. Aber das, was Sie
hier anbieten, ist völlig unzureichend.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will – Carsten Schneider kann ja nachher darauf
eingehen – eine kleine Zusatzfrage stellen. Sie haben
diesmal nicht den Königsteiner Schlüssel, sondern ein
anderes Verfahren gewählt. Komischerweise bekommt
ausgerechnet Thüringen – ich weiß gar nicht, warum –
deutlich weniger Geld, als es nach dem Königsteiner
Schlüssel bekommen würde.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Überraschung!)


Vielleicht können Sie aber darauf eingehen, welche
Gründe es dafür gibt.

Entscheidend ist, dass Sie mit dem Nachtragshaushalt
die Probleme der Kommunen und der Länder in keiner
Weise lösen. Ich habe, Herr Schäuble, mit Interesse zur
Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, es sei ganz
dringlich, dass die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu
geregelt werden. Ich fordere hier aber ein, dass wir die
Position der Bundesregierung dazu kennen und dass wir
das auch hier im Deutschen Bundestag behandeln. Gilt
denn das Schäuble/Scholz-Papier noch? Wir müssen hier
– und nicht in Hinterzimmern – darüber reden. Wir ha-
ben ein Recht darauf, dieses Thema in diesem Haus auf-
zurufen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zum Thema
Flüchtlinge machen. Es steht außer Frage, dass Deutsch-
land auf diesem Gebiet in den letzten Jahren – auch im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern – viel ge-
macht hat. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass wir
all denjenigen, die sich in Kommunen engagieren – da
gibt es viele ehrenamtliche Helfer –, gemeinsam lieber
einmal mehr als einmal zu wenig für ihr Engagement
danken sollten.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich war mit einigen Kollegen hier aus dem Haus in
der letzten Woche im Nahen und im Mittleren Osten. Da
habe ich unter anderem auch diverse Flüchtlingslager
gesehen. An der jordanischen Grenze zu Syrien war ich
in einem Lager mit über 80 000 Flüchtlingen. Dort gibt
es sehr viele Kinder. Die Bedingungen sind teilweise ka-
tastrophal. Ich habe – Herr Kauder war vor mir da – ein
christliches Flüchtlingslager in Erbil gesehen. Auf engs-
tem Raum sind dort Menschen unter teilweise katastro-
phalen Bedingungen untergebracht. Ich habe mit Jesiden
geredet, die ihre Heimat verlassen mussten. Dort gibt es
viele traumatisierte Frauen.

Wer das alles gesehen hat, findet die Diskussion, die
wir hier teilweise führen, wirklich kleingeistig und inhu-
man. Wir sollten bei der Frage der Aufnahme von
Flüchtlingen in Europa eine Führungsrolle einnehmen –
nicht wenn es um Militär und Ähnliches geht.


(Beifall bei der LINKEN)


Zeigen Sie hier doch einmal mit dem Nachtragshaushalt,
dass wir das können, dass wir bereit sind, in dieser Situa-
tion auch finanzielle Mittel einzusetzen. Die Prognosen
gehen jetzt bis hin zu 500 000 Flüchtlingen. Der Nach-
tragshaushalt wäre eine Chance gewesen, hier wirklich
auch für die Länder und Kommunen etwas zu tun. Sie
wissen doch, dass die Länder und Kommunen das nicht
stemmen können, wenn es 500 000 Flüchtlinge werden.
Deshalb fordern wir, dass 2 Milliarden Euro eingesetzt
werden. Der Nachtragshaushalt wäre da eine Chance.
Das wäre ein Zeigen von Führungsqualität in Europa.
Damit könnte auch ein Beispiel für andere europäische
Länder gesetzt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Geld, das jetzt dafür vorhanden ist, reicht nicht aus.

Wir haben gestern in einer Schweigeminute gemein-
sam der Flüchtlinge gedacht. Aber gerade im 70. Jahr
der Befreiung vom Faschismus und gerade angesichts
unserer wechselvollen Geschichte sollten wir dieses
Thema in anderer Weise behandeln und deutlich ma-
chen, dass wir dafür auch ausreichende finanzielle Mittel





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)

bereitstellen – auch in Kenntnis der Tatsache, dass die
Übergriffe auf Ausländer, auf Unterkünfte der Asylbe-
werber zugenommen haben und dass Menschen, die im
Ehrenamt diese Willkommenskultur, von der wir alle
sprechen, leben, eben nicht wenige Probleme haben. Da-
gegen müssen wir alle entschlossen agieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist überhaupt nicht hinnehmbar, wenn der General-
sekretär einer immerhin regierungstragenden Partei, der
CSU, sagt, das Asylrecht sei nicht für Sozialtouristen ge-
macht, die einen Freifahrtschein ins „All-inclusive-So-
zialparadies“ buchen wollen. Das ist eine skandalöse
Äußerung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage mich, wieso vonseiten der Bundesregierung
nicht einmal klare Äußerungen gegen einen solchen Un-
sinn kommen. Das ist nicht zu akzeptieren. Es kommen
keine Kostenfaktoren zu uns, sondern Menschen in
höchster Not um Leib und Leben, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Flüchtlinge sind die Botschafter des schreienden
Unrechts und der Kriege auf dieser Welt.

Deshalb: Der Nachtragshaushalt ist notwendig. Bei
Zukunftsinvestitionen müsste geliefert werden. Bei der
Lage der Flüchtlinge müssten Sie mit ganz anderen Di-
mensionen herangehen. Statt Gesellschaft und Zukunft
zu gestalten, ist es so, dass die Koalition hier erneut nur
mit dem Anspruch eines Reparaturnotdienstes auftritt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810000300

Carsten Schneider ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1810000400

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr

Präsident! Als diese Koalition vor eineinhalb Jahren ihre
Arbeit aufgenommen hat, haben wir uns natürlich auch
intensiv um die Finanzpolitik gekümmert. Wir haben
festgelegt, dass wir so schnell wie möglich Haushalte
aufstellen wollen, die ohne Neuverschuldung auskom-
men, und dass wir zusätzlich 23 Milliarden Euro – diese
Zahl wurde damals genannt – zur Entlastung der Länder-
haushalte und im Bildungsbereich investieren wollen.
Darin waren auch 5 Milliarden Euro für Investitionen in
die Verkehrsinfrastruktur enthalten.

Nun, eineinhalb Jahre später, haben wir bereits für das
Jahr 2014 im Vollzug einen ausgeglichenen Haushalt er-
reicht, sogar mit Überschüssen. Voriges Jahr haben wir
auch für 2015 einen Haushalt ohne Neuverschuldung be-
schlossen. Dabei sind wir von einem geringeren Wachs-
tum ausgegangen, als es nun der Fall ist. Der Bundes-
wirtschaftsminister hat gestern die Wachstumsprognose
für 2015 und 2016 auf 1,8 Prozent hochgesetzt. Dieser
Wert ist ein bisschen höher als der unseres Potenzial-
wachstums. Das zeigt: Wir profitieren von externen Fak-
toren wie dem niedrigen Ölpreis, dem niedrigen Euro-
Kurs, den niedrigen Zinsen, aber auch davon – das ist
der Schlüssel –, dass wir eine sehr konsequente, solide
Finanzpolitik machen, auf die sich die Leute verlassen
können. Dass sie sich darauf verlassen können, bringt
uns Spielräume.

Jetzt stellt sich die Frage: Was machen wir mit den fi-
nanziellen Spielräumen, die wir durch die gute Wirt-
schaftsleistung – ich sage: auch durch die gestiegene
Binnennachfrage, die ihre Ursache in der Einführung ei-
nes gesetzlichen Mindestlohns hat, weil die Leute wie-
der mehr Geld verdienen und Steuern zahlen können –
zur Verfügung haben?


(Beifall bei der SPD)


Was machen wir mit diesen zusätzlichen Mitteln? Ich
will auf meine Reden hier im Haus zum Haushalt 2015
verweisen. Ich habe bereits damals auf die bestehende
Investitionslücke sowohl im privaten als auch im öffent-
lichen Bereich hingewiesen. Es gab darüber einen Dis-
sens.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Genau!)


Ich kann mich an gegenteilige Veröffentlichungen aus
dem Bundesfinanzministerium erinnern. In der Frank-
furter Allgemeinen Zeitung stand – ich weiß nicht, woher
die Überschrift kommt; aber irgendwie muss sie ja Be-
lang haben –, dass die CDU an einer Investitionslücke
zweifelt. Ich halte diese Einschätzung für falsch und
glaube auch nicht, dass sie gerechtfertigt ist; aber zumin-
dest entsteht ein entsprechender Eindruck. Wir als So-
zialdemokraten sagen jedenfalls klar: Wenn wir zukünf-
tig unseren Wohlstand sichern wollen, dann müssen wir
sowohl in die private als auch in die öffentliche Infra-
struktur investieren. Denn nur wenn wir heute investie-
ren, wird es uns auch in der Zukunft, in fünf oder zehn
Jahren, gelingen, bei Produkten und Wettbewerbsfähig-
keit an der Spitze der Welt zu sein und dadurch letztend-
lich gut bezahlte Arbeitsplätze zu sichern.


(Beifall bei der SPD)


So können wir die privaten Investitionen durch Rahmen-
bedingungen steuern.

Die öffentlichen Investitionen haben wir aber direkt
in der Hand. Das ist unsere Verantwortung. Deswegen
legt die Regierung heute hier einen Nachtragshaushalt
vor – er ist natürlich auch unter Beteiligung des Parla-
ments aufgestellt worden –, über den wir in den nächsten
Wochen beraten und entscheiden werden. Er sieht zwei
entscheidende Maßnahmen vor.

Erstens. Die Bundesinvestitionen in die digitale Infra-
struktur und die Verkehrsinfrastruktur werden in den
nächsten drei Jahren um 10 Milliarden Euro erhöht, zu-





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)

sätzlich zu allem, was wir bisher schon vereinbart haben.
Das ist eine klare Richtung, für mehr Substanzerhalt, für
mehr Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Deswegen be-
grüße ich diesen Vorschlag.

Der zweite Punkt betrifft die kommunale Infrastruk-

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1810000500

Der Großteil der Investitionen in Deutschland wird von
den Kommunen getätigt. In den vergangenen Jahren – da
gebe ich Herrn Kollegen Bartsch recht; er zitierte aus
Studien des Städte- und Gemeindebundes und von Wirt-
schaftsforschern – gab es Kommunen, die investiert ha-
ben, und manche, die deutlich zu wenig investiert haben,
insbesondere diejenigen, die unter enormen Soziallasten
leiden. Wir greifen jetzt diesen Kommunen unter die
Arme, indem wir ihnen zusätzlich 3,5 Milliarden Euro
für Investitionen zur Verfügung stellen. Ich hoffe und er-
warte, dass die Länder das nicht nur kofinanzieren, son-
dern dieses Geld auch an die Städte und Gemeinden wei-
tergeben. Denn auch unter dem Gesichtspunkt – Kollege
Bartsch hat auf die Flüchtlingsströme hingewiesen –,
dass wir in den nächsten Jahren große Anstrengungen
unternehmen müssen, um Flüchtlinge aufzunehmen und
zu integrieren – Integration ist fast genauso wichtig –,
muss die Leistungsbereitschaft der Kommunen gewähr-
leistet sein. Wenn, wie in meiner Heimatstadt, erst ein-
mal Turnhallen zur Unterbringung genutzt werden müs-
sen, dann sinkt irgendwann auch die Bereitschaft der
Bevölkerung – sie ist noch in großem Maße vorhanden –,
die Flüchtlinge mit offenen Armen aufzunehmen. Das
müssen wir verhindern. Es ist eine nationale Aufgabe,
dass sie mit offenen Armen in der Gesellschaft aufge-
nommen werden und dass die Kommunen nicht überfor-
dert werden. Deswegen ist dieses Investitionsprogramm
der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Abschluss möchte ich noch etwas zu den priva-
ten Investitionen sagen. Diese machen insbesondere bei
den Unternehmensinvestitionen den absoluten Hauptteil
aus. Der Anteil des Staats liegt, bezogen auf die privaten
Unternehmensinvestitionen, bei 10 bis 20 Prozent. Be-
zogen auf das Bruttoinlandsprodukt, gehen diese Investi-
tionen in den letzten Jahren zurück. Das ist ein alarmie-
rendes Zeichen; denn wenn Unternehmen heute zu
wenig in die Zukunftsfähigkeit von Produkten investie-
ren, dann fehlt ihnen in zehn Jahren auf dem Weltmarkt,
auf dem wir derzeit noch in vielen Bereichen führend
sind, die Fähigkeit, Produkte zu guten Preisen zu verkau-
fen und unseren Wohlstand zu sichern.

Man stellt sich die Frage: Woran liegt das eigentlich?
Dann muss man sich nur einmal die Gewinnausschüttun-
gen anschauen, gerade bei den großen DAX-Konzernen.
Wir haben hier ein Rekordhoch bei den Dividendenaus-
schüttungen zu verzeichnen. Wenn bei den Unternehmen
nur noch der Börsenkurs im Mittelpunkt steht, wenn sie
möglichst kurzfristig ihren Kurswert steigern, indem sie
hohe Dividendenausschüttungen quasi als Alternative zu
den mangelnden Zinseinnahmen generieren, dann ist das
eine gefährliche Situation. Es kann nicht sein, dass wir
eine satte Gesellschaft werden, die auf Dauer nur noch
davon lebt, dass die Unternehmen Dividenden ausschüt-
ten, und dass Unternehmenserben davon leben, dass die
Unternehmen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf-
gebaut worden sind, Gewinne ausschütten, ohne in die
Zukunft zu investieren. Das ist eine große Herausforde-
rung. Alles, was wir als Politik tun können, was zum
Beispiel die Rahmengesetzgebung bei der Energie, aber
auch bei den Steuern betrifft, muss darauf gerichtet sein,
dass wir Unternehmen in die Lage versetzen, wieder
mehr in die Zukunft zu investieren, als sie es derzeit ma-
chen. Das ist im Übrigen auch eine Antwort auf die
europäische Frage, was wir gegen zu geringe Unterneh-
mensinvestitionen tun können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810000600

Herr Kollege.


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1810000700

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Wir beraten in den nächsten Wochen über diesen
Nachtragshaushalt. Auch der Verteilungsschlüssel wird
– Kollege Bartsch hat darauf hingewiesen – Bestandteil
dieser Beratungen sein und ist im Zusammenhang mit
der zukünftigen Finanzverteilung zwischen Bund und
Ländern zu sehen; der Minister hat darauf hingewiesen.
Auf diese Debatte freue ich mich sehr.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810000800

Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Andreae für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810000900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von

der Koalition, manchmal wünsche ich mir ein bisschen
Demut. Sie haben wirklich viel Glück. Sie profitieren bis
zum Jahr 2019 von niedrigen Zinskosten in Höhe von
32 Milliarden Euro.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Glück hat nur der Tüchtige! Das wissen Sie!)


Sie profitieren von einem niedrigen Ölpreis, der wie ein
Konjunkturpaket mit einem Volumen von 20 Milliarden
Euro wirkt. Sie profitieren bis 2019 von zusätzlichen
Steuereinnahmen von mindestens 100 Milliarden Euro.
Angesichts dessen ist das, was Sie uns hier als Nach-
tragshaushalt für zusätzliche Investitionen im öffentli-
chen und privaten Bereich vorlegen, lächerlich gering.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der große Wurf bleibt schlicht aus.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben doch gerade Demut gefordert!)






Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

Trotz aller Lippenbekenntnisse bleibt die Investitions-
quote bei unter 10 Prozent. Wir weisen Ihnen nach, dass
es anders geht: schneller, mehr und zukunftsfähig. Sie
haben Zeit vertrödelt. Wir haben keine Expertenkom-
mission dafür gebraucht, um zu sehen, dass die Infra-
struktur zerfällt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Läuft man einmal mit offenen Augen durch die Welt,
sieht man es nämlich.

Aber für Europa ist es noch schlimmer, dass Sie Zeit
vertrödelt haben. Europas Krisenländer brauchen jetzt
schnelle wirtschaftliche Impulse, damit die Reformen
greifen, damit das Vertrauen zurückkehrt und damit die
Konjunktur anspringt. Deswegen haben wir ganz früh
gesagt: Das reiche Deutschland, das in der derzeitigen
Situation so profitiert, soll sich direkt und sofort mit
12 Milliarden Euro am Juncker-Plan beteiligen, damit
die anderen Länder auch nachziehen. Das wäre der rich-
tige, schnelle Schritt gewesen. Den haben Sie leider ver-
säumt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir weisen Ihnen auch nach: Es geht viel mehr. Wir
legen Ihnen ein Investitionsprogramm im Umfang von
45 Milliarden Euro für die Jahre 2015 bis 2018 vor – so-
lide finanziert, ohne neue Schulden, mit dem Abbau um-
weltschädlicher Subventionen, was angesichts der He-
rausforderungen des Klimaschutzes absolut notwendig
ist,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und mit Entrümpelung bei unsinnigen Milliardenprojek-
ten. Denn bei Ihnen stimmt die Richtung nicht, auch
nicht die Richtung dieses Nachtragshaushaltes und die
Richtung der Investitionsvorschläge, die Sie uns vorle-
gen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie wollen doch die Steuern erhöhen!)


Wir fordern Investitionen in Köpfe, in Bildung, in Wis-
senschaft und in forschende Unternehmen. Über die
Hälfte Ihres Paketes, 4,3 Milliarden Euro, fließt in
Dobrindts Haushalt. Und was wird daraus folgen? Die
übliche Spatenstichpolitik dieser Koalition, neue Mil-
liarden für mehr Beton!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Zukunft liegt nicht in neuen Straßen; Innovation
geht anders.

Ein innovativer Standort muss etwas für seine Hoch-
schulen tun, von den Hörsälen über die Bibliotheken bis
hin zu den Forschungsgeräten. Wir brauchen mehr junge
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die hier auch
bleiben wollen. Im Nachtragshaushalt der Regierung ste-
hen null Euro für Wissenschaft – null Euro! Dabei ist
Wissen moderne Infrastruktur. Das ist unsere Ressource;
das ist, was wir haben, was wir können. Da müssen Sie
investieren. Nach wie vor erfüllen Sie nicht den An-
spruch der OECD an die Industriestaaten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es ist noch nie so viel wie heute investiert worden!)


Ein innovativer Standort setzt auf Ideenreichtum, auf
Erfindergeist. Sie alle haben im Wahlkampf die steuerli-
che Forschungsförderung gefordert. Eine 15-prozentige
Steuergutschrift für kleine und mittlere Unternehmen
muss jetzt endlich kommen. Deutschland investiert in
Start-ups der digitalen Wirtschaft gerade einmal 750 Mil-
lionen Euro, Israel 2 Milliarden Euro,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja, durch das Militär! Sagen Sie es, wie es ist!)


die USA 50 Milliarden Euro, und das jedes Jahr. Wollen
Sie ernsthaft, dass Deutschland neben Estland das ein-
zige OECD-Land ist, das keine steuerliche Forschungs-
förderung hat?


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Eben wollten Sie noch Subventionen abbauen!)


Sigmar Gabriel hat gesagt, er setze die Vorschläge der
Fratzscher-Kommission um. Die Fratzscher-Kommis-
sion fordert die steuerliche Forschungsförderung. Auf
geht’s! Tun Sie das!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommen Sie mit einem Sondervermögen von
3,5 Milliarden Euro für finanzschwache Kommunen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Ja, gut! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut! Selbst die Linken haben das begrüßt!)


Die Richtung stimmt, mehr nicht. Der Investitionsstau,
der Bedarf in den Kommunen ist doch gigantisch.
Schauen Sie sich die Schulen dieses Landes an!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Sache der Länder!)


Das durchschnittliche Parkhaus in der Stadt ist in der Re-
gel in einem besseren Zustand als die Schule nebenan.


(Gustav Herzog [SPD]: Wann waren Sie das letzte Mal in einer Schule?)


In manchen Schulen ist es im Winter entweder 15 Grad
kalt oder 30 Grad warm, weil keine vernünftige Heizung
existiert. Wir sagen Ihnen: Machen Sie die Schulen fit
für die Zukunft, damit die Kinder gut lernen können!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das dürfen wir ja gar nicht! Dafür sind wir gar nicht zuständig! Das soll Herr Kretschmann machen! Der hat genug Kohle!)


Wissen ist unsere Ressource.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen Ihnen vor, heute für morgen zu investie-
ren, in Ganztagsplätze in den Kitas, in Qualifizierung
und Beratung von Langzeitarbeitslosen ebenso wie von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie Gedulde-
ten und in neue Mobilitätskonzepte, damit die Mobilität
zukunftsfähig wird. Heute gibt es so viele Pkws, dass





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

alle Deutschen auf den Vordersitzen Platz nehmen kön-
nen. So funktioniert Personennahverkehr nicht mehr.
Schaffen Sie neue Mobilitätskonzepte! Forschen Sie in
diese Richtung! Bringen Sie die Elektromobilität endlich
erfolgreich auf den Weg! Das ist, was Sie tun müssen;
das sind Zukunftsinvestitionen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wirtschaftsminister Gabriel hat die Investitionslücke
erkannt. Wir erwarten, dass er im Übrigen auch dem
Finanzminister hier die Augen öffnet. Es war wirklich
seltsam, dass auf einmal die Investitionslücke infrage
gestellt wurde. Natürlich geht es um mehr Investitionen
im öffentlichen und auch im privaten Bereich. Dass Un-
ternehmen nicht investieren, zum Beispiel nicht in die
Energiewende und den Netzausbau, liegt doch unter an-
derem daran, dass absolute Planungsunsicherheit
herrscht, weil zum Beispiel Ministerpräsident Seehofer
nach wie vor im ganzen Land verkündet: Bei mir aber
nicht! Wer soll denn da investieren? Wenn die privaten
Investoren nicht wissen, wohin diese Bundesregierung
bzw. wohin dieses oder jenes Bundesland will, dann
werden sie auch nicht in die Netze investieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind mutiger. Wir investieren in Zukunft. Wir
brauchen keine Kommission. Vielmehr brauchen wir
eine Regierung, die die vorhandenen Handlungsspiel-
räume nutzt und die sich nicht ausruht. Wir brauchen je-
manden, der jetzt für morgen handelt. Wir haben Ihnen
unseren Zukunftsinvestitionsplan vorgelegt. Den schen-
ken wir Ihnen; dann können Sie etwas daraus machen.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ach Gott! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Frau Böhmer hat heute Geburtstag! Die freut sich bestimmt!)


Hier sind unsere Vorschläge. Sie können zehn Punkte
herausnehmen und umsetzen. Es geht um mehr Investi-
tionen in die Zukunftsfähigkeit und in die Wettbewerbs-
fähigkeit unseres Landes. Hören Sie auf, zurückzu-
schauen! Schauen Sie nach vorne!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001000

Das Wort hat nun der Kollege Ralph Brinkhaus für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1810001100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

Nachtragshaushalt ist oft eine unerfreuliche Sache. Die-
ses Mal ist es eine sehr erfreuliche Sache; denn wir in-
vestieren mehr, und wir tun etwas für die Kommunen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass das gut ist, hat man an den Beiträgen der Opposi-
tion gesehen. Der sonst von mir geschätzten Kollegin
Andreae ist nichts Besseres eingefallen, als alles das,
was die Grünen irgendwann einmal verkocht haben,
wieder aufzuwärmen. Das war keine Kritik an unserem
Vorschlag, sondern ein buntes Panoptikum, das nichts,
aber auch gar nichts mit dem Nachtragshaushalt, mit un-
seren Investitionen und mit der Stärkung der Kommunen
zu tun hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um was geht es? Erstens. Wir bringen mit diesem
Nachtragshaushalt ein Investitionspaket im Umfang von
7 Milliarden Euro auf den Weg. Diese 7 Milliarden Euro
werden zu zwei Dritteln in den Bereich Verkehr und di-
gitale Infrastruktur fließen. Das ist gut, richtig und not-
wendig. Wir tun aber auch andere sinnvolle Sachen: für
den Klimaschutz, für die Energieeffizienz und auch für
die Städtebauförderung. Zusätzlich zu diesen 7 Milliar-
den, die wir mit diesem Nachtragshaushalt zur Verfü-
gung stellen, gibt es ein 3-Milliarden-Paket, das in den
nächsten Jahren die Investitionskraft der einzelnen
Ministerien stärken wird. Insgesamt stellen wir also
10 Milliarden Euro zur Verfügung.

Zweitens. Wir bringen ein kommunales Investitions-
paket im Volumen von 3,5 Milliarden Euro auf den Weg,
fokussiert insbesondere auf die finanzschwachen Kom-
munen, die sich aufgrund der hohen Kassenkredite und
aufgrund der sozialen Probleme die notwendigen Inves-
titionen nicht mehr leisten können. Hier greifen wir ganz
gezielt ein. Das ist gut und wichtig. Und wir setzen noch
einen drauf: Wir als Koalition werden im Jahr 2017 allen
Kommunen 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen,
damit die Kommunen mehr in Schulen, Kindergärten
und in all die anderen Sachen investieren können, die
wichtig und notwendig sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir bringen noch ein drittes Paket auf den Weg. Wir
entlasten die Kommunen bei den Kosten der Versorgung
von Flüchtlingen in Höhe von 1 Milliarde Euro. Das ist
gut, wichtig und auch notwendig. Dafür sind in diesem
Jahr 0,5 Milliarden Euro vorgesehen.

Wir schaffen das alles ohne eine zusätzliche Schul-
denaufnahme. Herr Bartsch, Sie haben ein bisschen mit
den niedrigen Zinsen geliebäugelt. Die Linke sagt:
Macht doch Schulden, weil die Zinsen niedrig sind.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat doch keiner gesagt!)


Aber wir geben dieser Versuchung nicht nach, weil wir
genau wissen, dass diese Schulden irgendwann von den
kommenden Generationen zurückgezahlt werden müs-
sen. Herr Bartsch, das ist unseriös.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat kein Mensch gesagt!)


Wir tun dies alles, weil uns als Koalition Investitionen
wichtig sind. Es ist zu Recht angemerkt worden, dass in
unseren Haushalten der Sozialkostenanteil sehr hoch ist
und der Investitionsanteil zu niedrig. Deswegen haben





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

wir uns gegenseitig versprochen – und das halten wir
heute –, dass wir die Spielräume, die wir uns erarbeiten,
nutzen, um Investitionen zu steigern. Das setzen wir hier
und heute mit dem Nachtragshaushalt um. Auch das ist
gut und richtig.

Wenn wir von Investitionen sprechen, dann sprechen
wir nicht nur über Investitionen in Steine oder Straßen,
sondern auch in Köpfe. Der Bundesfinanzminister hat es
angesprochen – Frau Andreae, Sie haben anscheinend
nicht zugehört –: Wir haben die Mittel für den Haus-
haltsplan der Bundesforschungsministerin in den letzten
zehn Jahren nahezu verdoppelt.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut so!)


Im Übrigen haben wir insbesondere in den letzten Jahren
auch in anderen forschungsintensiven Bereichen, im
Wirtschaftsministerium und in anderen Ministerien,
kräftig nachgelegt. Das heißt, wir setzen die richtigen
Schwerpunkte. Wir investieren nicht nur in Steine, son-
dern auch in Köpfe. Das ist gut, richtig und notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir sind aber auch eine Koalition der Kommunen.
Wir bringen nicht nur das 3,5-Milliarden-Paket auf den
Weg. Wenn man den Zeitraum von 2010 bis 2018 be-
trachtet, den Zeitraum, in dem Wolfgang Schäuble im
Wesentlichen für die Finanzen zuständig war – dafür
wird er es auch über 2017 hinaus sein –, dann wird man
feststellen, dass wir insgesamt 80 Milliarden Euro für
die Stärkung der Kommunen ausgegeben haben. 80 Mil-
liarden Euro in acht Jahren – das ist ein Zeichen dafür,
dass wir eine Koalition der Kommunen sind und kom-
munale Förderung sehr ernst nehmen. Wir reden nicht
nur darüber, sondern setzen das auch tatsächlich um.

Wir sind nicht zuletzt auch eine Koalition der ausgegli-
chenen Haushalte. Wir schaffen all das mit ausgegliche-
nen Haushalten. 2014 hatten wir den ersten ausgegliche-
nen Haushalt seit 1969. Wir haben einen ausgeglichenen
Haushalt 2015. Wenn Sie sich die Finanzplanung an-
schauen, stellen Sie fest, dass wir auch 2016, 2017, 2018
und gemäß den Eckpunkten sogar 2019 ausgeglichene
Haushalte haben werden. Frau Andreae, das ist nicht
selbstverständlich. Das hat auch nichts mit Glück zu tun;
denn das Glück der niedrigen Zinsen und der niedrigen
Wechselkurse haben auch andere europäische Industrie-
länder. Und was machen diese Länder daraus? Im
Übrigen haben auch die Bundesländer das Glück, hohe
Steuereinnahmen zu haben. Das gilt auch für das Bun-
desland, aus dem Sie kommen. Und was machen diese
Länder daraus? Das heißt, das, was die Menschen sich
erarbeitet haben, muss durch vernünftige Politik flan-
kiert werden. Genau das machen wir. Dieser ausgegli-
chene Haushalt ist ein Gemeinschaftsergebnis der Men-
schen, die ihn sich erarbeitet haben, und der guten
Finanzpolitik dieser Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Jetzt kann man sagen: Alles gut, wir investieren mehr,
und wir tun mehr für die Kommunen. In der Tat können
wir den Nachtragshaushalt, den wir heute einbringen,
durchaus feiern. Richtig bleibt aber – das ist an der einen
oder anderen Stelle eben erwähnt worden –: Die Verant-
wortung für die Kommunen tragen die Länder. Die
Kommunen sind Bestandteil der Länder, und unser
Grundgesetz, unsere Verfassung sieht eigentlich nicht
vor, dass wir, der Bund, die Kommunen unterstützen.
Wir tun das trotzdem, weil wir unsere gesamtstaatliche
Verantwortung im Gegensatz zu einigen Bundesländern
ernst nehmen. Wir tun das, weil wir das Ganze betrach-
ten und nicht nur unseren Bundeshaushalt. Wir tun das
auch, weil wir die Menschen nicht hängen lassen wollen,
die in Ländern leben, in denen die jeweilige Landesre-
gierung die Kommunen im Stich lässt. Wir wollen den
Menschen im Ruhrgebiet nicht zumuten, unter einer
Landesregierung zu leiden, deren Politik dazu führt, dass
die Kommunen nicht mit genügend Mitteln ausgestattet
sind. Auch das ist Ausdruck unserer verantwortungsvol-
len Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir tun das auch, weil wir wissen, dass die Kommunal-
politik für die Bürgerinnen und Bürger das Gesicht der
Politik ist. Die Kommunalpolitik ist die Schnittstelle, an
der die Bürgerinnen und Bürger Politik wahrnehmen.
Deswegen stehen wir alle, Bund und Länder, in der Ver-
antwortung, dass diese Schnittstelle gut organisiert und
mit ausreichend Mitteln ausgestattet ist.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Man muss aber eines sagen: Wir können die Länder
nicht aus der Verantwortung entlassen. Wer jetzt sagt:
„Der Bund hat doch so viel Geld, der kann sich das doch
leisten. Der Finanzminister kann angesichts sprudelnder
Steuereinnahmen doch auch einmal etwas für die Kom-
munen tun“, dem muss man einmal die finanzielle Situa-
tion des Bundes vor Augen führen. Der Bund hat doppelt
so viel Schulden wie die Länder zusammen. Die Zins-
ausgaben des Bundes im Verhältnis zu einer Ausgaben-
quote sind höher als die Zinsausgaben der Länder. Das
heißt, die 80 Milliarden Euro, von denen ich eben gere-
det habe, haben wir uns mühsam abgespart. Diese sind
uns nicht in irgendeiner Art und Weise zugefallen. Ich
würde nicht so weit gehen wie das Handelsblatt, das vor
zwei Tagen in einem Titel schrieb, dass die „Nimmersat-
ten“ beim Bund nicht auf große Begeisterung stoßen. Ich
kann die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister verste-
hen, die sagen: Ich weiß weder ein noch aus, und ich
brauche Hilfe; irgendjemand muss uns doch helfen. –
Ich kann diese Bürgermeisterinnen und Bürgermeister
sehr gut verstehen. Am Ende ist das aber nicht allein un-
sere Aufgabe. Deswegen müssen und werden wir jetzt
die Gelegenheit nutzen und – das ist bereits angespro-
chen worden – die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu
ordnen. Wir müssen mehr machen als eine Umverteilung
oder eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Wir
müssen dafür sorgen – darüber sind wir uns alle einig –,
dass die Kommunen, egal in welchem Bundesland, mit
ausreichend Finanzmitteln ausgestattet sind. Wir brau-
chen eine vernünftige Grundlage, um die Kommunal-
finanzen in Zukunft besser organisieren zu können.

Dazu haben wir in den nächsten Monaten Gelegen-
heit. Wir fangen damit an, diesen Nachtragshaushalt





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

durch das Parlament zu bringen. Wir werden das jetzt
zügig beraten. Bis Ende Mai werden wir fertig werden.
Dann werden wir Mittel zur Verfügung haben, um die
Investitionen zu steigern. Ich freue mich auf die Bera-
tungen. Diese Koalition wird ihre verantwortungsvolle
Finanzpolitik fortsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001200

Nächster Redner ist der Kollege Roland Claus für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810001300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser

Nachtragshaushalt hat ein entscheidendes Problem – we-
niger in dem, was drinsteht, sondern mehr in dem, was
nicht drinsteht.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieser Haushalt gibt in der Tat keine Antworten auf die
entscheidenden Fragen der Gegenwart und Zukunft. Es
ist deshalb auch kein Haushalt für morgen, sondern ein
Haushalt von gestern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Welt hat sich in dem halben Jahr, seit wir den
Bundeshaushalt beschlossen haben, verändert. Die EU
will eine große Investitionsoffensive anschieben. Die
EZB ermöglicht faktisch staatliche Anleihen zu null Zin-
sen. Sie aber bleiben bei der Verehrung Ihres Fetischs,
der schwarzen Null, stehen. Das ist keine Bewegung,
was Sie hier demonstrieren.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Keine Schulden zu machen, ist unerträglich für Sie!)


Natürlich – das wurde hier schon gesagt – sind zu-
sätzliche Investitionen des Bundes in Infrastruktur not-
wendig und sinnvoll. Aber man sieht: Wiederum bevor-
zugen Sie die Straße deutlich vor der Schiene. Das ist
keine zukunftsfähige Verkehrsinfrastrukturpolitik. Das
wird deutlich, wenn man sich die Einzelheiten anschaut.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Natürlich sind Investitionen für finanzschwache
Kommunen in Ordnung. Aber in Ihrem Verteilungs-
schlüssel haben Sie sie so angelegt, dass die Zwietracht
unter den Finanzschwachen gesät wird. Wir werden uns
nicht daran beteiligen, finanzschwache Kommunen in
Nordrhein-Westfalen gegen finanzschwache Kommunen
in Thüringen aufzubringen.


(Beifall bei der LINKEN)

Man muss doch einmal hinterfragen: In Thüringen hat
die Vorgängerregierung Druck auf die Kommunen aus-
geübt, Kassenkredite abzulösen. Das führt nun dazu,
dass die betreffenden Kommunen durch den jetzigen
Verteilungsschlüssel ausdrücklich benachteiligt sind. Ich
sehe hier noch Handlungsbedarf und nach der Rede von
Carsten Schneider auch Möglichkeiten, noch etwas zu
verändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun rechnet uns die CDU/CSU immer trotzig vor,
was sie alles an Wohltaten verteilt. Hinzu kommt immer
die Logik wie gerade beim Kollegen Brinkhaus: Der
Hauptfeind steht in 16 Ländern. Wir haben aber den
Bund nicht als Selbstzweck für uns. Das wirkliche Le-
ben findet bekanntlich nicht im Plenarsaal statt, sondern
in den Städten und Gemeinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Da fehlt es an Infrastrukturinvestitionen. Tatsache ist
doch: Wo der Bund nicht mit seinem Haushalt Vorsorge
trifft, da entstehen Privatisierungsfantasien, wie sie im
Wettbewerb zwischen Bundesminister Gabriel und Bun-
desminister Dobrindt im Moment zu erleben sind. Dann
erfahren wir so kreative Neuheiten wie privatisierte Au-
tobahnen und eine Pkw-Maut sowie den Hinweis, dass
wir die Rendite derjenigen, die da anlegen sollen, immer
bedenken müssten. Da sagen wir Ihnen ganz deutlich:
Die Linke hat nichts gegen eine Beteiligung des privaten
Eigentums an öffentlichen Investitionen. Der einzige
Unterschied ist: Sie wollen bei denen betteln gehen und
mit denen Geschäfte machen. Wir wollen gerecht be-
steuern. So einfach ist das manchmal.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn mir dann immer von der Union erklärt wird,
dass es eigentlich nur drei gesellschaftliche Aggregatzu-
stände gibt, nämlich „Deutschland geht es gut“, „Wir
sind auf einem guten Weg“ und „Wenn eins und zwei
einmal nicht funktionieren, ist es alternativlos“,


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


dann möchte ich nur darauf verweisen, welche Antwort
die Bundesregierung am Dienstag auf die Anfrage mei-
ner Fraktion zu den Ergebnissen von 20 Jahren Arbeits-
marktreform gegeben hat. Da sieht es schon etwas
anders aus. Die Zahl der Beschäftigten in Teilzeit, Leih-
arbeit und Minijobs hat sich fast verdoppelt. Die Zahl
befristeter Arbeitsverhältnisse hat sich mehr als verdrei-
facht. Das ist die bittere Wahrheit, die in dem Slogan
„Arm trotz Arbeit“ zum Tragen kommt. Deshalb ist die
Einführung des Mindestlohns eine Art Wiedergutma-
chung.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Antrag der Grünen finde ich sympathisch und
vom Text her sehr gut, also Kompliment. Aber er bleibt
natürlich in der Logik der Schuldenbremse. Das ist nicht
unsere Logik.


(Beifall bei der LINKEN)






Roland Claus


(A) (C)



(D)(B)

Es wird so getan, als gäbe es ein alleiniges Pachtrecht
der Grünen in Sachen Zukunftsfähigkeit. Liebe Grüne,
die 68er sind inzwischen auch 68 geworden.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zurück zum Nachtragshaushalt. Zukunft geht anders.
Da uns hier erneut unterstellt wurde, wir wollten das al-
les mit neuen Schulden finanzieren, sei hier gesagt: Mar-
kenzeichen linker Haushaltspolitik sind nicht neue
Schulden, sondern gerechte Steuern.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001400

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-

büne hat der Präsident des Repräsentantenhauses von
Neuseeland, Herr David Carter, zusammen mit seiner
Delegation Platz genommen.


(Beifall)


Ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen aller Kollegin-
nen und Kollegen. Wir freuen uns über Ihren Besuch.
Wir sind Ihnen dankbar für die freundschaftlichen und
intensiven Gespräche, die wir gestern in verschiedenen
Formationen miteinander geführt haben. Wir freuen uns
vor allen Dingen auf die vereinbarte Vertiefung unserer
parlamentarischen Beziehungen und die künftige Zu-
sammenarbeit. Alle guten Wünsche für Ihre weitere Ar-
beit! Welcome in Berlin!


(Beifall)


Nun erleben Sie als nächste Rednerin die Kollegin
Petra Hinz für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1810001500

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! In der Tat: Es ist ein sehr guter Nachtrags-
haushalt, den wir hier heute in erster Lesung einbringen.
Mit diesem Nachtragshaushalt bringen wir drei verschie-
dene Säulen auf den Weg. Ich möchte gerne zwei davon
ansprechen. Zunächst komme ich zu der Frage, die uns
insgesamt umtreibt, nämlich zu den kommunalen Finan-
zen. Zum Schluss werde ich kurz das Thema der Flücht-
linge und Asylbewerber streifen und darauf eingehen,
wie unsere Kommunen damit umgehen und wie wir sie
dabei stärken können.

Wir haben die Stärkung unserer Kommunen in unse-
rem Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben; im
Haushalt 2014 und im Haushalt 2015 kann man dies ex-
plizit nachlesen. Wir reden heute aber nicht über den
Haushalt 2015, sondern über einen Nachtrag dazu. Wir
reden also darüber, dass Mittel zusätzlich eingebracht
werden sollen; das sollte und muss hier auch deutlich ge-
macht werden.


(Beifall bei der SPD)

Herr Claus, ich teile nicht Ihre Auffassung, dass wir

die Kommunen gegeneinander aufbringen, ganz im Ge-
genteil. Im Februar dieses Jahres waren 53 Vertreter aus
unterschiedlichen Kommunen, und zwar parteiübergrei-
fend, hier in Berlin. Sie kamen übrigens aus sieben Bun-
desländern und nicht nur aus einem, und es handelte sich
nicht um eine Handvoll Kommunalvertreter, sondern um
Oberbürgermeister und Kämmerer. Sie haben selbstbe-
wusst und zu Recht darauf aufmerksam gemacht, wo
insbesondere bei ihnen der Schuh drückt. Ich finde, es
war verantwortungsvoll von unserer Regierung, dass sie
sich mit den Vertretern der Kommunen zusammenge-
setzt hat und in verschiedenen Verhandlungsrunden auch
zu einem Ergebnis gekommen ist.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wir wollen hier eine Debatte haben!)


So wurde festgestellt, dass es Länder gibt, die einfach
aufgrund ihrer strukturellen Situation Schwierigkeiten
haben.

Ich will auf Nordrhein-Westfalen eingehen. Lieber
Kollege Brinkhaus, das scheint für Sie ja ein Trauma zu
sein.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Oh ja, die Landesregierung ist ein Trauma!)


– Okay, das will ich einmal so hinnehmen. – Denn es ist
egal, worüber Sie reden: Einen Satz, auch wenn es falsch
ist, widmen Sie immer der Landesregierung.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ich bin eben heimatverbunden! Ich bin heimatverbundener Westfale!)


– Wenn Sie heimatverbunden wären, dann würden Sie
über die tatsächlichen Erfolge reden und über etwas, was
nicht stimmt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Er redet über die Zeit von Rüttgers!)


– Das wollte ich gerade sagen, lieber Kollege Thomas
Oppermann.

Ich bin seit 2005 im Deutschen Bundestag. Unter an-
derem in meiner Verantwortung lag die Umsetzung des
Kindertagesstättenausbauprogramms. Es hatte ein Volu-
men von 4 Milliarden Euro. 2 Milliarden Euro sollten di-
rekt in den Ausbau der Kitas fließen, und 2 Milliarden
Euro sollten für die Unterstützung der Erzieherinnen und
Erzieher und für Betriebskosten zur Verfügung gestellt
werden. Das ist zwar eigentlich gar keine Bundesauf-
gabe, aber wir haben das gemacht.

Nordrhein-Westfalen sollten zwischen 600 und
700 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Die-
ses Geld hat das Land auch bekommen. Meine Heimat-
stadt, die Stadt Essen, hätte zwischen 60 und 70 Millio-
nen Euro für den Ausbau von Kitas bekommen sollen.
Aber der damalige Ministerpräsident hat entschieden:
Nein.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Oh! Wie hieß denn der? Wer war das noch mal?)






Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)

– Herr Rüttgers.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der SPD: Aha! – Hört! Hört! – Na, so was!)


Herr Rüttgers, CDU, hat gesagt: Nein, ich bringe gerade
ein Parallelprogramm auf den Weg, nämlich das KiBiz. –
Das KiBiz war elitär. Die Eltern, die es sich leisten
konnten, mussten sich nämlich entweder für 25, 35 oder
für 45 Stunden in der Woche teuer einkaufen. Ich weiß
nicht, ob das ein gutes Signal vonseiten eines Minister-
präsidenten ist, wenn es darum geht, wie man mit den
Kommunen in dieser Frage verantwortungsvoll umgeht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aha! Haben Sie das KiBiz denn abgeschafft?)


Nach der Wahl haben wir einen Wechsel gehabt. Gott
sei Dank!


(Thomas Oppermann [SPD]: Offenbar gab es Gründe!)


Hannelore Kraft hat in ihrer ersten Regierungszeit als
Allererstes einen Finanzierungspakt für die Kommunen,
die unter Nothaushalten leiden, auf den Weg gebracht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Auf Kosten der reicheren Kommunen!)


Das hat sie in dieser Zeit gestemmt. Ich finde, das sollten
Sie erwähnen: Hannelore Kraft hat unter schwierigen
Voraussetzungen die Kommunen, die sich in einer Haus-
haltsnotlage befinden, gestärkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nordrhein-Westfalen ist ein bevölkerungsreiches Bun-
desland. Wir sind noch dabei, den Strukturwandel zu be-
wältigen. Insofern finde ich den Verteilungsschlüssel so,
wie er jetzt gewählt worden ist, gut: nach Kriterien wie
Einwohnerzahl, Höhe der Kassenkredite usw.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch das muss einmal gesagt werden, Herr Claus:
Dass die Kommunen Kassenkredite aufnehmen mussten
– ich rede von dem Bereich, von dem ich Ahnung habe;
ich komme ja aus dem Ruhrgebiet –, hat doch einen
Grund. Sollen wir hier tatsächlich Begründungen dafür
liefern, warum die Kommunen dort Kassenkredite auf-
genommen haben? Sollen wir Ihnen sagen, seit wann die
Kassenkredite aufgewachsen sind? Sollen wir wirklich
auf die Hintergründe eingehen? – Es bringt nichts, zu
polarisieren, und es bringt auch nichts, zu polemisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es gilt jetzt vielmehr – darum haben uns die 51 Oberbür-
germeisterinnen und Oberbürgermeister und die Käm-
merer aus sieben Bundesländern, die hier waren, ein-
stimmig gebeten –, hier im Parlament darüber zu
diskutieren,


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ja, machen Sie! Machen Sie! Machen Sie!)

uns im Rahmen der Gespräche über den Bund-Länder-
Finanzausgleich damit zu beschäftigen, wie wir die Poli-
tik in Deutschland tatsächlich gut nach vorn bringen
können, ganz egal, um welche Ebene es geht: sei es nun
die kommunale Ebene, sei es die Landesebene, sei es die
Bundesebene. Das ist, glaube ich, unser gemeinsamer
Nenner, warum schlussendlich all das passiert, eben
auch die Investitionen in den Kommunen.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, und zwar
zu dem Bereich der Flüchtlinge. Ich bin sehr froh und
auch dankbar dafür, dass mein Fraktionsvorsitzender
und auch der Wirtschaftsminister, obwohl wir mit dem
Nachtragshaushalt für 2015 500 Millionen Euro und für
das nächste Jahr noch einmal 500 Millionen Euro auf
den Weg bringen wollen, bereits jetzt aufgrund der Si-
tuation, die wir in Europa vorfinden, noch einmal ange-
kündigt haben, dass wir die Kommunen bei der Unter-
bringung der Flüchtlinge in toto entlasten werden. Das
ist richtig so.

Es ist auch an der Zeit, all denen, die sich ehrenamt-
lich engagieren, einmal deutlich Dank zu sagen. Ohne
deren Arbeit in den Kommunen, ohne deren Arbeit ge-
rade jetzt mit Asylbewerbern und Flüchtlingen, würde so
einiges nicht möglich sein, würde vieles teurer werden.
Sie tragen zur Integration bei. Auch dies wird mit dem
Nachtragshaushalt insgesamt gewürdigt.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist die erste Le-
sung. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf in die An-
hörung gehen; diese Anhörung wird unter Federführung
des Haushaltsausschusses am 4. Mai stattfinden. Ich
freue mich auf Ihre Anregungen, auf die ach so vielen
Verbesserungen, mit denen Sie die Kommunen stärken
wollen. Ich freue mich darauf, dass wir tatsächlich ge-
meinsam für die Kommunen, für die Menschen vor Ort
hier Politik machen.

Ich kann nur sagen: Neben dem Haushalt, den wir im
letzten Jahr hier verabschiedet haben, ist dieser Nach-
tragshaushalt ein Gewinn für die Kommunen, für jede
einzelne Kommune in jedem Bundesland, für jeden
Stadtstaat, egal wie gut die Haushaltslage momentan
aussehen mag oder vor welchen Herausforderungen sie
stehen mögen; das möchte ich hier in dieser Form einmal
festhalten.

Ich möchte mich auch bei all denen bedanken, die
tagtäglich in den Räten vor Ort Politik machen, und zwar
für die Menschen vor Ort. Es ist unsere Aufgabe, überall
da, wo wir verantwortlich sind, dafür zu sorgen, dass die
Dinge vor Ort gestärkt werden.

Einen ganz kleinen Hinweis noch – Herr Präsident,
ich sehe, dass die Redezeit abgelaufen ist –: Der Rech-
nungsprüfungsausschuss war gestern beim Bundesrech-
nungshof. Wir haben dort den Bericht zu den Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen gemeinsam diskutiert. Da ist
noch einmal deutlich geworden, was der Bund insgesamt
in der gesamtstaatlichen Verantwortung leistet.





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hart an der Grenze der Zulässigkeit!)


Dieses werden wir auch zum Gegenstand unserer Bera-
tungen in der Anhörung am 4. Mai machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001600

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Sven-

Christian Kindler.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jetzt haben wir tolle Geschichten von der Ko-
alition auch zum Nachtragshaushalt und wieder einmal
viel Eigenlob von Frau Hinz, von Herrn Brinkhaus ge-
hört.

Ich will einmal zur Haushaltspolitik kommen und die
mittelfristigen Effekte in den Blick nehmen.

Man kann sich ja fragen, warum die Finanzlage kurz-
fristig so gut aussieht. Das liegt daran – das hat die Ant-
wort auf unsere Anfrage gezeigt –: Seit der Krise, also
seit 2008, hat der Bund bis 2014 allein 94 Milliarden
Euro an Zinsausgaben gespart. Deutschland ist also mil-
liardenschwerer Krisengewinner in Europa. Ich finde, da
muss man schon ehrlich sagen: Das ist das Ergebnis
glücklicher Umstände. Das hat wenig mit der Arbeit im
Haushalt zu tun. Da hat die EZB, hat Mario Draghi viel
mehr für die Fortschritte im Haushalt getan als Wolfgang
Schäuble; das müssen wir einmal festhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Herr Schäuble, Sie haben die außenwirtschaftlichen
Risiken angesprochen, die es für den Haushalt gibt. Die
Euro-Krise ist natürlich ein außenwirtschaftliches Ri-
siko. Das sind die Zinsausgaben, die mittelfristig auch
wieder steigen können. Wir finden aber auch hausge-
machte Risiken in diesem Haushalt. Schaut man sich
zum Beispiel die Sozialkassen an, so stellt man fest, dass
Sie in den letzten Jahren in den Gesundheitsfonds gegrif-
fen haben, dass Sie in den letzten Jahren in die Arbeits-
losenversicherung gegriffen haben und dass Sie die Müt-
terrente systemfremd, nämlich aus Beitragsmitteln und
nicht über Steuern, bezahlt haben.

7 Milliarden Euro im Jahr beträgt die Belastung für
die Sozialkassen, für die Rentenversicherung. Das Pro-
blem ist – das hat auch Axel Reimann, der Präsident der
Deutschen Rentenversicherung, gesagt –: Die Defizite
der Rentenversicherung werden dazu führen, dass wohl
schon 2018 eine Erhöhung der Beiträge notwendig sein
wird. Das zeigt auch, wer nachher die Zeche für Ihre
Haushaltspolitik zahlt, wer die Zeche dafür zahlt, dass
man in die Sozialkassen greift. Das werden die Rentne-
rinnen und Rentner über ein sinkendes Rentenniveau
sein. Und es werden die Beitragszahlerinnen und Bei-
tragszahler sein, insbesondere die Empfänger kleiner
und mittlerer Einkommen, die dafür zahlen. Ich sage Ih-
nen: Ich finde es extrem ungerecht, dass sie die Zeche
zahlen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will auf ein drittes Risiko eingehen, das in diesem
Haushalt mittelfristig besteht: Über Investitionen wurde
schon viel geredet. Man hat sich auch viel dafür gefeiert,
dass man den Nachtragshaushalt jetzt hier vorlegt. Ich
würde sagen: Das ist ein sehr kleiner Schritt, der hier
passiert. Immerhin! Wenn man sich aber die Zahlen des
Bundesfinanzministeriums ansieht, so stellt man fest,
dass die Ausgaben von 2015 bis 2019 von rund 300 Mil-
liarden Euro auf 334 Milliarden Euro steigen. Die Inves-
titionsquote sinkt im gleichen Zeitraum; denn sie bleibt
nominal bei 30 bis 31 Milliarden Euro, also unter
10 Prozent. Wenn man im Haushalt so wenig tut, dann
kann man sich nicht hierhinstellen und sagen: Alles su-
per! Wir investieren in die Zukunft!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir als Grüne haben gezeigt, wie es anders geht, wie
man statt 10 Milliarden Euro in den nächsten Jahren,
also von 2015 bis 2018, 45 Milliarden Euro in wichtige
Zukunftsbereiche investieren kann, nämlich indem man
mit dem Haushalt auch arbeitet, indem man sich traut,
etwas gegen umweltschädliche Subventionen zu tun, in-
dem man für Einnahmeverbesserungen sorgt, indem man
das Betreuungsgeld streicht, indem man endlich Rüs-
tungsgeschäfte kontrolliert und dort Einsparungen vor-
nimmt. Das ist jetzt notwendig für mehr Investitionen.
Man muss mit dem Haushalt arbeiten, und das muss jetzt
endlich auch geschehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch etwas zu den Kommunen sagen. Natür-
lich wird jetzt ein erster wichtiger Schritt gemacht. Der
Druck aus den Kommunen, der Druck aus den Ländern
sowie der Druck vonseiten der Grünen hat hier gewirkt.
Aber insgesamt – seien wir ehrlich – sind 3,5 Milliarden
Euro in drei Jahren angesichts eines Investitionsstaus
von 118 Milliarden Euro leider viel zu wenig. Da muss
man sich doch fragen: Wie können wir das Problem
strukturell lösen? Wie können wir das Altschuldenpro-
blem der Kommunen, die überschuldet sind, die nicht
investieren können, die öffentliche Güter nicht aus-
reichend bereitstellen können, strukturell lösen? Dafür
muss man im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen, Herr Brinkhaus oder Herr Schäuble, Lösungen
finden und darf nicht wichtige Einnahmen wie den Soli,
der perspektivisch 19 Milliarden Euro einbringen wird,
abschaffen, sondern muss darangehen, die Altschulden-
problematik in den Ländern und Kommunen mit dem
Soli verbinden und darüber bei der Ausgestaltung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will über ein weiteres Risiko in diesem Haushalt
reden, das uns mittelfristig auch teuer zu stehen kommen
kann. Roland Claus hat es schon angesprochen: Herr





Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)

Dobrindt plant eine neue Welle von ÖPP-Projekten. Die
Kommission von Herrn Gabriel hat zwar, wie ich finde,
eine kluge Analyse der Investitionsschwäche vorgelegt,
bei den Vorschlägen riecht aber vieles wieder nach ÖPP
im neuen Gewand unter Umgehung der Schulden-
bremse, was nachher wieder zu höheren Kosten für den
Staat führt. Man muss sich einmal die Bundes- und Lan-
desrechnungshofberichte genau ansehen: Gerade ÖPP
als Finanzierungsalternative ist häufig intransparent, un-
wirtschaftlich und führt damit zu schlechteren, also teu-
reren Konditionen für den Staat. Auch wir Grüne wollen
natürlich privates Kapital für sinnvolle Investitionen in
die Zukunft mobilisieren. Das darf aber nicht passieren,
indem die Schuldenbremse umgangen und eine ÖPP-
Strategie verfolgt wird. Das muss solide und gerecht im
Haushalt finanziert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie, Herr Brinkhaus, angesichts der Risiken,
die wir gerade mittelfristig in diesem Haushalt haben
– Leerung der Sozialkassen, Schattenverschuldung bei
öffentlich-privaten Partnerschaften, sehr geringe Investi-
tionen und Zinsrisiken –, davon reden, dass man diesen
Haushalt auch einmal abfeiern kann, dann frage ich mich
schon, in welchem Film wir hier eigentlich sind. Mich
erinnert das alles an eine große Party, auf der man viel-
leicht das eine oder andere Glas zu viel trinkt und im
Rausch ist. Der Blick ist ein bisschen getrübt, man sieht
die Realität nicht klar und denkt nur an diese eine Nacht,
an den Moment, aber nicht an morgen. Leider wird die-
ses Morgen aber kommen, und dann muss man aufräu-
men. Dann wird man wahrscheinlich auch Kopfschmer-
zen haben, und man wird sehen, was alles kaputt ist und
gemacht werden muss.

Deswegen, finde ich, muss jetzt dieses Wegducken
vor der Realität enden. Jetzt muss es darum gehen, dass
wir 2018 keine Kopfschmerzen bekommen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ein bisschen Spaß muss sein!)


Dafür müssen wir jetzt aber mit dem Haushalt arbeiten
und im Haushalt aufräumen. Fangen Sie endlich damit
an!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001700

Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Johannes Kahrs [SPD])



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1810001800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte eine Vorbemerkung machen:
Ich finde es schon sehr bemerkenswert, liebe Kollegin-
nen und Kollegen über alle Fraktionen hinweg, welches
Interesse diese Debatte auf der Länderbank findet. Das
muss ich Ihnen wirklich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Erschreckend!)


Es geht bei diesem Nachtragshaushalt zum Bundes-
haushalt um ein Paket in Höhe von insgesamt 10 Milliar-
den Euro und ein zusätzliches Investitionspaket in Höhe
von 5 Milliarden Euro. Die 10 Milliarden Euro werden
für sehr viele Dinge ausgegeben – Verkehrsinfrastruktur,
digitale Infrastruktur, CO2-Gebäudesanierung, Klima-
schutz usw. –, die den Ländern und Kommunen zusätz-
lich zugutekommen.

Frau Kollegin Hinz, Sie haben leider nur in einem Ne-
bensatz gesagt, dass wir für Betriebskosten von Kinder-
gärten eigentlich nicht zuständig sind, und Frau Kollegin
Andreae, Sie haben eine lange Latte an kritischen Be-
merkungen darüber gemacht, was alles nicht in Ordnung
ist.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, was wir alles tun müssen!)


Ich will Ihnen sagen, dass mich die Töne gegenüber dem
Bundesfinanzminister, nach dem Motto, er mache eine
kommunalfeindliche Finanzpolitik, die vor drei, vier
Wochen besonders aus Ihren Landtagsfraktionen in
Nordrhein-Westfalen gekommen sind, schon etwas geär-
gert haben.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist es!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich einmal die
Mühe macht und aufreiht, was seit dem Jahr 2010, seit
dem Jahr, in dem Wolfgang Schäuble hier Verantwor-
tung als Bundesfinanzminister übernommen hat, passiert
ist, der stellt fest: Die Länder und Kommunen wurden
seitdem durch den Bund in einem Umfang von 125 Mil-
liarden Euro entlastet – für Dinge, für die der Bund nicht
zuständig ist. Wir sind nicht zuständig für die Grund-
sicherung im Alter, wir sind nicht zuständig für die Kos-
ten der Unterkunft, wir sind nicht zuständig für die
Hochschulen, wir sind nicht zuständig für die Kindergär-
ten und für die Kinderkrippen. Es gab eine Entlastung in
Höhe von 125 Milliarden Euro in diesen neun Jahren, in
denen Wolfgang Schäuble Bundesfinanzminister ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund finde ich die genannten Vor-
würfe – auch im Zusammenhang mit dem Nachtrags-
haushalt, den wir heute beraten – völlig unangemessen.
Es wurde in den letzten Jahrzehnten übrigens nie über ei-
nen Nachtragshaushalt beraten, in dem es um Mehraus-
gaben ging, ohne neue Schulden zu machen, sondern
früher ging es immer darum, mehr Schulden zu machen,
um den Haushalt auszugleichen. Lieber Kollege Kindler,
das ist schon ein diametraler Unterschied zu den Dingen,
die unter Rot-Grün passiert sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Dingen, die
wir jetzt für die Kommunen machen, einmal 3,5 Milliar-
den Euro für den Kommunalinvestitionsförderungsfonds
und einmal 1,5 Milliarden Euro zur Entlastung, wird es
darauf ankommen, einen Punkt besonders im Blick zu





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

haben: Von den soeben angesprochenen 125 Milliarden
Euro standen den Kommunen nach den politischen Ver-
einbarungen 82 Milliarden Euro zu. Die Mittel für die
Grundsicherung im Alter sollten eigentlich komplett den
Kommunen zugutekommen. Gucken Sie sich einmal an,
wie manche Ausführungsgesetze der Länder aussehen!
Da gab es sehr wohl Umleitungen der Finanzströme.
Mein Appell an Sie und an uns alle lautet deswegen,
dass wir wirklich genau hinschauen, damit sich die Län-
der von den 3,5 Milliarden und auch den 1,5 Milliarden
nicht wieder Gelder, die wir als Bund den Kommunen
zukommen lassen wollen, durch Vorwegabzüge oder
über kommunale Finanzausgleichsgesetze in die Tasche
stecken. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt entsteht immer der Eindruck, dass nur der Bund
Steuereinnahmen habe. Schauen wir uns einmal die
Jahre von 2010 bis 2018 an: In diesem Zeitraum hat der
Bund Steuermehreinnahmen von 79 Milliarden Euro, die
Gesamtheit der Länder aber 85 Milliarden Euro – so ist
die Verteilung der Mittel aus den Gemeinschaftsteuern
zwischen Bund und Ländern – und die Gesamtheit der
Kommunen 30 Milliarden Euro. Das heißt: Es ist mit-
nichten so, dass die Länder keine Steuermehreinnahmen
haben. Es ist mitnichten so, dass die Gesamtheit der
Kommunen keine Steuermehreinnahmen hat.

Nun erkläre mir einmal jemand – da muss ich jetzt auf
bestimmte Länder eingehen –, warum es Länder wie
Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg trotz
Steuermehreinnahmen und trotz Entlastung durch den
Bund – diese Summe beläuft sich aktuell auf einen zwei-
stelligen Milliardenbetrag – nicht schaffen, einen ausge-
glichenen Haushalt vorzulegen. Der Bund, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, hat es geschafft: Er ist 2010 mit
einer Verschuldung von 86 Milliarden Euro gestartet,
2014 hat er eine schwarze Null erreicht und ist jetzt in
der Lage, 15 Milliarden Euro zusätzlich auszugeben.
Das ist doch ein Grund zu feiern, lieber Kollege Kindler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zu Ihrem Vorwurf, Herr Kindler, wir würden kein
Geld für Zukunftsinvestitionen bereitstellen, kann ich
Ihnen nur Folgendes sagen: Der Einzelplan 30 belief
sich 2005 unter Ministerin Schavan auf 7 Milliarden
Euro. Im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung
wird der Einzelplan 30 bei 17 Milliarden Euro liegen.
Das heißt, in gut einem Jahrzehnt haben wir den Einzel-
plan um über 10 Milliarden Euro erhöht und sein Volu-
men mehr als verdoppelt. Das gibt es nicht noch einmal
in Europa, und das gibt es auch nicht noch einmal in der
Welt.


(Beifall der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU])


Das heißt, wir investieren nicht nur in Beton. Wir inves-
tieren in Köpfe, in Forschung und in Bildung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schauen wir uns einmal die Aufteilung der 7 Milliar-
den Euro für zusätzliche Investitionen in diesem Nach-
tragshaushalt an. Fast 2 Milliarden Euro werden für Kli-
maschutz, Energieeffizienz und CO2-Gebäudesanierung
verwendet. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, wir brauchen Ihren Nachhilfeunterricht
nicht. Wir wissen, dass dort Zukunftsinvestitionen zu tä-
tigen sind. Diese 2 Milliarden Euro sind im Haushalt des
Bundeswirtschaftsministers und der Bundesumweltmi-
nisterin gut angelegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Verkehrsbereich. Wir werden im Jahr 2017 mit
dem, was wir schon geplant haben – 5 Milliarden Euro
zusätzliche Steuermittel, Mautmehreinnahmen und gut
3,25 Milliarden Euro, die jetzt für alle drei Verkehrsträ-
ger bereitgestellt werden –, die Forderung der Daehre-
Bodewig-Kommission erfüllen und 13,5 Milliarden
Euro für alle Infrastruktursysteme zur Verfügung stellen.
Auch im Bereich Straße werden wir die Forderung erfül-
len, indem wir 7,3 Milliarden Euro zur Verfügung stel-
len. Im Jahre 2018 werden wir sogar über den Forderun-
gen liegen. Ja, das war ein Kraftakt. Wir haben gesagt:
Wir wollen erst die schwarze Null erreichen, um Spiel-
räume zu haben, und dann in die Zukunft investieren. Ich
glaube, das ist nachhaltige Finanzpolitik. Nachhaltige
Finanzpolitik ist nicht, Schulden zu machen und dann
auf schönes Wetter zu warten. Wir hingegen haben uns
die schwarze Null im Haushalt erarbeitet. Jetzt haben
wir schönes Wetter, und jetzt können wir das Geld zu-
kunftsgerecht ausgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Appell an uns
alle: Im Haushalt stehen 1,1 Milliarden Euro für den
Ausbau des Breitbandnetzes bereit. Länder wie Bayern
geben jährlich selber 1,5 Milliarden Euro dafür aus.
Manche Länder aber tun gar nichts. Kollege Bartsch, das
Land Mecklenburg-Vorpommern setzt dafür nur EU-
Mittel ein und macht ansonsten nichts.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Große Koalition!)


– Ja, gerne ein Wort dazu. Wissen Sie: Wenn wir Geld
für Kommunen vorsehen und das Geld bei den Kommu-
nen nicht ankommt, dann kritisiere ich dafür auch eine
rot-schwarze Landesregierung. Gucken Sie sich einmal
meine Pressemitteilung zum Thema Hochschulpakt in
Mecklenburg-Vorpommern an. Gucken Sie sich meine
Pressemitteilung zum Thema Entflechtungsmittel an.
Darin weise ich darauf hin, dass das Geld für den Be-
reich Straßenbau und ÖPNV doch bitte an die Kommu-
nen weitergegeben werden solle und sich die Finanz-
minister nicht die Hälfte davon in die Taschen stecken
sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

Abschließend will ich wirklich an uns alle einen Ap-
pell richten. Man kann über manches debattieren, auch
über die Verteilung der Mittel und entsprechende Ge-
wichtungen, Kollegin Hinz. Es gab auch bei uns kriti-
sche Anmerkungen zum Thema Kassenkredite. Man
kann sich über dieses Thema trefflich streiten. Da
müsste man dann auch über die Kommunalaufsicht re-
den. Aber die Herausforderung, die ich für die nächsten
Jahre für uns sehe, ist, dass wir als Bundestagsabgeord-
nete, unabhängig davon ob aus Regierungs- oder Oppo-
sitionsfraktionen, unabhängig von Bundes- oder Länder-
interessen, darauf achten, dass das, was wir politisch für
die Kommunen vorsehen, wirklich bei den Kommunen
ankommt. Denn wenn das bei den Kommunen nicht an-
kommt, dann hilft es auch nicht, immer mehr Geld hi-
neinzupumpen. Es kann nicht sein, dass die Länder ihre
Haushalte damit sanieren. Die Musik spielt nicht in den
Ministerialstuben in den Landeshauptstädten, sondern
vor Ort in den Kommunen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810001900

Der Kollege Juratovic ist nächster Redner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1810002000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unsere Kommunen sind der Stützpfeiler un-
serer Gesellschaft. Sie sind der Ort, an dem unsere Bür-
gerinnen und Bürger das politische Handeln hautnah
erleben. Gerade in dem entscheidenden Bereich der Inte-
gration sind die Kommunen der Dreh- und Angelpunkt
aller politischen und gesellschaftlichen Bemühungen.
Wie sehen die Schulen aus, in denen unsere Kinder un-
terrichtet werden? Wie sind die Freizeitangebote, die ih-
nen zur Verfügung stehen? Wie ist die Gesundheitsver-
sorgung vor Ort, und wie ist die Infrastruktur? Wie sind
die Sprachkurse und die Unterkünfte für Flüchtlinge or-
ganisiert?

Ob ich mich in Deutschland wohl- und willkommen
fühle, wird nicht nur auf der Bundesebene entschieden,
sondern vor Ort – in meiner Kommune. Daher ist es mir
wichtig, die Arbeit der kommunalen Institutionen, aber
auch die Arbeit der Ehrenamtlichen vor Ort, die sich
rund um Flüchtlingsheime engagieren, hervorzuheben
und ihnen zu danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie dienen als großes Vorbild für unsere gesamte Gesell-
schaft.

Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Pflicht als
Deutscher Bundestag, die derzeitige Not der Kommunen
anzuerkennen und ihnen helfend unter die Arme zu grei-
fen. Daher kann die Bedeutung einer angemessenen Fi-
nanzierung unserer Kommunen nicht hoch genug ge-
schätzt werden. Deshalb begrüße ich ausdrücklich den
vorliegenden Gesetzentwurf zur Förderung von Investi-
tionen finanzschwacher Kommunen.

Durch die bereitgestellten Mittel wird die faktische
Not unserer Kommunen anerkannt, und es werden sinn-
volle Schritte eingeleitet. Die Entlastung der Kommunen
um zusätzliche 1,5 Milliarden Euro, sodass insgesamt
2,5 Milliarden Euro für kommunale Investitionen zur
Verfügung stehen, ist genau das richtige Signal und eine
angemessene Aufstockung, für die sich die SPD bereits
seit einem Jahr starkmacht.


(Beifall bei der SPD)


So können unsere Kommunen endlich auch größere
Baustellen anpacken und zukunftsweisende Projekte vo-
ranbringen.

Aus meinen Gesprächen vor Ort weiß ich, wie eng der
finanzielle Spielraum mancher Gemeinden, besonders
der finanzschwacher, ist. Oft schnürt für sie der eigene
Haushaltsplan ein zu enges Korsett für Investitionen.
Mit dem Sondervermögen für finanzschwache Kommu-
nen bringen wir einen Fonds für bessere Infrastruktur,
mehr Klimaschutz und gute Bildung auf den Weg. Kolle-
ginnen und Kollegen, damit rüsten wir unsere Gemein-
den für die Zukunft. Diese 3,5 Milliarden Euro sind das
richtige Signal an unsere Kommunen. Denn nur gemein-
sam lassen sich Herausforderungen meistern.

Wir wollen, dass gleichwertige Lebensverhältnisse in
unserem Land nicht nur im Grundgesetz stehen, sondern
von den Menschen vor Ort erfahrbar sind. Noch ist der
Weg dahin lang. Gerade im Bereich der Flüchtlingsun-
terbringung klaffen Anspruch und Realität oft weit aus-
einander. Denn in der Realität stoßen die Kommunen bei
dem Bemühen, für eine menschenwürdige Unterbrin-
gung der Flüchtlinge zu sorgen, an ihre Grenzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus diesem Grund werde ich nicht müde, zu betonen:
Der Bund muss die Unterbringung von Flüchtlingen ver-
stärkt auch als eigene Aufgabe betrachten. Es darf nicht
passieren, dass aufgrund der kommunalen Schwierigkei-
ten die Willkommenskultur in der Bevölkerung kippt.

Zum Glück sind Vorfälle wie die in Tröglitz beschä-
mende Einzelfälle. Die Mehrheit der deutschen Bevölke-
rung steht beispielhaft zu unserer Willkommenskultur,
indem sie vor Ort auf vielfältige Weise die Ankunft und
das Leben der Flüchtlinge begleitet und erleichtert.


(Beifall der Abg. Petra Hinz [Essen] [SPD])


Kolleginnen und Kollegen, das Recht auf Asyl ist und
bleibt unantastbar. Wir dürfen jedoch den guten Willen
in der Bevölkerung nicht überlasten. Das heißt, dass
auch wir im Bund uns offenen Auges und in Absprache
mit den Ländern und Kommunen um die Geflüchteten
kümmern müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die 1 Milliarde Euro, die durch den neuen Gesetzent-
wurf für die kommenden zwei Jahre den Kommunen für
die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung ste-





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)

hen soll, ist dringend notwendig. Das ist jedoch nicht die
endgültige Antwort der Bundesregierung und des Deut-
schen Bundestages. Uns ist bewusst, dass es nicht reicht,
wenn wir uns um eine schnellere Bearbeitung der Asyl-
anträge kümmern und uns sonst damit begnügen, immer
wieder einmal Finanzspritzen für die Kommunen zur
Verfügung zu stellen.

Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Per-
spektivisch betrachtet müssen wir dafür sorgen, dass der
Bund die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen
voll übernimmt.


(Beifall bei der SPD)

Das wird in dem jetzigen Haushalt nicht möglich sein,
muss jedoch für die Zukunft unser Ziel bleiben; denn
wer glaubt, dass die steigenden Flüchtlingszahlen ein
Phänomen von ein, zwei Jahren sind und dass wir bald
zu unserem alten Vorgehen zurückkehren können, der
hat noch nicht den Blick über den deutschen Tellerrand
geworfen.

Die Krisenherde unserer Welt werden erst über die
nächsten Jahre bis Jahrzehnte zu stabilisieren sein. Trotz
intensiver außenpolitischer Bemühungen müssen wir da-
mit rechnen, dass auch mittelfristig zahlreiche Menschen
bei uns Zuflucht suchen werden. Ihnen wollen wir er-
möglichen, dass sie sich bei uns fair behandelt und be-
schützt fühlen. Diese Aufgabe müssen weiterhin der
Bund, die Länder und die Kommunen gemeinsam be-
wältigen. Wir, der Deutsche Bundestag, wollen hier un-
serer Verantwortung gerecht werden. Der vorliegende
Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810002100

Der Kollege Bartholomäus Kalb erhält nun das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1810002200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich gehöre dem Haushaltsausschuss schon
lange an. Das ist der erste Nachtragshaushalt, den wir
beraten, der mir richtig Freude macht; denn es ist uns in
der Vergangenheit gelungen, Spielräume zu erarbeiten,
auf deren Basis wir in den kommenden Beratungen ent-
scheiden können, wie wir Zukunft noch besser gestalten
können.

Der Kollege Schneider und der Finanzminister haben
es in ihren Beiträgen gesagt: Wir haben uns zu Beginn
dieser Großen Koalition darauf verständigt, dass wir
möglichst schnell dazu kommen wollen, keine neuen
Schulden machen zu müssen und keine Steuern erhöhen
zu müssen, und dass wir, wenn Spielräume entstehen,
zuallererst Investitionen verstärken wollen. Das gelingt
uns. Dieser vorgelegte Nachtragshaushalt, Herr Bundes-
finanzminister, ist Ausdruck der erfolgreichen Linie, die
wir beschritten haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Kollege Claus hat vorhin sinngemäß gesagt, wir
würden uns an der schwarzen Null ergötzen. Ich glaube,
wir können gar nicht oft genug sagen, dass es ein großar-
tiger Erfolg ist, dass es uns in so kurzer Zeit nach der
größten Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir zu bewäl-
tigen hatten, gelungen ist, einen ausgeglichenen Haus-
halt vorzulegen und eine schwarze Null verzeichnen zu
können. Das ist nach 49 Jahren erstmals wieder gesche-
hen. Das ist eine großartige Leistung, die es verdient,
immer wieder erwähnt zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Kindler, ich habe mir die Protokolle he-
raussuchen lassen, in denen steht, was Sie noch im letz-
ten Jahr im Zuge der Haushaltsberatungen gesagt haben.
Es sei alles getrickst und geschönt, alles sei nicht nach-
haltig usw. So haben Sie sich ausgedrückt. Heute können
wir feststellen: Wir haben den ausgeglichenen Haushalt
deutlich früher bekommen, als Sie es uns zugetraut ha-
ben, nämlich schon mit dem Jahresabschluss 2014.
Wenn Sie den Finanzplan und die Eckpunkte für den
Haushalt 2016 anschauen, dann werden Sie feststellen
müssen, dass über den gesamten Zeitraum bis 2019 kein
einziger Euro Neuverschuldung vorgesehen ist.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie in die Rentenkasse greifen!)


Ganz im Gegenteil: Wenn die wirtschaftliche Lage
und die weltwirtschaftliche Gesamtsituation stabil blei-
ben und wir keine Rückschläge durch die Krisen, die wir
natürlich auch sehen müssen, bekommen, dann werden
wir – davon gehen wir aus –, in den nächsten Jahren wei-
tere Spielräume bekommen, um die Zukunft in den ver-
schiedenen Bereichen zu gestalten und zu sichern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
uns vorgeworfen, das alles sei kurzfristig und nicht dau-
erhaft. Wir können heute feststellen: Unsere Politik ist
auf Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit angelegt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wär’s!)


Sie ist darauf angelegt, dass wir die Zukunft noch siche-
rer machen können und dass wir die notwendigen Rah-
menbedingungen für die Menschen in unserem Lande
und für die Wirtschaft in unserem Lande schaffen kön-
nen.

Wir haben eine Situation, die sehr erfreulich ist. Die
Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Wachstumser-
wartungen nach oben geschraubt. Auch die Bundesre-
gierung und nicht zuletzt gestern der Bundeswirtschafts-
minister konnten die Wachstumserwartungen sogar noch
erhöhen. Wir bleiben trotzdem vorsichtig hinsichtlich
des Zahlenwerks, das den Beratungen über den Haushalt
2016 zugrunde liegen wird. Es geht darum, dass wir es
hier mit einer soliden Basis zu tun haben.

Das alles fußt darauf – das ist schon gesagt worden –,
dass wir anders als früher – früher war das Wirtschafts-
wachstum in Deutschland im Wesentlichen auf den Ex-





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)

port gestützt – heute eine starke Binnennachfrage haben.
Ich denke, das ist etwas, was sowohl unserem Lande und
unserer eigenen Volkswirtschaft als auch der europäi-
schen Ebene guttut und auch dort bestimmte Effekte aus-
lösen kann.

Wir haben heute einen Spitzenwert an Erwerbstätigen
von 42,8 Millionen Menschen. Wir gehen davon aus,
dass dieser Wert im Jahre 2016 noch ansteigen wird. An-
gesichts eines Spitzenwertes bei den sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten sollten wir uns darüber
freuen; denn diese Menschen haben Arbeit, diese Men-
schen haben Einkommen. Sie können ihr Auskommen
mit ihrem Einkommen bestreiten. Das ist schon einmal
sehr gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Danke für den Applaus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Leistungsemp-
fängern sind immer häufiger Leistungserbringer gewor-
den: Immer mehr Menschen zahlen Steuern und Sozial-
versicherungsbeiträge. Das ist natürlich auch ein Grund
für die gute Situation, in der wir uns befinden. Diese
positive Entwicklung gilt es zu sichern und fortzusetzen.

Dieser Nachtragshaushalt ist schlicht und einfach ein
Investitionshaushalt. Wir setzen damit das um, was
Finanzminister Schäuble vorgegeben hat. Ich gebe zu,
dass nicht nur andere, sondern sogar auch wir etwas
überrascht waren, als Finanzminister Schäuble in einer
Zeit, in der die Wirtschaftsforschungsinstitute und viele
andere Auguren gesagt haben, es könne gar nicht mehr
so gut weitergehen, in einer Zeit, in der die Gefahr be-
standen hat, dass sich eine depressive Stimmung breit-
macht, mit der Ankündigung des 10-Milliarden-Euro-
Investitionsprogrammes die Stimmung im Lande erfolg-
reich herumgerissen hat. Wir können also heute darange-
hen, dieses Investitionsprogramm dadurch umzusetzen,
dass wir diese Verpflichtungsermächtigungen konkret
ausbringen und dass wir die 3 Milliarden Euro globale
Minderausgabe, die zunächst auf die einzelnen Etats
– davon waren natürlich die großen Investitionsetats wie
Verteidigung, Verkehr usw. am stärksten betroffen – ver-
teilt war, auflösen. In den jeweiligen Häusern werden so-
mit mehr Investitionsmöglichkeiten geschaffen. Ich ver-
weise auch auf die 7 Milliarden Euro für zusätzliche
Investitionen, zuvörderst natürlich in die Bereiche Ver-
kehr, Infrastruktur, Bau, Klimaschutz usw.; ich möchte
das nur stichwortartig sagen.

Ich denke schon, dass bei alledem, was dazu gesagt
worden ist, was in den Bereichen Bildung, Forschung
usw. notwendig ist, einfach ganz wichtig ist, dass wir un-
sere gute Verkehrsinfrastruktur erhalten, sichern und
dort, wo notwendig, ergänzen. Ich glaube schon, dass die
gute Verkehrsinfrastruktur sozusagen die Grundlastfä-
higkeit unserer Volkswirtschaft sichert.

Darüber hinaus stärken wir die Kommunen mit dem
3,5-Milliarden-Euro-Programm für zusätzliche Investi-
tionen. Dann sind im Jahr 2017 weitere 1,5 Milliarden
Euro für die Entlastung der Kommunen vorgesehen.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810002300

Herr Kollege.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1810002400

Der Hintergrund ist auch die Eingliederungshilfe, lie-

ber Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810002500

Das kann mir gar nicht oft genug erklärt werden, än-

dert nur nichts an der begrenzten Redezeit.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1810002600

Ja, es ist schade. Wenn man dahinten sitzt, fragt man

sich immer: Wie viel Zeit hat denn der Redner eigent-
lich?


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man hier vorn ist, läuft einem die Zeit davon.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810002700

Nun hat der Kollege Daldrup das gleiche Problem wie

der Kollege Kalb, und wir wollen mal gucken, wie er da-
mit fertig wird.


(Heiterkeit)


Bitte schön, Herr Kollege.


Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1810002800

Es könnte sein, Herr Präsident, dass Sie recht haben.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man im Zusammen-
hang mit dem Haushalt über das Verhältnis zwischen
Bund und Kommunen redet, dann ist es, glaube ich,
durchaus gerechtfertigt, wenn man


(Johannes Kahrs [SPD]: Dem Bund dankt!)


an dieser Stelle sagt, dass diese Koalition ganz zweifels-
frei für sich in Anspruch nehmen kann, die Kommunen
zu entlasten, ihre Investitionsfähigkeit zu verbessern und
damit an der Seite der Kommunen zu stehen, auch wenn
die Opposition immer versucht, diese Leistung zu margi-
nalisieren.

Angefangen von der sogenannten Übergangsmilliarde
in den Jahren 2015, 2016 und 2017, die wir jetzt um
1,5 Milliarden Euro in 2017 erhöhen, bis hin zu dem In-
vestitionspaket in Höhe von 3,5 Milliarden Euro: Wir
leisten sehr konkrete Unterstützung für die Kommunen,
die auch tatsächlich wirkt. Das haben uns jedenfalls zu
Beginn der Koalition die meisten in der kurzen Zeit zu
Recht nicht zugetraut. Wenn man die Kofinanzierung
noch dazurechnet, sind es 3,9 Milliarden Euro an Inves-
titionsmitteln.


(Beifall bei der SPD)






Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)

Diese Hilfen reihen sich – das ist von verschiedenen
Kolleginnen und Kollegen bereits gesagt worden – in
eine Kette von Maßnahmen ein: Übernahme der Kosten
der Grundsicherung im Alter und eine ganze Reihe wei-
terer Programme, die schon genannt worden sind.
Deswegen reicht es, wenn ich stichwortartig aufzähle:
Kitafinanzierung, höherer Anteil an den Kosten der Un-
terkunft, Städtebauförderung, Gemeinschaftsaufgaben.
Wir haben die Interessen der Kommunen im Blick.


(Beifall der Abg. Petra Hinz [Essen] [SPD])


Allerdings: Diese Hilfen sind auch nötig, weil es be-
sorgniserregende Diskrepanzen zwischen den Kommunen
in Deutschland gibt: einerseits sprudelnde Steuereinnah-
men, auch Gewerbesteuereinnahmen, andererseits wach-
sende Sozialausgaben, verfallende Infrastruktur. Alle
Fraktionen haben vor wenigen Wochen mit dem Ak-
tionsbündnis „Raus aus den Schulden – Für die Würde
unserer Städte“ gesprochen. Über 50 Bürgermeister,
Oberbürgermeister, Kämmerer sind hier gewesen – ei-
nige von ihnen sind neben der Delegation aus Neusee-
land heute auch unter den Zuhörern; ich begrüße sie
herzlich –; sie haben uns ihr Problem der Vergeblich-
keitsfalle dargestellt. Das heißt: Trotz radikalen Sparkur-
ses wachsen die Schulden, sinkt die Handlungsfähigkeit,
fehlt die Investitionskraft.

Herr Brinkhaus und Herr Rehberg, ich habe nicht sehr
viel Interesse daran, mich in die parteipolitischen Schar-
mützel zu begeben; deswegen will ich an dieser Stelle
nur sagen: Was da zur Erinnerung gesagt worden ist, hat
in Wirklichkeit einen anderen Hintergrund. Herr
Brinkhaus möchte mit seinen Worten nicht etwa Rot-
Grün kritisieren, sondern immer wieder die Erinnerung
an Herrn Rüttgers hervorholen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist gut, dass er diese Erinnerung aufgefrischt hat. In
Wirklichkeit will er damit nämlich vor Herrn Laschet
warnen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Oh mein Gott!)


Er könnte etwas Ähnliches machen wie das, was Sie,
Herr Rehberg, meinen und was da in Hessen passiert.
So, wie es in Nordrhein-Westfalen der Fall war – Ein-
griff in den kommunalen Finanzverbund –, werden auch
in Hessen – in dem Fall sind die Roten nicht beteiligt,
aber die Schwarzen sehr wohl – die Kommunen im
Gemeindefinanzausgleich in jedem Jahr um 340 Millio-
nen Euro geprellt.


(Beifall bei der SPD)


Das ist nicht das, was Sie wollen, Herr Brinkhaus. Weil
Sie das nicht wollen, sollten Sie auch in der Zukunft mit
Ihrer Kritik vorsichtig sein. Es fällt auf Sie selbst zurück,
und davor wollen wir Sie schützen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Erzählen Sie das Ihren Landtagskollegen!)

Aber jetzt zum Kern des Problems. Wir haben die Si-
tuation, dass auf kommunaler Ebene in Mecklenburg-
Vorpommern pro Einwohner roundabout 150 Euro Sach-
investitionen im Jahr erfolgen, gleichzeitig in Bayern
roundabout 470 Euro, also mehr als das Dreifache, im
Saarland 168 Euro und in Baden-Württemberg round-
about 370 Euro. Die Schere zwischen Finanzkraft und
Investitionsfähigkeit für die Gestaltung von Zukunfts-
chancen geht so weit auseinander, dass wir hier helfen
müssen. Diese Drift betrifft nämlich etwas, was wir im
Grundgesetz normiert haben, und zwar die Gleichwer-
tigkeit der Lebensverhältnisse.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bis
1994 in unserem Grundgesetz von der „Einheitlichkeit
der Lebensverhältnisse“ die Rede war, wie es heute in
Artikel 106 Grundgesetz übrigens immer noch der Fall
ist. Seit 1994 – das steht in Artikel 72 Grundgesetz – re-
den wir von der „Herstellung gleichwertiger Lebensver-
hältnisse“.

Was ist eigentlich der Unterschied? Seit 1994 ist nicht
mehr die Wahrung eines bestimmten Zustandes Bezugs-
punkt, sondern der Auftrag zur Herstellung gleichwerti-
ger Lebensverhältnisse, die wir in Deutschland nicht ha-
ben. Deswegen ist es auch keine Wohltat des Bundes,
sondern eine aus dem Grundgesetz abgeleitete Verpflich-
tung, wenn er an dieser Stelle tätig wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abgeordneten Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zusammenstellungen von Leistungen einer Bundesre-
gierung für die Kommunen sind zwar hilfreich. Wenn
Sie, Herr Rehberg, aber in Gutsherrenart den Eindruck
erwecken wollen, die Kommunen seien sozusagen Nim-
mersatte, dann ist das – das will ich an dieser Stelle sa-
gen – mit Blick auf die Presseberichterstattung nicht
besonders hilfreich. Die Ausländerpolitik ist kein kom-
munalpolitischer Auftrag. Oder wollen Sie etwas ande-
res behaupten? Die Außenpolitik ist es ebenso wenig.
Man muss das schlicht und ergreifend so sehen.


(Zuruf des Abg. Eckhardt Rehberg [CDU/ CSU])


Ich bin der Auffassung, dass der Bund – die Bundes-
regierung und der Bundestag – mit dem Investitionsför-
derungsfonds seine Verpflichtungen wahrnimmt. Es ist
auch gut und richtig so, diesen Verfassungsauftrag wahr-
zunehmen.


(Beifall bei der SPD)


Ich halte auch die Kriterien Einwohnerzahl, Arbeits-
losenquote und Höhe der Kassenkredite – da pflichte ich
Ihnen ausdrücklich bei – für richtig. Sie führen dazu,
dass das gemacht wird, was allseits immer wieder gefor-
dert wird, nämlich nach Bedürftigkeit – und nicht nach
anderen Kriterien – zu fördern. Genau das ist gut und
richtig.


(Beifall der Abgeordneten Petra Hinz [Essen] [SPD])






Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich – für vieles andere ist nicht genug
Zeit vorhanden – zuletzt noch auf einen Punkt hinwei-
sen, nämlich auf die 1 Milliarde Euro, die der Bund an
die Kommunen zum Zwecke der Beteiligung an den
Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen zahlt. Damit
leistet der Bund einen außerordentlich wichtigen Beitrag
zur Finanzierung dieser Aufgabe. Das ist gut, richtig und
notwendig. Perspektivisch ist das allerdings nicht hinrei-
chend, weil dieses Geld nämlich nicht alle Belastungen
auffängt und damit nur ein Teil finanziert werden kann.

Wer mit den Bürgermeistern in seinem Wahlkreis re-
det, der weiß, dass schon weit mehr gemacht wird. Ich
nenne hier medizinische Versorgung, psychologische
Betreuung, Sprachförderung, Schaffung von Arbeits-
möglichkeiten und Integration. Oberbürgermeister Maly
hat das heute Morgen im Morgenmagazin sehr schön
dargestellt. Deswegen kann ich auch die kritischen Be-
merkungen den Ländern gegenüber an der einen oder an-
deren Stelle verstehen. Auch ich appelliere an alle Ver-
antwortlichen, dass es einen Konsens geben muss.

Die Kommunen dürfen jedenfalls nicht in eine Situa-
tion kommen, in der sie vor Ausländerfeindlichkeit bzw.
vor Rechten und Rechtsextremisten zurückweichen müs-
sen, weil sie ihre kommunalen Handlungsmöglichkeiten
nicht mehr wahrnehmen können. Das ist ein Zustand,
den wir auf gar keinen Fall akzeptieren dürfen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Deswegen muss es, perspektivisch gesehen, in die Rich-
tung gehen, dass sich der Bund an diesen Kosten betei-
ligt. Das ist eine demokratische, soziale und rechtsstaat-
liche Verpflichtung, die wir wahrnehmen müssen.

Das, was wir hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf
den Weg bringen, ist ein guter Beitrag zur Stärkung der
Kommunen bzw. zur Unterstützung bei der Hilfe, die sie
leisten. Deswegen tun wir es mit gutem Gewissen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810002900

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Ingbert Liebing für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1810003000

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte können wir
ein wesentliches Fazit ziehen: Mit dem Nachtragshaus-
halt, der jetzt in die parlamentarischen Beratungen geht,
sind viele gute Botschaften für die Städte und Gemein-
den sowie die Landkreise in Deutschland verbunden.
Dies ist ein gutes Kapitel deutscher Politik für die Kom-
munen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte das ausdrücklich mit einem ganz persönli-
chen Dank und einer Anerkennung an den Bundes-
finanzminister Wolfgang Schäuble verbinden. Ich kenne
keinen Finanzminister in Deutschland – ich gucke da auf
die Riege der Länderfinanzminister –, der sich so stark
und verlässlich wie Wolfgang Schäuble für die Interes-
sen der Kommunen in Deutschland engagiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Er hat das mit seiner Einbringungsrede heute ausdrück-
lich unter Beweis gestellt. Ich finde, dies verdient Aner-
kennung. Dies verdient vor allem auch deswegen Aner-
kennung, weil wir im Moment in Deutschland eine
etwas abstruse Debatte erleben, in der ihm vorgeworfen
wird, er würde seinen Bundeshaushalt zulasten der
Kommunen sanieren, die schwarze Null im Bundeshaus-
halt gehe auf Kosten der Kommunen. Das Gegenteil ist
der Fall: Die Sanierung des Haushaltes ist die Grundvo-
raussetzung dafür, dass wir umsteuern können, dass wir
jetzt überhaupt wieder zusätzlichen Spielraum zur Verfü-
gung haben, mit dem wir den Kommunen helfen können.
Die Sanierungspolitik von Wolfgang Schäuble und der
Koalition sowie der unionsgeführten Bundesregierung in
den letzten Jahren ist die Voraussetzung dafür, dass wir
diese Schwerpunkte setzen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich möchte gerne eine An-
merkung meines Kollegen Daldrup aufgreifen. Wir
kämpfen als kommunalpolitische Sprecher der Koali-
tionsfraktionen gemeinsam für die Belange der Kommu-
nen, aber es gibt schon den einen oder anderen Auffas-
sungsunterschied. Wenn Sie darauf hinweisen, wie
unterschiedlich die Höhe der Ausgaben und die Finanz-
ausstattung der Kommunen in den einzelnen Bundeslän-
dern ist, dann haben Sie mit dieser Feststellung recht.
Aber was ergibt sich denn daraus? Das macht doch nur
deutlich, dass es angesichts dieser Unterschiedlichkeit
der Kommunalfinanzen in Deutschland nur umso
schwieriger ist, von der Bundesebene hier regelnd einzu-
greifen. Die Unterschiedlichkeit hat doch etwas damit zu
tun, dass es Unterschiede zwischen den Bundesländern
gibt, was die Politik gegenüber ihren Kommunen angeht.
Wenn die Landesregierungen ihre Aufgaben für die
Kommunen nicht erledigen, kann es doch nicht unsere
Aufgabe auf Bundesebene sein, diese Defizite auszuglei-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es kann auch nicht sein, dass die anderen Bundesländer,
in denen die Landesregierungen ihre Aufgaben für die
Kommunen wahrnehmen, in die Röhre schauen. Das
kann nicht die richtige Antwort auf diese Situation sein.

Wir helfen mit dem, was jetzt in die Beratungen geht,
den Kommunen, insbesondere bei den Investitionen. Das
ist wichtig, weil wir insgesamt eine Investitionsschwä-
che im öffentlichen Bereich haben. Deswegen sind die-
ser Nachtragshaushalt und das Gesetzgebungsverfahren
gerade von dem Gesichtspunkt der Investitionen ge-
prägt.





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)

Nun wird über den richtigen Verteilungsschlüssel bei
den 3,5 Milliarden Euro für die Kommunen diskutiert.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Ver-
teilung auf die Kommunen – welche Kommune be-
kommt wie viel, und welche Kommune ist eigentlich fi-
nanzschwach? – von den Bundesländern geregelt wird.
Das können wir nicht auf der Bundesebene machen.
Aber der Verteilungsschlüssel auf die Bundesländer, der
hier angesprochen und teilweise kritisiert wurde, ist aus
meiner Sicht ein gelungener Versuch, Gerechtigkeit her-
beizuführen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit den Kriterien Einwohner, Arbeitslosenzahl und
Kassenkredite wird unterschiedlichen Belangen Rech-
nung getragen. Ich wundere mich schon, wenn ausge-
rechnet von den Linken jetzt der Königsteiner Schlüssel
ins Spiel gebracht wird. Der Königsteiner Schlüssel
hätte zur Folge, dass gerade in den Bundesländern, in de-
nen es den Kommunen besonders gut geht – wie zum
Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg –, beson-
ders viel Geld landen würde.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das wäre gut für Bayern!)


Das ist nicht das, was wir uns vornehmen. Wir wollen
insbesondere den Kommunen helfen, die unter besonde-
rer Finanzschwäche leiden und bei denen die Not am
größten ist. Das tun wir damit.

Wir helfen den Kommunen insbesondere deswegen,
weil sie unter einer besonderen Ausgabedynamik, vor al-
lem im sozialen Bereich, leiden. Bei der Grundsicherung
haben wir bereits geholfen. Die Eingliederungshilfe für
Menschen mit Behinderung ist die nächste große Auf-
gabe, die noch vor uns liegt und wo wir die Kommunen
ab 2018 jährlich um insgesamt 5 Milliarden Euro entlas-
ten wollen.

Die aktuell größte Herausforderung, vor der die Kom-
munen deutschlandweit stehen, ist die Unterbringung
der Flüchtlinge. Auch hier helfen wir mit dem, was wir
jetzt auf den Weg bringen: zweimal 500 Millionen Euro
vom Bund für die Länder und Kommunen zur Entlas-
tung bei den Kosten der Flüchtlingsunterbringung.

Kaum ist diese Vereinbarung, die jetzt technisch um-
gesetzt wird, im November letzten Jahres zwischen
Bund und Ländern verabredet worden, da kamen neue
Forderungen nach noch mehr Geld. Ich erwarte, dass vor
dem Flüchtlingsgipfel zwischen Bund und Ländern, der
Anfang Mai stattfindet, auch die Kommunen einbezogen
werden und dass die Länder den Nachweis führen, was
sie eigentlich mit dem Geld machen, das wir in diesem
Jahr zur Verfügung stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn in Schleswig-Holstein aus diesen Mitteln, die für
die Hilfe bei der Unterbringung von Flüchtlingen ge-
dacht sind, 240 reguläre Lehrerstellen finanziert werden,
dann ist das Missbrauch dieser Bundesmittel für die
Hilfe für Flüchtlinge, nichts anderes.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Kann doch nicht sein, oder?)


Dafür trägt dort eine grüne Finanzministerin Verantwor-
tung, Frau Andreae. Darauf will ich gerne noch einmal
hinweisen.

Die Flüchtlingsunterbringung ist das aktuell schwie-
rigste Thema für die Kommunen. Die Ehrlichkeit gebie-
tet auch, zu sagen, dass uns dieses Thema nicht nur
heute und morgen, sondern längerfristig beschäftigen
wird. Aber den Kommunen wird nicht allein damit ge-
holfen sein, wenn wir ihnen nur mehr Geld zur Verfü-
gung stellen. Es geht bei diesem Thema um mehr. Wir
müssen auch dafür sorgen, dass der Zuzug derjenigen,
die erkennbar keinen Anspruch auf Asyl haben, gestoppt
wird und dass die Flüchtlinge, die keine Chance haben,
längerfristig zu bleiben – die Hälfte der Asylbewerber,
die Anfang dieses Jahres zu uns gekommen sind, kom-
men aus Ländern, in denen es keine politische Verfol-
gung gibt; sie kommen beispielsweise vom Balkan –, gar
nicht erst auf die Kommunen verteilt werden. Sie müs-
sen in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder blei-
ben. Dafür tragen die Länder die Verantwortung. Sie
müssen nach einem zügigen Abschluss des Verfahrens
auch wieder nach Hause gebracht werden, wo sie ge-
braucht werden.

Das schafft Luft, damit sich die Kommunen um die
wirklich politisch Verfolgten, die um Leib und Leben
fürchten müssen, besser kümmern können als bisher.
Dazu leisten wir auch mit dem jetzt eingebrachten Ge-
setzentwurf Hilfe. Zweimal 500 Millionen Euro in die-
sem Bereich sind eine wesentliche Hausnummer. Dies
hilft den Kommunen bei der größten Herausforderung,
vor der sie aktuell stehen, ganz massiv. Auch das ist eine
gute Botschaft für die Kommunen in unserem Land.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810003100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4600, 18/4653 (neu) und
18/4689 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Ich habe den Eindruck, dass es
dagegen keinen Widerspruch gibt. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Klein-
anlegerschutzgesetzes

Drucksache 18/3994

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/4708

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/4709





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Interfraktionell ist eine Debattenzeit von 96 Minuten
vereinbart worden. – Auch dazu sehe ich keinen Wider-
spruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1810003200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Das Kleinanleger-
schutzgesetz fügt sich ein in eine Reihe von Maßnah-
men, mit denen wir neue Sicherheitsnetze um die Fi-
nanzmärkte spannen wollen, um Sparer und Steuerzahler
zu schützen.

Was haben wir bisher getan? Spätestens seit der Ban-
kenkrise im Jahr 2008 sind wir gesetzgeberisch unter-
wegs, diese Sicherheitsnetze zu spannen. Wir haben an-
gefangen mit höheren Eigenkapitalanforderungen an
Banken, wir haben Ratingagenturen reguliert, wir haben
die Finanzaufsicht gestärkt. Mit der Bankenunion, so-
wohl mit der gemeinsamen europäischen Aufsicht als
auch mit der gemeinsamen europäischen Bankenabwick-
lung, sind wir einen Schritt weiter bei der Frage, wie viel
Sicherheit es auf dem europäischen Bankensektor gibt.
Weiterhin haben wir die Versicherungsunternehmen ge-
stärkt, indem wir auch bei ihnen die Eigenkapitalanfor-
derungen erhöht haben. Gleichzeitig haben wir sicherge-
stellt, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Risiken und Chancen für alle Gruppen innerhalb der
Versicherungen gibt.

Zuletzt haben wir mit der Einlagensicherung den eu-
ropäischen Sparer geschützt. Bei Schwierigkeiten einer
Bank sind in ganz Europa bis zu 100 000 Euro auf einem
Konto sicher. Wir haben auch die Auszahlungsfristen
verkürzt. In Sonderfällen – zum Beispiel nach Zahlung
einer Abfindung oder nach dem Verkauf einer Immo-
bilie – erhöht sich die garantierte Summe auf
500 000 Euro, und das für sechs Monate.

Heute beraten wir über das Kleinanlegerschutzgesetz.
Das Kleinanlegerschutzgesetz hat ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen Verbraucherschutz und der Ermög-
lichung alternativer Finanzierungsformen nicht nur für
Unternehmen, sondern auch für bürgerschaftliche Pro-
jekte zum Ziel. Diese Grundidee einte die Koalition von
Anfang an. Und das bezieht sich auch auf die zuständi-
gen Häuser: das Bundesfinanzministerium und das Bun-
desjustizministerium. Ich danke ausdrücklich den beiden
Berichterstattern der Koalition, Carsten Sieling und
Frank Steffel, dass sie auf der Strecke vom Entwurf bis
zum heutigen Gesetzentwurf sehr konsensorientiert
Kompromisse im Sinne der Verbraucherinnen und Ver-
braucher gefunden haben. Den Dank kann ich auch der
Opposition zuteilwerden lassen, aber ich glaube, das ma-
chen gleich die beiden Berichterstatter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

– Ja, bei dem Dank darf man gerne auch klatschen. Die
beiden haben es verdient, natürlich auch alle anderen,
die mitgewirkt haben.

Ich glaube, das, was heute vorliegt, ist ein gutes Ge-
setz, sowohl für Verbraucher als auch im Hinblick auf
Sozialprojekte und Crowdfunding. Es steht unter dem
Schutz der BaFin; denn erstmalig haben wir der BaFin
auch den kollektiven Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher als Aufsichtsziel zugewiesen. Die BaFin
muss jetzt nicht nur auf die Finanzmärkte, sondern auch
auf die Verbraucherinteressen achten. Wir haben ihr
dazu Instrumente an die Hand gegeben: Die BaFin hat
jederzeit die Möglichkeit, den Verkauf einer Vermögens-
anlage bei Verstoß gegen die Transparenzvorschriften,
die wir den Anbietern und Vermittlern auferlegen, kom-
plett zu verbieten.

Verbieten ist aber eigentlich nicht unser Hauptziel,
sondern wir wollen, dass der Verbraucher und die Ver-
braucherin eigenständig erkennen können, welche Risi-
ken mit einer Anlage verbunden sind. Ich nenne da bei-
spielhaft das Crowdinvesting. Wir wollen innovative
Ideen, und wir wollen Menschen, die diese innovativen
Ideen umsetzen. Häufig ist da der klassische Finanzie-
rungsweg über die Banken versperrt, sodass die Mög-
lichkeiten des Crowdinvesting genutzt werden, um
Gelder einzusammeln. Der Entwurf hatte dem schon
Rechnung getragen und bis zu einem Investitionsvolu-
men von 1 Million Euro eine Freistellung von der Pro-
spektpflicht vorgesehen. Wir sind weiter gegangen und
haben gesagt: Investitionen von bis zu 2,5 Millionen
Euro sollen von der Prospektpflicht freigestellt werden.
Das ist deswegen wichtig, weil die Erstellung eines Pro-
spekts geschätzte 50 000 Euro einschließlich des Geneh-
migungsverfahrens kostet. Das ist bei kleineren Projek-
ten natürlich schon eine große Summe.

Wir haben aber auch den Anleger geschützt, indem
wir gesagt haben: Bis zu 1 000 Euro kann er ohne wei-
tere Voraussetzungen anlegen; wenn er über diese
Summe hinausgehen will und 10 000 Euro anlegen will,
muss er zumindest über eine Selbstauskunft zeigen, dass
er sich mit den Risiken beschäftigt hat. Auch das ist für
Verbraucherinnen und Verbraucher ein großer Schutz.

Der Gesetzentwurf sah dann vor, dass Werbung für
Vermögensanlagen nach Möglichkeit nur in Printmedien
erfolgen soll. Ich kann dies insofern verstehen, als Wer-
bung in einer Straßenbahn vielleicht auch Verbraucher
ansprechen könnte, die sich nicht so intensiv mit der An-
lageform beschäftigen. Ich bin dankbar, dass wir einen
Kompromiss gefunden haben: Werbung wird auch wei-
terhin zum Beispiel im Internet zulässig sein, aber sie
muss mit einem deutlichen Warnhinweis versehen wer-
den, der ausdrücklich besagt, dass man bei einer Anlage
das gesamte Vermögen verlieren kann. Wer diesen
Warnhinweis liest – das ist ein Appell an die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher –, möge ihn bitte auch ernst
nehmen. Denn es ist tatsächlich so, dass Investitionen
manchmal eben nicht zum Erfolg führen. Derjenige, der
Geld anlegt, muss wissen, dass er dieses Geld auch ver-
lieren kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

Nun zu den privaten und sozialen Projekten. Gott sei
Dank gibt es engagierte Menschen in unserer Gesell-
schaft. Wir sind froh über Eltern, die sich zusammentun,
um einen Kindergarten zu finanzieren. Wir freuen uns
über Gleichgesinnte, die sich zusammentun, um ein ge-
meinsames, soziales Wohnprojekt zu verwirklichen. Wir
wollen dieses Engagement. Aber natürlich sind auch in
solchen Projekten nicht nur seriöse und leider auch nicht
nur erfolgreiche Menschen unterwegs, sodass es eines
Schutzes derjenigen bedarf, die sich da engagieren. Aber
gleichzeitig sollen diese Projekte weiter möglich sein.
Deshalb haben wir bei sozialen Projekten die Prospekt-
pflicht bis zu einer Schwelle von 2,5 Millionen Euro
ausgesetzt. Das macht einschließlich des Fremdkapitals
Investitionen von bis zu 10 Millionen Euro möglich. Das
ist eine Größenordnung, mit der diese Projekte in der
Regel auskommen. Wir stellen aber sicher, dass niemand
innerhalb eines solchen Projektes mit dem Vertrieb der
Anleihen durch Provisionen Geld verdienen kann. Es
soll tatsächlich der soziale, gemeinnützige Aspekt im
Vordergrund stehen. Das werden wir mit diesem Gesetz
erreichen.

Das Gleiche gilt für Projekte von Religionsgemein-
schaften und andere gemeinnützige Projekte, wo eben-
falls die Schwelle zur Prospektpflicht auf 2,5 Millionen
Euro erhöht wurde. Allerdings wird hier das Investi-
tionsvolumen in den Bilanzen mit keinerlei Höchst-
grenze versehen.

Für die Bereiche des Crowdinvesting und der sozialen
und gemeinnützigen Projekte – hier geht es um eher neu-
ere Finanzierungsformen – haben wir ein Widerrufsrecht
eingeführt. Derjenige, der da investieren möchte, kann
diese Entscheidung innerhalb von 14 Tagen widerrufen.
Das heißt, dass man spontane Entscheidungen, die man
trifft, weil man vielleicht gerade vom Nachbarn beson-
ders beeindruckt war, widerrufen kann. Das führt zu Si-
cherheit für den Verbraucher. Innerhalb von 14 Tagen
kann man die Entscheidung überdenken und sein Vermö-
gen im Zweifel zurückziehen.

Weil es sich hier um neuere Investitionsformen han-
delt, die auch auf europäischer Ebene diskutiert werden,
haben wir uns für 2016 eine Evaluierung vorgenommen.
Denn eine Gruppe sagt: Ihr geht gar nicht weit genug;
wir brauchen beim Crowdinvesting hinsichtlich der
Prospektpflicht eine Grenze von 5 Millionen Euro. – Die
andere Gruppe sagt: Bei den gemeinnützigen Projekten
seid ihr mit der Festlegung der Schwelle für die Pro-
spektpflicht bei 2,5 Millionen Euro viel zu großzügig, da
drohen neue Probleme. – Wir werden Ende 2016 die
Ausnahmen von der Prospektpflicht evaluieren und prü-
fen, ob Nachbesserungsbedarf besteht.

Eine letzte Bemerkung zum vorliegenden Gesetzent-
wurf. Wir als Finanzausschuss haben uns erstmalig ge-
traut, einen Gesetzentwurf gemeinsam mit der Gesell-
schaft für deutsche Sprache zu erarbeiten. Ich danke
Lothar Binding, dass er dafür die Initiative ergriffen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten und des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])

Es ist uns an vielen Stellen gelungen, den Text lesbarer
zu machen. Insbesondere der Warnhinweis – vielleicht
geht Frank Steffel gleich noch einmal darauf ein – ist
deutlich und normal verständlich formuliert. Es mag
sein, dass es uns nicht in jedem Einzelfall gelungen ist,
eine verbraucherfreundliche Formulierung zu finden.
Vielleicht müssen wir künftig früher einsteigen. Ich kann
die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Aus-
schüssen nur ermutigen, es auch einmal zu versuchen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesellschaft
für deutsche Sprache sind sehr kooperativ. Sie nehmen
auch Rücksicht darauf, dass Gesetzgebung häufig sehr
zügig vonstattengeht.

Ich bin sicher: Deutsche Sprache kann auch in Geset-
zen eine schöne Sprache sein. Daran sollten wir auch in
diesem Parlament, das sich der deutschen Sprache ge-
widmet hat, arbeiten. Ich wünsche dabei viel Erfolg.
Herzlichen Dank für die Zustimmung und die Unterstüt-
zung bzw. für die kritischen Anregungen der Opposition.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810003300

Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Caren Lay,

Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810003400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Regulierung des Grauen Kapitalmarktes
und der Schutz von Kleinanlegern sind sinnvoll und vor
allen Dingen längst überfällig.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sagen wir als Linke nicht erst seit Prokon. Das sagen
wir seit der Lehman-Pleite, seit der Finanzmarktkrise.
Deswegen haben wir schon vor vier Jahren Anträge ein-
gebracht, in denen wir forderten: Der Graue Kapital-
markt muss an die Leine gelegt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist nicht nur für uns als Linke ärgerlich, sondern vor
allen Dingen für die vielen, die von Prokon geprellt wur-
den, dass unsere Vorschläge damals nicht angenommen
wurden. Das hätte Tausenden Menschen den Verlust ih-
rer Geldanlagen ersparen können.

Es hat leider zu lange gedauert, aber wir freuen uns
natürlich, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf
den Finanzmärkten besser geschützt werden sollen. Es
ist zum Beispiel ein Schritt in die richtige Richtung, die
Befugnisse der Bundesanstalt für Finanzdienstleistun-
gen, also der BaFin, weiter auszubauen. Wir als Linke
fordern schon lange: Wir brauchen eine schlagkräftige
Aufsicht für die Finanzmärkte, und das heißt mindes-
tens: eine Aufsicht, die warnen muss und nicht nur war-
nen kann.


(Beifall bei der LINKEN)






Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Dabei darf es aus unserer Sicht jedoch nicht bleiben.
Wir fordern schon seit vielen Jahren: Wir brauchen einen
Finanz-TÜV, der dafür sorgt, dass Schrott überhaupt
nicht auf den Markt kommt. Darauf kommt es im End-
effekt an. Am besten wäre es also, die Produkte vor der
Zulassung zu prüfen. Wir stehen mit unserer Kritik nicht
alleine da. Ich darf an die Anhörung im März erinnern.
Dort hat beispielsweise Professor Oehler es ganz gut auf
den Punkt gebracht: Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf schaffen Sie es maximal, dass der Graue Kapital-
markt von dunkelgrau in hellgrau wechselt. Dabei darf
es nicht stehen bleiben. Der Graue Kapitalmarkt ist ein
Sumpf, den man trockenlegen muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Neben der deutlichen Vereinfachung von Produkten,
die er fordert, und neben der Definition von Mindestan-
forderungen kritisiert er auch völlig zu Recht die Zer-
splitterung der Aufsicht. Ich habe wirklich kein Ver-
ständnis dafür, dass die Koalition nicht die Chance
genutzt hat, dieses unsinnige Nebeneinander von Gewer-
beaufsicht und BaFin bei der Kontrolle von Finanzpro-
dukten aufzulösen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die vielen freien Finanzvermittler bleiben weiterhin der
laxen Gewerbeaufsicht unterstellt, die fachlich nicht aus-
gebildet ist. Dort gehört die Aufsicht nun wirklich nicht
hin. Wir sagen auch: Solange die Zuständigkeiten nicht
konzentriert werden, brauchen wir nicht von einer effek-
tiven Aufsicht zu sprechen.

Ich möchte einen Punkt ansprechen, der für uns als
Linke besonders wichtig ist und der auch in der Debatte
eine große Rolle gespielt hat: Es geht um die sozialen
Projekte aus dem Bereich der solidarischen Ökonomie.
Beinahe wäre hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
worden. Bei aller Notwendigkeit, die wir natürlich se-
hen, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren und die
Kleinanleger zu schützen, muss man unterscheiden zwi-
schen denen, die auf Kosten der Kleinanleger eine
schnelle Mark machen wollen, und denen, die Geld ein-
sammeln, um Dorfläden, Konsumgenossenschaften oder
freie Schulen zu gründen,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


oder, wie das Mietshäuser Syndikat, Häuser vom Markt
nehmen, um Wohnraum zu günstigen Mieten anzubie-
ten, und das – das ist das Entscheidende – ohne Profit-
streben, ohne Provision und ohne professionellen
Vertrieb. Ich freue mich, dass es viele Projekte der soli-
darischen Ökonomie gibt, bei denen Bürgerinnen und
Bürger Gemeinsinn über Profitstreben stellen. Solche
Projekte müssen anders behandelt werden als windige
Geschäftemacher.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben deswegen eine Vertreterin des Mietshäuser
Syndikats in die Anhörung eingeladen, die dort aus ihrer
Sicht – Pars pro Toto – die vielen Projekte der solidari-
schen Ökonomie vorstellen konnte. Ich möchte an dieser
Stelle sagen, dass ich es gut finde, dass die Koalition
sich das angehört hat und sich offen gezeigt hat, das An-
liegen dieser Initiativen ernst zu nehmen.

Die Kriterien für die solidarische Ökonomie hätten
wir im Detail anders geregelt – zwei habe ich genannt –,
trotzdem glaube ich, dass jetzt bei vielen Projekten die
Existenzängste genommen werden können. Ich hoffe,
dass viele Mieterinnen und Mieter, viele Dorfläden und
Konsumgenossenschaften davon profitieren. Ich weiß,
dass Forderungen gestellt werden. Das Mietshäuser Syn-
dikat zum Beispiel sagt, ein Volumen von 2,5 Millionen
Euro reiche nicht, wenn man in einer deutschen Groß-
stadt investieren möchte. Ich denke, darüber müssen wir
im Zuge der Evaluation noch einmal debattieren.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss auf einige Punkte zu sprechen kommen, die aus
meiner Sicht für den Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher relevant sind. Wenn Verbraucherinnen und
Verbraucher wirklich eine mündige Entscheidung treffen
sollen, dann brauchen sie verständliche, vor allen Din-
gen aber vergleichbare Informationen. Die Prospekte
sind für die Endverbraucherinnen und -verbraucher lei-
der häufig zu umfangreich und zu unverständlich. Diese
Prospekte sind auch kein Garant. Wir wissen zum Bei-
spiel, dass Prokon ein solches Prospekt hatte. Wir Ver-
braucherpolitikerinnen und Verbraucherpolitiker kennen
diese Debatte von den sogenannten Beipackzetteln, also
von den Produktinformationsblättern bei Wertpapieren.
Sinnvoll wäre ein kurzes, vor allen Dingen standardisier-
tes Informationsblatt für Vermögensanlagen, das jeder
und jede versteht. Hier muss aus unserer Sicht noch
nachgebessert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Heute wird die lange Leine, an der der Graue Kapital-
markt leider jahrelang geführt wurde, um ein paar Zenti-
meter gekürzt. Das ist kein großer Wurf, aber ein Schritt
in die richtige Richtung. Deswegen werden wir uns der
Stimme enthalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810003500

Vielen Dank. – Für die Bundesregierung hat jetzt der

Bundesminister Heiko Maas das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! In Zeiten niedriger Zinsen oder mittlerweile so-
gar negativer Zinsen suchen Menschen neue Anlagefor-
men für ihr Geld. Das ist völlig nachvollziehbar. Wir
müssen aber dafür sorgen, dass der Verbraucherschutz
mit dieser Entwicklung Schritt hält. Das war, wie wir
finden, bisher nicht der Fall. Bisher war der Schutz der
Verbraucher gerade dort schwach, wo das Risiko hoch
gewesen ist, zum Beispiel am Grauen Kapitalmarkt.
Welch verheerende Folgen das haben kann, hat der





Bundesminister Heiko Maas


(A) (C)



(D)(B)

schon erwähnte Fall Prokon sehr deutlich gezeigt. Ich
will aber darauf hinweisen, dass die Ziele, die wir mit
der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erreichen
wollen, schon vor dem Fall Prokon im Koalitionsvertrag
festgelegt wurden. Der Fall Prokon hat die Notwendig-
keit lediglich ganz besonders deutlich gemacht und ge-
zeigt, wie dringlich der Gesetzentwurf, den wir jetzt vor-
legen, ist.


(Beifall bei der SPD)


Wir sorgen damit für mehr Transparenz, wir verbessern
den Schutz der Anleger, und wir stärken – das ist wichtig
für die Durchsetzbarkeit – die Aufsicht über den Markt.

Der Verkaufsprospekt ist sicherlich das zentrale In-
strument, um Transparenz bei der Vermögensanlage zu
erreichen. Er soll dem Publikum eine zutreffende Beur-
teilung des Anbieters und der Anlage ermöglichen. Das
kann aber nur klappen, wenn die gesetzliche Pflicht, ei-
nen Prospekt zu erstellen, tatsächlich greift. Bislang ist
sie durch die Gestaltung der Verträge – und dafür gab es
bedauerlicherweise viele Möglichkeiten – häufig um-
gangen worden. Genau das verhindern wir jetzt. Wir
schließen ein Schlupfloch, und wir machen es richtig
dicht. Wir machen die Prospekte vor allen Dingen aussa-
gekräftiger. Frau Lay, wir verpflichten die Anbieter zum
Beispiel, personelle Verflechtungen offenzulegen. Wenn
derjenige, der die Anlage vertreibt, letztlich identisch ist
mit demjenigen, dem das Kapital zufließt, dann sollten
die Anleger das zumindest wissen.

Schließlich führen wir auch einen Warnhinweis ein.
Auch das ist mehr als sinnvoll. Denn aus der Verhaltens-
forschung wissen wir, dass Menschen bei Vermögensan-
lagen dazu neigen, Chancen zu überhöhen und Risiken
zu ignorieren. Deshalb wird in Zukunft ein Satz ganz
deutlich im Prospekt stehen – ich will ihn einmal zitie-
ren; ich denke, er ist für jeden verständlich –:

Der Erwerb dieser Vermögensanlage ist mit erhebli-
chen Risiken verbunden und kann zum vollständi-
gen Verlust des eingesetzten Vermögens führen.

Neben mehr Transparenz sorgen wir auch für einen
besseren Schutz der Verbraucher. Dazu verbieten wir
zum Beispiel – das halte ich für ganz wesentlich – die
Nachschusspflichten voll und ganz. In Zukunft sind Zah-
lungspflichten über die Einlage hinaus grundsätzlich
nicht mehr erlaubt. Damit schützen wir Verbraucherin-
nen und Verbraucher davor, dass sie am Ende doch mehr
Geld investieren müssen, als sie tatsächlich wollen.

Gute Regeln nützen aber nur wenig, wenn ihre Ein-
haltung nicht auch effektiv überwacht wird. Deshalb
stärken wir ganz besonders die staatliche Aufsicht über
den Finanzmarkt. Die BaFin soll sich in Zukunft nicht
nur um die Stabilität von Finanzinstituten kümmern,
sondern auch um die kollektiven Interessen der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher. Der Finanzmarkt besteht
nicht nur aus Banken, Fonds und Händlern, sondern
auch aus vielen Tausend Kleinanlegern. Auch für sie
wird die BaFin in Zukunft da sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist wichtig und für den Verbraucherschutz eine Art
Paradigmenwechsel. Denn die BaFin kann künftig War-
nungen veröffentlichen. Im Extremfall kann sie sogar
einzelne Produkte ganz verbieten. Damit kann sie die
schwarzen Schafe aussondern. Das liegt im Ergebnis
auch im Interesse der Herde, nämlich der vielen seriösen
Anbieter, die es auf dem Markt gibt.

Bei alldem stellen wir auch eines sicher: Bei bürger-
schaftlichem Engagement – das ist eben schon angespro-
chen worden – oder bei sogenanntem Crowdinvesting
bleibt auch in Zukunft eine unbürokratische Finanzie-
rung möglich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist uns wichtig gewesen. Deshalb haben wir die ent-
sprechenden Schwellenwerte noch einmal kräftig ange-
hoben. Wenn etwa ein Sportverein eine neue Turnhalle
bauen will, dann kann er künftig bis zu 2,5 Millionen
Euro einsammeln, ohne dass er die strengen Vorgaben
des Anlegerschutzes beachten muss. Das wird auch in
Zukunft entsprechende Projekte möglich machen. Aller-
dings gibt es eine wichtige Voraussetzung: Beim Ver-
trieb solcher Anlagen dürfen keine Provisionen fließen.
Außerdem kann jeder Anleger seine Beteiligung – auch
das halte ich für eine nicht unwichtige Verbesserung, die
in den Beratungen in den Gesetzentwurf eingefügt wer-
den konnte – innerhalb von 14 Tagen widerrufen. Das ist
ein fairer Ausgleich aller Interessen.

Dieses Gesetz sorgt insgesamt für mehr Ordnung auf
dem Finanzmarkt. Das ist gut. Das hat damit zu tun, dass
wir den unseriösen Anbietern das Handwerk deutlich er-
schweren. Das schafft mehr Sicherheit für die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher und damit auch deutlich
mehr Vertrauen in den Markt. Deshalb ist dieses Gesetz
so wichtig.

Ich bedanke mich für die außerordentlich konstrukti-
ven Beratungen hier im Parlament, und ich danke Herrn
Dr. Meister für die außerordentlich gute Zusammenar-
beit mit dem BMF. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810003600

Vielen Dank. – Als Nächstes hat Dr. Gerhard Schick,

Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörinnen und Zuhörer! In den letzten Wochen
konnte man bei den Beratungen zu diesem Gesetzent-
wurf manchmal den Eindruck haben, als sei gute Politik
für Verbraucherinnen und Verbraucher etwas, das im Ge-
gensatz steht zu der Förderung von gemeinnütziger
Wirtschaft, von sozialen Initiativen, von bürgerschaftli-
chem Engagement im wirtschaftlichen Bereich. Wir
Grünen meinen: Das ist nicht so. Vielmehr sind wir da-





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

von überzeugt, dass gute Verbraucherpolitik für die ver-
schiedenen Lebensbereiche passgenau sein muss, dass
Verbraucherinnen und Verbraucher, dass Anlegerinnen
und Anleger immer wissen müssen, um was es geht, und
dass man hier zu einem sinnvollen Ausgleich kommen
kann. Genauso wie es bei der Bankenregulierung wenig
sinnvoll ist, für die kleine Volksbank dieselben Regeln
wie für die große Deutsche Bank zu treffen, ist es wenig
sinnvoll, für große Fonds und kleine soziale Projekte vor
Ort dieselben Regeln zu haben. Wir sind froh, dass es
uns gemeinsam mit vielen sozialen Initiativen gelungen
ist, in diesem Gesetzgebungsverfahren an vielen Stellen
einen guten Ausgleich hinzubekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Gesetzgebungsinitiative wurde nach dem Pro-
kon-Skandal ergriffen. Erlauben Sie mir daher einen kur-
zen Rückblick. Es ist gut, dass die BaFin jetzt endlich
die Zuständigkeit für den kollektiven Verbraucherschutz
bekommt und sich darum kümmern soll. Es ist richtig,
dass sie auch einzelne Produkte aus dem Verkehr ziehen
kann. Aber die Frage ist: Warum braucht es immer erst
einen neuen Skandal? Wir waren eigentlich schon in der
letzten Legislaturperiode an dieser Stelle der Debatte.
Damals war eine Lösung aber leider noch nicht möglich.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber wir haben es jetzt gemacht!)


Es ist gut, dass dies jetzt gelungen ist. Ich hoffe, dass wir
die bestehenden Lücken noch schließen können.

Ich möchte für meine Fraktion ausdrücklich begrü-
ßen, dass das Verbot von Nachschusspflichten aufge-
nommen und die Verjährungsfristen angepasst worden
sind; das ist richtig und sinnvoll. Auch der Warnhinweis
ist gut formuliert. Wir müssen jetzt hoffen, dass die Um-
setzung klappt und die BaFin, also die Finanzaufsichts-
behörde, ihre neuen Kompetenzen wirklich sinnvoll
nutzt. Darauf werden wir achten müssen.

Uns war ein besonderes Anliegen, dass Projekte des
bürgerschaftlichen Engagements und gemeinnützige
Projekte adäquat und passgenau in diesen Gesetzentwurf
eingefügt werden. Das war am Anfang des Gesetzge-
bungsverfahrens nicht der Fall. Es war gut, dass viele
protestiert und gesagt haben: So geht es nicht. – Denn
wo stünden wir bei der Energiewende, wenn es nicht
viele bürgerschaftliche Initiativen und viele Genossen-
schaften gäbe? Wie sähe es auf dem Wohnungsmarkt
aus, wenn wir alles nur den großen und sich immer wei-
ter konzentrierenden Konzernen überlassen würden? Wir
brauchen diese Gegengewichte in unserer Wirtschaft
ganz dringend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An ein paar Stellen sind allerdings Lücken geblieben,
die ich kurz benennen will; denn wir werden dem Ge-
setzentwurf letztlich nicht zustimmen, sondern uns ent-
halten, weil es diese Lücken gibt. Ich will zum einen das
Thema Crowdinvesting nennen. Wir finden es wichtig,
dass die Schwelle angehoben worden ist; denn innova-
tive Projekte brauchen innovative Finanzierungsmög-
lichkeiten. Aber als Gegengewicht hätte es dringend eine
Regulierung der Plattformen gebraucht. Das kann man
nicht den Gewerbeaufsichtsämtern überlassen, da diese
dafür nicht die nötige Kompetenz haben. Es ist wichtig,
dass Provisionen und Zuwendungen offengelegt werden,
auch in diesem Bereich. Hier muss Transparenz ge-
schaffen werden. Dazu ist aber keine Regelung getrof-
fen worden. Wir brauchen hier, wie auch bei anderen
Wertpapierdienstleistungsunternehmen, eine Pflicht zur
getrennten Vermögenswahrung. Gerade für Fälle, in de-
nen es um viel Geld geht, müssen klare Regeln getroffen
werden. Das fehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber unter dieser Überschrift wäre das nicht sinnvoll gewesen! Dafür braucht man ein anderes Gesetz!)


Dasselbe gilt im Hinblick auf die Frage: Wie sehen ei-
gentlich die Prospekte aus? Es kann nicht sein, dass wir
nur über Ausnahmen in einem Bereich reden, sondern
wir müssen insgesamt feststellen: Die gesetzlich vorge-
schriebenen Wertpapierprospekte dienen der Freizeich-
nung der Anbieter, die sich rechtlich gegen alles absi-
chern können, aber nicht wirklich zur Information für
die Menschen, die ihr Geld geben. Wir sind uns da weit-
gehend einig.

Ich finde, es wäre nötig gewesen, in diesem Gesetzge-
bungsverfahren zumindest einen klaren Pfad vorzuzeich-
nen, der deutlich macht, dass wir diese Kritik ernst neh-
men und endlich zu einer Standardisierung der Prospekte
kommen wollen. Wertpapierprospekte müssen verständ-
licher und kürzer werden; dann können sie vielleicht
auch billiger werden. Dadurch kommen wir in den ver-
schiedenen Bereichen unserer Wirtschaft zu einer guten
Verbraucherpolitik, die dazu führt, dass der Verbraucher
bzw. der Anleger immer auf Augenhöhe mit dem Anbie-
ter ist. Das ist unser Ziel.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810003700

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält

jetzt der Kollege Dr. Hans Michelbach das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1810003800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Seit dem Ausbruch der internationalen Finanz-
und Wirtschaftskrise im letzten Jahrzehnt haben wir na-
tional und international auf vielen Ebenen mit einem
ganzen Bündel von Maßnahmen Vorsorge getroffen, um
eine Wiederholung der Schieflage des Finanzsystems
möglichst zu verhindern, um aber zumindest zu verhin-
dern, dass die Staaten und damit letztendlich die Steuer-
zahler erneut einspringen müssen, um die Fehler von Fi-
nanzkonzernen und ihren Managern auszubügeln.

Das Regulierungspaket umfasst mittlerweile fast
40 Maßnahmen und Gesetze. Das ist ein Spannungsfeld;





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

denn die einen sagen: „Das ist zu viel“, und die anderen
sagen: „Das ist zu wenig“. Deshalb werden wir die Wir-
kungen immer wieder auf den Prüfstand stellen. Ich
glaube, es ist wichtig und richtig, dass man diesen Pro-
zess als Gesetzgeber immer wieder begleitet. Das tun
wir intensiv. Vielen Dank dafür!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu den Korsettstangen und Leitplanken für die Fi-
nanzbranche gehören auch eine Stabilität des Grauen
Kapitalmarktes und ein wirksamer Anlegerschutz. Da-
mit meine ich vor allem den Schutz der Kleinanleger.
Wir setzen heute daher Akzente bei der Transparenz von
Vermögensanlagen. Wir erhöhen die Anforderungen an
die Anbieter und Vermittler. Wir verschärfen die Pros-
pektpflichten und sehen eine erweiterte Rechnungsle-
gung bei Emittenten vor. Und wir setzen Akzente, indem
wir den kollektiven Verbraucherschutz als weiteres Auf-
sichtsziel der BaFin ergänzen.

Wir schaffen heute im Spannungsfeld zwischen den
Produkten der Vermögensanlagen und dem Verbraucher-
schutz praxisnahe Lösungen. Wir dienen damit der Ak-
zeptanz des Finanzmarktes in der breiten Bevölkerung.
Hier ist ja auch Vertrauen, eine Vertrauensbasis notwen-
dig. Natürlich müssen wir, was den Anlagemarkt betrifft,
fachlich immer differenzieren. Die großen Player auf
den Finanzmärkten verfügen über nahezu jegliche Infor-
mation, die für ihre Investitionsentscheidung von Belang
ist. Kleinanleger verfügen über diese Informationszu-
gänge oft nicht oder nur ungenügend. Für sie ist Ver-
trauen in die Produkte eine ganz zentrale Währung. Sie
müssen sich darauf verlassen können, dass sie nicht
übers Ohr gehauen werden, wenn sie auf der Suche nach
lohnenden Anlagemöglichkeiten sind.

Hier hat der Gesetzgeber die wichtige Rolle wahrzu-
nehmen, die Risiken und Chancen eines freien Marktes
offen und ehrlich zu beschreiben; darauf kommt es an.
Wir dürfen dem Kleinanleger nichts vormachen; deshalb
an dieser Stelle noch einmal klar und deutlich: Dieses
Gesetz ist kein Sorglosigkeitsgesetz für Kleinanleger.
Dieses Gesetz schafft zwar mehr Klarheit und Durch-
blick; der Anleger bleibt für seine Entscheidung aber
nach wie vor selbst verantwortlich. Eigenverantwortung
gehört auch in Zukunft zur freien Marktwirtschaft,
meine Damen und Herren. Der Staat, der Gesetzgeber ist
weder das Kindermädchen noch der Vormund der Bür-
gerinnen und Bürger; das muss man ehrlich und offen
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Fall Prokon wurde wieder angesprochen. Tatsa-
che ist, dass es dort den klaren Warnhinweis gab: Total-
verlust ist möglich. – Trotzdem wurde gezeichnet; das ist
die Situation. Auch die BaFin hätte sich schon früher mit
dem Fall befassen können.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Auch dieses Gesetz enthebt die Anleger nicht der
Pflicht, selbst zu prüfen und verantwortlich zu entschei-
den. Dieses Gesetz wird aber dafür sorgen – das sollte
man ehrlich voranstellen –, dass Kleinanleger ihre Ent-
scheidung auf einer deutlich besseren Informationsbasis
treffen können und die Produkte einer Regulierung un-
terzogen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Dieses Gesetz kann – auch das müssen wir ehrlich an-
sprechen – jedoch ein anderes Problem nicht aus der
Welt schaffen, das wesentlich zu Verlusten durch risiko-
reichere Anlagen geführt hat: die Zinspolitik der Euro-
päischen Zentralbank. Sie hat dazu geführt, dass mit sehr
sicheren Anlagen praktisch keine Rendite mehr zu erzie-
len ist. Eine solche Zinspolitik, die Zinshöhe und Risiko
voneinander entkoppelt, muss auf Dauer zu schweren
Fehleinschätzungen bei den Risiken führen; das ist auto-
matisch so. Sie führt vor allem dazu, dass klassische
Vorsorgeinstrumente entwertet werden, ja dass Vorsorge
insgesamt entwertet wird. Das ist natürlich eine große
Gefahr. Mit ihrer Nullzinspolitik treibt die EZB jene ge-
radezu ins Abenteuer, die auf der Suche nach Anlagen
für die Vorsorge sind, mit denen sie wenigstens noch
eine kleine Rendite erzielen wollen, und Vermögensver-
luste vermeiden wollen. Dies ist eine Zins- und Geldpo-
litik, die meiner Ansicht nach an keiner Stelle zu positi-
ven Ergebnissen führt oder auch nur führen kann. Sie
erzeugt bei unseren Anlegern geradezu einen Kollateral-
schaden bei der Altersvorsorge und beim Vermögensauf-
bau – auch das gehört dazu – und ist gewissermaßen eine
Anstachelung der Rendite- und Risikofreudigkeit der
Anleger. Sie erhöht die Gefahr, dass mangelnde Vorsicht
bei den Anlegern angestachelt wird und daraus neue Ver-
mögensverluste erwachsen. Vor diesen Folgen der Poli-
tik der EZB kann dieses Gesetz leider keinen Schutz bie-
ten. Auch das gehört zur Ehrlichkeit. Dagegen würde nur
ein grundlegender Kurswechsel der EZB helfen, der be-
dauerlicherweise aber nicht in Sicht ist.

Dennoch haben wir im vorliegenden Gesetzentwurf
praxisnahe Lösungen gefunden, die gleichzeitig einen
hohen Anspruch an das Schutzniveau der Kleinanleger
stellen. Hierzu möchte ich kurz das Crowdinvesting he-
rausgreifen – es ist bereits angesprochen worden –, bei
dem wir das Risiko für Kleinanleger bei Selbstauskunft
auf 10 000 Euro begrenzen. Die Start-up-Branche wird
durch eine Befreiung von der Prospektpflicht bis
2,5 Millionen Euro gestärkt und damit wettbewerbsfähi-
ger gemacht. Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir haben
für die sozialen Projekten und die gemeinnützigen Orga-
nisationen eine Lösung gefunden. Ebenso haben wir für
das Crowdlending und die Genossenschaften praxisnahe
Lösungen gefunden.

Nun ist es nicht so, dass dieses Parlament in der Ver-
gangenheit auf dem Gebiet des Anlegerschutzes untätig
gewesen wäre. Ich erinnere in diesem Zusammenhang
auch an das Vermögensanlagengesetz. Aber, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, wir haben erleben müssen,
dass Anleger in jüngster Zeit als Folge von Vermögens-
anlagen auf dem sogenannten Grauen Kapitalmarkt zum
Teil erhebliche Vermögensverluste hinnehmen mussten.
Dieses Gesetz wird für mehr Transparenz, Prüfung und
Sicherheit für die Anlegerinnen und Anleger sorgen. Das





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

ist ein hehres Ziel, es ist ein wichtiges Etappenziel, das
wir heute erreichen, und darauf können wir stolz sein.

Ich möchte insbesondere auch den Koalitionskolle-
gen, die damit befasst waren, danken: Herr Dr. Steffel
und Herr Dr. Sieling, es war großartig, was Sie hier als
Kompromiss und als fachliches Ziel formuliert und letz-
ten Endes auch für uns als Lösung für die Zukunft ge-
schaffen haben. Herzlichen Dank dafür, alles Gute!

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810003900

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Susanna

Karawanskij, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810004000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Schwarz, Grau, Weiß – das sind die domi-
nanten Farben in der Diskussion bzw. in der Finanzbran-
che. Klar, es gibt schwarze Schafe in der Finanzbranche,
es gibt immer noch einen kaum regulierten Grauen Kapi-
talmarkt, und es gab viel zu lange ein weißes Blatt, weil
sich die Bundesregierung unschlüssig war und sich zö-
gerlich verhielt, wenn es um den Schutz der Kleinanle-
ger ging. Nun, nach den Skandalen unter anderem um
Prokon, nimmt man sich endlich des Kleinanlegerschut-
zes an und will den Verbraucherschutz stärken. Da
macht man sich endlich, wenn auch zaghaft, an die Re-
gulierung des Grauen Kapitalmarktes. Genau das ist das
Spannungsverhältnis, vor dessen Hintergrund dieser Ge-
setzesentwurf bewertet werden muss. Es ist klar, dass es
immer wieder schwarze Schafe geben wird, die ebenso
hehre wie haltlose Versprechungen machen und Anleger
vor allen Dingen abzocken wollen.

Es ist wichtig, dass wir vor diesem Hintergrund vor
allen Dingen die Türen vor unseriösen Machenschaften,
vor unseriösen Anbietern geschlossen halten. Darauf ha-
ben wir als Linke in der Vergangenheit geachtet, und
dazu haben wir Anträge eingebracht. Dafür werden wir
auch in Zukunft Sorge tragen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt in diesem Gesetzentwurf Licht und Schatten. Das
Licht beschreibt die Große Koalition selbst, sie hat ge-
nug Zeit dafür.

Ich werde mich vor allen Dingen auf die Schattensei-
ten konzentrieren.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da braucht man nicht so viel Zeit! Kurze Rede!)


Ich möchte zuerst einmal ein paar Punkte aufgreifen, die
hier eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben:

Es bedarf einer einheitlichen Finanzaufsicht durch die
BaFin, wenn es um den Kleinanlegerschutz geht. Das
Nebeneinander der Aufsicht der Gewerbeämter und der
BaFin in der Anlagevermittlung ist eigentlich unsinnig
und unverständlich. Das nützt den Verbrauchern über-
haupt nichts.

Auch in Bezug auf die Schwarmplattformen bzw.
Crowd-Plattformen, die eigentlich nur Vermittler sind,
also Intermediäre, gibt es Nachbesserungsbedarf, und
ich bin sehr gespannt, was die Bundesregierung bzw. die
Große Koalition hier nachliefern wird. Wir brauchen
eine Registrierungspflicht für diese Plattformen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Anforderungen an die Qualität dessen, was auf die-
sen Onlineplattformen angeboten wird, müssen standar-
disiert und eingehalten werden, damit die Kleinanlege-
rinnen und Kleinanleger Sicherheit haben.

Sie werden auch bei den Haftungsfragen nachbessern
müssen,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und das muss wiederum in Verbindung mit einer ver-
stärkten Kontrolle seitens der BaFin gebracht werden.
Hier wäre ein Plattform-TÜV, der auch in der Anhörung
genannt wurde, notwendig und wünschenswert. Wir hof-
fen, dass es hier eine Nachsteuerung geben wird.

In Zukunft werden Sie auch bei den Prospekten, die
verpflichtend sind, nachbessern müssen. Zum einen soll-
ten diese kostengünstiger gestaltet werden. Es ist unlo-
gisch und unbegreiflich, dass diese Prospekte bis zu
50 000 Euro kosten, wodurch sozialen Projekten das
Wasser abgegraben werden kann. Zum anderen müssen
diese Prospekte auch materiell und nicht nur auf Voll-
ständigkeit geprüft werden. Daneben – das wurde in der
Debatte auch schon gesagt – muss es hier eine Standardi-
sierung der Prospekte durch die Aufnahme entsprechen-
der Inhalte geben, um überhaupt eine Vergleichbarkeit
zu erreichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem brauchen wir Klarheit darüber, welche
Rechtsfolgen entstehen und welche Sanktionen verhängt
werden, wenn kein gültiger Prospekt vorliegt. Das Recht
auf Rückabwicklung wäre ein wichtiger Schritt für den
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen vor allen Dingen ein Umdenken hin zu
einer präventiven Finanzmarktregulierung. Meine Kolle-
gin Caren Lay hat es bereits genannt: Wir brauchen ei-
nen Finanz-TÜV, sodass wir nicht immer wieder hinter-
herhinken und nachsteuern, sondern damit hochriskante
Papiere – der ganze Finanzschrott – vor einer Zulassung
überprüft werden und gegebenenfalls erst gar nicht auf
den Markt kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf ein Pro-
blem in der Zukunft hinzuweisen. Es geht um die Genos-
senschaften, die gerade regional wichtige Institutionen
sind, ihre Strapazierfähigkeit in der Bankenkrise unter
Beweis gestellt haben und vor allen Dingen wirtschaftli-
che, soziale und kulturelle Bedürfnisse miteinander ver-
einen. Das sage ich jetzt nicht nur als Abgeordnete aus





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

Nordsachsen, wo Hermann Schulze-Delitzsch die Genos-
senschaften als Rechtsform begründet hat, in Delitzsch,
und ein Jahr später, 1850, die erste Konsumgenossen-
schaft von allen Bürgern, Arbeitern und Handwerkern
gegründet wurde, sondern vor allen Dingen, weil die
Genossenschaften möglicherweise ein Schlupfloch auf-
weisen, sodass sie zum Spielball von finanzgetriebenen,
spekulativen Kapitalinteressen werden können.

Es ist schlüssig, dass Genossenschaften ihren Mitglie-
dern Finanzprodukte auch ohne die bestehenden Pros-
pektpflichten anbieten dürfen, aber ich möchte bereits
heute davor warnen, dass sich nun vermehrt Genossen-
schaften mit dem Ziel gründen, ihren Mitgliedern – durch
den Kauf entsprechender Anteile wird man zum Genos-
senschaftsmitglied – innerhalb dieses Genossenschafts-
mantels vor allen Dingen hochriskante Nachrangdarle-
hen aufzudrücken. Dadurch wird der Gedanke von
Solidarität und Hilfe ausgehöhlt, und dadurch werden
die Genossenschaften diskreditiert. Der Schutz, den
diese Rechtsform eigentlich den Kleinanlegern bietet,
wird geschwächt, und Schutz wird dann nur noch als
Schutz vor Kontrolle wahrgenommen.

Hierauf werden wir in Zukunft ein wachsames Auge
haben. Erste Fälle von Missbrauch sind bereits bekannt.
Wir als Linke wollen verhindern, dass Genossenschaften
von unseriösen Anbietern missbraucht werden und Ni-
schen genutzt werden, um solche Rechtsformen zu dis-
kreditieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810004100

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt

Dr. Carsten Sieling das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1810004200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser De-
batte macht sich eine große Zufriedenheit breit: Man
spürt, dass an diesem Gesetzentwurf gemeinsam gear-
beitet worden ist. Ich will zum Ausdruck bringen, dass
ich mich über diese Zusammenarbeit und über dieses
gute Ergebnis sehr freue. Es ist aber vor allem wichtig,
dass wir diesen Gesetzentwurf für die Menschen im
Lande erarbeitet haben, um den Verbraucherschutz zu
stärken und gleichzeitig soziales, gesellschaftliches und
wirtschaftliches Engagement in seiner Entwicklung zu
fördern. In diesem Sinne muss man diese große Zufrie-
denheit sehen.

Kollegin Karawanskij hat hier von Licht und Schatten
gesprochen. Ich werde gleich einige Punkte, die Sie als
Schatten kritisiert haben, ansprechen. Ich kann mir aber
den Hinweis nicht verkneifen, dass die Koalition heute
Petrus auf ihrer Seite hat: Der Verbraucherschutz ist in
diesem Gesetzentwurf so stark verankert, dass als Folge
die Sonne ohne Unterlass scheint. Ich finde, das ist für
unser Vorhaben ein schönes Zeichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will in diesem Zusammenhang den Kompass an-
sprechen, der uns nicht nur in den parlamentarischen Be-
ratungen begleitet und geleitet hat, sondern auch in
dem Entwurf der Bundesregierung von Bundesminister
Heiko Maas und Bundesminister Schäuble seine Wir-
kung gezeigt hat. Dieser Kompass soll dazu beitragen,
auf der einen Seite den Anlegerschutz zu stärken und auf
der anderen Seite wirtschaftliches und gesellschaftliches
Engagement nicht zu erschweren.

Ich will auch gerne – das ist mir das Wichtigste – auf
den zentralen Punkt und auf das langfristige Ziel – das
ist meines Erachtens ein strategisch entscheidender
Punkt – in diesem Gesetzentwurf hinweisen. Es ist die
Tatsache, dass die BaFin, die deutsche Finanzaufsicht,
zukünftig nicht nur für die Anbieter, sondern auch für
den Verbraucherschutz zuständig ist.

Kollege Schick hat darauf hingewiesen, dass wir nicht
nur in der letzten Legislaturperiode, sondern auch in den
Jahren davor hier im Hause immer wieder darüber disku-
tiert haben – wir haben uns in diesem Zusammenhang
auch mit vielen Sorgen auseinandergesetzt –, ob mit ei-
ner solchen Regelung nicht eine Staatshaftung für ris-
kante Produkte einhergeht. Diese Sorge konnten wir aus
dem Weg räumen. Damit haben wir hier eine systemati-
sche Entwicklung. Diese moderne Finanzaufsicht ist
nicht durch Skandale – Stichwort „Prokon“ – zustande
gekommen, sondern sie ist Folge einer bewussten politi-
schen Entscheidung auf der Grundlage des Koalitions-
vertrages. Wir als Sozialdemokraten hatten hieran ein
besonderes Interesse.

Ich will das einmal einordnen: Wir haben den
Kleinanlegerschutz in den Blick genommen. Wir ha-
ben die BaFin gestärkt. Wir haben für die Einführung
der Finanzmarktwächter gesorgt und viele andere wich-
tige Sachen auf den Weg gebracht. So muss das sein.
Das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Reihe von Themen sind im Rahmen des Ver-
braucherschutzes aufgegriffen worden – meine Vorred-
nerinnen und Vorredner haben das schon genannt –, etwa
dass Nachrangdarlehen in die Regulierung einbezogen
werden, sodass wir insgesamt dafür sorgen, Fehlent-
wicklungen bei privatem Engagement zu vermeiden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang – mit diesem
Punkt haben sich viele meine Vorrednerinnen und Vor-
redner auseinandergesetzt – unser Ziel ansprechen – das
will ich sehr deutlich sagen –, soziale Aktivitäten, genos-
senschaftliche Aktivitäten, gemeinnützige Aktivitäten,
aber auch wirtschaftliche Aktivitäten von Unterneh-
mensgründern und anderen nicht einzuengen, sondern
ihnen mehr Spielraum zu geben. Sehr konkret haben wir
deshalb die Grenze für die Prospektpflicht von 1 Million
Euro auf 2,5 Millionen Euro erhöht. Aber ich darf an
dieser Stelle sagen, weil das ein bisschen unterzugehen
scheint: Es ist natürlich niemandem verboten, für sein





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

Projekt mehr Geld einzusammeln. Aber dann gilt die
Prospektpflicht. Dann sind gewisse Regulierungsvorga-
ben zu erfüllen. Dafür gibt es kein Verbot; allerdings
muss man dann einiges auf den Tisch legen. Damit wird
die Sicherheit erhöht und das Risiko erkennbar. Das ist
das Ziel, um das es uns geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben die Grenze deshalb angehoben, weil uns
die Auskunft gegeben wurde, dass die Prospektpflicht
mit Kosten in Höhe von ungefähr 50 000 Euro verbun-
den ist. Das muss man in Relation zueinander setzen.
Lassen Sie mich darauf etwas Zeit verwenden, damit
dieser Zusammenhang klar ist und auch klar wird, wa-
rum wir nicht höher angesetzt haben, beispielsweise bei
der 4-Millionen-Euro-Grenze, die die Grünen ausdrück-
lich empfehlen.

Mit 2,5 Millionen Euro, die man einsammeln kann,
kann man nach allgemeiner wirtschaftlicher Einschät-
zung bei Kreditaufnahme insgesamt 7 Millionen bis
10 Millionen Euro mobilisieren. Wenn man 10 Millio-
nen Euro mobilisiert, entsprechen die 50 000 Euro Kos-
ten einem Anteil von einem halben Prozent. Bezogen auf
die 2,5 Millionen Euro beträgt der Anteil 2 Prozent. Das
ist eine vertretbare Relation.

Kollege Schick und auch Kollegin Lay haben gesagt:
Wir wollen die kleinen sozialen Projekte schützen. – In
der Tat, das wollen wir, und wir wollen den jungen Un-
ternehmern, die das sogenannte Crowdfunding nutzen
– dafür bietet das Internet entsprechende Möglichkei-
ten –, eine Chance geben. Aber ich darf auf eines hin-
weisen: Wenn man eine Grenze von 4 Millionen Euro
oder, wie Großbritannien, von 5 Millionen Euro vor-
sieht, dann kommt man durch die Hebelung, wie man in
der Finanzwirtschaft sagt, sehr schnell zu einer Größen-
ordnung von 15 Millionen bis 20 Millionen Euro. Dann
stellt sich die Frage, ob die Regulierungsvorgaben und
die Prospektpflicht nicht mehr gelten sollen. Wir finden
diese Größenordnung zu hoch. Wir finden, die vorgese-
hene Grenze ist wirtschaftlich vernünftig und dem Ver-
braucherschutz dienend richtig gesetzt worden, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Redezeit läuft ab. Da es schon vielfach gesagt
wurde – ich glaube, der Punkt Prospektpflicht bedurfte
besonderer Erläuterung –, brauche ich nicht näher darauf
einzugehen, dass wir das Provisionsverbot durchgesetzt
haben – das ist eine wichtige Maßnahme –, dass wir da-
für gesorgt haben, dass die BaFin zukünftig bei Werbung
Beschränkungen aussprechen kann und so etwas wie bei
Prokon nicht mehr möglich ist und dass Produktverbote
ausgesprochen werden können. Das alles bedeutet einen
großen Schritt voran.

Ich möchte mich abschließend auch von meiner Seite
sehr herzlich bei allen bedanken, die uns bei diesem
komplexen Gesetzentwurf mit so vielen rechtlichen Bie-
gungen, Höhen und Tiefen unterstützt und die Vorberei-
tungen geleistet haben. Sehr stark sind dabei die Fach-
leute in den Ministerien – sowohl im Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz als auch im Bun-
desfinanzministerium – eingebunden. Herzlichen Dank
dahin! Herzlichen Dank, Kollege Steffel, für die gute
Zusammenarbeit, aber auch an die Opposition. Denn ich
finde, wir haben etwas Ordentliches hinbekommen.

Ich darf aber auch sagen: Dass wir gut arbeiten, er-
warten die Menschen im Lande. Entscheidend ist, dass
wir gute Ergebnisse erzielen und einen guten Gesetzent-
wurf vorlegen. Das haben wir geschafft, und deshalb
bitte ich um Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810004300

Herzlichen Dank. – Es spricht jetzt Nicole Maisch,

Bündnis 90/Die Grünen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810004400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ordnung im Grauen Kapitalmarkt zu schaffen, war über-
fällig, und der vorliegende Gesetzentwurf ist dafür ein
wichtiger Schritt. Darüber, ob die SPD deshalb gleich
die Sonne scheinen lässt, Herr Kollege Sieling, kann
man sicherlich diskutieren.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie scheint freiwillig für uns!)


Aber es ist wichtig gewesen, hier Ordnung zu schaffen.

Wir Grünen haben eine Studie in Auftrag gegeben,
die ergeben hat, dass deutsche Verbraucherinnen und
Verbraucher jährlich um 30 Milliarden Euro geschädigt
werden, die sie im Grauen Kapitalmarkt versenken. Wir
alle wissen aus Gesprächen mit geschädigten Anlegern,
dass dies häufig Leute sind, die ihre Altersvorsorge ver-
senken bzw. ihre Existenz vernichten. Wir haben alle
entsprechende Briefe bekommen und Gespräche geführt:
Damit sind Schicksale verbunden, die niemanden von
uns kaltlassen können.

Das waren, Herr Kollege Michelbach, keine klassi-
schen Gier-frisst-Hirn-Geschichten – dafür sind es ein-
fach zu viele Fälle –, es waren wirklich oft Leute,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es waren Leute, die nicht lesen können!)


die gutgläubig Beratern und Vertriebsleuten vertraut ha-
ben und hohe Schäden in Kauf nehmen mussten. Des-
halb ist es richtig, hier im Kleinanlegerschutzgesetz den
Grauen Kapitalmarkt zu regulieren.

Aber lassen Sie mich Folgendes sagen: Wenn man
wirklich Kleinanlegerschutz betreiben will, dann gibt es
durchaus im Finanzmarkt noch andere Dinge zu tun. Da
geht es um Riester-Verträge, die nicht passgenau sind, da
geht es um Lebensversicherungen, die viel zu oft früh-
zeitig gekündigt werden, weil sie zu den Lebensrealitä-
ten der Menschen nicht passen, da geht es um Bauspar-
verträge, die jetzt zu Tausenden gekündigt werden, weil
die Banken die Kunden loswerden wollen. Das heißt,
Kleinanlegerschutz betrifft nicht nur den Grauen Kapi-
talmarkt, sondern das ist deutlich mehr.





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber zurück zum Gesetz. Sie erfüllen damit vieles,
was wir seit Jahren fordern: Nachrangdarlehen regulie-
ren, kollektiven Verbraucherschutz bei der BaFin eta-
blieren, Nachschusspflichten verbieten. Das ist alles
richtig, das ist alles gut. Dieses Kompliment geht nicht
nur an Sie, sondern natürlich auch an uns, weil wir als
Opposition im Gesetzgebungsprozess noch wichtige As-
pekte einbringen konnten.

Ich finde, das Gesetz ist im Beratungsverfahren auch
besser geworden, was die Ausnahmen für die solidari-
sche Ökonomie angeht; denn es ist auch eine wichtige
Seite des Grauen Kapitalmarkts, Geldquelle für gesell-
schaftlichen Fortschritt zu sein, Geldquelle dort zu sein,
wo klassische Finanzierungswege versagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man muss sagen: Nicht alle Bedenken, die von den
Initiativen im Gesetzgebungsprozess geäußert wurden,
waren begründet; aber es war trotzdem sehr gut, den sehr
restriktiven Gesetzentwurf, den Sie zu Anfang vorgelegt
hatten, nämlich mit nur 1 Million Euro Obergrenze für
die Nachrangdarlehen, die die solidarische Ökonomie
einsammeln darf, mit sehr restriktiven Regelungen zu
der Frage, wie hoch die Verzinsung sein darf, anzupas-
sen und die Tür für die solidarische Ökonomie weiter
aufzumachen. Das war richtig, und das war auch ein Ver-
dienst der parlamentarischen Beratungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir Grüne glauben, dass Verbraucherschutz und mehr
Beinfreiheit für die solidarische Ökonomie zusammen
funktionieren. Wir sind der Auffassung, dass man beides
zusammenbringen kann. Hier möchte ich Ihnen drei
Punkte nennen, bei denen, wie wir glauben, der Gesetz-
entwurf noch Luft nach oben gehabt hätte und man ihn
noch besser hätte machen können.

Das Erste ist der Punkt Anlegerinformation. Hier wa-
ren wir uns in den Beratungen eigentlich einig, dass bei
den Wertpapierprospekten Verbesserungsbedarf besteht.
Wir sind der Auffassung, dass nicht nur spezialisierte
Anwältinnen und Anwälte diese verstehen können sol-
len, sondern auch der interessierte Verbraucher. Deshalb
brauchen wir eine Standardisierung dieser Prospekte mit
einer Struktur, die auch Leute, die nicht promovierte An-
wälte oder Finanzexperten sind, verstehen können. Hier
hat der Gesetzentwurf keine Verbesserungen gebracht.
Das empfinde ich als eine vertane Chance.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das zweite Thema ist Crowdinvesting. Crowdinves-
ting und Crowdfunding sind wichtige Instrumente, um
Projekte zu finanzieren, die von den Banken kein Geld
bekommen. Wir brauchen mehr Risikokapital in Deutsch-
land; das ist unbestritten. Trotzdem finden wir, dass sol-
che hochriskanten Investments – das sind nun mal die
Finanzierungen von Start-ups – vernünftig reguliert wer-
den müssen. Hier hätte man bei den Plattformen anset-
zen sollen. Wir sind der Meinung: Diese Plattformen ge-
hören unter die Aufsicht der BaFin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dritter Punkt. Bei der solidarischen Ökonomie haben
wir lange darüber gestritten, was die richtigen Ausnah-
men sind. Ich denke, dass die 2,5 Millionen Euro, die
jetzt im Gesetzentwurf stehen, vielleicht für heute trag-
fähig sind. Aber wenn wir uns anschauen, wie in den
größeren Städten die Immobilienpreise explodieren – je-
der, der sich im Freundeskreis umhört, was heute ein
Einfamilienhaus auch in mittelgroßen, nicht so attrakti-
ven Städten kostet, schlackert mit den Ohren –, dann
werden wir relativ schnell feststellen, dass gerade im Im-
mobilienbereich die Summe, die die Projektträger brau-
chen, um Häuser oder Grund und Boden zu kaufen, sehr
schnell nach oben gehen wird. Deshalb denke ich, dass
wir bei der Überprüfung des Gesetzes sehr schnell zu ei-
nem Punkt kommen werden, an dem wir feststellen wer-
den, dass diese 2,5 Millionen Euro für heute vielleicht
ausreichend sind, aber für die Zukunft wahrscheinlich zu
knapp bemessen sind.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810004500

Denken Sie bitte an die Zeit.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810004600

Alles in allem: Der Gesetzentwurf ist sicher ordent-

lich, aber es wäre an einigen Stellen noch Luft nach oben
gewesen. Deshalb werden wir uns enthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810004700

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt

Mechthild Heil das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1810004800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Spricht man über den Grauen Kapitalmarkt,
fällt natürlich immer der Begriff Prokon. Heute ist es ge-
nauso. Prokon, das ist der Inbegriff für Regulierungsde-
fizite geworden. Prokon ging Anfang letzten Jahres
durch die Medien als einer der größten Anlegerskandale
der letzten Jahre. Auf großen Tafeln, auch in der U-Bahn
– das hat am meisten für Verärgerung gesorgt – warb
dieses Unternehmen für seine Genussscheine. Die erneu-
erbaren Energien lagen schon damals im Trend. Davon
haben sich viel zu viele Anleger blenden lassen, und sie
haben Prokon-Anteile erworben, obwohl das Geschäfts-
modell alles andere als eine sichere Anlage war. Das bit-
tere Ende ließ dann nicht lange auf sich warten: Es ist
davon auszugehen, dass die meisten Anleger wahr-
scheinlich 50 Prozent ihrer Investitionen verloren haben.
Der Fall Prokon hat einmal mehr deutlich gemacht, dass
wir engere Grenzen für Informationspflichten auf dem
Grauen Kapitalmarkt setzen müssen.

Die CDU/CSU-Fraktion und ganz besonders unser
Finanzminister Wolfgang Schäuble haben mit der Erar-
beitung des vorliegenden Gesetzentwurfs schnell und
entschlossen gehandelt und werden – das freut mich am
meisten – die Position der Verbraucher in dieser Frage





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

nachdrücklich stärken. Dabei erfreuen mich insbeson-
dere drei Aspekte dieses Gesetzes: Die Prospektpflichten
werden konkretisiert und erweitert, der Warnhinweis
– darüber haben wir schon gesprochen – wird gestärkt,
aber auch der kollektive Verbraucherschutz wird als
Aufsichtsziel bei der BaFin verankert.

Verbraucher müssen nun auf dem Grauen Kapital-
markt über Art, Gegenstand und Risiken der Anlage auf-
geklärt werden. Dies muss angemessen erfolgen. Also:
Wenn ein Totalverlust droht, muss der Kunde darüber
auch aufgeklärt werden. Der Anleger kann damit Chan-
cen und vor allem Risiken besser einschätzen und auch,
ob eine Anlage eine sinnvolle Investition darstellt oder
eben nicht.

Aber das reicht uns noch nicht. Wir gehen weiter;
denn auch bei Prokon gab es diese Informationen, gab es
schon einen Warnhinweis. Wir tun noch mehr: Wir rü-
cken die Verbraucherpolitik weiter in den Mittelpunkt
der Finanzaufsicht. Die BaFin erhält – neben dem Ver-
braucherbeirat – weitere Kompetenzen. Sie kann nun
den Vertrieb bestimmter Produkte beschränken oder so-
gar verbieten, und sie darf nun auch gegenüber Anbie-
tern und Emittenten Werbeverbote verhängen. Wir ge-
ben der BaFin also die richtigen Mittel – ich würde es so
ausdrücken: sogar ein scharfes Schwert – in die Hand,
um Missständen bei der Werbung für Vermögensanlagen
zu begegnen. Außerdem stärken wir das Verständnis für
Verbraucheranliegen bei der BaFin.

Es sollte so möglich sein, dass es eine zweite Causa
Prokon nicht mehr geben wird oder dass eine solche zu-
mindest erschwert wird. Ich sage bewusst „erschwert
wird“; denn Verbraucher, die hohe Renditen erzielen
wollen und dafür bereit sind, trotz aller Warnhinweise
hohe Risiken in Kauf zu nehmen, wird es weiterhin ge-
ben. Diese werden aber in Zukunft deutlich besser über
ihre Ausfallrisiken informiert werden.

Wir können nicht alle Gefahren dieser Welt wegregu-
lieren. Aber wir können dafür sorgen, dass Verbraucher
besser einschätzen können, welche Produkte für sie in-
frage kommen und welche eben nicht. So bewegt sich
die Verbraucherpolitik immer im Spannungsfeld zwi-
schen dem Schutz der Verbraucher und der Freiheit der
Verbraucher. Wir müssen uns immer fragen, ob und in-
wieweit eine Regulierung des Marktes notwendig ist und
zu den gewünschten Ergebnissen führt. Denn der Ver-
braucher – nicht der Staat – muss am Ende entscheiden,
welches Produkt ihn überzeugt. Daher begrüße ich auch,
dass wir davon Abstand genommen haben, Werbung nur
in Fachzeitschriften oder etwa nur im Wirtschaftsteil der
FAZ zu erlauben. Wir werden nämlich keinem Leser,
egal welcher Zeitung oder Zeitschrift, unterstellen, dass
er keine Finanzentscheidung treffen könne. Für Verbote
und Vorschriften, für die Entmündigung einzelner Ver-
brauchergruppen, sind andere Fraktionen bekannt. Das
wird es mit uns nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sagen: Der Verbraucher soll selbst entscheiden
können, und dafür braucht er gute Informationen und vor
allen Dingen auch Auswahlmöglichkeiten. Dies wollen
wir ermöglichen, und gleichzeitig wollen wir den Wett-
bewerb zwischen den Anbietern zulassen. Die neuen In-
formationspflichten überfordern kleine Unternehmen
nicht. Anbieter von Crowdinvesting im Start-up-Bereich
werden an den Prospektpflichten jedenfalls nicht schei-
tern. Der Trend ist klar: Immer mehr Verbraucher wollen
Projekte unterstützen, die neben einer sinnvollen Geld-
anlage auch noch andere Aspekte abdecken, also andere
Effekte haben, ja, man könnte sagen: die einen anderen
Mehrwert haben. Und das ist gut so. Das unterstützen
wir auch.

Es gibt Anleger, die Ideen, die sie gut finden, die sie
begeistern, fördern wollen. Das reicht dann – wir haben
heute schon ein paar Beispiele gehört – von der Filmpro-
duktion über die Musikproduktion, den Anteil an einem
Verlag oder einem Buch bis hin zu bestimmten Baupro-
jekten. Das tun sie in der Regel mit vergleichsweise klei-
nem Geld. Damit erhalten junge Unternehmen die Mög-
lichkeit, frische Ideen, Produkte und Dienstleistungen
auf den Markt zu bringen, die anderweitig keine oder nur
eine unzureichende Finanzierung erfahren würden, auch
weil von Banken das Risiko vielleicht als zu hoch einge-
schätzt wird.

Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich fest-
stellen: Wir bringen auf dem Grauen Kapitalmarkt die
Verbraucher weiter auf Augenhöhe mit den Anbietern.
Am Ende entscheidet natürlich nach wie vor der Ein-
zelne selbstständig und eigenverantwortlich über seine
Anlage. Die CDU/CSU ist ein Gewinn für die Verbrau-
cher, und das Kleinanlegerschutzgesetz wird es auch
sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810004900

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Julia Verlinden,

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810005000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Es sind nicht die großen Energie-
konzerne, die in Deutschland die Energiewende voran-
treiben. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die als
Pioniere vorangegangen sind. Sie haben sich zusammen-
getan, gemeinsam Windräder errichtet, Solarzellen auf
Dächer geschraubt und damit die Energiewende so weit
gebracht, wie sie heute ist. Dieses – auch finanzielle –
Engagement ist der Schlüssel für den Umbau hin zu ei-
ner zukunftsfähigen, zu einer enkeltauglichen Energie-
versorgung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Beitrag der Bürgerinnen und Bürger zur Energie-
wende ist beeindruckend. Denn knapp die Hälfte der An-
lagekapazitäten, die erneuerbaren Strom produzieren,
sind in Bürgerhand. Ich sage Ihnen: Die Energiewende
in Deutschland wäre ohne Bürgerprojekte gar nicht vor-
stellbar.





Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schon die vermurkste Novelle zum Erneuerbare-
Energien-Gesetz letztes Jahr hat Bürgerprojekte massiv
ausgebremst. Das war ein Anschlag auf die Bürger-
energiewende. Die fragwürdige Auslegung des Kapital-
anlagegesetzbuchs durch die BaFin gegenüber einigen
Bürger-Energiegenossenschaften sorgte dann in der Ver-
gangenheit für weitere Verunsicherung und dafür, dass
es zu weniger Neugründungen von Energiegenossen-
schaften kam. Aber damit nicht genug. Als die ersten
Entwürfe des Kleinanlegerschutzgesetzes bekannt wur-
den, waren engagierte Menschen fassungslos: Wie kann
es sein, dass die Bundesregierung ihren Initiativen derart
viele Steine in den Weg legen will?

Ich bin froh, dass zumindest einige dieser geplanten
Hürden nun doch nicht im Gesetzentwurf stehen. Aber
das, was Sie jetzt vorlegen, reicht noch nicht. Weiterhin
sind einige Rechtsunsicherheiten nicht aufgelöst wor-
den. Es braucht zum Beispiel eine Klärung, dass Bürger-
Energiegenossenschaften nicht nur Anlagen errichten
können, um erneuerbaren Strom ins Netz einzuspeisen;
sie wollen sich auch an der Infrastruktur beteiligen:
Stromnetze übernehmen, Nahwärmenetze bauen und in
Energieeffizienz und Energiesparen investieren. Dieses
Engagement von den Bürgerinnen und Bürgern brau-
chen wir dringend, damit es bei der Energiewende über-
haupt vorangeht; denn die Bundesregierung diskutiert
lieber, anstatt die Ärmel hochzukrempeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die vorangehen,
auch beim Kampf gegen steigende Mieten. Fast 2 000
Wohnungsgenossenschaften mit über 2 Millionen Woh-
nungen gibt es in Deutschland. Soziale Wohnprojekte
sorgen dafür, dass Ältere, Familien und Menschen mit
niedrigem Einkommen auch heute noch in begehrten In-
nenstadtlagen bezahlbare Wohnungen finden. Und: Sie
sanieren behutsam, ohne dass die Mieten danach explo-
dieren, und sie bieten echte Beteiligung an.

Wir müssen alles dafür tun, dass Bürgerinnen und
Bürger in ihrem Engagement für generationengerechtes
Wohnen, für Dorfläden, für die Energiewende und an-
dere solidarische und innovative Projekte nicht ausge-
bremst, sondern von der Politik so gut wie möglich un-
terstützt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich ist es wichtig, Kleinanleger vor unseriösen
Anbietern zu schützen; klar. Aber die Instrumente müs-
sen verhältnismäßig sein und zu den unterschiedlichen
Bereichen der Wirtschaft passen. Echte solidarische, ge-
meinnützige und demokratisch organisierte Projekte ha-
ben nichts mit profitgierigen, windigen Finanzhaien zu
tun, im Gegenteil. Gerade bei den Genossenschaften
sieht man, dass sie besonders solide wirtschaften.
Schließlich gibt es dort so gut wie keine Insolvenzen.

Menschen, die gemeinsam vor Ort in einen Windpark,
ein Wohnprojekt oder eine freie Schule investieren, er-
warten keine Riesenrenditen. Die wollen in erster Linie
einen Beitrag leisten, für ihre eigene Region und für un-
sere Gesellschaft insgesamt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dafür bin ich dankbar. Dieses Engagement und auch
diese Finanzmittel brauchen wir, wenn der Umbau zu ei-
ner zukunftsfähigen, solidarischen und gerechten Gesell-
schaft gelingen soll – heute mehr denn je. Statt Bürgerin-
nen und Bürger durch immer neue, unnötige Hürden zu
verunsichern und zu blockieren, erwarte ich von Ihnen,
dieses Engagement zu fördern und zu unterstützen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810005100

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Jens Zimmermann (SPD):
Rede ID: ID1810005200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Als Netzpolitiker und Fi-
nanzpolitiker freue ich mich über den vorliegenden und
jetzt endgültigen Entwurf des Kleinanlegerschutzgeset-
zes gleich doppelt. Denn wir haben es hinbekommen, an
dieser Stelle einen wirksamen Verbraucherschutz festzu-
legen und jungen Start-ups trotzdem eine Perspektive
aufzuzeigen, wo und wie sie auf modernen und innovati-
ven Wegen an Kapital kommen können.

Ich will den Begriff Crowd-Finanzierung, weil er
schon so oft genannt worden ist, erläutern. Dabei geht es
nicht um Gemüse, sondern um Schwarmfinanzierung:
Das sind viele Menschen, die ein Projekt unterstützen.
Jeder, der sich einmal eine solche Plattform angeschaut
hat, wird festgestellt haben, dass diejenigen, die dort in-
vestieren, sehr viel besser darüber Bescheid wissen, in
was sie eigentlich investieren, als das bei vielen anderen
Projekten der Fall ist. Die Unternehmen müssen sich
nämlich sehr intensiv vorstellen und müssen sehr genau
aufzeigen, was sie mit dem Geld vorhaben. Ich glaube,
es ist gut, dass wir durchgesetzt haben, dass diese inno-
vativen Finanzierungen in Grenzen weiter möglich blei-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir senden damit ein wichtiges Signal an die Grün-
derszene. Die ist in Deutschland nach wie vor sehr aktiv;
es werden, gerade auch hier in Berlin, sehr viele Unter-
nehmen gegründet. Wenn die aber eine gewisse Größe
erreicht haben, passiert Folgendes: Sie gehen zu Banken,
treffen also auf das etablierte deutsche Finanzwesen. Die
können aber häufig mit den Finanzierungsbedürfnissen
und auch mit den Geschäftsmodellen dieser Unterneh-
men nicht wirklich viel anfangen. Deswegen ist es eine
gute Möglichkeit, über Crowd-Plattformen an Kapital zu
kommen.





Dr. Jens Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben eine Grenze von 2,5 Millionen Euro fest-
gelegt, unterhalb derer die Projekte von der Prospekt-
pflicht ausgenommen sind. Diese Grenze ist gut gewählt.
Denn 99,9 Prozent aller Finanzierungen solcher Unter-
nehmen, die es in der Vergangenheit gegeben hat, wer-
den auch nach der Einführung dieses Kleinanleger-
schutzgesetzes möglich sein.

Ferner haben wir durchgesetzt, dass es eindeutige
Hinweise auf das Verlustrisiko gibt. Ich denke, es ist
wichtig, dass Leute nicht das Gefühl haben: Das ist ein
tolles Projekt, ich investiere hier Geld, und das ist eine
sichere Sache. – Das wäre, denke ich, ein großes Pro-
blem.

Die Kollegin hat gerade über die erneuerbaren Ener-
gien gesprochen. Ich selbst bin Mitglied einer Energie-
genossenschaft und sage: Auch in einer Energiegenos-
senschaft gibt es ein Verlustrisiko. Beispielsweise kann
sich der Standort einer Windkraftanlage am Ende als
schlecht herausstellen. Es gibt also ein finanzielles Ri-
siko. Deswegen sollte man darauf achten. Die Art des In-
vestments sagt noch nichts darüber aus, ob ein Ge-
schäftsmodell am Ende solide ist oder nicht. Das gilt für
erneuerbare Energien genauso wie für Start-ups. Deswe-
gen weisen wir auf die Risiken hin. Ich denke, das ist
auch gut so.

Außerdem haben wir in den Verhandlungen durchge-
setzt, dass jemand, der auf einer solchen Plattform tätig
wird, am Ende nicht das Informationsblatt ausdrucken,
unterschreiben und dann per Post verschicken muss.
Diesen Medienbruch haben wir beseitigt. Man wird das
auch online tun können. Ich glaube, dass man damit das
Ergebnis, das wir erzielen wollten, nämlich dass die An-
legerinnen und Anleger wissen, was sie da tun, sehr gut
erreichen kann.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf wird Deutschland in meinen Augen über
eine der modernsten Regulierungen der Crowd-Branche
verfügen. Vor allem Start-ups und mittelständische Un-
ternehmen werden von diesen Finanzierungsmöglich-
keiten profitieren, und das alles bei einem sehr hohen
Verbraucherschutzniveau. Deshalb werden wir dem Ge-
setzentwurf natürlich zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810005300

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt der Kollege Hansjörg Durz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1810005400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Regelmäßig
diskutieren wir darüber, dass es in Deutschland zu we-
nige Unternehmensgründungen gibt und dass wir die
Rahmenbedingungen für Gründungen verbessern wol-
len. Aus diesem Grund ist es vielen von uns ein Anlie-
gen, die Finanzierungsbedingungen von Start-ups, von
jungen Unternehmen, zu verbessern. Auch in der Digita-
len Agenda der Bundesregierung wird als eine Maß-
nahme „die Verbesserung der Finanzierungsbedingun-
gen für Start-ups durch international wettbewerbsfähige
Rahmenbedingungen für Wagniskapital und Crowd-In-
vestments“ genannt.

Crowdfunding, also Schwarmfinanzierung, entwickelt
sich seit einigen Jahren als innovative Finanzierungs-
möglichkeit für junge Unternehmen und Projekte, die
über die klassischen Finanzierungsformen nur schwer
oder überhaupt nicht an Kapital gelangen. Seit 2011
wurden in Deutschland circa 40 Millionen Euro über
Crowdinvesting-Plattformen investiert. Laut einer Um-
frage von BITKOM gibt es in Deutschland 3,5 Millionen
Menschen, die sich grundsätzlich vorstellen können, in
junge Firmen zu investieren. Hier steckt also Potenzial
für die Förderung von Innovationen in unserem Land.
Schon deshalb sollten wir solch eine innovative Finan-
zierungslösung, wie sie Crowdfunding darstellt, auf kei-
nen Fall schwächen, sondern unterstützen.

Vergessen darf man aber auch nicht, dass Crowdfun-
ding ein hochriskantes Anlagegeschäft sein kann. Umso
wichtiger ist es, dass der Verbraucher alle nötigen Infor-
mationen erhält, die er für seine Entscheidung für oder
gegen ein Investment braucht. Vor allem muss er aber
auch Kenntnis über das hohe Risiko haben. Nur wenn
Anleger ausreichend informiert sind, können sie eigen-
verantwortlich die richtigen Entscheidungen treffen. Mit
dem Kleinanlegerschutzgesetz gilt es also einerseits die
berechtigten Interessen des Verbraucherschutzes zu
berücksichtigen, andererseits aber eben auch sicher-
zustellen, dass sich Crowdfunding in Deutschland
weiterentwickeln kann. Diese Abwägung ist mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungen, die
im parlamentarischen Verfahren vorgenommen wurden,
sehr gut und vor allem praxisgerecht gelungen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang drei Punkte
hervorheben.

Erstens. Ursprünglich war vorgesehen, die Prospekt-
pflicht vorzuschreiben, wenn der Gesamtbetrag der vom
Emittenten ausgegebenen Vermögensanlage 1 Million
Euro übersteigt. Die Erstellung eines Prospekts verur-
sacht relativ hohe Kosten – es ist bereits mehrfach da-
rüber gesprochen worden –, die von kleinen, jungen Un-
ternehmen nicht getragen werden können. Soziale und
kulturelle Projekte wären davon besonders betroffen ge-
wesen. Die ursprüngliche Grenze von 1 Million Euro bei
Schwarmfinanzierungen hat berechtigte Kritik hervorge-
rufen. Diese Grenze hätte wohl dazu geführt, dass das
eine oder andere innovative Projekt im Keim erstickt
worden wäre. Die nun gefundene Grenze von 2,5 Millio-
nen Euro, unterhalb derer die Prospektfreiheit gilt, stellt
einen guten Kompromiss dar, der sich auch in den inter-
nationalen Rahmen einfügt.

Zweitens. Im ursprünglichen Entwurf war vorgese-
hen, dass Werbung für Vermögensanlagen in Printme-
dien und deren Onlineausgaben unbeschränkt zulässig,
Werbung in sozialen Netzwerken jedoch verboten ist.





Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)

Das ursprünglich vorgesehene Werbeverbot im Internet
und in den sozialen Medien hätte aber im Widerspruch
zu dem Konzept des internetbasierten Crowdfunding ge-
standen, das darauf ausgelegt ist, eine breite Öffentlich-
keit anzusprechen, um die Finanzierung innovativer Pro-
jekte durch eine Vielzahl von kleineren Investments zu
schultern. Die Streichung des Werbeverbots im Internet
und in den sozialen Medien war gerade aus digitalpoliti-
scher Sicht unverzichtbar. Werbung darf nun in allen
Medien geschaltet werden. Wichtig ist aber der deutlich
erkennbare Warnhinweis an prominenter Stelle. Dies
stellt sicher, dass Kleinanleger über die hohen Risiken
von Crowd-Investitionen informiert sind und dass sie
das persönliche finanzielle Risiko richtig einschätzen
können. Werbung ist also künftig in allen Medien, auch
digitalen, erlaubt, nicht aber ohne den Warnhinweis an
prominenter Stelle.

Drittens. Die wohl wichtigste Änderung betrifft das
Vermögensanlagen-Informationsblatt, VIB. Auf maxi-
mal drei DIN-A4-Seiten müssen die wesentlichen Infor-
mationen über die Vermögensanlage in übersichtlicher
und leicht verständlicher Weise enthalten sein, inklusive
Risikoaufklärung. In der ursprünglichen Fassung des
Gesetzes musste der Anleger dieses Blatt ausdrucken,
unterschreiben und per Post an den Anbieter zurücksen-
den – bei einem internetbasierten Angebot ein unver-
ständlicher und nicht akzeptabler Medienbruch.

Der nun gefundene Vorschlag dürfte für alle Seiten
akzeptabel sein. Künftig wird das Vermögensanlagen-
Informationsblatt allen Anlegern unabhängig von der
Höhe der Anlagesumme, also ab dem ersten Euro bis zur
höchsten Einzelanlagesumme von 10 000 Euro, zur Ver-
fügung gestellt. Der Anleger aber muss dieses Blatt nicht
ausdrucken und unterschrieben per Post zurücksenden,
sondern kann in elektronischer Form die Kenntnisnahme
des Warnhinweises auf dem VIB bestätigen. Die ur-
sprünglich vorgesehene Bagatellgrenze von 250 Euro,
bis zu der das VIB nicht zur Verfügung gestellt werden
muss, entfällt damit auch. Somit haben wir nicht nur den
Medienbruch beseitigt, sondern auch das Gesetz einen
Tick schlanker gemacht. In der Praxis heißt das, dass
jeder potenzielle Anleger das Vermögensanlagen-Infor-
mationsblatt per Mail, SMS oder auf elektronische
Weise erhalten kann. Er muss nicht zur Post gehen oder
das Faxgerät bemühen, sondern kann mit der Eingabe
eines Satzes die Kenntnisnahme des Warnhinweises
elektronisch bestätigen. Der Anleger ist damit über das
Risiko informiert und muss selbst die Eingabe vorneh-
men, wonach ihm die Risiken bekannt sind. Eine sehr
schlanke, klare und zeitgemäße Regelung, die sehr pra-
xistauglich ist und tatsächlich auch beachtet werden
wird, im Gegensatz zu manch kleingedruckten AGB, de-
nen zwar zugestimmt wird, die aber nie gelesen werden.

Auch die Höchstgrenze für die Einzelanlage von
10 000 Euro stand und steht in der Diskussion. Wenn
man jedoch auf die durchschnittliche Portfoliogröße
schaut – diese beträgt 1 500 Euro pro Investor –, so sieht
man: Die Deckelung bei 10 000 Euro entspricht sicher-
lich der Praxis. Wichtig war uns, dass wir Kapitalgesell-
schaften von dieser Regelung ausnehmen, sodass die für
Start-ups wichtigen Ankerinvestoren auch die Möglich-
keit haben, über dieser Grenze zu investieren.

Ein weiterer Schutz für die Verbraucher ist das 14-tä-
gige Widerrufsrecht, das wir mit dem Kleinanleger-
schutzgesetz einführen werden.

Das Ziel, die Kleinanleger besser zu schützen, werden
wir mit diesem Gesetz erreichen. Wir sorgen für Trans-
parenz, und Transparenz schafft Vertrauen. Das wiede-
rum kommt am Ende nicht nur den Verbrauchern zugute,
sondern schafft auch den richtigen Rahmen für alterna-
tive und neue Finanzierungsinstrumente. So setzt das
Kleinanlegerschutzgesetz auch die richtigen Rahmen-
bedingungen für ein weiteres Wachstum der digitalen
Crowdfunding-Branche. Da Geschäftsmodelle gerade
im digitalen Umfeld hoher Dynamik unterliegen, müs-
sen wir immer wieder überprüfen, ob Regelungen noch
passgenau sind. So ist im Gesetz bereits eine Evaluie-
rung bis Ende 2016 fixiert. Heute aber verabschieden
wir ein sehr gelungenes und ausgewogenes Regelwerk.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810005500

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Christian Petry.


(Beifall bei der SPD)



Christian Petry (SPD):
Rede ID: ID1810005600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Heute ist ein guter Tag für den Verbraucherschutz.
Ein weiterer Schritt zur Stärkung des Verbraucherschut-
zes ist getan.

Sehr geehrter Herr Minister Maas, lieber Heiko, sehr
geehrter Herr Staatssekretär Dr. Meister, das Engage-
ment, insbesondere aus dem Verbraucherschutzministe-
rium, das sich wie ein roter Faden durch unsere Politik
zieht, ist darauf ausgerichtet, das Vertrauen und die Posi-
tion der Verbraucherinnen und Verbraucher am Finanz-
markt zu stärken. Dieses Gesetz ist ein weiterer großer
Schritt dazu. Herzlichen Dank an alle, die in den Minis-
terien, aber auch im Parlament dazu beigetragen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das alles wollen wir mit Maß und Ziel tun.

Mit dem Kleinanlegerschutzgesetz ziehen wir die
Lehren aus den Finanzmarktskandalen. Wir regulieren
den Grauen Kapitalmarkt. Frau Kollegin Lay, eine kleine
Anmerkung zu Ihrer Rede. Sie haben einige Dinge ge-
nannt, auf die ich eingehen will, die auch ich sehr positiv
finde. Aber ich meine: Der Graue Kapitalmarkt ist nicht
per se das Böse; vielmehr bietet er Gründungsinitiativen
und spannende moderne Entwicklungen, die wir positiv
begleiten müssen. Das heißt, wir wollen keine abweh-
rende Haltung einnehmen, sondern den Verbraucher
schützen und diesen Markt weitestgehend regulieren und
kontrollieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)






Christian Petry


(A) (C)



(D)(B)

Anlageformen mit hohen Risiken und hohen in Aus-
sicht gestellten Renditen können angeboten werden; aber
es muss darauf hingewiesen werden, dass ein Totalver-
lust eintreten kann. Wir haben in diesen Jahren viel für
den Verbraucherschutz getan; das zieht sich wie ein roter
Faden durch unsere Politik. Frau Tillmann hat darauf
hingewiesen: Wir haben das Bail-in im Rahmen der
Bankenunion sowie die Einlagensicherung im Rahmen
von Solvency II eingeführt. Das sind Punkte, die den
Verbraucherschutz stärken. Auch mit diesem Gesetz
werden wir den Verbraucherschutz weiter stärken.

Die Prospektpflicht ist angesprochen worden. Das
Vermögensanlagen-Informationsblatt ist nun bei jeder
Anlage vorzulegen. Das ist eine Änderung, und das ist
auch gut so. Ab dem ersten Euro, den man investieren
möchte, kann man sich informieren. Das Blatt muss ver-
ständlich und übersichtlich gehalten sein. Auch dies ist
ein Fortschritt. Ferner sind die von uns eingeführten
Warnhinweise, deren Kenntnisnahme auch bestätigt wer-
den muss, sehr wichtig.

Durch die Nachbesserung des Gesetzeswerkes ver-
meiden wir Medienbrüche beim Crowdfunding und bei
anderen internetgestützten Investitionsformen. Das ist
mit Sicherheit ein Schritt nach vorne. Das stärkt die
Szene und verbessert die Flexibilität und Handhab-
barkeit dieser Investitionsformen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben ein 14-tägiges Widerrufsrecht eingeführt.
Ich glaube, das ist eine der stärksten Maßnahmen im
Sinne des Verbraucherschutzes. Herr Dr. Michelbach,
Sie sind eben von der Kollegin Maisch darauf hingewie-
sen worden: Bier-statt-Hirn-Philosophie. Ich halte das
nicht für besonders gut. Wir denken etwa daran, dass
jemand abends im Internet surft, einmal klickt und am
nächsten Morgen vielleicht feststellt: Das war der fal-
sche Klick. – Das hat aber nichts mit einer Bier-statt-
Hirn-Philosophie zu tun. Das ist Verbraucherschutz. Ich
glaube, heute, am Tag des Bieres, ist dies nicht der rich-
tige Vergleich. Ich denke, die 14-tägige Widerrufsfrist ist
gut.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/CSU])


Die Verjährungsfristen sind angesprochen worden. Es
ist sehr wichtig, dass sie von einem Jahr auf drei Jahre
angehoben wurden. Es ist sehr gut, dass die Strafbeweh-
rung bei falscher oder unterlassener Anlegerinformation
nun länger erhalten bleibt, also die Verjährungsfristen
hochgesetzt wurden. Das war eine Forderung, deren
Realisierung in der letzten Legislatur noch von Schwarz-
Gelb blockiert wurde. Hier zeigt sich die sozialdemokra-
tische Handschrift des Gesetzes. Darauf sind wir sehr
stolz.

Die Festlegung des kollektiven Verbraucherschutzes
als Aufsichtsziel der BaFin stärkt die Aufsicht. Es ist
von Ihnen, Frau Karawanskij und Herr Dr. Schick, ge-
fordert worden, dass die Finanzaufsicht für Finanzmak-
ler nun einheitlich geregelt werden sollte. Dem können
wir sehr viel abgewinnen. Das ist im Gesetzentwurf
nicht geregelt; es bleibt nun alles beim Alten. Das heißt
aber nicht, dass wir bei der Evaluierung oder im weite-
ren Prozess nicht darüber nachdenken sollten, ob eine
zentrale Aufsicht bei der BaFin nicht ein geeigneter
Schritt wäre, der zu mehr Verbraucherschutz auf den
neuen Märkten und den Plattformen für internetbasierte
Investitionen führen würde. Das ist heute nicht Gegen-
stand des Gesetzes, aber wir können es ja wieder auf die
Tagesordnung nehmen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bürgerschaftliches Engagement in Genossenschaften
ist weiter möglich. Ich bin froh, dass es durch das Enga-
gement von Carsten Sieling, aber auch von Fritz
Güntzler und anderen gelungen ist, dass die Genossen-
schaften von den Pflichten des KAGB ausgenommen
worden sind, da festgestellt wurde, dass sie keine Anla-
gestrategie verfolgen. Nun müssen sie die entsprechen-
den Regularien nicht umsetzen. Das stärkt wiederum das
Engagement der Genossenschaften, das wir sehr positiv
sehen.

Soziale und gemeinnützige Projekte und Religionsge-
meinschaften sind von bestimmten bürokratischen
Pflichten ausgenommen. Ich weise auf die Schwelle von
2,5 Millionen Euro bei Vermögensanlagen hin; durch
den Hebelfaktor – Carsten Sieling hat es genannt – sind
es eigentlich 10 Millionen Euro. Das ist ein vernünftiger
Wert. Zudem wurden Bestimmungen über den Zins der
Vermögensanlage getroffen und Provisionen ausge-
schlossen. Ich glaube, das ist ein rundes Paket, mit dem
das Engagement, das wir sehr unterstützen und befür-
worten, tatsächlich vollumfänglich möglich ist.

Es ist aber ein Schutzriegel eingebaut worden. Eine
Lücke würde andere dazu bringen, sich auf diese Rechts-
formen zu stürzen und sie zu missbrauchen. Auch davor
muss man schützen; man muss beachten, dass es einen
Verdrängungseffekt geben könnte. Wenn man in diesem
Bereich eine Lücke lässt, ist sie schnell gefüllt. Ich
glaube, auch hierfür sind sehr vernünftige Regelungen
geschaffen worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/CSU])


Das Crowd-Investment ist genannt worden. Ankerinves-
toren, die sehr wichtig sind, können entweder direkt oder
über Kapitalgesellschaften tätig sein. Auch die 14-tägige
Widerrufsfrist sowie der Warnhinweis sind genannt wor-
den.

2016 wird eine Evaluierung vorgenommen. Die In-
formationspflichten am Grauen Kapitalmarkt sind nun
sichergestellt. Die Verbraucherinnen und Verbraucher
können gut informiert eigenverantwortlich ihre Anla-
geentscheidungen treffen.

Die große Einigkeit bei der Arbeit an diesem Gesetz-
entwurf hat gezeigt, dass der Anlegerschutz unser ge-
meinsames Anliegen ist. Ich möchte persönlich meinem
saarländischen Minister Heiko Maas danken. Dir, lieber
Heiko, ein Dankeschön für dein Engagement. Ich danke





Christian Petry


(A) (C)



(D)(B)

aber auch allen anderen Beteiligten. Heute ist ein guter
Tag für den Verbraucherschutz im Jahr 2015.

Glückauf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810005700

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dr. Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1810005800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe den Eindruck: Nach 13 Rednerinnen
und Rednern ist inhaltlich und im Detail zu diesem Ge-
setzentwurf eigentlich alles gesagt, was es zu sagen gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen die fünf Minuten nicht ausschöpfen!)


Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen und ins-
besondere unseren Zuhörerinnen und Zuhörern und un-
seren Zuschauern verdeutlichen, wie dieses Gesetz zur
Information und zum Schutze der Bürgerinnen und
Bürger entstanden ist. Das wird sie insbesondere dann
interessieren, wenn sie sich als Kleinanleger engagieren.

Der Ausgangspunkt dieses Gesetzes war erstens der
Koalitionsvertrag und zweitens eine Vorlage der beiden
Minister Schäuble und Maas, die im Mai vergangenen
Jahres, also ziemlich genau vor einem Jahr, erste Grund-
züge eines Kleinanlegerschutzgesetzes vorgestellt ha-
ben. Im November 2014 hat das Bundeskabinett einen
Gesetzentwurf beschlossen, der dem Bundesrat zugelei-
tet wurde. Der Bundesrat hat uns bemerkenswerte
30 Änderungsvorschläge in die parlamentarische Bera-
tung mitgegeben.

Wir, das heißt die Fraktionen CDU/CSU und SPD,
der Finanzausschuss und die übrigen Fraktionen dieses
Hauses, haben uns ab 27. Februar – das war der Tag der
ersten Lesung hier im Deutschen Bundestag – noch in-
tensiver mit den Details des Gesetzentwurfs beschäftigt.
Das ist gerade einmal acht Wochen her. In diesen acht
Wochen haben mich über 60 Organisationen, Vereine
und Interessengruppen angerufen, angeschrieben und
persönlich informiert. Hunderte von Bürgerinnen und
Bürgern haben sich an uns gewendet, die Probleme mit
einzelnen Passagen des Gesetzes oder Hinweise und An-
regungen hatten. Wir haben uns bemüht, all diese Anre-
gungen ernst zu nehmen. Dafür gibt es übrigens im
Deutschen Bundestag – was die deutsche Öffentlichkeit,
wie ich finde, viel zu wenig bemerkt – Anhörungen.

Am 16. März dieses Jahres, also vor vier Wochen, gab
es eine Anhörung im Deutschen Bundestag, in der alle
Betroffenen, alle Organisationen, alle Verbände und sehr
viele Fachleute die Gelegenheit hatten, uns, den Abge-
ordneten, im persönlichen Gespräch ihre Anregungen,
ihre Hinweise und ihre Stellungnahme mit auf den Weg
zu geben. Entgegen dem häufig zitierten Vorurteil, Ein-
fluss auf die Politik hätten nur die großen und finanz-
kräftigen Lobbyverbände, kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten, dass die Mehrzahl der Änderungswünsche
und Anregungen von kleinen Vereinen, von kleinen
sozialen Projekten, von sehr vielen Genossenschaften,
von Kirchen, von Bürgerinitiativen und von vielen Bür-
gerinnen und Bürgern kam, die sich Gott sei Dank sehr
leidenschaftlich für ihre Kommune und für unsere
Gesellschaft engagieren. So hat ein Stadtbauernhof aus
Saarbrücken darauf hingewiesen, dass die Begrenzung
des Zinssatzes seine Akquise von Geld deutlich er-
schwert, weil selbst begeisterte Mitbürger wenigstens
1 oder 2 Prozent Zinsen haben wollen, wenn sie ihr Geld
für lange Zeit in ein Projekt investieren. Das hat dazu ge-
führt, dass wir in diesem Gesetz eine Zinsgrenze von
1,5 Prozent festgelegt haben.

Mitarbeiter eines Solarprojektes der Universität Pots-
dam haben uns detailliert dargelegt, dass das generelle
Werbeverbot die Erreichung der notwendigen Anleger-
zielgruppen sehr erschwert. Man hat uns dringend gebe-
ten, das generelle Werbeverbot zu überdenken. Wir ha-
ben das getan. Wir haben den Warnhinweis verschärft
und seriöse Werbung in allen Medien zugelassen.

Ein Wohnprojekt aus Erfurt hat befürchtet, dass die
Prospektpflicht zukünftig auf dieses Wohnprojekt durch-
schlägt, und dringend darum gebeten, dass soziale Pro-
jekte unabhängig von ihrer Rechtsform die Möglichkeit
haben, Ausnahmen im Sinne dieses Gesetzes zu nutzen.
Auch dem haben wir Rechnung getragen. Auch diese
Forderung wurde in den Gesetzentwurf eingearbeitet.

Ein Sozialprojekt aus Freiburg hat uns angeschrieben
und gesagt, die vorgesehene Obergrenze von 1 Million
Euro, die für die Befreiung von der Prospektpflicht vor-
gesehen war, sei deutlich zu gering. Es gebe größere
Projekte, die ebenfalls eine wichtige soziale Funktion er-
füllen. Deswegen haben wir uns entschieden, 2,5 Millio-
nen Euro als Grenze für die Prospektpflicht in den Ge-
setzentwurf zu schreiben. Das führt dazu, dass man
durch zusätzliches Fremdkapital 7 Millionen, 8 Millio-
nen, 9 Millionen oder 10 Millionen Euro für soziale Pro-
jekte in Deutschland zusammensammeln kann.

Viele Verbraucherschützer haben uns gebeten, über
ein Provisionsverbot nachzudenken und insbesondere
ein vierzehntägiges Widerrufsrecht sehr klar und präzise
zu formulieren. Auch das haben wir getan. Auch diese
Anregung der Verbraucherschützer haben wir gerne um-
gesetzt.

Die Caritas, die Diakonie, das Rote Kreuz und viele
andere Wohlfahrtsverbände äußerten die Sorge, dass ins-
besondere Spender- und Stifterdarlehen an gemeinnüt-
zige Organisationen von diesem Gesetz betroffen sind.
Sie haben uns dringend gebeten, deutlich zu machen,
dass wir genau sie nicht treffen wollen. Das haben wir
am gestrigen Tage im Finanzausschuss gemeinsam er-
gänzend verabschiedet und im Ausschussbericht festge-
halten.

Der Bundesverband Deutscher Stiftungen hat darauf
hingewiesen, dass für gemeinnützige Stiftungen und
Vereine die Buchführungs- und Bilanzierungsregeln





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)

heute bewusst vereinfacht sind und mit diesem Gesetz
deutlich mehr Bürokratie aufgebaut werde. Auch das ha-
ben wir verhindert. Auch hier haben wir im Gesetzge-
bungsverfahren nachjustiert.

Unzählige Sportvereine, zahlreiche Kulturprojekte
und auch viele freie Schulen hatten die Sorge, dass sie
künftig noch stärker mit bürokratischen Aufgaben be-
schäftigt sind, was Kosten verursacht, dass sie noch
mehr tun müssen, wenn sie für Investitionen in den Be-
reichen Schule, Verein oder Kultur Darlehen von Eltern
oder Mitgliedern in Anspruch nehmen wollen. Sie baten
deshalb um eine Sonderregelung für gemeinnützige Or-
ganisationen. Auch diese Sonderregelung für gemein-
nützige Organisationen haben wir gerne und sehr be-
wusst ins Gesetz geschrieben. Es war uns wichtig,
Ehrenamtliche, die sich engagieren, nicht an den
Schreibtisch zu fesseln, sondern sie einfach ihre Arbeit
machen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Danke schön. – Es war uns wichtig, ihnen damit zu
zeigen, dass sie bei uns einen Vertrauensvorschuss ge-
nießen, dass nicht ehrenamtliche Organisationen, soziale
Projekte, gemeinnützige Projekte für die Probleme des
Grauen Kapitalmarkts in Deutschland verantwortlich
waren. Wir wollen die Menschen in Deutschland ermuti-
gen, sich in solchen Projekten zu engagieren. Viele enga-
gieren sich übrigens mit ihrem eigenen, schwer erarbei-
teten Geld.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Bundesverband Deutsche Startups kam mit der
dringenden Bitte auf uns zu, die Projektobergrenze für
Crowdfunding von 1 Million Euro anzuheben. Wir ha-
ben das gerne getan – viele Vorredner haben darauf hin-
gewiesen –, weil wir natürlich dazu beitragen wollen,
dass die deutsche Crowdfunding-Branche in Europa füh-
rend wird, investieren kann und so Arbeitsplätze in
Deutschland entstehen können.

Der Verband BITKOM hat uns auf den Medienbruch
hingewiesen und gesagt: Es macht doch keinen Sinn,
dass jemand, der sich im Internet informiert hat und
100 Euro investieren möchte, Formulare ausdrucken
und faxen muss. Das macht das Ganze kompliziert. Gebt
uns doch die Möglichkeit – mit einem verschärften
Warnhinweis und einem verschärften Widerrufsrecht –,
dass über das Internet kleinere Beträge direkt und unmit-
telbar investiert werden. – Auch dieser Anregung haben
wir im Gesetzgebungsverfahren gerne Rechnung getra-
gen.

Die Crowdfunding-Branche und viele kleine Unter-
nehmen haben uns dringend darum gebeten, die Werbe-
beschränkung im Internet zu lockern, weil das Internet
ihr Vertriebskanal ist. Ein Werbeverbot hätte für diese
Unternehmen im Ergebnis ein Vertriebsverbot bedeutet.
Deshalb haben wir diesen kleinen Unternehmen sehr be-
wusst die Möglichkeit eingeräumt, bei Facebook, Twit-
ter und vielen anderen sozialen Medien und Netzwerken
im Internet für ihre Projekte, für ihre Start-up-Unterneh-
men zu werben.

Viele Wirtschaftsprofessoren und Fachleute haben da-
rauf hingewiesen, dass es ein Unterschied ist, ob ein
Kleinanleger eine Privatperson ist oder ob es sich um ein
Unternehmen handelt, beispielsweise eine GmbH oder
eine AG, und dass die Schutzbedürftigkeit bei Investitio-
nen hier durchaus unterschiedlich ist. Deshalb haben wir
dafür gesorgt, dass die Zeichnungsgrenze von 10 000
Euro beim Crowdfunding für Kapitalgesellschaften auf-
gehoben wurde. Diese Unternehmen sollten wissen, was
sie tun. Das unterscheidet sie möglicherweise von dem
einen oder anderen Kleinanleger.

Im Ergebnis kann ich Ihnen zusammenfassend sagen
– das zeigt Ihnen allen die heutige Debatte –: Wir haben
eigentlich fast alle Anliegen von Bürgerinnen und Bür-
gern, von Vereinen und sozialen Organisationen in die-
sem Gesetz berücksichtigen können. Insofern ist die Ent-
haltung der beiden Oppositionsfraktionen im Deutschen
Bundestag die höchste Form der Zustimmung, die in ei-
ner parlamentarischen Demokratie üblich ist.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir unterstreichen damit, dass es uns allen gemeinsam
um ein berechtigtes Anliegen geht. Das zeigt sich auch
darin – der Kollege Sieling hat darauf hingewiesen –,
dass die Koalitionsfraktionen in Zusammenarbeit mit
den Ministerien offensichtlich ordentliche Arbeit geleis-
tet haben.

Ich möchte mich sehr herzlich bei allen Bürgerinnen
und Bürgern, bei allen Vereinen und Organisationen be-
danken, die sich die Zeit genommen haben, uns Politi-
kern bei diesem Gesetz zu helfen, uns Anregungen zu
geben und uns ihre Anliegen und ihre Sorgen präzise
und klar – gesetzespräzise und gesetzesklar – vorzutra-
gen. Ich möchte Sie auch ermuntern, das bei weiteren
Gesetzesvorhaben genauso zu tun. Glauben Sie mir, der
Deutsche Bundestag und die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestag freuen sich über Ihre Anregungen und
beziehen sie gerne, wie dieses Gesetzgebungsverfahren
beweist, in ihre parlamentarische Arbeit ein.

Ich möchte den Sozialdemokraten, vor allem den Kol-
legen Sieling und Petry, sehr herzlich danken. Das Er-
gebnis ist vom Geist konstruktiver Zusammenarbeit ge-
tragen. Wir haben das sehr freundschaftlich, konstruktiv
und lösungsorientiert miteinander hinbekommen.

Ich möchte auch mit einem Vorurteil, wenn ich das so
sagen darf, ein Stück weit aufräumen. Dies betrifft Be-
amte in deutschen Ministerien. Was die Beamten der bei-
den zuständigen Ministerien hier geleistet haben – sie
waren bereit, sich bis in die Nacht zu engagieren, und
haben auch noch um 23 Uhr E-Mails beantwortet –, mag
nicht die Regel sein, aber das zeigt, dass nicht alle Be-
amten in Deutschland gleich sind. Zumindest die Beam-
ten, die an diesem Gesetz mitgearbeitet haben, sind flei-
ßige, zielorientierte Beamte. Sie waren uns eine große
Hilfe. Ich bitte die beiden Minister, diesen Dank weiter-
zutragen. Wir wollen die Beamten in Deutschland auch
einmal loben, wenn es angebracht ist.





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, wir als Parlament haben
bei diesem Gesetz erstmalig die Gesellschaft für deut-
sche Sprache beteiligt. Denn uns ist klar: Wenn ein Au-
tofahrer ein Verkehrszeichen nicht versteht, dann darf
man sich nicht darüber beklagen, dass er falsch parkt.
Genauso ist es bei diesem Gesetz. Das Gesetz ist für die
Bürgerinnen und Bürger gemacht. Deswegen ist es uns
als Gesetzgeber ein Anliegen, dass die Bürgerinnen und
Bürger das Gesetz verstehen. Darum haben wir uns be-
müht. Dabei hat uns die Gesellschaft für deutsche Spra-
che geholfen. Deshalb bin ich sicher, dass dieses Klein-
anlegerschutzgesetz ein verständliches Gesetz, ein gutes
Gesetz ist und dass es gleich eine große Zustimmung
und so gut wie keine Gegenstimmen hier im Deutschen
Bundestag geben wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810005900

Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tages-

ordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Lothar Binding,
SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1810006000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Steffel hat
gerade gesagt, dass wir uns sehr über Einmischung und
über Anregungen von Bürgern freuen. Wir bekommen
wirklich exzellente Hinweise auf die konkreten Wirkun-
gen von gesetzlichen Formulierungen. Ich freue mich
aber immer weniger über Massenpost.


(Beifall der Abg. Mechthild Heil [CDU/CSU])


Dies sieht meist so aus: Jemand schreibt: „Sehr geehrter
Herr Binding“, und dann folgt ein gestohlener Text aus
dem Netz oder ein Text, den man sich dort geklickt hat.
Solch ein Text ist eigentlich keine Meinung, die man
sich gebildet hat, sondern eine Meinung, die man sich
geklickt hat. In „sich eine Meinung bilden“ kommt das
Wort „Bildung“ vor. Unter diesem geklickten Text steht
dann: „Ich bin ganz persönlich an Ihrer Meinung interes-
siert. Viele Grüße“, und dann kommt der Name. Sie ha-
ben nicht mehr gemacht, als zweimal zu klicken und es
wegzuschicken.

Wir bekommen dann 100 Seiten Text oder 100 sol-
cher Mails. Das bedeutet, dass unsere Arbeitskapazität
durch Antworten an Leute, die keine eigenen Texte ge-
schrieben haben, aufgefressen wird. Ich muss sagen: Das
lähmt uns wirklich. Jeder individuelle Brief ist uns sehr
viel wert. Er wird auch liebevoll und fachlich korrekt be-
antwortet. Diese Anregungen kommen an. Darauf wollte
ich einmal hinweisen; denn Massenpostverfahren führen
nicht zu einer besseren Qualität der Arbeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ganz wichtig: Wenn wir Kleinanleger und Verbrau-
cher schützen und das Ganze gesetzlich regulieren wol-
len, ist es von Vorteil – das wurde schon angedeutet –,
wenn die Verbraucher, die Kleinanleger und alle Leute
das, was wir für sie regulieren, lesen und verstehen kön-
nen. Nicht alle Verbraucher sind Juristen, und nicht alle
Verbraucher sind Germanisten oder Finanzexperten. Wir
müssen selbstkritisch sagen: Wir haben uns eine Sprache
angewöhnt, die für viele gewöhnungsbedürftig ist. Es ist
sicher nicht so, dass wir immer so reden, dass es alle
Leute verstehen. Aber jeder hat das Recht, uns zu verste-
hen, speziell dann, wenn wir etwas für ihn regeln.

Deshalb müssen wir in diesem Fall Frau Dr. Sibylle
Hallik von der Gesellschaft für deutsche Sprache dank-
bar sein – wir sind es auch –, die endlos viele Vorschläge
gemacht hat, in diesem Gesetzentwurf Vereinfachungen
vorzunehmen und eine bessere Verständlichkeit herzu-
stellen. Diese Initiative geht eigentlich zurück – um da-
ran einmal zu erinnern – auf den Kollegen Dr. Ole
Schröder, heute Parlamentarischer Staatssekretär, und
mich. Wir haben erreicht – ein ganz großes Ergebnis –,
dass im BMJV heute immerhin eine eigene Abteilung
zur Verbesserung der Verständlichkeit der Sprache exis-
tiert. Es gibt sie seit einigen Jahren, und sie wurde auch
ausgebaut; das ist ein großer Erfolg.

Wir hatten von Anfang an die Idee, eine solche Insti-
tution auch für das Parlament zu schaffen. Denn das, was
die Exekutive vorlegt, wird von uns verändert. Wenn es
sprachlich zum Schlechten verändert wird, dann versteht
es keiner. Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine solche
Einrichtung auch für das Parlament. Diese Vorgehens-
weise ist hier – ich glaube, das ist ein großer Erfolg – das
erste Mal in einem Gesetzgebungsverfahren systema-
tisch angewandt worden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich möchte mich auch bei den beiden Ministern be-
danken. Es ist eine Gratwanderung zwischen Verbrau-
cherschutz einerseits und den Freiheitsgraden beim
Crowdfunding – davon haben wir gehört – und bei der
Finanzierung sozialer und ökologischer Projekte ande-
rerseits. Es wird mit Sicherheit so sein: Wir werden jetzt
zu wenig Verbraucherschutz betrieben haben, und die
Freiheit der Geldanleger wird zu klein sein. Egal was
passiert: Auf einer der beiden Seiten müssen wir mit
Sicherheit verbessern und nachjustieren. Dafür brauchen
wir Erfahrungen. Wenn jemand sein Geld verliert, ist
völlig klar, wer daran Schuld hat: dieses Gesetz. Denn
oft – das ist auch mit Blick auf Prokon zu beobachten
gewesen – schalten die Leute ihren gesunden Menschen-
verstand aus. Wenn ich am Markt überall 1 Prozent Zin-
sen bekomme und mir jemand 8 Prozent bietet, könnte
mir das ja zu denken geben. Ich könnte denken, dass
nicht die ganze Welt so dumm ist, ihr Geld dann für nur
1 Prozent anzulegen. Aber viele Leute glauben: Ich er-
ziele natürlich 8 Prozent. – Daran merkt man: Man
braucht den gesunden Menschenverstand im Hinter-
grund sehr wohl.

Ich möchte noch jemandem danken, der sich auch da-
ran gewöhnen musste, dass es diese Sprachbetrachtung
gibt, nämlich dem Regierungsdirektor Jürgen Rödding,





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

der eigentlich die Substanz für dieses Gesetz geliefert
hat. Er hat exzellent mit der Gesellschaft für deutsche
Sprache zusammengearbeitet. Das Produkt kann sich se-
hen lassen, auch wenn noch Aufgaben vor uns liegen.

Wer das ein bisschen genauer nachlesen will, der
kann sich zum Beispiel den neuen § 2 a des Vermögens-
anlagegesetzes anschauen. Hier haben wir Verweisketten
formuliert. Wer sie auf Anhieb versteht, dem müssen
wir, glaube ich, kräftig gratulieren; denn diese Verweis-
ketten sind unverständlich. Daran gilt es sicherlich wei-
ter zu arbeiten. Deshalb: Wenn wir diesen Prozess der
sprachlichen Begleitung auch bei den nächsten Gesetz-
gebungsverfahren anwenden, haben wir sehr viel ge-
wonnen. Heute sind wir einen ersten großen Schritt ge-
gangen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810006100

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Kleinanleger-
schutzgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4708, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/
3994 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Enthaltung der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange-
nommen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/4712. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Özcan Mutlu, Omid
Nouripour, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
wirklichung des Geburtsrechts im Staatsan-
gehörigkeitsrecht

Drucksache 18/4612
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810006200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Will-

kommenskultur beginnt im Kreißsaal. Wer in Deutsch-
land geboren ist, soll von Anfang an dazugehören. Dies
regeln wir heute mit dem Gesetzentwurf zur Verwirkli-
chung des Geburtsrechts im Staatsangehörigkeitsrecht:
Wir wollen das Geburtsrecht im Staatsangehörigkeits-
recht endlich Wirklichkeit werden lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Hier geborene Kinder von Eltern, die mit einem Auf-
enthaltstitel in Deutschland leben, sollen von Anfang an
Deutsche sein. Das Bürokratiemonster Optionszwang
wollen wir abschaffen. Hier geborene Kinder, deren El-
tern erst nach der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis er-
halten, sollen die Staatsangehörigkeit mit der Erteilung
des Aufenthaltstitels der Eltern bekommen. Das ist ein
starkes integrationspolitisches Signal; aber es ist alles
andere als revolutionär. Wir gehen damit noch nicht mal
so weit wie das kanadische bzw. das US-amerikanische
Staatsangehörigkeitsgesetz.

Bundespräsident Gauck hat bei einer Einbürgerungs-
feier letztes Jahr gesagt – ich zitiere –:

Wir können also sagen: Deutschland ist auf einem
guten Weg und hat eine gute Wegstrecke bereits zu-
rückgelegt.

Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Re-
form des Staatsbürgerschaftsrechts. Neben das ius
sanguinis trat das ius soli. Seitdem kann Deutscher
werden, wer in Deutschland geboren wurde, auch
wenn seine Eltern es nicht sind.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Rot-Grün!)


Ja, recht hat der Bundespräsident. Alle glaubten auch,
er beschreibe die Rechtslage. Das zeigt, wie akzeptiert
das eigentlich ist, was wir hier vorschlagen: Niemand
hat sich darüber aufgeregt. Ich sage Ihnen: Es ist an der
Zeit, dass dieser Wunsch des Bundespräsidenten im
Bundesgesetzblatt steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen draußen im Lande denken auch immer,
das sei schon längst Rechtslage. Dabei ist es tatsächlich
so, dass nur jedes zweite Kind von ausländischen Eltern,
das in Deutschland geboren wird, tatsächlich die deut-
sche Staatsangehörigkeit bekommt. Man bekommt sie
nämlich nur, wenn die Eltern acht Jahre hier sind und ei-
nen unbegrenzten Aufenthaltstitel haben. Das heißt, sie





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

sind entweder EU-Bürger oder – bei Drittstaatlern – In-
haber einer Niederlassungserlaubnis. Das sind viel zu
hohe Hürden. Wenn wir wollen, dass Menschen sich von
Anfang an hier dazugehörig fühlen, dass Kinder von
Ausländern kein Thema der Integration sind, sondern
der gemeinsamen Gesellschaft, des Zusammenlebens,
dann ist diese Reform längst überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man in unser Staatsangehörigkeitsgesetz schaut
– trotz der Reformen, die wir 1999 gemacht haben und
die ein großer Schritt waren –, muss man sich immer
noch fragen: Wie viel deutsche Luft muss man atmen,
wie viele Weißwürste essen,


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Wie viele Reden der Grünen anhören?)


wie viele Polkas tanzen, bevor man Deutscher werden
darf?


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind in Berlin! Currywürste!)


– Der Berliner darf Currywurst essen; aber ich glaube,
die bayerischen Weißwürste sind in der Staatsangehörig-
keitsdebatte eher das Problem.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bundesinnenminister de Maizière hat am 14. April
eine Migrationskonferenz abgehalten. Da sagte er – und
das ist richtig –:

Es ist nicht so, als würden die Fachkräfte aus dem
Ausland an den deutschen Grenzen Schlange
stehen …

Viele Fachkräfte ziehen lieber nach Kanada, Aus-
tralien, Neuseeland oder die USA. Deutschland ist
für sie bisher nicht so attraktiv. Hier müssen wir an-
setzen.

Und er sagt weiter:

Die Forderung nach einer „Willkommenskultur“ ist
zwar schnell aufgestellt und sicherlich auch gut ge-
meint. Letztendlich ist sie aber folgenlos, wenn sie
zu unbestimmt bleibt.

Das ist richtig so. Deshalb sagen wir: Eine Willkom-
menskultur entsteht nicht nur durch die staatliche Ge-
setzgebung. Aber es ist auch entscheidend, welchen
Geist unsere Gesetze atmen, ob die Menschen, die zu
uns kommen, auf Augenhöhe behandelt werden oder wir
sie als Bittsteller, als Menschen minderen Rechts behan-
deln. Deshalb brauchen wir endlich eine Staatsangehö-
rigkeitsreform einerseits bezüglich des Geburtsrechts,
andererseits – das werden wir bis zur Sommerpause vor-
legen – der Erleichterung der Einbürgerung und der Er-
möglichung der Mehrstaatigkeit. Wir brauchen auch den
Schutz von Ehe und Familie im Aufenthaltsgesetz, er ist
an vielen Stellen nicht verwirklicht. Hierzu haben wir
bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt. Und es ist an der
Zeit, dass wir das kommunale Wahlrecht für Drittstaatler
genau so regeln, wie es für EU-Bürger bereits geregelt
ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was kommt aus dem Innenministerium? Minister de
Maizière ist der Minister „No Willkommenskultur“.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Kein Ius soli, kein kommunales Wahlrecht, und beim
Einwanderungskonzept – das hat er in seiner Rede deut-
lich gemacht – weiß der Minister vor allen Dingen, was
er nicht will. Er will keine neuen Möglichkeiten für eine
bedarfsgesteuerte, aber angebotsorientierte Zuwande-
rung beispielsweise durch ein Punktesystem. Er will
keine Entbürokratisierung durch die Möglichkeit des
Statuswechsels, und die zirkuläre Migration – eine ent-
scheidende Frage für moderne Arbeitsmärkte – ist für
ihn weiter ein Fremdwort.

Meine Damen und Herren, Deutschland braucht aus
demografischen Gründen in den nächsten Jahren min-
destens 300 000 Arbeitskräfte jährlich. Dass das kein
akutes Problem ist, liegt an der Einwanderung von Men-
schen aus den südeuropäischen Ländern infolge der
Euro-Krise und an den Flüchtlingen, die wir gegenwär-
tig aufnehmen. Aber diese Situation wird nicht dauerhaft
anhalten. Deshalb wäre es an der Zeit, die Weichen für
eine moderne Einwanderungspolitik zu stellen.

Ich weiß, beim Punktesystem werden wir mit der
Union ein bisschen streiten und länger reden müssen. Es
hat ja auch ein paar Jahrzehnte gebraucht, bis Sie kapiert
haben, dass die Gastarbeiter Einwanderer sind und
Deutschland ein Einwanderungsland ist. Aber lassen Sie
uns die Zeit in dieser Debatte dafür nutzen, wenigstens
die Signale auf Willkommenskultur zu stellen. Dazu
leistet dieser Gesetzentwurf einen Beitrag. Ich hoffe auf
Ihre wohlwollende Erwägung unserer Vorschläge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810006300

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Michael Frieser,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1810006400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bei dieser emotional geführten Debatte – das ist etwas,
was ich begrüßen kann, weil es immerhin


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es um Weißwürste geht!)


um die Wurzeln dieses Staates geht – geht es um etwas
sehr Grundsätzliches, nämlich um das Staatsangehörig-
keitsrecht. Da darf man auch einmal sehr emotional sein.
Wir haben bei der Änderung des Staatsangehörigkeits-
rechts nun wirklich mehrere Handvoll Anträge, Gesetz-
entwürfe, die wir da hinterherwerfen. Die Frage stellt
sich schon: Wie viele Reden von grünen Abgeordneten
muss man gehört haben, um eine Einbürgerung in dieses
Land zu verdienen?


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon kann man nie genug hören!)






Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein harter Stresstest.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir würden es gern abkürzen! Es liegt an Ihnen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie einfach mit!)


Es ist ein harter Test, den man da durchleiden muss. Da
muss man auch Menschen, die es mit diesem Staat, mit
dieser Verfassung, mit dieser Demokratie ernst meinen,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie jetzt sagen, wir meinten es mit dieser Verfassung nicht ernst?)


sagen: Ja, auch diese Leidensfähigkeit gehört dazu, ein
Deutscher zu sein und eingebürgert zu werden, auch
wenn es ein hartes Stück Brot ist. Deshalb ist die Debatte
über das Ius soli im Grunde schon eine geschichtliche
Debatte, die wir hier in Deutschland führen, und wir füh-
ren sie auch nicht zum ersten Mal. Da bekommt die Op-
position den Preis für Hartnäckigkeit. Aber man muss
ehrlich sagen: Sie bekommt auch den Preis für die beste
Realitätsverdrängung.


(Widerspruch vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was haben wir denn getan? Da wird es nun wirklich
abstrus. Den Bundesinnenminister als denjenigen zu be-
zeichnen, der der Integration im Wege stand, heißt wirk-
lich, das, was die Union in den letzten Jahren mit dieser
Regierung getan hat, vollkommen zu verleugnen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Integrationspolitik musste Rot-Grün 2005 einführen! Da haben Sie Jahrzehnte gepennt!)


Trotz Ihres erhöhten Tonfalles habe ich überhaupt nicht
den Eindruck zu vermeiden versucht, dass in dieser
Frage auch unter Rot-Grün etwas passiert ist. Das will
ich überhaupt nicht in Abrede stellen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn „auch“? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat die Integrationskurse eingeführt, und wer hat es Jahrzehnte verpennt?)


Die entscheidende Frage ist, was in der Integrations-
politik zum Thema Anerkennungsgesetz und Ähnliches
passiert ist. Trotz der Änderungsbereitschaft und trotz
dessen, was diese Regierung bereits vorgelegt hat, sagen
Sie jetzt, es gebe keinen Weg zu einer Willkommenskul-
tur und kein wirkliches Willkommenheißen von Men-
schen, die es mit dem Bekenntnis zu diesem Staat und zu
dieser Grundordnung ernst meinen und die vor allem den
deutlichen Willen haben, sich in diese Gesellschaft zu
integrieren. Der Innenminister ist dafür doch ein Vorrei-
ter.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf welchem Stern leben Sie denn?)


Wir haben die Optionsregelung so weit angepasst, dass
man deutlich sagen kann: Die Zerrissenheit bei der Ab-
stimmung, durch die junge Menschen erkennbar auch
gelitten haben, existiert nicht mehr. Wir haben die Vo-
raussetzungen dafür geschaffen, dass man sich auf der
einen Seite mit Stolz zu seinen Wurzeln bekennen und
auf der anderen Seite trotzdem als Bürger am Aufbau
und an der Integrität eines Landes teilnehmen kann. Das
ist möglich, setzt aber vor allem das Bekenntnis voraus:
Ich bin bereit, meinen Teil beizutragen und mich auf ei-
nen solchen Prozess der Integration auch wirklich einzu-
lassen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie sich im Kreißsaal auch schon bekannt?)


Das heißt natürlich, dass es bestimmte Voraussetzun-
gen geben muss. Ich denke nicht nur an die Vorausset-
zung der Geburt in diesem Land, sondern es muss auch
um die Dauer gehen, wie lange man an dieser Gesell-
schaft teilnimmt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei einem Kind?)


Außerdem geht es um die Institutionen. Ich denke zum
Beispiel daran, dass man der Schulpflicht nachgekom-
men sein muss. Das alles haben wir getan. Wer das ver-
kennt, tut dies nicht aus Realitätsnähe, sondern aus ideo-
logischen Gründen. Das mag Ihnen überlassen sein, aber
so ist das.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt genau der Richtige!)


Letztendlich bleibt es dabei: Die Einbürgerung ist ein
Akt, der am Ende eines erfolgreichen Prozesses steht, ei-
nes Prozesses, der mit dem Bekenntnis zu diesem Staat,
zu seiner Gesellschaft und zu seinen Zielen und Grund-
werten beginnt. Dieser Akt kann nicht am Anfang ste-
hen.

Das bedeutet auch, dass man deutlich sagen muss: Es
ist schwierig, sich in diesen Dingen mit anderen zu ver-
gleichen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Opposi-
tion vor allem die Vereinigten Staaten oder Australien
einmal herzzerreißend gerne als besonders hoch gehäng-
ten Maßstab angenommen hat, wenn es um Flüchtlinge
und Einbürgerung ging. Diese Vergleiche sind ansonsten
immer sakrosankt. An diesem Punkt schauen Sie aber
plötzlich in die Vereinigten Staaten. Nun gut, ich scheue
auch diesen Vergleich nicht. Wollen Sie aber den ethni-
schen Spannungen, die es vor allem auch in den Verei-
nigten Staaten gibt, mit einer solchen Politik wirklich
Vorschub leisten? Ich würde sagen, dann gehen wir ein-
mal weiter zurück – von Australien ganz zu schweigen.
Einer solchen Entwicklung wollen wir nicht das Wort re-
den.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie denn? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schwarzen sind damals nicht freiwillig eingewandert! Sie leiden heute noch darunter!)


Ich glaube, den Vergleich mit den Vereinigten Staaten
brauchen wir nicht. Wir können gerne in Europa bleiben.
Hier sind die Vergleiche nun wirklich eindeutig. Es gibt





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

die unterschiedlichsten Modelle des Abstammungs- und
Staatsangehörigkeitsrechts in Europa. Es ist hier mög-
lich, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Italien, Österreich,
Polen, Schweden und das gesamte Baltikum, wo es ge-
nau so geregelt ist, wie wir uns das in Deutschland vor-
stellen, in einem Atemzug zu nennen.

Nein, es nimmt Ihnen niemand ab, dass es Ihnen hier
um ein besonderes Willkommenheißen geht. Seien Sie
an dieser Stelle einmal ganz offen, und sagen Sie der Be-
völkerung die Wahrheit! Es geht darum, dass man auch
um Wählerstimmen giert.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Frieser, in welcher Realität leben Sie eigentlich? Das ist hier kein bayrisches Bierzelt! Da können Sie das erzählen!)


Sie glauben allen Ernstes, dass sich die Änderungen Ih-
rer Vorstellungen zum Thema Staatsangehörigkeitsrecht
irgendwann einmal positiv auf Ihre Wählerstimmen aus-
wirken können. Das ist aus meiner Sicht der einzige
Grund.


(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Deshalb sage ich an dieser Stelle: Da können und wer-
den wir nicht mitmachen. Den vorliegenden Gesetzent-
wurf werden wir auf jeden Fall ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810006500

Herr Kollege Frieser? – Okay.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf der Flucht! Er traut sich die Konfrontation mit der Realität nicht zu!)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen,
Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810006600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Frieser, man kommt nicht umhin, wenigstens
auf zwei Punkte Ihrer wirklich ungeheuerlichen Rede
einzugehen.

Der erste Punkt sind die Ausschreitungen in den
USA, Sie nannten sie „ethnische Spannungen“. Sie sind
keine Folge des Staatsangehörigkeitsrechts in den USA,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er würde gern die Schwarzen ausbürgern!)


sondern das ist schlicht Rassismus. Das ist das Problem
dieser Spannungen und Ausschreitungen in den USA.
Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das widerspricht meiner Argumentation in keinster Weise!)


Der zweite Punkt. Wenn Sie den Grünen und allen an-
deren, die für ein republikanisches Staatsangehörigkeits-
modell in Deutschland streiten und sich dafür einsetzen,
vorwerfen, nur auf Wählerinnen- und Wählerstimmen
abzuzielen, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass
der Vizevorsitzende der Bundes-CDU, Laschet,


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Stellvertretender Vorsitzender!)


im Rahmen des Wahlkampfes dem Verein Milli Görüs in
Bremen einen Besuch abgestattet hat, einem islamisti-
schen Verband, der kein Problem mit Dschihadisten hat,
und dort um Wählerinnen- und Wählerstimmen gewor-
ben hat. Das ist schändlich, Herr Frieser. Das sollten Sie
sich einmal ansehen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist klar: Die Linke unterstützt diesen Gesetz-
entwurf der Grünen – um das unmissverständlich zu sa-
gen. Wir Linke fordern seit Jahren, die bestehende Do-
minanz des Blutsrechts, des Ius sanguinis, im deutschen
Staatsangehörigkeitsrecht abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen eben nicht – Herr Beck hat das richtig ge-
sagt –, dass nur diejenigen der hier geborenen Kinder die
deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, deren Eltern die
deutsche Staatsangehörigkeit bereits besitzen.

Auch die hier geborenen Migrantinnen- und Migran-
tenkinder sind frei und gleich an Rechten geboren, wie
es in der französischen Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789 heißt. Ich finde, wir sollten im
21. Jahrhundert nicht hinter die Zeit von 1789 zurückfal-
len. Diese Bürgerinnen- und Bürgerrechte sollten wir
uns zu eigen machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Kinder von Migrantinnen und Migranten sollen hier als
gleichberechtigte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
aufwachsen können. Das geltende Staatsangehörigkeits-
recht macht aus den hier geborenen Menschen in vielen
Fällen Ausländer, obwohl sie eben Inländer sind.

Auch wenn ich das prinzipiell nicht mache, möchte
ich Ihnen ein Beispiel aus meinem Leben geben. Ich bin
in Duisburg in Nordrhein-Westfalen als Kind von Eltern
aus der Türkei geboren, die als Gastarbeiter hierherge-
kommen sind. Ich bin hier geboren. Weil meine Eltern
die türkische Staatsangehörigkeit hatten, hatte auch ich
die türkische Staatsangehörigkeit.

Ich bin hier geboren, aufgewachsen, habe hier die
Schule, die weiterführende Schule und die Universität
besucht. Ich habe mich die ganze Zeit geweigert, für et-
was einen Antrag stellen zu müssen, was meiner Mei-
nung nach eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Warum
konnten sich meine deutschen Freundinnen und Freunde
deutsche Staatsbürger nennen, während ich sagen
musste: „Nein, ich bin keine deutsche Staatsbürgerin“?





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

Dabei bin ich genauso hier geboren und aufgewachsen
wie die anderen.

An der Universität musste ich nochmals eine Diskri-
minierung erleben. Als ich ein Stipendium gewonnen
hatte, um ein Jahr lang in Australien zu studieren, wollte
ich einen Antrag auf Auslands-BAföG stellen, so wie
das auch meine Kommilitonin tat, die mit mir dorthin
fahren wollte. Meiner Kommilitonin wurde das gestattet,
mir wurde das nicht gestattet. Warum? Weil ich keine
deutsche Staatsbürgerin war. Ich finde das einfach un-
fair. Ich finde, das ist ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit mir zusammen finden es Tausende davon betroffene
Menschen ungerecht, für eine Selbstverständlichkeit erst
einmal einen Antrag zu stellen, was andere nicht tun
müssen, obwohl man wirklich in jeder Hinsicht genauso
wie die Freundinnen und Freunde mit einem deutschen
Pass ist.

Die Anforderungen des Geburtsrechts, des Territorial-
prinzips Ius sanguinis im deutschen Staatsangehörig-
keitsrecht sind einfach deutlich zu hoch. Hier müssen
wir die Hürden absenken, wie das mein Kollege Beck
sagte, gerade wenn wir an einer wirklichen Integrations-
politik interessiert sind, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


SPD und Grüne haben damals bei der Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts 1999 einen längst überfälligen
Einstieg in das Ius soli gemacht.


(Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: So viel des Lobes!)


Doch leider war dieser Schritt zögerlich und unzurei-
chend.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rheinland-Pfalz!)


Wenn einer Sache Lob gebührt, sollte man dieses Lob
auch ausdrücken, lieber Herr Kollege,


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


aber nicht wie Sie, wenn Sie sagen, dass Herr Beck seine
Rede aus dem Regierungsprogramm der SPD abge-
schrieben habe. Dieses Programm haben Sie selbst Tag
für Tag verraten. Sie sollten sich selbst an dieses Pro-
gramm halten, statt darauf zu warten, dass wir Ihnen das
Programm widerspiegeln. Das ist die Wahrheit, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Geburtsfehler unter Rot-Grün, die Optionspflicht,
wurde anderthalb Jahrzehnte später mehr schlecht als
recht beseitigt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lag aber an Rheinland-Pfalz! Das war nicht unsere Idee! Das war der Brüderle!)


Aber die sehr hohen Anforderungen an das Ius soli, an
den Aufenthaltsstatus wie den achtjährigen Aufenthalt
oder das unbefristete Aufenthaltsrecht der ausländischen
Eltern hier geborener Kinder sind nach wie vor in Kraft.
Insofern gibt es Handlungsbedarf. Ich bleibe dabei:
Diese hohen Hürden müssen endlich abgesenkt werden.
Deshalb begrüßen wir diesen Gesetzentwurf.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich begrüße den Gesetzentwurf der Grünen auch, weil
die Reform der Staatsangehörigkeit bei den Grünen bis-
her zumeist sehr unkritisch als Erfolg der rot-grünen Re-
gierungszeit gefeiert worden ist und die verbliebenen
Hürden und Härten gering geschätzt wurden, was mit
diesem Gesetzentwurf ein Stück weit korrigiert wird. Ja,
über die Stichworte „deutliche Gebührenerhöhung“,
„höhere Sprachanforderungen“ und „Beseitigung des so-
genannten Inländerprivilegs“, das dazu führte – wir wis-
sen es –, dass sehr viele türkische Staatsangehörige, die
bisher die doppelte Staatsbürgerschaft hatten und auch
deutsche Staatsangehörige waren, zu Tausenden und
Zehntausenden ihre Staatsangehörigkeit verloren hatten,
wurde einfach hinweggegangen.

Falls Ihnen das nicht bewusst ist: Die Einbürgerungs-
zahlen in Deutschland lagen unter dem rot-grünen
Staatsbürgerschaftsrecht bereits im Jahr 2003 unter den
Zahlen nach dem alten Recht von 1913. 1999 waren es
noch 143 000, und nach der Reform von Rot-Grün wa-
ren es 140 000.

Deshalb finde ich es gut, dass man sieht, dass diese
Hürden immer noch bestehen und es keinen Grund gibt,
wie bisher zu feiern, sondern dass die Dinge beim Na-
men genannt werden und die Abschaffung des Options-
zwangs gefordert wird. Das unterstützen wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir unterstützen auch, dass der sinnlose Aufwand im
Zusammenhang mit dem Optionsmodell, das von dieser
Regierung eben nicht abgeschafft worden ist, grundsätz-
lich vollständig abgeschafft wird. Deshalb appelliere ich
an die SPD, sich hier endlich zu bewegen und sich nicht
weiterhin der Ausgrenzungspolitik von CDU und CSU
anzuschließen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810006700

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Lars Castellucci (SPD):
Rede ID: ID1810006800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1997 habe
ich, glaube ich, zum ersten Mal richtig verstanden, wo-
rum es bei dem Thema geht. Damals habe ich nämlich in





Dr. Lars Castellucci


(A) (C)



(D)(B)

den Vereinigten Staaten studiert, und ich war bei einer
wunderbaren Gastfamilie untergebracht. Meine Gast-
eltern waren 1972 für ein knappes Jahr in Deutschland.
Dort ist ihr Sohn auf die Welt gekommen, und zwar in
Baiertal, in der Schulstraße, auf der Couch, mit Unter-
stützung einer Hebamme.

Als es um die Ausweispapiere ging und meine Gast-
eltern sich wieder nach Hause aufmachen wollten, gab
es plötzlich ein Problem. Die deutschen Behörden haben
nämlich gefragt: Was wollen Sie eigentlich von uns? Sie
sind doch Amerikaner. Das ist ein amerikanisches
Kind. – Die amerikanischen Behörden wiederum haben
gefragt: Was wollen Sie denn? Das Kind ist in Deutsch-
land geboren. Es ist ein deutsches Kind.

Das Beispiel zeigt: Wir haben unterschiedliche Tradi-
tionen. Es wurde bereits angesprochen: Ius soli heißt, es
gilt, wo man geboren ist. Ius sanguinis heißt, es gilt die
Abstammung.

Sie schlagen nun vor, das Geburtsprinzip im deut-
schen Staatsangehörigkeitsrecht zu verankern, und zwar
für alle Kinder, deren Eltern sich rechtmäßig hier aufhal-
ten und ihren gewöhnlichen Aufenthalt hier haben.

Nebenbei bemerkt – ich nutze die Gelegenheit –: Wir
sollten auch einmal über die Menschen sprechen, die
sich in unserem Land nicht rechtmäßig aufhalten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir gerne tun, aber Sie wollen das wohl nicht bei diesem Gesetzentwurf machen!)


Das ist natürlich keine Frage des Staatsangehörigkeits-
rechts.

Mit Ihrem Vorschlag jedenfalls würden beispiels-
weise Kinder von Studierenden, die hier geboren werden
und deren Eltern eine ausländische Staatsbürgerschaft
haben, Deutsche werden können.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre total schlimm!)


Ausländische Studierende sind für uns eine wichtige
Zielgruppe. Es gibt sogar Bundesprogramme, mit denen
wir sicherstellen wollen, dass diese bei uns bleiben kön-
nen. Andere gehen zurück und sind dann hoffentlich
gute Botschafter unseres Landes in der Welt. Aber die
Kinder derer, die bleiben, würden von Anfang an als
Deutsche aufwachsen. Das hätte eine ganze Menge Vor-
teile.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Jetzt will ich auch sagen: Es gibt sicherlich schlim-
mere Schicksale, als in Deutschland als Kind sogenann-
ter oder wie auch immer genannter ausländischer Eltern
aufzuwachsen. Aber für die Kinder bleibt das mit einer
Erfahrung verbunden, und diese Erfahrung lautet: Wir
gehören nicht ganz dazu. – Die Kinder spüren – dieses
Gefühl ist auch mit der letzten Reform nicht vollständig
ausgeräumt worden – einen Vorbehalt. Sie spüren also
keinen Vertrauensvorschuss, sondern sie spüren einen
Misstrauensvorschuss. Das tut keiner Beziehung gut.
Auch daraus können sich weitere Distanzierungen von
ihrer Heimat Deutschland ergeben. Die aber sind in nie-
mandes Interesse.

Ja, es geht um das Bekenntnis zu unserem Staat, vor
allem zu unserem Grundgesetz. Aber mir geht es auch
um ein grundsätzliches Bekenntnis zu den Menschen.
Das Ziel muss ein großer gesellschaftlicher Zusammen-
halt sein, und den schafft man immer nur dann bestmög-
lich, wenn man nicht in „die“ und „wir“ aufteilt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sehen also: Ich habe alle Sympathien für Ihren
Gesetzentwurf. Was Sie fordern, steht auch in unserem
Regierungsprogramm. Aber jetzt kommen wir zu dem
Kapitel „Ewig grüßt das Murmeltier“. Wo das nämlich
nicht steht, das ist der Koalitionsvertrag.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist Ihr Problem! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat den bloß gemacht?)


Tatsache ist – jetzt wollen wir einmal ernsthaft wei-
termachen; ich mache es auch mit der notwendigen Em-
pathie für unseren Koalitionspartner –, dass unser Koali-
tionspartner sich mit dieser Frage außerordentlich
schwertut. Einerseits stört mich das, weil ich gerne das,
was wir hier vorliegen haben, hätte, andererseits sind wir
nun einmal unterschiedliche Parteien. Es wäre seltsam,
wenn plötzlich alle das Gleiche wollten. In Wahrheit tut
sich nicht nur unser Koalitionspartner mit dieser Frage
schwer, sondern das ganze Land tut sich mit dieser Frage
schwer. Deswegen ist die Repräsentanz dieser Gruppe,
die sich schwertut, hier auch gewährleistet und gerecht-
fertigt.

Wer sind wir? Wer und was gehört zu uns? Das sind
Fragen, über die wir ganz trefflich und heiß diskutieren
können; das ist eben wieder angeklungen. Gehört nun
der Islam zu Deutschland? Das ist eine dieser Debatten.
Auch die zahllosen Begriffe, mit denen wir nicht, noch
nicht oder irgendwie nicht richtige Deutsche bezeichnen,
sprechen eine klare Sprache: Ausländer, Migranten, Mit-
bürger mit Migrationshintergrund, von einem oder zwei
ausländischen Elternteilen, aus der soundsovielten Ge-
neration, Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte. Wir
machen es uns wirklich nicht leicht.

Als ich Geschichte studiert habe, hießen die Seminare
immer: Deutsche Geschichte von bis. – Die ersten Stun-
den und die Einleitungskapitel in den Büchern hingen
immer von der Frage ab, was wir eigentlich ganz genau
meinen; denn als Staat existieren wir erst seit 1871. Wo-
ran machen wir also deutsche Geschichte überhaupt
fest? An Sprache, an Kultur, an besiedeltem Territorium,
an der Nationalität des Herrschers? Nichts davon funk-
tioniert. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Der Zugang
liegt immer im Auge des Betrachters.

Dass wir uns so schwertun, kann man bedauern, aber
damit bekommen wir das Problem nicht weg. Deswegen
unternehme ich jetzt den Versuch, eine Brücke zu bauen.
Vielleicht ist der behutsame Weg der Veränderung, den
wir schrittweise gehen, deshalb auch angemessen. 1999





Dr. Lars Castellucci


(A) (C)



(D)(B)

haben wir den ersten Anlauf genommen; es ist davon die
Rede gewesen. Wir haben einiges erreicht. Das Staatsan-
gehörigkeitsrecht stammte aus dem Kaiserreich und hieß
auch so. Wir haben es modernisiert. Seitdem gelten Ele-
mente des Geburtsortsprinzips. Die Optionspflicht haben
wir mit der neuen Reform fast überwunden. Ich will sa-
gen: Wir sind auf dem Weg. Es geht in die richtige Rich-
tung, und den Rest schaffen wir auch noch.


(Beifall bei der SPD)


Bis wir so weit sind, können wir aber auch über ein
paar Fragen nachdenken. Da spreche ich Sie als Opposi-
tionsfraktion, die den Gesetzentwurf eingebracht hat, di-
rekt an. Wie ist das eigentlich mit der Weitervererbung
von Mehrstaatigkeit? Diese Frage ist aus meiner Sicht
nicht sinnvoll und nicht konzeptionell gelöst. Wie kön-
nen also Regelungen über Generationen hinweg ausse-
hen, die dafür sorgen, dass es nicht zu einer Multiplika-
tion von Staatsangehörigkeiten kommt? Müssen wir
über etwas nachdenken, was beispielsweise eine ruhende
Staatsangehörigkeit ist?

Außerdem begründen Staatsbürgerschaften Rechte
und Pflichten. Ich äußere mich jetzt einmal als Sprecher
der AG Demokratie: Wo soll man denn eigentlich das
Wahlrecht haben – in der ersten Generation, in der zwei-
ten Generation und dann in der dritten Generation, wenn
möglicherweise gar keine Bezüge zu den Ursprungslän-
dern mehr da sind? Nach meiner Vorstellung sollte eine
Person – aber dann durchaus auch alle Gruppen, die Sie
angesprochen haben – dort wählen, wo sie lebt, wo sie
ihren Lebensmittelpunkt hat.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber könnte man schon einmal in der CDU reden!)


Es wäre gut, wenn Sie sich auch diesen Fragen zu-
wenden würden; denn in Ihrem Antrag bleiben sie offen.
Auch in Ihrer Rede haben Sie zwar über eine Willkom-
menskultur gesprochen, aber sehr wenig gesagt zu den
Fragen und den Details, die wir auf dem Weg dahin be-
wältigen müssen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hatte auch keine zehn Minuten Redezeit wie Sie, um noch über alles Mögliche zu sprechen!)


Wir können diese Fragen also weiterbearbeiten; das
sollten wir auch tun. Aber wir müssen dabei auch nicht
stehen bleiben, sondern wir können heute schon Spiel-
räume nutzen, die unter dem aktuellen Staatsbürger-
schaftsrecht möglich sind. Beispielsweise in Baden-
Württemberg, woher ich komme, ist die Anzahl der Ein-
bürgerungen im letzten Jahr auf den höchsten Stand seit
2003 gestiegen. Das ist kein Selbstläufer, sondern dahin-
ter steckt eine einbürgerungsfreundliche Politik.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer regiert eigentlich da?)


Da gab es Plakatkampagnen. Da gibt es würdige Veran-
staltungen, mit denen die Menschen willkommen gehei-
ßen werden.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass der Kretschmann das macht!)


Dort gibt es zielgruppengerechte Informationen und wei-
tere gute Sachen. Von Einbürgerung profitieren schließ-
lich alle.

Das ist wieder so ein Argument. Die Statistiken zei-
gen wirklich klar: Eingebürgerte erreichen höhere Bil-
dungsabschlüsse; sie sind erfolgreicher auf dem Arbeits-
markt; sie erzielen höhere Einkommen; sie zahlen mehr
Steuern. Einbürgerung ist wirklich ein Gewinn für die
gesamte Gesellschaft. Wir müssen jetzt aber nicht auf
das Staatsangehörigkeitsrecht starren wie das Kaninchen
auf die Schlange, sondern wir können heute schon die
Spielräume nutzen und kreativ und engagiert sein.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir waren länger in
unserer Geschichte ein Auswanderungsland. Erst lang-
sam gewöhnen wir uns daran, ein Einwanderungsland zu
sein. Ich finde, es ist in Ordnung, wenn wir uns daran ge-
wöhnen. Es ist ein Prozess. Die Deutschen, die nach
Amerika ausgewandert sind, waren zuerst Deutsche in
Amerika, dann waren es German Americans, und
schließlich waren es Amerikaner mit deutschen Wur-
zeln – drei Generationen; es braucht Zeit. Es ist also gut,
dass wir hier darüber debattieren – auch wenn es emotio-
nal zugeht –, wie es einmal aussehen kann. Aber die
Zeit, bis wir so weit sind, dass wir diese Ziele erreichen,
können und sollten wir nutzen, um die offenen Fragen zu
klären, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen sind.


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie mal an!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810006900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Tim Ostermann, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Tim Ostermann (CDU):
Rede ID: ID1810007000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland
gilt bislang das eingeschränkte Geburtsortsprinzip. Das
heißt, wer sich zum Zeitpunkt der Geburt in Deutschland
befindet, der wird dann deutscher Staatsangehöriger,
wenn mindestens ein Elternteil seit wenigstens acht Jah-
ren hier aufhältig ist und über ein unbefristetes Aufent-
haltsrecht verfügt.

Aus Sicht der Grünen soll diese Einschränkung nun
wegfallen. Künftig würden, wenn der Vorschlag der
Grünen Gesetz würde, Neugeborene bereits dann die
deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, wenn ein Eltern-
teil seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt in
Deutschland hat.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Die Grünen begründen diesen Schritt damit, dass die
globale Mobilität der Menschen zunehme. Daher komme





Dr. Tim Ostermann


(A) (C)



(D)(B)

es zu einem Spannungsverhältnis zwischen den zugezo-
genen in Deutschland lebenden Menschen und dem
wahlberechtigten Staatsvolk. Die Grünen legen damit
ein Verständnis von Staat und Staatsbürgerschaft an den
Tag,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das man auch in den USA und Kanada hat!)


das die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht teilen kann.
Einerseits degradieren Sie, Herr Beck, unter dem Deck-
mantel der Globalisierung und der Mobilität die Staats-
angehörigkeit zu einem beliebigen Status.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das in Amerika so?)


Nach Ihrer Ansicht ziehen Menschen in andere Länder
und nehmen die dortige Staatsangehörigkeit an, wie es
ihnen gerade so passt. Mit der Zeit gefällt diesen Men-
schen ihr Aufenthaltsort vielleicht nicht mehr. Bei einem
erneuten Umzug um den Globus lässt man die Staatsan-
gehörigkeit entsprechend hinter sich und nimmt weitere
Staatsangehörigkeiten an. Das ist eine Politik, die unse-
rem Verständnis eklatant widerspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt noch einen zweiten Aspekt, den wir nicht tei-
len. Die Grünen sprechen von einem Gegensatz zwi-
schen den hier lebenden Menschen, die zugezogen sind,
und dem Staatsvolk.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Bürgerrechte!)


Sie sehen darin einen verfassungswidrigen Zustand. Die
Lösung der Grünen dafür ist schon kurios: Deutsche
Pässe für alle! Dann gibt es keinen Gegensatz mehr. –
Aber gerade das ist doch verfassungswidrig: das Aus-
höhlen des verfassungsrechtlichen Gehalts der Staatsan-
gehörigkeit.

Lassen Sie mich einige grundsätzliche Ausführungen
zur Staatsangehörigkeit machen. Nach herrschender
Auffassung setzt sich ein Staat aus drei Elementen zu-
sammen: dem Staatsgebiet, der Staatsgewalt und dem
Staatsvolk. Das Staatsvolk wird durch das Institut der
Staatsangehörigkeit rechtlich handhabbar und inhaltlich
definierbar. Die Definition des Zugangs zur Staatsange-
hörigkeit regelt wiederum die Aufnahme in das Staats-
volk. Hier stellen sich zwei Fragen.

Die erste Frage lautet: Was verstehen wir unter dem
Erwerb der Staatsangehörigkeit? Aus unserer Sicht ist
damit nicht lediglich der Erwerb einiger zusätzlicher
Rechte gemeint wie etwa des Wahlrechts, des Zugangs
zum Beamtenstand, des konsularischen Schutzes im
Ausland oder der Möglichkeit, BAföG zu erhalten. Statt-
dessen ist der Erwerb eine bewusste Entscheidung für ei-
nen Staat und für seine Werte. Mit dieser Entscheidung
drückt der Erwerber seine Zugehörigkeit zu einer
Schicksals- und Wertegemeinschaft aus. In diese Ge-
meinschaft soll er sich einbringen, und er soll sich ihr
angehörig fühlen.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für viele Kinder in Deutschland! Die entscheiden sich nicht, weil sie hier leben!)


Das macht aus unserer Sicht den Erwerb der Staatsange-
hörigkeit aus.

Die zweite Frage lautet: Wen wollen wir als neue
Staatsbürger gewinnen?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht die, die von Anfang an da sind?)


Die Antwort auf diese Frage sollte man sich gut überle-
gen. Das beliebige Verteilen von deutschen Pässen kann
jedenfalls keine Antwort sein. Stattdessen sollten dieje-
nigen, die wir für unseren Staat gewinnen wollen, in der
Staatsangehörigkeit mehr sehen als nur die Erweiterung
ihrer Rechte. Die Menschen, die unserem Staat beitreten,
sollen sich unserer Wertegemeinschaft anschließen und
sich ihr verbunden fühlen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie grenzen sie im Kreißsaal erst mal aus!)


Sie sollten sich bewusst und wohlüberlegt für unseren
Staat entscheiden. Diese Menschen wollen wir.

Daher sind die geltenden Voraussetzungen aus unse-
rer Sicht unabdingbar: acht Jahre Aufenthalt und ein un-
befristetes Aufenthaltsrecht. Die deutsche Staatsbürger-
schaft sollte nicht, wie die Grünen es wollen, allein
aufgrund eines örtlichen Zusammenhangs vergeben wer-
den. Sie sollte nicht einfach nur ein Vorschuss sein, auf
dass die künftige Integration der Staatsbürger gelingen
möge. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist kein beliebi-
ger Status, der leichtfertig vergeben werden sollte. Die
Verleihung der Staatsbürgerschaft sollte vielmehr das
vorläufige Ende des Integrationsprozesses darstellen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei jemandem, der hier geboren ist! Sie reden überhaupt nicht über den Gesetzentwurf!)


Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen,
sollten sich bewusst für Deutschland entscheiden. Sie
sollen hier leben wollen. Sie sollen insbesondere unsere
Werte leben wollen, Herr Beck.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nach den Werten fragen Sie ein Kleinkind!)


– Es ist richtig, dass ein Neugeborenes sich nicht für
Deutschland und seine Werte entscheiden kann. Aber die
Eltern haben dies für ihre Kinder im Vorhinein tun kön-
nen. Demjenigen, der hier acht Jahre gelebt hat und sich
einen dauerhaften Aufenthaltsstatus erarbeitet hat, kann
man unterstellen, dass er sich in Deutschland wohlfühlt
und dass er etwas zu dieser Gesellschaft beitragen will.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Ihrer Logik müssten Sie sagen: Dann müsste er Deutscher sein! Ihr Argument wendet sich gegen Sie selbst!)






Dr. Tim Ostermann


(A) (C)



(D)(B)

Die Kinder dieser Menschen erhalten zu Recht den deut-
schen Pass; denn ihre Eltern haben sich bereits an ihrer
Stelle zu Deutschland bekannt.

Die Grünen mögen das „hohe Hürden“ nennen; wir
nennen das eine wohlüberlegte Entscheidung für
Deutschland und ein Bekenntnis zu unserer Gesellschaft.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt die Nationalhymne!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810007100

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810007200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich

so manchen Beitrag Revue passieren lasse, dann habe
ich den Eindruck, dass es hier immer noch viele gibt, die
sich die Zeit vor 1999 zurückwünschen. Da gucke ich
insbesondere in die Reihen der CDU/CSU.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die beiden Redner!)


Sie haben gar nichts gelernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Damals hieß es: Deutsche sollen nur diejenigen wer-
den, die deutsche Vorfahren nachweisen können. – Es
galt das wilhelminische Ius sanguinis. Das deutsche Blut
war entscheidend für die Staatsbürgerschaft und den
deutschen Pass. Leider scheint sich dieser Gedanke in
manchen Köpfen bis heute gehalten zu haben. Anders ist
nämlich das krampfhafte Festhalten an der Options-
pflicht im Staatsbürgerschaftsrecht nicht zu erklären.

Bei Ihrer Rede, Kollege Frieser, habe ich mich ernst-
haft gefragt: In welchem Jahrhundert leben Sie? Kom-
men Sie endlich im 21. Jahrhundert an! Dieses Land
braucht ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht und nicht
weniger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die leidige Optionspflicht
ist nicht abgeschafft worden, wie wir es gerade noch ein-
mal gehört haben. Daran ändert sich nichts, auch wenn
Sie vonseiten der SPD es hier gebetsmühlenartig wieder-
holen. Das Gesetz, das 2014 in Kraft getreten ist, ist
nämlich – mein Kollege Volker Beck hat es gesagt – eine
Mogelpackung. Deutsche dürfen nur diejenigen bleiben,
die als Kind oder Jugendlicher mindestens acht Jahre in
Deutschland gelebt haben, sechs Jahre brav in einer
deutschen Schule waren und einen Schulabschluss in
Deutschland erworben haben.

Warum die Kinder, die hier in Deutschland geboren
und aufgewachsen sind, nicht die gleichen Rechte be-
kommen sollen wie zum Beispiel Kinder, die deutsche
Eltern haben, haben Sie hier bisher nicht erklärt. Ich
glaube, Ihnen geht es vor allem darum, welchen Nutzen
Menschen für unsere Gesellschaft haben können. Ähn-
lich ist auch Ihr Motto bei der Diskussion um die Ein-
wanderung. Wer nützlich ist, der soll herkommen und
hierbleiben dürfen. Er soll den deutschen Pass bekom-
men, alle anderen aber nicht. Ich würde mir dagegen
wünschen, dass Sie endlich kapieren, dass der Wert eines
Menschen weder an seinen Fähigkeiten noch an seiner
Religion gemessen wird. Er sollte auch nicht nach seinen
Schulabschlüssen bestimmt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


An dieser Stelle möchte ich gerne – mit Ihrer Erlaub-
nis, Herr Präsident – Bertolt Brecht zitieren, der vor fast
75 Jahren schrieb:

Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.
Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zu-
stande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall
zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und
ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals.

Diese Zeilen, meine Kolleginnen und Kollegen, treffen
den Kern der heutigen Debatte. Es geht uns um Bürger-
rechte für alle ohne Wenn und Aber. Das sollten Sie end-
lich einmal kapieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, in der letzten Options-
pflichtdebatte sagte der Bundesinnenminister im Bun-
destag, mit der Neuregelung der Optionspflicht würden
90 Prozent der Jugendlichen von ihr befreit. Genau aus
diesem Grund sagen wir Grüne heute und hier: Lassen
Sie uns gemeinsam dieses Bürokratiemonster beerdigen.
Lassen Sie uns gemeinsam die Länder und die Kommu-
nen entlasten. Und lassen Sie uns gemeinsam für ein mo-
dernes Staatsbürgerschaftsrecht eintreten und die Ju-
gendlichen von diesem Druck befreien. Stimmen Sie
deshalb unserem Antrag zu. Das sage ich in Richtung
der SPD.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Das ist ein Gesetzentwurf!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810007300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Mahmut Özdemir (SPD):
Rede ID: ID1810007400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich kann nur mutmaßen, was der Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Verwirklichung des Geburtsrechts im
Staatsangehörigkeitsrecht zu diesem Zeitpunkt bewirken
soll. Die Rezitation des SPD-Regierungsprogramms be-
nötige ich als Sozialdemokrat jedenfalls nicht. Dennoch
freue ich mich natürlich jederzeit über die vielfältigen
Anträge und Gesetzentwürfe vonseiten der Opposition,





Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

die eine Ableitung des sozialdemokratischen Regie-
rungsprogramms darstellen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie es nicht machen, müssen es andere tun! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Eben!)


Ich frage mich jedoch, was Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, heute von sozial-
demokratischen Rednern erwarten. Erwarten Sie wieder
eine solche Phrase wie „Der Gesetzentwurf stößt bei uns
auf große Sympathie, aber im Koalitionsvertrag ist das
leider nicht geregelt“? Erwarten Sie gar in dieser Wahl-
periode von uns eine Zustimmung zu Ihrem Gesetzent-
wurf?


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir erwarten nur ein bisschen mehr Mut, ein bisschen Courage!)


So langsam wird es doch langweilig und ungebührlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sind wir Sozialdemokraten etwa in Hessen politisch un-
terbelichtet, wenn die hessischen SPD-Landtagskollegen
denselben Antrag, den Sie hier stellen, nicht als Gesetz-
entwurf im dortigen Landtag einbringen?


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind hier im Bundestag, nicht im Hessischen Landtag!)


Und sind sie politisch so unterbelichtet, dass sie die fol-
gende Formulierung im schwarz-grünen Koalitionsver-
trag nicht einzuschätzen in der Lage sind? Ich zitiere aus
dem schwarz-grünen Koalitionsvertrag:

Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Auf-
hebung der Optionspflicht und die Akzeptanz von
Mehrstaatigkeit im Staatsangehörigkeitsrecht für in
Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder
ausländischer Eltern unterstützen.

Das steht im Koalitionsvertrag in Hessen, den auch die
Grünen mit unterzeichnet haben.

Solche Spielchen gibt es mit uns nicht. Deshalb er-
warte ich in Bezug auf die Kompromisse, die wir als
große Volksparteien im Koalitionsvertrag gefunden ha-
ben, auch keine Verschonung durch die Opposition.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt couragiert!)


Ich erwarte jedoch, dass Sie nicht die Mechanismen un-
serer Demokratie für kurzfristige Presseerfolge instru-
mentalisieren und gleichzeitig so tun, als würden durch
diese Mechanismen der Demokratie Ideale verkauft. Je
mehr wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kompro-
miss als Ausverkauf von Aufrichtigkeit in der Parteien-
demokratie darstellen, desto größer wird die Zahl derer,
die glauben, dass durch Wahlen nichts mehr bewegt wer-
den kann. Zwei gewichtige Ideale von uns Sozialdemo-
kraten sind seit mehr als zwei Jahrzehnten die Verwirkli-
chung des Geburtsrechtes im Staatsangehörigkeitsrecht
ebenso wie das Bekenntnis zur Mehrstaatigkeit. Wir lie-
fern uns diesbezüglich vielleicht viele Wortgefechte im
Plenum.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810007500

Herr Kollege, Stichwort „Wortgefechte“: Da gibt es

den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie
zulassen, oder wollen Sie fortfahren?


Mahmut Özdemir (SPD):
Rede ID: ID1810007600

Ich würde gerne im Zusammenhang vortragen.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810007700

Okay.


Mahmut Özdemir (SPD):
Rede ID: ID1810007800

Aber draußen bei den Bürgerinnen und Bürgern brin-

gen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
nicht nur die SPD in Misskredit, sondern auch den politi-
schen Prozess als solchen, indem Sie das Vorurteil be-
dienen, dass nach der Wahl Versprechen nichts mehr
wert seien. Besonders verwerflich ist es hierbei, einen
politischen Weggefährten in diese Situation zu bringen,
der 1999 das Geburtsrecht im Zusammenhang mit der
Mehrstaatigkeit erstmals gesetzlich billigte und damit
dann teilweise das Abstammungsprinzip verdrängte. Das
Staatsangehörigkeitsrecht eignet sich deshalb nicht un-
bedingt für solche Spielchen. Das Spiel mit der Identität
hier geborener junger Menschen, deren Eltern ausländi-
sche Staatsangehörige sind, aber auch das Spiel mit der
Lebensleistung derer, die als sogenannte Gastarbeiter ka-
men und dem Wirtschaftswunder mit Geistes- und Kör-
perkraft Auftrieb verschafften, eignen sich nicht für die
politische Bühne,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU])


erst recht nicht, wenn die letztere Gruppe bei völlig
überlasteten Ausländerbehörden im hohen Alter auf die
Abwicklung ihrer Anträge warten muss. Das Staatsange-
hörigkeitsrecht ist die notarielle staatliche Beurkundung
eines Bandes, des Bandes, das mich mit meiner Geburt
im Krankenhaus Duisburg-Homberg vor 27 Jahren mit
diesem Land, meiner Heimat, verbunden hat, eine Ver-
bindung, die stärker ist als jedes Dokument. Gerade des-
halb war die Zeit des Wartens auf diese Beurkundung für
mich und viele andere bis zur richtigen politischen
Mehrheit in diesem Land erträglich.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir eben abschaffen! Wir wollen diese Wartezeit nicht mehr!)


Wir haben als Sozialdemokraten den Weg gewählt,
lieber ein kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit
zu verfluchen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Wir sind noch gar nicht in den Abendstunden!)


Wir erwarten nicht mehr, dass hier geborene junge Men-
schen mit einer Entscheidung, spätestens mit dem
23. Lebensjahr, den Beweis antreten, ob sie der Beur-





Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

kundung der Staatsangehörigkeit wert sind. Damit tra-
gen wir ihrer Identität, ihrer Lebenssituation und ihrem
inneren Frieden Rechnung. Dies tun wir mit einem Ko-
alitionspartner, der auf Landesebene in Hessen mit einer
Kampagne gegen den Doppelpass das Ende einer rot-
grünen Bundesratsmehrheit einläutete.

Im Übrigen ist die reine Debatte um das Staatsange-
hörigkeitsrecht auch nicht geeignet, die Lebensrealitäten
der betroffenen Menschen tatsächlich abzubilden. Frau
Staatsministerin Özoğuz machte bereits in mehreren Re-
den darauf aufmerksam,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die eigentlich? Könnte man fast mal herbeizitieren!)


wie dringend notwendig es ist, die Realitäten im Bil-
dungsbereich und der Arbeitswelt im Hinblick auf die
Chancengleichheit auf die politische Agenda zu setzen.

Im Grundgesetz heißt es in Artikel 116:

Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbe-
haltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer
die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Dieser Status ist wichtig für die Berechtigung spezifi-
scher deutscher Grundrechte. Dieses Statut ist mittler-
weile im Hinblick auf die Grundrechtsberechtigung von
Unionsbürgern aufgrund eines Diskriminierungsverbo-
tes europarechtlich überlagert und dem faktischen Wan-
del unterworfen worden. Selbst ein aktives und passives
Kommunalwahlrecht für Unionsbürger wird davon ge-
tragen. Ich möchte darauf hinaus, dass die Formulierung
im Grundgesetz bewusst auf eine einfache gesetzliche
Definition durch den Bundestag setzt, damit wir auf
gesellschaftlichen Wandel reagieren können. Der gesell-
schaftliche Wandel ist im Bundestag insoweit angekom-
men, als die Optionspflicht durch die aktuelle Bundes-
regierung aufgehoben wurde als Beginn – ich betone: als
Beginn – exakt des Wandels, den Sie – genauso wie wir –
vollumfänglich im Gesetzentwurf zu beschreiben versu-
chen. Für Ihren Gesetzentwurf in der vorliegenden Form
besteht aber derzeit leider keine politische Mehrheit in
diesem Hause,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt ja an Ihnen!)


aber eben nicht aus Gründen mangelnder Ideale, sondern
aus Gründen zwingender demokratischer Mechanismen.
Wenn wir hier im Deutschen Bundestag über Gesetze
oder deren Änderung reden, dann denken wir an die
Staatsgewalt, die auf unserem Staatsgebiet die rechtsstaat-
liche Ordnung durchsetzt. Den Begriff des Staatsvolkes
behandeln wir hierbei jedoch recht stiefmütterlich, ob-
wohl uns das Grundgesetz neben der Möglichkeit, das
Staatsangehörigkeitsrecht sukzessive anzupassen, zu-
mindest die Hausaufgabe aufgibt, gesellschaftliche Rea-
litäten abzubilden. Die SPD-Fraktion ist allzeit bereit,
sich diesen Hausaufgaben in aller gebotenen Vernunft
und Ernsthaftigkeit zu stellen. Zugleich – hier besteht
kein Widerspruch, liebe Kolleginnen und Kollegen –
gelten unser Wort und das Versprechen aus dem beste-
henden Koalitionsvertrag, jedenfalls bis 2017. Denn
schon bei Immanuel Kant galt, dass der öffentliche Ge-
brauch von Vernunft durch die Übernahme eines Amtes
eingeschränkt wird.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben noch nicht einmal ein Amt, sondern nur ein Mandat!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810007900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Barbara Woltmann, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt bin ich mal gespannt, was Neues kommt!)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810008000

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Nein, es tut mir leid, liebe Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen:


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt nichts Neues!)


Ihr Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Geburts-
rechts im Staatsangehörigkeitsrecht findet nicht unsere
Zustimmung, um das von Beginn an klarzustellen, und
das ohne Wenn und Aber.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie sich eigentlich setzen, oder?)


Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Erst im
letzten Jahr – Sie haben es selber auch angesprochen –
haben wir, CDU/CSU und SPD, mit unseren Stimmen
das Staatsangehörigkeitsrecht geändert.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mogelpackung!)


Ich will auch noch einmal in Erinnerung rufen: Im Ko-
alitionsvertrag hatten wir vereinbart,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger Reform war selten!)


den Optionszwang für in Deutschland geborene und auf-
gewachsene Kinder ausländischer Eltern aufzuheben
und die Mehrstaatigkeit zu akzeptieren. Wir haben aber
auch gesagt, dass es im Übrigen beim geltenden Staats-
angehörigkeitsrecht bleibt. Mitte des letzten Jahres – das
ist nicht lange her – haben wir über die Änderungen hier
im Plenum sehr intensiv diskutiert – nicht zur Freude al-
ler. Wir von der Union haben nicht die zwingende Not-
wendigkeit für eine Gesetzesänderung gesehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Realität haben Sie es nicht so!)


Aber nun gut, wir haben das im Koalitionsvertrag so ver-
einbart, und dann stehen wir auch dazu.

Seit dem 20. Dezember 2014 gilt nun dieses geän-
derte Staatsangehörigkeitsgesetz. Darin haben wir fest-





Barbara Woltmann


(A) (C)



(D)(B)

gelegt, dass diejenigen in Deutschland geborenen Kinder
ausländischer Eltern von der Optionspflicht befreit wer-
den, die bei Vollendung des 21. Lebensjahres mindestens
acht Jahre in Deutschland gelebt haben. Gleiches gilt,
wenn die betroffene Person sechs Jahre in Deutschland
eine Schule besucht hat. Die Optionspflicht entfällt auch
für diejenigen, die über einen in Deutschland erworbe-
nen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsaus-
bildung verfügen. Das alles ist einfach nachzuweisen
und zu belegen, zum Beispiel durch Schulzeugnisse. Das
hat nichts mit irgendwelchen Bürokratiemonstern zu tun.
Das ist ganz und gar nicht so.

Nach der Einführung – das ist auch schon angespro-
chen worden – des Ius-soli-Prinzips, des Geburtsortprin-
zips,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen erst einmal ermitteln, wen es überhaupt betrifft! Am Ende beschäftigen Sie drei Behörden damit! Darauf muss man erst einmal kommen!)


im Jahre 2000 durch Rot-Grün – das hat damals auch
nicht unsere Zustimmung gefunden, aber die Mehrheiten
waren so – fielen bis zum Jahre 2013 rund 540 000 Per-
sonen unter die Optionspflicht.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kriegen Sie noch!)


Mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im
letzten Jahr entfällt für rund 90 Prozent der Personen-
gruppe die Optionspflicht. Das heißt, die Betreffenden
können beide Staatsangehörigkeiten behalten. Damit ha-
ben wir einen guten Kompromiss gefunden, der die Le-
bensumstände junger optionspflichtiger Menschen be-
rücksichtigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Regelung betont auch den besonderen Wert, den
die deutsche Staatsangehörigkeit für unser Zusammenle-
ben hat. Wir sollten und müssen uns immer wieder die
Frage stellen: Was macht einen Staat denn eigentlich
aus? Tim Ostermann hat es vorhin schon gesagt. Man
kann das rechtlich definieren über die Einordnung in
Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der versteht mehr von der staatlichen Stellung des deutschen Kaisers als vom deutschen Staatsangehörigkeitsrecht!)


– Ja, das sind aber wichtige Punkte, Herr Beck. – Das
Staatsvolk ist dabei ein zentrales Element für ein funk-
tionierendes Staatsgebilde. Wir dürfen nicht vergessen:
Die Staatsangehörigkeit ist das höchste Recht, das ein
Staat verleihen kann. Es stärkt meines Erachtens die De-
mokratie, wenn diejenigen, die hier geboren sind und op-
tionspflichtig sind, sich aktiv mit der Frage nach ihrer
Staatsangehörigkeit auseinandersetzen. Die Entschei-
dung, die sie treffen, ist für mich ein Nachweis dafür,
dass sie als mündige Bürger handeln. Wir von der Union
sind für ein klares Bekenntnis zu unserer freiheitlich-de-
mokratischen Grundordnung in Deutschland. Das
schließt für uns die Staatsbürgerschaft und das Staatsbür-
gerrecht ein. Das, meine Damen und Herren, sind keine
Dinge, die der Beliebigkeit unterliegen dürfen.

Nach unserer Grundüberzeugung drückt sich die Zu-
wendung oder Hinwendung zu einem Staat auch darin
aus, wie man es denn mit seiner Staatsbürgerschaft hält:
Welches Bekenntnis gebe ich zu diesem, meinem Land,
zu meiner Heimat ab, in der ich leben und dauerhaft blei-
ben will? Oft geht es um Menschen, die hier sogar schon
in der zweiten oder dritten Generation leben.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810008100

Frau Kollegin, Herr Beck wünscht, eine Zwischen-

frage zu stellen. Möchten Sie sie zulassen, oder wollen
Sie weitersprechen?


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810008200

Ich würde gerne erst zu Ende reden.


(Beifall des Abg. Marian Wendt [CDU/CSU] – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie endlich mit Fakten, sagte die Rednerin!)


Wie stabil ist die innere Einstellung zu diesem Staat,
und wie sehr bin ich bereit, für unsere freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung einzutreten? Ein eindeutiges
Bekenntnis zur Staatsangehörigkeit ist auch ein positives
Signal für diesen Staat und seine Gesellschaft.

Die Gesetzesänderung ist erst vor vier Monaten in
Kraft getreten, zugegebenermaßen ohne die Stimmen der
Opposition.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks stimmen wir auch nicht zu!)


Schon jetzt, gerade mal vier Monate nach Inkrafttreten,
mit einem neuen Gesetzentwurf zu kommen, ist natür-
lich ohne Frage legitim; aber ob das politisch klug ist,
möchte ich bezweifeln.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja!)


Alle haben sich gerade erst auf die neuen Regelungen
eingestellt, sowohl die Betroffenen als auch die Verwal-
tungen und Ausländerbehörden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn ein Verwaltungsverfahren entfällt, werden sich die Behörden nicht beschweren!)


Ich selber komme beruflich aus der Exekutive. Es macht
eben nicht immer Freude, ständig mit neuen Gesetzen,
Verordnungen und Richtlinien umgehen zu müssen, die,
genauso wie dieser Gesetzentwurf, nicht notwendig sind.
Damit bringen wir nur Sand ins Getriebe.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen bloß unsere Arbeit!)


An dieser Stelle möchte ich auch mal eine Lanze für all
die Menschen in der öffentlichen Verwaltung brechen,
die jeden Tag einen guten Job für unser Land machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Barbara Woltmann


(A) (C)



(D)(B)

Gesetze müssen Sinn machen, meine sehr verehrten
Damen und Herren.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesetze müssen Sinn machen! Da haben Sie recht, und deshalb muss dieses Gesetz geändert werden!)


Das, meine lieben Kollegen von den Grünen, trifft auf
Ihren Gesetzentwurf nicht zu. Es ist schon klar, was Sie
wollen: Sie wollen das Optionsrecht vollständig abschaf-
fen. Jeder soll durch Geburt in der Bundesrepublik sofort
Deutscher werden und seine eventuell doppelte Staats-
bürgerschaft behalten dürfen.


(Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie hat es Kanada und den Vereinigten Staaten geschadet? Haben Sie ein empirisches Argument oder nur Ideologie?)


Nur, das wollen wir nicht! Und ich sage Ihnen auch
gerne, warum. Die von uns 2014 beschlossene Regelung
ist integrationspolitisch sinnvoll. Ein eindeutiges Be-
kenntnis zu Deutschland stärkt die Bindung zu unserer
Gesellschaft.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woran messen Sie denn das Bekenntnis?)


In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern,
die hier weder aufgewachsen noch zur Schule gegangen
sind, können diese Bindung doch gar nicht erst oder nur
sehr schwer aufbauen.

Wir kennen Ihre Forderung nach einer großzügigen
Verteilung der deutschen Staatsangehörigkeit schon
lange. Ihr Argument, liebe Kollegen und Kolleginnen
von den Grünen, die Demokratie werde durch die vorbe-
haltlose Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft al-
lein durch Geburt in der Bundesrepublik gestärkt, teilen
wir so nicht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohin kommen wir, wenn das Blut nicht dabei ist!)


Dass es bei EU-Bürgern anders ist, hat seinen Grund im
EU-Recht. Wir sind eben nicht nur Deutsche, sondern
auch Europäer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir einmal über die Grenzen Europas hinaus.
Was passiert denn eigentlich in Ländern wie den USA
und Kanada, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf erwähnen
und in denen ein uneingeschränktes Ius-soli-Geburts-
recht gilt? Viele von uns kennen doch die Reportagen
und Dokumentationen über hochschwangere Frauen, die
über den Pazifik in die USA einfliegen, um dann dort
ihre Kinder zu bekommen. Das ist mittlerweile ein rich-
tiges Geschäft geworden.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das ist Ihre eigentliche Angst! Aha! Oh mein Gott! Die armen Flüchtlinge kommen mit ihren Kindern her! Das gibt’s doch gar nicht! Das ist unfassbar!)


Meine Damen und Herren, diesen Tourismus möchten
wir hier nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber der Vorschlag der Grünen lädt praktisch dazu ein.
In Ihrem Gesetzentwurf steht – ich zitiere –:

Damit wird dem demokratischen Prinzip Rechnung
getragen, das eine Kongruenz zwischen den Inha-
bern politischer Herrschaft und den dauerhaft einer
Herrschaft Unterworfenen anstrebt.

Abgesehen davon, dass kaum jemand versteht, was Sie
damit aussagen wollen, verehrte Kollegen, wage ich mal
eine einfache Übersetzung: Jeder, der will, darf.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da nicht, aber es scheint Ihnen zu komplex zu sein!)


Zwar formulieren Sie in Ihrem Gesetzentwurf in § 4 Ab-
satz 3 Satz 1 StAG, dass die Kinder ausländischer Eltern
durch Geburt im Inland die deutsche Staatsangehörigkeit
erwerben können, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen
gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Sie wollen da-
mit die Staatsangehörigkeit an einen rechtmäßigen Auf-
enthalt der Eltern knüpfen. Diesen Ansatz sehe ich
durchaus positiv.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Aber was heißt das denn? Was verstehen Sie unter dieser
Rechtmäßigkeit?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Recht!)


In Ihrer Gesetzesbegründung sagen Sie lediglich – ich
zitiere wieder –: Eingeschränkt wird das Geburts-
ortsprinzip „fortan nur noch, wenn sich im Zeitpunkt der
Geburt kein Elternteil rechtmäßig im Inland aufhält bzw.
wenn kein Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland hat“. Damit sind für mich viele Rechtsstreitigkei-
ten vorprogrammiert. Wie viele Streitfälle haben wir
denn jetzt schon im Asylrecht?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen es nur klar definieren!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810008300

Frau Kollegin, die Zeit läuft ab.


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810008400

Ich komme gleich zum Schluss. –

Der Hinweis in Ihrer Gesetzesbegründung auf die dann
weitgehend gleiche Rechtslage in den USA und Kanada
lässt ja gerade den Schluss zu, dass es eben doch zu Ge-
burtstourismus kommen kann.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das gewöhnlich?)






Barbara Woltmann


(A) (C)



(D)(B)

Ich frage mich, wie überzeugt Sie eigentlich selbst von
Ihrem Vorhaben sind. Denn Sie sagen auch – ich zitiere
Sie –:

Die Erfahrung aus diesen Staaten

– also USA und Kanada –

zeigt, dass die Anknüpfung des Erwerbs der Staats-
angehörigkeit an die Geburt im Inland dem gesell-
schaftlichen Zusammenhalt jedenfalls nicht abträg-
lich ist.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutsche Sprache ist schwierige Sprache! Lassen Sie sich von Ihren Juristen beraten! – Gegenruf des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sie liest Ihren eigenen Text vor!)


Wahre Begeisterung oder Überzeugung hören sich für
mich anders an.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810008500

Es gibt verschiedene Zwischenfragen, die ich aber

nicht zulasse, weil Ihre Redezeit schon lange zu Ende ist.


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1810008600

Ich fasse zusammen: Wir werden dem Gesetzentwurf

nicht zustimmen. Wir haben bereits im letzten Jahr eine
gute Regelung getroffen. Weitergehende Änderungen
werden wir daher nicht zulassen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810008700

Ich erteile Renate Künast das Wort für eine Kurzinter-

vention.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810008800

Ich musste mich an dieser Stelle melden, weil ich

finde, dass einige Äußerungen der Kollegin Woltmann
angesichts der Politik, die diese Bundesregierung angeb-
lich machen will, ungeheuerlich sind. Zum Beispiel be-
haupten Sie, dass es massenhaft zu Rechtsstreitigkeiten
kommen würde, wenn ein Kind von Eltern, die sich
rechtmäßig hier in Deutschland aufhalten, die deutsche
Staatsangehörigkeit bekommen würde. Es wird Ihnen
doch nicht entgangen sein, dass ein solcher Begriff wie
rechtmäßiger Aufenthalt längst ausdefiniert ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung!)


Sie könnten ihn gesetzlich anders definieren. Zum Bei-
spiel könnten Sie problemlos definieren – das steht Ih-
nen frei –: Der Begriff „rechtmäßig“ gilt nur für denjeni-
gen, der eine einjährige Aufenthaltserlaubnis hat, und
nicht für Touristen. Dann gäbe es null Rechtsstreitigkei-
ten. Bei der Ausstellung der Staatsangehörigkeitsur-
kunde müsste nur noch bei der Ausländerbehörde der
konkrete Aufenthaltsstatus abgefragt werden.
Was mich aber noch viel mehr geärgert hat, das sind
nicht nur Ihre rechtlichen Sorgen, die meines Erachtens
unbegründet sind, sondern es ist die Tatsache, dass Sie
hier quasi vor Erschleichen warnen. Sie haben von Ge-
burtstourismus gesprochen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Was sollen zum Beispiel Menschen in Indien denken,
wenn Sie auf der einen Seite sagen: „Es gibt eine Blue
Card, kommt hierher, arbeitet als IT-Spezialisten für
drei, vier oder fünf Jahre“ – natürlich mit rechtmäßigem
Aufenthaltstitel –, und wenn Sie auf der anderen Seite
sagen: „Kinder dürft ihr hier aber nicht bekommen; denn
das würden wir als Geburtstourismus denunzieren“?

Viele haben früher die Gastarbeiter nicht als Menschen
wahrgenommen. Später hieß es dann: Wir haben Gastar-
beiter gerufen, und es sind Menschen gekommen. – Das
gilt auch für das IT-Zeitalter. Wenn Sie Zuwanderung
wollen, wenn Sie wollen, dass junge Menschen hierher
kommen, dann werden Sie sich von Ihren Einschätzun-
gen freimachen müssen und schlichtweg sagen: Wenn
man sich hier rechtmäßig aufhält und ein Kind be-
kommt, dann ist das Kind willkommen und qua Geburt
deutscher Staatsbürger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Hat Frau Künast keine Redezeit bekommen?)


Sie würden auch keiner deutschen Wissenschaftlerin, die
für drei oder vier Jahre in die USA geht, um sich fortzu-
bilden oder vielleicht ihre Doktorarbeit zu schreiben,
und neues Wissen und Berufserfahrung gesammelt hat,
sagen: Bitte verzichten Sie freiwillig auf die US-Staats-
bürgerschaft Ihres auf US-Territorium geborenen Kin-
des, weil das am Ende als Geburtstourismus denunziert
werden könnte.


(Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Was ist denn das Kurze an einer Kurzintervention? – Manfred Grund [CDU/CSU]: Es gibt bestimmt noch 91 Änderungen, die vorgetragen werden könnten!)


Ich sage Ihnen: Alle Menschen sind gleich. Menschen
kriegen Kinder, und das ist nie Geburtstourismus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810008900

Frau Woltmann, wollen Sie darauf antworten, oder

wollen Sie das so stehen lassen? – Es gibt keinen
Wunsch auf Erwiderung.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4612 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:

30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Informationsweiter-
verwendungsgesetzes

Drucksache 18/4614
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset-
zes zur Änderung des Rindfleischetikettie-
rungsgesetzes

Drucksache 18/4615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes

Drucksache 18/4624
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Häftlingshilfegesetzes und
zur Bereinigung des Bundesvertriebenen-
gesetzes

Drucksache 18/4625
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge-
setzes zur Änderung des Weingesetzes

Drucksache 18/4656
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Gemeinsame Grundwerte stärken –
Europa stärken

Drucksache 18/4686
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte indigener Völker stärken durch
Ratifikation der ILO-Konvention 169

Drucksache 18/4688
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Einfluss von Interessenvertretern auf die In-
frastrukturpolitik der Bundesregierung

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810009000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Nach Schätzungen, die ernst zu nehmen sind,
beträgt der Investitionsrückstand der Kommunen in der
Bundesrepublik über 100 Milliarden Euro. Seit 2003
sind die Abschreibungen höher als die Bruttoinvestitio-
nen des Staates. Trotz eines Wirtschaftswachstums von
2000 bis 2014 von insgesamt fast 16 Prozent laufen wir
in Deutschland auf der Felge. Wir leben von der Sub-
stanz. Dabei sind die Zinsen historisch niedrig. Die öf-
fentliche Hand kann sich so gut wie kostenfrei verschul-
den.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Noch!)


– Ich rede ja auch über jetzt und nicht über das, was in
zehn Jahren sein wird.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: In zehn Jahren muss bezahlt werden!)


Welche Möglichkeiten gäbe es, die Investitionslücke
zu schließen?

Die erste Möglichkeit wäre, die Verschuldungsspiel-
räume zu nutzen. Die Bundesregierung aber trägt die
schwarze Null wie eine Monstranz vor sich her


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hatten wir heute schon mal!)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

und lastet damit den künftigen Generationen bei weitem
mehr Kosten auf, als die gegenwärtige zu tragen hätte,
wenn man die Investitionslücke jetzt schließen würde.

Es gäbe eine zweite Möglichkeit. Man könnte die hö-
heren Vermögen angemessen besteuern, um damit die
dringend notwendigen Investitionen des Staates zu
finanzieren. Die UBS-Bank hat festgestellt, dass allein
die Vermögen derer, die 30 Millionen Dollar und mehr
besitzen, von 2013 bis 2014 um 235 Milliarden Dollar
gestiegen sind. Ich wiederhole: Das Vermögen derer, die
ein Vermögen von mehr als 30 Millionen Dollar haben,
ist allein in der Bundesrepublik Deutschland um
235 Milliarden Dollar gestiegen. Das ist ein Zuwachs
von 10 Prozent. Würde man diese Vermögen mit 5 Pro-
zent besteuern, hätten wir Mehreinnahmen von ungefähr
120 Milliarden Euro. Damit könnte man die notwendi-
gen Investitionen finanzieren. Damit wäre der
Investitionsstau erledigt. Aber diese Bundesregierung
meidet die Besteuerung von Reichen wie der Teufel das
Weihwasser. Warum eigentlich?

Nun haben Sie einen genialen Ausweg kreiert. Sie
bringen privates Kapital ins Spiel. Privates Kapital soll
eingesetzt werden, um die öffentliche Infrastruktur zu fi-
nanzieren. Dazu haben Sie eine Expertenkommission
eingerichtet. Diese Expertenkommission hat nun ihre
Vorschläge unterbreitet. Die Bundesregierung lässt sich
unter anderem von folgenden Experten beraten: Vertreter
der Allianz, der ERGO-Versicherungsgruppe, von Sie-
mens, von BASF und vom Bundesverband der Deut-
schen Industrie.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vom DGB! – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Und die der Minister sind auch dabei! So ein Skandal!)


Unter den Experten finden wir auch Herrn Fitschen von
der Deutschen Bank. Er muss sich wegen mutmaßlichen
Prozessbetrugs vor Gericht verantworten. Außerdem
repräsentiert Herr Fitschen eine Bank, die, wie bekannt
ist, bei Zinsmanipulationen kräftig mitmischte. Ausge-
rechnet diesen Herrn Fitschen, der die Kommunen of-
fensichtlich sauber hinter die Fichte geführt hat, berufen
Sie in eine solche Kommission. Respekt! Damit macht
man nun wirklich den Bock zum Gärtner.

Was ist das Interesse der Experten, die Sie beraten?
Sie haben ein Interesse daran, renditeträchtige Anlagen
für ihr Kapital zu organisieren. Sonst würden sie das ja
nicht machen. Private Finanzierung öffentlicher Infra-
struktur ist aber allemal teurer, als wenn der Staat das
selbst finanziert.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich zitiere aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs:

Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, dass
die bisherigen ÖPP-Projekte unwirtschaftlich sind.

Ein Beispiel ist die Firma Toll Collect. Da haben wir
das ja versucht. Wie war das Ergebnis? Viel zu spät
brauchbar, bei weitem teurer als geplant, das Konsor-
tium ein Hort der gegenseitigen Schuldzuweisungen.
Die beteiligten Unternehmen finden die Idee ganz
charmant. Dafür habe ich sogar Verständnis. Da sie auf
dem Markt im Augenblick wenig Zinsen erhalten, gefällt
ihnen die Idee, eine gute Rendite durch Maut oder
direkte Überweisungen des Staates zu erhalten. Wer soll
das zahlen? Zahlen werden das die Bürgerinnen und
Bürger, als Steuerzahler über ihre Steuern oder als Ver-
braucher über Mautabgaben oder Ähnliches.

Mich erinnert das an die Handelsabkommen, über die
wir zurzeit diskutieren. Dort haben die Unternehmen
große Vorteile und die Bürger große Nachteile. Deshalb
gibt es zurzeit die Proteste.

Ich sage Ihnen: Den Widerstand der Bürger bei TTIP
und CETA haben Sie unterschätzt. Ich befürchte, dass
Sie auch den Widerstand gegen diese direkte Finanzie-
rung der Renditen der Unternehmen durch Steuerzahler
und Verbraucher unterschätzen.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810009100

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1810009200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst möchte ich mich bei den Linken ausdrücklich
bedanken, dass sie heute diese Aktuelle Stunde beantragt
haben, in der wir deutlich machen können, wie diese
Regierung versucht, nicht nur durch den Haushalt und
durch Steuermittel, sondern auch durch privates Geld die
Infrastruktur in diesem Land voranzubringen. Wir haben
jetzt durch diese Aktuelle Stunde Gelegenheit, darüber
zu sprechen.

Es gibt weltweit Billionen von Euro – nicht Milliar-
den, sondern Tausende von Milliarden –, die von priva-
ten und institutionellen Anlegern, zum Beispiel von
Lebensversicherungen, angelegt werden. Dieses Geld
wird in Staatsanleihen in Griechenland, in Deutschland
und in anderen Ländern angelegt. Ich bin mir nicht si-
cher, ob dies die richtige Anlageform ist. Denn sie führt
dazu, dass sich Staaten und öffentliche Institutionen bei
uns im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden
über Jahrzehnte übernehmen und Dinge finanzieren, die
sie sich eigentlich nicht leisten können. Die dadurch ent-
stehende Verschuldung kann nur über Steuern bzw.
Steuererhöhungen – dies impliziert ja letztlich Verschul-
dung – zurückgeführt werden.

Ich muss Sie schon fragen, warum Sie es für einen
Skandal halten – eigentlich müssten Sie uns dafür loben –,
dass wir versuchen, mit regulatorischen Rahmen-
bedingungen diese Billionen Euro teilweise in Investitio-
nen in die öffentliche Infrastruktur fließen zu lassen. Sie
haben von einem Investitionsrückstand in Höhe von
100 Milliarden Euro gesprochen. Damit meinten Sie
sicherlich nicht Investitionen in die Wirtschaft. Diese
100 Milliarden Euro fehlen bei öffentlichen Investitio-
nen. Diese notwendigen Investitionen erfolgen im
Moment nicht, weil wir sie aus dem Haushalt nicht fi-





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

nanzieren können. Wir bauen schließlich Schulden ab,
korrigieren die Fehler der Vergangenheit und wollen zu-
künftig ordentlich wirtschaften.

Trotz des ordentlichen Wirtschaftens gelingt es uns
jetzt, zusätzlich 15 Milliarden Euro öffentliches Geld zu
mobilisieren. Aber das reicht natürlich nicht aus. Des-
halb ist es nicht nur legitim, sondern geradezu sinnvoll
und notwendig, diese Billionen, diese Tausende von
Milliarden, die es weltweit gibt, in die Infrastruktur zu
lenken. Das gelingt uns in bestimmten Bereichen bisher
schon erfolgreich, zum Beispiel im Energiebereich, ins-
besondere beim Ausbau der Energienetze.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Das verhindert Herr Seehofer gerade!)


– Ja, aber da liegt es nicht am Geld, sondern an anderen
Dingen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist das Problem!)


– Da sind wir uns einig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir reden jetzt über die Punkte, wo es am Geld liegt.
Das Geld für Straßen- und Schienenausbau, für Schul-
ausbau und für andere öffentliche Investitionen ist nicht
in den Haushalten vorhanden. Was ist die Konsequenz?
Es findet später statt, oder es findet gar nicht statt.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Oder man erhöht die Steuern, Herr Pfeiffer, und zwar für die Reichen! Das machen Sie nicht, Herr Pfeiffer!)


– Steuererhöhungen sind also Ihre Forderung.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Für die Reichen!)


– Da haben wir es. Ich glaube, darüber brauchen wir uns
nicht weiter zu unterhalten. Die Grünen haben bei der
letzten Bundestagswahl einschlägige Erfahrungen ge-
macht, wie überzeugend die Argumente sind, wenn man
den Menschen sagt, sie sollten noch mehr Steuern zah-
len.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Wir zahlen sowieso schon viel zu viele Steuern in die-
sem Land. Darüber sind wir uns auf der rechten Seite des
Hauses einig. Deshalb wollen wir Geld, das vorhanden
ist, in öffentliche Investitionen lenken. Das wäre eine
Win-win-Situation für alle. Das gelingt mit diesem
Modell, das jetzt vorgeschlagen wurde, und wird hof-
fentlich dazu führen, dass wir – neben den bisherigen
Bereichen, die ich genannt habe – dieses Geld auch in
andere Infrastrukturen lenken, zum Beispiel in den Aus-
bau von Straßen. Wir haben bisher, Herr Staatssekretär
im Verkehrsministerium, aus meiner Sicht viel zu we-
nige ÖPP-Projekte bei der Infrastruktur, insbesondere
bei den Straßen. Bei den wenigen, die es gab, wurden
der Zeitplan und der Budgetrahmen eingehalten,

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle schlecht gemacht! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle teurer und alle schlecht gemacht!)


im Gegensatz zu öffentlichen Projekten. Hier in Berlin
ist seit geraumer Zeit ein Flughafen im Bau; ob er jemals
fertiggestellt wird, weiß kein Mensch. Es handelt sich da
um eine öffentliche Investition. Ich bin mir nicht ganz si-
cher, ob das ein leuchtendes Beispiel dafür ist, dass man
mit höheren Steuern und mehr Verschuldung öffentliche
Investitionen voranbringen kann.

Insofern sind wir, glaube ich, alle gut beraten, zur
Kenntnis zu nehmen: Das ist eine Win-win-Situation,
angesichts der Niedrigzinsphase auch für private Anle-
ger. Diese sind doch bereit, zu investieren. Sie müssen
doch nicht in ausländische Pensionsfonds – in den USA,
in Hongkong oder sonst wo – investieren, sondern kön-
nen ihr Geld bei uns in Deutschland anlegen, und das zu
attraktiven Bedingungen – zum Vorteil für die privaten
Anleger auf der einen Seite und für die Infrastruktur in
Deutschland auf der anderen Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Insofern sind wir ohne Frage auf dem richtigen Weg.
Wir müssen hier noch viel mehr und nicht weniger ma-
chen. Ich freue mich, dass wir jetzt endlich starten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810009300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Oliver Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810009400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Pfeiffer, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie die Ener-
gienetze angesprochen haben. Sie hätten da jedoch ein-
mal in den Bericht der Kommission schauen müssen. Da
steht nämlich etwas völlig Richtiges drin: Das Problem
an dieser Stelle ist in der Tat nicht das Geld, und Fonds
oder so etwas nützen uns da gar nichts, sondern das Pro-
blem ist der regulatorische Rahmen. Diese Bundesregie-
rung war bisher nicht in der Lage, einen geeigneten Rah-
men für Energieinvestitionen zu schaffen.

Das kann man an einigen Beispielen schön sehen. Sie
haben die Erneuerbaren aus dem Land getrieben; hier
will niemand mehr investieren.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir haben den höchsten Zubau, den wir jemals hatten! Aber Sie sagen, wir hätten sie aus dem Land getrieben! Nicht zu glauben! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir machen die Energiewende, nicht ihr!)


Herr Seehofer bekämpft den Netzausbau; auch das treibt
all diejenigen, die in diesem Bereich etwas tun wollen,
aus dem Land. Jetzt wollen Sie – das ist die aktuelle De-
batte – 50 Jahre alte Gaskraftwerke unter Naturschutz





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

stellen. Wer soll denn da noch in moderne Kraft-Wärme-
Kopplung, moderne Speicher und Ähnliches investie-
ren? Das genau ist das Problem, weshalb wir im Ener-
giebereich eine Investitionsschwäche haben. Genau so
steht es in dem Bericht, und da hat die Kommission völ-
lig recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, das Problem wird sein,
dass genau diese Punkte am Ende bei der Debatte in der
Versenkung verschwinden werden. Das merken wir
schon jetzt, und zwar daran, dass die vier Herren, die
sich dazu äußern – Herr Schäuble, Herr Gabriel, Herr
Dobrindt und Herr Fitschen –, nur noch über die Frage
reden: Wie schafft man es, bei der Finanzierung von
Bundesautobahnen und Bundesfernstraßen private In-
vestitionen einzubeziehen? Ich kann Ihnen sagen: Die
Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, sind nichts anderes
als eine kalte Privatisierung, eine Privatisierung durch
die Hintertür, eine Privatisierung des Tafelsilbers des
Bundes. Es geht nämlich darum, am Ende die Bundes-
fernstraßeninfrastruktur anderen für ihre Zwecke zu-
gänglich zu machen.


(Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär: Ach was! – Kirsten Lühmann [SPD]: Haben Sie das Papier überhaupt gelesen? – Marcus Held [SPD]: Steht doch etwas ganz anderes im Papier drin! – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch völliger Quatsch!)


Meine Damen und Herren, das ist der Versuch, den ge-
scheiterten Börsengang der DB jetzt bei Straßen bzw.
Autobahnen zu wiederholen. Das müssen Sie sich ins
Stammbuch schreiben lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


An dieser Stelle wird sogar ganz offen gesagt: Ja,
klar; wenn wir Private in die Bundesfernstraßengesell-
schaft aufnehmen, dann wird es teurer.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Nicht teurer für den Staat!)


Das Verrückte ist: Wenn Sie sich die Berichte des Bun-
desrechnungshofes anschauen, stellen Sie fest, dass das
Teurere nicht einmal dazu führt, dass es irgendeinen
Mehrwert gibt,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was wird denn da teurer? Das findet statt, oder das findet nicht statt!)


sondern wir müssen mehr bezahlen und bekommen am
Ende bestenfalls das Gleiche dafür. Das ist an dieser
Stelle wirklich nicht verantwortlich.

Ich sage Ihnen noch etwas: Es geht hier gar nicht um
die Verkehrsinfrastruktur, sondern es geht darum, dass
Herr Schäuble die Schuldenbremse umgehen will. Die
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sollen nämlich
in einen Schattenhaushalt ausgelagert werden. Auch
Herr Dobrindt würde davon profitieren. Er hätte dann
mehr Mittel, die er, statt sie in den Erhalt der Straßenin-
frastruktur zu investieren, ausgeben könnte, um nötige
Umgehungsstraßen, vor allen Dingen in Bayern, bauen
zu lassen.


(Ulrich Lange [CDU/CSU]: Mein Gott, nicht das schon wieder! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wie kann man in fünf Minuten nur so viel Unsinn reden? – Gegenruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er!)


Und Herr Gabriel könnte durch die Lande ziehen und
sein leider etwas ramponiertes Konzernimage aufpolie-
ren. Aber vor allen Dingen würde an dieser Stelle Herr
Fitschen profitieren, der nur ein Interesse hat: Er braucht
dringend Ersatzrenditemöglichkeiten für gescheiterte Fi-
nanzprodukte in Lebensversicherungen. Das ist der
wahre Grund, weshalb Sie das machen: Sie wollen auf
der einen Seite die Schuldenbremse umgehen, und Sie
wollen auf der anderen Seite einen Rettungsschirm für
Lebensversicherungen aufspannen. Das hat mit der Ver-
kehrsinfrastruktur gar nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ich will Ihnen eines sagen: Wenn dieses Beispiel
Schule macht in Deutschland, dann sagt mir demnächst
mein Bäcker, wenn ich bei ihm reinkomme: Hurra,
meine Bäckerei gehört jetzt der Deutschen Bank. Dafür
werden die Brötchen um 5 Cent teurer. Sie werden viel-
leicht etwas verschrumpelter, weil das alles nicht mehr
so gut geht. Aber dafür, Herr Krischer, haben Sie viel-
leicht Glück und bekommen später noch eine Rendite
aus Ihrer Lebensversicherung.


(Marcus Held [SPD]: Wenn wir dadurch die Bäckereien erhalten würden, wäre es ja toll!)


Das ist doch irre, was Sie an dieser Stelle machen. Das
ist nicht zukunftsfähig. Das kann doch wohl nicht sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE] – Marcus Held [SPD]: Das Beispiel ist irre, Herr Krischer!)


Was wir an der Stelle brauchen, meine Damen und
Herren, ist endlich eine Konzentration auf den Erhalt der
Straßeninfrastruktur. Immer noch werden zwei Drittel
der Mittel in den Neubau investiert. Das fehlt natürlich
beim Erhalt.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Ist doch Quatsch, was Sie da erzählen! Lesen Sie doch einmal den Haushalt!)


Statt überflüssige Umgehungsstraßen in Bayern zu
bauen,


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


sollten wir uns auf die Leverkusener Rheinbrücke oder
auf die Schiersteiner Brücke konzentrieren – um nur
diese symbolisch zu nennen – und das erhalten, was wir
an Verkehrsinfrastruktur haben. Das ist die Herausforde-
rung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

Ich sage Ihnen auch: Worüber man reden kann, wor-
über man reden muss – darüber reden Sie interessanter-
weise nicht; Sie reden nur über irgendwelche Fonds und
Finanzierungen und private Anlageformen –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht! Das ist unglaublich! Unredlich!)


ist, dass die organisierte Verantwortungslosigkeit bei der
Straßenbauverwaltung angepackt werden muss. Da gibt
es eine Baustelle, um die man sich kümmern muss. Das
darf aber nicht dazu führen, meine Damen und Herren,
dass am Ende unsere Bundesautobahnen, unsere Bun-
desstraßen zum Rettungsschirm für gescheiterte Finanz-
produkte der Versicherungswirtschaft werden. Das ist
nicht die Antwort auf das, was wir in der Verkehrsinfra-
strukturpolitik brauchen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Du glaubst ja selber nicht, was du erzählt hast!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810009500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Hubertus Heil, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1810009600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Deutschland befindet sich derzeit in
einer überaus erfreulichen wirtschaftlichen Situation:
Die Wachstumszahlen sind gerade nach oben korrigiert
worden. Unser Land steht wirtschaftlich sehr gut da. Wir
haben eine hohe Beschäftigungsquote. – Das ist die gute
Nachricht und betrifft den Istzustand.

Die problematische Nachricht ist – das ist, glaube ich,
in diesem Haus weidlich unumstritten –, dass wir ein
Problem haben mit Investitionen in diesem Land. Es ist
Auftrag einer Expertenkommission – übrigens mit einer
sehr breiten Zusammensetzung; ich komme gleich da-
rauf, Herr Kollege Ernst – unter Leitung von Professor
Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, gewesen, der Frage nachzugehen,
was getan werden muss, damit wir in drei Bereichen zu
neuen Lösungen kommen.

Erstens sollte im privatwirtschaftlichen bzw. unter-
nehmerischen Bereich herausgefunden werden, welche
Rahmenbedingungen wir brauchen, damit Unternehmen
in Deutschland investieren. Wir müssen seit vielen Jah-
ren leider beobachten, dass zwar in diesem Bereich wie
in vielen anderen Bereichen auch in Forschung und Ent-
wicklung investiert wird, aber zu wenig. Ich glaube, es
ist unstrittig, dass wir uns als Wirtschaftspolitiker um
solche Fragen zu kümmern haben. Ich glaube, da hat die
Kommission gute Vorschläge gemacht.

Zweitens. Wir haben eine Investitionsschwäche im
öffentlichen Bereich, und zwar vor allen Dingen im
kommunalen Bereich. 60 Prozent der öffentlichen Inves-
titionen sind kommunale Investitionen. Die Bundesre-
gierung und die Koalition tun übrigens mit dem heute
Morgen vorgelegten Investitionspaket im Nachtrags-
haushalt etwas, um den Kommunen unter die Arme zu
greifen, um sie zu entlasten, um strukturschwachen
Kommunen dabei zu helfen, ihre kommunale Infrastruk-
tur zu ertüchtigen. Da geht es gar nicht um öffentlich-
private Partnerschaften, sondern es geht darum, dass wir
mit Steuergeld mithelfen, die öffentliche Infrastruktur in
diesem Land zu verbessern. Das ist etwas, was auf Linie
der Kommissionsvorschläge liegt.

Drittens. Ja, es geht auch um die Frage, in welchen
Bereichen es Sinn macht, für öffentliche Infrastruktur
privates Kapital zu mobilisieren. Aber im Gegensatz zu
dem, was Sie erzählen, Herr Kollege Ernst, ist die Zu-
sammensetzung der Kommission eine ganz andere ge-
wesen. Ich muss Ihnen bei aller Wertschätzung eines sa-
gen: Besonders redlich ist es nicht, sich einzelne
Mitglieder der Kommission herauszugreifen, aber bei-
spielsweise zu verschweigen, dass der Vorsitzende des
Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Vorsitzende der
Gewerkschaft Verdi, der Bundesvorsitzende der Ge-
werkschaft IG BAU, ein Vertreter des Deutschen Städte-
tages und viele andere aus Wirtschaft, Gewerkschaften
und Wissenschaft Teil dieser Kommission waren.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und die sind gegen die Empfehlungen! Genau das verschweigen Sie jetzt!)


– Ich verschweige überhaupt nicht, dass es in der Kom-
mission ein sehr breites Meinungsbild gegeben hat. Das
Ergebnis ist ein Kommissionsbericht, der eben nicht ein
unkritisches Bejubeln von ÖPP-Projekten zum Inhalt hat
– man sollte den Bericht auch mal lesen! –, sondern der
sehr differenziert deutlich macht: Es hat in der Vergan-
genheit gescheiterte Projekte in öffentlich-privater Part-
nerschaft gegeben, zulasten der öffentlichen Hand.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Ganz genau!)


Und es hat sehr erfolgreiche Projekte in öffentlich-priva-
ter Partnerschaft gegeben. Unterhalten Sie sich bei-
spielsweise mal mit dem Kämmerer der Stadt Nürnberg;
das ist im Norden des Freistaats Bayern, nicht so weit
von Schweinfurt entfernt, Herr Kollege Ernst. Da gibt es
sehr erfolgreiche Beispiele.

Es geht eher darum – und das ist Gegenstand der
Kommissionsvorschläge –, durch eine gute Beratung
von Kommunen, vor allen Dingen von kleinen Kommu-
nen, dafür zu sorgen, dass sie nicht unkritisch bestimmte
Beschaffungsvarianten wählen, und ihnen aufzuzeigen,
was jeweils die beste und wirtschaftlichste Lösung ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das sind die Qualitätsmaßstäbe, die in diesem Bericht
gesetzt werden.

Ich sage Ihnen noch etwas: Im Bereich der Verkehrs-
infrastruktur bringen Sie hier einiges durcheinander; das
wird Ihnen meine Kollegin Kirsten Lühmann noch ein-
mal deutlich machen. Das Wichtigste ist, dass wir als
Staat mehr in diesen Bereich investieren, und das tun wir





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

in den Haushalten. Das tun wir im Verkehrshaushalt, das
tun wir im Bereich der digitalen Infrastruktur, in anderen
Bereichen ebenfalls. Wir erhöhen die Investitionsquote,
müssen in diesem Bereich aber noch weiter gehen.

Dann gibt es einen Vorschlag, Herr Kollege Krischer,
eine Infrastrukturgesellschaft zu gründen, aber eben
nicht zur Privatisierung der Verkehrswege in diesem
Land.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Darauf wollen die hinaus!)


– Nein. Im Gegenteil, das ist ein Vorschlag, den man
sich genau angucken und durchleuchten muss: 100 Pro-
zent Bund.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


– Doch, zu 100 Prozent Bund.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Beteiligung Privater“ steht da drin!)


– Nein, in dieser Variante geht es um Anlagefähigkeit,
um Kreditwürdigkeit. Das ist eine Frage, die Sie sich an
dieser Stelle genauer angucken sollten. Das ist ein Un-
terschied.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Beteiligung an der Infrastruktur!)


Mein grundsätzliches Problem ist doch Folgendes:
Hier ist hochtransparent eine Kommission eingesetzt
worden, die sehr breit gefächert zusammengesetzt ist aus
Menschen aus der Wirtschaft, aus der Wissenschaft, aus
der Gesellschaft. Und ich frage Sie, Herr Kollege Ernst
– das mag uns unterscheiden –, ob es nicht vernünftig
ist, Rat aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft
einzuholen,


(Widerspruch des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Sachverstand zu fragen. Am Ende des Tages sollten Sie
aber eines nicht tun: so tun, als würden wir Kommissi-
onsergebnisse eins zu eins übernehmen. Natürlich sind
Interessenvertreter in einer solchen Kommission.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Genau! Ausschließlich!)


Wer ist denn kein Interessenvertreter? – Aber eine Bun-
desregierung zu diffamieren, die sich Rat holt, die ein
Meinungsbild von einer unabhängigen Kommission ein-
holt, dann aber selbst entscheidet, was sie macht und was
nicht, ist, wie ich finde, unwürdig. Das ist Ihrer unwür-
dig und intellektuell unredlich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zurufe des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Ich sage Ihnen ganz offen: Wer ständig „Skandal!“
ruft, lenkt von den eigentlichen Skandalen in dieser Ge-
sellschaft ab. Wer demokratische Politik zu delegitimie-
ren versucht, indem er Verschwörungstheorien in die
Welt setzt,

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach! Das ist doch Quatsch!)


schadet dem Ansehen demokratischer Politik. Es handelt
sich hier um eine hochtransparente Kommission.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden genau prüfen, was wir machen und was wir
nicht machen. Die Art und Weise, wie Sie jetzt so tun,
als seien wir alle Marionetten von dunklen Mächten,


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


entstammt der Kiste der Verschwörungstheorien, mit der
Sie Politik machen. Mit demokratischem Anstand hat
das nicht viel zu tun. Das finde ich unanständig. Das will
ich zum Schluss sagen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Wir werden uns die Ergebnisse der Fratzscher-Kom-
mission sehr genau ansehen. Da sind sehr, sehr gute Vor-
schläge dabei.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Erhöht die Steuern! Dann sind wir das Problem los!)


Da sind auch welche, die man kritisch diskutieren muss.
Wir aber werden uns dem Thema zuwenden, wie in
Deutschland investiert wird – öffentlich und privat –,
weil uns die Zukunft dieses Landes interessiert. Das mag
uns unterscheiden, Herr Ernst.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach, nicht doch! Mein Gott!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810009700

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Ulrich Lange, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1810009800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir

war, Herr Ernst, eigentlich nicht so ganz klar, was wir
hier diskutieren sollten. Aber nach Ihrem Wortbeitrag ist
es klar:


(Zuruf von der CDU/CSU: Steuererhöhungen!)


Sie wollen zurück in eine Schuldenrepublik. Sie wollen
zurück in eine Pleiterepublik, und Sie wollen weiter auf
Kosten der nächsten Generationen leben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie sind absolut verantwortungslos und heucheln hier
Verantwortung, wenn Sie eine solche Politik machen
wollen.

Herr Krischer, Sie haben einen Bayern-Komplex, es
tut mir einfach leid.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)






Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Sie kommen nicht damit zurecht, dass in Bayern gut und
erfolgreich regiert wird und man deshalb ein bisschen
besser dasteht als dort, wo Sie mit in der Regierung sit-
zen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Hören Sie bitte auf, in jeder Debatte mit Zahlen zu jong-
lieren und – ich sage es Ihnen so offen – zu lügen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Netzausbau!)


Ein Drittel in den Neubau, zwei Drittel in den Bestand –
ich kann es Ihnen noch einmal geben; ich gebe es jedes
Mal. So sind sie nicht mehr als ein kreischender Pinoc-
chio.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Beifall des Abg. Gustav Herzog [SPD] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt lustig! Da muss er ja selber lachen! – Marcus Held [SPD]: Sie sind selber auch nicht viel größer!)


Wir wollen uns jedoch dem positiven Investitions-
hochlauf dieser Bundesregierung zuwenden. Da ist es
richtig, dass wir eine Expertenkommission einsetzen. Da
ist es richtig, dass wir mit allen reden. Da ist es natürlich
auch richtig, dass man mit den Banken genauso redet
wie mit den Gewerkschaften, lieber Herr Kollege von
den Linken.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau, mit Fitschen, der vor dem Kadi steht!)


Damit bin ich auch schon beim Stichwort Infrastruk-
turgesellschaft. Natürlich müssen wir uns ernsthaft mit
diesem Thema auseinandersetzen. Natürlich sehen wir
– da haben Sie sogar recht, Herr Krischer –, dass es Auf-
tragsverwaltungen gibt, die hier nicht nachkommen, da-
durch kein Baurecht herstellen und somit auch nichts in
den Bestand investieren können. Das ist richtig. Damit
müssen wir uns als Bund auseinandersetzen, und das
werden wir tun, indem wir in aller Ruhe überlegen, mit
welchem Modell wir auch zukünftig unser Verkehrsnetz
qualitativ hochwertig und leistungsfähig zur Verfügung
stellen können. Wir werden auch weiterhin überwiegend
in den Bestand investieren.

Wir haben ja mit dem Investitionshochlauf – ich habe
das Wort schon genannt – bereits begonnen. Diese Bun-
desregierung investiert wie kaum eine andere zuvor:
Ausweitung der Lkw-Maut, Vorbereitung einer Lkw-
Maut auf allen Bundesstraßen ab 2018, 5 Milliarden
Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur gemäß dem
Koalitionsvertrag und jetzt noch einmal 4,35 Milliarden
Euro


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Einführung der Ausländermaut!)


– danke, Herr Kollege Behrens; ich hätte es nicht verges-
sen –, Einführung der Infrastrukturabgabe, was auch ein
Baustein zur Finanzierung ist,

(Achim Post [Minden] [SPD]: Der größte Blödsinn!)


natürlich verbunden mit dem Systemwechsel von der
Steuerfinanzierung hin zu einer stärkeren Nutzerfinan-
zierung. All das sind wichtige Bausteine unserer Infra-
strukturpolitik.

Dazu gehört auch die Säule ÖPP. Ich sage das ganz
deutlich: ÖPP ist nicht die Lösung aller Probleme, aber
das ist ein Teil der Infrastrukturfinanzierung und ist auch
nicht unwirtschaftlich.

In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Koalition
aus Union und SPD haben wir auch die Vertreter des
Bundesrechnungshofes befragt. Es ist schon ganz inte-
ressant, wenn man Berichte, die man in die Welt gesetzt
hat, auf Nachfragen hin auch ganz konkret erläutern
muss. Was kam denn dabei heraus? Es war der Totalein-
bruch der Argumentation des Bundesrechnungshofes;


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Da schau her! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl das Letzte!)


denn bisher wurden insgesamt 667 Millionen Euro für
ÖPP verauslagt, vorausberechnet waren 665 Millionen
Euro. Das sind gerade einmal 2 Millionen Euro und
nicht 2 Milliarden Euro mehr. Auch das ist ein kleiner
Hinweis an den Bundesrechnungshof in Bezug auf ÖPP.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist der Bundesrechnungshof auch noch Pinocchio, oder wie? Herr Lange, das ist ja wohl die Härte hier!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind beim In-
vestitionshochlauf für unsere Infrastruktur. Dafür wer-
den wir mit allen gesellschaftlichen Schichten und mit
allen Beteiligten reden. Ich kann mich hier nur dem Kol-
legen Heil anschließen: –


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der schließt sich nicht Ihnen an!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810009900

Aber nicht mehr so lange.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1810010000

– Es ist nicht redlich, hier von Verschwörungstheorien

zu sprechen. Nein, wir kümmern uns um die Infrastruk-
tur, damit man auch weiterhin auf Deutschlands Ver-
kehrswegen gut unterwegs ist.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Um die Renditen kümmert ihr euch!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810010100

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810010200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Wort Infrastruktur ist in aller Munde. Das ist richtig. Das
hören wir jetzt auch schon die ganze Zeit in dieser De-
batte. Auch darüber, dass eine Investitionslücke besteht,
sind wir uns einig. Die Frage ist nur, wie wir sie schlie-
ßen wollen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!)


Dass Sie hier nun vorschlagen, durch die Hintertür ÖPP-
Projekte einzuführen, die mitnichten besser als eine öf-
fentliche Investitionsstrategie sind – wobei Sie sich die
Probleme durch die Schuldenbremse und den Fetisch der
Schwarzen Null selber eingebrockt haben –, macht die
ganze Sache nicht besser.


(Florian Post [SPD]: Wo steht das denn in dem Bericht? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie einmal die Seite, wo das steht!)


Dieser Investitionsstau, der jetzt vor uns liegt, kommt
nicht von ungefähr. Sie haben massive Steuersenkungen
für Besserverdienende und Unternehmen durchgesetzt.
Dadurch gab es Steuerausfälle in den Gebietskörper-
schaften, und die öffentlichen Ausgaben wurden tatsäch-
lich heruntergefahren. Viele Kommunen pfeifen auf dem
letzten Loch, und wir leben vom Substanzverzehr. Sie
müssen jetzt das auslöffeln, was Sie sich eingebrockt ha-
ben, und haben dafür eine sogenannte Gabriel-Kommis-
sion gegründet,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, Fratzscher-Kommission!)


deren Ergebnisse nun vorliegen. Ich kann vor den Maß-
nahmen, die Sie aufgrund dieser Ergebnisse hier jetzt an-
streben, tatsächlich nur warnen.

Ich möchte vor allen Dingen über die Mobilisierung
von privaten und institutionellen Geldgebern sprechen,
über den öffentlichen Infrastrukturfonds. In diesen
Fonds können private und institutionelle Investoren Geld
geben. Um es auf den Punkt zu bringen: Mit diesem
Fonds sprechen Sie Großbanken und Versicherungen an.
In Niedrigzinsphasen suchen diese nämlich nach Anla-
gemöglichkeiten. Ich kann mich noch gut an das Gejam-
mer der Versicherungsbranche vor etwa einem halben
Jahr erinnern. Die Branche hat im Rahmen der Ände-
rung des Lebensversicherungsreformgesetzes darauf ge-
drängt, die Bewertungsreserven zu kürzen, wodurch
Gelder, die eigentlich den Kunden zustehen, massiv ge-
kürzt wurden.

Auch eine völlige Offenlegung der Höhe der Provi-
sionen wurde verhindert. Ich habe den Eindruck, Sie
haben überhaupt kein Interesse daran, die genauen Ver-
gütungen und dieses ganze undurchsichtige Überschuss-
system offenzulegen. Es handelt sich dabei aber um
Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Dieses Geld ver-
schwindet dadurch, dass es woanders geparkt wird; und
Sie haben dabei sekundiert. Als ob das nicht schon rei-
chen würde, möchten Sie für die Versicherungen jetzt
auch noch attraktive Renditemöglichkeiten schaffen.

Auch wenn dieser Begriff selten fällt: Hier geht es um
eine Ausweitung von öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten. Dieser Begriff ist inzwischen verbrannt. Er ist des-
wegen verbrannt, weil die Kommunen jetzt das ausba-
den müssen, was sie sich mit den öffentlich-privaten
Partnerschaften eingebrockt haben. Sie stehen vor einem
Scherbenhaufen und müssen draufzahlen. Am Ende
zahlt das wieder der Steuerzahler. Aber jetzt ist die Si-
tuation, dass aufgrund der Schuldenbremse weder die
Länder noch die Kommunen investieren dürfen.

Meine Damen und Herren, es ist wirklich schade,
dass Sie daraus nichts gelernt haben. Der Bundesrech-
nungshof und im Übrigen auch die Landesrechnungs-
höfe haben es Ihnen ins Stammbuch geschrieben: Die
Finanzierungskosten sind wegen der Renditeerwartun-
gen, die die privaten institutionellen Anleger fordern,
höher, als sie es im Falle eines öffentlichen Engagements
wären. Und zugleich bleiben die Risiken ungleich ver-
teilt. Wer jetzt denkt, dass die Versicherungsbranche das
Risiko mitträgt, indem sie mehr Verantwortung über-
nimmt, der täuscht sich.


(Beifall bei der LINKEN)


Es handelt sich lediglich um eine scheinbare Risikoüber-
nahme. Die Versicherungen hantieren letztendlich ja
wieder mit den Kundengeldern. Wenn dann ein Großpro-
jekt scheitert oder nicht vorangeht – das soll es ja geben:
Flughafen Berlin, Elbphilharmonie und Stuttgart 21 –,
dann sind zuvorderst die Kundengelder futsch. Das Kun-
dengeld wird damit zum Risikokapital. Da machen wir
nicht mit.

Der Staat kann im Rahmen der öffentlichen Daseins-
vorsorge kein Projekt einfach streichen. Das darf er
nicht. Also haben die Versicherungen überhaupt nichts
zu befürchten. Sie tragen nur ein geringes Risiko, be-
kommen aber eine hohe Rendite zugesichert. Das ist
eine ganz klare Win-win-Situation, allerdings nicht für
den Steuerzahler und für die öffentliche Hand, sondern
nur für die Versicherer.


(Beifall bei der LINKEN – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Skandal!)


Das ist noch nicht alles. Es geht nicht nur um höhere
Renditen. Die Versicherungslobby bemüht sich auch da-
rum, einfacher und vor allen Dingen mehr in Infrastruk-
tur investieren zu dürfen. Hier geht es insbesondere um
die Eigenmittelanforderungen; diese sollen für Investi-
tionen in Infrastruktur gesenkt werden. Bisher müssen
nach Solvency II, dem Versicherungsaufsichtsrecht in
Europa, für ein Investment in Infrastruktur 49 Prozent
Eigenmittel als Sicherheiten vorgehalten werden. Dieser
Prozentsatz soll jetzt möglicherweise auf das Niveau von
Pfandbriefen oder Immobilien gesenkt werden. Dieses
Niveau liegt zurzeit bei 20 oder 25 Prozent. Das bedeu-
tet, dass Versicherungen dann genauso wie Banken für
ein Infrastrukturinvestment weniger Geld zur Absiche-
rung dieses Investments hinterlegen müssen.

Wenn ein solches Projekt erfolgreich durchgeführt
wird, dann bekommen aber nicht die Kunden das Geld,
sondern die Aktionäre, weil sie bevorzugt behandelt
werden. Wenn ein Projekt aber scheitert, ist das Geld der
Kunden noch schneller weg. Dann muss der Steuerzah-





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

ler, der auch wegen der geringeren Absicherung ein-
springen muss, noch schneller einspringen.

Alles in allem wird damit der Privatisierung der öf-
fentlichen Daseinsvorsorge Vorschub geleistet. Gewin-
ner werden die Banken und die Versicherungen sein. Wir
werden uns vehement dagegen stellen; denn es kann
nicht sein, dass die öffentliche Hand herhalten muss und
kommunale Selbstverwaltung ad absurdum geführt wird.
Letztendlich werden mit diesem Maßnahmenpaket und
mit den Infrastrukturprojekten, die auf dem Plan stehen,
die öffentliche Hand und der Staat zu Statisten degra-
diert.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810010300

Ein freundlicher Hinweis an alle Redner: Wenn am

Rednerpult die rote Lampe aufleuchtet, dann ist das
nicht die Aufforderung, zum zentralen Punkt der Rede
vorzudringen, sondern das Zeichen dafür, dass die Rede-
zeit abgelaufen ist. Bisher haben alle Redner der Fraktio-
nen länger gesprochen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war pünktlich!)


Wir haben das jetzt einmal so hingenommen. Aber es
wäre schon schön, wenn in der Aktuellen Stunde jeder
versucht, sofort zum zentralen Punkt zu kommen, und
dann, wenn die rote Lampe aufleuchtet, den nächsten
Redner ans Pult zu lassen.

Jetzt erteile ich für die Bundesregierung dem Parla-
mentarischen Staatssekretär Uwe Beckmeyer das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


U
Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1810010400


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wenn man die bisherigen Beiträge der Oppositions-
rednerinnen und -redner dieses Hauses verfolgt hat, dann
kommt man zu dem Schluss, dass sie zwar viel gesagt
haben, aber keine einzige Minute darauf verwendet ha-
ben, um sich tatsächlich mit dem Bericht auseinanderzu-
setzen, den die Kommission verfasst hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was an fundamentalem Unsinn erzählt und grob fahrläs-
siger Verdummung des Publikums draußen betrieben
wird, ist schon hanebüchen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!)


– Herr Krischer, Sie sind dabei fast der Spitzenreiter.
Das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Denn es
geht nicht nur hart an der Wahrheit vorbei, sondern ist
am Ende von Ihnen bewusst auf das Ziel gerichtet, die
Menschen fehlzuleiten. Das ist eine schlimme Agitation,
die man Ihnen einfach nicht durchgehen lassen kann.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht im Bericht drin!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ich
über die Investitionsstrategie der Bundesregierung spre-
che, müssen wir erst einmal feststellen, dass – darin sind
wir uns, glaube ich, alle in diesem Hause einig – Investi-
tionen das Fundament für Wachstum und Beschäftigung
sind. Insofern sind Investitionen wichtig, und zwar In-
vestitionen im öffentlichen Bereich, aber natürlich auch
Investitionen im privaten Bereich. Herr Ernst, 90 Pro-
zent der Investitionen in dieser Republik werden im pri-
vaten Bereich getätigt, und das ist gut so. Wir brauchen
davon noch viel mehr, um auch das einmal deutlich zu
sagen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum investieren die die hohen Gewinne nicht, bei den Renditen? Warum investieren die das nicht?)


Wir haben im Bereich der öffentlichen Hand – dabei
haben wir gerade jetzt in dieser Großen Koalition eine
Superperformance hingelegt – viele neue Investitionen
angeregt. Die Initiativen dieser Bundesregierung, getra-
gen von den beiden großen Fraktionen, zur Unterstüt-
zung der Kommunen sind einzigartig. Diese Unterstüt-
zung der Kommunen ist auch notwendig. Denn wir
haben unter anderem auch festgestellt – das unterstreicht
die Kommission –, dass es im Bereich der kommunalen
Investitionen in der Vergangenheit leider einen starken
Rückgang zu verzeichnen gibt, und zwar von ehemals
50 Prozent der öffentlichen Investitionskraft auf deutlich
unter 40 Prozent.


(Zuruf der Abg. Susanna Karawanskij [DIE LINKE])


Dies ist festzuhalten, und dem muss man entgegenwir-
ken, und das tun wir,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Die Kommunen dürfen noch nicht einmal investieren!)


und zwar zunächst einmal mit einer öffentlichen Investi-
tionspolitik der Bundesregierung mit Unterstützung der
Großen Koalition. Dazu gehört unter anderem – das
möchte ich an dieser Stelle deutlich machen –, dass wir
die Länder und Kommunen in die Lage versetzen, ihre
Infrastruktur in Ordnung zu bringen. Einerseits klagen
sie darüber, aber auf der anderen Seite fragen sie: Was
macht ihr eigentlich, und mit welchen Instrumenten
macht ihr das?

Erst einmal machen wir es mit öffentlichen Instru-
menten, enthalten in den ganzen Katalogen, unter ande-
rem beschlossen in dem heute vorgelegten Nachtrags-
haushalt.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Und das machen Sie jetzt mit einer Grundgesetzänderung?)


– Entschuldigung, hören Sie doch mal zu!





Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das mache ich doch!)


Fragen Sie doch anschließend! Ohne zugehört zu haben,
können Sie doch gar keine Frage stellen.

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass Bund und
Länder mit dem Nachtragshaushalt Investitionen in
Höhe von 10 Milliarden Euro sowie weitere 1,5 Milliar-
den Euro und 3,5 Milliarden Euro für die Kommunen
beschlossen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben im Bereich der Verkehrswege Investitions-
pakete von 5 Milliarden Euro und weiteren 10 Milliar-
den Euro beschlossen. Das sind Beschlüsse dieser Koali-
tion, die umgesetzt werden. Wir haben also eine
mächtige Bewegung im Bereich der öffentlichen Investi-
tionen.

Wir haben in den Bereichen Technologie, Bildung,
Ausbildung und Wissenschaft in beträchtlichem Umfang
Geld in die Hand genommen; auch das will ich an dieser
Stelle sagen. Aber unterm Strich stellen wir fest: Es
könnte noch mehr sein. Darum brauchen wir hier noch
weitere Initiativen.

Es ist doch richtig, dass eine Bundesregierung und ein
Bundeswirtschaftsminister die Situation in Deutschland
erst einmal genau betrachten wollen und Experten zu-
sammenkommen lassen, die sie auf diesem Gebiet bera-
ten können. Was ist denn dagegen einzuwenden? Was ist
dagegen einzuwenden, dass unter diesen Beratern ein,
zwei Banker sind?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ein Banker?)

Es waren zwei oder drei dabei.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber welche!)

Aber es waren natürlich auch Gewerkschafter dabei.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die sind doch gegen das, was ihr macht! Das ist es doch!)


Diese Beratungskapazität ist wichtig. Es ist doch gera-
dezu ideal, dass sie gesagt haben: Liebe Freunde, „one
dollar“, und ich gebe euch mein Wissen. – Doch am
Ende des Tages entscheiden wir im Parlament, was wir
tun wollen. Das ist das Faktum, das man doch berück-
sichtigen muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sagen einfach: Die wollen denen schon wieder etwas
in die Tasche stecken. – Nein, wir wollen auf diese Art
und Weise den Wohlstand dieses Volkes und den Wohl-
stand in diesem Land mehren. Das ist unsere Absicht.
Das werden wir auch mit Nachdruck tun.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich will an dieser Stelle sagen, dass wir gerade mit

dem nationalen Investitionspakt für Kommunen, der in
diesem Vorschlag der Fratzscher-Kommission aufge-
schrieben worden ist, ein ideales Instrument besitzen,
das dazu führen kann, dass wir Beratung für Kommunen
organisieren, dass wir ihnen Chancen eröffnen und dass
wir den schwachen und kleinen Kommunen etwas an die
Hand geben, das ihnen hilft, und dabei auch ein Instru-
ment der Finanzierung organisieren. Das ist ein Element,
das wir bisher in unserem Kanon der Hilfeleistungen für
Kommunen noch nicht haben. Ich finde, das ist ein ganz
zentrales Ergebnis der Arbeit dieser Kommission, das
wir nicht hoch genug schätzen können. Wir müssen es
fördern und unterstützen. Wir sollten nicht darüber la-
mentieren, sondern dafür sorgen, dass dieses möglichst
rasch umgesetzt wird.

Zur Verkehrsinfrastruktur und ÖPP. Hierin steht ein-
deutig – lesen Sie den Text! –, dass in gar keiner Weise
Privatisierungen angestrebt werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


– Hören Sie zu! Privat bedeutet doch nicht Privatisie-
rung. Es ist so, dass man privates Geld nutzt, aber das
bedeutet doch nicht Privatisierung. – Städtische, kom-
munale und staatliche Infrastrukturen werden so bleiben,
wie sie sind. Das steht eindeutig hier drin. Sie müssen es
nur lesen. Es steht auch darin, dass ÖPP nur dann ge-
nutzt werden kann, wenn der Nachweis erbracht wird,
dass dieses Mittel besser und effektiver als eine staatli-
che Finanzierung ist. Auch das steht darin.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn man das aber nicht liest und nur daherschwafelt,
was man die ganze Zeit schon gesagt hat, und wenn man
aus dem Off ruft, was man sich irgendwie aufgeschrie-
ben hat, dann kommt man natürlich nie zu der Erkennt-
nis, dass es vielleicht auch noch etwas Besseres gibt. Vor
allem steht etwas von Risikoteilung darin – das ist etwas
Neues –, auch beim privat eingesetzten Geld.

Herr Krischer, ist es eigentlich falsch, wenn 1,2 Mil-
liarden Euro für einen Windpark von privater Seite fi-
nanziert werden? Können wir uns nicht alle darüber
freuen?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über Straßen hier!)


Die Privaten erhalten natürlich eine entsprechende Ren-
dite für den gelieferten Strom, aber dafür investieren sie
auch. Sind private Investitionen im Bereich der erneuer-
baren Energien nicht gut?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir reden über Straßen!)


Warum sagen Sie denn nicht einmal: „Das ist gut, Herr
Beckmeyer“? Das wäre doch einmal eine faire Geste
auch in Richtung der Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sagen Sie doch: Bundeswirtschaftsminister, das hast du
genau richtig gemacht. Du hast im Rahmen deiner Er-
neuerbare-Energien-Politik dafür gesorgt, dass wieder
zwei Windparks pro Jahr von Privaten finanziert wer-
den. – Das wollen wir, und das werden wir auch in ande-
ren Bereichen schaffen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Beckmeyer, warum regen Sie sich so auf?)






Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)

– Herr Krischer, wenn man hört, was Sie sagen, dann
muss man dafür sorgen, dass das Publikum und die Men-
schen draußen darüber aufgeklärt werden, was tatsäch-
lich in diesen Papieren steht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht das, was Sie sagen!)


Die adäquaten Rahmenbedingungen, die wir auch für
die privaten Investitionen schaffen müssen, gehören
ebenfalls dazu. Wir wollen und müssen in Deutschland
im Bereich der privaten Investitionen dafür sorgen, dass
wir über adäquate Rahmenbedingungen auch große Un-
ternehmen in Deutschland wieder verstärkt zu Investitio-
nen anreizen. Auch das ist unsere Aufgabe in Deutsch-
land bei dieser Frage.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht keiner!)


Es muss das Ziel einer modernen Volkswirtschaft
sein, 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für Innova-
tionspolitik und für Forschungs- und Entwicklungspoli-
tik aufzuwenden. Wir wollen auch mit diesem Instru-
ment dieses Ziel erreichen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810010500

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Kerstin Andreae, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810010600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da

ist gerade eine ganz schöne Menge Überheblichkeit in
der Debatte.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist eure Spezialität!)


Aber einmal der Reihe nach.

Ein Problem dieser Kommission war, dass zwei Be-
reiche miteinander vermengt wurden. Der eine ist die
Frage der Investitionen. Wir haben heute Morgen schon
gesagt, dass wir für eine Antwort keine Kommission ge-
braucht hätten. Das hätten wir auch so gewusst. Aber
okay: Die Experten haben es Ihnen noch einmal aufge-
schrieben. Es gibt eine echte Investitionslücke, sowohl
von privater als auch von öffentlicher Seite. Der andere
ist die Frage, wie Geld angemessen und sicher verzinst
angelegt werden kann. Diese Vermengung war ein
grundsätzlicher Konstruktionsfehler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Bundeswirtschaftsminister hat im letzten Jahr an-
gekündigt, er wolle den Lebensversicherungen attraktive
Angebote machen, sich an der Finanzierung der öffentli-
chen Infrastruktur zu beteiligen. Ich frage: Was heißt das
denn in einer Phase, in der die Rendite niedrig ist? Das
heißt doch nur, dass es teurer wird, weil das Ganze über
eine höhere Rendite bezahlt werden muss.

(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Das ist der Konstruktionsfehler gewesen. Sie haben zwei
Dinge miteinander vermischt. Es ist wie ein Trojanisches
Pferd: von außen nett – Kita, Schule, bessere Brücken –
und innen ist der Rettungsschirm für die Versicherungen;
innen sind neue verdeckte Staatsschulden, für die letzt-
lich die Bürgerinnen und Bürger aufkommen müssen.
Das ist das Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Susanna Karawanskij [DIE LINKE] – Marcus Held [SPD]: Wo steht das denn? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf welcher Seite steht das denn?)


Ich teile die Kritik an der Zusammensetzung dieser
Kommission; das war ein zweiter Fehler. Hätte es dort
unterschiedliche Interessenvertretungen gegeben, wäre
der Lobbyismusvorwurf an dieser Stelle gar nicht aufge-
kommen. Außerdem gehörte ihr niemand an, der sich für
das Bezahlen zuständig fühlte. Der Bund der Steuerzah-
ler ist nicht der Freund der Grünen; dennoch hätten wir
ihn in dieser Kommission gern vertreten gesehen. Die
Verbraucherschützer hätten wir dort ebenfalls gern ver-
treten gesehen. Auch zivilgesellschaftliche Organisatio-
nen und NGOs hätten wir dort gern vertreten gesehen.
Dass ihr nur 3 Frauen, aber 18 Männer angehörten, sei
nur am Rande erwähnt. Die Zusammensetzung dieser
Kommission hat halt nicht gestimmt. Das ist ein Pro-
blem ihrer Ausrichtung gewesen. Sie haben Verträge zu-
lasten Dritter gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt zu dem Einwand, wir hätten dies alles nicht gele-
sen. So etwas akzeptiere ich nicht, weil wir erstens sehr
wohl alles gelesen haben und weil es zweitens ein unver-
frorener Vorwurf ist.


(Alexander Funk [CDU/CSU]: Dann haben Sie es nicht verstanden!)


Jetzt sage ich Ihnen einmal, was ich Ihnen vorwerfe:
Sie, Herr Heil, und Sie, Herr Beckmeyer, haben gesagt:
Na ja, da steht doch – Seite 41 –, diese Verkehrsinfra-
strukturgesellschaft sei vollständig in Bundesbesitz. –
Auf Seite 42 heißt es aber, man könne natürlich auch die
Beteiligung Privater an dieser Gesellschaft ermöglichen.
Private Anteilseigner, was ist das denn anderes als eine
Teilprivatisierung dieser Infrastrukturen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Um Gottes willen, das ist ja furchtbar! – Reiner Meier [CDU/CSU]: Wir leben doch nicht im Sozialismus! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Meine Herren, natürlich haben wir es gelesen.

Aber wissen Sie, das Problem an all dem ist doch: Öf-
fentliche Aufgabe ist, öffentliche Infrastruktur in öffent-
licher Verantwortung bereitzustellen, und zwar in der für
den Steuerzahler wirtschaftlichsten Form, nicht nur für
die jetzigen Steuerzahler, sondern auch für die Steuer-
zahler in 20 Jahren. Die Koalition verlagert hier nämlich





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

ein Problem in die Zukunft. Sie umgehen die Schulden-
bremse. Beides verstößt gegen die Generationengerech-
tigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie mir das nicht glauben


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)


– ja, das ist unglaublich –, dann würde ich Ihnen emp-
fehlen, einmal mit dem Herrn Rehberg zu sprechen. Das
ist Ihr Chefhaushälter. Ihnen von der SPD würde ich ein-
mal empfehlen, mit Herrn Kahrs zu sprechen; das ist Ihr
Chefhaushälter. Die Rede war von hartem Widerstand
der Haushälter im Bundestag. Herr Kahrs sagt: Das wäre
eine staatliche Gesellschaft zur Umgehung der Schul-
denbremse. – Ach!


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Nichts anderes sagen wir!)


Er sagt: Es gibt keinen Grund, warum der Bundestag
Versicherungen Rendite beschaffen soll. – Ach! Der
Herr Rehberg sagt: Als Haushälter – Ihr Haushälter! –
bin ich strikt dagegen, Schattenhaushalte einzurichten.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Macht doch keiner! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir diskutieren die Vorschläge!)


Danke schön, das ist genau das, was auch wir Ihnen vor-
werfen. Es bringt zum Ausdruck, was wir befürchten
und was hier passiert. Hören Sie auf Ihre Haushälter,
wenn Sie schon nicht auf uns hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Private Investitionen sind Schattenhaushalte? Das ist absurd!)


Die Linke schwingt hier die große Keule, indem sie
von den Lobbyisten am Kommissionstisch spricht. Ich
finde, man muss eins zugutehalten: Diese Kommission
tagte öffentlich. Es war transparent, wer in dieser Kom-
mission war. Dass andere ihr nicht angehört haben, die
wir gerne in ihr vertreten gesehen hätten, habe ich Ihnen
gesagt.

Wissen Sie, was das Problem ist? Das Problem ist
doch eigentlich: Jetzt geht es erst los. Jetzt geht es näm-
lich an die Ausgestaltung von dem Ganzen. Es gab – das
wissen Sie – zwischen 2004 und 2006 in Ministerien
zeitweise 300 Beschäftigte aus Wirtschaftsunterneh-
men, die an Gesetzen und Verordnungen mitgeschrieben
haben, die ihnen genutzt haben. Deswegen fordern wir
Grüne schon seit langem ein Lobbyistenregister, aus
dem transparent hervorgeht, wer wen bei welchen The-
men und mit welchem finanziellen Aufwand vertritt.
Denn jetzt geht das Geschacher los.

Meine Redezeit geht zu Ende; deswegen nenne ich
noch ein Beispiel. Die ÖPP-Projekte, die hier im Raum
stehen, nutzen genau vier großen Unternehmen. Der
Mittelstand ist draußen. Das Handwerk wehrt sich gegen
diese Pläne. Herr Wollseifer sagt: Solche Modelle ver-
drängen den Mittelstand aus dem öffentlichen Raum.
Wir werden sehr genau aufpassen, wie Sie diese In-
frastrukturgesellschaft für Bundesfernstraßen umsetzen,
wer daran mitschreibt, wer davon profitiert. Die Aufgabe
fängt jetzt erst an.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Nennen Sie doch die Namen der vier!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810010700

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Dr. Herlind Gundelach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1810010800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

bisherige Debatte hat gezeigt, dass in diesem Hause of-
fensichtlich sehr unterschiedliche Ansichten vor allen
Dingen zum Bereich der öffentlich-privaten Partner-
schaften bei Infrastrukturinvestitionen existieren. Wir
haben hier gesehen: Von wirtschaftsfreundlicher bis
staatsgläubiger Haltung – ich glaube, bei dem einen oder
anderen muss man das fast so sagen – ist hier fast alles
vertreten. Es ist falsch, nur auf die eine oder die andere
Form zu setzen oder die Formen gar gegeneinander aus-
zuspielen. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir jedes
Vorhaben individuell betrachten, sorgfältig untersuchen
und vorbereiten und danach die Entscheidung treffen, in
welcher Form es finanziert wird.

Dazu gehört selbstverständlich eine Lebenszyklusbe-
trachtung, und zwar inklusive der Personalbereitstellung.
Dazu gehören eine sorgfältige Kostenplanung und eine
Wirtschaftlichkeitsuntersuchung; dazu ist heute schon
einiges gesagt worden. Es müssen auch die sogenannten
Eh-da-Kosten der Verwaltung mit eingepreist werden;
die werden nämlich manchmal übersehen. Wir brauchen
eine Wertschöpfungskette aus Planen, Bauen, Erhalten
und Betreiben, verbunden mit einer optimal zugeschnit-
tenen Finanzierung. Das muss im Vordergrund einer
wirtschaftlichen Projekterledigung stehen.

Wir brauchen aus meiner Sicht auch zwei Sichtwei-
sen, nämlich zum einen die betriebswirtschaftliche und
zum anderen die volkswirtschaftliche. Ich möchte das
einmal an einem ganz konkreten Beispiel aus meinem
Wahlkreis verdeutlichen:

Wir alle wissen, dass Hamburg einen Hafen hat und
dass der Hamburger Hafen das Herz der Hamburger
Wirtschaft darstellt. Um erfolgreich zu sein, braucht er
eine optimale verkehrliche Anbindung; das ist absolut
unverzichtbar.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Seehafenhinterlandverkehr!)


Die sogenannten Hafenhinterlandverkehre sind für uns
ein ganz entscheidender Punkt, weil sie momentan ein
wenig notleidend sind.

Hamburg hat als einzige Großstadt keine Autobahn-
umfahrung – das ist nicht zuletzt Ausdruck einer verfehl-





Dr. Herlind Gundelach


(C)



(D)(B)

ten Verkehrspolitik in den 60er- und 70er-Jahren, für die
aber nicht die CDU verantwortlich war –, das heißt jegli-
cher Verkehr geht durch die Stadt. Die A 7 im Westen
und die A 1 im Osten haben keine leistungsfähige Ver-
bindung miteinander. Deswegen diskutiert Hamburg seit
gut 20 Jahren die sogenannte Hafenquerspange, die
beide Autobahnen endlich miteinander verbindet und zu-
gleich die Güterverkehre aus dem Hafen und in den Ha-
fen verbessert.

Unter Schwarz-Grün haben wir uns nach vielen Jah-
ren auf eine vernünftige Trassenführung verständigt, die
vom Bund auch genehmigt worden ist. Die Kollegin
Hajduk – ich habe sie eben noch gesehen; sie will gerade
gehen – will ich ausdrücklich loben; das hat sie ausge-
zeichnet gemacht.


(Marcus Held [SPD]: Ich dachte, sie sei jetzt weggelaufen!)


– Nein, dafür haben wir uns im Senat viel zu gut verstan-
den. – Wir stehen mit dem Bau jetzt erst am Anfang;
denn die Hafenquerspange war bislang nicht im Bundes-
verkehrswegeplan. Das konnte sie mangels konkreter
Planung auch nicht sein. In der Zwischenzeit ist sie an-
gemeldet. Aber Sie alle wissen: Es dauert normalerweise
ziemlich lange, bis man mit einem Vorhaben auf dem
obersten Treppchen der Bauausführung angekommen
ist.

Nun gibt es im Ministerium die Überlegung, die Ha-
fenquerspange als sogenanntes ÖPP-Projekt zu planen,
damit sie möglichst rasch realisiert werden kann. Ich
kann nur sagen: Das findet meine volle Unterstützung.
Ich hoffe, wir sind am Schluss erfolgreich, und das wird
tatsächlich ein ÖPP-Projekt; denn die Vorteile liegen
meines Erachtens auf der Hand: Es gibt eine deutlich ra-
schere Realisierung. Wenn sauber geplant ist – das setze
ich mal voraus –, ist das auch nicht teurer als im konven-
tionellen Bauverfahren. Ich möchte hier ausdrücklich
auf das Ausbauprojekt zur A 7 nördlich von Hamburg
und seine sehr ausgefeilte Finanzierungsstruktur hinwei-
sen. Das hat uns genau gezeigt, dass man so hervorra-
gend finanzieren kann, dass man sogar noch in der Lage
ist, Mittel für unerwartete Mehrkosten oder Umplanun-
gen vorzuhalten. Ich glaube, das kann man alles vernünf-
tig machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hinzu kommen Fakten – das ist für mich ganz ent-
scheidend –, die sich gar nicht unmittelbar in der Rech-
nung niederschlagen. Wenn wir die Hafenquerspange
schnell haben, dann können die Verkehre aus dem Hafen
natürlich auch deutlich schneller abgeführt werden. Das
wiederum spart Kosten für die Betriebe und die Logisti-
ker, da sie verlässlicher planen und entsprechend auch
verlässlicher liefern können. Die Staukosten im Hambur-
ger Raum gehen in der Zwischenzeit in die Millionen.

Ein Weiteres kommt noch hinzu: Ausweichverkehre
in die Wohnquartiere werden vermieden, da die Verbin-
dung zwischen den Autobahnen endlich funktioniert.
Damit verbunden ist eine deutliche Verminderung der
gesundheitlichen Belastung der von Lärm und Immissio-
nen geplagten Anwohner.
Das bedeutet letztendlich wiederum geringere Ge-
sundheitskosten und eine Steigerung der Wohn- und Le-
bensqualität in den betroffenen Wohngebieten. Ich
denke, das ist finanziell vermutlich kaum quantifizierbar.

Aus meiner Sicht sind das alles Aspekte, die man be-
rücksichtigen muss, wenn es darum geht, Investitionen
möglichst schnell realisieren zu können. Deswegen ist
mein Rat, daraus keinen Glaubenskrieg zu machen, jedes
Projekt für sich zu betrachten, eine saubere Plus-Minus-
Bilanz aufzustellen und danach zu entscheiden.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810010900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1810011000

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Sehr verehrte Zuhörende! Die Links-Fraktion hat die
Frage gestellt: Welchen Einfluss haben Interessenvertre-
ter auf unsere Infrastrukturpolitik? Die Antwort ist kurz
und einfach: eine angemessene. Das hätten wir auch am
Rande des Plenums bei einer Tasse Kaffee besprechen
können. Also warum diese Debatte hier?


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es stellt sich doch die Frage: Haben Interessenvertre-
ter zum Beispiel keinen Einfluss auf politische Entschei-
dungen der Mitglieder der Links-Fraktion? Wenn ich mir
die Homepage des Kollegen Behrens anschaue, sehe ich,
dass er zum Thema „Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tungsreform“ mit Verdi und den Personalräten geredet
hat und anschließend zu dem Entschluss gekommen ist,
dass die Reform des damaligen Ministers Ramsauer
mangelhaft ist.

Gut, so ähnlich ist es auch uns ergangen. Wir haben
über die Reform mit Verdi und dem Fachverband der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gesprochen. In die-
ser Legislaturperiode haben wir es sogar durchgesetzt,
dass Interessenvertretungen des Personals beim Umbau
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung angemessen be-
teiligt werden. Ich bin froh, dass diese Interessenvertre-
tungen Einfluss auf unsere Infrastrukturpolitik haben;
denn jetzt ist die Reform endlich auf den richtigen Weg
gebracht worden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kollegen und Kolleginnen, das alles wissen Sie
ja. Also ist die Frage: Warum debattieren wir hier eigent-
lich? Was wollen Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen
von der Opposition, den Menschen in unserem Land da-
mit eigentlich sagen? Dass Sie nicht mit Interessenver-
tretern zusammenarbeiten und von Fachleuten keine Ar-
gumente hören wollen?

(A)






Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

Wir glauben, dass die Bevölkerung möchte, dass Poli-
tik ihre Entscheidungen nicht aus einem Bauchgefühl
heraus fällt, sondern aufgrund vernünftiger Argumente.
Und Argumente fallen nicht wie eine göttliche Einge-
bung auf uns herunter, sondern diese Argumente müssen
wir uns in Gesprächen – unter anderem mit Interessen-
vertretungen – holen, liebe Kollegen und Kolleginnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Bei diesen Gesprächen sind uns drei Dinge wichtig: ers-
tens Transparenz, zweitens Ausgewogenheit und drittens
Unabhängigkeit. Lassen Sie uns doch einmal kurz die
von Ihnen so kritisierte sogenannte Fratzscher-Kommis-
sion auf diese drei Punkte hin untersuchen.

Transparenz. Bundeswirtschaftsminister Gabriel
suchte für eine drängende Herausforderung unserer Zeit
Lösungsansätze. Er ist an die Öffentlichkeit gegangen
und hat für diese Aufgabe ein Gremium eingerichtet.
Außerdem hat er gesagt, wer in diesem Gremium, beste-
hend aus 21 Personen, vertreten ist.

Ausgewogenheit. In dieser Kommission sind Wissen-
schaftler und Wissenschaftlerinnen, die Wirtschaft und
die Gewerkschaften vertreten. Ja, liebe Kollegen und
Kolleginnen, auch Banken und Versicherungen sind in
ihr vertreten. Die Frage, die ich mir stelle, lautet aber:
Gibt es für Sie eigentlich gute und schlechte Fachleute,
gute und schlechte Argumente? Wie arrogant ist das
denn, liebe Kollegen und Kolleginnen!


(Beifall bei der SPD und CDU/CSU – Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE])


Für ein gutes Ergebnis sollten wir alle sachlichen Argu-
mente bedenken. Wie wir diese dann im Einzelnen ge-
wichten, dürfte auch von unseren politischen Präferen-
zen abhängen. Diese Argumente aber gar nicht hören zu
wollen, zeugt doch wohl von unerträglicher Arroganz!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unabhängigkeit. Die Ergebnisse beinhalten nicht nur
die Mehrheitsmeinung der Kommission, sondern es wur-
den auch alle Minderheitenvoten aufgeschrieben. So
sollte es doch sein. Wir wollen von der Kommission Ent-
scheidungshilfen bekommen; aber wir wollen nicht fer-
tige Gesetze von ihr geliefert bekommen.

Schauen Sie sich das Kapitel zum ÖPP an. Lieber
Kollege Lange, es scheint mir, dass Sie nur die Seite mit
den positiven Argumenten gelesen haben. Ich muss Ih-
nen sagen: Wir haben den kompletten Text gelesen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


In ihm ist aufgeführt, dass ÖPP durchaus auch negative
Seiten hat. Auch die werden wir bei unserer politischen
Arbeit beachten.


(Beifall bei der SPD)


Darüber, was nun passiert, entscheidet nicht die Kom-
mission, sondern entscheiden wir, liebe Kollegen und
Kolleginnen, und zwar nach eingehender Beratung.
Liebe Kollegin Andreae, wie sieht denn eine Infra-
strukturgesellschaft möglicherweise aus? Dazu sind
viele Argumente dargelegt worden. Einige davon haben
Sie genannt. Wir haben uns auch andere Argumente an-
gesehen. Für die SPD ist wichtig, dass es auf der einen
Seite keine Privatisierungen gibt; das haben auch Sie an-
geführt. Dass es auf der anderen Seite möglicherweise
auch Privatinvestitionen geben kann, ist eine Option.
Das ist keine Forderung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts anderes haben wir gesagt!)


Für uns ist ganz wichtig: keine Privatisierung. Eine Ge-
sellschaft muss zu 100 Prozent in Bundesbesitz sein.

Wir müssen in Zukunft davon wegkommen, bei den
Planungen allein von den Herstellungskosten auszuge-
hen. Die Kommission rät uns, mehr auf ein Lebenszy-
klusprinzip zu setzen. Die Finanzströme müssen absolut
transparent sein, und eine solche Gesellschaft muss
komplett unter parlamentarischer Kontrolle sein. Was,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist daran denn so fürch-
terlich?


(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Bezüglich der Kapitalfindung haben wir die Seiten zu
den sogenannten Bürgerfonds sehr genau gelesen. Das
ist etwas, was die SPD schon immer interessant fand und
was zum Beispiel bei den Stadtwerken in München
schon umgesetzt wurde. Dort sind auch von Kleinanle-
gern Gelder gesammelt worden, zum Beispiel zum Aus-
bau Erneuerbarer-Energien-Projekte. Das ist das, was
wir uns anschauen wollen. Dann werden wir entschei-
den.


(Beifall bei der SPD)


In unserem parlamentarischen System ist die Einbin-
dung von Interessenvertretungen verpflichtend und gut
organisiert. Zum Beispiel muss jeder Gesetzentwurf in
eine Verbändeanhörung kommen.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810011100

Und jeder Redner muss einmal auf die Uhr schauen.


(Heiterkeit)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1810011200

Die Uhr ist direkt vor mir. – Wir sammeln Argumente

und gewichten sie teilweise unterschiedlich. Dies ist
beim Kollegen Lange und mir der Fall, wenn es bei-
spielsweise um die Frage geht, was der Bundesrech-
nungshof zum Thema ÖPP sagt. Aber entscheidend ist,
was hinten rauskommt. Das muss transparent sein. Da
können wir alle vielleicht noch ein bisschen mehr tun.
Sigmar Gabriel hat es uns mit der Fratzscher-Kommis-
sion vorgelebt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810011300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1810011400

Sehr geehrter Herr Präsident! In dieser hitzigen De-

batte über öffentlich-private Partnerschaften – das ist,
glaube ich, ein Konsens zwischen uns allen – ist lang-
fristiges Denken gefragt. Dass die Linke mit kurz-, mit-
tel- und langfristigem Denken permanent überfordert ist,
ist für uns keine Neuigkeit, wegen der es einer Aktuellen
Stunde bedarf.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dieses Argument zeugt nicht von Intelligenz!)


– Lieber Herr Kollege Ernst, Sie hatten Ihre Chance und
haben sie abermals nicht genutzt. – Von daher hat der
Kollege Beckmeyer hier vollkommen recht: Was Sie
hier veranstalten, verdient die Bezeichnung Volksver-
dummung. In dieser Debatte der Volksverdummung
– der Kollege Krischer freut sich sogar noch – haben Sie
in dem Lügenbaron Klaus Ernst Ihren Meister gefunden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sind die Hauptakteure.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und Sie sind ein Dampfplauderer!)


– Ich bin kein Dampfplauderer, sondern ich setze mich
sehr wohl mit Ihrer Argumentation auseinander.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann argumentieren Sie mal! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt keine kluge Argumentation!)


Ihre charmante Kollegin hat uns den Fetisch einer
schwarzen Null vorgeworfen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hat Ernst auch gemacht!)


Dieser sogenannte Fetisch kommt Deutschland zugute
und ist somit ein Fetisch, über den wir hier positiv reden
können. Ihr Konzept „Investitionen auf Pump“ ist doch
ein Konzept von gestern, Herr Kollege. „Investitionen
auf Pump“ kann nicht mehr funktionieren; denn nur
durch die schwarze Null generieren wir ja gerade wieder
Haushaltsinvestitionen von morgen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die schwarze Null seid ihr von der Bundesregierung!)


Das heißt, wir schaffen Voraussetzungen dafür, auch in
Zukunft seitens des Staates investieren zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass wir das nicht nur staatlich, sondern auch noch im
Verbund mit den Privaten machen wollen, ist ebenfalls
Teil der heutigen Debatte.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Ist das jetzt ein Wert an sich?)

Die Fratzscher-Kommission hat uns in ihrem Bericht
klar gesagt, warum wir darüber debattieren sollten, wie
wir erstens in Zukunft die langfristige Sicherung unseres
Wohlstands über Investitionen garantieren können und
wie wir zweitens dafür bessere Rahmenbedingungen
schaffen; denn der Staat alleine kann diese nicht schaf-
fen. Das ist, glaube ich, auch jedem von uns klar. Da
stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit diesem Modell
von ÖPP um, um eine sinnvolle Ergänzung seitens der
Privaten zu dem staatlichen Mechanismus zu haben? Der
klare Vorteil, den wir mit den Privaten haben, wenn wir
sie ins Boot holen, ist, dass sich ein Projekt über einen
gesamten Lebenszyklus erstreckt: planen, bauen und
hinterher eben auch über mehrere Jahre betreiben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bisher immer gescheitert!)


– Das scheitert eben nicht. Sie sehen bei uns in Deutsch-
land bereits sehr positive Beispiele, bei denen es über-
haupt nicht scheitert.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bisher ist es immer gescheitert!)


Schauen Sie sich die A 1 zwischen Hamburg und Bre-
men an. In vier Jahren konnte hier ein Projekt realisiert
werden, von dem alle Verkehrsminister und alle Exper-
ten sagen:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sagt der Bundesrechnungshof was anderes!)


Hätte das der Staat alleine gemacht, hätten wir zehn
Jahre gebraucht, um den ganzen Prozess durchzuführen.
Wir hätten es also nicht so schnell durchführen können.
Vielleicht hätten wir es aufgrund der begrenzten finan-
ziellen Ressourcen überhaupt nicht realisieren können.

Da bin ich ganz schnell bei Ihrer Debatte, die Sie füh-
ren wollen, nämlich warum man Mittel in Neubaupro-
jekte und nicht nur in den Erhalt der Verkehrsinfrastruk-
tur steckt. Herr Kollege Krischer, ich komme aus den
neuen Bundesländern. Wir haben in den letzten 25 Jah-
ren verschiedene Infrastrukturprojekte in Angriff ge-
nommen. Wir haben den Menschen immer gesagt: Wenn
wir eine große Autobahn bauen – bei mir im Wahlkreis
sind es die A 71 und die A 73 –, dann werden wir mit
Blick auf die Lebensumstände der Menschen dafür sor-
gen, dass Schwerlasttransporte nicht durch die Dörfer
und Innenstädte fahren, und ordentliche und angemes-
sene Ortsumgehungen schaffen.

Dass wir auch in Zukunft – die Kollegen haben es
richtig gesagt – noch Neubauprojekte im Bereich der
Verkehrsinfrastruktur brauchen, ist kein Widerspruch,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Frage der Priorität!)


sondern zeigt letztendlich, dass unsere Investitionen in
den neuen Ländern beileibe noch nicht abgearbeitet sind.
Es gibt immer noch Projekte, bei denen wir mit privaten,
aber auch mit öffentlichen finanziellen Mitteln dafür sor-
gen wollen, eine gute Infrastruktur aufzubauen.





Mark Hauptmann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schattenhaushalte!)


Dass wir bei ÖPP-Projekten einen Perspektivwechsel
brauchen, der die Langfristigkeit des Lebenszyklus in
den Mittelpunkt stellt, wollen wir gar nicht bestreiten.
Wir können zum Beispiel über das Schweizer Modell
debattieren, bei dem wir uns nicht am Billigsten orientie-
ren, sondern den günstigsten und teuersten Anbieter
streichen und dann den Anbieter nehmen, der am nächs-
ten am Median liegt, weil er die langfristigen Kosten mit
einkalkuliert. Das heißt, wir wollen kein Preisdumping
in den Vordergrund stellen, wir wollen keine Gewinnma-
ximierung in den Vordergrund stellen, wie es uns die
Linke unterschieben will, sondern letztendlich einfach
nur die Chancen von öffentlich-privaten Projekten in den
Vordergrund stellen.

Diese Chancen lassen sich in drei wesentlichen As-
pekten zusammenfassen: Erstens. Ich kann schneller re-
alisieren. Zweitens. Ich kann eine Langfristigkeit im
Denken realisieren. Wenn das nicht Nachhaltigkeit ist,
was dann, liebe Kollegen der Grünen? Drittens. Ich kann
Win-win-Situationen für Wohlstand und Wirtschaft
schaffen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viertens. Bezahlen müssen wir es!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810011500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Marcus Held, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1810011600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Wer kennt das nicht aus seinem Wahlkreis? Die
Ortsstraße, die vor lauter Schlaglöchern kaum noch be-
fahrbar ist und deshalb dringend ausgebaut werden
müsste, der Sportplatz, der dringend einen neuen Belag
braucht, oder die Schule,


(Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


in der seit 40 Jahren, Herr Krischer, die sanitären Anla-
gen nicht mehr modernisiert worden sind. Solche Bei-
spiele könnten wir alle zuhauf vortragen. Sie basieren
auf dem Problem, dass in Deutschland die Investitionen
nicht ausreichend sind.

Dieses Problem wurde nun zum Glück von unserem
Minister Sigmar Gabriel aufgegriffen, der erstmals Fach-
leute aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesell-
schaft an einen Tisch geholt hat und mit der Experten-
kommission ergebnisoffen hat arbeiten können. Er hat,
wie ich finde, ein gutes Ergebnis vorgelegt. Wichtig war
dabei natürlich die dezidierte Bestandsaufnahme der
Probleme. Natürlich – darin sind wir uns einig, und das
merkt man auch an der Debatte – kann man über den
Weg diskutieren und unterschiedlicher Auffassung sein;
aber im Ziel waren sich alle Mitglieder der Kommission
einig,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja schon einmal gut!)


nämlich: Wir brauchen mehr Investitionen in Deutsch-
land, meine Damen und Herren. Und in diesem Ziel soll-
ten wir uns im Deutschen Bundestag einig sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden wir auch! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden alle!)


An die Adresse der Fraktion Die Linke: Die Ergeb-
nisse gehen weit über das hinaus, was Sie sich heute hier
in einzelnen Punkten herausgepickt haben. Ich möchte
Ihnen einige Beispiele aus dem Bericht der Experten-
kommission nennen. Sie spricht zum Beispiel von der
digitalen Infrastruktur. Im Bericht heißt es dazu:

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, muss Deutsch-
land in seine digitale Infrastruktur investieren. …
Es müssen vorrangig Investitionen auf der Ebene
der Breitbandnetze getätigt werden, da deren Ver-
fügbarkeit und Leistungsfähigkeit in Deutschland
im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich
ist und sich diese digitale Lücke zu Wettbewerbern
vergrößert.

Deshalb brauchen wir hier Investitionen.

Aber wir brauchen auch Lockerungen, zum Beispiel
wenn es darum geht, freies WLAN einzuführen. Daher
freue ich mich natürlich darüber, dass Herr Söder aus
Bayern twittert, dass es für freies WLAN ein Ende der
Störerhaftung braucht. Wir setzen uns in Berlin dafür
ein. Danke schön, Herr Söder. Bitte überzeugen Sie Ihre
Kollegen im BMI davon, damit wir endlich diese Störer-
haftung abschaffen können. Wir als SPD unterstützen
Sie gerne dabei, und das sollten wir hier herausstellen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir übrigens auch!)


Die Expertenkommission hat zum Beispiel auch – das
möchte ich hier betonen – weitere 15 Milliarden Euro für
die Kommunen gefordert. Mit dieser Forderung fühlen
wir uns als SPD-Fraktion bestätigt. Denn wir haben die-
sen Weg mit der Bundesregierung schon eingeschlagen;
Staatssekretär Beckmeyer ist in seinen Ausführungen
darauf eingegangen. Wir haben beschlossen, dass in den
Jahren 2016 bis 2018 10 Milliarden Euro für die öffentli-
che Infrastruktur bereitgestellt werden. Wir haben eben-
falls beschlossen, dass wir den Städten und Gemeinden
weitere 5 Milliarden Euro geben werden, mit denen sie
Investitionen anstoßen können. All das, meine Damen
und Herren – das richtet sich auch an die Kolleginnen
und Kollegen der Linken –, wird schon jetzt vor allem
über den Bundeshaushalt finanziert. Hier wird nicht ein
einziger Euro an privaten Mitteln verwendet. Der Bun-





Marcus Held


(A) (C)



(D)(B)

deshaushalt zeigt einfach, wie sich die Realität darstellt.
Man sollte hier nicht einfach das Gegenteil behaupten.

Wir fühlen uns als SPD auch deshalb durch diesen
Bericht bestätigt, weil wir uns bei den eben angespro-
chenen 5 Milliarden Euro für eine Zweckbindung ent-
schieden haben. Diese Milliarden sollen nämlich für die
Kinderbetreuung, für Soziales und vor allem für Bildung
ausgegeben werden. Im Expertenbericht heißt es hierzu:

Neben einem bedarfsgerechten Angebot an Kinder-
betreuungsplätzen müssen die Investitionen in den
Ausbau der Ganztagsschulen deutlich forciert wer-
den, was bis zum Jahr 2020 erreicht werden sollte.

Ich als Rheinland-Pfälzer bin natürlich doppelt stolz,
meine Damen und Herren, denn unsere Landesregierung
verfolgt seit Jahren diese Linie. In Rheinland-Pfalz wird
investiert.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Die erfolgreiche SPD-geführte Landesregierung unter
Malu Dreyer hat beispielsweise dafür gesorgt – ich weiß,
dass Sie von der CDU/CSU dies nicht gerne hören –,
dass in Rheinland-Pfalz als erstem Bundesland die Kin-
dergartenbeiträge erlassen werden. Diesen Weg müssen
wir im Bereich der Bildung weiterhin gehen, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Wer zahlt’s? – Florian Hahn [CDU/ CSU]: Bayern zahlt’s!)


– Bayern hat bis 1989 so viel Unterstützung bei Investi-
tionen bekommen; da würde ich mich wirklich mal zu-
rückhalten. Bayern tut immer so, als ob es ganz
Deutschland finanziere. Bayern zahlt nicht alleine. Alle
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zahlen, nicht
nur die Bayern. Das können wir hier einmal am Rande
festhalten.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiterer Punkt ist mir wichtig, nämlich die Inves-
titionsverpflichtung in Höhe der Abschreibung für Kom-
munen. Hierzu heißt es in dem Bericht:

Prüfung der Einrichtung einer haushaltsrechtlichen
Verpflichtung zu öffentlichen Investitionen in einer
Höhe, die zumindest die Abschreibungen auf das
Vermögen der öffentlichen Hand kompensiert.

Diese Forderung kann ich als langjähriger Kommunal-
politiker nur unterstützen. Denn nur so schaffen wir es,
dass die Kommunen ihr Eigenkapital nicht infolge der
Einführung der Doppik innerhalb weniger Jahre aufzeh-
ren.

Im Ergebnis bietet der Bericht also viele gute An-
sätze. Wir sollten diesen nicht – wie heute Nachmittag
teilweise leider geschehen – zerreden, sondern anpa-
cken, um Deutschland weiterhin zukunftsfähig zu ma-
chen. Nach den Reformen, die für den jetzigen wirt-
schaftlichen Erfolg entscheidend waren, brauchen wir
wieder weitblickende Entscheidungen für Deutschlands
Zukunft. Wir als SPD unterstützen diese gerne.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810011700

Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist

der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Andreas Lenz (CSU):
Rede ID: ID1810011800

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht
der Linken wieder einmal um vermeintliche Heuschre-
cken, um das vermeintliche Bedienen von Interessen der
Privatwirtschaft, um die vermeintlichen Machenschaften
von Banken und Versicherungen,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die es gar nicht gibt bei uns, gell? Wir haben auch keine Finanzkrise gehabt!)


kurz: um Mythen, Verdummung und Verschwörungs-
theorien. Uns, den Koalitionsfraktionen, geht es aber um
mehr Investitionen in Deutschland. Uns geht es um eine
zukunftsfähige Entwicklung hinsichtlich der Wettbe-
werbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Ein maßgeblicher Faktor für unsere Wettbewerbsfähig-
keit ist unsere im internationalen Vergleich leistungsfä-
hige Infrastruktur.

Der Wettbewerbsbericht des Weltwirtschaftsforums
lobt ausdrücklich die Innovationskultur in Deutschland,
die Stärken im Bereich der Forschung und Entwicklung
und eben die Infrastruktur. Deutschland steht hinsicht-
lich des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigungs-
situation wirtschaftlich gut da.

Aber wir wissen: Die größte Gefahr für die Zukunft
ist der Erfolg der Gegenwart. Laut KfW-Kommunalpa-
nel gibt es in Deutschland einen Investitionsstau von
rund 119 Milliarden Euro; die Größe der Lücke variiert
je nach Studie. Es gibt auch andere Sichtweisen. Bei-
spielsweise sagt der Sachverständigenrat, dass es kein
pathologisches Defizit hinsichtlich der Investitionen
gibt. Wir als Koalitionsfraktionen haben uns jedoch dazu
verpflichtet, mehr in die öffentlichen Infrastrukturen zu
investieren. In den Jahren 2014 bis 2017 stellt der Bund
insgesamt 5 Milliarden Euro zusätzlich für den Erhalt
und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zur Verfü-
gung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Leute klatschen!)


– Das ist ja auch schon bekannt.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die, die es glauben!)


Das Investitionsprogramm der Bundesregierung für
den Zeitraum 2016 bis 2018 umfasst weitere zusätzliche
Mittel für öffentliche Investitionen in Höhe von 10 Mil-
liarden Euro. Hiervon gehen 4,35 Milliarden Euro in den
Ausbau der Infrastruktur, in die Bundesfernstraßen und
Schienenwege. Ein Schwerpunkt wird dabei der Breit-





Dr. Andreas Lenz


(A) (C)



(D)(B)

bandausbau sein. Wir investieren also nicht nur in die
von den Grünen zu Recht geforderten Fahrradautobah-
nen – die sind wirklich nicht schlecht –, sondern wir in-
vestieren in die gesamte Zukunft unseres Landes. Wir
entlasten außerdem die Kommunen, die für über die
Hälfte der Investitionen verantwortlich sind.

Aber es stimmt: Wir brauchen noch mehr Investitio-
nen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Nun ist es so, dass von den jährlichen Investitionen in
Deutschland, die rund 460 Milliarden Euro ausmachen,
nur rund 9 Prozent auf den öffentlichen Sektor entfallen.
Wir brauchen also vor allem Rahmenbedingungen für
mehr private Investitionen und für mehr private Innova-
tionen. Genau dafür wurde vom Wirtschaftsminister die
Expertenkommission zur Stärkung von Investitionen in
Deutschland eingesetzt. Die Vorschläge der sogenannten
Fratzscher-Kommission liegen jetzt vor. Diese waren
schon innerhalb der Kommission nicht ganz unstrittig,
und ich wage zu prophezeien: Sie werden auch hier im
Bundestag nicht unstrittig sein. Sie sehen daran auch,
dass letztendlich die Politik entscheidet, welche Vor-
schläge umgesetzt werden, und eben nicht die Interes-
senvertreter.

Im Übrigen gelten bei öffentlich-privaten Partner-
schaften hinsichtlich der Finanzierbarkeit und der Haus-
haltsverträglichkeit die gleichen Anforderungen wie bei
konventionellen Projekten. Dabei kommt es eben nicht
nur auf die Höhe des jeweiligen Finanzierungszinssatzes
an. Für eine Gesamtbeurteilung müssen die gesamten
Preis- und Leistungskonditionen berücksichtigt werden.
Hierzu gehören die Planungsvoraussetzungen, der Bau,
das Gewusst-wie und der Betrieb über den gesamten Le-
benszyklus eines Projekts. Hier können private Anbieter
sehr wohl die für den Steuerzahler günstigere Alterna-
tive sein, wie man gerade an Großprojekten hier in Ber-
lin sehen kann.

Natürlich müssen private Investoren auch Risiken
übernehmen. Rentabilität und Risiko hängen zusammen.
Dabei würden keine Autobahnen verkauft werden – das
ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht der Punkt,
Herr Krischer –,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seite 42! Lesen Sie nach!)


aber die Prüfung einer öffentlichen Infrastrukturgesell-
schaft macht auf jeden Fall Sinn, und wir werden diese
Prüfung auch durchführen. Wir betrachten das, im Ge-
gensatz zu Ihnen, überhaupt nicht ideologisch. Es geht
schlicht um eine Kosten-Nutzen-Abwägung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen auch eine Kosten-NutzenAnalyse!)


Wir werden über alle Vorschläge diskutieren, auch mit
Ihnen – es hilft ja nix –, und ich rate Ihnen, dies ohne
Schaum vorm Mund zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit uns diskutiert man immer gut!)


Sie glauben, dass der Staat alles besser machen kann.
Wir glauben nicht, dass der Staat der bessere Unterneh-
mer ist. Wir trauen den Menschen etwas zu, wir trauen
den privaten Investoren etwas zu, wir trauen den Men-
schen insgesamt etwas zu.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir trauen Ihnen alles zu! Das ist das Problem!)


Wir gestalten den gesetzlichen Rahmen so aus, dass auch
die privaten Investitionen gut für unser Land sein wer-
den.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Marcus Held [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810011900

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lenz. – Die Aktuelle

Stunde ist damit beendet.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-
auftragten

Jahresbericht 2014 (56. Bericht)


Drucksache 18/3750
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch oder anderweitige Meinungen.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren Abgeordnete! Das Jahr 2014 war in mehrfacher Hin-
sicht ein Jahr der Wahrheit für die Bundeswehr, ein Jahr,
in dem bereits seit langem schwelende Probleme plötz-
lich aufloderten und latenter Bedarf akut wurde. Wir
mussten alterungsbedingte Ausfälle bei der Bewaffnung
und beim Material feststellen, und das in einem noch
nicht gekannten Ausmaß. Und es wurde deutlich, dass
der personelle, materielle und organisatorische Zuschnitt
der Streitkräfte in einigen Verwendungsreihen und -be-
reichen nicht den gewachsenen Anforderungen gerecht
wird. Zudem zeigte sich, dass der Verfall der vielerorts





Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

seit Jahren vernachlässigten baulichen Infrastruktur in
vielen Liegenschaften zu einem nicht mehr hinnehmba-
ren Zustand geführt hat. Dies alles hat den Dienst der
Soldatinnen und Soldaten mehr denn je belastet und in
einigen Bereichen auch die Einsatzfähigkeit der Streit-
kräfte beeinträchtigt.

In den vergangenen Jahren waren diese Probleme
nicht so deutlich hervorgetreten, weil die Soldatinnen
und Soldaten sich zunächst selbst zu helfen suchten. Sol-
daten sind eben erfindungsreich und engagiert, wenn es
darum geht, den Dienstbetrieb, wie es so schön heißt,
mit Bordmitteln aufrechtzuerhalten. Das ist auf kurze
Sicht gut und richtig, führt auf lange Sicht aber dazu
– das zeigt die heutige Situation –, dass nur Symptome
und nicht die eigentlichen Ursachen der Probleme be-
handelt werden. Gepaart mit gelegentlichen Beschöni-
gungen und Relativierungen der für Abhilfe eigentlich
zuständigen Dienststellen wird so eine rasche Erkennung
und Behebung von Problemen behindert. Im Ergebnis
verschärfen sich dann die Missstände immer weiter, bis
die Probleme kaum mehr beherrschbar sind.

Ihre Forderung, Frau Bundesministerin von der
Leyen, nach einer Kultur der Wahrhaftigkeit in der Bun-
deswehr und auch im Ministerium kann ich deshalb
wirklich nur sehr nachdrücklich unterstreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Tatsächlich ist festzustellen: Die Bundeswehr hat sich in
dieser Hinsicht auf den Weg gemacht. Das gilt auch für
die Darlegung der strukturellen Finanzierungslücken im
Bundeshaushalt. Diese Offenheit zahlt sich aus. Die am
18. März 2015 vom Kabinett beschlossenen Eckwerte
zum Bundeshaushalt 2016 und die sogenannte mittelfris-
tige Finanzplanung sind mit einer deutlichen Steigerung
der Mittel im Verteidigungshaushalt verbunden. Damit
ist zumindest der finanzielle Grundstein gelegt, um ei-
nige der Probleme angehen zu können; aber das ist eben
nur der Grundstein und noch lange nicht das ganze Bau-
werk. Auch deshalb vertraue ich nicht zuletzt auf Sie,
meine Damen und Herren Abgeordnete, auf die Einsicht,
dass wir hier etwas tun müssen. Aus vielen Äußerungen,
die ich in der Vergangenheit gehört habe, schließe ich,
dass das von vielen von Ihnen so gesehen wird.

Lassen Sie mich noch kurz auf die Personalsituation
in den Streitkräften eingehen. Die dienstliche Beanspru-
chung ist ungleich verteilt. Soldatinnen und Soldaten in
Spezialverwendungen, teilweise aber auch ganzen Trup-
pengattungen sind in unzumutbarem Maße belastet.
Zahlreiche Beispiele dafür sind im Jahresbericht aufge-
listet. Ich kann sie hier nicht alle im Detail ansprechen.
Es ist zu begrüßen, dass Sie, Frau Bundesministerin, das
Prinzip „Breite vor Tiefe“ behutsam korrigieren und die
einsatzbedingte Unwucht im System ausbalancieren, um
die zunehmende Überlastung in diesen Bereichen zu ver-
mindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Mit Freude stelle ich fest, dass bei aller berechtigten
Schwerpunktsetzung bei den inzwischen offenkundig
gewordenen Problemen in den Bereichen Ausrüstung,
Ausstattung und Bewaffnung, aber auch bauliche Infra-
struktur die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung
der Vereinbarkeit von Familie und Dienst vorankom-
men, wenngleich wir auch in diesen Bereichen erst ei-
nige Schritte auf einem noch sehr weiten Weg gegangen
sind. Es zeigen sich aber auch hier erste Erfolge, die
auch statistisch belegbar sind: Die Eingabequote beim
Wehrbeauftragten ist wieder rückläufig. Zum Stichtag
31. März ging die Quote im Jahresvergleich um rund
10 Prozent zurück, wenngleich sie immer noch auf ei-
nem recht hohen Niveau ist. Es gibt also noch einiges zu
tun. Aber immerhin zeigt sich eine Trendumkehr.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe si-
cherlich noch viele Punkte aus meinem Jahresbericht an-
zusprechen – ich lege Ihnen ans Herz, diese Punkte im
schriftlichen Jahresbericht nachzulesen –, doch zu allem
reicht meine Redezeit hier nicht aus. Ich muss mich da-
her auf die Punkte, die ich bisher angesprochen habe, be-
schränken.

Erlauben Sie mir trotzdem noch einige Anmerkungen.
In wenigen Wochen endet nach fünf erfüllten Jahren
meine Amtszeit als Ihr Wehrbeauftragter. Es waren
Jahre, die teilweise von erschütternden Ereignissen, aber
auch von Beispielen beglückender Kameradschaft, Hilfe
und Unterstützung geprägt waren. Ein Rückblick über
den aktuellen Berichtszeitraum hinaus zeigt, dass sich
auch vieles zum Besseren gewandelt hat, nicht erst jetzt
in den letzten Wochen, Monaten und Jahren, sondern
eben auch über die letzten fünf Jahre hinweg.

Allein die Entwicklung der Zahlen von Gefallenen
und Verwundeten zeigt, welche Fortschritte es gegeben
hat. Natürlich ist das nicht nur auf die bessere Ausstat-
tung und Ausrüstung zurückzuführen; auch die immer
weniger häufige robuste Teilnahme unserer deutschen
Kräfte an Gefechtshandlungen hat etwas damit zu tun.
Aber es hat eben auch mit diesen Verbesserungen zu tun.
Daher bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie diese mit an-
geschoben und mit angestoßen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die notwendige Priorisierung des Einsatzbedarfs ging
allerdings zulasten des Unterhalts und der Regeneration
derjenigen im Grundbetrieb. Es ist gut, dass der Fokus
nun auch auf eine rasche Verbesserung der Situation in
der Heimat gelegt wird. Ohne jetzt den Einfluss des
Wehrbeauftragten auf diese Entwicklung überbewerten
zu wollen: Ein wenig haben mein Amt und ich selbst
wohl schon dazu beigetragen. Daher möchte ich allen,
die mich dabei unterstützt haben, ein herzliches Danke-
schön sagen.

Ich danke zuallererst Ihnen, meine Damen und Herren
Abgeordnete des Deutschen Bundestages, meinen Auf-
traggebern, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und
für all das, was wir zum Teil gemeinsam im Sinne unse-
rer Soldatinnen und Soldaten erreichen konnten.

In gleicher Weise danke ich natürlich auch jenen, die
mir ihr Vertrauen schenkten und ihre Sorgen und Nöte
anvertrauten: unseren Soldatinnen, unseren Soldaten und





Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

ihren Angehörigen. Es war großartig, zu sehen, was Sie
alle für unser Land leisten und was Sie alles an Opfern
und Belastungen auf sich genommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ebenso danke ich den drei Bundesministern der Ver-
teidigung, die ich während meiner Amtszeit erleben
konnte; Dr. Jung habe ich auch erlebt, aber nicht wäh-
rend meiner Amtszeit. Ganz besonders danke ich Ihnen,
Frau Dr. von der Leyen. Sie haben stets für alle Themen,
mit denen ich auf Sie zukam, ein offenes Ohr gehabt und
sind Anregungen stets nachgegangen, auch wenn Sie na-
turgemäß nicht alles Wünschenswerte erfüllen konnten.
Es ist eben für einen Wehrbeauftragten einfacher, Forde-
rungen zu erheben, als für eine Verteidigungsministerin,
sie auch zu erfüllen. Das weiß ich sehr wohl. Ich weiß
auch zu schätzen, mit welcher Kraft Sie sich stets darum
bemüht und vieles auch schon erreicht haben. Ich bin si-
cher, Sie werden auf dem Weg weitergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Dank geht natürlich auch an die übrige politi-
sche und militärische Führung der Bundeswehr sowie an
alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundesministe-
rium der Verteidigung, in den Kommandobehörden, in
den Ämtern und in der Truppe, die meine Anfragen zu
den Eingaben und sonstigen Themen bearbeitet haben
und mir bei meinen Truppenbesuchen hilfreich zur Seite
standen.

Ganz besonders danken möchte ich jedoch – das wer-
den Sie verstehen – den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern meines Amtes, ohne die ich meine Arbeit so nicht
hätte bewältigen können.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich gebe zu, ich habe es genossen, in den letzten Mona-
ten immer mehr Lob gehört zu haben. Aber der größte
Teil des Lobes, das ich gehört habe, gebührt im Grunde
genommen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ohne
sie wäre das alles gar nicht zu bewältigen und zu errei-
chen gewesen. Sie haben mit großem Sachverstand, aber
auch mit der notwendigen Empathie geholfen, den mir
von der Verfassung vorgegebenen Auftrag zu erfüllen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch noch einige
Anmerkungen zur Situation jener, die unseren Soldatin-
nen und Soldaten in Afghanistan als Ortskräfte kamerad-
schaftlich zur Seite standen und denen auch der ihnen
gebührende Dank zustehen würde, den sie aber so nicht
erhalten oder der ihnen nur widerwillig zuteilwird. Es ist
und bleibt für mich unverständlich, wie wenig zuge-
wandt unsere deutschen Behörden denen unter ihnen be-
gegnen, die sich gefährdet fühlen und zu uns kommen
wollen. Wir sollten diese treuen Helfer doch zumindest
nicht schlechter behandeln als jene, die bei uns um Auf-
nahme ersuchen,


(Beifall im ganzen Hause)


weil sie sich in Syrien, Libyen oder anderswo gefährdet
fühlen. Auch unseren afghanischen Helfern gegenüber
haben wir eine moralische Fürsorgepflicht, auch wenn
sie nicht im Gesetz steht. Ich habe nicht das Gefühl, dass
wir dieser Pflicht angemessen nachkommen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Demnächst endet, wie gesagt, meine Amtszeit. Mei-
nem Nachfolger, Dr. Hans-Peter Bartels, möchte ich mit
auf den Weg geben, dass eine großartige Aufgabe auf ihn
wartet. Aber sie bringt natürlich auch mancherlei Belas-
tungen mit sich. Ich wünsche dir, lieber Hans-Peter, dass
die positiven Erfahrungen überwiegen werden. Ich wün-
sche dir Erfolg und will dich, wenn ich das kann, mit Rat
und Tat gerne weiterhin unterstützen. Ich sage dir zu,
dass dich mein Rat jedenfalls nicht ungebeten und auf
keinen Fall über Interviews oder Verlautbarungen errei-
chen soll.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012000

Bevor ich der Ministerin als nächster Rednerin das

Wort erteile, möchte ich dem Wehrbeauftragten und sei-
nen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zunächst für die
Vorlage des Jahresberichts 2014 danken. Lieber Herr
Königshaus, dies ist, wie Sie gesagt haben, zugleich der
letzte Jahresbericht, den Sie vorlegen. Deshalb möchte
ich Ihnen im Namen der Kolleginnen und Kollegen des
Deutschen Bundestages für Ihre Arbeit in den zurücklie-
genden fünf Jahren von Herzen danken.


(Beifall im ganzen Hause)


Ihr Amt wurde laut Grundgesetz als Hilfsorgan des
Bundestages bei der parlamentarischen Kontrolle der
Streitkräfte geschaffen. In Ihrer Amtszeit haben Sie als
Wehrbeauftragter im Auftrag des Deutschen Bundes-
tages einen wesentlichen Beitrag zur parlamentarischen
Kontrolle der Bundeswehr als Parlamentsheer bzw. -armee
geleistet. Sie haben sich mit allen Aspekten der Bundes-
wehr befasst. Missständen sind Sie stets hartnäckig und
entschlossen auf den Grund gegangen. Ein besonderes
Anliegen war Ihnen die Erhöhung der Sicherheit sowie
die Verbesserung der Ausrüstung und der Ausbildung
der Soldatinnen und Soldaten. Sie waren immer ein An-
sprechpartner für die Mitglieder des Deutschen Bundes-
tages, insbesondere natürlich für die Kolleginnen und
Kollegen des Verteidigungsausschusses, genauso aber
auch für die Soldatinnen und Soldaten. Ich möchte Ihnen
deshalb im Namen der Soldatinnen und Soldaten, aber
auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen für Ihre
Arbeit als Wehrbeauftragter danken und wünsche Ihnen
für den weiteren Lebensweg alles Gute und Gottes Se-
gen.


(Beifall im ganzen Hause – Abgeordnete aller Fraktionen bringen gegenüber dem Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus ihren Dank zum Ausdruck)


Jetzt erteile ich das Wort der Bundesministerin der
Verteidigung, Frau Dr. Ursula von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Königshaus, Sie haben jetzt
zum fünften und damit letzten Mal als Wehrbeauftragter
den Deutschen Bundestag unterrichtet. Das ist immer
der Moment, in dem dem Parlament und der Öffentlich-
keit bewusst wird, wie wichtig der Wehrbeauftragte ist;
denn dieser Bericht ist quasi ein Protokoll über all das,
was Sie im letzten Jahr von den Soldatinnen und Solda-
ten an Nöten, an Sorgen, an Beschwerden erfahren ha-
ben, aber eben auch an Vorschlägen.

Allein im Jahr 2014 haben Sie, Herr Königshaus,
rund 4 400 Eingaben bearbeitet. Wenn man das einmal
extrapoliert, dann sind das in Ihrer Amtszeit ungefähr
24 000 Eingaben gewesen, quer durch alle Bereiche der
Bundeswehr. Das sind beeindruckende Zahlen; aber
diese Zahlen sind eher trocken. Viel beeindruckender
sind das Herzblut, die Hartnäckigkeit, die Empathie,
aber vor allem auch der Sachverstand, mit dem Sie diese
Eingaben bearbeitet haben. Dafür, lieber Herr
Königshaus, danke ich Ihnen auch im Namen der Solda-
tinnen und Soldaten und dieses Parlamentes.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Aufgabe des Wehrbeauftragten ist es, aus den
Tausenden von Eingaben die Themen herauszudestillie-
ren, die die Angehörigen der Bundeswehr bewegen, und
ihnen damit dann auch eine Stimme zu geben. Das haben
Sie getan. Das hilft der Bundeswehr, das hilft dem Parla-
ment, das hilft der Regierung, die Themen politisch rich-
tig zu setzen. Das ist Ihnen, lieber Herr Königshaus,
zweifelsohne in hervorragender Weise gelungen. Wenn
man Ihre Berichte durchblättert, sieht man das an den
Themen: Neuausrichtung, Ausrüstung, Auslandsein-
sätze, Vereinbarkeit von Dienst und Familie, Personal –
um nur ganz wenige zu nennen.

Ihnen, lieber Herr Königshaus, lag immer sehr am
Herzen, dass die Ausrüstung stimmt – zu Recht. Dahin-
ter steht der gesamte Rüstungsprozess. Dieser Rüstungs-
prozess ist natürlich nicht das oberste Anliegen der Sol-
datinnen und Soldaten – die wollen wissen, was hinten
rauskommt, was sie zum Schluss in den Händen halten.
Aber der vorgelagerte Beschaffungsprozess ist wichtig
für eine passgenaue Ausrüstung. Deshalb sind Sie auch
einer der Treiber gewesen, der uns zum Schluss geholfen
hat, den richtigen Weg einzuschlagen: Agenda Rüstung,
Rüstungsgutachten, die neuen Projektstatusberichte, das
Rüstungsboard. Das sind all die Dinge, die wir miteinan-
der diskutieren.

Diese sind jedoch kein Selbstzweck. Wir reden ja im-
mer auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, immer
enorm theorielastig; aber zu guter Letzt sind es diese
Prozesse, die darüber entscheiden, wie gut ausgerüstet
die Soldatinnen und Soldaten für uns in den Einsatz ge-
hen. Das ist es, was wir uns immer wieder vor Augen
führen müssen, wenn es bei einzelnen Rüstungsvorha-
ben Frust gibt, weil es langsam vorangeht, widersprüch-
lich, behäbig oder theorielastig ist. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, unter dem Strich kann das über Leben und
Tod entscheiden. Deshalb lohnt sich jede Hartnäckigkeit
und jeder lange Atem gerade bei diesen Themen.

Ausrüstung, meine Damen und Herren, hat einen qua-
litativen, aber auch einen quantitativen Aspekt. Deshalb
haben Sie, Herr Königshaus, zu Recht immer wieder ge-
mahnt, die Truppe ausreichend mit Gerät auszustatten.
Wir haben das aufgegriffen und betrachten noch einmal
die Obergrenzen der Hauptwaffensysteme. Erste Ent-
scheidungen sind gefallen: Wir werden das dynamische
Verfügbarkeitsmanagement gar nicht erst einführen, und
wir haben die Obergrenze beim Leopard 2 angehoben.

Sie, Herr Königshaus, haben auch immer zu Recht
betont, dass das modernste Material nichts nützt, wenn
man das Personal dafür nicht hat. Ich erinnere mich noch
sehr gut, wie Sie mir zu Beginn meiner Amtszeit den
Rücken gestärkt haben, wie Sie aber auch gemahnt und
mich auf die Schwachstellen gerade beim Thema Perso-
nal, gerade beim Thema Attraktivität hingewiesen
haben. Sie haben mich gemahnt, hartnäckig zu bleiben.
Sie haben mir dadurch am Anfang auch Sicherheit gege-
ben, wenn ich so manches Mal verunsichert war, ob das
der richtige Pfad ist. Deshalb möchte ich Ihnen vor dem
Hohen Hause von ganzem Herzen dafür danken. Vor al-
lem weiß ich, wie dankbar die Truppe Ihnen dafür ist,
Herr Königshaus.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Ihrer unnachahmlichen Art haben Sie auch noch
ein Thema aufgegriffen, was vielleicht eines der – in
Anführungszeichen – letzten Themen Ihrer Amtszeit ist
– dies gibt aber auch uns den Schwung, es mit in die
Zukunft hineinzutragen – das Thema der Ortskräfte in
Afghanistan. Meine Damen und Herren, ich habe mir die
Zahlen noch einmal angeschaut; wir sind da einfach zu
langsam. Mir sagt auch mein Gefühl: Wir haben diesen
Männern und Frauen in Afghanistan vertraut, wir haben
ihnen indirekt das Leben der Soldatinnen und Soldaten
anvertraut. Wenn sie nicht aufrichtig gewesen wären,
hätte das Soldatenleben gekostet. Deshalb bin ich der
festen Überzeugung, dass es eine unserer vornehmen
Aufgaben ist, noch mehr Tempo in diesen Prozess hin-
einzubringen und großzügiger zu werden. Wir haben
diesen Menschen vertraut. Wir sollten ihnen auch wei-
terhin vertrauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Da ich beim Thema Vertrauen bin, erlauben Sie mir,
lieber Kollege Königshaus, zu sagen: Sie haben sich das
Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten erworben, und
Sie haben den Begriff Fürsorge weiß Gott mit Leben er-
füllt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012100

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die Fraktion Die

Linke spricht jetzt die Kollegin Christine Buchholz.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810012200

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Königshaus!

Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr hat Ministe-
rin von der Leyen sehr viel Wind um die Vereinbarkeit
von Dienst und Familie gemacht. Heute ist das Thema
aus den Schlagzeilen heraus, und wenn man den Jahres-
bericht des Wehrbeauftragten liest, dann weiß man auch,
warum. Die Bundeswehr war, ist und bleibt eines der fa-
milienunfreundlichsten Unternehmen in diesem Land.

Zu den konkreten Problemen: Im Bericht des Wehrbe-
auftragten ist zu lesen: Eine Soldatin beantragt Eltern-
zeit, doch weil der Antrag nicht bearbeitet wird, kann sie
kein Elterngeld beziehen. – Das ist nur ein kleines Bei-
spiel für den enormen Rückstau von Anträgen und dafür,
wie er sich auswirkt. Weil zahlreiche Posten in der Ver-
waltung nicht besetzt sind, betragen die Bearbeitungs-
zeiten mitunter sechs Monate. Selbstverständliche An-
sprüche werden nicht erfüllt. Das kann nicht sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines der größten Probleme für die Familien ist die
erzwungene Pendelei aufgrund von Versetzungen. Die
Attraktivitätsoffensive hat an der mangelnden Planbar-
keit dieser Versetzungen nichts geändert. Hinzu kommt,
dass selbst bei der finanziellen Abfederung wichtiger
Forderungen nichts getan wurde. So weist der Bericht zu
Recht darauf hin, dass es nach Versetzungen keine Wahl-
freiheit zwischen der Inanspruchnahme von Trennungs-
geld und Umzugskostenvergütung gibt, wie es in vielen
zivilen Bereichen selbstverständlich ist. Die Konsequenz
ist bitter: Fast die Hälfte der befragten Soldatinnen und
Soldaten einer vom Wehrbeauftragten angeregten Studie
hat angegeben, dass dienstliche Erfordernisse bereits
mindestens einmal ihre Ehe oder Partnerschaft zerstört
haben. Die Bundeswehr ist und bleibt für viele ein Fami-
lienkiller.

In dem Attraktivitätsprogramm geht es vor allen Din-
gen darum, mehr Bewerber anzulocken. Doch was mit
den Soldaten passiert, wenn der Dienst erst einmal läuft
oder vorbei ist, interessiert nicht weiter.

Nehmen wir die Radarstrahlenopfer. Dabei handelt es
sich um ehemalige Soldaten, die durch den Dienst für
die NVA oder die Bundeswehr erkrankt sind. Viele von
ihnen wurden in zermürbende Prozesse gezwängt, um zu
ihrem Recht auf Entschädigungen und Ausgleichszah-
lungen zu kommen. Wir lesen hier von einem Wartungs-
techniker der Marineflieger, der über 20 Jahre gegen die
Bundeswehr prozessierte, bis er Recht bekam. Andere
starben, bevor ihre Prozesse zu Ende waren.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Es wird versucht, das vernünftig zu lösen!)


50 Prozesse sind noch anhängig, und ich sage: Beenden
Sie endlich dieses unwürdige Gezerre!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Zahl derjenigen, die aus Afghanistan traumati-
siert zurückgekommen sind, steigt weiter, und dies, ob-
gleich die Zahl der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan
deutlich reduziert wurde. Warum ist das so? Soldatinnen
und Soldaten waren in Afghanistan durchschnittlich
dreimal im Einsatz. Viele haben sich immer wieder ge-
meldet und psychische Probleme immer wieder verdrän-
gen können. Nun kommen die Folgen dieser Traumati-
sierung heftig zum Ausbruch. Aufgefangen werden die
Betroffenen jedoch nicht ausreichend. Der Bericht
spricht von einer außerordentlich geringen Behandlungs-
quote. Jene, die behandelt werden wollen, müssen
durchschnittlich zwei Monate warten, und das, meine
Damen und Herren, ist unwürdig.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau von der Leyen, Sie sagten zum Auftakt des
Weißbuchprozesses: Unsere Interessen haben keine un-
verrückbare Grenze, weder geografisch noch qualita-
tiv. – Damit reden Sie der Entgrenzung militärischer Ge-
walt das Wort. Worüber Sie aber nicht sprechen, sind
zum einen die zukünftigen Opfer in den Einsatzgebieten
und zum anderen die Ortskräfte. Sie sagen hier, dass an
dieser Stelle endlich etwas getan werden muss. Dann tun
Sie es auch!


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Darüber haben wir doch gesprochen!)


Worüber Sie auch nicht sprechen, ist, dass diese Poli-
tik von den eingesetzten Soldatinnen und Soldaten und
ihren Familien ausgebadet wird. Frau von der Leyen, Sie
fordern Auslandeinsätze ohne Grenzen und Tabus. Da-
mit tragen Sie auch die Verantwortung für die psychisch
kranken Heimkehrer von morgen.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wann hat sie das getan?)


Dies ist die letzte Debatte mit Herrn Königshaus als
Wehrbeauftragtem. Herr Königshaus, Sie und Ihre Mit-
arbeiter haben oft den Finger an der richtigen Stelle in
die Wunde gelegt, gerade wenn es um soziale Belange
der Soldatinnen und Soldaten ging. An einer Stelle wi-
dersprechen wir als Linke Ihnen allerdings heftig. In Ih-
rem Bericht fordern Sie die Erhöhung des Verteidigungs-
haushaltes – das haben Sie in Ihrer Rede eben auch getan
– und plädieren Sie für die Aufrüstung mit Großgerät –
bis hin zur Forderung nach Kampfdrohnen.

Die Linke ist überzeugt: Sicherheit wird so nicht ge-
schaffen. Im Gegenteil: Wer Sicherheit für die Soldatin-
nen und Soldaten und ihre Familien will, kann einiges
dafür tun; vor allem sollte er sie nicht in immer mehr
Auslandseinsätze schicken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gabi Weber [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidtrud Henn für

die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heidtrud Henn (SPD):
Rede ID: ID1810012400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr

Wehrbeauftragter! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe





Heidtrud Henn


(A) (C)



(D)(B)

Kolleginnen und Kollegen! Wer im Moment über die
Bundeswehr redet und schreibt, spricht und schreibt über
das G36. Mal mehr, mal weniger differenziert werden
technische Daten verglichen und grafisch aufbereitet. Es
wird gefragt, wer wann wo von welchem Problem ge-
wusst hat, und dabei wird auch Parteipolitik betrieben.
Ja, es ist richtig und wichtig, zu klären, wie Vertrauen
wiederhergestellt werden kann, ob ein neues Sturmge-
wehr beschafft werden soll und wie Fehler zukünftig
vermieden werden können.

Am Anfang von Verbesserungen steht immer die
Wahrheit, und es ist auch dem Wehrbeauftragten und sei-
ner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass nun die Ergeb-
nisse von Untersuchungen zum G36 auf dem Tisch lie-
gen. Hier zeigt sich, dass es eben nicht immer schön ist,
recht zu haben. Der Wehrbeauftragte hatte mit seinen
Befürchtungen aber recht, und es ist gut, dass die Be-
richte nun ausgewertet werden, um Lösungen zu finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in den letz-
ten Tagen oft daran gedacht, dass es leichter ist, über Ab-
straktes, Zahlen, Statistiken, Treffsicherheit und Streu-
kreisausweitung zu sprechen als über den Menschen, der
im Einsatz ist und der Funktionsfähigkeit seines Geweh-
res vertrauen muss.

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Herr
Königshaus, haben Sie Dank für Ihren Bericht, der uns
dabei hilft, unsere Arbeit gut zu machen. Auch Ihren
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gilt mein Dank. 4 656
Soldatinnen und Soldaten haben sich im Berichtszeit-
raum mit Eingaben an den Wehrbeauftragten gewandt.
Diese zu sortieren und zu bearbeiten, ist eine beachtliche
Leistung. Dass Sie bereits Ende Januar weit mehr als die
Hälfte der Eingaben bearbeitet hatten, ist beeindruckend.

Meinen Dank werde ich heute zum letzten Mal an Sie
in Ihrer Funktion als Wehrbeauftragter richten. Ich war
mir immer sicher, bei Ihnen eine offene Tür zu finden.
Sie haben stets meine Fragen beantwortet und meine Be-
denken aufgenommen. Sie waren ein guter Wehrbeauf-
tragter, weil für Sie der Mensch zählt und weil Sie ein
Gefühl für Ihr Gegenüber haben. Ich habe von Ihnen ge-
lernt, lieber Herr Königshaus. Vielen Dank!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich bin viel unterwegs, um mir an Standorten ein Bild
von der Truppe und den Mitarbeitern zu machen. Ich
lade dort immer dazu ein, mir nicht eine schöne Fassade
zu zeigen, sondern es offen und ehrlich zu sagen, wenn
es irgendwo hakt. Ich erlebe an den Standorten Soldatin-
nen und Soldaten und natürlich auch zivile Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter, die stolz auf ihren Arbeitgeber
sind und ihren Beruf tatsächlich lieben. Ich freue mich,
das zu hören. Aber leider hakt es an einigen Standorten
nicht nur, sondern es stinkt.

Ein Beispiel aus der Praxis: An einem Standort war
über sieben Jahre lang eine Baustelle. Die Arbeiten sind
beendet, und nun wird das Bataillon aufgelöst. Der Um-
zug für die Soldatinnen und Soldaten steht ins Haus.
Wohin? In eine Baustelle. In dieser Baustelle, in der die
Unterkünfte sind, stinkt es in den Fluren nach Urin. Das
ist nicht akzeptabel. Hier erwarte ich, dass die Sanierung
schnell in Gang kommt. Es geht hier um Soldatinnen
und Soldaten, die oft im Auslandseinsatz sind und dort
in Containern besser untergebracht sind als zu Hause.


(Beifall bei der SPD)


Der Mensch zählt und ist das Kostbarste, was die
Bundeswehr hat. Für deren Gesundheit zu sorgen, ist
Aufgabe des Sanitätsdienstes. Er gilt auch international
als „Schmuckkästchen“. Diese Bezeichnung habe ich
übrigens von einem Soldaten. Ich finde sie sehr passend.
Unser Sanitätsdienst ist da: hier und weltweit bei den
Einsätzen und Übungen. Obwohl die Menschen des Sa-
nitätsdienstes immer da sind, steht der Sanitätsdienst
allzu oft in der zweiten Reihe.

Die Soldatinnen und Soldaten des Sanitätsdienstes
sind immer da: manchmal sichtbar an vorderster Front
im Einsatz und manchmal unsichtbar. Für ihre Kamera-
dinnen und Kameraden ist das ein sehr gutes Gefühl. Ich
muss an Schutzengel denken, wenn ich von den Angehö-
rigen des Sanitätsdienstes spreche. Damit diese Schutz-
engel ihre Aufgaben erfüllen können, müssen wir dafür
Sorge tragen, dass sie die bestmögliche Ausstattung ha-
ben, zum Beispiel einen Hubschrauber, der überall lan-
den kann, auch nahe am Ort des Geschehens oder auf ei-
nem Krankenhausdach.

Beim Sanitätsdienst ist vieles sehr gut. Nicht gut ist
die Tatsache, dass hier immer noch viel Papier auf Rei-
sen gehen muss. Die elektronische Gesundheitskarte, die
für uns im zivilen Leben selbstverständlich ist, gibt es
bei den Soldatinnen und Soldaten nicht. Man kann es
sich kaum vorstellen, aber bei der Bundeswehr geht die
Patientenakte auf Papier auf Reisen. Das oft zitierte Ver-
trauensverhältnis zum Hausarzt gibt es für Soldatinnen
und Soldaten nicht, wenn sie häufig unterwegs sind. All-
ergien, Vorerkrankungen und auch die Persönlichkeit des
Patienten sind dem behandelnden Arzt nicht bekannt,
weil ihm der Patient nicht bekannt ist. Ich bin dafür, hier
für Abhilfe zu sorgen. Ein modernes Gesundheitsma-
nagement sollte gerade bei der Bundeswehr selbstver-
ständlich sein.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])


Die Qualität der Ausbildung beim Sanitätsdienst ist
hervorragend. Ebenso hervorragend sollte auch der
Stand der Technik sein. Das medizinische Informations-
management der Bundeswehr braucht eine elektronische
Patientenakte, die immer dort ist, wo die Soldatin oder
der Soldat ist. Das hilft dem Patienten und dem Arzt.
Der Markt bietet hierfür Lösungen an. Es gibt keinen
Grund, nicht denen zu helfen, deren Beruf es ist, anderen
zu helfen. Ich gehe davon aus, dass ich hierfür Ihre Un-
terstützung habe, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Bericht finden wir Zahlen, die mich ganz beson-
ders berühren. Sie machen mich traurig und zornig. Über
24 Suizide und 43 Suizidversuche berichtet der Wehrbe-





Heidtrud Henn


(A) (C)



(D)(B)

auftragte. Auch wenn die Gründe hierfür einen privaten
Hintergrund haben mögen: Es ist die Pflicht des Arbeit-
gebers Bundeswehr, hier genau hinzuschauen. Wenn der
Wehrbeauftragte den Eindruck hat, dass eine systemati-
sche Betrachtung dieser Suizide nicht stattfindet, dann
besteht dringender Handlungsbedarf.

Vergessen dürfen wir aus meiner Sicht auch nicht die
ehemaligen Soldatinnen und Soldaten, die nach ihrer
Dienstzeit von psychischen Belastungsreaktionen ge-
plagt werden. Vor wenigen Monaten habe ich einen Sol-
daten aus meinem Heimatort auf seinem letzten Weg
begleitet. Er hatte sich das Leben genommen. Der Fami-
lienvater war ein guter Soldat. Seine Krankheit konnte er
nicht aushalten. In der Predigt sagte der Pfarrer, der Sol-
dat habe Angst gehabt, unehrenhaft aus der Armee ent-
lassen zu werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von Ihnen
denken jetzt sicherlich: Niemand wird unehrenhaft ent-
lassen. Das ist richtig. Diese Angst des Soldaten, die er
ausgesprochen hat und die der Pfarrer mit uns geteilt hat,
zeigt aber eines ganz deutlich: An der Seele erkrankte
Soldaten müssen von jemandem behandelt werden, der
versteht, wie sich ein Soldat fühlt. Es ist gut, dass wir
psychische Erkrankungen im wahrsten Sinne des Wortes
schon ein wenig aus der Dunkelheit geholt haben. Das
hilft den Betroffenen, den Angehörigen und auch dem
Arbeitgeber Bundeswehr.

Hierfür ist dem Wehrbeauftragten zu danken. Aber
auch hier muss noch vieles getan werden. Denn wer lei-
det, braucht einen kurzen Weg zu jemandem, dem das ei-
gene Leiden nicht fremd ist. Die psychische Betreuung
muss enger und damit auch besser werden.

Die Arbeit der Militärseelsorge leistet dazu einen
wichtigen Beitrag. 2014 waren mehr als 100 Seelsorger
im Auslandseinsatz. Ihnen sowie allen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die an den Standorten Not lindern und
Freude schenken, danke ich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie schaffen Oasen des Vertrauens und der Zuversicht.

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, sehr geehrter
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
wünsche Ihnen allen jemanden, der an Ihrer Seite ist,
wenn es in Ihrer Welt dunkel ist, jemanden, der zuhört,
der versteht und Ihnen Halt gibt. Der Wehrbeauftragte
Königshaus hat zugehört, und er hat verstanden. Es ist
nun an uns, daraus die richtigen Entscheidungen abzulei-
ten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen Gottes Segen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012500

Der Kollege Dr. Tobias Lindner spricht als Nächster

für Bündnis 90/Die Grünen.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Lieber Herr Königshaus, es ist der
letzte Bericht, den Sie heute diesem Hohen Hause vorle-
gen. Aber die Probleme in der Bundeswehr sind damit
beileibe nicht zu Ende gegangen. Im Gegenteil: Sie
selbst haben von dem Jahr 2014 als Jahr der Wahrheit
und der Wahrhaftigkeit gesprochen.

Aber bevor ich zu Ihrem Bericht komme, will ich
noch etwas zu den Ortskräften in Afghanistan sagen,
weil sie auch von Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen,
erwähnt worden sind. Sie sprachen davon, dass wir die-
sen Menschen vertraut haben. Das ist richtig, aber man
muss hinzufügen: Diese Menschen haben auch uns ver-
traut, und wir haben damit ein ganzes Stück Verantwor-
tung auf uns geladen. Alle Fraktionen haben im Verteidi-
gungsausschuss immer wieder die Großzügigkeit, die
Sie nun ankündigen, eingefordert, und sie haben gefor-
dert, dass wir uns zu dieser Verantwortung bekennen.

Da Sie heute dieses Signal senden, fordere ich Sie im
Namen meiner Fraktion, aber ich denke, auch der ande-
ren Kolleginnen und Kollegen auf: Machen Sie inner-
halb der Bundesregierung Druck! Reden Sie auch mit
dem Bundesministerium des Innern, das aus meiner
Sicht oftmals an der falschen Stelle auf der Bremse ge-
standen hat, damit dieser Ankündigung und Ihren Wor-
ten auch Taten folgen, Frau von der Leyen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Jahr 2014 begann mit zwei Ankündigungen von
Ihnen, Frau Ministerin. Sie haben im Januar davon ge-
sprochen, dass die Bundeswehr einer der attraktivsten
Arbeitgeber in Deutschland werden soll. Im Februar ha-
ben Sie bei der Sitzung des Rüstungsboards gravierende
Veränderungen angekündigt und eingefordert. Sie sind
selbst darauf eingegangen.

Aber angesichts der Realität und des Berichts des
Wehrbeauftragten stellt man fest, dass Anspruch und
Wirklichkeit leider immer noch ganz weit auseinander-
liegen. Ich will das an einigen Punkten deutlich machen.

Es reicht nicht, im Zusammenhang mit dem Personal
über mehr Attraktivität zu sprechen, wenn es immer
noch – Kollegin Buchholz hat Beispiele genannt – ein
erhebliches unausgeschöpftes Potenzial bei der Frage
der Gleichstellung von Frauen und Männern in der
Truppe gibt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir wirklich über eine attraktive, zeitgemäße
Bundeswehr reden, wenn wir vom Staatsbürger in Uni-
form reden, dann kann es nicht um ein „Truppenbild mit
Dame“ gehen, sondern dann muss es um Staatsbürgerin-
nen und Staatsbürger in Uniform gehen, die gleiche
Rechte, Pflichten und vor allem Chancen in unserer
Bundeswehr haben. Hier erwarten wir uns von Ihnen,





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)

Frau Ministerin, deutlich mehr Anstrengungen als bis-
her.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie, Herr Königshaus, haben in Ihrem Bericht auch
die Einsatzrealität angesprochen. Schauen wir uns den
Patriot-Einsatz in der Türkei an. Wir schaffen es eben
nicht, das Versprechen, das wir Soldatinnen und Solda-
ten geben, nämlich dass sie nach vier Monaten im Aus-
landseinsatz 20 Monate in Deutschland bleiben können,
einzuhalten. Das schaffen wir in einer gravierenden An-
zahl von Fällen nicht. In diesem Zusammenhang ist die
Diskussion über Breite vor Tiefe bei den Fähigkeiten
keine theoretische oder rüstungspolitische Diskussion.
Nein, liebe Kollegin Henn, da geht es genau – da haben
Sie voll und ganz recht – um den Menschen in der
Truppe, und es geht um konkrete Erfahrungen. Da zeigt
sich, dass dieses Konzept, auch wenn wir den Menschen
in den Mittelpunkt stellen, an inneren Widersprüchen ge-
scheitert ist. Deswegen gilt es, hier umzudenken.

Wenn wir beim Thema Attraktivität sind, müssen wir
natürlich auch die Unterkünfte in den Blick nehmen. Sie,
Frau von der Leyen, haben großspurig ein Sofortpro-
gramm angekündigt. Aber in den letzten Haushaltsbera-
tungen, noch am Freitag vor der Bereinigungssitzung,
haben Sie Mittel für Infrastrukturmaßnahmen mit der
Begründung reduziert – das war Ihr Haus –, der Bedarf
sei niedriger. Das muss wie Hohn in den Ohren der Sol-
datinnen und Soldaten klingen, die sich nicht nach
Flachbildfernsehgeräten oder Minikühlschränken seh-
nen, sondern nach ordentlichen Sanitäreinrichtungen in
ihren Kasernen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidtrud Henn [SPD])


Über Ausrüstung ist schon viel diskutiert worden.
Herr Königshaus, Sie haben immer wieder Hinweise auf
Probleme beim Sturmgewehr G36 gegeben, Sie haben
Informationen eingefordert und Druck gemacht. Das ist
Ihr Verdienst. Das Ministerium unter Ihrer Leitung, Frau
Ministerin, hat im letzten Jahr immer wieder Zweifel an-
gemeldet. Ohne Herrn Königshaus hätten wir heute nicht
diese Debatte und wären wir nicht so schlau, wie wir
sind. Herr Königshaus, auch im Namen der Soldatinnen
und Soldaten: Vielen Dank, dass Sie an dieser Stelle
nicht lockergelassen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten
Damen und Herren, lieber Hellmut Königshaus, es sind
heute schon viele Worte des Dankes gefallen. Wir wer-
den Sie noch verabschieden. Wir wollten Ihnen heute
nicht noch einen dritten oder vierten Blumenstrauß hin-
stellen, aber ich kann Ihnen versprechen: Wir werden
uns bei Ihnen bedanken. Auch wir als Opposition müs-
sen Dank sagen; denn Sie als Hilfsorgan liefern uns
manchmal Anstöße und Anregungen, aber auch Infor-
mationen, an die man sonst nicht käme. Man muss auch
sagen: Sie sind nicht nur ein Hilfsorgan des Bundesta-
ges, um in die Truppe hineinzuwirken, sondern Sie sind
auch das Hilfsorgan, das unseren Soldatinnen und Solda-
ten hilft, ihre Grundrechte wahrzunehmen und an den
Deutschen Bundestag herantreten zu können.

Ich wünsche Ihnen ganz persönlich, aber vor allem im
Namen unserer gesamten Fraktion eine gute Zeit in den
kommenden drei Wochen in Ihrem Amt. Ich wünsche
dir, lieber Hans-Peter, danach eine erfüllende Aufgabe
und viel Erfolg. Ihnen, Herr Königshaus, vor allem für
die Zukunft alles Gute! Ich danke Ihnen im Namen unse-
rer Fraktion und möchte Ihnen auch im Namen des Hau-
ses Respekt für Ihre Arbeit aussprechen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012600

Die Kollegin Anita Schäfer spricht jetzt für die CDU/

CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1810012700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber
Hellmut Königshaus! Nach fünf Jahren scheiden Sie
jetzt aus dem Amt des Wehrbeauftragten aus. Im Namen
der CDU/CSU-Fraktion, aber auch ganz persönlich
möchte ich Ihnen daher sowohl für Ihre Arbeit am Jah-
resbericht über das vergangene Jahr als auch für Ihren
Dienst insgesamt danken. Besonders möchte ich Ihnen
für Ihr großes Engagement bei der Unterstützung unserer
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz wie auch im
Grundbetrieb danken. Diese fünf Jahre waren geprägt
von zahlreichen gleichzeitig laufenden Auslandseinsät-
zen, insbesondere in Afghanistan, von der umfassends-
ten Strukturreform seit Bestehen der Bundeswehr, ein-
schließlich der Aussetzung der Wehrpflicht, und zuletzt
von einem neuen Umbruch sicher geglaubter Gegeben-
heiten durch das Vorgehen Russlands in der Ukraine.

Die ständige Präsenz, die Sie in dieser Zeit gezeigt
haben, ist etwas, was zum Verständnis des Amtes gehö-
ren muss. Dazu braucht man dann auch schon mal die
notwendige Hartnäckigkeit, die Sie, lieber Herr
Königshaus, auf jeden Fall bewiesen haben und die viel-
leicht erst nach längerer Zeit Früchte trägt, wie aktuell
an der Debatte um das Gewehr G36 zu sehen ist, die Sie
seit drei Jahren wesentlich mitbestimmt haben. Auch im
aktuellen Jahresbericht ist diesem Punkt ja wieder ein
Abschnitt gewidmet.

Nach vielen widersprüchlichen Untersuchungen
herrscht mit den jetzt vorliegenden Berichten auf jeden
Fall weitgehende Klarheit über das Verhalten des G36
bei hohen Temperaturen, wobei es nach wie vor keine
Erkenntnisse darüber gibt, dass Soldaten aufgrund feh-
lender Zielgenauigkeit zu Schaden gekommen sind. Die
Peschmerga beschweren sich, wie die FAZ heute in ei-
nem Kommentar süffisant schreibt, gerade nicht über
solche Mängel.





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A)



(D)(B)

Aber zur unabhängigen Untersuchung möglicher
Auswirkungen im Einsatz hat die Bundesverteidigungs-
ministerin ja bereits eine Kommission unter Vorsitz des
ehemaligen Kollegen Winfried Nachtwei eingesetzt, der
auch Sie, Herr Königshaus, angehören werden. Sie wer-
den dieses Thema also auch nach Ablauf Ihrer Amtszeit
als Wehrbeauftragter verfolgen. Somit sind die Voraus-
setzungen für eine umfassende Aufklärung geschaffen.

Unser Hauptaugenmerk sollten wir allerdings nicht
auf die Vergangenheit, sondern auf die militärischen An-
forderungen heutiger und künftiger Einsätze richten. Da-
ran sollte das Anforderungsprofil hinsichtlich der Aus-
rüstung dann auch eindeutig ausgerichtet werden, und
dieses Profil sollte nicht hinterher siebzehnmal geändert
werden.

Lieber Herr Königshaus, das war aber natürlich bei
weitem nicht das einzige Thema, mit dem wir uns ge-
meinsam befasst haben. Immer wieder haben Sie Im-
pulse gegeben, die der Verteidigungsausschuss aufge-
griffen hat. Einer der wichtigsten Themenblöcke bleibt
die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr. Hier ist
uns mit dem kürzlich verabschiedeten Attraktivitätsstei-
gerungsgesetz ein großer Schritt gelungen, der in selte-
ner Einigkeit auch von fast allen bis hin zum Deutschen
BundeswehrVerband als solcher gelobt worden ist.

Unter anderem haben wir die Alterssicherung für
Zeitsoldaten erheblich verbessert. Wir haben den Gel-
tungsbeginn für die Hinzuverdienstgrenze für Berufssol-
daten im Ruhestand an die besondere Altersgrenze für
Bundespolizisten angeglichen. Wir haben viele Er-
schwerniszulagen und einige Stellenzulagen erstmals
seit 1990 an die Lebenshaltungskosten angepasst. Zum
ersten Mal seit Bestehen der Bundeswehr wird eine ge-
setzlich geregelte Arbeitszeit für Soldaten im Grundbe-
trieb eingeführt, einschließlich der Vergütung von Über-
stunden.

Zudem haben wir mit Blick auf die Vereinbarkeit von
Familie und Dienst die Beantragung von Teilzeitbe-
schäftigung erleichtert. Soldaten können nun auch bis zu
24 Monate ihrer Elternzeit nach dem dritten Geburtstag
ihres Kindes nehmen. Zusätzlich hätten wir gern endlich
die gesetzliche Verankerung des dauerhaften Wahlrechts
zwischen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung
bei Versetzungen geschafft, die wir im Koalitionsvertrag
vereinbart haben. Die Abstimmung zwischen den Res-
sorts war aber komplex.

Außerdem haben wir es vorgezogen, das Erreichte
schnellstmöglich umzusetzen, statt eine unbestimmte
Zeit auf mögliche weitere Verbesserungen zu warten. In-
sofern sollten wir uns bei aller Freude nicht auf dem Er-
gebnis ausruhen, sondern bereits künftige Schritte ins
Auge fassen. Dafür wird auch der nächste Wehrbeauf-
tragte zweifellos wieder Impulse liefern.

Ihnen, Herr Königshaus, wünsche ich für die Zeit
nach Ihrem Ausscheiden weiterhin dieselbe Kraft und
Hartnäckigkeit. Herzlichen Dank möchte ich zudem ein-
mal mehr Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sa-
gen, die wie immer an der Entstehung des Jahresberich-
tes mitgewirkt haben.
Zum Schluss möchte ich aber vor allem den Soldatin-
nen und Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundes-
wehr danken, die in dieser fordernden Zeit ihren Dienst
für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten
leisten. Seien Sie gewiss, dass der Bundestag weiterhin
dafür Sorge tragen wird, dass Sie diesen Dienst unter
den bestmöglichen Bedingungen verrichten können!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810012800

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Florian Hahn, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1810012900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Der
Wehrbeauftragte ist das Hilfsorgan des Bundestages, das
bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle der
Bundeswehr unterstützen soll; so ist es festgeschrieben.
Der Bericht ist ein zentrales Instrument dieser Kontrolle.
Aber in der Wahrnehmung der Soldatinnen und Soldaten
und in der Öffentlichkeit ist der Wehrbeauftragte nicht
nur ein technisches Hilfsorgan, sondern – gefühlt – ein
Anwalt der Soldaten. Das liegt vor allem an den vielen
außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die dieses Amt in-
nehatten und geprägt haben.

Das ist nun der letzte Bericht des Wehrbeauftragten
Hellmut Königshaus, der nach fünf Jahren das Amt in
neue Hände geben wird. Diese letzten fünf Jahre gehö-
ren sicherlich zu den spannendsten in der Geschichte der
Bundeswehr. Sie waren geprägt von großen Umbrüchen;
ich nenne nur: Aussetzung der Wehrpflicht, Fortsetzung
der Bundeswehrreform, Neustrukturierung des Beschaf-
fungswesens, neue Einsätze und eine sich dramatisch
verändernde außen- und sicherheitspolitische Großwet-
terlage. Dazu kommen drei verschiedene – ich meine tat-
sächlich: sehr verschiedene – Minister in dieser Zeit.

Ich hatte den Eindruck, dass sich Hellmut Königshaus
in kürzester Zeit in die Rolle eingelebt hat und mit Haut
und Haaren in diesem Amt aufgegangen ist. Hunderte
manchmal schon fast gefürchtete Besuche vor Ort zei-
gen: Der Wehrbeauftragte wollte ganz nah am Alltag der
Soldaten sein und ein Ohr für alle Soldaten und ihre Sor-
gen haben. Seine Amtszeit und seine Berichte zeigen
aber auch, dass das Amt des Wehrbeauftragten weiterhin
erforderlich ist.

Jeder Wehrbeauftragte prägt das Amt und drückt ihm
seinen persönlichen Stempel auf. Wahrgenommen habe
ich bei Hellmut Königshaus immer seine unermüdliche
Sorge um die beste Ausstattung und Ausrüstung der
Soldaten im Einsatz. So zeigte er beispielsweise bei den
Besuchen in den Einsatzgebieten großes Interesse für die
einzelnen Waffen und Fahrzeuge, für konkrete Erfahrun-
gen und Anforderungen des jeweiligen Einsatzes.
Manchmal wurde das kritisiert, und es wurde gefordert,
der Wehrbeauftragte solle sich mehr um die Grundrechte
der Soldaten kümmern. Königshaus hat zu Recht den

(C)






Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

Anspruch der Soldatinnen und Soldaten auf optimalen
Schutz im Einsatz herausgestellt.

Die Schwerpunkte des Berichts decken sich stark mit
den Schwerpunkten und Forderungen meiner Partei, der
CSU, und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: bestmög-
liche Ausstattung, Vermeidung unzumutbarer Belastung,
attraktives Arbeitsumfeld, optimale Arbeitsbedingun-
gen, Anpassung der Verteidigungsausgaben an den ge-
stiegenen Bedarf.

Zum Schwerpunkt „Ausstattung“ möchte ich sagen:
Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit verlangen eine
erstklassige Ausstattung der Streitkräfte. Die Fürsorge-
pflicht gebietet die Beschaffung bestmöglichen Materi-
als, optimalen Schutz im Einsatz. Dazu gehört beispiels-
weise die Minimierung des Einsatzrisikos durch die
Beschaffung und den Einsatz von Drohnen.

Der Bericht weist zu Recht auf massive Mängel und
Defizite bei der Ausstattung zum Beispiel mit militäri-
schem Großgerät hin, vor allem beim Grundbetrieb. Dort
herrscht oft akute Mangelverwaltung. Häufig muss die
Bundeswehr wegen großer Lieferverzögerung auf wich-
tige Waffensysteme verzichten. Die Aufrechterhaltung
der Verfügungsbereitschaft ist nur mit Einfallsreichtum
und nicht unerheblichem zusätzlichen Ressourceneinsatz
möglich.

Trotz dieser Engpässe leisten unsere Streitkräfte her-
vorragende Arbeit in den internationalen Einsätzen. Wir
dürfen das aber nicht überstrapazieren. Ich habe den
Eindruck, dass das BMVg dies nicht nur erkannt hat,
sondern beispielsweise durch eine weitere Professionali-
sierung des Rüstungsmanagements und durch schnelle
Entscheidungen über wichtige Beschaffungsprojekte
auch Abhilfe schaffen will.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie den Eindruck haben …!)


Auch auf das Thema „Vermeidung von unnötigen und
unzumutbaren Belastungen“ weist der Wehrbeauftragte
zu Recht hin. Dabei gilt es aus meiner Sicht, auch lau-
fende Engagements – zum Beispiel bei der Operation
Active Fence in der Türkei – immer wieder zu überprü-
fen. Hier sind die Einsatzbelastungen der Soldaten hoch,
obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Luftschlags auf
türkischem Gebiet stark gesunken ist oder er fast unmög-
lich ist.

Bei der Steigerung der Attraktivität haben wir in Zu-
sammenarbeit mit dem Wehrbeauftragten viel erreicht.
Dieses Thema ist zudem ein Schwerpunkt dieser Koali-
tion und trägt die klare Handschrift von Ministerin von
der Leyen. Aber die Steigerung der Attraktivität der
Bundeswehr darf nicht auf Kosten des Materialerhalts
und der Modernisierung der Ausrüstung gehen.

Mehr Engagement und mehr internationale Verant-
wortung bedeuten eben auch mehr Ausgaben. Deshalb
ist die geplante Erhöhung des Verteidigungshaushalts
unerlässlich. Die bis 2019 geplanten zusätzlichen Mittel
werden in großem Maße für Personal- und Liegen-
schaftskosten verwendet werden müssen. Ich bin daher
fest davon überzeugt, dass dies nur ein guter Anfang ist
und wir schon bald über zusätzliche Investitionsmittel
für unsere Sicherheit diskutieren müssen.

Abschließend, auch für die CSU: Noch einmal ein
herzliches Dankeschön an Hellmut Königshaus für seine
wichtige und gute Arbeit und das immer glaubhafte tau-
sendprozentige Engagement für die Bundeswehr und un-
sere Soldatinnen und Soldaten. Gottes Segen und alles
Gute für dich, Hellmut!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013000

Damit sind wir am Ende dieser Aussprache angekom-

men, und ich stelle fest, dass das Amt des Wehrbeauf-
tragten, ausgeübt vom lieben Kollegen Herrn
Königshaus, weniger als Hilfsorgan des Deutschen Bun-
destags empfunden worden ist, sondern geradezu als
Hauptorgan. Dafür herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3750 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinder-
freibetrags, des Kindergeldes und des Kinder-
zuschlags
Drucksache 18/4649
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch hier
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das somit be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Michael Meister.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1810013100


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Bundeskabinett hat am 28. Januar 2015 den 10. Exis-
tenzminimumbericht beschlossen. In diesem Bericht
wird die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzmini-
mums für Erwachsene und Kinder in den Jahren 2015
und 2016 hergeleitet. Mit dem heute eingebrachten Ge-
setzentwurf der Bundesregierung wird die verfassungs-
rechtlich gebotene Anhebung der steuerlichen Freibe-
träge – also sowohl des Grundfreibetrages wie auch der
Kinderfreibeträge – für die Jahre 2015 und 2016 umge-
setzt.

Zur Förderung der Familien, bei denen sich der Kin-
derfreibetrag nicht auswirkt, wird das Kindergeld in





Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)

gleichem Verhältnis für 2015 und 2016 angehoben.
Außerdem wird der Kinderzuschlag erhöht. Der Kinder-
zuschlag wird denjenigen Eltern gewährt, die mit ihrem
Erwerbseinkommen zwar den eigenen Bedarf nach dem
Sozialgesetzbuch II decken, bei denen dieses Erwerbs-
einkommen aber nicht ausreicht, um den Bedarf ihrer
Kinder hinreichend zu decken. Dieser Kinderzuschlag
wird zusammen mit dem anteiligen Wohngeld und dem
Kindergeld gewährt, um einen Ausgleich zu schaffen.

Durch die regelmäßig gestiegenen Regelbedarfe in
der Grundsicherung für Arbeitsuchende reicht die ak-
tuelle Höhe des Kinderzuschlags – zusammen mit dem
Kindergeld und dem anteiligen Wohngeld – nach unserer
Einschätzung in immer weniger Fällen aus, um den
durchschnittlichen Bedarf eines Kindes zu decken.
Deshalb wollen wir die Erhöhung des Kinderzuschlags
vornehmen und damit einen größeren Teil der Eltern aus
den Leistungen der Grundsicherung herausnehmen.
Wir werden im Jahr 2016 den Grundfreibetrag von
8 354 Euro auf 8 652 Euro anheben, den Kinderfreibe-
trag von derzeit 7 008 Euro auf 7 248 Euro und das Kin-
dergeld von aktuell 184 Euro für das erste und zweite
Kind auf dann insgesamt 190 Euro. Der Kinderzuschlag
wird zum 1. Juli 2016 um 20 Euro auf dann höchstens
160 Euro erhöht. Wenn wir dieses Maßnahmenpaket in
seiner Gänze sehen, dann merken wir: Es hat in der vol-
len Jahreswirkung ein Gesamtvolumen von 3,7 Milliar-
den Euro, was den Steuerzahlern und insbesondere den
Familien in diesem Lande zugutekommt. Ich glaube, es
ist ein gutes Signal, dass wir in dieser Situation Steuer-
zahler und insbesondere Familien in Deutschland entlas-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sollten nicht so tun, als seien wir als Bund der
alleinige Wohltäter. Es entfallen 1,8 Milliarden Euro auf
die Bundeskasse, 1,5 Milliarden Euro zahlen die Länder
und eine halbe Milliarde Euro die Kommunen. Ich
glaube, dass Deutschland damit im internationalen Ver-
gleich ein hohes Niveau der Familienförderung hat. Wir
haben – Frau Kollegin Schwesig ist ja anwesend – in der
vergangenen Wahlperiode die Familienleistungen in
Deutschland evaluiert und festgestellt, dass wir ein Volu-
men von rund 200 Milliarden Euro pro Jahr für Familien
aufwenden. Ich glaube dennoch, dass wir hiermit ein
gutes Signal setzen, weil wir ja nicht nur über die Leis-
tungen im Rahmen dieses konkreten Gesetzes reden,
sondern darüber hinaus auch sehen müssen, was wir im
Bereich der Kinderbetreuung – das geschieht außerhalb
dieses Gesetzes – aufwenden oder was wir etwa beim
Elterngeld den Menschen zugutekommen lassen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, wir führen
damit den familienfreundlichen Kurs der Bundesregie-
rung fort. Das dokumentiert auch der Finanzplan, den
wir diskutiert und im Kabinett beschlossen haben. Dort
ist für 2016 beim Haushalt des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum ersten Mal
die 9-Milliarden-Euro-Grenze überschritten worden. Ich
will aber hier zur Vorsicht mahnen: Wir befinden uns
momentan, wenn wir die Beschäftigung in diesem Lande
und die Wachstumszahlen unserer Wirtschaft anschauen,
in einer extrem guten Lage. Deshalb ist auch der Bun-
deshaushalt jetzt in einer entspannteren Situation, als
wenn Beschäftigungslage und Wirtschaftswachstum
nicht ganz so gut wären. Dennoch haben die Sozialaus-
gaben einen Anteil von 52 Prozent am Bundeshaushalt.
Ich glaube, wir müssen schon sehen: Wenn die Zeiten
schwieriger werden, werden die Sozialausgaben mit
Sicherheit nicht sinken, sondern in absoluten Zahlen
tendenziell steigen. Das würde bedeuten, dass auch die
entsprechenden Prozentzahlen im Bundeshaushalt wach-
sen. An dieser Stelle will ich einfach zur Vorsicht raten.
Angesichts dieser 52 Prozent müssen wir nicht sagen:
Hier sind Kürzungen oder Reduzierungen notwendig. –
Ich glaube vielmehr, wir müssen mit Blick auf eine
nachhaltige Haushaltswirtschaft auch darauf achten,
dass die Balance innerhalb des Bundeshaushalts gewahrt
wird. Deshalb sollten wir gerade mit Blick auf Kinder
sagen: Wir müssen in Zukunft in unserer Haushaltsge-
setzgebung auch auf schwierigere Zeiten vorbereitet
sein.

Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung
zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende machen.
Auch dazu steht etwas im Koalitionsvertrag, nämlich
dass wir hier Veränderungen vornehmen wollen, aller-
dings nicht in dem Sinne, dass es zur Ausweitung von
Leistungen kommen soll, sondern dass wir hier eine
Prioritätensetzung vonseiten der Politik vornehmen.
Prioritätensetzung vonseiten der Politik heißt nicht, dass
all das, was man sich wünschen kann, gemacht wird,
sondern dass man das, was man für wichtig und notwen-
dig hält, aus dem, was man verfügbar hat, finanziert.
Deshalb ist unsere Abrede an dieser Stelle, dass wir über
die Veränderungen beim Entlastungsbetrag für Alleiner-
ziehende gerne sprechen können, dass aber die Mittel
hierfür aus dem Etat des Ministeriums für Familien, Se-
nioren, Frauen und Jugend kommen müssen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sofern möglich!)


Dieser Entlastungsbetrag hat heute eine Höhe von
1 308 Euro. Diese Höhe ist seit dem Jahre 2004 unverän-
dert. Wir müssen allerdings, wenn wir darüber debattie-
ren, auch berücksichtigen, dass wir auf der einen Seite
etwa 1,6 Millionen Alleinerziehende in diesem Land
haben, dass auf der anderen Seite dieser Entlastungs-
betrag nur 1,1 Millionen Menschen zugutekommt.

Denn man muss immer daran denken: Eine Vergünsti-
gung im Steuerrecht kommt nur demjenigen zugute, der
auch Steuern zahlt. Deshalb müssen wir bei dieser De-
batte aufpassen. Es kann nicht sein, dass wir alle meinen,
aber an dieser Stelle nur für einige wenige etwas tun.

Ich wünsche mir, dass wir hier im Deutschen Bundes-
tag zu konstruktiven Beratungen kommen. Ich glaube,
dass wir ein gutes Gesetz für die Bürger und die Fami-
lien in diesem Land auf den Weg bringen werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013200

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin

Susanna Karawanskij.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810013300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Es wurde aber auch allerhöchste Eisen-
bahn, Herr Meister. Endlich, nach ganz schön langer
Wartezeit, liegt nun der Gesetzesentwurf vor, der die An-
passung und die Anhebung des Grundfreibetrages, des
Kinderfreibetrages, des Kindergeldes und des Kinderzu-
schlages vorsieht. Das war auch längst überfällig.

Die späte Vorlage empfinden zumindest meine Kolle-
gen und ich als Zumutung; denn wenn ich mich recht
entsinne, hätte es gemäß dem 9. Existenzminimumbe-
richt, also dem vorletzten Existenzminimumbericht –
dort wird ja die Höhe des Existenzminimums für Er-
wachsene und Kinder festgestellt; das ist genau jene
Summe, die von der Einkommensteuer befreit ist –, eine
Anhebung des Kinderfreibetrages um 72 Euro schon ab
2014 geben müssen. Ich sage: „hätte“. Es ist nichts pas-
siert; denn die Anhebung wurde nicht umgesetzt. Der
damals geltende Freibetrag für das sächliche Existenz-
minimum für Kinder entsprach nicht den verfassungs-
rechtlichen Vorgaben. Das wirkt ein bisschen wie eine
Verzögerungstaktik der Bundesregierung, sogar dann,
wenn es sich um verfassungsrechtlich gebotene Maßnah-
men handelt.

Auch beim 10. Existenzminimumbericht ging es mit
der Warteschleife weiter. Ich kann mich noch gut daran
erinnern, dass die Bundesregierung Ende September
letzten Jahres zugesagt hat, ihn noch 2014 vorzulegen.
Wir haben im Finanzausschuss immer wieder nachge-
fragt, aber er wurde erst 2015 vorgelegt. Ihre Zusage ha-
ben Sie nicht eingehalten. Die Leidtragenden sind die
Familien und Kinder. Das ist für mich absolut nicht
nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Bundesregierung ist offensichtlich der Sparwahn
wichtiger als Politik für Kinder und Familien.

Zur Sache und den vier Instrumenten. Der steuerliche
Grundfreibetrag soll nun im Jahr 2015 auf 8 472 Euro
angehoben und 2016 auf 8 652 Euro erhöht werden. Wir
als Linke sagen, dass der Grundfreibetrag auf
9 300 Euro angehoben werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei muss vor allen Dingen der Tarifverlauf der Ein-
kommensteuer durchgehend linear-progressiv gestaltet
werden, wobei der Spitzensteuersatz auf 53 Prozent
steigt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Bevor Sie wieder sagen, dass wir uns damit in einem
Wettbewerb befinden, bei dem es darum geht, wer am
meisten fordert, sage ich: Hier geht es nicht um aus der
Luft gegriffene Forderungen, sondern hier geht es
schlicht und ergreifend um Gerechtigkeit, um Vertei-
lungsgerechtigkeit. Die von mir eben angesprochene
Maßnahme würde vor allen Dingen die mittleren und un-
teren Einkommen entlasten, Familien und Kinder bes-
serstellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Daran anknüpfend wird nun endlich auch der steuerli-
che Kinderfreibetrag, also das sächliche Existenzmini-
mum von Kindern, angehoben. Aber ich möchte vor al-
len Dingen auch auf das Kindergeld zu sprechen
kommen. Das soll in diesem Jahr um 4 Euro pro Monat
und im nächsten Jahr um 2 Euro pro Monat steigen. Dass
das real zu wenig Geld ist, ist klar. Durch diese geringe
Anpassung wird die Schere in der derzeitigen Familien-
förderung bzw. zwischen armen und reichen Kindern –
die Kinder sind ja von der Erwerbssituation der Eltern
abhängig – weiter geöffnet. Das muss geändert werden.
Wir als Linke sagen: Es müssen ebenso Kinder vom
Kindergeld profitieren, deren Eltern nicht so viel verdie-
nen, und es dürfen nicht nur Kinder von Spitzenverdie-
nern über den Kinderfreibetrag bessergestellt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Menschen im Hartz-IV-Bezug haben ohnehin nichts
von einer Kindergelderhöhung; denn sie wird immer
noch auf Hartz IV angerechnet. Wenn Sie schon die An-
rechnung beibehalten, sollten Sie zumindest die
Hartz-IV-Kinderregelsätze anheben, um Kinderarmut zu
verringern.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wäre das wirklich möglich?)


Da sollte die Politik ansetzen.

Kommen wir zum Kinderzuschlag, der nun auch an-
gehoben werden muss. Da verstehe ich schlicht und er-
greifend nicht, warum das erst 2016 erfolgen soll. Sie
verhöhnen damit doch genau diejenigen, die Sie eigent-
lich fördern wollen, diejenigen, die jeden Euro bitter nö-
tig haben; das trifft knapp 1 Million Kinder und Jugend-
liche. Ich verstehe es nicht. Ich halte es für nicht
hinnehmbar, dass Sie hier nicht sofort nachsteuern.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben jüngst erfahren, dass Sie den Steuerfreibe-
trag für Alleinerziehende um 600 Euro anheben wollen.
Das ist gut, das ist richtig. Es ist ein guter Ansatz. Aber
es betrifft nur sehr wenige; Sie haben es gerade selber
gesagt. Wir sagen: Die steuerlichen Maßnahmen reichen
nicht aus, um die Situation von Alleinerziehenden zu
verbessern – ein Familienmodell, das immer wichtiger
wird. Wir brauchen vor allen Dingen arbeitsmarkt- und
sozialpolitische Instrumente, eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, einen verbesserten Kündigungs-
schutz, gute Teilzeitarbeitsbedingungen und vor allen
Dingen eine flächendeckende, gebührenfreie, bedarfs-
und altersgerechte Kindertagesbetreuung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben ja nichts dagegen, dass Sie jetzt die Freibe-
träge und das Kindergeld anheben. Ich möchte es nur





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

noch einmal sagen: Diese steuerlichen Maßnahmen rei-
chen nicht aus, um Kinderarmut, die immer mit der Ein-
kommensarmut der Eltern einhergeht, zu bekämpfen. Sie
zu bekämpfen, sollte im Zentrum des politischen Han-
delns stehen. Wir brauchen existenzsichernde, gute Ar-
beitsplätze für die Eltern, eine familienfreundliche Ar-
beitswelt und eben keine prekäre Beschäftigung. Das
sollte im Zentrum stehen, und hier ist noch ordentlich
Luft nach oben. Der Blick auf die schwarze Null allein
reicht da nicht aus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013400

Für die Bundesregierung spricht jetzt die Bundes-

ministerin Manuela Schwesig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Die Familien sind für mich die
Leistungsträger in Deutschland. Dort, wo sich junge
Frauen und Männer für Kinder entscheiden, dort, wo
Mütter und Väter Kinder großziehen, dort, wo Männer
und Frauen sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen
kümmern – viele von ihnen sind gleichzeitig berufstätig,
zahlen Sozialabgaben und Steuern –, dort liegt der Kern
des Wohlstands in Deutschland. Deshalb ist jede Unter-
stützung für Familien für mich eine wichtige Unterstüt-
zung, um den Wohlstand und das Wachstum in Deutsch-
land zu erhalten und zu stärken. Die Familien sind die
Leistungsträger, und deshalb haben sie auch Unterstüt-
zung verdient.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es stimmt: Nicht eine einzelne Leistung – sei es das
Kitaangebot, die Steuerentlastung oder das Kindergeld –
reicht, um Familien zu unterstützen. Deshalb muss Fa-
milienförderung auf drei Säulen stehen:

Erstens: Unterstützung durch die Infrastruktur, durch
Ganztagskitas, Ganztagsschulen. Da haben wir im letz-
ten Jahr viel getan. Ich nenne nur das Kitagesetz zur
Schaffung von Ganztagsplätzen und die Bildungsgelder
für den Ausbau von Ganztagsschulen. Es wird ein Pro-
gramm für Randzeitenbetreuung geben, das gerade al-
leinerziehenden Frauen helfen wird, die übrigens häufig
im Hartz-IV-Bezug sind, weil sie nicht arbeiten gehen
können.

Die zweite Säule besteht aus Unterstützung für Fami-
lien, damit man Zeit füreinander hat. Auch da haben wir
im letzten Jahr viel gemacht: Elterngeld Plus, Familien-
pflegezeit.

Die dritte Säule ist ganz konkrete materielle Unter-
stützung und Entlastung bei Steuern und Abgaben. Da-
rum geht es heute – Sie haben es gehört –: ein Milliar-
denpaket für die Familien in Deutschland. Es ist wichtig,
dass die Unterstützung jetzt schnell ankommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist wichtig für die Handwerksmeisterin, die sich vor
vier Jahren selbstständig gemacht hat und im August
zum ersten Mal einen Azubi eingestellt hat. Ihr Mann hat
ein festes Einkommen. Beide Einkommen reichen ge-
rade so, um über die Runden zu kommen. Es ist wichtig
für den alleinerziehenden Vater, der in Vollzeit erwerbs-
tätig ist und mich fragt, wie er seinem Sohn erklären
soll, dass er einen Ausflug in den Freizeitpark nicht fi-
nanzieren kann. Denn es gibt immer noch die Eltern, die
arbeiten gehen, aber am Ende des Monats kaum etwas
übrig haben. Deswegen darf kein Euro, auch nicht
6 Euro mehr Kindergeld, unterschätzt werden. Es gibt
immer noch viele Mütter und Väter in unserem Land, die
auf jeden Euro mehr im Monat angewiesen sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn der Deutsche Bundestag die Freibeträge und
das Kindergeld erhöht, dann deshalb, weil den Familien
das zusteht. Mit dem Gesetzentwurf wird endlich die ge-
botene Anhebung umgesetzt. Auch das Kindergeld wird
angehoben. Das Kindergeld ist die beliebteste und ver-
lässlichste Familienförderung, und es ist eine Maßnahme
gegen Armut.

Die Evaluation hat gezeigt: Durch das Kindergeld
schützen wir über 1 Million Kinder vor Armut. Mit dem
Kindergeld erreichen wir 17 Millionen Kinder.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Holen Sie die mit 6 Euro mehr aus der Armut?)


– Damit alleine nicht, und deswegen war es mir wichtig,
dass es nicht alleine bei der Anhebung des Freibetrags
und des Kindergelds bleibt.

Für mich sind zwei Maßnahmen entscheidend für ein
echtes Familienpaket zum Wohle der Kinder – das hat
auch die gemeinsame Evaluation von Finanzministerium
und Familienministerium gezeigt –: Wir brauchen zur
Bekämpfung der Kinderarmut eine Erhöhung des Kin-
dergeldes und den Kinderzuschlag. Mindestlohn, Kin-
dergeld und Kinderzuschlag führen dazu, dass Kinder
mit ihren Eltern den Weg aus Armut finden. Das ist nur
gerecht; denn Kinder müssen sehen, dass das Geld, das
ihre Eltern verdienen, die jeden Morgen aufstehen und
arbeiten gehen, reicht, und zwar ohne, dass man So-
zialtransfers in Anspruch nehmen muss. Deswegen brau-
chen wir den Kinderzuschlag.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ja, mir und vielen anderen war es wichtig – so ist es
auch im Koalitionsvertrag verankert –, dass wir nach
zehn Jahren endlich ein wichtiges Zeichen an die Allein-
erziehenden senden. Die Alleinerziehenden profitieren
auch von Kindergeld und Kinderzuschlag, vor allem von
den Maßnahmen, die wir im letzten Jahr im Bereich der
Infrastruktur vorangebracht haben. Viele der Alleiner-
ziehenden gehen arbeiten und zahlen Steuern. Das heißt





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

ja nicht, dass man für die anderen beim Mindestlohn,
dem Kinderzuschlag, den Regelsätzen oder der Infra-
struktur nichts tun muss.

Ich sage Ihnen: Die alleinerziehenden Frauen und
Männer, die jeden Tag arbeiten, arbeiten mehr als die an-
deren Eltern. Es ist üblich, dass die alleinerziehende
Frau im Schnitt ein paar Stunden mehr pro Woche arbei-
tet und trotzdem weniger Einkommen zur Verfügung
hat, und sie arbeitet oft zu Zeiten, in denen andere nicht
arbeiten: in Randzeiten, Schichtzeiten. Sie arbeiten über-
durchschnittlich viel, um sich und ihre Kinder über die
Runden zu bringen. Deshalb ist es wichtig und richtig,
dass wir endlich den Entlastungsbetrag für die Alleiner-
ziehenden anheben. Sie bekommen dadurch nicht mehr,
aber sie werden nun endlich bessergestellt; denn gegen-
über Paaren wurden sie bisher ungerecht behandelt. Das
ist ein wichtiges Signal. 15 Euro im Monat sind für die
alleinerziehende Bürokauffrau, die 2 500 Euro Brutto-
einkommen hat, viel Geld. Eine alleinerziehende Mutter
hat mir erzählt, dass sie 180 Euro im Monat für eine
Klassenfahrt braucht. Es ist nicht für jeden selbstver-
ständlich, dass man das einfach bezahlen kann.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! 180 Euro im Monat stimmt nicht!)


– 15 Euro. Sie können ja eine andere Rechnung aufma-
chen; das werden Sie als Grüne wahrscheinlich auch tun.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben 180 gesagt!)


Fakt ist: Die Alleinerziehenden tun viel. Seit über
zehn Jahren wurde der Entlastungsbetrag nicht angeho-
ben. Deswegen ist es an der Zeit, dass wir es tun. Ich
freue mich, dass die Regierungsfraktionen sich darauf
verständigt haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wichtig dabei ist, dass es nicht nur um die materielle
Entlastung geht. Eine Frau, die drei Kinder allein erzieht
und Vollzeit arbeitet – das muss man sich einmal vorstel-
len –, schreibt auf Facebook: Ich freue mich, weil es
auch eine Wertschätzung und Anerkennung für die
wahnsinnige Leistung von alleinerziehenden Müttern
und Vätern ist. – Und genau das ist es: Das Familienpa-
ket, das der Bundestag berät, ist ein Signal der Wert-
schätzung und der Anerkennung für alle Familien in un-
serem Land, weil es die Mütter und Väter sind, die den
Wohlstand unseres Landes sichern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska

Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in
den letzten Tagen und Wochen immer wieder darüber
diskutiert, dass es in Deutschland zu wenige Kinder gibt.
Deutschland steht im europäischen Vergleich an letzter
Stelle. Nur 13 Prozent unserer Bevölkerung sind unter
18. Das ist eine traurige Zahl.

Herr Meister, Kinder zu haben, heißt nicht, zum
Sozialfall zu werden. Es sollte das Allernatürlichste der
Welt sein. Kinder sollten nicht nur mit den Stichworten
„Sozialfall“ oder „soziale Absicherung“ diskutiert wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Traurige ist, dass Kinder zu haben in Deutschland
ein Armutsrisiko ist. Das ist vielleicht einer der Gründe
für die niedrige Kinderzahl. Es wäre doch Ihre Aufgabe
als Große Koalition, das mit Kindern verbundene Ar-
mutsrisiko endlich zu beseitigen, also dafür zu sorgen,
dass Kinder zu haben in Deutschland das Natürlichste
der Welt ist und kein Armutsrisiko, sodass man durch
Kinder nicht zum Sozialfall werden kann. Für alle sollte
Teilhabe möglich sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit 2012 ist klar: Die Freibeträge, die für Kinder bei
der Steuererklärung geltend gemacht werden können,
decken das Existenzminimum nicht mehr ab, also den
Betrag, den man für Nahrung, Wohnen, Kleidung etc.
braucht. Drei Jahre später haben wir den Gesetzentwurf,
in dem eine Erhöhung vorgesehen ist, aber nicht rück-
wirkend für 2014; das wurde schon gesagt. Damit wer-
den eigentlich noch nicht einmal die Vorgaben des Ver-
fassungsgerichts umgesetzt, obwohl diese eigentlich
schon letztes Jahr hätten umgesetzt werden müssen. Die
Vorgaben werden mehr schlecht als recht umgesetzt. Sie
kommen ihrer Pflicht nach und machen nichts darüber
hinaus, und das, obwohl wir Kinderarmut haben, wovon
ich gerade schon gesprochen habe.

Wir geben in diesem gesamten Bereich in Deutsch-
land jährlich 200 Milliarden Euro aus. Das ist nicht we-
nig. Die Studie, die die letzte Regierung zur Evaluierung
in Auftrag gegeben hat, um herauszufinden, wie das
Geld ankommt, inwiefern das Geld hilft, hat ziemlich
eindeutig gezeigt: Wir brauchen große Reformen, wir
müssen gründlich nachdenken, weil sich die Leistungen
gegenseitig konterkarieren. Kinderbetreuung und Eltern-
geld tragen in familienwirtschaftlicher Hinsicht zur Sta-
bilisierung bei, doch das Ehegattensplitting steht dem
entgegen. Die Studie hat auch gezeigt, dass das Kinder-
geld allein nicht zur Kinderarmutsbekämpfung aus-
reicht. Dazu bedarf es eindeutig mehr. Deswegen muss
die Familienförderung endlich grundlegend gerechter
gestaltet werden: Erstens. Statt gut verdienenden Fami-
lien noch mehr zu geben und den geringer verdienenden
Familien nur das Nötigste, gilt es, jene zu stärken und zu
unterstützen, die mehr brauchen, um Teilhabe endlich ef-
fektiv zu garantieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens muss man – ich finde, das muss man im Zu-
sammenhang mit diesem Thema auch ansprechen –, statt
über das Ehegattensplitting pauschal die Ehe zu fördern,
endlich die Unterstützung an den Kindern festmachen
und nicht am Trauschein.





Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vorteil einer Großen Koalition ist doch, dass man
große Veränderungen angehen könnte; aber das passiert
leider nicht. Stattdessen gab es diesen Streit über die Al-
leinerziehenden. Das tat einem regelrecht leid: Das stand
schon im Koalitionsvertrag, und der Betrag, um den es
geht, wäre bezogen auf andere Haushalte kaum einer
Debatte wert, und trotzdem wurde extrem darum gerun-
gen. Man konnte sich fast fragen, warum Herr Schäuble
die Alleinerziehenden unbedingt nicht entlasten wollte,
was ihn da getrieben hat. Zum Glück wurde an dieser
Stelle der Koalitionsvertrag umgesetzt. Das Traurige ist
aber, Frau Schwesig, dass das Geld dafür aus Ihrem
Haushalt kommen soll.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das Unmögliche haben wir nicht verabredet!)


– Wenn das Verfassungsgericht etwas entscheidet, was
uns allen, glaube ich, gefallen würde, haben wir da viel-
leicht mehr Spielräume. – Die Frage ist: Warum muss
das Geld aus Ihrem Haushalt kommen, Frau Schwesig?
Warum muss, gerade wenn es um Kinder und Familien
geht, im Gegenzug bei Kindern und Familien gekürzt
werden? Ich finde, das ist nicht Ausdruck einer Politik,
die sich die Familienfreundlichkeit auf die Fahnen
schreibt, liebe CDU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] – Sönke Rix [SPD]: So ist es auch nicht verabredet!)


Die geplante Erhöhung des Kinderzuschlags finden
wir richtig. Wir glauben aber, dass man die Einkom-
mensgrenzen und Anrechnungsmodalitäten viel stärker
ändern müsste, damit endlich viel mehr Familien unab-
hängig von Sozialleistungen leben können. Da machen
Sie auch nichts. Die Erhöhung ist gut, aber Sie machen
nicht das wirklich Notwendige.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gab eine Ansage von Siegmar Gabriel: Das System
des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge sollte
grundlegend reformiert werden. Ich habe schriftlich
nachgefragt. Die Antwort war leider etwas erschütternd.
In der Antwort heißt es – ich zitiere –: Die Bundesregie-
rung hat weder über einen zeitlichen Rahmen noch über
die Ausgestaltung von verfassungsrechtlichen Änderun-
gen im Zusammenhang mit Kindergeld und Kinderfrei-
beträgen entschieden. – Diese Antwort macht deutlich,
dass da nicht so viel geplant ist, weder der Rahmen noch
die Ausgestaltung noch sonst was. Das heißt, von der
Großen Koalition können wir da nichts erwarten. Das ist
traurig. Hoffen wir, dass das Verfassungsgericht uns et-
was mehr Spielraum gibt.

Ansonsten: Fangen Sie nächstes Jahr eine grundle-
gende Debatte an! Deutschland, finde ich, und die Kin-
der, die in diesem Land leben, haben das verdient. Kin-
der sollten endlich willkommen geheißen sein und kein
Armutsrisiko mehr sein.
Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013600

Der Kollege Olav Gutting ist der nächste Redner für

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1810013700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute die Anhebung des steuerlichen Grund-
freibetrages und des Kinderfreibetrages für die Jahre
2015 und 2016. Manche meinen, wir wären damit zu
spät. Das ist aber nicht richtig; denn die Gesetzeswir-
kung erfolgt rückwirkend zum Beginn dieses Jahres, das
heißt, keinem wird für 2015 irgendetwas genommen.
Auch hier gilt wie immer: Gründlichkeit geht vor
Schnelligkeit.

Zur Förderung der Familien, bei denen sich der Kin-
derfreibetrag nicht auswirkt, werden wir das Kindergeld
in gleichem Verhältnis um zusammen 6 Euro pro Monat
erhöhen. Es gab im Vorfeld einige Diskussionen, ob eine
Erhöhung des Kindergeldes überhaupt angezeigt ist.
Denn es ist ja richtig, dass es keine verfassungsrechtli-
che, keine gesetzliche Verpflichtung dazu gibt, bei einer
Anhebung des Kinderfreibetrages und des Grundfreibe-
trages auch automatisch das Kindergeld zu erhöhen. Ich
halte es dennoch für wichtig und für richtig, einen
Gleichlauf beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld
zu wahren. Aktive und stringente Familienpolitik ist für
uns in der Union ein ganz wichtiger Eckpfeiler. Fami-
lienpolitik sollte auch kein Feld für ideologische Gra-
benkämpfe sein. Kindergeld ist gut, und es ist für viele
Familien eine ganz wichtige finanzielle Stütze.

Wundern muss ich mich ein bisschen über diejenigen,
die jetzt eine deutlichere Anhebung des Kindergeldes
und des Kinderfreibetrages fordern, die aber zu Beginn
der letzten Legislaturperiode, als wir hier mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz eine massive Erhö-
hung des Kindergeldes beschlossen haben, nämlich um
20 Euro pro Monat, dagegengestimmt haben,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau!)


dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz im Übrigen, das
dazu beigetragen hat, dass wir heute ohne Steuererhö-
hungen die Spielräume im Haushalt haben, um eine wei-
tere steuerliche Entlastung der Familien vorzunehmen,
ohne die schwarze Null zu gefährden.

Der aktuelle Entwurf fügt sich nahtlos in die familien-
freundliche Politik der unionsgeführten Bundesregie-
rung der letzten Jahre ein: massive finanzielle Unterstüt-
zung des Ausbaus der U3-Betreuung, Einführung eines
Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz, Elterngeld,
Elterngeld Plus, familienfreundlichere Arbeitsplätze und
das Betreuungsgeld. Wir stehen zur beitragsfreien Mit-
versicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflege-
versicherung, und wir halten auch am Ehegattensplitting





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

fest. Die CDU/CSU hat in den letzten Jahren eine umfas-
sende Förderung von Familien und Kindern etabliert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Gegensatz zu anderen wollen wir Familien nicht
gängeln. Wir schreiben Familien nicht vor, welches Fa-
milienmodell sie in welcher Lebensphase zu leben ha-
ben, sondern bieten ihnen Wahlmöglichkeiten. Jedes
Kind ist anders, und jede Familie hat unterschiedliche
Bedürfnisse. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages
und des Kindergeldes sowie der gleichzeitig vorgesehe-
nen Anhebung des Kinderzuschlags auf monatlich
160 Euro ab Mitte 2016 bleiben wir auf unserem famili-
enpolitischen Kurs.

Die Anhebung des Grundfreibetrages kommt vielen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute. Wir
müssen auch Folgendes bedenken: Mit jeder Anhebung
des Grundfreibetrages ohne eine gleichzeitige Verschie-
bung des Tarifverlaufs bekommen wir gerade in der un-
teren Progressionszone einen steileren Tarifverlauf. Eine
weitere Stauchung in diesem unteren Bereich belastet
gerade die niedrigeren Einkommen. Deswegen müssen
wir auch darüber reden, wie wir bei einer Anpassung
und bei der Anhebung des Grundfreibetrages auch den
nachfolgenden Tarifverlauf anpassen. Ich glaube, wir
sollten uns dem noch in dieser Legislaturperiode anneh-
men und dann auch das Problem der kalten Progression
angehen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das haben wir doch bisher schon immer! Die kalte Progression ist eine Schimäre!)


Ich freue mich jedenfalls auf die weiteren Beratungen zu
diesem Gesetzentwurf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810013800

Der Kollege Frank Junge spricht jetzt für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Frank Junge (SPD):
Rede ID: ID1810013900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gutting,
wenn Sie ins Feld führen, dass es immer noch Leute
gibt, die über die Höhe des Kindergeldes debattieren,
dann will ich Ihnen sagen, dass es Ihre eigenen Minister-
präsidenten sind. Bei uns ist dieses Thema insoweit
durch, als wir finden, dass wir hier ein recht ausgewoge-
nes Paket haben. Sie sollten Ihre eigenen Leute noch ein-
mal darauf ansprechen; das insofern vorweg.

Frau Brantner, wenn Sie mit Ihren Worten zum Aus-
druck bringen, dass die Alleinerziehenden eine wichtige
Zielgruppe sind, aber bemängeln, dass der Prozess, bis
wir zu einer Einigung gekommen sind, so lange gedauert
hat, dann können Sie sich ja jetzt mit uns freuen, weil
auch wir finden, das wir schon viel früher zu einer sol-
chen Einigung hätten kommen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Abzug von der Steuerschuld wäre schon noch besser gewesen!)


Meine Damen und Herren, es ist hier schon zur Spra-
che gekommen: Kluge Politik für Mütter und Väter sorgt
– Punkt Nummer eins – für eine familienfreundliche In-
frastruktur, unterstützt – Punkt Nummer zwei – die bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und trägt
– Punkt Nummer drei – zur finanziellen Förderung und
zur steuerlichen Entlastung von Eltern bei. Ich stelle dies
meinen Ausführungen auch deshalb voran, um deutlich
zu machen, dass wir nur in diesem Dreiklang, im Zusam-
menspiel dieser drei Säulen, gute Familienpolitik ma-
chen können und nicht etwa, indem wir lediglich an die
Erhöhung des Kindergeldes, des Kinderzuschlags, des
Freibetrags etc. denken. Nur im Dreiklang dieser Maß-
nahmen gelingt es uns, diese Zielgruppe entsprechend zu
betreuen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir einmal zurück, welche SPD-geprägten
Projekte diese Bundesregierung auf den Weg gebracht
hat. Die Kitas wurden bundesweit ausgebaut. Wir haben
das Elterngeld Plus auf den Weg gebracht. Wir haben In-
vestitionen in die frühkindliche Bildung unterstützt. Wir
haben den gesetzlichen Mindestlohn und die Familien-
pflegezeit auf den Weg gebracht.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: War das alles nur die SPD, ja?)


Ich denke, jeder kann sich einmal durch den Kopf gehen
lassen, inwieweit all das nachhaltige Maßnahmen sind,
die nicht nur, aber auch die Familien in unserem Land
unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt noch einmal zu Ihnen, Frau Dr. Brantner. Wenn
wir über ein drohendes Armutsrisiko bei Alleinerzie-
henden mit Kindern reden, dann sind genau die Maß-
nahmen, die wir hier beschlossen haben, geeignet, Er-
werbstätigkeit zu unterstützen und eine Absicherung
vorzunehmen, damit Familien nicht in diese Falle tap-
pen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir eröffnen heute
das parlamentarische Verfahren zu einem Gesetzent-
wurf, mit dem wir die Familien in unserem Land durch
ein Gesamtpaket – bestehend aus Grund- und Kinder-
freibetrag, Kinderzuschlag und Kindergeld – entlasten
wollen. Diese Maßnahmen dienen natürlich zunächst
einmal der verfassungsrechtlich gebotenen steuerlichen
Freistellung des Existenzminimums; das ist ganz klar.
Aber daneben nehmen wir auch Kindergelderhöhungen
in zwei Schritten vor. Wir unterstützen damit in nicht un-
erheblichem Maße natürlich auch die Familien. Zusätz-
lich werden wir den Kinderzuschlag anheben – auch das
ist hier schon zur Sprache gekommen –, wovon insbe-
sondere Familien mit geringem Einkommen profitieren.

Die 3,7 Milliarden Euro, die dieses Gesamtpaket kos-
tet, halte ich für von dieser Bundesregierung gut inves-





Frank Junge


(A) (C)



(D)(B)

tiertes Haushaltsgeld. Ich glaube, dass wir bereits mit
den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorhaben,
insbesondere die Alleinerziehenden als Zielgruppe in
den Blick zu nehmen und zu stärken, einen ganz wichti-
gen Schritt tun. Denn die 1,6 Millionen Alleinerziehen-
den, zu denen überwiegend Frauen gehören, haben im
Vergleich zu anderen Familien natürlich doppelt so viel
zu leisten, um mit ihrer Familie durchzukommen. Vor
diesem Hintergrund ist die Erhöhung des Freibetrags um
600 Euro aus meiner Sicht ein längst überfälliger Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Herr Meister, ich will Ihnen sagen: Klar, die Ziel-
gruppe ist recht klein. Aber angesichts der Last, die die
Alleinerziehenden, seitdem sie alleinerziehend sind, zu
schultern haben, und vor dem Hintergrund, dass der
Freibetrag seit 2004 nicht mehr angepasst worden ist,
sich aber die ganze Welt um sie herum weitergedreht hat,
ist das aus meiner Sicht ein längst überfälliger Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt einen weiteren Aspekt, der an dieser Stelle
eine Rolle spielt und untersetzt, warum der Schritt der
Bundesregierung, insbesondere Alleinerziehende in den
Fokus zu nehmen, richtig ist. 80 Prozent der Alleinerzie-
henden verfügen heute nämlich über ein Einkommen,
das geringer ist als das mittlere Einkommen von Fami-
lien. Wenn man sich vor Augen führt, dass Alleinerzie-
hende, wenn sie etwas mehr Geld verdienen, überpro-
portional höher besteuert werden, dann schließt sich für
mich der Kreis, wenn es um die Frage geht, warum hier
die dringende Notwendigkeit besteht, zu handeln.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die
Uhr komme ich zum Schluss. Für den nun vor uns lie-
genden Prozess des parlamentarischen Verfahrens ist der
SPD-Fraktion ein Punkt ganz besonders wichtig: dass
wir – nach meinem Dafürhalten unbedingt – rückwir-
kend für 2014 die Anhebung des Kinderfreibetrages und
des Kindergeldes einfordern müssen. Allein die Tatsa-
che, dass von einer entsprechenden Anhebung natürlich
die Familien in unserem Land profitieren, ist es wert, so
vorzugehen. Das ist aber längst nicht alles: Wenn wir in
anerkannter Weise die Steuerfreistellung der Existenzmi-
nima für 2015 und 2016 regeln, weil wir akzeptieren,
dass das verfassungsrechtlich geboten ist, dann ist es für
mich völlig unlogisch, wenn wir, obwohl in diesem Fall
die gleichen Gründe gelten, 2014 unter den Tisch fallen
lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns da-
mit verfassungsrechtlich angreifbar machen. Aus meiner
Sicht wäre es in hohem Maße peinlich, wenn uns ein Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts per Anordnung vor-
geben würde, was wir hier zu tun haben.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810014000

Herr Kollege Junge, Sie haben angekündigt, zum

Schluss zu kommen, was angesichts der Redezeit auch
richtig wäre.

Frank Junge (SPD):
Rede ID: ID1810014100

Als Gesetzgeber können wir das schließlich selbst in

die Hand nehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810014200

Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die

Kollegin Gudrun Zollner für die CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD])



Gudrun Zollner (CSU):
Rede ID: ID1810014300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste auf den

Tribünen! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
Familienpolitiker freuen uns natürlich immer, wenn der
Familienetat vonseiten der für den Haushalt zuständigen
Kolleginnen und Kolleginnen angehoben wird; denn Fa-
milienpolitik stand und steht bei der Unionsfraktion
schon immer ganz oben auf der Prioritätenliste.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Bereits im vergangenen Jahr wurde der Etat im Einzel-
plan 17 von 7,9 Milliarden auf 8,5 Milliarden Euro ange-
hoben. Für den kommenden Haushalt ist nochmals eine
Erhöhung, auf über 9 Milliarden Euro, geplant. Das
zeigt, wie wichtig uns die Familienförderung ist.

Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geplante
Erhöhung des Kinderfreibetrages, verbunden mit dem
Kindergeld und dem Kinderzuschlag, umfasst weitere
einzelne Schritte in diese Richtung. Umso wichtiger ist
es, dass endlich der Entlastungsbetrag für Alleinerzie-
hende in Angriff genommen wird; denn der steuerliche
Entlastungsbetrag wurde seit seiner Einführung zum
1. Januar 2004, seit über elf Jahren, nicht mehr erhöht.
Zum Vergleich: Der Kinderfreibetrag und das Kinder-
geld wurden seit 2004 um rund 23 Prozent erhöht.

Es freut mich daher sehr, dass sich die geschäftsfüh-
renden Vorstände der Koalitionsfraktionen in der
vergangenen Woche auf eine bessere Entlastung für
Einelternfamilien geeinigt haben und dies nun in die par-
lamentarische Beratung eingebracht wird. Sie haben eine
Anhebung um gut 46 Prozent vereinbart, und zwar rück-
wirkend: Ab 1. Januar 2015 soll der Entlastungsbetrag
für Alleinerziehende somit 1 908 Euro betragen. Die
Neuerung, dass der Entlastungsbetrag für jedes weitere
Kind um 240 Euro steigen soll, begrüße ich ebenfalls
sehr.

In Deutschland leben 1,6 Millionen Einelternfamilien
mit circa 2,2 Millionen minderjährigen Kindern. Diese
Mütter oder Väter sind zum großen Teil erwerbstätig:
70 Prozent gehen einer geregelten Arbeit nach, 45 Pro-
zent in Vollzeit. Das heißt, dieser Entlastungsbetrag in
der Steuerklasse II kommt direkt bei den Alleinerziehen-
den an.





Gudrun Zollner


(A) (C)



(D)(B)

An dieser Stelle möchte ich dem haushaltpolitischen
Berichterstatter der Union für den Familienetat, dem
Kollegen Alois Rainer, ganz herzlich danken. Wir hatten
viele bayerische Gespräche zum Thema Alleinerzie-
hende, und er hat immer Unterstützung signalisiert.

Sehr geehrte Damen und Herren, im Mittelpunkt
unserer Familienpolitik stehen die Wünsche von Eltern
und die Bedürfnisse von Kindern. Aber wir alle kennen
das Sprichwort „Geld allein macht nicht glücklich“. Nur
mit finanzieller Förderung werden wir keinen neuen
Babyboom auslösen. Wir brauchen ein gesellschaftliches
Umdenken, eine Willkommenskultur für Kinder; denn
Kinder sind keine lärmenden Quälgeister, sondern Kin-
der sind unsere Zukunft. Damit sich Frauen und Männer
für ein Kind entscheiden, sind eine familienfreundliche
Infrastruktur und bessere Regelungen zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf nötig. Eltern wählen den Standort
ihres neuen Eigenheims oder ihrer Wohnung nach Fakto-
ren wie der Nähe zum Kinderspielplatz oder dem Schul-
angebot. Ganz wichtig ist natürlich ein Platz in einer na-
hegelegenen Kita.

Zur Willkommenskultur gehört aber auch, dass sich
die Wirtschaft auf sich verändernde Familienmodelle
besser einstellt. Frauen entscheiden sich seltener für ein
Kind, wenn ihr Arbeitsverhältnis befristet ist. Firmen
werden keine Fachleute halten können, wenn ihre Mitar-
beiter zwischen Job und Familie wählen müssen und
sich letztendlich für die Familie entscheiden; denn auch
Väter wünschen sich mehr Zeit für ihre Familie und ihre
Kinder.

Zeit für Familie, darauf müssen wir unser künftiges
Hauptaugenmerk legen; denn viel zu schnell vergeht die
Zeit, und plötzlich sind die Kinder erwachsen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, jede Mutter und
jeder Vater unter Ihnen wird mir beipflichten, wenn ich
behaupte: Was gibt es Schöneres, als die ersten Worte
seines Kindes zu hören? Wie stolz ist jeder von uns, die
ersten Schritte miterleben zu dürfen? Für diese erste Zeit
des Miterlebens haben wir das Betreuungsgeld einge-
führt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810014400

Vielen Dank, Frau Kollegin Zollner. – Damit schließe

ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4649 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
sehe ich weder andere Vorschläge noch einen Wider-
spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krieg in Afghanistan – Eine Bilanz
Drucksachen 18/2144, 18/4168
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dagegen er-
hebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Fraktion
Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810014500

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Es ist eine ordentliche Fleißarbeit
der Bundesregierung, auf unsere 186 Fragen geantwortet
zu haben.


(Beifall bei der SPD – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nicht immer so!)


Den Fleiß bestätige ich Ihnen, der Inhalt hält mit dem
Fleiß aber nicht mit. Was von der Bundesregierung gar
nicht erst versucht wird, ist, eine Wertung vorzunehmen.
Die Bevölkerung unseres Landes hat das Recht, nach
14 Jahren Krieg eine eindeutige Wertung der Bundesre-
gierung zu erfahren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag
für einen Satz, mit dem man die Wertungen zusammen-
fassen könnte. Er würde lauten: Die deutsche Kriegsbe-
teiligung war ein grundlegender Fehler, und die Konse-
quenz, die wir daraus ziehen, heißt: Nie wieder! – Ich
möchte, dass das hier im Bundestag festgeschrieben
wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann, wenn man sich die einzelnen Punkte
anschaut, sehr deutlich sehen, welche Probleme mit die-
sem Krieg aufgeworfen – nicht gelöst, sondern aufge-
worfen – worden sind. Das erste Problem ist, dass man
sich davor drückt, eindeutig zu sagen, dass auch die
deutsche Kriegsbeteiligung der jeweiligen Regierungen
in unterschiedlichen Farbzusammenstellungen – was
nicht so erheblich ist – dazu beigetragen hat, dass Men-
schen in Afghanistan ihr Leben verloren haben. Sie
haben nicht Leben gerettet. Sie haben in Afghanistan Le-
ben vernichtet. Das muss man mit aller Deutlichkeit aus-
sprechen. 70 000 Menschen sind seit 2001 im Zuge die-
ses Krieges umgekommen. Das ist eine furchtbare
Katastrophe, eine furchtbare Bilanz. Davor, das zur
Kenntnis zu nehmen, kann man sich nicht drücken.

Wenn das so ist, müsste eine Regierung doch einmal
einen Gedanken darauf verschwenden, wie Schuld, die
man auf sich geladen hat, abgetragen werden kann. Ich
finde, dieser Bundestag muss darüber nachdenken,
Schuld abzutragen, und nicht neue Schuld aufhäufen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Zweite ist, nachzuprüfen, wie viel Geld in diesem
Krieg falsch eingesetzt worden ist. Geld für Krieg ist im-
mer falsch. Insgesamt sind mindestens 11 Milliarden
Euro – das wird dann mit „einsatzbedingten Ausgaben
für ISAF und OEF“ beschrieben – eingesetzt worden.
Dabei habe ich noch gar nicht das Geld hineingerechnet,
das zusätzlich für Rüstung ausgegeben worden ist. Was





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

hätte man mit 11 Milliarden Euro an Not, Elend und
Unterentwicklung in solchen Ländern korrigieren kön-
nen, wenn sie von Anfang an sinnvoll eingesetzt worden
wären? Das wäre die Aufgabe gewesen. Das war die
Chance, die man da gehabt hat. Das ist aber nicht pas-
siert.


(Beifall bei der LINKEN)


Es schmerzt ungeheuer, dass auch heute überhaupt
keine Ideen für politische Lösungen präsentiert werden.
Wenn man die afghanische Entwicklung wirklich in ei-
ner vernünftigen Art und Weise vorantreiben will, dann
erreicht man das nicht, ohne dass der Iran und China in
die Lösung eingebunden werden. Das liegt doch auf der
Hand. Was kommt? Nichts! Was tut die Politik? Fehlan-
zeige! Bei den Militärausgaben hat diese Bundesregie-
rung dagegen immer offene Taschen. Das finde ich
falsch.


(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das glaubt er selbst nicht!)


Ich glaube, zur Bilanz gehört auch, dass das Völker-
recht vielfach gebrochen worden ist. Es hätte immer an-
dere Chancen gegeben.


(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Da kennst du dich aber aus!)


Das Völkerrecht bietet genügend Möglichkeiten, einen
Krieg bzw. Angriff abzuwehren. Die Verantwortung
muss dann aber auch auf die Vereinten Nationen überge-
hen und darf nicht von einer Koalition der Willigen oder
Unwilligen eigensüchtig in Anspruch genommen wer-
den.

Das Völkerrecht ist auch mit deutscher Beteiligung
gebrochen worden. Ich will dazusagen: Auch Deutsch-
land ist an gezielten Tötungen in Afghanistan beteiligt.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist aber ein großes Kaliber!)


– Davor können Sie sich nicht drücken. Das ist doch so! –
Meine Kollegen, die hin und wieder im Verteidigungs-
ministerium dabei waren, haben doch die Bilder gese-
hen. Durch die Benennung von Menschen mit Namen
auf diesen Listen – das war Ministerangelegenheit – sind
Menschen gezielten Tötungen ausgeliefert worden. Ich
finde es eine furchtbare Katastrophe, dass wir dem, was
wir vorgeben, bekämpfen zu wollen, mit diesem Krieg
immer ähnlicher geworden sind. Das ist der Preis eines
Krieges, und man muss raus aus dieser Spirale.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte auch festgehalten wissen – auch das ge-
hört ja zur Bilanz –, dass Deutschland in diesen Krieg hi-
neingelogen und der deutschen Bevölkerung zu keinem
Zeitpunkt die Wahrheit gesagt worden ist. Die Losung,
dass in Afghanistan auch die deutsche Sicherheit vertei-
digt wird, hat viele Menschen getäuscht. In Afghanistan
ist nicht die Sicherheit Deutschlands oder Europas ver-
teidigt worden, sondern in Afghanistan haben wir Krieg
geführt, und Krieg schlägt irgendwann immer zurück.
Das erleben wir doch dieser Tage. Auch hier ist aus
meiner Sicht also ein „Nie wieder!“ notwendig. Es ist
unbedingt erforderlich, Deutschland nie mehr in Kriege
hineinzulügen.

Da wir gerade beim Lügen sind: Es ist auch eine
Lüge, dass der deutsche Militäreinsatz in Afghanistan
beendet wird. Sie lassen Bundeswehrsoldaten in Afgha-
nistan, auch die USA lassen ein großes Kontingent in
Afghanistan. Sie können tausendmal sagen, dass sie aus-
bilden sollen. Sie werden als Besatzer wahrgenommen,
und solange Besatzer in Afghanistan sind, wird es kei-
nen Frieden in Afghanistan geben. Deswegen muss man
die Bundeswehr jetzt komplett abziehen, um ein Beispiel
dafür zu geben, dass dieser Krieg nach 14 Jahren endlich
beendet wird.

Das ist meine Konsequenz aus der fleißigen Arbeit,
auf 186 Fragen Antworten zu geben. Das ist eine politi-
sche Konsequenz, und vor dieser Konsequenz können
Sie sich nicht drücken, weil sie in der deutschen Bevöl-
kerung mehrheitsfähig ist. Ich sage Ihnen: Es ist sehr
schön, dass man in unserem Lande mittlerweile mit Frie-
den und nicht mit Kriegsbeteiligungen Wahlen gewinnen
kann. Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810014600

Als nächster Redner hat der Kollege Roderich

Kiesewetter das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1810014700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lachende
Kinder, selbstbewusste Frauen, dampfende Maschinen:
Das ist das Bild, das sich mir heute bietet, wenn ich
durch Kabul, Kandahar oder Masar-i-Scharif gehe. Wie
war das vor acht Jahren, als ich das erste Mal in Afgha-
nistan war? Angst, Gefahr, bedrückte Gesichter, leere
Straßen oder Straßen voll von Militär. Lieber Herr Kol-
lege Gehrcke, mit Ihren Fragen – 186 an der Zahl – ha-
ben Sie eine Fleißarbeit gemacht, aber einige wesentli-
che Fragen nicht gestellt: Wie ist es zu diesen
Fortschritten gekommen? Und vor allen Dingen: Wie ist
es passiert, dass Afghanistan in diese Katastrophe ge-
rutscht ist? Dazu stellen Sie noch nicht einmal eine
Frage.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Land
wie Afghanistan mit 54 verschiedenen Volksgruppen
und Stämmen, mit 45 verschiedenen Dialekten und
Sprachen, ist nicht mit einem Land Europas oder einem
Land auf dem amerikanischen Kontinent zu vergleichen.
Es ist ein Land, das 1973 die Monarchie abgeschafft hat,
das 1978 eine Diktatur weggeputscht hat, das 1992 die
Kommunisten beseitigt hat und viele Jahre sowjetischer
Besetzung hinter sich hatte, das 1996 die Mudschahed-
din abgelöst hat und schließlich 2001 die Taliban. Kei-
nes dieser Systeme hat Afghanistan auch nur in Ansät-
zen stabilisiert.





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

Wenn wir uns an den 11. September erinnern und an
die wirklich schwierigen Beschlüsse und Diskussionen
damals im Bundestag – ich weiß nicht, ob Sie die Debat-
ten nachgelesen haben, als Sie Ihre Fragen gestellt haben –,
dann wird uns deutlich: Hier muss sich die internationale
Gemeinschaft engagieren. Sie hat es getan. Bei einem
Vergleich der Lage in den Jahren 2006/2007 mit der von
heute wird klar: Es gibt erhebliche Fortschritte.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810014800

Herr Kiesewetter, lassen Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Buchholz zu?


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1810014900

Selbstverständlich.


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810015000

Vielen Dank, Herr Kiesewetter. – Sie beschrieben zu

Beginn Ihrer Rede quasi blühende Landschaften in
Afghanistan. Wie passt das mit der Tatsache zusammen,
dass die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle steigt?
Das ist auch in der Antwort auf unsere Anfrage genannt,
die Details sind leider nicht öffentlich.

Wir müssen auch feststellen, dass seit Oktober 2013
die genaue Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle
von der Bundesregierung nicht mehr frei veröffentlicht
wird. Wie sehen Sie das? Wie sehen Sie auch den An-
stieg an zivilen Toten? Wie passt das mit dem Bild zu-
sammen, das Sie am Anfang Ihrer Rede gezeichnet ha-
ben?


(Beifall bei der LINKEN)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1810015100

Das Bild, das ich zeichne, ist das Bild eines Landes

im Umbruch. Kinder, die Schulen besuchen, Frauen, die
selbstbewusst zur Arbeit gehen, dampfende Maschinen,
die zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes beitra-
gen: 80 Prozent des Landes Afghanistan sind stabil. Ein
Land, das über 40 Jahre – wenn Sie mir zugehört haben,
wissen Sie das –, nämlich 42 Jahre lang, geschunden
wurde, zwei Generationen lang, ist nicht über Nacht zu
einer Demokratie westlicher Stabilität zu machen.

Was Sie mit Ihrem Ansatz verkennen, ist, dass es sich
bei Afghanistan um ein fragiles Land handelt; ein Land
– das muss man sehr deutlich machen –, das längst noch
nicht den Standard von beispielsweise Bangladesch oder
Ghana erreicht hat. Auch Ghana und Bangladesch sind
fragile Staaten, aber diese bringen sich bereits in der in-
ternationalen Gemeinschaft, bei den Vereinten Nationen,
ein. Sie geben etwas von dem zurück, was ihnen die in-
ternationale Gemeinschaft gegeben hat.

Afghanistan selbst – das ist das Chaos, das Sie be-
schreiben – ist ein Land, das dank der internationalen
Hilfe zur Stabilität zurückgefunden hat. Sie aber reden
es schlecht. Zu der schonungslosen Bilanz, die Sie for-
dern, gehört genauso schonungslos die Frage: Was hat
Afghanistan ins Chaos gestürzt? Das verkennen Sie. Das
habe ich versucht herauszuarbeiten. Das ist der ganz ent-
scheidende Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt na-
türlich auch Punkte, bei denen wir selbstkritisch nachfra-
gen müssen: Wo müssen wir besser werden? Hier waren
am Anfang die Ziele und Erwartungen mit Blick auf
Afghanistan unendlich, die eigenen Mittel, die eigene
Bereitschaft, sich einzubringen, äußerst begrenzt:
hinsichtlich der Bereitschaft von Nichtregierungsorgani-
sationen, sich dort zu etablieren, hinsichtlich der Be-
reitschaft bestimmter Staaten, sich bei der Polizeiausbil-
dung zu engagieren – da haben wir Deutschen eine
schwierige Lektion gelernt –, und hinsichtlich der Be-
reitschaft, die Wirklichkeit anzuerkennen.

Überlegen wir doch selbst, wie wir Anfang des letzten
Jahrzehnts unserer Öffentlichkeit den notwendigen Bei-
trag eines Engagements nahegebracht haben. Wir haben
gesagt: Wir helfen beim friedlichen Wiederaufbau. Wir
haben Jahre gebraucht, bis uns klar war, dass dieses
Land aus kulturellen, aus politischen, aus historischen
Gründen nicht ohne Weiteres in einen friedlichen Wie-
deraufbau zu bringen ist.

Herr Gehrcke, Sie haben aus meiner Sicht einen gra-
vierenden Fehler gemacht: Mit Geld allein, Stichwort
11 Milliarden Euro, bewegen Sie in Afghanistan über-
haupt nichts.

Es gehört, glaube ich, inzwischen zu den Grunder-
kenntnissen unseres Parlaments, dass zu Entwicklung
Sicherheit gehört. Ein Mindestmaß an Sicherheit ist
Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade dass wir die Mission ISAF
beenden konnten und sie in eine Unterstützungsmission
überführt haben, zeigt, dass die internationale Gemein-
schaft in Afghanistan eine Grundstabilität erreicht hat.

2011 haben wir – Frau Hänsel war damals auch dabei –
in Bonn die zweite Petersberger Konferenz miterlebt.
Auf dieser Konferenz wurde eine Zwischenbilanz gezo-
gen. Dabei war klar: Afghanistan hat noch einen sehr
weiten Weg vor sich. Unser Ziel war, Afghanistan bis
zum Jahr 2024 zu einem Entwicklungsland wie Ghana
oder Bangladesch werden zu lassen. Das ist eine schwie-
rige Aufgabe. Wir gehen diesen Weg durch eine ver-
stärkte internationale Kooperation, Energiepartnerschaf-
ten und die Einbindung von Initiativen wie „Neue
Seidenstraße“ oder „Heart of Asia“. Wir gehen ihn auch
dank Botschafter Koch und Botschafter Steiner, denen es
gelungen ist, eine große Kontaktgruppe von Staaten ein-
zubeziehen. Denn es geht auch um die Nachbarn: ohne
Iran kein Kümmern um Flüchtlinge, ohne Pakistan kein
Grenzschutz.

Wir haben uns, glaube ich, damals zu sehr um Afgha-
nistan und zu wenig um die Nachbarstaaten gekümmert.


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, das sind die wahren Lektio-
nen, die wir gelernt haben.

Vor anderthalb Stunden hat unser Wehrbeauftragter,
der noch anwesend ist, in diesem Saal seine letzte Rede
als Wehrbeauftragter gehalten. Ihm und seinen Vorgän-





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

gern ist es zu verdanken, dass die Bundeswehr in Afgha-
nistan realistischer geworden ist und dass unsere Politik
eine bessere Beratung bekommen hat, was militärisch,
politisch, sozial und wirtschaftlich in Afghanistan über-
haupt geleistet werden kann. Lassen Sie mich an dieser
Stelle unserem Wehrbeauftragten für sein hohes persön-
liches Engagement, aber auch für das seiner Vorgänger
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie geht es
weiter? Es ist nichts schönzureden; aber dass in Afgha-
nistan Frauen selbstbewusst zur Arbeit gehen können,
dass es dort statt 100 000 Schülern nunmehr 7 Millionen
Schülerinnen und Schüler gibt und dass sich unter-
schiedliche Regionen besser entwickeln, als wir es je ge-
dacht haben, ist ein Verdienst der internationalen Ge-
meinschaft.

Unsere Lehre ist, dass wir nie mehr blauäugig und
ohne die notwendigen Mittel in solche Einsätze gehen.
Das müssen wir uns selbst ins Stammbuch schreiben.

Lassen Sie uns gemeinsam für die Zukunft Afghanis-
tans arbeiten. Im Jahr 1915 haben die ersten diploma-
tischen Kontakte stattgefunden. Wir sind eines der we-
nigen Länder, zu denen Afghanistan über drei
Generationen hinweg seit 100 Jahren Vertrauen aufge-
baut hat. Lassen Sie uns dieses Vertrauen auch in den
nächsten Jahrzehnten fortsetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810015200

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Omid

Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810015300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir sprechen heute über den Afghanistan-Einsatz
und die Lehren, die wir daraus ziehen sollten. In einem
sind wir uns sicherlich einig: Dieser Einsatz hat nicht nur
die Bundeswehr, sondern auch die Bundesrepublik
Deutschland tiefgreifend verändert. Es ist der teuerste
und aufwendigste Einsatz in der Geschichte der Bundes-
wehr.

Wir schulden die Aufarbeitung nicht nur denjenigen,
die in Zivil oder in Uniform in Afghanistan gearbeitet
und geholfen haben, den Tausenden und Abertausenden
von Menschen, die dort unter schwierigsten Bedingun-
gen gearbeitet haben und ihren Familien sehr viel zuge-
mutet haben, die vor allem aber auch sehr viele Opfer
gebracht haben, manche von ihnen sogar ihr Leben ge-
geben haben.

Die kritische außenpolitische Debatte in Deutschland
muss die Gesellschaft aber aushalten, gerade auch, wenn
von vornherein gesagt wird, dass Deutschland mehr Ver-
antwortung in der Welt übernehmen will. Denn wenn wir
daraus nichts lernen, dann werden wir auch nichts richtig
machen.

Die Debatte, aber vor allem auch die Große Anfrage
und die Antworten der Bundesregierung darauf zeigen,
woran die Debatte bisher auch ein wenig krankt. Die
Linke stellt eine Anfrage, für die ich allein schon deswe-
gen sehr dankbar bin, weil wir heute darüber diskutieren
können. Aber sie verfolgt damit sehr klar den fast rituel-
len Vorsatz, festzustellen, dass in Afghanistan alles
schlechter ist als vor dem Einsatz. Auf der anderen Seite
antwortet die Bundesregierung, wiederum rituell, so, als
wäre alles ein riesengroßer Erfolg. Beides wird dem
Ernst der Lage vor Ort leider nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man kann ewig weiter darüber streiten: Sind
555 Schulen genug? Sind 855 Kilometer Straßen genug?
Ist es ausreichend, dass Afghanistan jetzt auf Platz 175
des Entwicklungsindexes der Vereinten Nationen von
187 Staaten ist? Das sind aber genau die Diskussionen,
die uns nicht weiterbringen, die uns vielmehr dazu ver-
leiten, dass wir an den zentralen Lehren vorbeireden.

Ich will zwei dieser Lehren, die aus meiner Sicht sehr
deutlich sind, benennen. Die erste Lehre ist: Wir haben
in Afghanistan von vornherein auf lokale Machthaber
und ihre Milizen vertraut, anstatt dass wir Governance
aufgebaut haben. Wir haben viel zu spät mit dem Staats-
aufbau angefangen und viel zu oft die Geister gerufen,
die wir später nicht mehr in die Flasche zurückstecken
konnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nicht nur für Afghanistan relevant. Das ist
auch deswegen relevant, weil exakt dasselbe uns weiter-
hin droht. Das ist exakt dieselbe Lehre, die man von
Mali bis zum Irak ziehen kann und sollte, damit man es
beim nächsten Mal anders macht.

In der Anfrage beantwortet die Bundesregierung die
Fragen zur Rolle der Milizen zum Beispiel mit den Wor-
ten, es gebe keine belastbaren Aussagen über deren Ge-
samtumfang. Es heißt:

Die Bundeswehr arbeitet grundsätzlich nicht mit
Milizen zusammen.

Das Letzte ist formal sicher richtig. Ich glaube aber
nicht, dass das, wenn man den Ernst des Problems kennt,
eine seriöse Auseinandersetzung mit der Situation und
der Problematik der Milizen in Afghanistan ist.

Die zweite Lehre ist, dass es eine unglaublich große
Schieflage zwischen militärischem und zivilem Engage-
ment gibt. Es wurden 9,8 Milliarden Euro für Militär
ausgegeben, 3,4 Milliarden Euro für zivile Projekte. Wir
haben nicht wegen zu geringer Ausgaben für das Militär
vieles nicht erreicht, sondern wir haben vor allem wegen
zu wenig zivilen Engagements dort vieles nicht erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man bedenkt, dass Deutschland einmal Füh-
rungsnation beim Polizeiaufbau war – ich bin für jeden
einzelnen Polizisten und für jede einzelne Polizistin, der





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

bzw. die freiwillig vor Ort war, wirklich dankbar; sie ha-
ben eine wirklich hervorragende Arbeit geleistet –, und
wenn man bedenkt, dass wir heute nur 14 einzelne Poli-
zisten im Norden von Afghanistan im Einsatz haben,
dann sieht man, wie wenig ernst das leider genommen
worden ist.

Wenn man bedenkt, dass die Taliban auch von der
Bundesregierung nicht zu Treffen eingeladen worden
sind, um zu politischen Lösungsansätzen beizutragen,
dann sieht man, woran es mangelt. Um noch ein klassi-
sches ziviles Beispiel zu nennen: Wir reden über ein
Land, das traditionell in erster Linie von der Agrarwirt-
schaft lebt. Es ist einfach viel zu wenig für die ökonomi-
sche Entwicklung in der Landwirtschaft getan worden.
Es gab immer Führungsnationen für den Aufbau der
Polizei oder für den militärischen Aufbau, aber es gab
nie eine klare Verantwortung für die Entwicklung der
landwirtschaftlichen Strukturen in diesem Land. Das war
ein riesengroßer Fehler.

Es ist klar, dass man mehr Zeit braucht und wir mehr
politische Geduld brauchen, um die Situation in Afgha-
nistan zu verbessern. Aber es reicht nicht, einfach nur
Demut vorzutäuschen, sondern man muss wirklich ernst-
haft lernen. Wenn man sich die Lustlosigkeit der Bun-
desregierung, die sich in den Antworten widerspiegelt,
anschaut, dann stellt man einfach fest, dass keine große
Bereitschaft vorhanden ist.

Wenn auf die Frage der Linken, wie stark denn die
Aufständischen im Norden seien, die Antwort gegeben
wird, es lägen darüber keine belastbaren Angaben vor,
dann kann ich nur hoffen, dass das nicht richtig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn auf die Frage nach der Entwicklung der Er-
werbstätigkeit von Frauen ganz viele Projekte aufgezählt
werden, aber nicht einmal erklärt wird, ob diese denn
greifen und was diese wirklich für die Erwerbsquote der
Frauen in Afghanistan bedeuten, dann hat das mit mehr
Verantwortung nichts zu tun. Man will nicht eingeste-
hen, dass man möglicherweise Fehler gemacht hat. Da
kann ich nur sagen: Schauen Sie sich die Amerikaner an,
schauen Sie sich die Holländer an! Die Art und Weise,
wie sie gerade im zivilen Bereich die Evaluation durch-
führen, ist vorbildlich. Dagegen sind wir ganz schlecht.

Unter dem Strich würde ich sagen: Die Linke hat am
Anfang der Großen Anfrage Kriterien für die Bewertung
genannt. Das sind politische Kriterien, die ihre Vorstel-
lung der Dinge widerspiegeln. Ich teile die Haltung der
Linken nicht. Ich komme nicht zu dem Ergebnis, dass al-
les schlecht ist. Man muss sagen, dass es einen Fort-
schritt gibt, allein deshalb, weil deutlich mehr Menschen
in Afghanistan besser leben und unter friedlicheren Be-
dingungen leben können, als es vor dem Einsatz der Fall
war. Aber gleichzeitig muss man auch sagen: Für all die
Opfer, die gebracht worden sind, für all das, was aufge-
wendet worden ist, ist das, was erreicht worden ist, ein-
fach zu wenig.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810015400

Als nächster Redner hat Dr. Hans-Peter Bartels von

der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1810015500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach 4 756 Tagen ist am 31. Dezember 2014 die ISAF-
Mission in Afghanistan zu Ende gegangen. Das ist noch
nicht das Ende des Engagements der internationalen Ge-
meinschaft, auch nicht das Ende des militärischen En-
gagements. Wir haben eine Nachfolgemission, Resolute
Support, die noch eine Weile im Land sein wird.

Insofern geht es hier heute nicht um eine Bilanz, son-
dern um eine Zwischenbilanz. Aber es ist gut, dass wir
uns als Bundestag mit diesem Thema beschäftigen. Das
tun wir aber nicht zum ersten Mal, sondern das tun wir
natürlich auch anhand der Fortschrittsberichte der Bun-
desregierung. Das tun wir anhand von Studien, die uns
wissenschaftliche Institutionen vorlegen.

Ich hatte heute die Gelegenheit, ein Buch vorzustel-
len, das von der Bundeszentrale für politische Bildung
herausgegeben worden ist. Autoren dieses Buches sind
General Rainer Glatz und Rolf Tophoven. Glatz war
lange Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der
Bundeswehr und hat unmittelbar nach seiner Pensionie-
rung angefangen, Bilanz zu ziehen. Das ist vorbildlich.
Das ist genau das, was wir wollen: dass diejenigen, die
zuständig waren, diejenigen, die Erfahrungen haben,
diese Erfahrungen auch vermitteln und auswerten, so-
dass wir wieder damit arbeiten können. Auch das ist ein
Stück Zwischenbilanz.

Was wir irgendwann einmal brauchen, ist die wissen-
schaftliche Aufarbeitung im Auftrag der Bundesregie-
rung oder des Bundestages, die übrigens unsere Fraktion
einmal 2010 gefordert hat. Aber das Ganze ist ja auch
noch nicht zu Ende. Wir wollen, dass wir aus dem Aus-
landseinsatz in Afghanistan wie aus anderen Einsätzen
lernen. Aber dies ist ein besonders langer Einsatz. Ich
glaube, es gibt einige Lessons learned, über die man
heute hier schon reden kann.

Ich will drei Stichworte sagen:

Erstens: die Internationalität. In Deutschland glauben
wir gelegentlich, dass an einzelnen Entscheidungen, die
unsere Bundesregierung dem Bundestag zum Beschluss
vorlegt, das Wohl und Wehe Afghanistans hänge. Reali-
tät ist: Wir waren bei ISAF eine von 50 truppenstellen-
den Nationen. Als die USA 100 000 Soldaten im Land
stationiert hatten, waren es seitens der Bundeswehr
5 000. Wir entscheiden dort nichts allein.

Zweitens. Es gab viele, vielleicht zu viele Akteure, zu
viele Strategien und zu wenig Koordination. Eine Lek-
tion für künftige Stabilisierungseinsätze könnte lauten:
Wir brauchen eine Art ziviler Hochkommissar mit um-
fassenden Kompetenzen.





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Es ist in Afghanistan zu viel Zeit ungenutzt
verstrichen, gerade zu Beginn; da stimme ich dem Kolle-
gen Nouripour zu. Bei Stabilisierungsmissionen muss
am Anfang die militärische Komponente besonders stark
sein. Die zivile Hilfe braucht dann deutlich mehr Vor-
lauf, bis sie sich positiv auswirken kann.

Wir haben erlebt, wie sich über mehr als ein Jahrzehnt
die Bundeswehr verändert hat. Über die Zeit haben gut
100 000 Deutsche als Soldatinnen und Soldaten in unse-
ren Einsatzkontingenten für Afghanistan Dienst getan.
Sie stützen sich auf eine andere Ausbildung und bringen
andere Erfahrungen mit nach Hause, als es sie in der
alten Bundeswehr gab, auch komplexe Gefechtserfah-
rungen. Die Ausrüstung hat sich – Stichwort „einsatzbe-
dingter Sofortbedarf“ – radikal verändert. Das neue Ge-
rät heißt zum Beispiel Dingo, Fennek, Boxer, Eagle,
Enok, Heron, Tiger und NH90. Das alles gab es schon
im Einsatz, bevor die Ausbildung damit zu Hause richtig
beginnen konnte – einerseits gut, andererseits schlecht.

In Deutschland, aber wohl auch in den USA und in
der NATO sind wir uns überwiegend einig darüber, dass
Afghanistan kein Modell, keine Blaupause für andere
Missionen sein kann. Jede Krise ist anders, und in dieser
Krise haben wir, das heißt die internationale Gemein-
schaft, viel Lehrgeld gezahlt. Damit das nicht verloren
ist, müssen wir dann aber auch die entsprechenden Leh-
ren daraus ziehen und annehmen.

Suzana Lipovac, die das erste zivil-militärische Pro-
jekt im Kosovo betreute und seit Anbeginn für die Orga-
nisation Kinderberg in Afghanistan engagiert ist, formu-
liert ihr Fazit so:

Die zukünftigen Auslandseinsätze der Bundeswehr,
auch unter einem robusten UN-Mandat, können nur
dann gesellschaftlich akzeptiert werden, wenn sie
zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebens-
situation der Zivilgesellschaft und der Sicherheits-
lage im Einsatzland, der Region und auch der Welt
führen. Das ist nur durch die Kooperation aller di-
plomatischen, entwicklungspolitischen, zivilgesell-
schaftlichen, polizeilichen und militärischen Ak-
teure erreichbar. Hier bestehen das größte Defizit
und gleichzeitig das stärkste Verbesserungspoten-
zial. Als Hilfsorganisation versuchen wir zwar, mit-
tels der Projekte präventiv gegen die Ursachen von
gewalttätigen Konflikten vorzugehen, aber man er-
kennt leidvoll, dass man keinen Menschen oder gar
sich selbst vor radikalisierter bewaffneter Gewalt
bewahren kann. Als Zivilist ist man nicht in der
Lage, einer terrorisierten Bevölkerung das zu ge-
ben, was sie als das Dringendste im Wesentlichen
benennt: Sicherheit.

Dafür brauchen wir den Einsatz von Soldaten, und zwar
so lange, wie er erforderlich ist.

Ein langer Atem, strategische Geduld – das muss
auch für das internationale Engagement in Afghanistan
gelten. Der Irak und Libyen sind da keine Vorbilder. Ziel
bleibt immer, dass es ohne fremde Soldaten geht. Für so
eine Zukunft, für diese Vision haben Soldaten, Entwick-
lungshelfer, Polizisten, Diplomaten, auch Journalisten
aus vielen Ländern Opfer gebracht. Sie dürfen nicht um-
sonst gewesen sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810015600

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Julia

Obermeier von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1810015700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Deutschland und Afghanistan verbindet eine
lange Freundschaft. Vor 100 Jahren begann die Nieder-
mayer-Mission. Deutschland hat über viele Jahrzehnte
den Kontakt zu den Stämmen am Hindukusch gehalten.
Ich erinnere nur an die 1924 in Kabul gegründete
Amani-Oberrealschule. Diese langjährige Tradition der
Entwicklungszusammenarbeit haben wir seit 2001 wie-
der verstärkt. Ich finde es wirklich bedauerlich, Herr
Gehrcke, wie Sie die Leistungen unserer zivilen Ent-
wicklungshelfer und Soldaten schlechtreden. Auch wenn
heute noch nicht alles gut ist in Afghanistan; wir reden
hier immerhin von einem der ärmsten und am wenigsten
entwickelten Länder der Erde.

Ja, die anfangs gesteckten Ziele der Mission waren
unrealistisch hoch. Ich bin Ihnen, Herr Nouripour, dank-
bar für Ihre offenen Worte dazu, dass Rot-Grün anfangs
unsere Soldaten unvorbereitet und ohne die richtige Aus-
rüstung in den Einsatz geschickt hat.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen sind wir bereit, Fehler zuzugeben! Lesen Sie mal die Antwort auf die Große Anfrage! Da ist alles einfach nur gut!)


Dennoch haben unsere Männer und Frauen in den
13 Jahren von ISAF viel erreicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir zurück in die 90er-Jahre! Als die Taliban
1996 Kabul eroberten, musste Schukria Barakzai wie
alle Frauen ihr Studium abbrechen. Drei Jahre später
wurde sie von den Taliban körperlich gezüchtigt. Sie
hatte es gewagt, zum Arzt zu gehen, zwar in ihrer Burka,
aber ohne männliche Begleitung.

Meine Damen und Herren, seit ISAF hat sich viel in
Afghanistan verändert. Besuchte 2001 nur 1 Million
Kinder, ausschließlich Jungen, eine Schule, lernen heute
8,5 Millionen Kinder lesen und schreiben, darunter
3,5 Millionen Mädchen. Deutliche Fortschritte gibt es
auch bei der medizinischen Grundversorgung. Stand sie
2001 nur ganz wenigen zur Verfügung, ist sie heute dem
Großteil der Bevölkerung zugänglich. Die Müttersterb-
lichkeit ist um 80 Prozent zurückgegangen. Zwar leben
immer noch viele Menschen in Armut, doch das Pro-
Kopf-Einkommen hat sich in den vergangenen zehn Jah-
ren mehr als verdoppelt. Für mehrere Millionen Men-





Julia Obermeier


(A) (C)



(D)(B)

schen gibt es neue Straßen und Brücken, Strom und
Trinkwasser. Dies alles war nur durch die Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft möglich. Durch einen
vernetzten Ansatz von Militär, Polizei, Entwicklungszu-
sammenarbeit und Diplomatie haben wir viel für die
Kinder, Frauen und Männer in Afghanistan erreicht.

Deutschland ist der drittgrößte Geldgeber für zivilen
Wiederaufbau und Entwicklung. Das BMZ unterstützt
die afghanische Bevölkerung jedes Jahr mit 430 Millio-
nen Euro. Wir haben auch das wichtigste sicherheitspoli-
tische Ziel des Afghanistan-Einsatzes erreicht. Das Land
ist kein Rückzugsort mehr für den international tätigen
Terrorismus.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Quatsch!)


Allerdings haben wir einen hohen Preis dafür bezahlt.
55 gefallene Kameraden – das ist auch für uns Parlamen-
tarier schwer zu ertragen. Auch haben wir eine Verant-
wortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die
an Körper und Seele verwundet aus dem Einsatz zurück-
gekehrt sind. Für sie wollen wir mehr tun.

Mein persönlicher Dank und der Dank der CDU/
CSU-Fraktion gilt allen, die vor Ort oder auch in der
Heimat ihren Beitrag für Wiederaufbau und Entwick-
lung in Afghanistan geleistet haben oder nach wie vor
leisten. Auf diesem langen Weg haben wir gemeinsam
schon viel erreicht. So konnte Schukria Barakzai wie
auch viele andere Frauen nach dem Ende der Schre-
ckensherrschaft der Taliban ihr Studium wieder aufneh-
men. Als eine von 67 Parlamentarierinnen kämpft sie
heute für die Rechte und den Schutz von Frauen und
Mädchen in Afghanistan. Dabei unterstützen wir sie und
ihre Landsleute.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810015800

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Niels Annen

von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1810015900

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Nachdem sich die Bundesregie-
rung so viel Mühe gegeben hat, die Fragen zu beantwor-
ten, ist es eigentlich schade, dass sie jetzt gerade nicht
vertreten ist. Trotzdem möchte ich etwas zum heutigen
Thema sagen.

Ich freue mich darüber, dass wir vielleicht – nach sehr
vielen ritualisierten Debatten auch in diesem Hause – die
Möglichkeit haben, doch ein wenig differenzierter über
die Lage in Afghanistan zu reden. Es ist schon darauf
hingewiesen worden, dass weder alles gut noch alles
schlecht in Afghanistan ist.

Gerade wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben
eine lange Geschichte politischer Beziehungen zu Af-
ghanistan. Es ist darauf hingewiesen worden: Wir wer-
den in diesem Jahr den 100. Jahrestag der Beziehungen
zwischen Deutschland und Afghanistan begehen. Das ist
ein Datum, das in Afghanistan deutlich stärker als hier
bei uns beachtet wird. Ich glaube, das sagt auch etwas
über die Intensität der Ereignisse und der gemeinsamen
in der Tat zum Teil auch blutigen Geschichte aus.

Meine letzte Reise in die Region ist schon lange her.
Ich habe in der letzten Woche die Gelegenheit gehabt,
das erste Mal seit 2008 wieder Kabul zu besuchen. Ich
muss sagen, es haben sich viele Dinge wirklich positiv
entwickelt. Diese Entwicklung lässt sich auch mit Zah-
len belegen: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist
bei Männern von 45 Jahren im Jahre 2000 auf 58 Jahre
und bei Frauen auf 61 Jahre gestiegen. 57 Prozent der af-
ghanischen Bevölkerung – das ist schon gesagt worden –
haben Zugang zu medizinischer Versorgung. Medizini-
sche Versorgung gibt es nicht nur in Kabul und den gro-
ßen Städten. Der Anteil lag 2002 dagegen bei lediglich
katastrophalen 9 Prozent.

Es gibt auch andere Punkte, Herr Gehrcke, auf die
man vielleicht noch einmal hinweisen sollte. Das fehlte
ein bisschen nicht nur in Ihrer Rede heute, sondern ei-
gentlich über die gesamten Jahre hinweg. Besonders
deutlich sind die Auswirkungen der verbesserten Schul-
bildung zu spüren. Während vor 14 Jahren 1 Million
Kinder – wohlgemerkt: nur Jungen – eine Schule absol-
viert hat, gehen aktuell 8,2 Millionen Kinder in Afgha-
nistan zur Schule. Es gibt heute in Afghanistan Absol-
venten der Schulen, die wir aufgebaut haben. Und es gibt
dort Universitäten. Natürlich kann man immer darüber
diskutieren, wie die Qualität und wie der Zugang ist.
Wenn Sie sich, Herr Gehrcke, aber einmal die Mühe ma-
chen würden – wie das einige Kollegen Ihrer Fraktion
dankenswerterweise getan haben –, sich mit diesen Men-
schen zu unterhalten, um zu erfahren, welche Erwartun-
gen sie an die Zukunft ihres Landes haben und wie sie
sich in die Politik ihres Landes einmischen, werden Sie
feststellen, dass sich dort etwas verbessert hat.

Ich bin ganz fest davon überzeugt: Wenn wir die Feh-
ler der Vergangenheit nicht wiederholen und Afghanis-
tan jetzt in einer sehr kritischen Phase nicht alleine las-
sen, wird sich vor allem dieses Investment in Bildung
und Ausbildung positiv für das Land selbst auswirken.
Denn am Ende – da sind wir uns wieder einig – können
weder der Deutsche Bundestag noch die UNO noch die
NATO noch die Europäische Union über die Zukunft Af-
ghanistans bestimmen; das muss vielmehr eine Initiative
der Afghaninnen und der Afghanen selber sein. Aber die
Voraussetzungen dafür, dass es überhaupt diese Mög-
lichkeit gibt, haben wir geschaffen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist über die Regionen geredet worden, die wir am
Anfang all dieser Initiativen sicherlich nicht ausreichend
in den Blick genommen haben. Ich bin froh darüber,
dass zumindest die Spitzen des Staates von Pakistan und
Afghanistan gut übereinander reden. Das ist ein Zeichen
der Hoffnung, das wir nicht ungenutzt verstreichen las-
sen dürfen.

Ich kann das gerne wiederholen: Selbstverständlich
hat sich in Afghanistan nicht alles positiv entwickelt.





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben gerade in den letzten Tagen auch Rückschläge
zur Kenntnis nehmen müssen. Es hat Anschläge, Entfüh-
rungen usw. gegeben. Das ist keine Wortschöpfung von
uns, sondern eine afghanische Wortschöpfung: Das, was
die Afghanen selber die Kampfsaison nennen, hat bereits
blutig begonnen. Das ist etwas, was uns Sorgen bereiten
muss. Trotzdem können wir uns heute darauf verlassen,
dass die afghanischen Sicherheitskräfte auch ohne ISAF
in der Lage sind, selber die Sicherheit der Regierung zu
gewährleisten. Sie sind in der Lage gewesen, eine demo-
kratische Wahl abzusichern, die zum allerersten Mal in
der Geschichte des Landes dazu geführt hat, dass wir vor
einigen Tagen mit dem ehemaligen Präsidenten Afgha-
nistans hier in Deutschland reden konnten, weil er näm-
lich die Macht abgegeben hat. Das ist ein enormer Fort-
schritt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])


Ich will deswegen schon noch einmal sagen: Dass
sich Menschen unter Gefahr für Leib und Leben an die-
ser Wahl beteiligt haben, ist ein Bekenntnis zur Zukunft
ihres eigenen Landes, ein viel stärkeres Bekenntnis, als
das bei uns der Fall ist, wo man das quasi für eine Selbst-
verständlichkeit hält. Insofern haben Präsident Ghani
und Chief Executive Officer Abdullah jetzt auch die Ver-
antwortung, mit den Hoffnungen vernünftig umzugehen,
eine Regierung zu bilden und dafür zu sorgen, die beste-
henden Erwartungen nicht nur bezüglich der Gewähr-
leistung von Sicherheit, sondern auch bezüglich der Bil-
dung und der Partizipation am gesellschaftlichen Leben
in der Realität zu erfüllen.

Ich glaube, wir sollten die Menschen in Afghanistan
in den Mittelpunkt stellen. Es bleiben Meinungs- und
Bewertungsunterschiede, Herr Gehrcke. Das ist voll-
kommen in Ordnung. Aber machen Sie sich einmal die
Mühe, und reden Sie mit den Menschen, um die es geht,
und nicht über Ideologien.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016000

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Thorsten Frei von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1810016100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde schon, dass wir eine selbstkritische Debatte
hier im Deutschen Bundestag führen, und zwar nicht nur
heute, sondern auch in den vergangenen Monaten, in de-
nen wir uns immer wieder mit Afghanistan beschäftigt
haben. Ich finde es auch grundsätzlich richtig, unsere
Außenpolitik einer kritischen Selbstreflexion zu unter-
ziehen und das dann insbesondere auf dem großen Poli-
tikfeld zu machen, das in den vergangenen zehn Jahren
ganz wesentlich unsere Außenpolitik geprägt hat, weil es
unsere Kräfte und Mittel in schwieriger Zeit gebündelt
hat. Ich bin aber dafür, dass man wirklich ehrlich mitei-
nander umgeht.
Der Kollege Annen hat beispielsweise gerade ein Ge-
spräch mit dem ehemaligen Präsidenten Karzai erwähnt,
der darauf hingewiesen hat, wie die Zustände in Afgha-
nistan waren, als er ins Amt gewählt wurde. Er hat sehr
bildhaft beschrieben, dass er letztlich aus dem Nichts et-
was aufbauen musste, weil keine Strukturen vorhanden
waren und der afghanische Staat und das afghanische
Volk nach dem Wegfegen der Taliban bei null beginnen
mussten. Ich glaube, wenn man das zugrunde legt, dann
muss man zugestehen, dass da eine unheimliche Ent-
wicklung vonstattengegangen ist.

Meine Vorredner sind darauf eingegangen, dass ohne
ein hinreichendes Maß an Sicherheit – dafür haben un-
sere Bundeswehr und unsere Soldatinnen und Soldaten
gesorgt – eine solche Aufbauleistung nicht möglich ist.
Aber das, was wir getan haben, ist auch weit darüber
hinausgegangen. Wenn Sie bedenken, dass alleine zwi-
schen 2002 und 2012 für mehr als 150 Programme und
Projekte 2,8 Milliarden Euro an ziviler Entwicklungs-
hilfe in das Land geflossen sind, dass wir drittgrößter
Geber sind und für die weitere Zukunft unsere Unterstüt-
zung zugesichert haben, dann ist vollkommen klar, dass
wir es mit diesem vernetzten und umfassenden Ansatz
geschafft haben, die Entwicklung in Afghanistan zu ver-
bessern und die Grundlagen dafür zu legen, dass die
Afghanen selbst in der Lage sind, ihr Land zu regieren
sowie für ein hinreichendes Maß an Sicherheit und auch
für Wohlstand, wenn auch auf niedrigem Niveau, zu sor-
gen. Das ist der Erfolg dieser Politik. Das ist der Erfolg
der internationalen Gemeinschaft und auch unser Erfolg
hier in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist darauf
eingegangen worden, dass sich vieles verbessert hat. Das
kann man an nackten Zahlen sehen, etwa im Bereich der
Infrastruktur, der Gesundheitsversorgung, der Energie-
versorgung – hier ist noch viel zu tun, aber es ist auch
schon viel passiert –, im Straßen- und Wegebau, im An-
wachsen der durchschnittlichen Lebenserwartung und in
der Halbierung der Kinder- und Müttersterblichkeit seit
2001 sowie in der Versechsfachung des Bruttoinlands-
produkts seit 2001. Aber was ich ganz bemerkenswert
finde: Neben dem umfassenden Zugang zu Bildung, auf
den bereits eingegangen worden ist, ist Afghanistan im
Bereich der bürgerlichen Freiheitsrechte, etwa bei der
Pressefreiheit, besser als viele seiner Nachbarn, besser
als der Iran, besser als Pakistan, besser sogar als Indien.
Das ist absolut bemerkenswert, wenn man die Ge-
schichte des Landes kennt. Damit sind wir insgesamt auf
dem richtigen Weg.

In der vergangenen Woche hatten wir in Kabul auch
Gelegenheit, uns über ein bilaterales Polizeiprojekt zu
informieren. Dort ist sehr deutlich geworden, dass es
nicht ausreicht, nur Geld in dieses Land zu bringen, son-
dern dass es darauf ankommt, unser Know-how, unsere
Stärken und unsere Kompetenzen zur Verfügung zu stel-
len. Wenn ich sehe, wie erfolgreich dort gearbeitet wird,
dann habe ich den Eindruck, dass die Menschen mit dem
zufrieden sind, was wir an Unterstützung leisten können.
Sie haben eher die Befürchtung, dass wir das Land ver-





Thorsten Frei


(A) (C)



(D)(B)

lassen, bevor die Aufgaben erledigt sind. Deshalb ist es
ganz wichtig, dass wir eine ehrliche Debatte führen und
in diesem Hause darüber nachdenken, was nach der Be-
endigung von Resolute Support passiert. Die überstei-
gerte Erwartungshaltung, von der heute bereits die Rede
war, kommt auch daher, dass wir nicht die Geduld mit-
bringen, die beispielsweise die Vereinten Nationen für
fragile Staaten vorsehen. Es heißt: Viele Erfolge werden
häufig erst nach 15, 20 oder vielleicht sogar erst nach
30 Jahren sichtbar. Deswegen müssen wir darauf achten,
dass die Erfolge, die erzielt worden sind, eine gewisse
Nachhaltigkeit bekommen. Deswegen darf es in der
Debatte nicht nur um eine Zwischenbilanz gehen. Die
Debatte muss vor allen Dingen ein Ausgangspunkt dafür
sein, wie wir die Aufgaben, die wir begonnen haben,
auch in Zukunft gut erledigen können. Das ist die Ver-
antwortung, die wir haben. Das sind wir dem afghani-
schen Volk schuldig.

Es geht um Vertrauen. Es geht um Verlässlichkeit. Es
geht darum, dass wir den erfolgreich eingeschlagenen
Weg weitergehen. Darauf brauchen wir eine Antwort.
Diese Antwort geben wir mit der aktuellen Politik. Die-
sen Weg wollen wir weitergehen. Ich glaube, damit sind
wir erfolgreich.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016200

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 9:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Bundesministergesetzes und des
Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Par-
lamentarischen Staatssekretäre

Drucksache 18/4630
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Wir können die Aussprache beginnen, wenn die Kol-
leginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière das Wort.
– Herr Minister.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bringe einen Gesetzentwurf zur Beratung im Deut-
schen Bundestag ein, dem zwei grundsätzliche Erwä-
gungen zugrunde liegen. Erstens. Wir wollen weiterhin
Menschen aus der breiten Fülle des beruflichen Lebens
für die Politik gewinnen, auch für Ämter in der Bundes-
regierung. Eine Rückkehr in den alten Beruf oder eine
andere Beschäftigung unmittelbar nach Ende eines poli-
tischen Amtes soll für diese Menschen weiterhin mög-
lich sein. Zweitens. Wir wollen, dass nicht der Anschein
entsteht, dass aus dem Amt eines Ministers oder eines
Parlamentarischen Staatssekretärs ein fachbezogener,
ein besonderer Vorteil für das berufliche Fortkommen
entsteht.

Mit dem Gesetz führen wir daher Anzeigepflichten
und Untersagungsmöglichkeiten für die Dauer einer
Karenzzeit ein; ich komme darauf gleich im Einzelnen
zurück. Gleichzeitig wollen wir keine stets und starr ein-
zuhaltende Sperrzeit für alle ehemaligen Regierungsmit-
glieder, wenn sie nach ihrer Zeit im Amt eine Beschäfti-
gung aufnehmen wollen. Für den Rechtsanwalt muss es
nach seiner Zeit als Minister prinzipiell eine Möglichkeit
zur Rückkehr in sein Rechtsanwaltsbüro geben, ebenso
für den Unternehmer, der nach seiner Zeit als Bundes-
minister seinen Betrieb weiterführen will. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf stellt deshalb nicht auf eine starre
Frist ab, sondern darauf, ob durch die angestrebte Be-
schäftigung nach der Amtszeit ein Interessenkonflikt mit
dem vorherigen Amt droht oder drohen könnte. Wenn es
keinen Interessenkonflikt gibt, dann kann die neue Be-
schäftigung unmittelbar nach Beendigung des Amtes des
Bundesministers oder des Parlamentarischen Staatsse-
kretärs aufgenommen werden.

Wenn es aber einen Interessenkonflikt gibt bzw.
– strenger sogar – wenn ein Interessenkonflikt zu besor-
gen ist, kann die Bundesregierung die angestrebte
Beschäftigung für die Dauer von 12 bis 18 Monaten un-
tersagen. Die Bundesregierung trifft ihre Entscheidung
selbst, aber sie trifft sie auf der Grundlage der Empfeh-
lung eines beratenden Gremiums, dessen Mitglieder die
politischen Zusammenhänge aus eigener Erfahrung ken-
nen und die Fälle gut beurteilen können. Die Entschei-
dung der Bundesregierung muss zusammen mit der
Empfehlung des Gremiums veröffentlicht werden. Die
Empfehlung des Gremiums wird dadurch ein überragen-
des Gewicht bei der Entscheidung bekommen. Wir
schaffen damit ein Verfahren, in dem jeder die Entschei-
dung über die Untersagung einer Beschäftigung einfach
nachvollziehen kann. Kommt es zu einer solchen Unter-
sagung, soll ihre Dauer in der Regel ein Jahr nicht über-
schreiten. In Ausnahmefällen kann sie aber auch bis zu
18 Monate betragen. Wir orientieren uns damit am beste-
henden Regelwerk, etwa am Verhaltenskodex der EU-
Kommission, der ebenfalls eine bis zu 18 Monate dau-
ernde Karenzzeit für ausscheidende Kommissionsmit-
glieder vorsieht.

Die Anzeigepflicht trifft jedes amtierende und ehema-
lige Mitglied der Bundesregierung, Parlamentarische
Staatssekretäre und selbstverständlich auch die Bundes-
kanzlerin bzw. den Bundeskanzler – wer immer dieses
Amt innehat. Sie gilt für alle Tätigkeiten, die in den
ersten 18 Monaten nach dem Ausscheiden aus dem Amt
außerhalb des öffentlichen Dienstes angestrebt werden.
Der Betroffene muss, wenn die entsprechenden Gesprä-
che ein gewisses Stadium erreicht haben, selbst über die
angestrebte Tätigkeit informieren, damit das Verfahren





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)

beginnen kann. Das können selbstständige Tätigkeiten
sein, freiberufliche Tätigkeiten, nichtselbstständige
Tätigkeiten. Das können sogar – auch darüber gab es
Debatten – unentgeltliche und sonstige Beschäftigungen
sein; denn auch unentgeltliche Beschäftigungen, zum
Beispiel bestimmte Ehrenämter, können massive Interes-
senkonflikte beispielsweise mit dem vorherigen Minis-
teramt auslösen, etwa wenn der Verband Fördermittel
von der Bundesregierung bekommt, und zwar aus dem
Ressort, aus dem der Minister stammt. Wir haben uns
also für einen sehr weiten Anwendungsbereich entschie-
den, der nicht nur erwerbsorientierte Tätigkeiten nach
Ausscheiden aus dem Amt umfasst.

Die Regelung dient damit zwei Zielen: Erstens. Es
soll bereits der Anschein einer voreingenommenen
Amtsführung im Hinblick auf spätere Verwendungen
oder durch die private Verwertung von Amtswissen nach
dem Ausscheiden aus dem Amt verhindert werden.
Zweitens wollen wir auch – das ist ein wichtiger Punkt,
der in der Debatte manchmal unterschätzt wird – die
Betroffenen vor Unsicherheiten und ungerechtfertigter
Kritik schützen, nämlich dann, wenn das beratende
Gremium und das Kabinett sagen, dass kein Interessen-
konflikt zu befürchten ist.

Diese Regelung ist ein Eingriff in das Grundrecht der
freien Berufsausübung in Artikel 12 des Grundgesetzes.
Deswegen muss sie verhältnismäßig sein und auch klug
angewandt werden. Wir sind sicher, dass das mit dieser
Regelung gelingt. Wir setzen auf eine flexible Regelung
und auf einen transparenten Entscheidungsprozess. Ich
bin mir sicher: Die Regelung wird später schon allein da-
durch Wirkung entfalten, dass es sie gibt. Dadurch wird
manche Überlegung, nach dem Ende der Amtszeit eine
Tätigkeit anzustreben, von der man weiß, dass sie nicht
genehmigt wird, erst gar nicht angestellt. Auch das wäre
ein Erfolg.

Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf, um dessen
weitere Beratung ich hiermit bitte, markiert das Ende
einer mehr als zehnjährigen Debatte über verbindliche
Regelungen für den Wechsel von Regierungsmitgliedern
in die Wirtschaft. Viele der hier vorgesehenen Regelun-
gen wären wohl nicht nötig gewesen,


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Pofalla!)


wenn sich manche in der Vergangenheit, gleich welcher
Partei sie angehören und welcher Bundesregierung sie
angehörten, anders verhalten hätten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Hier würden uns bestimmt aus allen Fraktionen entspre-
chende Namen einfallen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen bietet der Gesetzentwurf – das ist sozusagen
meine Bitte zum Schluss – keine Gelegenheit zu partei-
politischen Auseinandersetzungen. Das fällt im Zweifel
auf den, der etwas in der Richtung vorträgt, zurück.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vielmehr bietet er Anlass zu guter Beratung und zu einer
breiten Zustimmung. Ich hoffe, dass wir diese sehr kom-
plizierte Angelegenheit damit befrieden können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016300

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Halina

Wawzyniak von der Linken das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810016400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir reden über den Entwurf eines Geset-
zes zur Regelung einer Karenzzeit für ausscheidende Re-
gierungsmitglieder. Sie nennen das eine gesetzliche Re-
gelung. Ich nenne das Selbstverpflichtung zu einem
Verfahren; mehr ist das leider nicht. Die vorliegende Re-
gelung, die nicht mehr ist als eine Selbstverpflichtung,
weist mindestens vier grundlegende Probleme auf.

Ich fange an mit der willkürlichen Festlegung von
Fristen. Sie haben eben auf den Verhaltenskodex der
EU-Kommission verwiesen. Tatsächlich ist es aber so:
Eine Frist von einem Jahr ist der Regelfall. Innerhalb
dieser Frist ist eine Anzeige zu erstatten, wenn man
wechseln möchte. In Ausnahmefällen beträgt die Frist
18 Monate. Ich habe mich allerdings immer gefragt: Wie
kommen die eigentlich auf diese Fristen? Denn es gibt
überhaupt kein sachlich fundiertes Kriterium für diese
Fristen. Man muss sich schon fragen: Haben Sie gelost?
Haben Sie gewürfelt? Haben Sie Stöckchen geschmis-
sen? – Ich weiß es nicht.

Die zentrale Problemnorm in Ihrem Gesetzentwurf ist
§ 6 b, in dem in jedem Absatz Probleme auftreten. Sie
haben beispielsweise formuliert: Wenn man anzeigt,
dass man wechseln will, dann besteht die Möglichkeit
der Untersagung der Erwerbstätigkeit bzw. Beschäfti-
gung. Nach dem Gesetzentwurf soll das möglich sein
– ich zitiere –, „soweit zu besorgen ist, dass durch die
Beschäftigung öffentliche Interessen beeinträchtigt wer-
den“. Das ist eine abstrakte Formulierung, die so weit
okay ist. Dann versuchen Sie aber, diese abstrakte For-
mulierung mit einer Insbesondere-Formulierung zu un-
terlegen. Diese ist für die Juristen hochspannend, weil
sie zwei Alternativen enthält.

Die erste Alternative ist echt super. Ich hätte mich gar
nicht aufregen müssen, weil hier ganz klare Kriterien
gelten. Die erste Alternative besagt: Die Karenzzeit ist
einzuhalten, wenn eine Beeinträchtigung des öffentli-
chen Interesses zu befürchten ist. Das ist dann der Fall,
wenn die zukünftig angestrebte Beschäftigung „in Ange-
legenheiten oder Bereichen ausgeübt werden soll, in
denen das ehemalige Mitglied der Bundesregierung
während seiner Amtszeit tätig war“. Das ist klar und
nachvollziehbar. Das wird dem Spannungsverhältnis
zwischen Berufsfreiheit sowie – wie es im Gesetzent-





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

wurf heißt – „Lauterkeit und Integrität des Regierungs-
handelns“ gerecht. Wir haben einen Tatbestand und eine
Rechtsfolge – alles super. An dieser Stelle hätten Sie
Schluss machen können, haben Sie aber nicht. Sie haben
in § 6 b Absatz 1 noch Ziffer 2 eingefügt, die offensicht-
lich jemand geschrieben hat, der nach der Devise ver-
fährt: So schwammig wie möglich, damit es überhaupt
nicht zutrifft. – In Ziffer 2 heißt es: Die Karenzzeit soll
eintreten, wenn „das Vertrauen der Allgemeinheit in die
Integrität der Bundesregierung beeinträchtigt werden
kann“. Das klingt irre radikal. Ich dachte zuerst, dass Sie
das übernommen haben, was wir sagen. Wenn es eine
Verquickung gibt, dann muss eine Karenzzeit eingehal-
ten werden. Aber Sie haben mir in der Fragestunde ge-
sagt, dass Sie das nicht meinen. Das heißt, diese irre ra-
dikal klingende Formulierung ist am Ende ein
Gummiparagraf, der niemandem nützt.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wollen Sie weniger als die Bundesregierung! Da steht doch „oder“!)


– Herr Beck, ich komme gleich dazu, Ihnen im Detail zu
erklären, was die richtige, juristisch saubere und nicht
populistische Formulierung gewesen wäre.

Die Entscheidung über eine Karenzzeit soll in einem
beratenden Gremium getroffen werden. Die Mitglieder
werden im Übrigen nicht vom Bundestag gewählt, son-
dern irgendwie ernannt. Das beratende Gremium be-
stimmt dann: Okay, wir finden, es sollte eine Karenzzeit
geben. Die Bundesregierung sagt dann: „Ja, finden wir
auch“, oder sagt: „Nein, finden wir nicht“, und dann gibt
es eine Karenzzeit oder auch nicht. Das Parlament bleibt
außen vor. Es handelt sich um eine Ermessensentschei-
dung. Es gibt also keinen klaren Tatbestand und keine
klare Rechtsfolge.

Der letzte Punkt, auf den ich hinweisen will, betrifft
die Frage des Übergangsgeldes. Sie haben folgende Re-
gelung getroffen: Wenn das Übergangsgeld nicht so
lange gezahlt wird, wie die Karenzzeit dauert, muss das
Übergangsgeld länger gezahlt werden. Mit Blick auf die
Berufsfreiheit ist diese Regelung total richtig, in syste-
matischer Hinsicht ist sie aber, ehrlich gesagt, Unsinn;
denn sie erhöht die Bereitschaft, nach dem Ausscheiden
aus dem Amt eine Tätigkeit in der Wirtschaft aufzuneh-
men. Ich finde, Sie hätten das Gesetz so nennen sollen:
Gesetz zur Regelung eines Verfahrens, wie die Bundes-
regierung im Ausnahmefall eine Karenzzeit für aus-
scheidende Regierungsmitglieder aussprechen kann.

Die einzig sinnvolle und juristisch saubere Lösung
wäre, die Karenzzeit an die Dauer des Anspruchs auf
Übergangsgeld und die ressortmäßige Zuständigkeit zu
knüpfen. Man hätte einfach schreiben können: Wer in
seinem Ressort mit amtlichen Vorgängen befasst war,
die seinen künftigen Arbeitgeber betreffen, muss eine
Karenzzeit einlegen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wenn er sich im Kabinett für etwas eingesetzt hat, wofür er nicht zuständig war?)

Demnächst geben wir Ihnen vielleicht auch noch Formu-
lierungshilfe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das Gesetz wird Sie hoffentlich eh nie betreffen!)


Das wäre jedenfalls eine klare gesetzliche Regelung, und
diese wäre wirklich angebracht.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016500

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Mahmut

Özdemir von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Mahmut Özdemir (SPD):
Rede ID: ID1810016600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Aus Sicht der Opposition mag die heutige De-
batte ungewöhnlich sein; denn wir sprechen heute nicht
über einen Antrag, sondern über einen Gesetzentwurf
der Bundesregierung, mit dem Karenzzeiten verbindlich
geregelt werden sollen. Damit schließen wir gesetzgebe-
risch eine Lücke, die uns aufgrund einer Vielzahl von
Gründen beschäftigt hat, aus Gründen der Transparenz,
aus Gründen der Vertraulichkeit und der Integrität von
Politik und nicht zuletzt aus Gründen des Schutzes des
Rechtsstaats und seiner hoheitlichen Kenntnis.

Vergegenwärtigt man sich rückblickend den Verlauf
dieser Debatte – von Regierungsprogrammen über Ko-
alitionsverträge und anschließende Oppositionsanträge
bis hin zum fertigen Gesetzentwurf –, so stellt man fest:
Es bestand immer Einvernehmen über das Ob von Ka-
renzzeiten. Nur über das Wie haben wir in der Sache
hart, aber stets respektvoll miteinander debattiert. Zu-
nehmend erschwert wurde diese Diskussion durch sich
häufende Meldungen von ehemaligen und amtierenden
Regierungsmitgliedern, die ohne nennenswerten zeitli-
chen Abstand vom Regierungsamt in die Wirtschaft
wechselten. Spätestens an dieser Stelle kommt man nicht
mehr darum herum, sich vor Augen zu führen, weshalb
ein zeitlicher Abstand zwischen dem Regierungsamt und
einer neuen Tätigkeit bei einem privaten Arbeitgeber
sinnvoll und zweckmäßig ist.

Erstens. Wir wollen Kenntnisse und Entscheidungs-
netzwerke des Regierungsamtes schützen, die auf Kos-
ten des Steuerzahlers erworben wurden, und verhindern,
dass diese zu einem wirtschaftlichen Gut werden.

Zweitens. Wir wollen die betroffenen Regierungsmit-
glieder in die Lage versetzen, die angestrebte Tätigkeit
über jeden Zweifel erhaben und frei von Vorwürfen einer
Interessensverflechtung anzutreten. Wenn eine solche
Interessensverflechtung doch festgestellt wird, soll diese
Tätigkeit unterbunden werden können.

Drittens. Jetzt gilt es, sich vorzustellen, was von die-
ser Fachdebatte auf der Straße und in Ihren Wahlkreisen
in Erinnerung bleiben sollte. Meiner Meinung nach ist
die zentrale Botschaft dieses gesetzlichen Verbotsvorbe-
halts, dass die Politik offen und transparent ist und nicht
vor der Übermacht der Wirtschaft die Waffen streckt.





Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

Zur Erreichung dieser Ziele war es notwendig, in ein
Grundrecht einzugreifen, das zu den fundamentalen
Werten unserer Wettbewerbswirtschaft zählt, nämlich in
die in Artikel 12 unseres Grundgesetzes festgeschrie-
bene Berufsfreiheit; der Minister hat das gerade gesagt.
Die Schwierigkeit bestand darin, sich nicht dem Vorwurf
eines grundrechtswidrigen Berufsverbots auszusetzen
und gleichzeitig nicht dem unbändigen Wechsel von der
Politik in die Wirtschaft Tür und Tor zu öffnen.

Letztlich erfolgt dieser Eingriff eben nicht aus Eitel-
keit oder wegen des Neides derer, die kein lukratives
Angebot erhalten haben, sondern deshalb, weil unmittel-
bare Wechsel aus ethischer Sicht besonders geeignet
sind, das Ansehen der Politik zu beschädigen. Jenseits
der Eignung und Befähigung für den arbeitsvertraglich
vorgesehenen Einsatz ist die Besonderheit, Minister
oder Parlamentarischer Staatssekretär gewesen zu sein,
grundsätzlich gleichbedeutend mit der überlegenen
Sachkenntnis – negativ formuliert: Insiderwissen – und
zumindest konkludent verbunden mit dem Hintergedan-
ken, zur Not fehlendes Hoheitswissen über entschei-
dende Netzwerke beschaffen zu können. Diesem Wider-
streit unter Würdigung von Artikel 12 Grundgesetz
einerseits und verhältnismäßiger Anordnung eines
pragmatischen Prozesses andererseits wird der Gesetz-
entwurf vollumfänglich gerecht. Schon während der An-
bahnung eines Vertragsverhältnisses außerhalb des öf-
fentlichen Dienstes wird eine Anzeigepflicht ausgelöst,
die im Zweifel für das betroffene Regierungsmitglied die
größte Hemmschwelle darstellt; denn unterbleibt die An-
zeige, verhält sich das Regierungsmitglied rechtswidrig.

Scheitern die Vertragsverhandlungen, so würde zu
dem potenziellen Titel „Minister a. D.“ noch ein „in spe“
hinzukommen. Diese Obliegenheit der Anzeige besteht
für amtierende und bereits ausgeschiedene Regierungs-
mitglieder, vom Amt des Kanzlers bis zum Amt des Par-
lamentarischen Staatssekretärs oder der Staatssekretärin,
für einen Zeitraum von 18 Monaten gleichermaßen.
Über die Anzeige entscheidet die Bundesregierung als
Kollegialorgan abschließend, nachdem zuvor ein nach
dem Vorbild der europäischen Ethikkommission ent-
sprechend einzurichtendes Beratergremium, besetzt mit
Personen, die an der Spitze von staatlichen oder gesell-
schaftlichen Institutionen gestanden haben, eine Emp-
fehlung abgegeben hat.

Am Ende steht jedoch die Entscheidung, ob eine Inte-
ressensverflechtung zwischen der Tätigkeit in der Bun-
desregierung und der angestrebten neuen Tätigkeit attes-
tiert werden kann. Dies löst wiederum die Rechtsfolge
aus, dass für einen Zeitraum von in der Regel bis zu
12 Monaten und in besonderen Fällen von bis zu 18 Mo-
naten die angestrebte Tätigkeit untersagt werden kann.
Das ist ein Grundrechtseingriff in sachlicher und zeitli-
cher Hinsicht, der vom Gesetzgeber behutsam und sensi-
bel vorgenommen wird, der sich allerdings auch auf be-
sonders wichtige staatspolitische Gründe stützt und nicht
zuletzt das Vertrauen in die Unbestechlichkeit und Unab-
hängigkeit der Politik sicherstellt. Diesem Vertrauen
wird künftig durch die Anzeige des betroffenen Regie-
rungsmitglieds, ob Kanzler oder Kanzlerin, Minister
oder Ministerin, Parlamentarischer Staatssekretär oder
Staatssekretärin, Rechnung getragen.

Damit das Vertrauen niemals enttäuscht wird, wachen
letztlich staatliche Gerichte über diese Entscheidung der
Bundesregierung. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des
Bundesverwaltungsgerichtes garantiert wiederum eine
stets einheitliche Rechtsprechung. Ebendiese Zuständig-
keit wird gerade auch der Tatsache gerecht, dass es sich
bei den Betroffenen, die der Entscheidung unterworfen
werden, und denen, die die Entscheidung treffen, letzt-
lich um Verfassungsorgane handelt. Dies zeigt, dass die
zeitliche und sachliche Dimension zwangsläufig nur ein-
heitlich zu regeln ist, weil die zeitliche Dimension nur
eine Folgewirkung darstellt. Verlängerte man grund-
rechtlich gesprochen den zeitlichen Eingriff, so wie Sie
es wollen, also verlängerte man die Dauer der Abkühl-
phase, um die Attraktivität des zu rekrutierenden Re-
gierungsmitgliedes für den privaten Arbeitgeber zu
schmälern, so würde das gleichermaßen einen unverhält-
nismäßigen Eingriff in den persönlichen und sachlichen
Schutzbereich der Berufsfreiheit bedeuten.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir möchten das an das Übergangsgeld knüpfen!)


– Dazu komme ich noch.

Schließlich haben auch wichtige und strategische
Kenntnisse nur eine gewisse Halbwertzeit. Letztlich soll
die Karenzzeit kein Berufsverbot auf Ewigkeit sein. Da-
her ist es eine gute Lösung, ein unabhängiges Gremium
diese Entscheidung zumindest auf Sachebene vorbereiten
zu lassen, damit eine Interessensverflechtung analysiert
werden kann. Denn so einfach sich das Wort „Interessen-
verflechtung“ ausspricht, so subtil und so vielschichtig
könnte sie sich darstellen. Nicht immer muss der ressort-
affine Wechsel zugleich eine Interessenverflechtung
aufgrund des Zukaufs von Hoheitswissen sein. Ebenso
wenig darf bei einem ressortfremden Wechsel von vorn-
herein ein Ausschluss stattfinden.

Die Einführung von Karenzzeiten ist eine Gesetzes-
änderung, die simpel anmutet, aber verfassungsrechtlich
aufgeladen ist. Genauso wie jede andere Gesetzesnovel-
lierung kostet diese Geld. Jedoch handelt es sich hierbei
um Haushaltsmittel, die wir in die Unbestechlichkeit und
Integrität unserer Demokratie investieren. Im Einzelnen
wird der Haushalt gegebenenfalls durch eine Verlänge-
rung des Anspruchs auf Übergangsgeld für das Regie-
rungsmitglied belastet, also bei Anordnung einer Ka-
renzzeit, die über den Anspruch auf Übergangsgeld
– dieser besteht für 12 bis 18 Monate – hinausgeht.
Ferner erfolgt eine Belastung durch die Einrichtung des
Beratergremiums, also durch Aufwandsentschädigung
sowie Reisekosten der Mitglieder.

Diese vielen Kleinigkeiten und noch viele mögliche
Differenzierungen zeigen: Auch die Opposition konnte
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Rechts-
verhältnisse von Bundesministern und Parlamentari-
schen Staatssekretären nicht schneller vorlegen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Den hättet ihr eh abgelehnt!)






Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

Die abgegriffene Maxime von Gründlichkeit vor Schnel-
ligkeit hat daher in ihrem Sinngehalt nichts eingebüßt.
Mit eben jener Gründlichkeit gilt es jedoch, parlamenta-
risch sowie in den Fraktionen und Parteien weiterhin
Ansätze zu entwickeln, die das Ansehen der Politik und
das Vertrauen in die Integrität und Transparenz von
Mandatsträgern zusätzlich stärken.

In gerade einmal 18 Monaten hat diese Koalition un-
ter maßgeblicher Beteiligung der SPD die Abgeordne-
tenbestechung im Strafgesetzbuch umfassend und zeit-
gemäß reformiert. Die Herstellung von Öffentlichkeit
beim Einsatz von Externen in der öffentlichen Verwal-
tung wird konstant vorangetrieben. Die Offenlegung von
Nebeneinkünften hat mit einer feingliedrigeren Eintei-
lung eine neue Stufe der Bekanntgabe erreicht. Mit der
Einführung von Karenzzeiten wird dieser Maßnahmen-
katalog zur Transparenz vorerst komplettiert, ich betone:
vorerst.

Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-
sition, ging alles nicht schnell genug. Nun liegt eine vor-
bildliche Gratwanderung in Gestalt eines Gesetzentwur-
fes vor, der die Notwendigkeit einer Regelung für
Interessensverflechtungen von Regierungsmitgliedern
mit der Berufsfreiheit in Einklang bringt.

Nach gut 15 Jahren Debatte erreichen wir eine neue
Stufe der Abwägung von Vertrauen und Kontrolle bei
Wechseln von der Politik in die Wirtschaft. Trotz aller
politischen Differenzen haben wir in diesem Gesetzent-
wurf den größtmöglichen Konsens im Deutschen Bun-
destag zusammengetragen. Jede weitere Kritik im Hin-
blick auf die Verlängerung der Dauer einer Karenzzeit
und einer entsprechenden beruflichen Sanktionierung
entbehrt verfassungsrechtlicher Grundlagen.

Ich verdeutliche abschließend erneut: Einzelne Regie-
rungsmitglieder und das Kollegialorgan als solches vor
Vorverurteilungen zu schützen, ist gleichrangig mit dem
Ziel, ein geordnetes gesetzliches Prüfverfahren für einen
Wechsel in die Privatwirtschaft zu etablieren. Nur so
kann das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die
Politik im Allgemeinen und in die Regierung im Beson-
deren zusätzlich gestärkt und der Verdacht einer vorein-
genommenen Amtsführung auf den letzten Metern be-
seitigt werden, bevor er medial schlagartig aufkommt.

Der Debatte im Innenausschuss sehe ich mit der ent-
sprechenden Vorbereitung entgegen. Ich bin bereit, für
meine Fraktion das Notwendige zu tun, um diesen Pro-
zess weiter zu verfolgen und nunmehr zu beschleunigen,
bin aber natürlich gerne bereit, alle Fraktionen in diesem
Hause bei diesem Prozess mitzunehmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und
schließe mit: Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016700

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Britta

Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810016800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe

Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Meine
Kolleginnen und Kollegen! Herr Özdemir, ich muss Sie
korrigieren. Sie haben gesagt, hier im Plenum sei es nie
um das Ob, sondern immer nur um das Wie gegangen.
Ich rate Ihnen dringend, sich einmal die Redebeiträge
der Debatte vom 16. Januar 2014 anzusehen. In ihnen
haben uns die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bun-
destag noch ganz einmütig erklärt, dass es keine gesetz-
liche Karenzzeit geben muss, sondern dass eine Selbst-
verpflichtung ausreicht.

Diese Erklärungsfigur – so nenne ich sie einmal – hat
einen ganzen Tag gehalten. Nachdem das Kabinett selbst
geprüft hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass
eine Selbstverpflichtung für Regierungsmitglieder kei-
nen Rechtsrahmen bietet, wussten auch Sie alle, dass es
zu einer gesetzlichen Karenzzeit kommen muss und dass
es gar nicht anders geht, als dies für Regierungsmitglie-
der und Staatssekretäre gesetzlich zu regeln. Eine Selbst-
verpflichtung reichte keinesfalls aus. Ich bin froh, dass
jetzt auch Sie zu dieser Einsicht gekommen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, in der Tat ist heute ein gu-
ter Tag. Endlich, nach über zehn Jahren Debatte im
Deutschen Bundestag, kommen wir zu einem Ergebnis.
Wir haben in der Vergangenheit sehr darüber gestritten,
ob es überhaupt die Notwendigkeit einer gesetzlichen
Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder gibt.
Dabei ist es doch selbstverständlich, dass sie in einen In-
teressenkonflikt kommen können, wenn sie aus ihrer
ehemaligen Funktion, die sie in der Regierung hatten, in
eine Funktion in der Privatwirtschaft wechseln.

Zu Recht ist dieses Thema in der Öffentlichkeit kri-
tisch aufgestoßen. Zu Recht ist in der Öffentlichkeit kri-
tisch hinterfragt worden: Welches Wissen aus der Zeit in
einer Regierungsfunktion nimmt jemand in eine neue
Funktion in der Wirtschaft mit? Muss es da nicht eine
gewisse Karenzzeit geben? Das waren berechtigte Fra-
gen, die öffentlich gestellt und thematisiert wurden.
Auch wir Grüne haben seit 2005 versucht, dieses Thema
hier im Plenum durch Anträge und Initiativen voranzu-
treiben. Das ist bisher nicht gelungen. Heute ist also ein
guter Tag, weil wir jetzt endlich über eine gesetzliche
Grundlage für eine Karenzzeit reden. Da ich bin auch
mit Ihnen einig: Ja, es wird eine gesetzliche Karenzzeit
geben, und das ist gut und richtig. Darüber freue ich
mich; denn das ist inhaltlich überfällig.

Wir haben am 16. Januar 2014 hier im Plenum aus ak-
tuellem Anlass über dieses Thema gesprochen. Damals
ging es um den vorhin schon erwähnten Ronald Pofalla,
der einen Wechsel zur Bahn anstrebte, sozusagen von
der Regierungsbank – er war Kanzleramtsminister – in
den Vorstand der Deutschen Bahn. Das hat für große öf-
fentliche Aufregung gesorgt. Da war klar: Dieser Zu-
stand ist so nicht mehr zu halten. Danach gab es viele
weitere Situationen.

In diesem Punkt stimme ich wieder nicht mit Ihnen
überein: Hätten Sie nicht so lange laviert und blockiert,





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

auch in der Großen Koalition – wir diskutieren ja seit Ja-
nuar 2014 darüber –, dann wäre uns der eine oder andere
Wechsel, den wir in den letzten Monaten erlebt haben,
vielleicht etwas klarer geworden, Herr Özdemir. Ich
weiß es noch genau: Der Tag, als Herr de Maizière den
Gesetzentwurf hier in der Regierungsbefragung vorge-
stellt hat, war der Tag, an dem Katherina Reiche be-
schloss, als Hauptgeschäftsführerin zum VKU zu wech-
seln; somit wird sie nun wohl nicht mehr unter die
gesetzliche Regelung fallen. Von daher hätte etwas we-
niger Blockade vonseiten der Union und der SPD uns al-
len gutgetan.

Jedenfalls ist es richtig, dass es jetzt endlich zu einem
Gesetz kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden im Gesetzgebungsverfahren an verschiede-
nen Punkten noch Dinge thematisieren, die so eindeutig
nicht sind: Wie wird denn der Ausnahmefall definiert,
Herr Minister? Sie haben ja vorhin darüber gesprochen:
Im Regelfall sollen 12 Monate, im Ausnahmefall 18 Mo-
nate gelten. Warum keine generelle Regelung mit 18
Monaten, wie sie das EU-Parlament seit Jahren prakti-
ziert und mit der es gute Erfahrungen gesammelt hat?
Wo wollen Sie die Grenze ziehen? Nach welchen Krite-
rien sollen die einen 12 Monate, die anderen 18 Monate
Karenzzeit haben müssen? Wie wollen Sie das definie-
ren? Wie setzt sich die Kommission zusammen? Was
sind das für beratende Mitglieder, die dort tätig sein sol-
len? Wie und in welchem Zeitrahmen wird das Ganze
diskutiert? Wie lange dauert es, bis man sich mit einem
Fall beschäftigt und eine Empfehlung ausgesprochen
hat, sodass das Kabinett dann eine entsprechende Ent-
scheidung treffen kann? Was ist mit der Veröffentli-
chungspflicht? In welcher Art und Weise findet das statt,
und wie wirkt sich das auf den direkten Wechsel aus?

Das sind alles Themen, meine Damen und Herren, die
wir im Gesetzgebungsverfahren diskutieren werden.
Aber, Herr Özdemir, was mich irritiert, ist, dass Sie jetzt
schon sagen, dass alles so bleibt, wie es ist. Ihr ehemali-
ger Fraktionsvorsitzender, den ich sehr geschätzt habe,
hat doch immer gesagt: Das eine ist der Gesetzentwurf,
der ins parlamentarische Verfahren geht; die Entschei-
dung aber liegt dann natürlich beim Parlament.

Vielleicht können wir Sie ja an der einen oder anderen
Stelle überzeugen, dass dieser Gesetzentwurf noch ein
paar Veränderungen vertragen kann,


(Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Sie können es ja besser machen! Nehmen wir auf!)


zum Beispiel im Hinblick auf die Karenzzeit; ich denke
da an die 18-Monate-Regelung, die das EU-Parlament
praktiziert und mit der es gute Erfahrungen gesammelt
hat.

Ich bin froh, dass der Druck gewirkt hat und es zu ei-
ner gesetzlichen Karenzzeit kommt. Daran führt jetzt
kein Weg mehr vorbei. Ich freue mich auf die Beratung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810016900

Vielen Dank. – Jetzt hat Helmut Brandt von der CDU/

CSU das Wort als letzter Redner in dieser Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1810017000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Bundesregierung hat – wie schon im Ko-
alitionsvertrag vereinbart – nicht nur versprochen, eine
Regelung vorzunehmen, sondern sie hat auch geliefert:
Der Bundesinnenminister selbst hat heute einen Gesetz-
entwurf eingebracht.

Der Gesetzentwurf, um den es hier und heute geht,
betrifft insbesondere – das ist ja schon erwähnt worden –
Minister, Ministerinnen und Parlamentarische Staatsse-
kretäre. Es war nach meiner, nach unserer Auffassung
das gute Recht der Bundesregierung, hier selbst einen
Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Deshalb war es rich-
tig, auf diesen Entwurf zu warten. Ich muss ganz ehrlich
sagen: Ich kann nicht erkennen, dass es in dieser Legis-
laturperiode bis zur Vorlage des Entwurfs unverhältnis-
mäßig lange gedauert hätte. Ich muss Ihnen auch sagen:
Einen wirklich dringenden Grund, das von heute auf
morgen zu regeln, gab und gibt es nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Wechseln
von ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretären und
Ministern gerät – das ist ja hier mehrfach erwähnt wor-
den – dieses Thema immer wieder ins Blickfeld der Öf-
fentlichkeit. Vor dem Hintergrund, dass bei solchen
Wechseln die Wellen regelmäßig hochschlagen, begrüße
ich – das muss ich ganz ehrlich sagen – letztlich natür-
lich auch diese Regelung; aber nach meiner Einschät-
zung hätte auch eine andere Regelung Platz greifen kön-
nen.

Mit diesem Gesetzentwurf soll schon der Eindruck
verhindert werden, dass spätere Karriereaussichten Ein-
fluss auf die Amtsführung haben könnten oder durch die
private Verwertung von Amtswissen nach Beendigung
des Amtsverhältnisses das Vertrauen der Allgemeinheit
in die Integrität der Bundesregierung beeinträchtigt
werde.

Tatsächlich – das ist sicher unstreitig – verfügen Re-
gierungsmitglieder in der Regel über besonderes Insider-
wissen und Informationen, die für Unternehmen wichtig
sein können und ihnen gegebenenfalls auch Vorteile ge-
genüber der Konkurrenz verschaffen. Dass aus diesem
Grund möglicherweise Bedenken in Verbindung mit ei-
nem Wechsel von der Politik in die Wirtschaft aufkom-
men, soll künftig gänzlich vermieden werden.

Eines lassen Sie mich jedoch ganz deutlich sagen:
Das ist der Hintergrund des vorliegenden Gesetzent-
wurfs, und nur das! Die Debatte darüber, dass Politiker
ab und an verantwortungsvolle Positionen in der Wirt-
schaft annehmen, ist oft – den Eindruck hatte man – aus
Neid geführt worden. Wir wollen somit Wechsel mit die-
ser Regelung nicht unmöglich machen. Ein Wechsel
muss möglich bleiben.





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

Zum einen ist die Politik ein Mandat auf Zeit. Für die
allermeisten Politiker gibt es ein Davor und ein Danach.
Allein die Tatsache, dass ein Politiker aufgrund seines
Wissens und seiner Kontakte eine Stelle als Unterneh-
mens-, Verbands- oder NGO-Lobbyist bekommt, ist für
mich per se nicht anstößig. Eine Pflichtkarenzzeit, wie
von der Linken angeregt und beantragt, scheidet deshalb
nach meiner Auffassung gänzlich aus.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Stimmt nicht! Das haben wir nicht beantragt! Lesen Sie den Antrag noch mal!)


– Ja, wir kommen noch im Ausschuss auf Ihre Beden-
ken, die ich in keinem Punkt teile, die ich auch für ge-
künstelt halte, so wie Sie sie eben vorgetragen haben, zu
sprechen.

Zum anderen: Wenn Lobbyismus ein wichtiger und
zu Recht anerkannter Faktor in der Demokratie und der
Politik ist, dann muss auch akzeptiert werden, dass pro-
minente Vertreter zwischen Politik und Wirtschaft wech-
seln. Deshalb, meine Damen und Herren, ist dieses Ge-
setz zwar wichtig, um diese von allen Vorrednern schon
dargestellte Situation künftig zu vermeiden, es muss
aber auch ausgewogen sein. Ausgewogenheit ist der Re-
gierung mit diesem Gesetzesvorschlag meiner Auffas-
sung nach gelungen. Jeder, der sich damit beschäftigt,
weiß – auch das ist eben schon einmal angeklungen –:
Ein solcher Eingriff in die Berufsfreiheit, in das Grund-
recht gemäß Artikel 12 des Grundgesetzes, muss einer
Abwägung unterliegen. Nicht jeder Fall ist gleich, des-
halb eben auch keine starren Karenzzeiten. Vielmehr
muss und soll das von Fall zu Fall und je nach Betroffen-
heit entschieden werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht
kann ich denen, die dargestellt haben, dass ihnen die vor-
gesehenen Fristen als nicht ausreichend erscheinen, noch
Folgendes sagen: Wir betonen immer wieder, dass ein
Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft möglich sein
und möglich bleiben muss. Wenn das aber ernst gemeint
ist, dürfen wir diesen Weg nicht durch starre und unver-
hältnismäßig lange Karenzzeiten blockieren; denn
Wechsel finden nicht nur von der Politik in die Wirt-
schaft, sondern auch in umgekehrter Richtung statt. Wel-
che Managerin, welcher Manager eines erfolgreichen
Unternehmens wäre wohl noch bereit, in ein in der Regel
schlechter dotiertes öffentliches Amt zu wechseln, wenn
sie oder er im Anschluss daran für eine Zeit von drei
Jahren, wie wohl in Ihren Vorschlägen, Frau Haßelmann,
immer vorgesehen, beruflich aussetzen müsste?

Darauf aufbauend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich Ihnen zum Schluss meiner Rede noch einen
kleinen Denkanstoß mit auf den Weg geben und die
heute geführte Diskussion mit der Frage verknüpfen:
Welche Art von Politiker wollen wir eigentlich? Von
Parteiapparaten abhängige Berufspolitiker, die in ihrem
Leben nie oder kaum einer Arbeit außerhalb der Politik
nachgegangen sind und deren weiteres Fortkommen so-
mit von dem nächsten sicheren Listenplatz oder der Auf-
stellung im richtigen Wahlkreis abhängt? Ist ein solches
Mandat – die sicherlich zugespitzte pointierte Darstel-
lung sei einmal erlaubt – dann überhaupt noch in dem
Maße frei, wie es das Grundgesetz fordert? Oder wollen
wir Abgeordnete, Parlamentarische Staatssekretäre und
Minister, die sich auch außerhalb von Parlamenten be-
wiesen und durchgesetzt haben und so immer wieder
neue Erfahrungsschätze und Perspektiven in die Politik
einbringen? Ein selbstkritischer Blick über Fraktions-
grenzen hinweg kann hier sicherlich nicht schaden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte den vorlie-
genden Gesetzentwurf – Sie werden es gemerkt haben –
schon jetzt für ausgewogen. Dennoch freue ich mich
auch auf die Beratungen. Wir werden da vielleicht das
eine oder andere noch vertieft diskutieren können

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810017100

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4630 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg,
Omid Nouripour, Dr. Franziska Brantner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Solidarität zeigen – Aufnahme von syrischen
und irakischen Flüchtlingen ausweiten
Drucksachen 18/3154, 18/4163

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang
Gehrcke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für
Jesiden, Kurden und andere Schutzbedürf-
tige im Norden des Irak und Syriens
Drucksachen 18/2742, 18/4417

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Andrea Lindholz von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810017200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bürgerkrieg in Syrien ist zur schlimmsten humanitä-
ren Katastrophe unserer Zeit geworden. Über 220 000





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Menschen sind seit Ausbruch des Krieges gestorben.
Mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist heute
auf der Flucht und auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Rund 4 Millionen Syrer haben das Land verlassen, und
weitere 7,6 Millionen gelten als Binnenflüchtlinge im ei-
genen Land und befinden sich teilweise außerhalb der
Reichweite jeder internationalen Hilfe.

Syrien ist als Staat heute im Grunde nicht mehr exis-
tent. Die Oppositionsbewegungen, bestehend aus Leuten
der Muslimbruderschaft, Liberalen, Kommunisten, Kur-
den, arabischen Stämmen und Assyrern, hat einen
schweren Stand. Der Terror der IS und die nicht weniger
brutalen Truppen des Assad-Regimes massakrieren die
Zivilbevölkerung. Mit der Al-Nusra-Front als Ableger
von al-Qaida gibt es einen weiteren unberechenbaren
Akteur in diesem ohnehin unübersichtlichen Konflikt.
Auch viele ausländische Kräfte üben ihren Einfluss in
Syrien aus.

Was kann Deutschland angesichts dieser extrem
schwierigen Lage also tun, um das Leid des syrischen
Volkes zu lindern? Wir können natürlich, wie im Antrag
gefordert, syrischen Flüchtlingen in Deutschland Asyl
gewähren. Genau das tut Deutschland längst, und zwar
in einem Ausmaß wie kein anderes Land außerhalb der
Region.

Seit Beginn des Krieges hat Deutschland über
100 000 Syrern Schutz gewährt. Deutschland hat als ein-
ziges Industrieland substanzielle Sonderprogramme be-
schlossen, über die 30 000 besonders schutzbedürftige
Syrer hierher ausgeflogen werden. Deutschland ist auch
bereit, noch mehr Verantwortung für die syrischen
Kriegsflüchtlinge zu übernehmen. Einher gehen muss
dies aber mit einem europäischen Konsens über ein ge-
meinsames EU-Kontingent. Das aktuell im Rahmen des
Zehn-Punkte-Plans diskutierte Kontingent von über
5 000 Plätzen ist sicherlich nur ein kleiner Fortschritt.
Allein die bisherigen rein deutschen Sonderkontingente
sind schon sechsmal größer. Europa könnte und Europa
sollte viel mehr leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland gehört auch zu Europa!)


Sonderprogramme allein stellen aber keine nachhal-
tige Lösung dar. Natürlich freue auch ich mich über die
vierköpfige syrische Familie, die in meinem Wahlkreis
Obdach gefunden hat und freundlich aufgenommen
wurde. Die Kinder können heute wieder zur Schule und
zum Fußballverein gehen, die Eltern bekommen
Deutschunterricht und finden hoffentlich bald Arbeit.
Gleichzeitig denke ich aber an ein Bild, über das uns
Entwicklungsminister Müller – mit „uns“ meine ich die
CDU/CSU-Fraktion – am Montag berichtet hat. Gerd
Müller traf in den vergangenen Wochen in einem Flücht-
lingslager in Jordanien auf eine Frau, deren Mann im
Krieg umgekommen ist. Ihre neun Kinder muss sie heute
alleine versorgen. Sie muss irgendwie jeden Monat
100 Euro nur für ein Dach über dem Kopf aufbringen. –
Das sind nur zwei Beispiele von vielen.
Wir dürfen nicht vergessen: Über 11 Millionen Syrer
brauchen Hilfe. Hinzu kommen viele weitere Flücht-
linge aus dem Nahen Osten und Afrika. Die Vereinten
Nationen schätzen, dass weltweit über 50 Millionen
Menschen auf der Flucht sind. Wer behauptet, diese
größte Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Zweiten
Weltkrieges ließe sich mit Sonderkontingenten und Pro-
grammen zur Neuansiedlung in Deutschland beheben,
der verkennt die Realität, sowohl in den deutschen Kom-
munen als auch in den Herkunftsländern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Katastro-
phe in Syrien ist die Hilfe vor Ort wichtiger als jedes
Kontingent. Alle syrischen Flüchtlinge brauchen Hilfe.
Das Deutsche Rote Kreuz ist in der Lage, mit einer
Spende in Höhe von 99 Euro eine fünfköpfige Familie
drei Monate mit Nahrung zu versorgen. Wir müssen uns
daher gut überlegen, wie wir unsere begrenzten Hilfs-
mittel einsetzen.

Die Bundesregierung hat längst die richtige Entschei-
dung getroffen und den Schwerpunkt ihres Engagements
auf die Hilfe vor Ort gelegt. Von Anfang an gehörte
Deutschland weltweit zu den größten Geldgebern in der
Syrien-Krise. Seit 2012 hat die Bundesregierung rund
1 Milliarde Euro für Hilfe in der Region zur Verfügung
gestellt. Weitere 500 Millionen Euro wurden bis 2017
zugesagt. Unser THW hilft in Flüchtlingslagern mit le-
bensnotwendigen Infrastrukturen.

Ich plädiere daher auch heute dafür, den Fokus der
Hilfe weiter in der Region zu belassen. Wir können nicht
alle syrischen Flüchtlinge bei uns aufnehmen. Ein koor-
dinierter Einsatz der europäischen Entwicklungshilfe
kann dazu beitragen, die ganze Region zu stabilisieren.
Die Anrainerstaaten Libanon, Jordanien, Irak oder Tür-
kei leisten extrem viel, und auch sie brauchen dringend
unsere Unterstützung. Dort muss die wahre Flüchtlings-
krise bewältigt werden. Mit seiner Sonderinitiative
„Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“
hat Bundesentwicklungsminister Müller gezeigt, wie
man Fluchtursachen überwinden, die Aufnahmegebiete
unterstützen und Reintegration fördern kann.

Eine Aufnahme in Deutschland kann nur im Einzel-
fall helfen. Wir versperren uns dem auch nicht grund-
sätzlich. Aber bevor wir beschließen, weitere Flücht-
linge aufzunehmen, sollten wir die aktuell stattfindenden
Verhandlungen in Brüssel abwarten. Weitere deutsche
Aufnahmeprogramme müssen endlich Teil einer euro-
päischen Antwort sein. Deshalb werden wir den heute
vorliegenden Anträgen auch nicht zustimmen.

Das grundlegende Problem werden wir nur dann lö-
sen, wenn es endlich gelingt, den Konflikt einzudämmen
und Syrien einen Weg zu Frieden und Stabilität zu eröff-
nen. Vielleicht kann die sich jetzt abzeichnende Norma-
lisierung der Beziehungen zwischen dem Iran und der
westlichen Welt eine Chance für Frieden in Syrien sein.
Wir müssen jede Chance nutzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810017300

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Ulla Jelpke

von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810017400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-

gin Lindholz, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, dass
man sehr viel für die Flüchtlinge tun muss, sowohl in
den Anrainerstaaten, wo ja die Zustände katastrophal
sind, aber, wie ich meine, eben auch in Deutschland.
Man sollte nicht immer so tun, als wenn Deutschland
nicht mehr machen könnte. Ich gebe Ihnen auch gerne
darin recht, dass auch andere EU-Staaten mehr tun müs-
sen. Aber so zu tun, als wären unsere Kapazitäten völlig
erschöpft, halte ich für absolut falsch und auch für keine
besonders humanitäre Geste angesichts der Situation in
vielen dieser Länder.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir beraten heute auch ei-
nen Antrag der Linken. Es geht darin um die humanitäre
Hilfe und den Flüchtlingsschutz für Jesidinnen und Jesi-
den. Viele erinnern sich an die schrecklichen Ereignisse
vom letzten Sommer, als der mörderische sogenannte Is-
lamische Staat insbesondere in Schengal die Nichtgläu-
bigen, also die Jesidinnen und Jesiden, angegriffen hat.
Vor allen Dingen in dieser Region wurden Tausende von
Frauen verschleppt, vergewaltigt und versklavt. Viele Je-
sidinnen und Jesiden konnten überhaupt nur durch das
Eingreifen kurdischer Milizen gerettet werden. Diese ha-
ben einen Korridor erkämpft und viele Tausende aus
Schengal herausgeholt.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles ohne Waffen?)


– Nein, nicht ohne Waffen, Kollege. Sie hatten sehr wohl
Waffen, wie wir wissen. – Jedenfalls hat es dort viele
Hilfen gegeben, und ich denke, dass man gerade auch
diesen Milizen dafür danken muss, dass sie durch ihren
Einsatz dort so viele Tausend Menschen gerettet haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Insgesamt muss man aber leider feststellen, dass sich
in dieser Region nichts geändert hat. Die meisten Jesiden
leben in Flüchtlingslagern. Nach wie vor wird Schengal
vom IS angegriffen; es werden Heiligtümer geschändet
und dem Erdboden gleichgemacht. Zurzeit sind viele
Flüchtlinge in Rodschawa bzw. im Nordirak, um dort
Schutz zu suchen. Diese Flüchtlinge brauchen auf jeden
Fall mehr Hilfe. Alle Berichte, die ich bekomme, besa-
gen: Die Lage vor Ort ist katastrophal. Wenn nicht ge-
holfen wird – das muss die internationale Gemeinschaft
machen, aber eben auch Deutschland –, dann sind das
die nächsten Flüchtlinge, die sich auf den Weg machen
und auf die Schiffe gehen, um nach Europa zu kommen.
Das kann nicht die einzige Alternative sein; denn die
Mehrheit gerade der Jesidinnen und Jesiden, die aus
Schengal kommen, will eigentlich in ihre Heimatregio-
nen zurückkehren, wenn der mörderische IS das Land
dort nicht mehr besetzt hält.

Meine Damen und Herren, es geht auch nicht nur um
Geld. Die Bundesregierung muss auch politischen Druck
auf die Türkei und den Irak ausüben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Insbesondere Syrien unterliegt dem Embargo. Viele
Hilfsgüter kommen dort gar nicht an. Deswegen müssen
endlich Grenzen geöffnet werden, damit die Flüchtlinge
entsprechend versorgt werden können und nicht die
ärmsten Regionen alleine mit den Flüchtlingen dastehen.

Ich will auf diesen Punkt noch näher eingehen. Es
gibt einige Initiativen der Bundesländer. Baden-
Württemberg zum Beispiel will 500 Jesidinnen aufneh-
men. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel, dem andere
Länder folgen sollten. So könnte Frauen, die schwer
traumatisiert sind, hier vor Ort geholfen werden. Sie,
Frau Lindholz, haben eben auch gesagt, dass Einzelfall-
entscheidungen notwendig sind, dass individuell ent-
schieden werden muss. Auch wenn es in diesem Fall um
eine Gruppe geht, wäre genau hier Hilfe notwendig. Ich
appelliere nicht nur an den Bund, sondern auch an die
Länder, an dieser Stelle aktiv zu werden.

Ich gibt zurzeit noch ein weiteres großes Problem.
Viele Flüchtlinge, die hierhergekommen sind, haben ihre
Familien in den Ländern, zum Beispiel im Irak oder
auch in Syrien, zurückgelassen. Damit die Familien
nachziehen können, brauchen sie Visa. Ich will ein Bei-
spiel nennen: Ein junger Mann, der hierher geflüchtet ist
und als Flüchtling anerkannt wurde, hat sich an mich
gewandt. Seine Frau hat Anfang des Jahres ein Kind
geboren. Er möchte seinen Sohn, den er bis heute nicht
gesehen hat, und sie hierherholen. Die Botschaften sind
zurzeit aufgrund schlechter Personalausstattung so über-
lastet, dass er erst einen Termin im Dezember bekom-
men hat.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist noch früh!)


Die Botschaft, die ich angeschrieben habe, bzw. das
Auswärtige Amt hat gesagt, das sei kein Notfall. Ich
finde es wirklich halbherzig, wenn Flüchtlinge so lange
warten müssen, bis ihre Familien nachziehen können,
die dadurch ja auch Gefahren ausgesetzt werden. Des-
wegen fordern wir Linke, endlich die Botschaften ent-
sprechend auszustatten, damit nicht so viel Zeit vergeht,
bis Familien zusammengeführt werden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
noch einen Punkt ansprechen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810017500

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie

haben Ihre Redezeit schon weit überzogen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810017600

Es ist mein letzter Satz. – Wir haben gestern ausführ-

lich über die EU-Abschottungspolitik, insbesondere was





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

die Flüchtlinge aus Syrien und Irak betrifft, gesprochen.
Ich denke, wenn wir sichere Fluchtwege schaffen, dann
müssen wir die Flüchtlinge hier auch aufnehmen. Wir
können nicht, wie es eben schon anklang, dann die Gren-
zen dichtmachen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810017700

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Christina

Kampmann von der SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Kampmann (SPD):
Rede ID: ID1810017800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als
ich am 17. Februar dieses Jahres zusammen mit meinen
Kollegen Jens Zimmermann und Thomas Hitschler eine
kleine Zeltsiedlung im Libanon nahe der syrischen
Grenze betrat, war das Erste, was wir sahen, Kinder,
viele kleine Kinder, die dort barfuß durch den Schnee
stapften. Nein, es waren keine 20 Grad und Sonne, es
hatte geschneit, und die Temperaturen lagen um den Ge-
frierpunkt. In vielen Zelten hatte es durchgeregnet, so-
dass zu der bitteren Kälte auch noch Feuchtigkeit kam,
die es mir unmöglich erscheinen ließ, dass man dort
wirklich leben konnte.

Den Flüchtlingen aus Syrien fehlt es am Nötigsten.
Das wissen wir alle. Vier von fünf Syrern leben inzwi-
schen in Armut. Aber was heißt das eigentlich, wenn es
am Nötigsten fehlt? Wir hatten die Möglichkeit, mit
zwei Familien dort darüber zu sprechen. Sie haben uns
deutlich gemacht, was es eigentlich bedeutet, jeden Tag
Hunger zu haben und das wenige Essen, das man be-
kommt, mit der ganzen Familie teilen zu müssen, was es
bedeutet, den ganzen Tag zu frieren und abends eben
kein warmes Bett zu haben, sondern nur eine feuchte
Decke, die für die ganze Familie reichen muss.

Bei all diesen Dingen, die fehlen oder von denen es zu
wenig gibt, obwohl sie eigentlich dieses Nötigste, von
dem wir so oft sprechen, darstellen, gibt es dennoch et-
was, das schlimmer als Hunger, Durst und Kälte zusam-
men ist. Das ist die fehlende Hoffnung auf eine Perspek-
tive, die Menschen oft auch Unerträgliches ertragen
lässt. Für die syrischen Flüchtlinge gibt es diese Per-
spektive nicht. Die Sorge, dass dort eine verlorene Gene-
ration heranwächst, treibt, so glaube ich, uns alle hier an.

Lag die Alphabetisierungsquote in Syrien vor Beginn
der Krise noch bei 95 Prozent, so ist die Einschulungs-
quote heute eine der weltweit niedrigsten. Es fällt nicht
schwer, sich auszumalen, was das für die Zukunft in Sy-
rien bedeutet. Deshalb ist es nicht nur menschlich gebo-
ten, sondern es ist auch politisch vernünftig, dass wir uns
für die Menschen, die vor Gewalt und Elend fliehen,
engagieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist richtig: Deutschland hat sich mehr engagiert als
die meisten anderen Länder. Frau Lindholz hat das
Kontingent von 31 000 Personen angesprochen. Über
100 000 Menschen aus Syrien sind inzwischen insge-
samt zu uns gekommen. Wir haben auch finanzielle Un-
terstützung für die Hilfe vor Ort geleistet. 850 Millionen
Euro wurden seit 2012 bereitgestellt. Auf der Flücht-
lingskonferenz im vergangenen Oktober haben Frank-
Walter Steinmeier und Entwicklungsminister Müller
noch einmal 500 Millionen Euro bis 2017 zugesagt. Von
dieser Hilfe wurde bereits die Hälfte umgesetzt. Auf der
Geberkonferenz Ende März dieses Jahres wurden erneut
255 Millionen Euro versprochen.

Diese humanitäre Hilfe ist richtig. Ich erwarte nicht,
dass sie in Ihrem Antrag eine besonders herausgehobene
Würdigung erfährt; denn das ist selbstverständlich. Ich
finde aber durchaus, dass es notwendig wäre, in dem An-
trag die Hilfe anzuerkennen, und zwar nicht als Selbst-
zweck, sondern um anzuerkennen, was viele Hundert
freiwillige Helfer jeden Tag vor Ort leisten, was Kom-
munen und Länder jeden Tag vor Ort leisten, um Inte-
gration möglich zu machen. Ich finde, das deutsche und
kommunale Engagement hätte durchaus eine Anerken-
nung in diesem Antrag erfahren können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin dennoch dankbar für beide Anträge, weil ich
die Meinung teile, dass es das noch nicht gewesen sein
kann; denn der Krieg in Syrien ist nicht zu Ende. Die Er-
folge im Vorgehen gegen den „Islamischen Staat“ sind
zwar da, aber es fliehen weiterhin Menschen vor dessen
Gräueltaten. Deshalb wäre es falsch, sich jetzt zurückzu-
lehnen, sich auf die Schulter zu klopfen, sich mit dem
Getanen zufriedenzugeben und mit dem Finger auf die
anderen zu zeigen und zu rufen: Jetzt seid ihr aber dran.

Es stimmt, dass es eine gesamteuropäische Verant-
wortung gibt. Ich teile auch Ihre Auffassung, dass es gut
ist, dass es Teil des Zehn-Punkte-Plans der Europäischen
Union ist, ein Kontingent von 5 000 Menschen aufzu-
nehmen. Aber es muss auch mehr legale Wege der Ein-
wanderung geben. Die Aufnahme eines europäischen
Kontingents wäre ein wichtiger und richtiger Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Was ich aber nicht teile und was ich wirklich kritisch
sehe, das ist die Aussage unseres Innenministers, die
Aufnahme eines weiteren deutschen Kontingentes an das
Zustandekommen dieses europäischen Kontingentes zu
knüpfen; denn die Diskussion um die Aufnahme eines
europäischen Kontingentes gab es auch vorher schon.
Wir alle wissen: Da ist lange Zeit nichts passiert. Das
liegt an der mangelnden Bereitschaft vieler Mitgliedstaa-
ten. Es ist richtig, dass das nicht sein kann. Deshalb müs-
sen wir da auch weiterhin Druck machen. Meine Mei-
nung ist aber, dass diese Tatsache uns nicht von der
Verantwortung entbindet, selbst tätig zu werden.





Christina Kampmann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern mag
eine richtige politische Kategorie sein. Für mich ist er
aber nicht die maßgebliche politische Kategorie; denn
messen lassen müssen wir uns an unseren eigenen Wer-
ten und an unserer eigenen Verfassung. Ich bin der Mei-
nung, dass es nicht damit getan sein kann, einmal zu
helfen, dann die Hände in den Schoß zu legen und abzu-
warten, was andere tun. Denn die Menschen kommen
sowieso, weil sie keine andere Wahl haben. Deshalb
müssen wir auch so ehrlich sein und da, wo es möglich
ist, Möglichkeiten der legalen Einwanderung schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlingspolitik
funktioniert aber nur dann, wenn sie eben nicht nur von
einem Ende her gedacht ist. Eine erfolgreiche Flücht-
lingspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass man die
Menschen, die zu uns kommen und Schutz vor Vertrei-
bung und Gewalt suchen, aufnimmt. Sie hat aber auch
die andere Seite im Blick, die deutlich macht, dass es
eben nicht reicht, Flüchtlinge hierherzubringen, sondern
dass wir sie auch menschenwürdig unterbringen müssen
und ihnen vor Ort Perspektiven aufzeigen müssen. An
dieser Stelle sind mir Ihre Anträge, ehrlich gesagt, zu
kurz gedacht. Vor Ort müssen nämlich auch die Mög-
lichkeiten geschaffen werden, und die Kommunen dür-
fen nicht alleingelassen werden. Deshalb bin ich sehr
froh über die klaren Worte von Sigmar Gabriel und
Thomas Oppermann, wenn es um die Übernahme von
Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge in den
Kommunen geht.


(Beifall bei der SPD)


Es ist richtig, dass nicht die Kommunen die Verant-
wortung für die Krisen und Kriege in dieser Welt haben;
die Kommunen sind aber von den Folgen direkt betrof-
fen. Wenn vor Ort entschieden werden muss, ob entwe-
der ein neues Flüchtlingsheim gebaut wird oder eine
Schule saniert wird, dann ist gesellschaftlicher Friede
ganz konkret in Gefahr. Ich finde, es ist auch unsere Auf-
gabe als Politiker, dafür Verantwortung zu übernehmen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb kann eine größere finanzielle Unterstützung der
Kommunen an dieser Stelle – das sage ich auch ganz
deutlich Richtung Koalitionspartner – die einzig richtige
Antwort auf die steigenden Flüchtlingszahlen sein.

Ich bin froh und dankbar, dass ich in ganz vielen Städ-
ten und Gemeinden viele Menschen erlebe, die sich ge-
rade freiwillig melden und sagen: „Wir wollen helfen“,
die da helfen, wo Hilfe nötig ist, egal ob bei der Haus-
aufgabenbetreuung, beim Erlernen der Sprache oder
vielleicht bei der Durchführung eines gemeinsamen
Kochabends. Sie bringen damit ein Stück Menschlich-
keit in eine Umgebung, die von vielen schweren Schick-
salen und traurigen Lebensgeschichten geprägt ist.
Danke ihnen allen für ihr Engagement, das in einer Zeit,
in der mehr Menschen denn je weltweit auf der Flucht
sind, von unschätzbarem Wert ist, wie ich finde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlingspolitik
hat viele Facetten. Sie wird uns nur dann gelingen, wenn
wir alle diese Facetten zusammendenken. Dazu müssen
wir zum einen die Situation in den Herkunftsländern im
Blick haben. Wir müssen uns auch die Lage in den an-
grenzenden Staaten anschauen, die mehr Flüchtlinge
aufnehmen als wir alle zusammen. Wir müssen eben
auch die Lage der Kommunen vor Ort im Blick haben.
Nur wenn wir diese Aspekte gleichrangig betrachten,
werden wir den Herausforderungen, die sich aus der Tat-
sache ergeben, dass weltweit über 50 Millionen Men-
schen auf der Flucht sind, auch so begegnen können,
dass wir Menschen Schutz und Perspektive geben kön-
nen, die bei uns eine Zuflucht suchen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810017900

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Luise Amtsberg von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810018000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kein Essen, kein Wasser, keine medizinische Hilfe,
keine Elektrizität, tagelanger Beschuss durch die Terror-
miliz IS – so die Lage im palästinensischen Flüchtlings-
lager Jarmuk in Syrien, die von Tag zu Tag verzweifelter
wird. In dem Viertel, das durch eine fast zweijährige
Blockade durch die syrischen Regierungstruppen ohne-
hin völlig ausgeblutet ist, leben circa 18 000 Menschen,
darunter 3 500 Kinder. Ich frage mich, wenn ich Ihre
Worte, Frau Lindholz, ernst nehmen soll: Wie möchten
Sie dort vor Ort helfen? Ich frage mich das wirklich,
weil ich für diese Idee offen bin und das Engagement an
dieser Stelle gern loben würde. Aber wenn man sich die
Situation in Jarmuk anguckt, dann weiß man einfach
– diese Meinung werden alle hier teilen können –, wie
schwierig die Lage in Syrien ist und wie wenig dieser
Satz kurzfristig in die Realität umgesetzt werden kann.
Ob bedroht durch Assads Regierungstruppen oder die
Milizen des IS – in Syrien ist ein sicheres Leben derzeit
nicht mehr möglich.

Im Irak ist die Lage ebenfalls besorgniserregend.
Mittlerweile sind laut UNHCR mindestens 2,7 Millionen
Menschen innerhalb des Iraks auf der Flucht. Obwohl
die Bundesregierung immer wieder besonders auf die
dramatische Lage der stark betroffenen Minderheiten im
Irak hinweist, ist sie diesbezüglich bisher untätig geblie-
ben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind diese
Menschen, die unsere gezielte Hilfe brauchen. Ihnen
müssen wir das Höchstmaß unserer Solidarität entgegen-
bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN Luise Amtsberg KEN und des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])





(A) (C)


(D)(B)


Dass man etwas tun kann, macht uns zum Beispiel
das Land Baden-Württemberg vor. Die grün-rote Lan-
desregierung hat damit begonnen, ein Sonderkontingent
von 1 000 Frauen aus den kurdischen Teilen des Iraks
aufzunehmen. Das ist nur eine kleine Zahl; aber das Ein-
zelschicksal ist entscheidend.

Ja, Deutschland tut viel, viel mehr als andere europäi-
sche Staaten. Das zu erwähnen und zu betonen, ist gut
und wichtig, aber vor allem deshalb, um die anderen
Staaten, die untätig sind, anzutreiben, sich ihrer Verant-
wortung nicht zu entziehen, und nicht deshalb, um uns
unserer Verantwortung zu entziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn die Untätigkeit anderer
EU-Staaten ein Argument ist, nicht mehr Menschen aus
Syrien aufzunehmen, warum ist das Engagement von
Ländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei
dann nicht ein Argument, deutlich mehr in Deutschland
aufzunehmen? Das ist doch eine verdrehte Logik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann verstehen, dass Sie sich an der Rhetorik un-
seres Antrags stoßen, weil wir das deutsche Engagement
nicht ausreichend loben. Aber ich kann darin natürlich
nicht die Ergebnisse von Konferenzen loben, die nach
der Erstellung des Antrags stattgefunden haben; das
muss ich an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen.
Der Antrag ist aus dem November letzten Jahres. Es ist
aber auch so: Unsere Fraktion ist vorher auf alle zuge-
gangen. Wir haben versucht, einen gemeinschaftlichen
Antrag zu dieser Sache mit dem zentralen Ziel, mehr sy-
rische Flüchtlinge in geregelten Verfahren auf sicherem
Weg nach Europa zu bringen, zu erreichen. Die Bereit-
schaft, mit uns gemeinsam einen solchen Antrag auf den
Weg zu bringen, der dann vielleicht auch diesen Aspekt
berücksichtigt, war nicht da. Mit dem Ansatz sind wir
leider gescheitert.

Wir Grüne glauben, dass der deutsche Beitrag größer
sein kann als bisher.


(Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mindestens könnte man an den derzeit bestehenden im-
manenten, auch menschenrechtlichen Defiziten bei der
Aufnahme von Flüchtlingen arbeiten. Ich finde, es kann
nicht sein, dass die Aufnahme syrischer Flüchtlinge im
Rahmen der Familienzusammenführung so katastrophal
verläuft wie derzeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch auf Nachfragen im Innenausschuss haben Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition,
immer wieder gesagt, dass die Botschaften ihr Bestes
tun. Das stimmt gar nicht; sie tun mehr als ihr Bestes.
Sie leisten sogar Wochenendschichten. Trotzdem – das
haben wir gerade erfahren – hat die Botschaft in Ankara
bis Mitte 2016 keine freien Termine mehr. Genau das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist für viele Syrerinnen
und Syrer der Anlass, mit viel Geld auf dem Schwarz-
markt Termine zu ergattern oder Schlepper zu bezahlen,
damit sie sie über das Mittelmeer fahren. Wie das enden
kann, haben wir am Wochenende gesehen. Wir sollten
alles daransetzen, dass das nicht wieder passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Inge Höger [DIE LINKE])


Uns erreichen täglich in unseren Büros, auch hier im
Bundestag, die verzweifelten Briefe und Anrufe von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der AWO, der Diako-
nie, der Caritas oder anderer Einrichtungen, die bei ihrer
Arbeit jeden Tag syrische Familienväter beruhigen müs-
sen, weil diese auch nach sieben Monaten noch keine
Anhörung beim Bundesamt hatten und aus Sorge um
ihre Familien im Heimatland fast umkommen. Diese
Menschen haben genug hinter sich, aber auch noch ge-
nug vor sich. Wir dürfen sie nicht alleinlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Ein zentraler Punkt in unserem Antrag ist, dass wir
mehr Personal in den Botschaften, aber auch im Bundes-
amt fordern. Wir fordern des Weiteren, die gesamte In-
frastruktur zur Aufnahme von Flüchtlingen zu verbes-
sern; denn so, wie es jetzt läuft, ist es eines Rechtsstaats
wirklich unwürdig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Antrag befasst sich nun einmal auch mit den
Dingen, die bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlin-
gen nicht so gut laufen. Auch wenn dies immer wieder
bestritten wird: Noch immer gibt es Rücküberstellungen
von Syrern nach Ungarn und Bulgarien. Dazu laufen bei
uns jede Menge Petitionen. Wir finden, dass das nicht
verhältnismäßig ist. Auch bei den Menschen aus dem
Irak gibt es weiterhin Dublin-Rücküberstellungen, auch
wenn ihre Familien in Deutschland leben. Bei uns liegen
sogar Petitionen von Flüchtlingen aus dem von mir
schon erwähnten Jarmuk vor, die nach Italien zurückge-
schickt werden sollen, obwohl sie Verwandtschaft in Ba-
den-Württemberg haben. Ich meine, das kann doch kein
Zustand sein, der uns zufriedenstellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali-
tion, es mag sein, dass dieser Antrag, was die Form an-
belangt, Sie nicht zu 100 Prozent überzeugt. Die in ihm
genannten Defizite sind aber real. Sie alle werden damit
in Ihren Wahlkreisen konfrontiert. Ich bitte Sie noch ein-
mal eindringlich, darüber nachzudenken, zumindest den
Forderungen in diesem Antrag Ausdruck zu verleihen,
indem Sie ihm zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810018100

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Nina Warken von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1810018200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat
es vergangene Woche bei seiner Eröffnungsrede auf dem
Migrationsgipfel auf den Punkt gebracht:

Kein Land in Europa leistet bei der Aufnahme von
Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Irak und aus
Syrien so viel wie Deutschland. Deutschland nimmt
rund drei Viertel aller syrischen Flüchtlinge auf, die
weltweit durch humanitäre Programme außerhalb
der Krisenregionen Schutz finden.

Meine Damen und Herren, 125 000 Syrer leben heute
in Deutschland. Davon sind fast 70 000 nach Beginn des
Konfliktes als Asylbewerber zu uns gekommen. Die So-
lidarität mit den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien
und aus dem Irak ist nach wie vor groß in unserem Land.
Ausländerbehörden und Sozialarbeiter haben ein offenes
Ohr für die Belange der Flüchtlinge und tun viel, um den
Menschen zu helfen. Besonders bemerkenswert finde
ich aber vor allem das Engagement der unzähligen eh-
renamtlichen Helfer, die überall in Deutschland die an-
gekommenen Flüchtlinge unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Auch und gerade beim Familiennachzug sind diese
Ehrenamtlichen eine gewaltige Stütze. Sie helfen beim
Kontakt mit Behörden, bei der Suche nach einer geeig-
neten Wohnung und bei der Beschaffung der erforderli-
chen Unterlagen für das Visumverfahren. Ich bin stolz
darauf, dass es bei uns in Deutschland ein so ausgepräg-
tes ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge gibt. Ei-
nen deutlicheren Beweis dafür, dass unser ganzes Land
zu seiner humanitären Verantwortung steht, kann es
kaum geben.

Deutschland nimmt aber nicht nur die meisten Flücht-
linge in Europa auf, sondern ist auch der größte finan-
zielle Geber in der Region. Seit Beginn des Konflikts in
Syrien ist mittlerweile fast 1 Milliarde Euro an humani-
tärer Hilfe, strukturbildenden Übergangshilfen und bila-
teraler Unterstützung für die Nachbarstaaten gezahlt
worden. Auch das THW unterstützt die Menschen vor
Ort in den Flüchtlingslagern maßgeblich. Dank der eh-
renamtlichen Helfer vom THW gibt es eine ordentliche
Trinkwasserversorgung, und die Lager konnten im ver-
gangenen Herbst winterfest gemacht werden. Auch in
dieser Beziehung ist Deutschland führend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


All dem, meine Damen und Herren, werden die bei-
den Anträge überhaupt nicht gerecht. Sie blenden das
beträchtliche Engagement einfach aus. Stattdessen for-
dern Sie unreflektiert immer mehr. Wieso unreflektiert?
Diese Frage möchte ich Ihnen beantworten.
Erstens. All die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnah-
men würden derzeit nur den Exodus aus der Region för-
dern.

Zweitens. Es kommt hinzu – das werden auch Sie
kaum bestreiten können –, dass jeder von uns gegebene
Euro vor Ort wesentlich mehr Menschen zugutekommt,
wodurch viel mehr geleistet werden kann. Das sehen im
Übrigen auch Hilfsorganisationen wie das UN-Flücht-
lingshilfswerk so, das explizit darauf drängt, die Hilfe
auf die Krisenregion zu konzentrieren.

Drittens. Mit jedem Aufnahmeprogramm – egal wie
groß wir es bemessen – kann immer nur einem Bruchteil
der Flüchtlinge geholfen werden. Deshalb sind die Bun-
desaufnahmeprogramme explizit dafür gedacht, beson-
ders Schutzbedürftige nach Deutschland zu holen, denen
in den Lagern vor Ort nicht geholfen werden kann. So
sind über die Aufnahmeprogramme von Bund und Län-
dern bisher rund 27 300 Menschen nach Deutschland ge-
kommen. Die Aufnahmeprogramme sind aber noch
nicht voll ausgeschöpft.

Meine Damen und Herren, das Aufnahmeprogramm
für besonders Schutzbedürftige muss nun europäisch
werden; denn wenn Deutschland so viele Flüchtlinge
aufnehmen kann, dann können das auch unsere europäi-
schen Partner. Dennoch wollen wir, dass der Schwer-
punkt unserer Hilfe für syrische und irakische Flücht-
linge in der Krisenregion bleibt.

Meine Damen und Herren, die Opposition kennt ein-
mal mehr nur die Methode „Fische verschenken“. Fische
sind aber schnell gegessen. Deswegen muss man nicht
nur Fische, sondern auch eine Angel liefern. Dieser Ge-
danke hat sich leider noch nicht durchgesetzt. Wir aber
glauben trotz mancher Schwierigkeit nach wie vor an die
Methode der Angel.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810018300

Frau Warken, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Künast zu?


Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1810018400

Nein.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage wäre aber gut gewesen!)


Ich möchte aber noch weitere Gründe nennen, warum
Ihre Anträge abzulehnen sind. Viele Ihrer Forderungen
sind schlicht überflüssig. Der Abschiebestopp nach
Syrien oder in den Irak muss beispielsweise nicht verlän-
gert werden. Bund und Länder haben sich bereits darauf
verständigt, dass niemand nach Syrien abgeschoben
wird, solange der Krieg dort andauert.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Antrag ist aus dem November! Diesen Punkt ignorieren Sie!)


Das gilt auch für den Irak. Seit Juni 2014 wurde kein
Asylantrag mit dem Herkunftsland Irak negativ entschie-
den. Auch der Familiennachzug zu Flüchtlingen in
Deutschland ist klar geregelt. Anders als in anderen Län-





Nina Warken


(A) (C)



(D)(B)

dern besteht bei uns ein Recht auf Familiennachzug. Das
dürfte auch Ihnen bekannt sein.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das dauert aber ein Jahr!)


Das Personal in den Botschaften wurde deutlich aufge-
stockt, und die Mitarbeiter arbeiten unter Hochdruck.
Auch das Personal im BAMF wurde aufgestockt.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht trotzdem nicht!)


Schließlich gilt es, den Blick auch auf unsere Kom-
munen zu lenken, die Sie einmal mehr vollkommen au-
ßer Acht gelassen haben. Unsere Landkreise, Städte und
Gemeinden stehen schon heute vor gewaltigen Heraus-
forderungen. Sie brauchen Zeit, um diese zu bewältigen.
Strukturen müssen geschaffen, Asylbewerberheime ge-
baut werden. Sie jetzt durch gesetzgeberische Maßnah-
men potenziell weiter zu belasten, wäre ein vollkommen
verfehltes Zeichen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810018500

Frau Warken, es gibt den Wunsch nach einer weiteren

Zwischenfrage von Frau Haßelmann.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ist schlimm, so ein parlamentarisches Verfahren!)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1810018600

Bitte.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810018700

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank auch,

Frau Warken, dass Sie die Frage zulassen. Ich mache es
auch ganz kurz.

Sie beklagen, dass unsere Fraktion, die den Antrag
zum Thema „zusätzliche Aufnahme syrischer Flücht-
linge“ gestellt hat, in dem wir fordern, das Kontingent zu
erhöhen und die Familienzusammenführung zu erleich-
tern, die Kommunen, die in dieser Frage sehr wichtig
sind, aus dem Blick verloren hat bzw. die Belange der
Kommunen nicht stärker berücksichtigt.

Wenn Sie das von uns einfordern – wir wissen sehr
wohl, dass Kommunen, Städte, Gemeinden, Landkreise
eine ganz bedeutende Aufgabe bei der Erstaufnahme, bei
der Begleitung und bei der Betreuung von Flüchtlingen
haben –, dann frage ich mich: Wie können Sie sich ei-
gentlich erklären, dass zu dem nationalen Flüchtlings-
gipfel der Bundesregierung, der am 8. Mai 2015 stattfin-
det und auf dem über die Unterbringungssituation von
Flüchtlingen in Deutschland gesprochen werden soll, die
Kommunen von der Kanzlerin und den Regierungsfrak-
tionen gerade nicht eingeladen wurden, obwohl sie doch
die Hauptakteure sind? Können Sie uns das einmal er-
klären?


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Weil die Kommunen zu den Ländern gehören!)


Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1810018800

Die Länder waren ja am Tisch.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ja jetzt über die Kommunen gesprochen! Sie ja auch! Über die große Bedeutung der Kommunen!)


Die Verantwortung für die Unterbringung liegt ja bei den
Ländern. Dieser Verantwortung müssen die Länder auch
gerecht werden.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, deshalb lehnen Sie den Antrag ab?)


Ich glaube nicht, dass es so ist, dass die Kommunen und
die kommunalen Spitzenverbände im Bundeskanzleramt
kein Gehör finden, so wie Sie das darstellen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind aber nicht eingeladen!)


Ich glaube schon, dass da auch Gespräche stattfinden.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Ständig eingebunden!)


Aber bei dieser Zusammenkunft geht es eben um die
Verantwortung und um die Aufgaben der Länder.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind nicht eingeladen! – Gegenruf des Abg. Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Die sind vorher schon eingebunden!)


Wir sollten den Kommunen die Zeit geben, die sie be-
nötigen, und gleichzeitig auch überlegen, wie wir ihnen
unter die Arme greifen können. Damit meine ich nicht so
wie Sie, ständig mehr Geld vom Bund zu fordern. Wir
dürfen schließlich auch die Bevölkerung nicht überfor-
dern. Es herrscht eine große Solidarität. Damit dies so
bleibt, müssen Sorgen und Ängste ernst genommen wer-
den. Dafür ist es notwendig, mit Bürgerinnen und Bür-
gern zu reden und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestern hat
der Bundestag über die tragische Flüchtlingskatastrophe
im Mittelmeer debattiert. Das Leid und die Not dort sind
unermesslich. Aber auch hier gilt der gleiche Grundsatz:
Wenn wir nicht dazu beitragen, den Menschen in ihrer
Heimat eine Perspektive zu geben, werden wir die Pro-
bleme nicht lösen. Deutschland will den Menschen aus
den Bürgerkriegsländern helfen, und Deutschland hilft
mit Maß, Verstand und Mitte. Daher lehnen wir Ihre An-
träge ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810018900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Frank

Heinrich von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B)


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1810019000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Gestern hatten wir
eine sehr emotionale Debatte – wie ich finde, nicht ab-
gleitend emotional – zur Flüchtlingskatastrophe auf dem
Mittelmeer. Angesichts der Toten wird deutlich: Die hu-
manitäre Hilfe – darüber sind wir uns übrigens einig,
auch wenn jetzt vielleicht ein anderer Eindruck entstan-
den ist – muss ausgebaut werden. Die EU und auch
Deutschland haben viel getan. Das hat auch die Opposi-
tion so dargestellt. Wir müssen, wollen und werden noch
mehr tun. Das kann es noch nicht gewesen sein, haben
Sie, Frau Kampmann, gesagt. Genau.

Ich möchte zu Beginn ein Zitat anführen. 2009, also
noch in einer Zeit, in der das Flüchtlingsproblem noch
nicht so drastisch war, wurde auf der Katholischen Bi-
schofskonferenz Italiens gesagt:

Wir können nicht zulassen, dass dort Menschen
sterben, wenn die Möglichkeit besteht, sie zu retten.

Angesichts der Bilder, die wir vor Augen haben, auch
die vom letzten Wochenende, ist es fast zynisch, in der
heutigen Debatte über Zahlen zu reden. Doch ist es ein
Stück weit unsere Aufgabe.

Sie, Frau Amtsberg, haben gesagt, dass Ihr Antrag im
November gestellt wurde. Der Antrag der Linken ist
vom Oktober. Deshalb ist es ein bisschen schwierig, die
Anträge zu beurteilen. Es hat sich nämlich seitdem eini-
ges geändert. Gerade im Norden des Irak und Syriens ist
die Bundesregierung sehr aktiv. Das haben auch die Vor-
redner gesagt. Bei aller Betroffenheit dürfen wir das,
was wir gut tun, nicht kleinreden.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das machen wir auch nicht!)


Ich bin froh darüber, dass Sie das genauso sehen, Frau
Amtsberg.

Zur Situation. Im Februar 2015 waren im Irak
235 000 Flüchtlinge aus Syrien registriert, hauptsächlich
im Norden des Landes, und zwar in Dohuk an der
Grenze zur Türkei. Insgesamt sind 4 Millionen Men-
schen in die umliegenden Länder geflüchtet. Im Irak sel-
ber sind eine halbe Million Menschen auf der Flucht.
Eine meiner Vorrednerinnen hat es ebenfalls gesagt.

Es tauchen immer wieder Fragen auf, die wir auch in
unserem Land beantworten müssen: Wie groß ist zum
Beispiel der Finanzbedarf für die syrischen Flüchtlinge?
Der UNHCR hat gesagt, dass es in diesem Jahr 4,5 Mil-
liarden US-Dollar sind. Das ist eine Menge Holz. Damit
ist auch klar, dass es nicht nur ein Problem Deutschlands
ist, sondern der Weltgemeinschaft. Wir haben heute sehr
oft gehört: auch der EU. Wir fordern zur Hilfe auf, in-
dem wir schon in Vorleistung gehen.

Eine weitere Frage ist: Mit wie viel Geld hilft
Deutschland? Das BMI hat die Gesamtsumme der durch
das Auswärtige Amt und das BMZ geförderten Hilfs-
maßnahmen zusammengerechnet. Es sind 743,9 Millio-
nen Euro in den letzten drei Jahren. Ende März hat
Deutschland angekündigt, in diesem und den zwei Fol-
gejahren weitere 500 Millionen Euro zu geben. Damit
gehören wir weiterhin – das ist gut so; ob genug, darüber
können wir gerne diskutieren – zu den größten Gebern
humanitärer Hilfe in dieser Region.

Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um
Know-how. Vorhin wurde gesagt, dass sich das Techni-
sche Hilfswerk in Flüchtlingslagern in Jordanien und im
Irak um die Wasserversorgung und insbesondere um die
Abwasserentsorgung kümmert.

Wer nimmt Flüchtlinge auf? Das sind in erster Linie
die Nachbarländer. 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge
hat die Türkei aufgenommen. Frau Jelpke, Sie haben ge-
rade in Ihrer Rede gesagt, dass wir politisch Druck ma-
chen sollten. Es mag sein, dass das an der einen oder an-
deren Stelle nötig ist, aber wir müssen auch respektieren,
dass die Türkei eine große humanitäre Last dieser Krise
mitträgt. Der Libanon hat fast 1,2 Millionen Flüchtlinge
aufgenommen. Wenn wir das prozentual auf unser Land
übertragen würden, dann müssten wir 27 Millionen
Menschen bei uns aufnehmen. Jordanien hat 630 000
Flüchtlinge, der Irak 250 000 aufgenommen. Die Zahlen
kennen Sie.

Dafür bekommen die Länder der Krisenregion finan-
zielle, technische und personelle Unterstützung.
Deutschland bekennt sich auch zur Stärkung längerfristi-
ger humanitärer und struktureller Hilfen. Hinzu kommt –
darauf bin ich noch nicht eingegangen; der Innenminis-
ter hat diese Zahl genannt –, dass Deutschland bereits
105 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Ein
Drittel davon hat inzwischen Asyl bei uns beantragt.

Der Bund wird weiterhin im Rahmen verschiedener
humanitärer Programme – wir haben gehört, dass hier
noch einiges möglich ist – Flüchtlinge hier aufnehmen
und damit humanitäre Verantwortung übernehmen. Ich
würde gerne in der weiteren Diskussion in unserem Aus-
schuss, Frau Amtsberg, darüber reden, wie man nach Ih-
rer Meinung in Jarmuk mit Kontingenten helfen kann.
Der Bund hat vorletztes Jahr und dieses Jahr bereits zwei
Programme aufgelegt; das Kontingent ist verdoppelt
worden.

Ich komme noch einmal auf die Familien zu sprechen,
die wir in unseren Wahlkreisen treffen und für die wir
uns einsetzen. Ich habe ein Ehepaar vor Augen, das in
meinem Büro war. Es konnte seine Familie tatsächlich in
die Arme schließen. Als sie bei mir im Büro saßen, kam
die Nachricht, dass ihr Nachbarhaus zerstört ist und ihre
Nachbarn nicht mehr leben – Dankbarkeit und Schock
innerhalb weniger Stunden.

Wir sind vom UN-Flüchtlingskommissar gelobt wor-
den, und doch darf das, was wir tun, nicht genug sein.
Das Fazit ist: Die Not der Flüchtlinge lässt uns nicht
kalt. Bei den Konflikten in Syrien und im Nordirak sind
bis dato keine politischen Lösungen in Sicht. Deshalb ist
Deutschland aktiv wie kaum ein anderes Land. Aber da-
rauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Im Antrag der Lin-
ken


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag, oder?)


(D)






Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

wird diese Hilfeleistung schon ein bisschen herabgewür-
digt. Nicht nur deswegen können wir nicht zustimmen,
sondern auch, weil die Zahlen teilweise veraltet sind.
Und doch werden wir – um Sie zu zitieren – die Hände
nicht in den Schoß legen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810019100

Herr Kollege, ich muss auch Sie bitten, zum Schluss

zu kommen.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1810019200

Ein Abschlusszitat. Ich habe mich an einen Liedertext

eines Liedermachers aus Süddeutschland, Manfred Sie-
bald, mit folgenden Worten erinnert:

Ist schon alles geklärt? Sind wir wirklich schon
dort, wo das Reden aufhört und die Tat folgt dem
Wort?

Ich wünschte, es würde uns jetzt prägen, dass die Taten
den Worten folgen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810019300

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zunächst zur Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Solidarität zeigen –
Aufnahme von syrischen und irakischen Flüchtlingen
ausweiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/4163, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/3154 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich
jemand? – Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Opposition angenommen worden.

Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Humani-
täre Hilfe und Flüchtlingsschutz für Jesiden, Kurden und
andere Schutzbedürftige im Norden des Irak und Sy-
riens“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/4417, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2742 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen
worden.

Ich rufe jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den
Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
besserung der zivilrechtlichen Durchsetzung
von verbraucherschützenden Vorschriften des
Datenschutzrechts

Drucksache 18/4631
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss Digitale Agenda

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810019400

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung

erhält jetzt das Wort der Parlamentarische Staatssekretär
Ulrich Kelber.

U
Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1810019500


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zu-
nehmende Digitalisierung unseres Alltags ermöglicht es
Unternehmen, personenbezogene Daten von Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern in immer größerem Umfang
zu verarbeiten. Bei jedem Klick im Internet, jeder Nut-
zung einer Smartphone-App, aber auch bei der Kommuni-
kation vernetzter Komponenten hinterlassen wir digitale
Spuren. Diese Daten sind zu einer Währung geworden.
Das Sammeln und Auswerten von Verbraucherdaten ist
in der digitalen Welt ein lukratives Geschäft. Unterneh-
men, insbesondere die Anbieter von Suchmaschinen und
sozialen Netzwerken, lassen sich ihre Leistungen mit
personenbezogenen Daten ihrer Nutzer bezahlen, die sie
dann zu Werbezwecken oder anderen kommerziellen
Zwecken nutzen oder sogar an andere Unternehmen ver-
äußern.

Gleiches gilt für das Massengeschäft der App-Anbie-
ter. Wenn diese Daten verknüpft werden, dann können
umfassende Persönlichkeits- und Bewegungsprofile er-
stellt und Verhalten gelenkt werden. Dies stellt eine be-
sondere Gefährdung des Persönlichkeitsrechts dar. Da-
von sind alle Verbraucherinnen und Verbraucher in der
digitalen Welt gleichermaßen betroffen. Deshalb wird
wirksamer Verbraucherdatenschutz immer wichtiger.

Das beste Datenschutzrecht ist aber nur so gut wie
seine Durchsetzung. Im Datenschutzrecht gibt es hierfür
zwei Säulen: die öffentlich-rechtliche Durchsetzung
durch Datenschutzbehörden und die zivilrechtliche
Durchsetzung durch die betroffenen Verbraucherinnen
und Verbraucher selbst. Wir wissen aber: Die einzelnen
Verbraucherinnen und Verbraucher sind oft nicht zur in-
dividuellen Durchsetzung ihrer Rechte in der Lage.
Viele der betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher
sind sich der Art und des Umfangs solcher kommerziel-
len Datenverarbeitung auch nicht bewusst. Aber selbst
wenn sie wissen, was mit ihren Daten geschieht, stehen
sie dem oft alleine und hilflos gegenüber. Selbst wenn
sie meinen, dass ein datenschutzrechtlicher Verstoß vor-
liegt, können oder wollen sie sich nicht alleine gegen ein
Unternehmen wehren. Dafür wäre erhebliche juristische
und häufig auch technische Expertise erforderlich, über





Parl. Staatssekretär Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

die der Einzelne nur selten verfügt, anders als die großen
IT-Unternehmen, die teilweise global aufgestellt sind. Es
gibt daher nur wenige Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, die es auf sich nehmen, ihre Ansprüche wegen der
Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbe-
stimmung gegen Unternehmen durchzusetzen. Hier wol-
len wir ansetzen.

Um die Durchsetzung von verbraucherschützenden
Vorschriften des Datenschutzrechtes zu verbessern, soll
es deswegen zukünftig auch den Verbraucherverbänden,
den Wirtschaftsverbänden und Kammern ermöglicht
werden, bei Verstößen gegen das Datenschutzrecht der
Verbraucher mit Abmahnungen und Klagen gegen die
verantwortlichen Unternehmen vorzugehen. Dazu sollen
datenschutzrechtliche Vorschriften, die die Zulässigkeit
der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten re-
geln, in den Katalog der Verbraucherschutzgesetze auf-
genommen werden. Die anspruchsberechtigten Ver-
bände sollen von den Unternehmen verlangen können,
die Zuwiderhandlungen zu unterlassen. Dabei muss es
sich um einen Verstoß handeln, der über den Einzelfall
hinausgeht und die Kollektivinteressen der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher berührt. Wir wollen diese Re-
glung um einen Beseitigungsanspruch ergänzen, damit
die unzulässig erhobenen Verbraucherdaten gesperrt
oder gelöscht werden.

Die Digitalisierung stellt gerade den Datenschutz vor
eine große Herausforderung. Deswegen hat die Bundes-
regierung in diesem Fall als einen Baustein ihrer Digita-
len Agenda beschlossen, ein Verbandsklagerecht zur
Verbesserung des Datenschutzes einzuführen. Der vor-
gelegte Regierungsentwurf wird die Durchsetzung des
Datenschutzes entscheidend verbessern. Ich hoffe auf
Ihre Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810019600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Caren Lay, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810019700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Datenschutzaktivist Max Schrems hat Face-
book gezwungen, alle über ihn gespeicherten oder wei-
tergegebenen Daten herauszugeben. Im Ergebnis erhielt
er einen Ausdruck von sage und schreibe über 1 000 Sei-
ten. Jetzt verklagt er Facebook vor dem EuGH. Seiner
Klage haben sich über 25 000 Menschen angeschlossen,
und das zu Recht; denn Verbraucherinnen und Verbrau-
cher müssen vor der unseriösen Abzocke durch die Nut-
zung ihrer Daten endlich besser geschützt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir alle kennen personalisierte Werbungen, die einen
auf Facebook oder per E-Mail erreichen und das Post-
fach zumüllen. Es gibt schlimme Fälle von Datenklau
oder von Identitätsdiebstahl, und niemand kann mehr
wirklich sagen, wo seine Daten überall herumschwirren.
Unternehmen erschleichen sich das Einverständnis zur
unbegrenzten Datenweitergabe etwa durch versteckte
Klauseln in den AGB oder dadurch, dass der Vertragsab-
schluss von vornherein an die Erteilung eines solchen
Einverständnisses gekoppelt ist. Die Aussicht auf Ge-
winnmaximierung lässt die Datenfänger zur Höchstform
auflaufen. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern wird
häufig suggeriert, die Nutzung eines bestimmten Ange-
bots sei kostenlos. In der Praxis erweist sich das aber als
glatte Lüge; denn die Daten, die dabei herausgegeben
werden, sind bares Geld wert. Verbraucherinnen und
Verbraucher zahlen gewissermaßen mit der Herausgabe
ihrer Daten. Der Handel mit Verbraucherdaten ist ein
überaus lukratives Geschäft, das endlich aufhören muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Persönlichkeitsprofile, personalisierte Preisangebote,
ungewollte Ortungen, damit Kontrolle auf Schritt und
Tritt möglich ist – wer will das schon?

Die Verbraucherzentralen, die Datenschutzorganisati-
onen, digitalcourage mit ihrer Datenschutzpionierin
Rena Tangens und der Chaos Computer Club klopfen
schon seit über zehn Jahren bei der Regierung an und
fordern, endlich ein stärkeres Augenmerk auf den Schutz
der Verbraucherdaten zu legen, und das zu Recht. Die
Datenschutzbehörden stoßen nämlich schnell an ihre
Grenzen. Sie können bei Verstößen allenfalls Bußgelder
verhängen. Das nützt den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern aber nicht wirklich, wenn ihre Daten schon
überall unterwegs sind. Verbraucherorganisationen hin-
gegen können nicht abmahnen, was auch ein ganz gro-
ßes Manko ist, wenn man die Sache in den Griff bekom-
men möchte. Diese Lücke ist dringend zu schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir begrüßen es, dass diese kollektiven Klagerechte
jetzt gestärkt werden sollen. Das wurde höchste Zeit.

Als problematisch sehen wir die in dem vorliegenden
Gesetzentwurf vorgesehene Ausnahmeregelung an, nach
der genau dann keine Klagerechte bestehen sollen, wenn
Unternehmen die Daten zu vertraglichen Zwecken erhe-
ben oder verarbeiten. Das hört sich für mich geradezu
nach einer Einladung für Unternehmen an, genau diese
Begründung vorzuschieben. Deswegen darf diese For-
mulierung so nicht bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir begrüßen es, dass die Zusammenarbeit mit den
Datenschutzbehörden geregelt werden soll. Wichtig ist,
dass tatsächlich Klarheit über die zuständige Behörde
hergestellt wird, damit die Klagen nicht am Ende aus
formalen Gründen abgewiesen werden. Auch dieser As-
pekt wird uns in der Debatte über diesen Gesetzentwurf
sicherlich noch beschäftigen.

Lassen Sie mich einen letzten Punkt anführen: Wenn
wir schon Gelegenheit haben, über ein weiteres Verbrau-
cherschutzgesetz zu debattieren, sollten wir auch über
kollektive Klagerechte reden und beispielsweise Finanz-
marktwächtern ein Klagerecht verleihen. Das würde uns
ein erneutes, aufwendiges Verfahren ersparen, und den





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Finanzmarktwächtern bliebe das Betteln um eine gesetz-
liche Regelung erspart.

Wir sind gespannt, wie sich die Sachverständigen in
der Anhörung im Mai äußern werden. Wir hoffen, dass
es gelingt, eine praktikable Lösung zu finden, die den
Verbraucherinnen und Verbrauchern und dem Schutz ih-
rer Daten auch tatsächlich etwas bringt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810019800

Vielen Dank. – Als Nächstes hat der Kollege

Dr. Stefan Heck, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lars Klingbeil [SPD])



Dr. Stefan Heck (CDU):
Rede ID: ID1810019900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wahrscheinlich kennen Sie das alle: Sie haben
ein Reiseziel oder ein Elektrogerät gegoogelt, und in den
nächsten Tagen oder Wochen werden Ihnen Dutzende
Werbeanzeigen zu diesem Suchbegriff angezeigt. Es
geht inzwischen nicht mehr nur um das Posten oder
Twittern von Informationen. Nein, schon eine ganz nor-
male Internetsuche genügt, um quasi unbemerkt im Hin-
tergrund zahlreiche Algorithmen in Gang zu setzen, die
mit Informationen gefüttert werden. Deswegen ist der
Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln, wichtig.
Datenschutz ist ein berechtigtes Anliegen, das wir alle
sehr ernst nehmen sollten.

Zu einer ehrlichen Debatte gehört aber auch die Fest-
stellung, dass beide Seiten, sowohl die Internetdienst-
leister als auch die Internetnutzer, legitime Interessen
und berechtigte Erwartungen aneinander haben. Deswe-
gen sollten wir neben den Gefahren, die heute zu Recht
im Mittelpunkt stehen, immer auch die Chancen sehen,
die mit der digitalen Wirtschaft verbunden sind. Gerade
die IT-Branche bringt Deutschland Wohlstand und Ar-
beitsplätze. Dabei stehen die Start-ups im Moment im
Vordergrund. Sie sind das Symbol der digitalen Wirt-
schaft, und sie erwecken eine Gründungskultur, wie wir
sie am Anfang des 20. Jahrhunderts in unserem Land
schon einmal hatten. Deswegen haben wir es uns ganz
bewusst zur Aufgabe gemacht, gute Rahmenbedingun-
gen für die Internet- und Start-up-Branche zu setzen.

Gleichwohl werden wir heute Regelungen treffen, die
zur Sicherung des Daten- und Verbraucherschutzes er-
forderlich sind. Mit dem heute eingebrachten Gesetzent-
wurf der Bundesregierung setzt die Große Koalition eine
Verabredung aus dem Koalitionsvertrag um, die vor-
sieht, dass wir die Position des Verbrauchers weiter stär-
ken. Dabei geht es heute gar nicht um den materiellen
Inhalt eines Gesetzes, sondern schlicht um die Frage der
Durchsetzbarkeit.

Man muss feststellen, dass zwischen den Unterneh-
men auf der einen Seite und den Verbrauchern auf der
anderen Seite ein strukturelles Ungleichgewicht besteht,
das den Staat auf den Plan ruft und staatliche Lenkungs-
maßnahmen erforderlich macht, weil ansonsten keine
Waffengleichheit zwischen Verbrauchern und Unter-
nehmern besteht. Es ist häufig so, dass es bei kleinen
Rechtsverstößen nicht zu Gerichtsprozessen kommt,
weil Verbraucher den enormen Aufwand, das finanzielle
Risiko und nicht selten auch die emotionale Belastung
scheuen, die mit einer prozessualen Durchsetzung ihrer
Rechte verbunden sind.

In dem Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, wird
vorgeschlagen, dieses strukturelle Ungleichgewicht
durch eine Stärkung des Verbandsklagerechtes auszu-
gleichen. Das ist keine neue Erfindung. Das Verbands-
klagerecht in seiner jetzigen Form kennt unser Schuld-
recht schon seit der Schuldrechtsmodernisierung im
Jahr 2002. Es ist ein altes Instrument im deutschen
Zivilrechtssystem. Dieses Rechtsinstrument soll heute
erweitert werden.

Es ist häufig so, dass es Verbrauchern, die in den
meisten Fällen juristische Laien sind, schwerfällt, daten-
schutzrechtliche Verstöße zunächst als solche zu erken-
nen und dann gegen sie vorzugehen. Wir wollen soge-
nannten qualifizierten Einrichtungen wie beispielsweise
den Verbraucherzentralen ein Klagerecht einräumen, da-
mit diese die notwendige Unterstützung leisten und sich
Verbraucher so gegen Verstöße gegen Datenschutz-
gesetze wehren können. Aber ich sage ganz bewusst:
Wir stehen heute erst am Anfang eines Gesetzgebungs-
verfahrens. Wir müssen im Laufe dieses Verfahrens an
einigen Stellen noch Klärungen herbeiführen.

Zwei Punkte sind mir dabei besonders wichtig.

Erstens. Es muss sichergestellt werden, dass dieses
Verbandsklagerecht nicht dazu führt, dass Verdachts-
klagen sozusagen einfach ins Blaue hinein geführt wer-
den. Denn selbst wenn unberechtigte Klagen am Ende
abgewiesen werden, kann schon allein die Tatsache einer
öffentlichkeitswirksamen Klageerhebung zu einer erheb-
lichen und am Ende ungerechtfertigten Rufschädigung
führen. Gerade für Start-ups und kleine Unternehmen
besteht hier die Gefahr, dass sie dann einer Übermacht
von Verbänden gegenüberstehen, die mit Juristen ausge-
stattet sind, während sie selbst diese Möglichkeiten ein-
fach nicht haben. Deswegen sage ich heute ganz be-
wusst: Wir wollen Waffengleichheit schaffen und keine
neue Waffenungleichheit zulasten der Unternehmen ge-
nerieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweitens; auch dieser Punkt beschäftigt uns. Wir
wollen ein unkoordiniertes Nebeneinander von zivil-
rechtlichem Verbandsklagerecht auf der einen Seite und
öffentlich-rechtlicher Kontrolle durch die Datenschutz-
beauftragten auf der anderen Seite unbedingt vermeiden.
Uns bereitet es große Sorge, dass künftig womöglich
zwei verschiedene Mechanismen nebeneinander stehen,
die zu widersprüchlichen Ergebnissen führen könnten.

In dem Bereich, mit dem wir uns im Zusammenhang
mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen, sind bereits
heute die Datenschutzbeauftragten der Länder tätig. Die
Gefahr, die wir konkret sehen, ist, dass Verbandsklagen
vor den Zivilgerichten verhandelt werden, während für





Dr. Stefan Heck


(A) (C)



(D)(B)

Maßnahmen der Datenschutzbeauftragten die Verwal-
tungsgerichte zuständig sind. Wenn es zu einer divergie-
renden Rechtsprechung zwischen der öffentlich-rechtli-
chen Gerichtsbarkeit und den Zivilgerichten kommt,
dann schadet das am Ende Unternehmern und Verbrau-
chern. Beide Seiten brauchen Klarheit darüber, was er-
laubt ist und was nicht.

Wir bringen heute ein wichtiges Vorhaben auf den
Weg. Zugleich haben wir für das Gesetzgebungsverfah-
ren noch einige Hausaufgaben im Gepäck.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810020000

Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht

jetzt Renate Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810020100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zualler-

erst: Wir alle wissen, dass wir im Alltag immer mehr
Geschäfte digital abwickeln. Man kauft online Bücher
oder Schuhe ein. Man lädt Apps herunter. Tickets für
den Urlaub oder für Verwandtenbesuche werden im In-
ternet gebucht. Man kommuniziert in den sozialen Netz-
werken. Dabei kommt immer eine Unmenge von Ver-
braucherdaten zustande, die erhoben und auch genutzt
werden, die gespeichert werden. An dieser Stelle muss
ich etwas zu meinem Vorredner sagen. Herr Heck hat ja
gesagt: Wir dürfen die ungeheuren Chancen, die in der
digitalen Welt und in der digitalen Wirtschaft liegen,
nicht ungenutzt lassen. – Herr Heck, das stimmt. Aber es
gibt ein Aber. Dieses Aber besteht darin, dass sich die
Wirtschaft bei der Nutzung dieser Chancen natürlich im-
mer in den Grenzen des Kernbereichs des Datenschutz-
rechts des Betroffenen bewegen muss; darüber hinaus
geht das nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Heck [CDU/CSU]: Deswegen machen wir das ja!)


Aber viele machen das eben nicht, wie wir gerade gehört
haben. Frau Lay zum Beispiel hat über Facebook und
über Herrn Schrems, den Kläger, geredet, und wir
kennen noch viele andere Beispiele, bei denen genau das
nicht gemacht wird. Es ist aber ein Irrläufer, zu sagen,
das ordentliche Einhalten von Datenschutzregeln sei im
Ergebnis ein Hindernis für die Wirtschaft. Ich glaube,
dass diejenigen, die diesen Vorwand vortragen, nur zu
faul sind, kreativ zu sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt nämlich jede Menge Möglichkeiten, neue Unter-
nehmen und Angebote zu entwickeln, die die Daten-
schutzregeln zu den individuellen Daten genau einhal-
ten; ich rede gar nicht von Big Data, sondern von den
individuellen Daten des Einzelnen. Es gibt hier sehr
viele Geschäftsideen. Ich sage Ihnen nur: Verstöße
gegen Datenschutzgesetze müssen verhindert werden.
Das ist die Aufgabe des Gesetzgebers. Es ist daher rich-
tig – das ist lange überfällig –, dass wir die zivilrechtli-
chen Möglichkeiten im Unterlassungsklagerecht stärken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt komme ich zu dem Aber, meine Damen und
Herren. Bisher gibt es keine generelle Klagemöglichkeit
für Verbraucherorganisationen, quasi stellvertretend für
den einzelnen Verbraucher. Auch dieser Gesetzentwurf
schafft das nicht so recht. Denn immer noch, zum
Beispiel im Hinblick auf die Teilnahme von Kindern an
Online-Gewinnspielen, wird keinerlei wirkliche Klage-
möglichkeit geschaffen. Dieser Gesetzentwurf schafft
hier nur teilweise Abhilfe. Klageberechtigt sollen die
Organisationen sein, wenn es um die kommerzielle Nut-
zung von Verbraucherdaten geht. Das gilt aber, wie ge-
sagt, nur für die kommerzielle Nutzung. Das heißt, dann
muss man nachweisen, dass sie tatsächlich zu kommer-
ziellen Zwecken und nicht zu anderen Zwecken erhoben
und genutzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle hat der Gesetzentwurf einen Fehler.

Meine Damen und Herren, fragen wir uns einmal, wie
dieser Fehler zustande gekommen ist. Ich will auf die
Historie eingehen. Das Bundesministerium der Justiz
und für Verbraucherschutz sah einen viel weitergehen-
den Anwendungsbereich vor. In den Beratungen hatte
aber leider das BMI die Finger im Spiel. Was ist heraus-
gekommen? Jetzt steht im Gesetzentwurf: Im Sinne des
Gesetzes zur Klage berechtigt ist man im Hinblick auf
Daten, die zu Zwecken der Werbung, der Markt- und
Meinungsforschung, des Betreibens einer Auskunftei,
des Erstellens von Persönlichkeits- und Nutzungsprofi-
len, des Adresshandels oder zu vergleichbaren kommer-
ziellen Zwecken verarbeitet und genutzt werden.

Ausdrücklich ausgeschlossen ist das, was vorher im
Entwurf des BMJV stand. Darin hieß es, dass personen-
bezogene Daten eines Verbrauchers von einem Unter-
nehmen ausschließlich für die Begründung, Durchfüh-
rung oder Beendigung eines rechtsgeschäftlichen oder
rechtsgeschäftsähnlichen Schuldverhältnisses erhoben,
verarbeitet oder genutzt werden dürfen. Man sagt also,
gegen die Erhebung und Nutzung der Daten, die ein
Rechtsverhältnis begründen, darf man nicht klagen.
Aber wer stellt eigentlich sicher, meine Damen und
Herren, dass sie am Ende nicht doch für die falschen
Zwecke genutzt werden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen einige Beispiele nennen. Erstens: ein
Probeabo in einer Online-Partnervermittlung. Stellen Sie
sich vor, ein einsamer MdB schließt einen solchen
Vertrag ab, überlegt es sich anders und sagt: Löschen Sie
die Daten über mich. – Dann sagt die Online-Partnerver-
mittlung: Nein, diese Daten sind ja nur erhoben worden,
um das Vermittlungsverhältnis zu begründen.

Zweitens: der Abschluss eines Vertrages über einen
Leihwagen, bei dem Sie auch Ihre E-Mail-Adresse ange-
ben müssen; Sie kennen das sicherlich. Wenn Sie später
sagen, dass Ihre Daten gelöscht werden sollen, sagt man
Ihnen: Nein. – Wissen Sie, was die mit Ihrer E-Mail-





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Adresse anstellen? Man braucht sie für das Vertrags-
verhältnis in Wahrheit ja gar nicht. Sie werden sich wun-
dern, wenn Sie Werbung bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810020200

Aber jetzt nicht mehr so viele Beispiele, Frau Kolle-

gin Künast.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810020300

Nein. – Drittens – mein letztes Beispiel –: ein Kauf-

vertrag im Bereich E-Commerce, in dem alle rechtmäßig
bezogenen Daten am Anfang stehen. Wenn Sie später
Werbung bekommen und nachfragen, welche Daten
noch vorrätig sind, bekommen Sie keine Auskunft.

In allen drei Fällen hätte die Verbraucherorganisation
keinerlei Klagebefugnis. Das gilt auch im Hinblick auf
Kinder, wenn es zum Beispiel um Online-Gewinnspiele
geht. Deshalb kann ich nur sagen: Der Referenten-
entwurf des BMJV war gut. Das BMI hat ihn ver-
schlechtert. Wir hoffen auf das Struck’sche Gesetz, dass
Gesetze anders aus dem Bundestag herauskommen, als
sie hineingekommen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810020400

Danke. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Michelle

Müntefering, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michelle Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1810020500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die
Generation meiner Großeltern kannte noch den grünen
Daumen; die jungen Leute heute kennen wohl eher den
blauen Daumen – ich meine den Like-Button bei
Facebook. Der steht nicht für die Umwelt, sondern für
die digitale Welt, die Teil der Realität und des Lebens-
alltags geworden ist.

Bestehen bleibt die alte Erkenntnis: Wissen ist Macht.
Dieses Wissen wird heute mehr und mehr über Daten ge-
neriert, die wir als digitale Fingerabdrücke im Netz hin-
terlassen. Gemeint ist das Wissen über Gewohnheiten,
über Konsumverhalten, über unsere Vorlieben, über Be-
ziehungen, Frau Künast, und über unsere Einstellungen.
Es wird festgehalten, wie lange wir uns eine Werbean-
zeige ansehen, wann wir wo einkaufen, wie viel Geld
wir ausgeben. Das meiste davon ist rechtens, vieles ist
allerdings fragwürdig, manches ist schlichtweg illegal.
Deswegen braucht es mindestens Aufklärung, braucht
der Einzelne die Möglichkeit, zu verstehen, was er ge-
rade von sich preisgibt, und es braucht wirksamen
Schutz bei Verstößen gegen unsere Datenschutzgesetze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Oftmals willigen wir ein, ohne wirklich einen Über-
blick darüber zu haben, was in den seitenlangen Daten-
schutzerklärungen steht, weil wir davon ausgehen, dass
im Internet Recht und Gesetz genauso gelten wie in der
ganz normalen, in der analogen Welt.

Klar ist: Wenn Sie im Internet etwas bestellen, dann
brauchen die Unternehmen Ihre Daten, damit das Paket
überhaupt bei Ihnen zu Hause ankommt. Aber wenn die
Daten missbraucht werden, gegen unseren Willen ver-
wendet werden, dann kann das unangenehme Folgen
haben. Dann stehen plötzlich persönliche Daten auf
Webseiten oder landen bei kommerziellen Anbietern.
Wer von Ihnen geht denn schon zum Anwalt, weil er
einen Versandkatalog oder Werbung zugeschickt be-
kommt, die er gar nicht bestellt hat?

Fakt ist: Nach derzeitiger Rechtslage ist es für einen
Verbraucher kaum möglich und auch finanziell schlicht-
weg nicht zumutbar, gegen Datenschutzverstöße recht-
lich vorzugehen. Nun mögen manche argumentieren:
Damit kann man ja wohl im Einzelfall noch leben. – Ich
bin damit nicht einverstanden. Und wenn dieses wider-
rechtliche Verhalten nun Tausende Verbraucherinnen
und Verbraucher betrifft? Dann stellt das eine erhebliche
Benachteiligung der Verbraucher gegenüber den Ver-
tragspartnern dar.

Genau damit beschäftigt sich der Gesetzentwurf, über
den wir heute sprechen. Die Verbraucherverbände sollen
die Möglichkeit bekommen, auch bei Verstößen gegen
Datenschutzgesetze zu klagen. Das ist zunächst einmal
per se ein Gewinn für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher in unserem Land, weil hier eine Lücke bei der
Rechtsdurchsetzung geschlossen wird. Im Detail, Kolle-
ginnen und Kollegen – da gebe ich einigen meiner Vor-
redner durchaus recht –, werden wir sicher noch einiges
diskutieren müssen. Mein Vorschlag ist: Lassen Sie uns
aus dieser guten Vorlage gemeinsam ein sehr gutes Ge-
setz machen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810020600

Vielen Dank. – Jetzt erhält Dr. Volker Ullrich das

Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1810020700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im Mittelpunkt dieser Debatte steht die Sorge
um unsere Daten. Daten sind viel mehr als nur gespei-
cherte Datensätze, Zahlen und Adressen. Daten sind
heutzutage Teil der Persönlichkeit eines Menschen. Die
Würde und die entsprechende Persönlichkeit eines jeden
Menschen reflektieren sich auch in den Daten, die über
ihn gespeichert werden. Daten sind Teil dieser Persön-
lichkeit; deswegen müssen Daten geschützt werden.

Den Wert dieser Daten erkennt man daran, dass mitt-
lerweile Unternehmen, die vielleicht nur wenig Umsatz





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

machen und die nicht einmal Gewinn erzielen, trotzdem
Milliarden Euro an den Börsen wert sind, nur weil sie
entsprechende Datensätze über uns alle haben. Deswe-
gen besteht eine Verpflichtung des Gesetzgebers, die
Spielregeln so aufzustellen, dass diese Daten nur in ei-
nem anständigen und für alle vertretbaren Rahmen ge-
nutzt und verwertet werden. Wir müssen ein Auseinan-
derfallen der Möglichkeiten der Onlineanbieter und der
Möglichkeiten der Verbraucher verhindern und zu einer
Balance kommen. Deswegen ist es richtig, dass sich
diese Große Koalition darauf verständigt hat, auch im
Bereich des Datenschutzes Verbandsklagerechte einzu-
führen. Aber wir sollten diese Rechte so ausgestalten,
dass sie auch praxistauglich sind.

In der Praxis haben wir im Augenblick schon die
Möglichkeit, über die Datenschutzbeauftragten der Län-
der bei entsprechenden Verstößen gegen Unternehmen
vorzugehen. Leider wird sie viel zu wenig genutzt. Wir
müssen uns alle fragen, weshalb von dieser Möglichkeit
in der Praxis viel zu wenig Gebrauch gemacht wird.
Möglicherweise liegt das auch daran, dass die Länder
die Datenschutzbeauftragten mit zu wenig Personal und
Ressourcen ausstatten. Deswegen muss der Appell erge-
hen, dass man auch die entsprechenden Ressourcen be-
reitstellt, damit Datenschutzbeauftragte ihre Arbeit voll-
bringen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir über die Aufgaben der Datenschutzbeauf-
tragten sprechen, dann ist es mir ein Anliegen – das wird
in diesem Gesetzgebungsverfahren noch zu besprechen
sein –, zu klären, wie wir aus den Befugnissen der zur
Verbandsklage berufenen Stellen einerseits und der Da-
tenschutzbeauftragten andererseits kein Nebeneinander,
kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander für die Be-
lange der Verbraucher machen. Wir brauchen Regeln für
die Zusammenarbeit. Das ist im Regierungsentwurf
noch nicht zufriedenstellend gelöst.

Wir müssen uns auch überlegen, wie wir diesen Ent-
wurf vor dem Hintergrund einer sich formenden Daten-
schutz-Grundverordnung der Europäischen Union, in
der ein solches Verbandsklagerecht möglicherweise
nicht gilt, auch europarechtskonform machen. Ich
glaube, das sind wir dem Jahrhundertwerk der Daten-
schutz-Grundverordnung schuldig.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal sehen, ob das ein Jahrhundertwerk wird!)


Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass wir
diese Debatte insgesamt auch nutzen, um die besondere
Bedeutung der Daten auch in diesem Hohen Hause zu
reflektieren. Daten sind eine Währung. Sie sind, wenn
sie in großen Mengen vorliegen, auch Rohstoff, Gold
des 21. Jahrhunderts. Deswegen haben Daten unseren
besonderen Schutz verdient. Wir werden sehr sensibel
bei diesem Gesetzgebungsverfahren darauf achten, dass
der Schutz des Verbrauchers im Mittelpunkt steht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810020800

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 18/4631 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Staat Palästina anerkennen – Vollmitglied-
schaft Palästinas in der UNO aktiv unterstüt-
zen

Drucksache 18/4334
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Wolfgang
Gehrcke, Fraktion Die Linke.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810020900

Danke sehr. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Unser Antrag, der hier im Parlament be-
reits diskutiert worden ist, hat eine sehr lebhafte Debatte
ausgelöst. Ich will Ihnen nur einmal aus einem Kom-
mentar des ehemaligen israelischen Diplomaten Alon
Liel im Tagesspiegel zitieren. Er schreibt:

Es ist gut möglich, dass die schicksalhafte Ent-
scheidung, ob jemals ein palästinensischer Staat
entstehen wird, in den Händen des Bundestages
liegt.

Ich finde, er hat recht, und genau deswegen haben wir
den Antrag geschrieben und hier eingebracht.

Ich möchte mit Ihnen jetzt einmal sehr ernsthaft aus-
loten, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt, um diese
katastrophale Situation im Nahen Osten, möglichst in
Richtung Frieden, zu beenden. Sie kennen ja die Erklä-
rung des israelischen Regierungschefs Netanjahu, dass
es keinen palästinensischen Staat geben wird, solange er
Regierungschef ist. Er hat seine Erklärung zwischenzeit-
lich relativiert – das weiß ich auch –, aber das ist seine
Grundeinstellung.

Ich denke, dass man hier drei Möglichkeiten gegenei-
nander abwägen muss:

Erste denkbare Möglichkeit. Es bleibt beim Besat-
zungsstatut und einer Fortsetzung der Besatzung Palästi-
nas. Das wird immer wieder Gewalt produzieren und ge-
waltsame Auseinandersetzungen mit sich bringen. Die
Fortsetzung der Besatzung ist nicht friedlich zu gestal-
ten.





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Die zweite denkbare Möglichkeit ist ein gemeinsamer
demokratischer Staat mit demokratischen Institutionen,
gegenseitiger Akzeptanz und der Bereitschaft zu einer
gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Das würde bedeuten,
dass die Jüdinnen und Juden in diesem Staat in der Min-
derheit wären. Das wird in Israel nicht akzeptiert und
scheidet deswegen klar aus.

Die dritte denkbare Möglichkeit ist, dass es zwei de-
mokratische Staaten nebeneinander gibt, die miteinander
verbunden sind: Israel und Palästina.

Sie entscheiden jetzt, in welche Richtung der Deut-
sche Bundestag votieren und Druck entwickeln soll.
Meine Entscheidung ist hier völlig klar: Ich möchte, dass
ein lebensfähiger und demokratischer palästinensischer
Staat entsteht, und das muss relativ schnell passieren. Es
ist nicht mehr viel Zeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte gerne einmal aus dem grandiosen, großar-
tigen Buch mit dem Titel Judas von Amos Oz zitieren,
das zur Buchmesse herausgebracht worden ist. Ich kann
jedem nur empfehlen, dieses Buch zu lesen. Amos Oz
beschreibt die Debatte in Israel vor der Staatsgründung.
Er sagt:

Dieses Land wird in zwei selbstständige Staaten
aufgeteilt, die durch eine Wirtschaftsunion und eine
gemeinsame Währung verbunden sind. Jerusalem
und Bethlehem werden unter internationale Kon-
trolle gestellt.

Ich finde, das ist eine großartige Vision, die er im
Rückblick entwickelt. Er schließt solche Überlegungen
also nicht aus. Um dorthin zu kommen, führt der Weg
heute über einen eigenständigen demokratischen palästi-
nensischen Staat.

Zum Abschluss will ich Ihnen auch nicht vorenthal-
ten, was seine – meine auch – Angstvision ist. Er
schreibt in diesem Buch auch:

Die Araber erleben Tag für Tag die Katastrophe ih-
rer Niederlage, und die Juden erleben Nacht für
Nacht ihre Angst vor der Rache.

Das ist die Angstvision von heute. Ich finde, aus die-
ser Angstvision muss es einen Ausweg geben, und ich
möchte gerne, dass wir diesen Ausweg mit aufzeigen.

Der Bundestag hat die Verpflichtung, klar für eine
Zweistaatenlösung einzutreten. Der Weg zur Zweistaa-
tenlösung geht über eine Vollmitgliedschaft Palästinas in
der UNO. Warum soll man denn unseren Freunden nicht
sagen, was heute notwendig ist?

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810021000

Vielen Dank. – Als Nächster hat Dr. Johann

Wadephul, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1810021100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Gehrcke, ich bin mit Ihnen der
Auffassung, dass das Hohe Haus eine große Bedeutung
hat und dass wir zum Palästinakonflikt sicherlich auch
Stellung nehmen sollten. Wir sollten aber nicht den Ein-
druck erwecken, dass wir als Deutscher Bundestag das
jetzt alleine entscheiden. Wir sollten uns konstruktiv an
dem Prozess beteiligen. Das tun wir. Die deutsche Bun-
desregierung tut dies seit vielen Jahren, und ich denke,
das sollten wir auch fortsetzen.

Sie haben hier drei Möglichkeiten aufgezeigt. Es ist
doch völlig unstreitig, dass die dritte Möglichkeit präfe-
riert und auch von der internationalen Gemeinschaft ein-
deutig unterstützt wird. Das heißt, die Zweistaatenlösung
muss verfolgt werden. Diese unterstützen wir, hinter ihr
stehen wir, und das sollte auch niemand infrage stellen.
Es ist in der Tat – da haben Sie recht – eine Tragik, dass
die Bemühungen, nachdem sich die amerikanische Ad-
ministration viele Jahre zurückgehalten hatte und Au-
ßenminister Kerry hier wieder initiativ geworden ist und
viel Kraft, Zeit und amerikanische Autorität investiert
hat, erst einmal gescheitert sind. Ich kann die amerikani-
sche Seite nur auffordern, bitten und ermuntern. Ich
denke, wir sollten unseren Beitrag dazu leisten, dass die
amerikanische Administration den Faden noch einmal
aufnimmt, auch in der verbleibenden Amtszeit von Prä-
sident Obama. Wir sollten ihn und John Kerry auffor-
dern und unterstützen, ihre Bemühungen wieder aufzu-
nehmen und das Ziel einer Zweistaatenlösung
weiterzuverfolgen. Das würden wir unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben die Äußerungen Netanjahus angesprochen.
In der Tat hat diese Wahlkampfäußerung – ich glaube,
das war wirklich nur eine Wahlkampfäußerung – für Irri-
tationen gesorgt. Ich stehe nicht an, hier eindeutig zu sa-
gen: Sollte irgendein israelischer Politiker eine Art ver-
steckte Agenda haben, also die Zweistaatenlösung nur
formal verfolgen, aber in der Sache nicht bereit sein, den
Weg zu einem demokratischen, rechtsstaatlichen und
friedlichen Palästinenserstaat zu beschreiten, dann hätte
er dafür nicht unsere Unterstützung; das muss man klar
sagen.

Auf der anderen Seite muss man auch klar sagen, dass
wir von allen Palästinensern, insbesondere der Hamas,
erwarten müssen, dass sie bereit ist, Israel als einen ei-
genständigen Staat mit einem eigenständigen Existenz-
recht anzuerkennen. Das haben wir in dieser Klarheit
bisher nicht gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Gehrcke, ich will in die Debatte keine
Schärfe hineinbringen, aber da gibt es auch in Ihrer
Fraktion noch einigen Nachholbedarf, was das Verhält-
nis zu Israel angeht. Ich gehe davon aus, Sie arbeiten da-
ran. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg. Aber dass die
Existenz des Staates Israel – wir werden in der nächsten
Sitzungswoche 50 Jahre diplomatische Beziehungen





Dr. Johann Wadephul


(A)



(D)(B)

zwischen Deutschland und Israel zu würdigen haben –
für Deutschland eine besondere historische Verantwor-
tung ist, soll hier noch einmal unterstrichen werden. Es
ist die Aufgabe aller Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages, dafür einzustehen. Die Linke ist herzlich ein-
geladen, hier mitzumachen.

Dann müssen wir uns fragen: Wie können wir diesen
Weg weiter verfolgen und hier vorangehen? Da sind in
nächster Zeit auf beiden Seiten Kompromissbereitschaft
und auch die Bereitschaft gefordert, miteinander zu dis-
kutieren. Sie selber haben gerade erklärt: Ja, wir brau-
chen die Anerkennung eines demokratischen Staates Pa-
lästina. Dazu muss man sagen, dass Präsident Abbas,
den wir durchaus schätzen und der, glaube ich, auch gu-
ten Willens ist, hier zu einer Lösung zu kommen, nach-
dem er für vier Jahre gewählt worden war, jetzt im neun-
ten Jahr seiner Dienstzeit steht. Dass da demokratische
Legitimation nicht mehr vorhanden ist, muss man ehrli-
cherweise dazusagen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Seien Sie froh, dass man ihn hat!)


– Man kann das faktisch betrachten und sagen: Seien Sie
froh, dass gerade diese oder jene Person an der Macht
ist. Aber ich meine, wir müssen mit unserem Verständ-
nis, Herr Kollege Gehrcke, Wert darauf legen, dass die-
jenigen, die Regierungsgewalt ausüben, demokratisch
legitimiert sind, sei es durch Wahlen, sei es durch Ab-
stimmungen. Das ist derzeit in Palästina nicht der Fall.

Es hat eine Einheitsregierung gegeben; das ist ein
hoffnungsvolles Zeichen gewesen. Es hat auch positive
Entwicklungen gegeben; auch das muss ich sagen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Es gibt doch gar keine Einheitsregierung!)


Wir müssen natürlich auch erwarten, dass diese Einheits-
regierung funktioniert. Das tut sie aus meiner Sicht zum
jetzigen Zeitpunkt nicht. Sie ist nicht in der Lage, für Si-
cherheit zu sorgen. Sie ist auch nicht in der Lage, dafür
zu sorgen, dass es keine Raketenangriffe oder andere
Anschläge auf israelisches Gebiet oder gegen israelische
Bürger gibt. Diese hat es leider zuletzt gegeben; das
muss man eindeutig sagen.

In dieser Situation halten wir es für verkehrt – Frau
Präsidentin, ich komme zum Schluss –, einseitig voran-
zugehen, Palästina einseitig anzuerkennen, auf welchem
Wege auch immer. Wir sind weiterhin der Auffassung:
Der Weg zu einer Zweistaatenlösung muss weiterver-
folgt werden. Da müssen wir Druck aufbauen, und da
müssen wir Unterstützung leisten. Ich denke, wenn wir
das machen, dann gibt es auch eine Aussicht auf Erfolg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810021200

Vielen Dank. – Als Nächstes hat Omid Nouripour,

Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810021300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute

ist ein besonderer Tag für Deutschland und für Israel.
Heute ist der Unabhängigkeitstag Israels. Dieser Tag ist
eng mit der deutschen Geschichte verbunden. Aus ihr
heraus ergibt sich unsere unverbrüchliche Verpflichtung
für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In seiner Rede zum Gedenken an die Opfer des Natio-
nalsozialismus hat Bundespräsident Gauck darauf hinge-
wiesen, dass diese Verpflichtung für alle gilt, die in
Deutschland zu Hause sind, als eine Verantwortungsge-
meinschaft, die nicht aus einer Erfahrungsgemeinschaft
herrührt. Ich finde, der Bundespräsident hat recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Recht auf Selbstbestimmung, auf ein Leben in
Frieden und in Freiheit gilt für alle Menschen gleicher-
maßen. Selbstbestimmung, Sicherheit und Freiheit kön-
nen für Palästinenser und Israelis letztlich nur dann Rea-
lität werden, wenn sie sie sich gegenseitig gewähren.
Denn Israelis und Palästinenser sind auf ewig Nachbarn.
Kein Zaun ist hoch genug, um auf Dauer Frieden zu er-
setzen, und einen dauerhaften Frieden kann es nur mit
einer Zwei-Staaten-Lösung geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine Zwei-Staaten-Lösung ist die einzige Antwort auf
die berechtigten nationalen Ansprüche beider Seiten.
Viele entscheidende Parameter einer friedlichen Lösung
liegen längst vor. Eine Einigung hat es bisher nicht gege-
ben. Das Zeitfenster wird kleiner. Wenn man sich fragt,
warum, dann fallen einem die Worte des libanesischen
Schriftstellers Elias Khoury ein, der gesagt hat: Wir erle-
ben einen Pessimismus des Willens im Nahen Osten.

Nichts ist gefährlicher, als sich in diesem Pessimis-
mus bequem einrichten zu wollen. Israel schafft mit sei-
ner Siedlungspolitik Fakten, die sich immer schwerer
umkehren lassen. Der Alltag der Besatzung schafft eine
tiefsitzende Frustration. Die humanitäre Not im Gaza-
streifen wird täglich größer. Hamas, aber auch Israel und
Ägypten tragen dafür eine große Verantwortung.

Gleichzeitig häufen sich Berichte darüber, wie erfolg-
reich der islamische Dschihad und die Hamas in Gaza
bereits Rekrutierungen für die nächste militärische Aus-
einandersetzung betreiben. So dreht sich die Eskala-
tionsspirale jeden Tag weiter. Am Ende leidet vor allem
die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten.

In beiden Gesellschaften ist die Mehrheit der Men-
schen für die Zwei-Staaten-Regelung immer noch sehr
groß. Gleichzeitig haben diese Menschen seit Jahren
kaum noch Grund, darauf zu vertrauen, dass es erfolgrei-
che Verhandlungen geben wird. Das scheint auch für die
internationale Gemeinschaft zu gelten, nachdem die
zahlreichen Bemühungen von US-Außenminister Kerry
im vergangenen Jahr gescheitert sind.

(C)






Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Die fatalen Wahlkampfäußerungen von Netanjahu,
aber auch die Schwäche von Abbas sind besorgniserre-
gend und tragen nicht dazu bei, das Vertrauen wieder
aufzubauen. Aber gerade in dieser Situation müssen wir
alles, was wir können, dazu beitragen, dass die Hoffnung
auf Frieden und eine Zwei-Staaten-Lösung auf keinen
Fall dauerhaft verloren geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deutschland muss klarmachen, dass es an der Seite
Israels steht und dass für uns die Wiederaufnahme der
Friedensverhandlungen oberste Priorität hat. Denn so
wie Verhandlungen eine Anerkennung nicht ersetzen, so
ersetzt eine Anerkennung nicht die Friedensverhandlun-
gen. Die Anerkennung Palästinas muss mit der Unter-
stützung der Entwicklung von Friedensverhandlungen
Hand in Hand gehen, wie es das Europäische Parlament
in seiner Resolution vorschlägt.

Was Sie vorschlagen, verehrte Kolleginnen und Kol-
legen von den Linken, nämlich eine unverzügliche Aner-
kennung durch Deutschland, ist eher eine Trotzreaktion,
aber keine Politik. Noch verwirrender ist aus meiner
Sicht, dass Sie in dem Zusammenhang komplett auf den
europäischen Kontext verzichten, gerade wenn man be-
rücksichtigt, dass es auf dieser Ebene sehr viel Dynamik
gibt.

Wir müssen uns mit allen Kräften darum bemühen,
eine glaubwürdige Perspektive für die Zwei-Staaten-
Lösung aufrechtzuerhalten. Das passt sicherlich nicht
damit zusammen, dass einzelne Kolleginnen und Kolle-
gen die BDS-Kampagne unterstützen, die faktisch gegen
die Zwei-Staaten-Lösung arbeitet. Denn wenn wir die
Hoffnung aufrechterhalten wollen, dann müssen wir die-
jenigen stärken, die sich auf beiden Seiten für eine fried-
liche Regelung des Konflikts einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kein Zaun ersetzt auf Dauer Frieden, und dauerhaften
Frieden gibt es nur mit einer Zwei-Staaten-Lösung.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810021400

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt

Niels Annen das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1810021500

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion
ebenso wie die Bundesregierung und, ich denke, auch
die Europäische Union halten an der Zwei-Staaten-
Lösung fest. Wir sind der Auffassung, dass zunächst die
Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden
müssen, da einseitige Maßnahmen das Konfliktpotenzial
erhöhen und deswegen eine dauerhafte Belastung für
den Friedensprozess darstellen würden. Die israelische
Regierung und die Palästinensische Autonomiebehörde
sind daher aufgerufen, schnellstmöglich an den Verhand-
lungstisch zurückzukehren und die Umsetzung einer
Zwei-Staaten-Lösung nun wirklich als Ziel in den Mit-
telpunkt zu stellen. Dabei muss natürlich sowohl das
Existenzrecht Israels als auch ein lebensfähiger palästi-
nensischer Staat in den Mittelpunkt gerückt werden.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, werden
wir Ihren Antrag ablehnen.

Dennoch gibt es natürlich Gründe – das ist auch deut-
lich geworden –, über den Konflikt zwischen Palästina
und Israel zu diskutieren; denn die Wahrheit ist doch:
Fortschritte sind trotz enormer internationaler Bemühun-
gen ausgeblieben. Nach dem Scheitern der von Außen-
minister Kerry vermittelten Friedensgespräche befinden
wir uns nun wieder dort, wo wir uns vorher befunden ha-
ben, nämlich in einer Sackgasse.

Unruhe und Unzufriedenheit über den Stillstand bei
diesen Verhandlungen wachsen, und das ist auch nach-
vollziehbar. Ich denke, auch hier bei uns im Deutschen
Bundestag, auch in Europa steigt die Frustration über die
fortdauernde Besatzung und über die fortgesetzte Sied-
lungspolitik; vor allem Letztere ist ein großes Hindernis
für das Zustandekommen einer politischen Lösung.
Diese Frustration erklärt auch die Debatten über eine
Anerkennung eines unabhängigen palästinensischen
Staates in anderen europäischen Staaten. Darüber ist
auch in anderen europäischen Parlamenten sicherlich
diskutiert worden.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Deswegen, Herr Kollege Gehrcke, ist Ihr Antrag auch
nicht überraschend. Es ist auch in Ordnung, dass wir da-
rüber diskutieren. Mich hat eher gewundert, dass er erst
jetzt gestellt wird.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt Kritik! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir sind schlau!)


Die politische Situation, vor der wir stehen, ist durch-
aus zwiespältig. Natürlich gibt es auf der einen Seite
gute Gründe, die Politik der gegenwärtigen israelischen
Regierung zu kritisieren. Ich bin der Meinung, dass die
Regierung Netanjahu sehr viel Zeit, eher zu viel Zeit, un-
genutzt hat verstreichen lassen, überwiegend taktiert hat
und damit leider konkrete Schritte in Richtung einer
Zwei-Staaten-Lösung unterminiert hat. Das ist eine be-
dauerliche Entwicklung, und das ist auch von Vertrete-
rinnen und Vertretern der Bundesregierung und auch die-
ses Parlamentes wiederholt in einer angemessenen Form
zum Ausdruck gebracht worden.

Ich denke auch, man kann am Ende nur schwer dem
widersprechen, was Außenminister Kerry vor dem Kon-
gressausschuss gesagt hat. Er hat relativ deutlich ge-
macht, wo er den größten Hinderungsgrund für das
Scheitern seiner Initiativen gesehen hat, nämlich in der
Weigerung der Regierung Netanjahu, sich wirklich auf
substanzielle Gespräche einzulassen. Dazu gehört natür-
lich auch die Bereitschaft, entsprechende Zugeständ-
nisse zu machen.





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

Aber auf der anderen Seite kann man hier auch nicht
einfach so tun, als hätten wir hier im Deutschen Bundes-
tag es in der Hand, über die Anerkennung eines palästi-
nensischen Staates zu entscheiden.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir können unsere Meinung sagen!)


Das entspricht einfach nicht den Realitäten. Es ist so:
Der Bundestag verfügt nicht über den Schlüssel – Sie,
Herr Kollege Gehrcke, mögen das bedauern – zur Lö-
sung des Nahostkonflikts. Man sollte darauf hinweisen,
dass selbst dort, wo Anerkennungen ausgesprochen wor-
den sind – im UN-Rahmen hat das die große Mehrheit
der Staaten getan –, diese Anerkennungen, wenn man
ganz ehrlich ist, fast keinerlei Auswirkungen auf die
Politik der israelischen Regierung gehabt haben. Das
mag man bedauern; trotzdem ist dies eine Tatsache.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist kein Argument! Dann kann man aufhören, Politik zu machen!)


Deswegen habe ich den Eindruck, dass hier eine Erwar-
tung geschürt wird, die nicht erfüllt werden kann.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man über Alternativen nachdenken!)


Ich habe auch mit Vertretern der Palästinensischen Auto-
nomiebehörde darüber gesprochen. Das ist eine Erwar-
tung der Autonomiebehörde, die ich gut nachvollziehen
kann, die aber trotzdem in die Irre führt. Um es sehr klar
zu sagen: Ein palästinensischer Staat entsteht nicht durch
den Beschluss des Deutschen Bundestages, er entsteht
nur durch eine einvernehmliche politische Lösung zwi-
schen den Partnern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich glaube, es ist wichtig, gerade in einer ausgespro-
chen sensiblen und entscheidenden Situation, in der in
Israel darüber diskutiert wird, wie die neue Regierung
zusammengestellt wird, noch einmal darauf hinzuwei-
sen, dass es die große Sorge gibt, zumindest in meiner
Fraktion – ich könnte mir vorstellen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass Sie diese Sorge teilen –, dass sich das
Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung langsam zu
schließen beginnt.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was dann?)


Es muss uns Sorge machen – das ist hier von anderen
Kollegen zu Recht gesagt worden –, dass die Äußerun-
gen im Wahlkampf, dass es mit ihm, Netanjahu, als
Ministerpräsidenten keine Zwei-Staaten-Lösung geben
werde, in der Tat eine bedenkliche Entwicklung darstel-
len, auch einen Höhepunkt der bisherigen Palästina-Poli-
tik von Ministerpräsident Netanjahu. Denn er hat mit
dieser Äußerung ja nicht nur eine Wahlkampfäußerung
getätigt, Herr Kollege Wadephul, sondern natürlich im
Kern auch das Instrumentarium, das wir über viele Jahre
aufgebaut haben, infrage gestellt.

Ich will an dieser Stelle schon sagen: Wenn das die
Politik einer neuen israelischen Regierung sein sollte,
dann würde das natürlich nicht nur einen großen Rück-
schlag in der Debatte darstellen, sondern es wäre auch
ein Bruch mit internationalen Verpflichtungen, die Israel
eingegangen ist.


(Beifall des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])


Deswegen glaube ich, dass man in dieser Situation da-
rüber noch einmal diskutieren müsste.

Ich bin schon ermutigt dadurch, dass Premierminister
Netanjahu diese Äußerungen in den vergangenen Wo-
chen relativiert hat und seine Bereitschaft geäußert hat,
über die bisherigen Vorschläge von Außenminister
Kerry weiter zu diskutieren.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das spricht ja gerade dafür, dass es eine Wahlkampfäußerung war!)


Ich will am Ende noch etwas zu der innenpolitischen
Verfasstheit Israels sagen. Viele von uns haben bei der
Beobachtung des Wahlkampfes den Eindruck gewonnen,
als stünde die Frage der Zwei-Staaten-Lösung im Mittel-
punkt der innenpolitischen Auseinandersetzung in Israel.
Ich glaube, dass das eine Fehleinschätzung ist.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau!)


Es gibt in Israel große innere Spannungen. Sie haben et-
was mit der demografischen Entwicklung zu tun. Sie ha-
ben etwas mit der ungerechten Einkommensentwicklung
zu tun. Wir haben eine soziale Protestbewegung erlebt,
die sich artikuliert hat und deren Vertreter jetzt zum Teil
Mitglied der Knesset sind. Ich glaube, dass wir dieses
ganz besondere Jahr des 50-jährigen Jubiläums der
deutsch-israelischen Beziehungen nicht nur nutzen soll-
ten, um offizielle Gespräche zu führen – das ist alles her-
vorragend organisiert, und ich freue mich auf viele Be-
gegnungen mit Kolleginnen und Kollegen in Israel –,
sondern auch, um mit den Vertretern der neuen zivilge-
sellschaftlichen Initiativen über die gesamte Bandbreite
unserer Beziehungen zu diskutieren und auch über die
Sorgen, die in dieser Debatte artikuliert worden sind.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810021600

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810021700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 12. Mai dieses Jahres werden wir das 50-jährige Ju-
biläum der deutsch-israelischen Beziehungen feiern.
Nach dem Grauen des Holocaust, mit dem Nazideutsch-
land unfassbares Leid über das jüdische Volk gebracht
hat, wirkt dieses Jubiläum wie ein Wunder.

Die deutsch-israelischen Beziehungen gehören ge-
nauso wie das Existenzrecht Israels zu den Säulen der





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

deutschen Außenpolitik. Daran darf und wird sich auch
nichts ändern. Schon allein aufgrund unserer besonderen
Verantwortung gegenüber Israel muss sich Deutschland
für Frieden und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten
einsetzen.

Im Koalitionsvertrag haben wir eine Zwei-Staaten-
Lösung zu unserem Ziel erklärt. Wir wollen einen Staat
Israel in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen so-
wie einen unabhängigen, demokratischen und lebensfä-
higen palästinensischen Staat. Diese Zwei-Staaten-Lö-
sung schließt letztendlich auch eine Anerkennung des
Staates Palästina durch die Bundesrepublik mit ein.

Einige Parlamente in Europa haben diese Anerken-
nung in den letzten Monaten gefordert, allerdings nicht
bedingungslos, wie es im Antrag der Linken ausgeführt
wird. Das Europaparlament und das spanische Parlament
unterstützen die Anerkennung Palästinas zwar im Prin-
zip, sie wird aber von erfolgreichen Friedensverhandlun-
gen abhängig gemacht. Ein solcher Vorbehalt befindet
sich zum Beispiel im Antrag der Linken nicht.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Eine Zwei-Staaten-Lösung kann nur zusammen mit
und nicht gegen Israel gelingen. Das israelische Volk
muss davon überzeugt werden, dass die Sicherheit Is-
raels von einem souveränen palästinensischen Staat
nicht bedroht wird, sondern dass dieser Staat eine Vo-
raussetzung für dauerhaften Frieden schaffen kann.

Auf die Anerkennung Palästinas durch Schweden hat
Israel mit dem schärfsten diplomatischen Mittel reagiert
und den Botschafter aus Stockholm abgezogen. Eine sol-
che Eskalation der Beziehungen zwischen Israel und
Deutschland zum 50-jährigen Jubiläum zu riskieren,
wäre unerträglich.

Im Antrag der Linken wird mit keinem Wort das Si-
cherheitsbedürfnis Israels und sein Existenzrecht er-
wähnt. Beides muss aber im Friedensprozess eine zen-
trale Rolle spielen und insbesondere auch in einem
Antrag des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Einseitigkeit zeugt von fehlendem außenpoliti-
schem Gespür.

Eine Anerkennung, wie sie im Antrag der Linken ge-
fordert wird, hätte vor allen Dingen einen symbolischen
Charakter und würde einseitig Druck aufbauen. Ange-
sichts des extrem instabilen Friedensprozesses sollten
wir uns genau überlegen, ob wir damit den Friedenspro-
zess tatsächlich voranbringen würden.

Unser primäres Ziel muss es sein, die Friedensver-
handlungen wieder in Gang zu setzen; denn nur so kom-
men wir der Zwei-Staaten-Lösung näher.

Seit den Friedensverträgen von Oslo nimmt Israel
Steuern für die palästinensischen Behörden ein und
überweist sie.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Hin und wieder!)

Wenn die israelische Regierung diese Gelder nun teil-
weise zurückhält, um damit politische Stimmungsmache
zu betreiben und Druck auf die palästinensische Verwal-
tung auszuüben, dann schadet sie sich selbst in dreifa-
cher Hinsicht: Erstens schwächt sie damit die Kräfte im
Westjordanland, die auf palästinensischer Seite aktiv an
einer friedlichen Lösung des Konfliktes mitarbeiten.
Zweitens steigt dadurch die Gefahr einer Radikalisie-
rung. Drittens verstößt die israelische Regierung damit
gegen Friedensverträge.

Letztendlich zeigt dieses Beispiel aber auch, wie ab-
hängig Palästina von Israel ist. Nur am Verhandlungs-
tisch kann die internationale Gemeinschaft an dieser Ab-
hängigkeit etwas ändern. Wenn die Lage eskaliert, so
wie in Schweden, dann gewinnt man nichts.

Deutschland muss daher klar Position beziehen und
Israel zur Mitarbeit an der Zwei-Staaten-Lösung nach-
haltig drängen. Echte Freundschaft zeichnet sich auch
dadurch aus, dass man ehrlich zueinander ist und Fehl-
entwicklungen anspricht. Das muss Deutschland in Is-
rael weiterhin tun.

An einer Delegationsreise des Innenausschusses nach
Israel vor drei Wochen haben Vertreter aller Fraktionen
teilgenommen, auch Vertreter Ihrer Fraktion, von denen
heute aber kein einziger hier ist – im Gegensatz zu den
Vertretern der anderen Fraktionen. Das hat mich über-
rascht und auch etwas gewundert. Wir haben in diesen
Gesprächen vor Ort, in denen wir uns mit palästinensi-
schen und israelischen Gesprächspartnern aus den ver-
schiedensten Bereichen unterhalten haben, gespürt, wie
unterschiedlich die Sichtweisen beider Lager zum Teil
sind. Wir haben gespürt und gehört, wie schwierig es ist,
die Verhandlungen zu führen, und was für ein zweifellos
hartes Stück Arbeit das bedeutet. Wir haben aber auch
erlebt, wie stark die Bande zwischen unseren Ländern
heute sind. Wir haben gesehen, was wir gefährden wür-
den, wenn wir Ihrem Antrag heute zustimmen würden.

Wenn ich mich daher gegen Ihren Antrag ausspreche,
dann ist das kein Votum für Israel und gegen Palästina,
sondern ein Votum für Palästina und Israel mit der Hoff-
nung, dass die Friedensverhandlungen zügig wieder auf-
genommen werden.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810021800

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4334 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe: Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

der Verfolgung der Vorbereitung von
schweren staatsgefährdenden Gewalttaten

(GVVG-Änderungsgesetz – GVVG-ÄndG)


Drucksache 18/4087

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Verfolgung
der Vorbereitung von schweren staatsge-
fährdenden Gewalttaten

(GVVG-Änderungsgesetz – GVVG-ÄndG)


Drucksache 18/4279

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/4705

Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dirk Wiese,
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ansgar Heveling [CDU/CSU])



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1810021900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Gedanke ist unerträglich: Deutsche
Staatsbürger morden, foltern, entführen, begehen im
Ausland schlimmste Straftaten im Namen terroristischer
Vereinigungen. Es handelt sich dabei nicht um Einzeltä-
ter, sondern es ist eine stetig steigende Zahl von meist
jungen Männern, die sich auf den Weg machen, um sich
Terrororganisationen wie dem IS anzuschließen. Nach
Daten des Verfassungsschutzes reisten bislang über
680 deutsche Staatsbürger als sogenannte Foreign Figh-
ters in die Krisengebiete im Irak und in Syrien aus, da-
von allein 175 aus meiner Heimat Nordrhein-Westfalen.

Das kann kein Staat dulden. Das können wir nicht
dulden. Keiner darf tatenlos zuschauen, wenn die eige-
nen Bürger Tod und Leid in die Welt hinaustragen. Ter-
rorismus darf nicht zum Exportgut werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dieser Gedanke findet auch Ausdruck in der Resolu-
tion des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
24. September 2014, die wir heute in nationales Recht
umsetzen. Zukünftig macht sich derjenige strafbar, der
in Krisengebiete reist oder zu reisen versucht, um dort
ein terroristisches Ausbildungslager zu besuchen oder an
Kampfhandlungen teilzunehmen. Flankiert wird diese
Änderung im Strafgesetzbuch durch ein weiteres Gesetz-
gebungsverfahren, in dem wir das Passgesetz ändern und
Gefährdern – also Personen, die unter Terrorismusver-
dacht stehen – den Personalausweis entziehen und sie
am Verlassen des Landes hindern.
Mit dieser Maßnahme unterbinden wir nicht nur
Straftaten im Ausland, sondern stärken auch die inner-
deutsche Sicherheit; denn Rückkehrer aus diesen Kon-
fliktregionen, von denen es nach Schätzungen des Bun-
deskriminalamtes derzeit um die 200 gibt, bilden ein
großes Sicherheitsrisiko für die Bürgerinnen und Bürger
in unserem Land. Sie sind ideologisch geschult und im
Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausgebildet. Sie
sind zu schlimmsten Taten fähig, was auch die schreckli-
chen Anschläge von Paris gezeigt haben. Auch diese Tä-
ter hatten vorher im Ausland entsprechende Erfahrungen
gesammelt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das allein reicht
aber noch nicht aus; denn wenn wir Terrororganisationen
wie den IS in ihrem Kern treffen wollen, müssen wir
auch ihre Finanzierungsquellen trockenlegen. Dazu
brauchen wir eine verstärkte internationale Zusammen-
arbeit. Das gilt für die Strafverfolgungsbehörden, aber
auch für internationale Konzerne. Auch sie tragen Ver-
antwortung und sollten genau hinschauen, mit wem sie
Geschäfte machen.

Auch deshalb schaffen wir mit § 89 c des Strafgesetz-
buches einen eigenständigen Tatbestand der Terroris-
musfinanzierung,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist überflüssig und falsch!)


der einheitlich alle Formen der Terrorismusfinanzierung
unter Strafe stellt – auch Fälle, in denen es sich nur um
kleinste Beträge handelt. Damit schließen wir eine ent-
scheidende Strafbarkeitslücke und erfüllen zugleich die
Forderung der bei der OECD angesiedelten sogenannten
Financial Action Task Force.

Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen sind
wir zu dem Schluss gekommen, den § 89 c um das
Merkmal der tätigen Reue zu ergänzen. Zum einen wol-
len wir dadurch Tätern die Möglichkeit geben, durch
eine aktive Mitarbeit an der Aufarbeitung ihrer Taten
über eine sogenannte goldene Brücke zurück in die Le-
galität zu gelangen. Zum anderen geben wir auch den
Ermittlungsbehörden ein strategisches Mittel in die
Hand, um auf gefasste Täter einwirken und für die Preis-
gabe von wichtigen Informationen Strafnachlässe in
Aussicht stellen zu können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf setzen wir, glaube ich, ein Zeichen,
dass wir Gewalt und Terror entschlossen und mit der
ganzen Härte des Gesetzes verfolgen. Gleichwohl ist uns
natürlich klar, dass das Strafrecht immer nur Teil einer
Gesamtstrategie sein kann; denn wenn das Strafrecht
zum Einsatz kommt, ist es meistens schon zu spät. Wir
müssen eingreifen, bevor sich Menschen radikalisieren
und im schlimmsten Fall zu Straftätern werden.

Es ist der Initiative von Bundesfamilienministerin
Manuela Schwesig zu verdanken, dass die für Präven-
tionsprogramme gegen Islamismus bereitstehenden Gel-
der gerade erst durch den Deutschen Bundestag um
10 Millionen Euro erhöht wurden.





Dirk Wiese


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, das ist ein guter und richtiger Weg; denn nur
durch Präventionsprogramme können wir auch den
Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen gewin-
nen und ihnen zeigen, dass der Weg in den Terrorismus
immer eine Sackgasse ist, an deren Ende nur Leid und
Unglück stehen, nicht aber das Paradies wartet.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022000

Vielen Dank. – Das Wort hat Halina Wawzyniak,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810022100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wol-
len Sie die Ausreise und den Versuch der Ausreise in ei-
nen Staat, in dem sich ein sogenanntes Terrorcamp be-
findet, unter Strafe stellen, wenn diese Ausreise in der
Absicht geschieht, eine terroristische Gewalttat zu bege-
hen. Gleichzeitig wird die Bestrafung der sogenannten
Terrorismusfinanzierung neu geregelt.

Die in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf
vorgetragenen Einwände bleiben bestehen. Es gibt – erst
recht nach der Anhörung im Ausschuss – noch weitere
Argumente, weshalb wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen
werden. Ein Teil der Sachverständigen hat verfassungs-
rechtliche Bedenken vorgetragen. Diese beziehen sich
auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Übermaß-
und das Bestimmtheitsgebot.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich teile diese Bedenken ausdrücklich.

Darüber hinaus wurde von einigen Sachverständigen
auf Nachweisprobleme hingewiesen. Diese wiederum
könnten dazu führen, dass es zwar einen Straftatbestand
im Strafgesetzbuch gibt, in einem rechtsstaatlichen Ver-
fahren eine Verurteilung aber nicht herbeiführbar ist. Da-
mit bleibt eine solche Gesetzesänderung nur reine Sym-
bolpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Der vorgelegte Änderungsantrag macht den Gesetz-
entwurf auch nicht zustimmungsfähig; denn was auf der
einen Seite eine moderate und kleine positive Änderung
ist – nämlich die Einführung der tätigen Reue –, wird auf
der anderen Seite durch die Erweiterung des subjektiven
Tatbestandes wieder aufgehoben. Sie schreiben in der
Begründung, dass Sie davon ausgehen, dass Nachweis-
probleme verringert werden sollen. Ich sehe das genau
andersherum. Die Absicht der Terrorismusfinanzierung
nachzuweisen, wird mindestens genauso schwer sein,
wie das Wissen um die Terrorismusfinanzierung nachzu-
weisen. Wir alle hier im Saal sind uns einig, dass wir
nicht wollen, dass jemand in solche Camps ausreist.
Aber – auch da wiederhole ich mich im Hinblick auf das,
was ich in der ersten Lesung gesagt habe – wie soll denn
praktisch die Ausreise verhindert werden? Tatsächlich
wird es wohl so sein, dass derjenige, der ein Flugticket,
zum Beispiel in den Irak, nach Syrien oder in ein Tran-
sitland wie die Türkei, erwirbt und den Sicherheitsbe-
hörden terrorverdächtig erscheint, vor der Ausreise fest-
genommen werden kann. So ist es geplant. Aber die
Fragen, wer terrorverdächtig ist, wie das konkret geprüft
werden soll und warum es dann, wenn man terrorver-
dächtig ist, nicht andere Wege geben soll, die Ausreise
zu verhindern, sind auch in der Anhörung nicht beant-
wortet worden. Am Ende – das muss man mit aller Deut-
lichkeit sagen – ist dieser Gesetzentwurf ein weiterer
Schritt zur Umwandlung des Rechtsstaates in einen Prä-
ventionsstaat. Der liberale Rechtsstaat ist aber ein Wert
an sich, und wir sollten ihn gemeinsam verteidigen, statt
ihn immer weiter auszuhöhlen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn wir auf dem Weg des Ausbaus von Überwa-
chungsinstrumenten in der Strafprozessordnung und im
Gefahrenabwehrrecht weitergehen, dann stellen wir
selbst infrage, was wir eigentlich verteidigen wollen.
Wenn wir auf dem mit dem Terrorismusstrafrecht 1976
begonnenen Weg einer Entwicklung weg von Tatstraf-
recht und Schuldprinzip hin zu einer Verpolizeilichung
des Strafrechts nicht endlich umkehren, sondern ihn im-
mer weiter beschreiten, dann haben am Ende all jene
Terroristinnen und Terroristen gewonnen, die sich gegen
eine freiheitlich-demokratische Grundordnung wenden.
Lassen Sie uns endlich zu folgendem Grundsatz zurück-
kehren und ihn einhalten: Für die Abwehr konkreter Ge-
fahren ist das Gefahrenabwehrrecht zuständig und nicht
das Strafrecht. Das Strafrecht verlangt eine Rechtsgut-
verletzung, mindestens aber eine konkrete Rechtsgutge-
fährdung.

Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommis-
sion zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung in
Deutschland fordert eine strafverfolgungspraktische,
verfassungsrechtliche und rechtspolitische Überprüfung
des GVVG. Sie hätten der Kommission folgen sollen,
statt auf die billige Beruhigungspille Strafrecht zu set-
zen. Die Linke lehnt deshalb Ihren Gesetzentwurf ab und
fordert im vorliegenden Entschließungsantrag seine
Rücknahme.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022200

Vielen Dank. – Jetzt erhält Ansgar Heveling, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1810022300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es war offensichtlich eine große Portion Glück mit im
Spiel, als die französische Polizei gestern in Paris die ge-
planten Attentate auf zwei christliche Kirchen in Frank-
reich aufdecken und vereiteln konnte. Soweit bisher be-
kannt ist, hatte der 24-jährige mutmaßliche Attentäter





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

den Auftrag für die Anschläge von einer bislang unbe-
kannten Person aus dem Ausland, vermutlich aus Syrien,
erhalten. Im vergangenen Jahr hatte er zudem offenbar
versucht, nach Syrien auszureisen.

Dieses hochaktuelle Beispiel macht deutlich: Terro-
rismus kann uns überall umgeben. Attentäter können je-
derzeit und an jedem Ort zuschlagen. Die Gefahren sind
real. Terrorismus kennt keine nationalen Grenzen, und
seine internationalen Netzwerke funktionieren offen-
sichtlich reibungslos. Wir sehen es auch am IS: Der Ver-
kauf von Öl, der Handel mit geraubten Kunstwerken,
aber auch die Zusammenarbeit mit weltweit operieren-
den Strukturen der organisierten Kriminalität,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verhindern Sie mit dem Gesetz nicht!)


all das sorgt für die nötige Liquidität, um Angst und
Schrecken, Tod und Terror in die Welt zu tragen. Das be-
deutet aber gleichzeitig auch, dass die Bekämpfung des
Terrorismus keine Aufgabe einzelner Nationalstaaten
mehr sein kann. Sie ist vielmehr eine Herausforderung
für alle Staaten, die Freiheit und Sicherheit garantieren
wollen. Die Weltgemeinschaft hat reagiert; hierauf hatte
ich bereits in der ersten Lesung aufmerksam gemacht.
Erstmalig bildet eine Resolution des UN-Sicherheitsra-
tes die Grundlage für einen Gesetzentwurf im Deutschen
Bundestag.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt auch!)


Der Blick auf die Resolution zeigt zunächst vor allem
eines: Viele der in der Resolution genannten Aspekte,
die von den Vereinten Nationen zur Umsetzung vorge-
schlagen werden, sind bereits geltendes deutsches Straf-
recht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Alle!)


Lediglich bei der Strafbarkeit der Terrorismusfinan-
zierung und bei der Strafbarkeit des Ausreisens mit dem
Ziel, terroristische Straftaten zu begehen, hat sich An-
passungsbedarf ergeben. Hier setzt der vorliegende Ge-
setzentwurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung
beraten und beschließen, an. Über die Details haben wir
bereits bei der ersten Lesung ausführlich debattiert.

Im Zuge der Beratungen im Rechtsausschuss und als
Ergebnis der Sachverständigenanhörung hat sich weite-
rer Ergänzungsbedarf ergeben, dem wir als Koalitions-
fraktionen mit einem Änderungsantrag nachgekommen
sind.

Das betrifft zum einen die tätige Reue. Während sich
bei der Strafbarkeit der Ausreise mit der Absicht, terro-
ristische Straftaten zu begehen, die Neuregelung in die
Systematik des § 89 a Strafgesetzbuch einfügt, sodass
die tätige Reue zu einer Strafmilderung oder zu einem
Absehen von Strafe führen kann, war dies im Zusam-
menhang mit der Terrorismusfinanzierung nicht vorge-
sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nunmehr wird mit dem neuen § 89 c Absatz 7 auch
für die Strafbarkeit der Terrorismusfinanzierung die tä-
tige Reue als Möglichkeit der Strafmilderung oder des
Absehens von Strafe eingeführt. Das ist ein wichtiges Si-
gnal, um denjenigen Tätern, die sich vom Terrorismus
abwenden möchten, die Möglichkeit zu geben, ihre
Strafe durch die aktive Hilfe zur Aufklärung der Struktu-
ren des Terrorismus zu reduzieren oder gar abzuwenden.
Mit der Anpassung des Vorsatzerfordernisses wird die
Vorschrift im Hinblick auf die subjektive Tatseite im Üb-
rigen moderat erweitert.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das heute zu
beschließende Gesetz ist ein wichtiger Baustein bei der
Bekämpfung des Terrorismus mit dem Mittel des Straf-
rechts. Es ist ein gutes Gesetz, das sich nahtlos in die
wichtigen sicherheitsrechtlichen Vorhaben der Bundes-
regierung einfügt. Wir unterstützen die Regierung durch
unsere Entscheidungen im Deutschen Bundestag heute.

„Ein Baustein“ bedeutet, dass er nicht alleine steht.
Auch die Leitentscheidung der Bundesregierung zur
Vorratsdatenspeicherung in diesen Tagen ist ein weiterer
Aspekt bei der Frage, schwere Straftaten zu bekämpfen.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass wir uns angesichts
der Strukturen des Terrorismus noch über weitere Maß-
nahmen des Gesetzgebers in naher oder weiterer Zukunft
werden unterhalten müssen. So ist es schlicht nicht von
der Hand zu weisen, dass das aktive Werben für auslän-
dische terroristische Organisationen eine immer größere
Bedeutung erlangt. Insofern wird uns der strafrechtliche
Aspekt der Terrorismusbekämpfung weiter beschäftigen.
Wir werden dem Gesetz heute zustimmen und den Ent-
schließungsantrag ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022400

Danke schön. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt

Hans-Christian Ströbele das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Es ist ganz einfach nicht richtig, dass uns die UN-
Resolution dazu veranlasst oder gar zwingt, ein solches
Gesetz zu verabschieden. Herr Kollege, die Beispiele,
die Sie genannt haben, sind alle nach geltendem Straf-
recht mit ganz erheblichen Freiheitsstrafen, Freiheits-
strafen zwischen fünf und zehn Jahren bis zu lebensläng-
lich, bedroht. Natürlich ist es strafbar. Jeden Monat
werden in Deutschland Personen verurteilt, die nichts
anderes getan haben, als für eine terroristische Organisa-
tion irgendwo in Syrien, in der Türkei oder im Irak Geld
zu sammeln. Das ist der klassische Fall der Unterstüt-
zung einer terroristischen Vereinigung. Dafür brauchen
wir dieses Gesetz nicht. Natürlich ist es strafbar, in den
Heiligen Krieg zu ziehen, zu ISIS oder dem IS in Syrien
oder im Irak, wo im Augenblick solch schreckliche Zu-
stände herrschen und Menschen hingerichtet werden.
Natürlich ist das schon heute nach geltendem Recht





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

strafbar. Was Sie mit dem Gesetz machen, ist: Sie verle-
gen die Strafbarkeit noch ein bisschen vor. Sie sagen:
Nicht nur der Versuch ist strafbar, sondern wer unter-
nimmt, auszureisen, macht sich strafbar. Keiner kann
mir sagen, was es heißt: „unternimmt, auszureisen.“ Ist
es schon das Unternehmen einer Ausreise, wenn jemand
in seiner Wohnung Stiefel einpackt, oder ist es das erst,
wenn er die Straßenbahnfahrkarte zum Bahnhof kauft
oder wenn er am Flughafen oder Bahnhof ist oder wenn
er die Grenze übertritt? Das alles ist völlig unbestimmt.
Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die Auseinandersetzung
darüber, was heute nach geltendem Recht strafbar ist und
wo vielleicht eine Straflücke bestehen könnte, im
Rechtsausschuss einfach scheuen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sagen dazu nichts, sondern legen einfach ein Gesetz
vor und sagen: „Da müsst ihr jetzt mitmachen“, obwohl
von allen Möglichen verfassungsrechtliche Bedenken
geltend gemacht worden sind.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Dass Sie mitmachen, verlangen wir schon nicht von Ihnen!)


So bleibt von dem Gesetz eigentlich nur das übrig, was
Sie gesagt haben: Sie wollen ein Zeichen setzen. Aber
das Strafrecht ist nicht dafür da, dass man Zeichen setzt,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


sondern es hat eine ganz andere Bedeutung.

Nicht nur der Tatbestand des Unternehmens der Reise
ist völlig unbestimmt, sondern auch die Art des Einsam-
melns von Geld für Dritte, die wiederum möglicher-
weise eine kriminelle oder terroristische Organisation
unterstützen; auch das ist viel zu weit gefasst. Ich habe
schon in der letzten Lesung dazu angebracht: Was ist mit
der Oma, die Geld sammelt, damit sie ihrem Enkel viel
Geld vererben kann, weil er immer so nett ist, der aber
gleichzeitig Islamist ist, was sie auch weiß? Macht sie
sich jetzt strafbar, wenn sie möglichst viel Geld zusam-
menbringt, damit sie es ihm vererben kann?


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Also, Herr Ströbele, der Fall mit der Oma ist nun wirklich sehr weit hergeholt!)


Das ist in der Anhörung von Sachverständigen aufge-
nommen worden. Sie bringen das jetzt in ihren Vorlesun-
gen, wie sie mir erzählt haben. Also, liebe Kolleginnen
und Kollegen, lassen Sie die Kirche im Dorf, und
schauen Sie sich unser geltendes Recht an. Dann lassen
Sie uns darüber reden, was da möglicherweise noch
fehlt.

Niemand ist dafür – auch wir nicht –, dass Dschiha-
disten, die ins Ausland ausreisen wollen, um in den Hei-
ligen Krieg zu ziehen, und das möglicherweise auch
noch im Internet erklären, einfach so rausgelassen wer-
den. Aber um das zu verhindern, gibt es andere Vor-
schriften: Es gibt Möglichkeiten, sie zu beobachten, ih-
nen ein Ausreiseverbot zu erteilen oder, wie es auch
schon praktiziert wird, ihnen den Pass zu entziehen bzw.
Meldeauflagen zu erteilen und diese zu überprüfen. Es
gibt also eine ganze Reihe von sehr viel besseren Mög-
lichkeiten, die rechtlich und grundgesetzlich viel weni-
ger problematisch sind und die wir nutzen sollten. Die-
ses Gesetz brauchen wir nicht. Es schadet unserer
Rechtsordnung und führt auf falsche Wege. Lassen Sie
uns darüber reden, was man in den anderen Bereichen
noch machen kann, aber verabschieden Sie sich von die-
sem Gesetz! Es ist falsch, und wahrscheinlich wird es
vor den Augen der Richter in Karlsruhe keinen Bestand
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube ich auch!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022500

Danke schön. – Als Nächster spricht Michael Frieser,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1810022600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ganz schlau bin ich jetzt nicht aus der Rede des
Herrn Ströbele geworden. Das muss man aber auch
nicht; es passiert mir wirklich selten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, das muss man!)


Ich will nur sagen: Die Diskussion im Rechtsausschuss
war meines Erachtens schon sehr ausführlich.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine einzige Silbe haben Sie gesagt!)


Aber wenn man es nicht akzeptieren will! Und glauben
Sie uns: Wir werden Sie nicht zwingen, mitzustimmen;
das ist nicht die Intention der Koalitionsfraktionen.

Ich glaube aber, dass es wichtig ist, noch einmal fest-
zuhalten: Wir haben einen grundgesetzlichen Auftrag.
Der grundgesetzliche Auftrag aus Artikel 26 lautet: Wer
Handlungen in der Absicht vornimmt, den Frieden der
Völker zu stören und Schaden anzurichten, der muss
strafrechtlich verfolgt werden; er handelt verfassungs-
widrig. – Dann kommt noch die UN-Resolution hinzu.
Das ist genau der Punkt; das sind die zwingenden Argu-
mente.

Dass man jetzt noch die Oma auspackt, die ein biss-
chen Geld für den Enkel sammelt, geht tatsächlich zu
weit. Ich habe gestern extra noch einmal mit Herrn Pro-
fessor Sieber, der ja bei der Anhörung war, gesprochen.
Wenn es um internationale Finanzströme geht, muss man
sagen: IS ist die reichste Organisation, die diesen Plane-
ten jemals mit Terror überzogen hat. Das ist eine Organi-
sationsform, der wir uns nicht mehr mit den Sandschäu-
felchen entgegenstellen können, die wir im Augenblick
zur Verfügung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD])






Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

Ich muss sagen: Ich nehme es schon übel, dass man jetzt
versucht, das kleinzureden.

Es geht in der Tat darum, die Handlungen zur Vorbe-
reitung von Reisen miteinzubeziehen; denn dort findet
die Radikalisierung doch vor allem statt. Ich würde es ja
noch akzeptieren, wenn man fragte, ob das wirklich das
Einzige ist, was man macht. Aber diese beiden Sachen
– erstens Handlungen zur Vorbereitung des In-den-
Krieg-Ziehens und zweitens die Frage der Terrorfinan-
zierung – sind die wesentlichen Bausteine dieses Geset-
zes.

Ich glaube, es ist schon wichtig, dass wir es dabei
nicht belassen, sondern bei der Frage der Radikalisie-
rung durch Islamisten, was die Aufrufe auf der Straße
betrifft, noch etwas tun. Die Bundeszentrale für politi-
sche Bildung leistet hier Wesentliches und arbeitet mit
neuen Instrumenten, vor allem, was die Onlineinstru-
mente betrifft.

Es geht darum, dass wir beispielsweise die Beratungs-
stelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge in Nürnberg ausbauen. Unser Vorgehen
muss auf zwei Säulen beruhen. Zum einen muss man et-
was für die Prävention tun – und wir ergreifen hier tat-
sächlich eine ganze Reihe von Maßnahmen –, zum ande-
ren müssen wir deutlich machen, dass der strafrechtliche
Schutz nicht nur uns dient, sondern am Ende auch Sy-
rien. Wir sind aufgrund unserer internationalen Verant-
wortung aufgerufen, nicht zuzulassen, dass Vorbereitun-
gen hier getroffen werden und Kriegsgut exportiert wird,
auch schon deshalb, weil wir damit rechnen müssen,
dass diejenigen, die radikalisiert und abgestumpft sind,
wieder in unser Land zurückkehren. Diese Aspekte wer-
den im vorliegenden Gesetzentwurf geregelt.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022700

Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ströbele?


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1810022800

Ich würde mich ja gegen die Ordnung des Hauses ver-

gehen, wenn ich sie nicht zuließe. – Herr Ströbele, bitte
schön.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810022900

Herr Kollege Ströbele, bitte.


(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat doch schon geredet!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege. – Sie behaupteten gerade, wir
hätten über dieses Thema schon im Rechtsausschuss dis-
kutiert. Könnten Sie mit einem Satz darauf eingehen,
dass das alles bereits strafbar ist? Ist Ihnen bekannt
– vielleicht ist es Ihnen auch nicht bekannt –, dass, wäh-
rend wir hier diskutieren, Menschen, denen nichts ande-
res vorgeworfen wird, als beispielsweise Geld gesam-
melt zu haben oder sich an einer Sammlung beteiligt zu
haben, um die PKK, um ISIS oder Ähnliches zu unter-
stützen, in Untersuchungshaft sitzen und auf ihren Pro-
zess warten? Ist Ihnen das bekannt? Und wenn Ihnen das
bekannt ist: Wozu brauchen Sie dann ein neues Gesetz?


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sandschäufelchen!)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1810023000

Herr Ströbele, ich gebe zu, dass Sie sich aufgrund Ih-

rer Erfahrung und Ihres Alters mit den Zeiten, in denen
sich Deutschland mit den Themen der Gründung bzw.
der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen be-
schäftigt hat, besser auskennen als ich.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Ich gebe auch gerne zu, dass es nach den geltenden Re-
gelungen bereits strafbar ist, wenn jemandem eindeutig
nachzuweisen ist, dass er Geld für terroristische Vereini-
gungen sammelt – damit hat sich übrigens schon der
Rechtsausschuss beschäftigt –,


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, also!)


aber jetzt geht es um etwas anderes, und das wissen Sie
genau. Jetzt geht es um Finanzierungsströme von außer-
halb, die ich aus Deutschland heraus nicht nachvollzie-
hen kann. Es geht um neue Finanzsysteme in der Wirt-
schaftsstruktur. Im Augenblick kommen wir mit dem,
was wir alleine tun können, nicht besonders weiter. Es
geht auch darum, dass wir die zweite Säule, die Vorbe-
reitungshandlungen, nicht ganz vergessen.

Sie beantworten Ihre Frage an dieser Stelle meines
Erachtens selber. Was in diesem Gesetz steht, das ist im
Rechtsausschuss schon diskutiert worden. Im Augen-
blick ist die Frage, wie mit der internationalen Terroris-
musfinanzierung umzugehen ist, der wesentliche Aspekt
der Diskussion. Das wissen Sie genau, Herr Ströbele.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte noch hinzufügen: Wir hätten uns an der
einen oder anderen Stelle gewünscht, etwas mehr zu ma-
chen. Kollege Fechner wird natürlich sofort sagen:
„Sympathiewerbung“. Jawohl: Über die „Radikalisie-
rung auf der Straße“ müssen wir einen intensiven Dialog
führen. Der Rechtsausschuss hat sich, auch in Anhörun-
gen, schon damit beschäftigt. Beim Thema Sympathie-
werbung gab es einen Koalitionskompromiss; das will
ich nicht in Abrede stellen. Aber wir müssen junge Men-
schen aufklären, die vor einer schwierigen Entscheidung
stehen, die offen für Radikalisierung sind, weil sie orien-
tierungslos sind. Ich will um Gottes Willen kein Gedan-
kenstrafrecht in Deutschland einführen, aber wir müssen
auf diesem Sektor mehr tun. Es bedarf der Unterstüt-
zung, des Auffangens, aber auch des Abfangens. Es be-
darf zugegebenermaßen auf der einen Seite der Keule
des Strafrechts. Aber auf der anderen Seite bedarf es
auch der Zuwendung des Staates, um diese Form der Ra-
dikalisierung zu verhindern. Das ist meines Erachtens
ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Deshalb
halten wir den vorliegenden Gesetzentwurf für sinnvoll.
Warum wir den Entschließungsantrag ablehnen, das hat





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

Kollege Ansgar Heveling schon mit viel Herzblut be-
gründet.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023100

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt

Dr. Johannes Fechner.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1810023200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Gestern ha-
ben wir alle in einer sehr bewegenden Debatte hier der
Opfer der schrecklichen Schiffskatastrophe im Mittel-
meer gedacht, bei der über 800 Menschen zu Tode ge-
kommen sind. In der anschließenden Debatte haben alle
Redner und Rednerinnen Konsequenzen gefordert. Ich
finde, eine Konsequenz muss sein, dass wir uns ent-
schlossen dafür einsetzen, dass die Menschen nicht aus
ihrer Heimat fliehen müssen, zum Beispiel, weil es dort
aufgrund von Terrorismus zu unsicher geworden ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört, dass wir die Möglichkeiten, die wir als Ge-
setzgeber zur Terrorismusbekämpfung haben, nutzen
und mithelfen, dass die Herkunftsregionen der Flücht-
linge sicher sind, dass sie sich erst gar nicht auf diese
selbstmörderische Reise begeben müssen.

Genau dieses Ziel verfolgt die UN-Resolution, in der
der Sicherheitsrat alle Mitgliedstaaten auffordert, die
Ausreise von Dschihadisten, die in terroristischer Ab-
sicht ausreisen wollen, unter Strafe zu stellen. Dem glei-
chen Ziel dient die Aufforderung der Financial Action
Task Force der OECD, jegliche Terrorismusfinanzierung
unter Strafe zu stellen. Diesen Aufforderungen kommen
wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach. Zukünf-
tig wird bestraft, wer ausreisen will, um im Ausland Ge-
walttaten zu begehen oder sich in Terrorcamps für Ge-
walttaten ausbilden zu lassen. Richtig ist, dass die
Strafbarkeit sehr weit vorgezogen wird – das will ich
überhaupt nicht in Abrede stellen –, aber angesichts des
hohen Gefährdungspotenzials und des dringenden Hand-
lungsbedarfs, den Terrorismus zu bekämpfen, ist dies
aus meiner Sicht gerechtfertigt. Das ist notwendig und
vor allem von den internationalen Organisationen wie
den Vereinten Nationen vorgegeben. Deswegen sollten
wir diesen Schritt gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darüber hinaus streichen wir die Erheblichkeits-
schwelle bei der Strafbarkeit der Terrorfinanzierung. Sie
haben recht, Herr Kollege Ströbele: Schon heute ist die
Terrorismusfinanzierung strafbar. Deswegen geht es nur
darum, die Erheblichkeitsschwelle zu streichen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es nicht! Wo steht die? Im 129 a steht nichts davon!)


Da gibt es eine eindeutige Vorgabe von der UNO und
von der Financial Action Task Force.

An dieser Stelle will ich aber auch sagen, dass die
besten Gesetze nichts nützen, wenn die Strafverfol-
gungsbehörden nicht angemessen ausgestattet sind. Wir
haben deshalb für die Bundespolizei im letzten Bundes-
haushalt 20 Millionen Euro mehr für Ausrüstung und
Fahrzeuge zur Verfügung gestellt. Wir haben 400 neue
Stellen geschaffen und 260 Beförderungen ermöglicht.
Außerdem darf ich daran erinnern, dass wir beim Gene-
ralbundesanwalt sechs zusätzliche Stellen geschaffen ha-
ben, sodass jetzt zusätzliches Personal im Bereich der
Terrorismusbekämpfung ganz gezielt eingesetzt werden
kann. Das war wichtig und kam bei der Generalbundes-
anwaltschaft sehr gut an. Das war dort ein Motivations-
schub, weil die Mitarbeiter ganz erheblich belastet sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur Sympathiewerbung. Die Tatsache, dass erst der
letzte Redner der Union dieses Thema angesprochen hat,
werte ich einmal als gutes Zeichen, dass die Sympathien
der Union hierfür nachlassen.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das heißt gar nichts!)


Aber im Ernst: Ich glaube, wir haben diesen Punkt zu
Recht gestrichen. Es gab so gut wie keine Verurteilun-
gen. Liebe Kollegen von der Union, bringt doch endlich
einen Formulierungsvorschlag, der verfassungsgemäß
ist! Darauf warten wir schon sehr, sehr lange. Das müsst
ihr machen, wenn ihr tatsächlich eine verfassungsge-
mäße Regelung haben wollt. Eine solche Formulierung
gibt es nicht. Deswegen war es gut, dass wir das gestri-
chen haben.

Ich glaube – damit komme ich zum Schluss –, dass
wir mit diesem Gesetzentwurf wichtige Bausteine bei
der Bekämpfung des Terrorismus und seiner Finanzie-
rung beschließen. Wir verhindern, dass in Deutschland
Geld zur Finanzierung von Terrorismus gesammelt wer-
den kann, und wir verhindern, dass Terroristen aus
Deutschland ausreisen, um im Ausland Straftaten zu be-
gehen, dort für unermessliches Leid sorgen und die
Menschen aus ihrer Heimat vertreiben. Das machen wir
nicht mit. Deswegen ist das ein guter Gesetzentwurf.
Wir können zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023300

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-

che angekommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Änderung der Verfolgung der Vorberei-
tung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten.





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor.1)

Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4705, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4087 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/4710. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung der Verfolgung der Vorbereitung
von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/4705, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4279 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ge-
samten Hauses angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn (Dresden), Tabea Rößner, Matthias Gastel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Fluglärm wirksam reduzieren

Drucksache 18/4331
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

1) Anlage 2
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, jetzt ihre
Plätze einzunehmen und notwendige Gespräche außer-
halb des Saales zu führen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Stephan
Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Ich will vorwegstellen: Es fällt nicht
leicht, nach dem Absturz der Germanwings-Maschine
am 24. März in den Alpen andere Probleme der Luftfahrt
zu diskutieren. Wie stark die Ereignisse emotional nach-
wirken, haben wir, glaube ich, gestern gemeinsam im
Verkehrsausschuss erlebt.

Dennoch wird weiterhin geflogen, und kein anderer
Verkehrsträger wächst so schnell wie der Flugverkehr.
Viele Menschen im Umfeld von Flughäfen sind hohen
Lärmbelastungen ausgesetzt und fühlen sich in ihrer Le-
bensqualität beeinträchtigt. Deshalb müssen wir uns mit
diesen Themen auseinandersetzen, zumal nächste Woche
wieder der Internationale Tag gegen Lärm ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass Fluglärm die Gesundheit gefährdet, ist inzwischen
unumstritten und wissenschaftlich gut belegt. Kinder, äl-
tere und kranke Menschen sind für die schädlichen Wir-
kungen von Lärm besonders sensibel. Deshalb müssen
wir Fluglärm wirksam reduzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Flugverkehr hat sich in den letzten 20 Jahren in
Deutschland mehr als verdoppelt. Zwar sind neue Flug-
zeuge in den letzten Jahren deutlich leiser geworden,
doch der rasante Anstieg des Luftverkehrs und der län-
gere Einsatz von älteren Flugzeugtypen haben zur Folge,
dass die Lärmbelastung insgesamt nicht sinkt. Der
Schutz der Betroffenen vor Fluglärm ist gesetzlich völlig
unzureichend geregelt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bun-
desregierung hat im vergangenen Jahr ein Sondergutach-
ten mit dem Titel „Fluglärm reduzieren: Reformbedarf
bei der Planung von Flughäfen und Flugrouten“ vorge-
legt und darin festgestellt, dass Luftverkehr und Flug-
lärm im geltenden Recht in nicht mehr zeitgemäßer
Weise privilegiert werden und – so heißt es dort – die ge-
setzliche Regelung der Fluglärmproblematik im Luftver-
kehrsrecht unterentwickelt ist. Ich finde, das ist ein ver-
nichtendes Urteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023400

Herr Kollege Kühn, lassen Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Nissen zu?

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Gerne.






(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023500

Bitte schön.


Ulli Nissen (SPD):
Rede ID: ID1810023600

Herzlichen Dank, Herr Kühn, dass Sie die Zwischen-

frage zulassen. – „Fluglärm reduzieren“ ist wirklich ein
wunderbarer Titel. Mein Wahlkreis ist Frankfurt. Der
Frankfurter Flughafen liegt mittendrin. Ich weiß, wie die
Bürgerinnen und Bürger dort leiden. Ich selbst habe bei
Menschen übernachtet, die mitten in der Lärmschutz-
zone 1 wohnen. Ich weiß, dass morgens um fünf die
Nacht dort vorbei ist.

Die hessischen Grünen haben wunderbarerweise in
ihrem Wahlprogramm stehen gehabt, dass sie verhindern
wollen, dass Terminal 3 gebaut wird. Sie haben auch
versprochen, ein Nachtflugverbot zwischen 22 Uhr und
6 Uhr einzuführen. Wir wissen: Wir haben inzwischen
eine schwarz-grüne Landesregierung, und auch in
Frankfurt regiert Schwarz-Grün. Es passiert in dieser
Hinsicht aber nichts.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die SPD hat sich auch nicht verändert!)


Ich möchte Sie fragen: Wie wollen Sie den hessischen
Bürgerinnen und Bürgern diesen Antrag erklären, wenn
Sie dort, wo Sie in der Landesregierung sind, nicht ent-
sprechend handeln? Das würde ich gerne von Ihnen wis-
sen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vom hessischen Wirtschaftsminister kommen immerhin Vorschläge! – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja so eine Heuchelei! Unfassbar!)


Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich erkläre Ihnen das gerne, Frau Kollegin. Natürlich
hätten wir uns gewünscht, im Rahmen des Koalitions-
vertrages in Hessen mehr für den Lärmschutz durchzu-
setzen, wie Sie es in einer ähnlichen Situation in Landes-
regierungen vermutlich ebenfalls versucht haben.

Warum bringen wir diesen Antrag ein? Weil einer
Landesregierung natürlich die Hände gebunden sind,
wenn die Bundesgesetze so sind, wie sie sind. Der Bun-
desgesetzgeber ist für das Luftverkehrsgesetz und das
Fluglärmschutzgesetz zuständig. Wir wollen mit diesem
Antrag einen Beitrag dazu leisten, dass darüber disku-
tiert wird: Wie kann der Fluglärmschutz auf bundesge-
setzlicher Ebene verbessert werden? Eine Landesregie-
rung muss sich an Recht und Gesetz halten; das ist doch
klar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Ausbau haben die Sozialdemokraten in Hessen und Frankfurt auch mitbeschlossen! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023700

Jetzt hat wieder der Kollege Kühn das Wort.

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich will diese Gelegenheit nutzen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf den Koalitionsvertrag zu sprechen zu
kommen, auf den der Großen Koalition. Man muss sa-
gen, dass da wenig drinsteht, und das Wenige, das da
drinsteht, wird noch nicht einmal umgesetzt. Zum Bei-
spiel wird darin eine deutlichere Spreizung bei den lärm-
abhängigen Flughafenentgelten angekündigt. Doch Ver-
kehrsminister Dobrindt hat die geplante Novelle zum
Luftverkehrsgesetz, die dafür erforderlich wäre, aus der
Vorhabenplanung der Bundesregierung gestrichen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, so was! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? Wie kommt denn das?)


Das ist unglaubwürdig, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Absurd ist auch, wie die Bundesregierung beim Na-
tionalen Verkehrslärmschutzpaket vorgeht. Es ist bereits
2008 beschlossen worden. Das Ziel war, den Fluglärm
bis 2020 um 20 Prozent zu verringern. Wir haben die
Bundesregierung gefragt: Wie sieht es damit aus? Die
Antwort war, dass sie uns nicht sagen kann, welches das
Ausgangsniveau und welches das Zielniveau war, wie
man den Lärmschutz also verbessern will, und sie hat
auch nicht vor, einzelne Maßnahmen hinsichtlich ihrer
Wirkung zu berechnen. Meine Damen und Herren, das
ist nichts anderes als eine Mogelpackung. Das ist reine
Symbolpolitik. Sie lassen die Betroffenen an dieser
Stelle allein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Notwendig sind substanzielle Maßnahmen. Wir schla-
gen verschiedene vor. Wir wollen den Vorrang des akti-
ven Schallschutzes vor dem passiven Schallschutz im
Luftverkehrsrecht verankern, wie es auch bei den ande-
ren Verkehrsträgern der Fall ist. Wir brauchen Lärm-
obergrenzen und ein Lärmminderungsgebot. Außerdem
hat die EU im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfah-
rens, in dem es um die Frage der Festlegung von Flug-
routenplanung geht, kritisiert, dass es derzeit keine
Umweltverträglichkeitsprüfung gibt. Wir brauchen Vor-
gaben für eine lärmreduzierte Flughafenplanung. Wir
brauchen eine starke Öffentlichkeitsbeteiligung und
transparente Abwägungskriterien für die Planung von
Flugrouten. All das fehlt.

Auch das Fluglärmschutzgesetz schützt nicht wirklich
wirksam vor Fluglärm. Hier müssten die Grenzwerte ge-
senkt werden. Deshalb erwarten wir, meine Damen und
Herren von der Koalition, dass Sie die Überprüfung des
Fluglärmschutzgesetzes vorziehen und noch diese Legis-
laturperiode wirksame Maßnahmen zur Verbesserung
des Fluglärmschutzes einleiten. Wir erwarten ebenso,
dass im geplanten nationalen Luftverkehrskonzept eine
umfassende Lärmminderungsstrategie verankert wird.





Stephan Kühn (Dresden)



(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie
müssen jetzt Farbe bekennen, erklären, dass Sie es mit
dem Fluglärmschutz wirklich ernst meinen, und entspre-
chende Vorschläge machen. Wir haben Vorschläge ein-
gebracht.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man könnte ja schon mal unserem Antrag zustimmen!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810023800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Peter Wichtel,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1810023900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vor-
liegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
spricht ein Thema an, das sich wunderbar eignet – der
Kollege Kühn hat das vorgetragen –, darüber zu disku-
tieren. Wir als CDU/CSU-Fraktion freuen uns jedes Mal,
wenn wir uns im Deutschen Bundestag über dieses
Thema konstruktiv mit Ihnen auseinandersetzen können.
Dies bedeutet insbesondere, dass zusammen mit den
Bürgerinnen und Bürgern, mit den Anwohnern um die
Flughäfen herum, diskutiert werden muss.

Im Übrigen kann ich dazu sagen, dass die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion in der letzten Legislaturperiode
unter Führung von Arnold Vaatz einen Initiativkreis
Luftverkehr hatte, in dem wir sehr sachbezogen gearbei-
tet haben. Wir haben nicht nur mit Vertretern der Luft-
verkehrswirtschaft gesprochen, sondern auch mit Inte-
ressenvertretern der Fluglärmgegner und mit der
Fluglärmkommission und sind zu dem Ergebnis gekom-
men – das gilt auch heute noch –, dass insgesamt alle
Verkehrsbereiche zu viel Lärm machen und die Bevölke-
rung belasten.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das teilen wir!)


Wir hoffen, dass Sie das genauso sehen, wenn wir dann
über den Schienenlärm reden, den wir gerade nachts ha-
ben.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist das!)


Da sind wir ja auch gemeinsam unterwegs. Ich denke, da
gibt es viele Dinge zu tun. Nur, wir haben unterschiedli-
che Ansätze, wie man da etwas tun kann.

In der Debatte fehlen meiner Ansicht nach insbeson-
dere zwei wichtige Dinge. Erster Punkt. Sie wissen ge-
nau, dass man im Zusammenhang mit Lärm rund um
Flughäfen nur dann eine friedlichere und bessere
Zielrichtung in die Diskussion bekommt, wenn alle Be-
teiligten zusammenarbeiten und man fair und offen mit
dem Thema umgeht. Ich sage ganz deutlich: Dank von
Generation zu Generation immer leiser werdenden
Triebwerken sind die Flugzeuge in den letzten 14 Jahren
durchschnittlich um 75 Prozent leiser geworden. Ich
möchte das ganz besonders betonen, weil ja immer be-
hauptet wird, die Luftverkehrsbranche tue nichts gegen
den Lärm. Die Luftverkehrsbranche investiert jedoch
17 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwick-
lung.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!)


Diese Zahlen belegen eindeutig, dass das, was Sie hier
ansprechen, unabhängig von gesetzgeberischen Maß-
nahmen in der Branche bereits heute umgesetzt wird.

Der zweite Punkt, den ich vermisse, ist, dass die Be-
teiligten rund um einen Flughafen offen, ehrlich und
transparent miteinander diskutieren. Als ein Bürger, der
bis heute zeit seines Lebens in der Einflugschneise des
Frankfurter Flughafens lebt, kann ich nur bestätigen:
Selbst wenn es zwischen Anwohnern und Flughäfen un-
terschiedliche Auffassungen gibt, ist das Verhältnis vor
Ort von Akzeptanz und Respekt geprägt. Ich sage aber
genauso deutlich: Der größere Anteil der Anwohner
rund um die Flughäfen schätzt die Flughäfen als Arbeit-
geber, als Wirtschaftsmotoren und als Tore zur Welt. Die
Diskussion, die Sie hier führen – Sie sprechen von In-
transparenz und Sonstigem –, kann ich schlichtweg nicht
verstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Rimkus [SPD])


Was Sie in Ihrem Antrag ansiedeln, ist für mich nicht
nachvollziehbar. Sie müssen auf einem anderen Stern
leben.

Schauen Sie sich die Wahlergebnisse rund um den
Frankfurter Flughafen an: Kein einziger Abgeordneter,
der als Flughafengegner angetreten ist, ist direkt in den
Deutschen Bundestag gewählt worden.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sich hier aber gerade anders angehört! – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann doch nicht das entscheidende Kriterium sein! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehe ich auch nicht!)


Aber ich sage einmal ganz deutlich: Das ist ein anderes
Thema.

Das Verhältnis zwischen den Anwohnern und den
Flughäfen ist kein schlechtes. Ich denke, man kann das
noch an einer anderen Zahl festmachen, die ich Ihnen
auch mitteilen möchte: Laut einer Umfrage des Bundes-
umweltministeriums ist der Prozentsatz der Menschen,
die sich von Fluglärm belästigt fühlen, in den letzten
14 Jahren von 15 Prozent auf 6 Prozent gefallen. All
diese Zahlen ignorieren Sie schlicht, weil Sie aus Popu-
lismus alles andere an die Seite schieben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Zahlen aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage verwendet!)






Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich sind wir insgesamt unterwegs, die Lärmziele
und die Rahmenbedingungen rund um die Flughäfen
weiterhin zu verbessern. Ich denke, es ist deutlich
geworden, dass die Industrie an diesem Thema arbeitet;
dazu braucht sie aber eine ausreichende finanzielle
Situation.

Ich möchte abschließend sagen: Ich sehe es als wirt-
schaftlich unbedingt wichtig an, dass keine Sonderbelas-
tungen der Luftverkehrswirtschaft da sind. Die Luftver-
kehrsteuer und Dinge wie die auf Europa beschränkte
Emissionshandelsthematik tragen nicht dazu bei, dass es
weltweit zu einem fairen Wettbewerb kommt.


(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wirtschaft ist das Einzige, was zählt!)


Auch deswegen fehlen die Gelder, um noch schneller in
leisere Flieger zu investieren. Ich erwarte einfach, dass
das passiert. Deswegen sind all die Dinge, die Sie hier
vortragen, aus Sicht der Wirtschaft und derjenigen, die
sich regelmäßig um den Luftverkehr kümmern, erledigt.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt viele Wirtschaftsverbände, die sich auch gegen Fluglärm engagieren!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810024000

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht

jetzt Herbert Behrens.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810024100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn es damit getan wäre, dass die Luftverkehrswirt-
schaft schon alles für sich allein regelt und wir uns gar
nicht darum kümmern müssten, wären wir hier, glaube
ich, fehl am Platze. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen,
die wir ergreifen müssen, um die Lärmbelastung, die
objektiv da ist, wirklich zu senken. Es hilft nicht der
Hinweis auf Prozentzahlen, die früher höher waren als
heute, um zu sagen: Das Problem ist damit gelöst. – Im
Gegenteil: Wir haben das Problem der Belastungen. Wir
haben ein erhöhtes Risiko bei Kreislauferkrankungen.
Wir haben Schlafentzug, wir haben Kreislaufbeschwer-
den als Folgen von Fluglärm. Wir haben den Nachweis,
dass Kinder in ihrer Entwicklung behindert werden,
wenn sie Fluglärm ausgesetzt sind. Darum müssen wir
uns hiermit beschäftigen. Darum ist es auch wichtig,
dass es diesen Antrag der Grünen gibt. Vielen Dank da-
für!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts des Lärmterrors und auch der hohen
Umweltbelastungen, der Umweltverpestung, die im
Luftverkehr außerordentlich ist, ist es wichtig, dass wir
uns mit den einzelnen Punkten, die in diesem Antrag ge-
nannt worden sind, auseinandersetzen.

Angesichts des Ausmaßes der Belastungen, die wir
trotz gesunkener Prozentzahlen, Herr Wichtel, die Sie
vorgetragen haben, verzeichnen, ist hier wirklich schnel-
les Handeln erforderlich. Wenn wir nämlich nicht be-
herzt eingreifen, kommt es zu der exorbitanten Steige-
rung des Luftverkehrs um 65 Prozent bis zum Jahr 2030.
Dieses Szenario sollten wir uns ersparen.


(Beifall bei der LINKEN – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Horror!)


Eine Wende im Luftverkehr heißt, dass wir den Zuwachs
stoppen. Wir unterstützen deshalb die Forderungen in
dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Wir unterstüt-
zen insbesondere auch die Forderungen der Bürgerinitia-
tiven aus Frankfurt, aus Berlin, die teilweise in diese
Forderungen eingeflossen sind, und sagen: Wir brauchen
ein Nachtflugverbot, um zumindest in der Nacht den
Fluglärm zu verhindern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Fordern Sie doch Stillstand in der Wirtschaft!)


Wir brauchen, wie es Initiativen in Frankfurt fordern,
eine Maximalbelastung von 380 000 Flugbewegungen,
damit die Leute auch einmal Ruhe finden können.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gesundheit geht vor Wirtschaftlichkeit. Das haben
auch Gerichte festgestellt, und das ist gut so. Das ist ein
Erfolg der Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Jahren
und Jahrzehnten mit dieser Frage auseinandergesetzt ha-
ben. Das sollte auch ein Ansporn für uns sein, in dieser
Frage weiterzuarbeiten, um zu mehr Entlastung der
lärmgeplagten Bürgerinnen und Bürger zu kommen.

14 Forderungen haben Bündnis 90/Die Grünen in ihr
Papier aufgenommen und aufgefordert, aktiv zu werden.
Ich finde, die Forderungen gehen in die richtige Rich-
tung. Wenn man diese Bundesregierung aber auffordert,
doch bitte schön einen Gesetzentwurf einzubringen, ist
damit sehr viel Hoffnung verbunden. Ob das erfolgreich
sein wird, weiß ich nicht,


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir haben da auch einige Zweifel, in der Tat!)


aber zumindest sind die Forderungen auf den Punkt ge-
bracht. Das ist in Ordnung so, darum unterstützen wir sie
auch.

Wir brauchen ein neues Luftverkehrsgesetz, damit
auch gesetzlich klargestellt wird, dass Gesundheit vor
Profit geht. Wir brauchen ein neues Fluglärmschutz-
gesetz, damit die Anwohner von alten und von neuen
Flughäfen gleichgestellt werden, und wir brauchen wei-
tere Maßnahmen zur Entlastung. Lärmpausen – wie jetzt
in Frankfurt ausprobiert – helfen uns da nicht wirklich
weiter.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber wenigstens ein Anfang!)






Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

Sie entlasten zwar an der einen Stelle dadurch, dass be-
stimmte Flugkorridore zeitweise nicht mehr bedient wer-
den, aber die Flüge finden an anderen Stellen statt. Diese
zusätzliche Belastung dürfen wir nicht akzeptieren, und
darum kann das nicht mehr als ein Versuch sein. Ich
hoffe, dass sich das auch in Hessen schnell herausstellt.

Wir brauchen auch keine Erweiterung des Flughafens
durch ein weiteres Terminal in Frankfurt. Wir brauchen
eine Reduzierung im Luftverkehr. Viele Inlandsflüge
lassen sich durch einen vernünftigen Bahnverkehr und
ein vernünftiges Fernverkehrskonzept ersetzen.

Wir brauchen eine Wende im Luftverkehr dadurch,
dass die einseitigen Bevorzugungen, die direkten und
indirekten Subventionen abgebaut werden. Wir brauchen
eine Gleichbehandlung der Verkehrsträger. Die Steuer-
freiheit bei Kerosin ist von gestern. Wir brauchen auch
keine Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer auf die
Tickets.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen anders produzieren, damit wir Fracht-
flüge anders gestalten.

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sollte des-
halb unterstützt werden. Lassen Sie uns darüber hinaus
diese Debatte dazu nutzen, sowohl parlamentarisch als
auch außerparlamentarisch zu einer neuen Initiative ge-
gen Fluglärm zu kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810024200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Arno Klare, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1810024300

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich finde, das ist eine sehr muntere Debatte,
und ich hoffe, ich kann auch ein wenig zu dieser Munter-
keit beitragen.

Der Antrag der Bündnisgrünen ist sehr umfassend,
und da wir ihn im Ausschuss noch einmal zu beraten
haben werden, will ich hier nur ein paar sehr allgemeine
Ausführungen machen und damit beginnen, was im
Koalitionsvertrag sehr allgemein steht – ich zitiere –:

Mobilität ist eine wesentliche Voraussetzung für
persönliche Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe so-
wie für Wohlstand und Wirtschaftswachstum.
Grundlage hierfür ist eine leistungsfähige Verkehrs-
infrastruktur. Sie sichert unsere europäische und
globale Wettbewerbsfähigkeit.

Ich füge sehr bewusst und sehr dezidiert hinzu: Dazu ge-
hört auch unverzichtbar der Luftverkehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Tatsache haben die Wählerinnen und Wähler
bzw. Sympathisantinnen und Sympathisanten der Bünd-
nisgrünen übrigens durchaus verinnerlicht, wie wir aus
einer Umfrage wissen.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie sind die Partei, die am meisten fliegt;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Quatsch! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Unterschied zwischen Partei und Wähler nicht verstanden!)


das heißt, Sie schätzen diesen Mobilitätsmodus in beson-
derer Weise.

Ich will mich jetzt nicht auf so eine Schlagzeile wie
die des Fokus beziehen – er hat „Ökofreunde im Kero-
sinrausch“ getitelt –, weil das wüste Polemik ist, und
dem schließe ich mich nicht an.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das musste aber noch einmal zitiert werden!)


Es gibt aber eine durchaus sozialwissenschaftliche Er-
klärung dafür, dass die Wählerinnen und Wähler Ihrer
Partei mehr fliegen als die der Sozialdemokraten. Sie
sind die Partei der Besserverdienenden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und Sie sind in der Lage, sich diese Flüge zu leisten.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie sind die Partei des Florian!)


Die Maya-Tempel auf Yucatán erreicht man nicht mit
dem Ökofahrrad – das ist richtig –, wobei ich nichts
dagegen habe, dass Sie da hinfliegen.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch echt billig! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie armselig ist das denn!)


Setzte man alle 14 Punkte, die in diesem Antrag ste-
hen, um, dann würde das zu einer massiven Gefährdung
des Luftverkehrsstandortes Deutschland führen. Das
wollen wir nicht, und insofern können wir diesem An-
trag nicht zustimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus meiner Sicht blenden Sie einen Aspekt völlig
aus. Dafür nenne ich Ihnen nur zwei Beispiele. Ein
Beispiel ist der Flughafen Frankfurt – Ulli Nissen hat
das gerade schon einmal angesprochen – und das andere
mein Heimatflughafen Düsseldorf. Der Flughafen
Frankfurt ist einer der größten Arbeitgeber und Steuer-
zahler in Hessen, und der Düsseldorfer Flughafen – er ist
deutlich kleiner als der Frankfurter – ist mit 54 000





Arno Klare


(A) (C)



(D)(B)

Arbeitsplätzen einer der größten Arbeitgeber in Nord-
rhein-Westfalen.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb kann man sich doch trotzdem für Fluglärm interessieren!)


Insgesamt sind Flughäfen Kristallisationskerne wirt-
schaftlicher Prosperität, und diese Kerne müssen wir
erhalten.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810024400

Herr Kollege Klare, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Krischer?


Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1810024500

Bitte.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810024600

Bitte schön.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810024700

Herr Kollege Klare, ich bin Ihnen dankbar für Ihre

Ausführungen, weil Sie den Menschen im Land verdeut-
lichen, wer für die Fluglärmproblematik verantwortlich
ist. Ich glaube, wer dazu steht, zeigt Ihr Redebeitrag sehr
deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen eine sehr konkrete Frage stellen, da
Sie ja nur allgemeine Ausführungen machen wollen. Die
nordrhein-westfälische Landesregierung, die bekannter-
maßen aus SPD und Grünen besteht, fordert seit langem
einvernehmlich ein Nachtflugverbot für Frachtmaschi-
nen am Flughafen Köln/Bonn, und auch die Region
fordert das. Hier besteht großes Einvernehmen. Können
Sie mir erklären, warum die Bundesregierung, die Sie ja
mittragen, dieses Nachtflugverbot am Flughafen Köln/
Bonn erst kürzlich durch Herrn Verkehrsminister
Dobrindt abgelehnt hat?


Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1810024800

Herr Krischer, ich weiß nicht, woher Sie die Informa-

tion haben. Diese Forderung eines Nachtflugverbotes
gibt es in Nordrhein-Westfalen nicht.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er weiß es nicht! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Im Koalitionsvertrag!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810024900

Hören Sie jetzt bitte zu.


Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1810025000

Das steht so nicht im Koalitionsvertrag für Nord-

rhein-Westfalen. Das ist auch so nicht gemeint.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die CDU fordert das in der Tat – das ist richtig –, aber
die SPD nicht. Ich bin dafür, dass dieses Nachtflugver-
bot nicht kommt. Es muss Nachtflüge geben, weil die
Logistik in Köln diese Nachtflüge braucht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auch Sie wissen das. An diesem Logistikstandort in
Köln hängen Tausende von Arbeitsplätzen.


(Peter Wichtel [CDU/CSU]: Es sind welche wegen des Nachtflugsverbots aus Frankfurt weggegangen!)


Sie tun so, als gäbe es in der gesamten Luftfahrt kei-
nerlei Anstrengungen, Lärm zu minimieren und Kerosin
einzusparen. Gerade eben sind schon die Lärmminde-
rungen um 75 Prozent, also 25 Dezibel, in den letzten
30 Jahren erwähnt worden. Diese Lärmminderung
konnte durch neue Triebwerkstechnologien, durch neue
Aerodynamik und durch eine Gewichtsreduktion er-
reicht werden.

Ich war in der vorigen Woche mit dem Kollegen
Rimkus in Hamburg: Wir haben den Hafen besichtigt.
Wir haben auch Airbus besichtigt. Dort haben wir auch
Bauteile aus dem 3-D-Drucker gesehen. Diese filigranen
Bauteile haben die gleiche Stabilität wie andere Bau-
teile, aber nur die Hälfte des Gewichts.


(Andreas Rimkus [SPD]: Absolut!)


Das reduziert erstens enorm Lärm und zweitens Ge-
wicht. Daraus resultiert auch eine Verminderung des Ke-
rosinverbrauchs der Flugzeuge.

Wir haben auch gesehen, dass die neue Generation
der Flugzeuge für das Rollen auf dem Boden keine Engi-
nes mehr brauchen, sondern stattdessen wird ein Elek-
tromotor ins Bugrad eingebaut, im Übrigen betrieben
durch eine Brennstoffzelle, was enorm Kerosin spart und
was dazu beitragen wird, dass die Geräuschemissionen
sinken werden.


(Andreas Rimkus [SPD]: Tolle Industrie!)


Auch eines muss man sehen: Wir beide waren in
Hamburg. Ich fliege nicht besonders gerne, wie alle wis-
sen, weil ich ein bisschen unter Flugangst leide.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ich auch!)


Herr Rimkus ist zurückgeflogen, ich bin mit dem Zug
zurückgefahren. Jetzt habe ich mir Folgendes überlegt:
Mein Zug hat auf einer Strecke von 400 Kilometern
durch die niedersächsische Tiefebene,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


an wunderschönen Dörfern vorbeifahrend, ohne Lärm-
schutz, eine Lärmschleppe von 400 Kilometern hinter
sich hergezogen. Herr Rimkus hat zwei Schallereignisse
erzeugt, eins in Fuhlsbüttel, eins in Mülheim bzw. in
Düsseldorf, wo er gelandet ist. Als er die Strecke in
10 000 Metern Höhe zurückgelegt hat, hat das im Dorf
keiner gehört. Wer stört nun die Menschen mehr?


(Martin Burkert [SPD]: Der Zug nicht!)


– Der Zug, nicht der Flieger.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Martin Burkert [SPD]: Nie im Leben!)






Arno Klare


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen, glaube ich, anfangen, anders darüber nach-
zudenken, wenn wir Lärm bewerten.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist ein völliger Unsinn! Wie kann man solch einen Blödsinn verzapfen?)


Ein paar Fakten zum Schluss. 80 Prozent aller Flüge
von Deutschland gehen ins Ausland und betragen mehr
als 400 Kilometer. Der Schienenverkehr ersetzt durchaus
Flüge, zum Beispiel zwischen Köln und Frankfurt oder
zwischen Berlin und Hamburg; das ist nachgewiesen.
Nur 3 Prozent aller Flüge sind zwischen 23 Uhr und
5 Uhr morgens. Dass also nachts viel geflogen wird,
stimmt nicht.

Lärmabhängige Flughafengebühren gibt es seit den
70er-Jahren. Die Passagierzahlen sind von 1991 bis
heute um 260 Prozent gestiegen, die Zahl der Flüge nur
um 163 Prozent. Diese Entkopplung, die Sie leugnen,
gibt es also tatsächlich. 51 Prozent aller Incoming-Tou-
risten kommen mit dem Flugzeug, also ein sehr großer
Wirtschaftsfaktor.

Die Steuerleistung des Luftverkehrssektors liegt bei
14 Milliarden Euro im Jahr. Wenn man die Einnahmen
aus der Sozialversicherung hinzurechnet, kommen noch
einmal 9 Milliarden Euro dazu. Die Höhe dieser Einnah-
men ist ungefähr mit der Höhe der Kfz-Steuer zu ver-
gleichen, also nicht zu vernachlässigen.

Die indirekten Subventionen belaufen sich keinesfalls
auf 10 Milliarden Euro, sondern auf maximal 500 Mil-
lionen Euro, wie dem Subventionsbericht der Bundes-
regierung eindeutig zu entnehmen ist.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Milchmädchenrechnung nennt man so etwas!)


Diese Zahl wurde so errechnet, wie man rechnen muss.
Eine Mehrwertsteuer auf Tickets für Flüge im Inland
fällt an, aber nicht auf Tickets für Auslandsflüge, weil
die Mehrwertsteuer ab der Grenze nicht mehr erhoben
werden kann. Um das nicht ausrechnen zu müssen – das
ist äußerst kompliziert –, ist man dazu übergegangen, die
Mehrwertsteuer nicht zu berechnen. Wenn man über die
Kerosinbesteuerung redet, sollte man sich vielleicht da-
ran erinnern, dass wir dem Chicagoer Abkommen beige-
treten sind, mit dem diese Besteuerung ausgeschlossen
wird.

Diese ganze Debatte werden wir im Ausschuss noch
sehr detailliert zu führen haben. Dazu bin ich gerne be-
reit. Aber so, wie Sie das machen, ist das im Grunde nur
ein psychotaktisches Manöver, um von Ihren Versäum-
nissen gegenüber Ihrer eigenen Klientel in Hessen abzu-
lenken. Das ist der Punkt. Hier gibt es Fundamentalis-
mus und in Hessen Gott sei Dank die Realpolitik.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810025100

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Florian Oßner. Ich mache da-
rauf aufmerksam, dass wir jetzt keine Zwischenfragen
mehr zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Oßner (CSU):
Rede ID: ID1810025200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Grünen, Ihr Antrag ist wieder einmal an
Realitätsferne nicht zu überbieten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


So ist gleich zu Beginn Ihres Antrags von einer angeb-
lich umfassenden Subventionierung des Luftverkehrs in
Deutschland die Rede. Das kann man angesichts der
wirtschaftlichen Gesamtlage der deutschen Fluggesell-
schaften und der scharfen Wettbewerbssituation mit den
Konkurrenten aus der Türkei und dem Mittleren Osten
nur als blanken Hohn bezeichnen.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden noch mehr subventioniert! So einfach ist das! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Flughafenbau? Was ist mit der Kerosinbesteuerung?)


In Ihrem Antrag lassen Sie geflissentlich sämtliche
Anstrengungen der Flughäfen und der Luftverkehrswirt-
schaft für einen verbesserten Schutz vor Fluglärm unbe-
rücksichtigt. Es wird auch mit keiner Silbe erwähnt, dass
die Schutzziele, die sich aus den Durchführungsverord-
nungen zum bestehenden Fluglärmschutz ergeben, an
vielen Standorten noch in der Umsetzung sind. Insofern
kann man Ihren Antrag nur wie folgt zusammenfassen:
viel Ideologie und wenig Substanz.


(Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch auch ein Vorwurf an den Sachverständigenrat!)


Wenn dann auch noch ein prominentes Mitglied Ihrer
Fraktion, nämlich die Kollegin Renate Künast – leider
ist sie heute nicht anwesend –, sich via Twitter darüber
aufregt, dass Air Berlin den Lieferanten seines berühm-
ten Schokoladenherzens wechselt, zeigt sich die Doppel-
züngigkeit der Grünen, wenn es um das Thema Luftfahrt
geht, wieder einmal mehr als deutlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott! Das ist ja peinlich! – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau, die Schokoladenherzen machen so viel Lärm!)


Hier wird abermals Wasser gepredigt und Wein getrun-
ken. Der Kollege Klare hat es schon sehr gut ausgeführt:
Einerseits will man den Leuten das Fliegen verbieten,
aber andererseits selbst alle Vorteile des Fliegens genie-
ßen. Sie sollten endlich aufhören, die Menschen in unse-
rem Land ständig zu bevormunden und ihnen zu sagen,
was richtig oder falsch ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal was zum Fluglärm sagen?)






Florian Oßner


(A) (C)



(D)(B)

Mobilität ist heute eine Grundvoraussetzung für das
wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenleben.
Fakt ist auch, dass Mobilität Umweltbelastungen wie
Lärmemissionen verursacht; keine Frage. Das gilt für
alle Verkehrsträger gleichermaßen. Laut Auswertung des
Umweltbundesamtes sind in Deutschland 10,2 Millionen
Menschen von Straßenlärm und 8,2 Millionen Menschen
von Schienenlärm mit einem durchschnittlichen Schall-
pegel von mehr als 55 Dezibel betroffen. Von Fluglärm
ist jedoch eine wesentlich kleinere Gruppe betroffen.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, und dann muss man sich nicht um die kümmern, ja?)


Insgesamt ist von 738 000 Menschen die Rede. Das ist
eine deutlich geringere Anzahl, als Sie uns mit Ihrem
Antrag weismachen wollen.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Lösung haben Sie denn? – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber Sie werden morgens um fünf nicht geweckt!)


– Dazu dürfte auch ich selbst gehören, um auf Ihren Zu-
ruf einzugehen. Denn ich wohne selbst in der Einflug-
schneise


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch!)


des Münchner Flughafens.

Laut Bundesumweltministerium hat sich der Anteil
derjenigen, die sich von Fluglärm belästigt fühlen – der
Herr Kollege Wichtel hat es bereits angesprochen –, von
2006 bis 2014 um insgesamt 65 Prozent reduziert.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne die Zahlen schon längst!)


Das müssen Sie doch auch einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind wir eigentlich?)


Das ist aus meiner Sicht ein enormer Erfolg in Anbe-
tracht der Tatsache, dass die Zahl der Flugbewegungen
kontinuierlich zugenommen hat und die Bevölkerung
durch Neu- und Ausbauprojekte stärker für das Thema
Fluglärm sensibilisiert ist. Dieser Erfolg geht vor allem
auf das Engagement der Flugzeug- und Triebwerksher-
steller zurück.

Moderne Flugzeuge werden durch den Einsatz neuer
Technologien immer leiser, sodass sie bereits jetzt die
zulässigen Lärmgrenzen deutlich unterschreiten. Sämtli-
che großen Hersteller, ob Airbus, Boeing, Bombardier
oder Embraer, sind gerade dabei, ihre Kurz- und Mittel-
streckenflugzeuge mit Getriebefan-Triebwerken auszu-
statten. Hierbei handelt es sich um eine Technologie, die
vom Münchner Triebwerkshersteller MTU Aero Engi-
nes mitentwickelt wurde. Durch diese Technologie ver-
kleinert sich der Lärmteppich während des Starts um ins-
gesamt 70 Prozent. Dies sind Innovationen, die unser
Land braucht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das geht nur mit scharfen Regelungen! Sonst wäre das heute noch nicht so weit!)


Der erste mit einem solchen Triebwerk ausgerüstete
A320neo wird bereits im vierten Quartal 2015, also noch
heuer Ende des Jahres, in Dienst gestellt.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kriegen Sie eigentlich für die Werbung?)


Aber es wird noch leiser werden: Mit dem E-Fan will
die Airbus Group einen elektrisch betriebenen Zweisit-
zer zur Serienproduktion bringen. Dieses extrem leise
Flugzeug soll als Schulflugzeug eingesetzt werden und
wird eine erhebliche Entlastung für die Anwohner an
kleinen Sportflugplätzen bringen. Gemeinsam mit Rolls-
Royce arbeitet Airbus zudem an der Vision eines hybrid-
elektrisch angetriebenen Passagierflugzeuges mit bis zu
90 Sitzen.

Sie sehen, meine Damen und Herren: Elektromobili-
tät findet zukünftig nicht nur auf der Straße statt, son-
dern bald auch in der Luft – ein Thema, das leider noch
keine große Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden
hat.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann hat Ihnen Airbus eigentlich diese Rede geschrieben?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810025300

Aber, Herr Kollege, das werden Sie nicht mehr erläu-

tern. Kommen Sie bitte zum Schluss.


Florian Oßner (CSU):
Rede ID: ID1810025400

Um den Kreis zu dem anfangs erwähnten Schokola-

denherzen zu schließen, möchte ich, gerichtet an die
Kollegen der Grünen, noch abschließend sagen,


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie welche mit? – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verteilen Sie die mal!)


dass ich mir, wenn es um die deutsche Luftfahrt geht,
statt unnötiger, ideologisch geprägter Scheindebatten,
die Sie führen, ein wesentlich größeres Herz für die
deutsche Luftfahrtindustrie wünsche.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie lassen sich die Reden von Airbus schreiben!)


Die deutsche Luftfahrtbranche sieht sich derzeit einer
Vielzahl von Problemen ausgesetzt.

Der Antrag der Grünen ist somit abzulehnen. Unser
primäres Ziel in der nächsten Zeit muss vielmehr sein,
die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland zu
stärken, um weiter am langfristig weltweiten Wachstum
des Luftverkehrs teilzuhaben und damit Arbeitsplätze zu
halten, neue zu schaffen und die Individualmobilität des
Einzelnen, ein wesentliches Lebensqualitätsmerkmal
und somit ein Stück Freiheit, –






(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810025500

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.


Florian Oßner (CSU):
Rede ID: ID1810025600

– zu sichern.

Herzlichen Dank für das Zuhören. Herzliches Ver-
gelt’s Gott.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jeder blamiert sich, so gut er kann!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810025700

Das war das Ende der Debatte.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4331 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Wenn jetzt die erhitzten Gemüter zur Ruhe kommen
und Sie mir noch eine gewisse Zeit Ihre Konzentration
schenken, dann kommen wir auch irgendwann zum
Ende der heutigen Sitzung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Personalausweisgesetzes zur Einfüh-
rung eines Ersatz-Personalausweises und
zur Änderung des Passgesetzes

Drucksache 18/3831

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Personalaus-
weisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-
Personalausweises und zur Änderung des
Passgesetzes

Drucksache 18/4280

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/4706

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/4706, die Gesetzentwürfe der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/3831 sowie
der Bundesregierung auf Drucksache 18/4280 zusam-
menzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –

1) Anlage 3
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4711. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimis-
sion in der Ukraine beenden

Drucksachen 18/3314, 18/3932

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Sie sind damit einverstanden.

Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3932, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/3314 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Weiterentwicklung des Personalrechts
der Beamtinnen und Beamten der früheren
Deutschen Bundespost

Drucksache 18/3512

Beschlussempfehlung und Bericht des Haus-
haltsausschusses (8. Ausschuss)


Drucksache 18/4707

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

2) Anlage 4
3) Anlage 5





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/4707, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/3512 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in dritter Lesung
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank
Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Axel
Schäfer (Bochum), Heinz-Joachim
Barchmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung glo-
bal gestalten – Post-2015-Agenda auf den
Weg bringen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Armut und soziale Ungleichheit weltweit
überwinden, natürliche Grundlagen be-
wahren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Annalena Baerbock, Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen
für Klimaschutz und globale Gerechtig-
keit

Drucksachen 18/4088, 18/4091, 18/3156,
18/4669

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden1). – Ich sehe keinen Widerspruch.

Dann kommen wir zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche

1) Anlage 6
Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache
18/4669.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
che 18/4088 mit dem Titel „UN-Ziele für nachhaltige
Entwicklung global gestalten – Post-2015-Agenda auf
den Weg bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU-Fraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 18/4091 mit dem Titel „Armut und soziale Un-
gleichheit weltweit überwinden, natürliche Grundlagen
bewahren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/3156 mit dem Titel „Gipfeljahr 2015 – Durch-
bruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtig-
keit“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU-
und SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Opferrechte im Strafverfahren

(3. Opferrechtsreformgesetz)


Drucksache 18/4621
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Ich sehe keinen Widerspruch.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4621 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes gegen den unlau-
teren Wettbewerb

2) Anlage 7





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(B)

Drucksache 18/4535
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda

Die Reden werden auch hier zu Protokoll gege-
ben1). – Sie sind damit ebenfalls einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4535 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Ich sehe: Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
regelung der Unterhaltssicherung sowie zur
Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften

Drucksache 18/4632
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)


1) Anlage 8
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Die Reden werden zu Protokoll gegeben2). – Kein
Widerspruch.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4632 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 24. April 2015, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
noch einen wunderschönen Abend.