2) Anlage 9
(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9619
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albsteiger, Katrin CDU/CSU 23.04.2015
Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 23.04.2015
Gabriel, Sigmar SPD 23.04.2015
Groth, Annette DIE LINKE 23.04.2015
Hartmann
(Wackernheim),
Michael
SPD 23.04.2015
Hochbaum, Robert CDU/CSU 23.04.2015
Dr. Högl, Eva SPD 23.04.2015
Kassner, Kerstin DIE LINKE 23.04.2015
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 23.04.2015
Kühn (Tübingen),
Christian
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2015
Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2015
Nahles, Andrea SPD 23.04.2015
Post (Minden), Achim SPD 23.04.2015
Rawert, Mechthild SPD 23.04.2015
Rebmann, Stefan SPD 23.04.2015
Dr. Rosemann, Martin SPD 23.04.2015
Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2015
Wagner, Doris BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2015
Werner, Katrin DIE LINKE 23.04.2015
Zertik, Heinrich CDU/CSU 23.04.2015
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Metin Hakverdi (SPD) zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Änderung der Verfolgung der
Vorbereitung von schweren staatsgefährden-
den Gewalttaten (GVVG-Änderungsgesetz –
GVVG-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 13)
Dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung der Verfolgung der Vorbereitung von schweren
staatsgefährdenden Gewalttaten, stimme ich zu. Gleich-
wohl will ich in einer persönlichen Erklärung meine Be-
denken hinsichtlich der Verfassungmäßigkeit des Geset-
zes und hinsichtlich der rechtspolitischen Entwicklung
bei der Terrorbekämpfung niederlegen. Meine Bedenken
hinsichtlich der Verfassungmäßigkeit des Gesetzes sind
erheblich, aber nicht so durchgreifend, dass ein Nein
zum Gesetzentwurf gerechtfertigt wäre.
Anlass für die Gesetzesänderung ist die Resolution
2178 aus dem Jahr 2014 des UN-Sicherheitsrates. Die
Resolution war die Reaktion auf den wachsenden inter-
nationalen Terrorismus insbesondere durch den Islami-
schen Staat, IS, im Irak und Syrien. In beiden Konflikten
wurde offenbar, dass ausländische terroristische Kämp-
fer die Intensität, Dauer und Hartnäckigkeit von Kon-
flikten erhöhen. In der Resolution des Sicherheitsrates
werden die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf-
gefordert, Personen, die in einen Staat reisen oder zu rei-
sen versuchen, der nicht der Staat ihrer Ansässigkeit
oder Staatsangehörigkeit ist, oder andere Personen, die
von ihrem Hoheitsgebiet in einen Staat reisen oder zu
reisen versuchen, der nicht der Staat ihrer Ansässigkeit
oder Staatsangehörigkeit ist, um terroristische Handlun-
gen zu begehen, zu planen, vorzubereiten oder sich
daran zu beteiligen, in einer der Schwere der Straftat an-
gemessenen Weise strafrechtlich zu verfolgen.
Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ist wichtig
und hinsichtlich seiner Ziele auch umzusetzen. Diese
Umsetzung muss allerdings im Rahmen unseres Verfas-
sungssystems stattfinden.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt diese
Forderung durch die Erweiterung des 2009 eingeführten
§ 89 a StGB um.
Diese weite Vorverlagerung der Strafbarkeit einer
Tathandlung ist nach deutschem Recht höchst problema-
tisch. Indem wir ein Verhalten soweit im Vorfeld einer
Straftat unter Strafe stellen, laufen wir Gefahr, bereits
die bloße Gesinnung zu bestrafen, ohne dass eben diese
Gesinnung zu einem Unrecht geführt hat. Das Strafrecht
ist das schärfste Schwert des Staates. Sein Einsatz muss
Ultima Ratio erfolgen. Deshalb ist ihr Anknüpfungs-
punkt zu Recht ein Unrecht, das erst die Strafwürdigkeit
erzeugt. Alleine die Gesinnung gibt grundsätzlich keinen
Anlass für eine Bestrafung. Das Reisen als eine neutrale
Handlung ist kein Unrecht, das die Strafverfolgung und
Bestrafung hervorrufen kann. Das Reisen ist grundsätz-
lich ein neutrales Verhalten. Die geschaffene Norm will
nun dem vermeintlichen Terroristen in den Kopf schauen
und versucht aus seiner negativen/terroristischen Gesin-
nung die Strafbarkeit herzuleiten. Das ist wie die Fest-
Anlagen
9620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
nahme eines Neonazis beim Einstieg in die Bahn am
Berliner Bahnhof, der nach München reist, um dort ein
Flüchtlingsheim anzuzünden. Zum Zeitpunkt des Ein-
stiegs in die Bahn hat sich dieser Neonazi trotz seiner
negativen Gesinnung und seines Tatentschlusses noch
nicht strafbar gemacht. Die Gefährdung des Rechtsguts
ist eben noch weit weg. Daher würde man den Neonazi
nicht festnehmen und bestrafen, weil er in den Zug ein-
gestiegen ist.
Deshalb ist eine so weite Vorverlagerung von Straf-
barkeit verfassungsrechtlich problematisch. Bereits der
alte § 89 a StGB war wegen der weiten Vorverlagerung
der Strafbarkeit im Schrifttum stark kritisiert. Der Bun-
desgerichtshof hat sie als verfassungsmäßig gebilligt,
indem er eine zusätzliche Einschränkung durch die
„feste Entschlossenheit“ des Täters gefordert hat. Die
aktuelle Norm hat die Strafbarkeit aber noch mal weiter
in das Vorfeld der Rechtgutsverletzung gelegt, sodass
nicht davon auszugehen ist, dass mit der Rechtsprechung
des BGH zum alten § 89 a StGB von der Verfassungsmä-
ßigkeit der Norm auszugehen ist.
Meine Bedenken wurden in der öffentlichen Anhö-
rung von den Sachverständigen auch so formuliert.
Die Ausreise von Terroristen kann aus dem Gesichts-
punkt der Gefahrenabwehr durch ein Ausreiseverbot
– wie zum Beispiel bei Hooligans – im Vorfeld der
Rechtsgutsverletzung gewährleistet werden. Eben die-
ser Weg würde unsere Rechtsordnung nicht so weit auf
den Kopf stellen, dass wir drohen, wegen der Terroris-
musbekämpfung unser tatorientiertes Strafrecht in Teilen
auf ein gesinnungsorientiertes umzustellen.
Problematisch ist auch, dass diese Strafrechtsnorm
den Ermittlungsbehörden erheblichen Spielraum ein-
räumt. Die Bundesdatenschutzbeauftragte Frau Voßhoff
hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass durch die
weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, weit in das
Vorfeld der eigentlichen Terrorgefahr, ein viel größerer
Personenkreis in den Kreis der Verdächtigen gerät, die
Ermittlungsverfahren über sich ergehen lassen müssen.
Das sind dann Maßnahmen wie Wohnraumüberwa-
chung, Wohnungsdurchsuchung etc.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gerichte hinsicht-
lich der von mir vorgebrachten Bedenken verhalten
werden. Für mich waren sie erheblich, aber nicht durch-
greifend genug.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Personalausweisgesetzes zur Einführung ei-
nes Ersatz-Personalausweises und zur Ände-
rung des Passgesetzes (Entwurf der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD)
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Personalausweisgesetzes zur Einführung ei-
nes Ersatz-Personalausweises und zur Ände-
rung des Passgesetzes (Entwurf der Bundes-
regierung)
(Tagesordnungspunkt 15)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Nahezu täglich
erhalten wir Nachrichten über Gräueltaten islamistischer
Terroristen in Syrien und Irak. Unter den Tätern sind
zahlreiche Ausländer. Unsere Nachrichtendienste gehen
von etwa 3 500 europäischen Kämpfern in den Reihen
des selbsternannten Islamischen Staates aus. Darunter
sollen sich rund 600 Deutsche befinden. Bei all diesen
Kämpfern muss man befürchten, dass sie – radikalisiert
und an Waffen ausgebildet – nach Europa zurückkehren,
um auch hier Anschläge zu begehen und Menschen zu
töten. Genau das ist im vergangenen Jahr geschehen, als
ein Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel be-
gangen wurde. Wir müssen deshalb alles tun, um zu ver-
hindern, dass Islamisten in die Krisengebiete ausreisen.
Sie dürfen sich dort weder radikalisieren noch trainieren
lassen. Das gebietet schon unser ureigenes Sicherheitsin-
teresse.
Wir haben aber auch Verantwortung gegenüber den
Menschen in Syrien und Irak. Sie dürfen nicht Opfer
deutscher Islamisten werden. Wir dürfen nicht zulassen,
dass der Terror aus Deutschland in andere Länder expor-
tiert wird. Wir müssen verhindern, dass deutsche Staats-
angehörige in den Nahen Osten reisen, um dort mordend
und brandschatzend die Bevölkerung zu drangsalieren.
Dazu sind wir nicht nur moralisch verpflichtet, sondern
auch völkerrechtlich: Der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen hat vergangenes Jahr eine Resolution verab-
schiedet, wonach die Staaten alles unternehmen sollen,
damit Extremisten aus ihren jeweiligen Heimatländern
nicht in die Krisengebiete ausreisen können. Diese Reso-
lution gilt es ohne Wenn und Aber umzusetzen. Die ent-
scheidende Frage lautet: Wie können wir das tun?
Um gewaltbereiten Islamisten aus Deutschland das
Reisen zu erschweren, können die Behörden ihnen heute
schon den Reisepass entziehen und die Ausreise untersa-
gen. Für Reisen in die aktuellen Krisengebiete ist aber
oft gar kein Reisepass notwendig. Die Krisenregion liegt
nicht am Hindukusch, sondern direkt am Mittelmeer.
Wenn wir Reisebewegungen erschweren möchten, müs-
sen wir also konsequenterweise auch gesetzliche Mög-
lichkeiten zum Entzug des Personalausweises schaffen.
Genau das tun wir mit dem nun vorgelegten Gesetzent-
wurf. Damit sich die betroffenen Personen innerhalb
Deutschlands weiterhin ausweisen können, benötigen sie
ein geeignetes Ersatzdokument. Auch das regelt der vor-
liegende Gesetzentwurf.
Allein damit lässt sich die Ausreise oder die uner-
kannte Wiedereinreise von gewaltbereiten Islamisten
zwar nicht vollständig verhindern. Das zu glauben, wäre
naiv. Aber der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weite-
rer wichtiger Baustein unserer Sicherheitsarchitektur.
Wir werden in diesem Zusammenhang auch noch über
das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum und die
Antiterrordatei sprechen, ebenso über Prävention und
die Verschärfung der Strafbarkeit des Aufenthalts in Ter-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9621
(A) (C)
(D)(B)
rorcamps und selbstverständlich auch über die sachliche
und personelle Ausstattung der Sicherheitsbehörden.
Heute entscheiden wir also nur über eine einzelne
Maßnahme, die Teil eines umfassenden Maßnahmenpa-
kets ist.
Aus den Reihen der Opposition höre ich immer wie-
der, das Gesetz könnte überhaupt keine Wirkung entfal-
ten. Kein Islamist würde freiwillig seinen Personalaus-
weis abgeben. Die zuständigen Behörden wären mit der
Einziehung überfordert. Das sehe ich anders. Wenn die
Sicherheits- und Verwaltungsbehörden im direkten Voll-
zug eng zusammenarbeiten, wird das Gesetz sehr wohl
Wirkung entfalten. Aber auch für den Fall, dass es je-
mandem gelingen sollte, mit dem Personalausweis aus-
zureisen, bevor er eingezogen werden konnte, geben wir
den Sicherheitsbehörden mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf neue Werkzeuge an die Hand: Sie werden den
Personalausweis zukünftig im Schengener Informations-
system und in der „Stolen and Lost Travel Documents“-
Datenbank von Interpol ausschreiben können. Damit
wird das Aufgreifen von gewaltbereiten Islamisten be-
reits in Transitländern oder bei der Rückkehr deutlich er-
leichtert.
Der Personalausweis hat in den vergangenen Jahren
immer stärker die Funktion des Reisepasses ersetzt. Im-
mer mehr Staaten akzeptieren den Personalausweis als
Einreisedokument. Um den Sicherheitsbehörden die
Einreisekontrollen zu erleichtern, übermitteln die Flug-
gesellschaften und Reiseunternehmen üblicherweise die
Passagierdaten aus dem Einreisedokument elektronisch.
Für den Reisepass ist das bereits gesetzlich geregelt und
funktioniert bestens in der Praxis. Für den Personalaus-
weis fehlte es bislang an einer solchen gesetzlichen
Regelung. Mit einem Änderungsantrag zum vorliegen-
den Gesetzentwurf übernehmen wir nun die bewährte
Regelung aus dem Passgesetz auch in das Personalaus-
weisgesetz. Damit erleichtern wir allen unbescholtenen
Bürgerinnen und Bürgern das Reisen mit dem Personal-
ausweis. Das macht deutlich: Uns geht es in keiner
Weise darum, Reisebewegungen Unbescholtener zu be-
hindern oder das Reisen generell zu erschweren. Das
wäre mit unserer Rechtsordnung auch nicht zu vereinba-
ren.
Uns geht es darum, die Ausreise und unerkannte Wie-
dereinreise gewaltbereiter Islamisten gezielt zu verhin-
dern. Der Entzug des Personalausweises ist dazu ein zu-
sätzliches Instrument – nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Ich bitte Sie darum, den Gesetzentwurf mit dem
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen anzunehmen
und den Sicherheitsbehörden dieses zusätzliche Instru-
ment an die Hand zu geben. Es dient der Sicherheit der
Menschen sowohl in unserem Land als auch im Ausland.
Gabriele Fograscher (SPD): Am 30. Januar 2015
hatten wir die erste Lesung zu diesem Gesetzentwurf. In
der Debatte hat der Bundesinnenminister die damals ak-
tuellen Zahlen genannt: 3 400 Personen aus Europa
seien entschlossen, für den sogenannten Islamischen
Staat zu kämpfen. Davon seien 600 bereits aus Deutsch-
land ausgereist, 200 inzwischen zurückgekehrt.
In der Anhörung im Innenausschuss am 16. März
2015 nannte der Präsident des Bundeskriminalamtes die
damals aktuellen Zahlen: Für Europa sei die Zahl auf
4 000 gestiegen, aus Deutschland seien es inzwischen
650 Kämpfer für den IS.
Laut Informationen des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz von gestern sind bisher 680 Personen aus
Deutschland in Richtung der Kampfgebiete des IS aus-
gereist, gut 230 sind zurückgekehrt, davon etwa 50 mit
Kampferfahrung.
Wie groß die Dunkelziffer ist, vermag niemand zu sa-
gen.
Die Zahlen zeigen, dass die Gefahr durch Islamisten
aus Deutschland und Europa stetig steigt und damit auch
die Gefahr für die innere Sicherheit.
Deshalb ist es wichtig, dass wir schnell mit einem
Maßnahmenpaket agieren, um diese Entwicklung zu
stoppen.
Eine Maßnahme haben wir vorhin schon beschlossen,
nämlich die Strafbarkeit des Reisens sowie der Versuch
des Reisens als weitere Vorbereitungshandlung einer ter-
roristischen Tat. Zudem haben wir einen neuen Straftat-
bestand die Finanzierung des Terrorismus betreffend ge-
schaffen. In Zukunft können wir auch bei kleinsten
Beträgen, die in die Unterstützung des Terrorismus flie-
ßen, mit Mitteln des Strafrechts vorgehen. Dieses ist im
Übrigen eine Forderung des UN-Sicherheitsrates gewe-
sen.
Die nächste Maßnahme folgt jetzt. Mit dem Gesetz,
das wir gleich verabschieden werden, schaffen wir die
Möglichkeit, neben dem Reisepass auch den Personal-
ausweis einzuziehen und einen Ersatzpersonalausweis
auszustellen.
Warum wollen wir diese Möglichkeit schaffen?
Mit dem Personalausweis können deutsche Staatsbür-
gerinnen und Staatsbürger in der Europäischen Union
und weiteren 23 Ländern, darunter die Türkei und Ägyp-
ten, reisen und sich frei bewegen. Das nutzen auch die
Personen, die sich radikalisiert haben, in Terrorcamps
reisen oder sich dem IS anschließen wollen. Sie reisen in
die Staaten, in denen sie Freizügigkeit genießen, um
dann über die sogenannte Grüne Grenze in den Irak oder
nach Syrien zu gelangen.
In der Anhörung im Innenausschuss hat der Präsident
der Bundespolizei einige Beispiele aufgeführt:
Einem Deutschen wurde in Düsseldorf der Pass ent-
zogen und per Anordnung berechtigte der Personalaus-
weis nicht mehr zum Verlassen der Bundesrepublik, weil
die Person sich mutmaßlich dem Dschihad anschließen
wollte. Daraufhin wurden Personendaten und Personal-
ausweis in die nationale Sachfahndung im geschützten
Grenzfahndungsbestand gegeben und im SIS zur Sach-
fahndung bei „Lost and Found Documents“ ausgeschrie-
ben. Knapp zwei Jahre später reiste die Person per Flug-
zeug von Istanbul zurück nach Düsseldorf und wies sich
mit dem Personalausweis aus. Durch Zufall wurde der
Verstoß gegen das Ausreiseverbot entdeckt und ange-
9622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
zeigt. Wenige Monate später reiste die Person, wieder
mit ihrem Personalausweis, über Amsterdam in die Tür-
kei und ließ sich dann in Syrien von dem IS ausbilden.
Dabei verletzte er sich und kehrte in die Türkei zurück.
Die Türkei schob ihn nach Deutschland ab, wo bereits
ein EU-Haftbefehl vorlag.
Es ist immer dasselbe Schema: Passentzug, Personal-
ausweisbeschränkung, die nicht sichtbar ist, nationale
Grenzfahndung, SIS, erfolgreiche Ausreise.
Es gab in den letzten zweieinhalb Jahren 100 Ord-
nungsverfügungen der Behörden, in nur fünf Fällen
konnte die Bundespolizei die Ausreise verhindern, zwölf
Rückkehrer wurden festgestellt.
Eine 100-prozentige Hinderung an der Ausreise ist
nach derzeitiger Rechtslage somit nur möglich, wenn
alle 500 Millionen EU-Bürger beim Außengrenzübertritt
genau kontrolliert werden würden. Das ist nicht prakti-
kabel und mit EU-Recht nicht vereinbar.
Deshalb ist die Einziehung des Personalausweises
und Ausgabe eines Ersatzpersonalausweises, in dem das
Ausreiseverbot vermerkt ist, eine vernünftige, verhält-
nismäßige und praktikable Alternative.
Neben den oben beschriebenen gesetzgeberischen
Maßnahmen wie der Entziehung des Personalausweises
oder der Verfolgung der Vorbereitung von schweren
staatsgefährdenden Gewalttaten ist die Prävention von
großer Bedeutung.
Wir müssen verhindern, dass Menschen, und es sind
vorwiegend junge Männer, in den gewaltbereiten Sala-
fismus einsteigen. Wir müssen uns auch um diejenigen
kümmern, die bereits den Weg dorthin begonnen haben.
Dabei müssen wir vor allem an dem Umfeld ansetzen:
bei der Familie, bei Freunden oder auch bei Lehrern und
Arbeitskollegen.
Für sie müssen wir Anlaufstationen schaffen, zu de-
nen sie mit ihren Sorgen, Vermutungen oder Verdächti-
gungen kommen können. Dort müssen sie auf geschulte
Mitarbeiter treffen, die sie individuell beraten und unter-
stützen können.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat bereits ein Prä-
ventionsprogramm aufgelegt. Es heißt „Wegweiser –
gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“. Dort ar-
beiten Verfassungsschutz, lokale Experten und Projekt-
träger und das Ministerium für Inneres und Kommunales
zusammen. Das Programm gibt es erst in wenigen Städ-
ten in NRW, soll aber weiter ausgedehnt werden.
Es wäre gut und richtig, wenn wir auf Bundesebene
etwas Vergleichbares schaffen würden. Dabei ist die Zu-
sammenarbeit mit den Ländern unverzichtbar.
Das heute zu verabschiedende Gesetz ist nur ein Bau-
stein, um gegen den gewaltbereiten Salafismus anzuge-
hen. Weitere müssen und werden folgen. Dabei sollten
wir auch auf die Erfahrungen in anderen Ländern und in
unseren Bundesländern zurückgreifen.
Noch ein Wort zum Entschließungsantrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen:
Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag einige For-
derungen, die wir durchaus unterstützen können, so zum
Beispiel eine Präventions- und Deradikalisierungsstrate-
gie oder die bessere personelle und funktionale Ausstat-
tung der Sicherheitsbehörden. Wir teilen aber nicht Ihre
Einschätzung, dass dieser Gesetzentwurf ungeeignet, un-
verhältnismäßig und unbestimmt ist.
Sie halten den Ersatzpersonalausweis für stigmatisie-
rend, sprechen aber in Ihrem Entschließungsantrag von
einer „Gesetzesinitiative zum Terroristen-Perso“. Das
halte ich für stigmatisierend.
Frau Mihalic, seit Ihrer Rede zur ersten Lesung dieses
Gesetzentwurfes habe ich den Eindruck, dass Sie sich
des Ernstes der Situation nicht bewusst sind.
Damals haben Sie ausgeführt: „Sie fördern mit die-
sem Gesetz die Radikalisierung solcher Leute. Denn am
Ende sind die Gefährder vielleicht sogar noch stolz da-
rauf, mit einem amtlichen Dokument endlich als IS-treue
Dschihadisten eingestuft zu werden. Mit der Übergabe
des Ersatzpersonalausweises machen Sie aus einem Ge-
fährder einen staatlich anerkannten Terroristen.“
Frau Mihalic, das ist wirklich grober Unfug. Wir leh-
nen Ihren Entschließungsantrag ab und stimmen dem
Gesetzentwurf in der geänderten Fassung zu.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will
die Möglichkeit schaffen, deutschen Staatsbürgern den
Personalausweis zu entziehen. Zur Begründung erklärt
sie, damit sollten mutmaßliche Dschihadisten gehindert
werden, sich dem sogenannten Islamischen Staat anzu-
schließen.
Kein Zweifel: Der Islamische Staat ist eine abscheuli-
che Terrororganisation, der man die Rekrutierung neuer
Kämpfer so schwer wie möglich machen muss. Und
zwar rechtsstaatlich – genau daran hapert es aber. Die
Linke hält das Gesetzesvorhaben für erstens untauglich,
weil es nichts nützen wird, und zweitens für unverhält-
nismäßig, weil es Bürger auf Verdacht hin einer hohen
Stigmatisierung aussetzt.
Es ist ja bisher schon möglich, den Reisepass zu ent-
ziehen und eine Ausreiseuntersagung in der Grenzfahn-
dungsdatei zu speichern. Wenn Sie jetzt behaupten, das
genüge nicht, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie das
belegen. Das können Sie aber nicht, weil diese Maßnah-
men überhaupt nicht erfasst werden. Ohne solide Fak-
tenbasis, sagen wir, darf man solche freiheitseinschrän-
kenden Gesetze aber nicht machen.
Auf eine Kleine Anfrage der Linken hat die Bundes-
regierung mitgeteilt, in den letzten drei Jahren seien
20 Fälle bekannt geworden, in denen jemand trotz Reise-
verbotes ausgereist sei. Das mögen 20 Fälle zu viel sein,
aber ich habe starke Zweifel, dass diese Zahl angesichts
von 3 000 EU-Bürgern, die beim IS mitkämpfen, ein sol-
ches Gesetz rechtfertigt – zumal schon sehr fraglich ist,
ob diese 20 Ausreisen mit dem jetzt geplanten Gesetz
hätten verhindert werden können. Wer unbedingt zum IS
will, lässt sich daran doch nicht durch einen Sperrver-
merk in einem Ersatzausweis hindern.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9623
(A) (C)
(D)(B)
Auf das hohe Stigmatisierungspotenzial haben auch
die Experten in der Anhörung hingewiesen: Wer einen
solchen Ausweis vorlegt, outet sich damit zwangsläufig
als Terrorverdächtiger. Der Schalterbeamte bei der Post,
der neue Vermieter, der Bankangestellte und wo man
sich sonst noch ausweisen muss, alle erfahren, dass der
Inhaber des Ausweises vom Staat als mutmaßlicher
Djihadist angesehen wird. Das ist aber überhaupt nicht
zu rechtfertigen.
Den Ersatzausweis soll jeder bekommen, der mut-
maßlich eine rechtswidrige Gewaltanwendung „unter-
stützt oder vorsätzlich hervorruft“, heißt es im Entwurf.
Auch das wurde bei der Anhörung als viel zu unbe-
stimmt kritisiert. Was soll denn das Hervorrufen einer
Gewaltanwendung sein? Dazu fehlt jede Definition, so-
dass hier erhebliche Willkür ermöglicht wird.
Die Linke befürchtet zudem, dass die Möglichkeiten,
die den Behörden hier gegeben werden, sich nicht auf
Djihadisten beschränken müssen. Das Bundesinnen-
ministerium hat ja schon mitgeteilt, dass es zum Beispiel
Kurden, die gegen den IS kämpfen wollen, für genau so
schlimm hält. Als Nächstes lässt man sich vielleicht ein-
fallen, linken Globalisierungsgegnern die Ausreise zu ei-
nem G-7-Gipfel im Ausland zu verbieten.
Dieses Gesetzesprojekt nützt unserer Sicherheit
nichts, und unseren Freiheitsrechten schadet es bloß.
Also ziehen Sie es lieber zurück, ehe es vom Verfas-
sungsgericht gekippt wird.
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eines
ist völlig richtig: Wir sehen uns einer konstant hohen ter-
roristischen Bedrohung ausgesetzt. Hier in Deutschland,
in Europa und global. Und unser Rechtsstaat muss alle
Anstrengungen unternehmen, um dieser Gefahr ange-
messen zu begegnen.
Das bedeutet: Alle Maßnahmen im Kampf gegen den
Terrorismus müssen geeignet, hinreichend bestimmt und
verhältnismäßig sein. Ihr Gesetzentwurf zum Terroris-
ten-Perso, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali-
tion, reißt all diese Kriterien. Er wird den Anforderungen
nicht gerecht und ist nichts als Symbolpolitik – und das
auch noch mit erheblichen Risiken für die innere Sicher-
heit.
Und genau das war auch das Ergebnis der Anhörung
im Innenausschuss: Selbst die Präsidenten von Bundes-
polizei und das BKA taten sich ja schwer, Ihrem Gesetz-
entwurf etwas Positives abzugewinnen. Und von den Ar-
gumenten der anderen Experten haben Sie sich gar nicht
erst beeindrucken lassen. Ganz nach dem Motto: Mit
dem Kopf durch die Wand!
So bleibt es dabei: Mögliche Dschihadisten werden
auf dem Postweg zum Austausch ihrer Dokumente auf-
gefordert. Trotz aller Gefahren, die damit in Verbindung
stehen, dass die Empfänger solcher Briefe gleich zur Tat
schreiten, statt der Aufforderung nachzukommen. Sie sa-
gen ja immer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, dass das nicht stimmt, dass die betreffende
Person von der Personalausweisbehörde einen entspre-
chenden Bescheid mit der Aufforderung erhält, den Per-
sonalausweis einzutauschen. Das habe ich mir aber nicht
ausgedacht. Das ist die Antwort der Bundesregierung
auf unsere Kleine Anfrage.
Und selbst wenn es zu einem Tausch der Dokumente
kommt: Der Terroristen-Perso ist ein Ausweis, mit dem
sich an der Grenze keiner ausweist. Davon geht sogar
die Bundesregierung aus. Das finden Sie auch in der
Antwort auf unsere Kleine Anfrage. Ich zitiere: „Die
Bundesregierung geht davon aus, dass der Inhaber eines
Ersatz-Personalausweises aufgrund fehlender Reisedo-
kumente der verfügten räumlichen Beschränkung ent-
spricht.“
Also für mich heißt das, die Bundesregierung hat ein
unerschütterliches Vertrauen darin, dass sich mutmaßli-
che Terroristen an die Gesetze halten. Dass dieses Ge-
setz eine solche Wirkung entfaltet, das glauben Sie doch
nicht im Ernst. Das macht den Grundrechtseingriff umso
gravierender. Denn der Ersatz-Personalausweis führt im
Alltag zu erheblichen Einschränkungen – sei es bei der
Kartenzahlung im Supermarkt oder beim Optiker. Und
wenn man dann bedenkt, wie unbestimmt der betroffene
Personenkreis ist, wird die Unverhältnismäßigkeit noch
deutlicher.
Es reicht ja bereits aus, wenn „bestimmte Tatsachen
die Annahme begründen“, dass jemand eine terroristi-
sche Vereinigung nach §§ 89 a, 129 a und b StGB „un-
terstützt“. Das halten Sie für hinreichend bestimmt? Ja
woran soll man das im Einzelfall festmachen? Das kann
doch nicht die Grundlage für eine solche Maßnahme
sein.
Wenn aber jemand im Verdacht einer Straftat steht,
zum Beispiel nach § 129 a, und die Absicht hat, nach
Syrien auszureisen, dann haben Sie doch schon nach
heutiger Rechtslage sogar einen Haftgrund, zum Bei-
spiel den der Fluchtgefahr – und damit hätten Sie die
Ausreise tatsächlich verhindert.
Wir brauchen diesen Terroristen-Perso nicht! Es gibt
deutlich bessere Mittel, die Ausreise zu kontrollieren.
Schon heute können Sie die Gültigkeit von Personalaus-
weisen räumlich begrenzen und das auch im Grenzfahn-
dungsbestand hinterlegen. Was fehlt, sind rechtliche
Klarstellungen auf europäischer Ebene. Doch anstatt ge-
nau dafür zu sorgen oder zum Beispiel die Ausreisekont-
rollen personell zu stärken, verschwenden Sie Ihre und
unsere Energie mit diesem Gesetzesvorhaben.
Auch die Rücknahme der Privatisierung der Luftsi-
cherung gehen Sie nicht an. Dabei sind die festgestellten
Sicherheitsmängel an vielen deutschen Flughäfen doch
ein echtes Warnsignal. Nach unseren Informationen wer-
den zum Beispiel am Flughafen Düsseldorf regelmäßig
bis zu 100 private Kontrollkräfte weniger bei der Passa-
gierkontrolle eingesetzt, als von der Bundespolizei vor-
gegeben, und das, obwohl die Sicherheitsfirmen vertrag-
lich dazu verpflichtet sind. Dieser Zustand ist doch nicht
tragbar.
Hier liegen die Hausaufgaben, die Sie zu erledigen
haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Terroristen-
Perso löst keines der Probleme, die von der Bundesre-
gierung ja richtig beschrieben werden.
9624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Ungeeignet – unbestimmt – unverhältnismäßig – das
ist unser Fazit. Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück
und konzentrieren Sie sich auf Maßnahmen, die tatsäch-
lich geeignet sind.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Deutsche Beteiligung
an der EU-Polizeimission in der Ukraine been-
den (Tagesordnungspunkt 12)
Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Ich möchte zu Be-
ginn meines Beitrages verdeutlichen, worüber wir prak-
tisch reden. Bis zu 100 Polizisten und Zivilpersonen aus
den EU-Mitgliedstaaten melden sich freiwillig, um bis
zu zwei Jahre lang, fern von ihrem sozialen Umfeld, ih-
ren Familien und Freunden, in einem fremden Land für
mehr Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Dies verdient un-
seren allergrößten Respekt!
Wenn wir deutsche Polizeibeamte in Krisenregionen
entsenden, wie dies in ähnlich gelagerten Missionen zum
Beispiel in Mali, Darfur oder dem Südsudan der Fall ist,
dann geht damit natürlich ein gewisses Risiko an Leib
und Leben einher. Umso höher ist der Einsatz dieser
Männer und Frauen zu bewerten.
Wir würden diese Courage mit Füßen treten, wenn
wir diesen Antrag heute annehmen und unsere Beteili-
gung an der EUAM-Ukraine-Mission beenden würden.
Auch der vorgegebene Grund, die Beamten dürften
keine Beratung für Organisationen leisten, die von Fa-
schisten durchsetzt seien, zeugt von Realitätsferne und
Fehlverständnis.
Von Anfang an, seit Beginn der Proteste auf dem Mai-
dan, versucht die russische Berichterstattung, die Re-
formbewegung zu diskreditieren. Sie erzählt die Le-
gende, die Protestbewegung stütze sich maßgeblich auf
Rechtsradikale, Nationalisten und Faschisten. Dies ist
schlicht falsch! Ja, es gibt den einen oder anderen
Rechtsradikalen in der Ukraine, aber auf die stützt sich
niemand, sie sind politisch nicht relevant.
Berichte über rechtsextreme Tendenzen in einigen
Einheiten der ukrainischen Sicherheitsbehörden sind be-
kannt. Dieser Sachverhalt wird sehr aufmerksam be-
obachtet. Die Gremien des Deutschen Bundestages wie
auch die Bundesregierung setzten sich in den vielen Ge-
sprächen mit der ukrainischen Seite der vergangenen
Monate immer klar gegen Rechtsextremismus ein.
Wenn ich jedoch russische Medien und die Wortbei-
träge der Linken im Plenum oder in den Ausschüssen
höre, dann wimmelt es in der Ukraine nur so von rechts-
radikalen Kräften und Faschisten auch außerhalb des Si-
cherheitssektors.
Träfe dies zu, dann frage ich mich, wie es bei den Par-
lamentswahlen im vergangenen Jahr zu einer Zweidrit-
telmehrheit des proeuropäischen Lagers kommen
konnte? Wie kam es überdies dazu, dass die Swoboda-
Partei an der 5-Prozent-Hürde scheiterte und der Rechte
Sektor mit 0,7 Prozent gar völlig bedeutungslos ab-
schnitt?
Mir liegt es fern, die Gefahr rechtsradikaler Kräfte in
der Ukraine und weltweit herunterzuspielen. Diese aller-
dings auch noch durch derartige Anträge aufzuwerten
und aufgrund einiger Fälle gleich eine ganze EU-Mis-
sion abzubrechen, wäre falsch und blinder Aktionismus.
Ein solches Vorgehen wäre sogar in höchstem Maße
kontraproduktiv, was durch den Auftrag der Mission
deutlich wird.
Die Beamten sollen – und ich zitiere aus dem Ratsbe-
schluss zur EUAM-Mission – „einen Rahmen für die
Planung und Durchführung von Reformen erstellen, aus
denen dauerhaft funktionsfähige Sicherheitsdienste her-
vorgehen, die – unter uneingeschränkter Achtung der
Menschenrechte und im Einklang mit dem Verfassungs-
reformprozess – der Rechtsstaatlichkeit zur Geltung ver-
helfen“.
Es wäre höchst sinnlos, eine solche Mission in ein
Land zu entsenden, in dem sich die Sicherheitskräfte
ausschließlich aus vorbildlichen Demokraten zusam-
mensetzen.
Wenn dort noch vereinzelt undemokratisches Gedan-
kengut vorhanden ist, sind es gerade jene Rechtsstaat-
lichkeit stärkenden Missionen wie die EUAM, die dann
Abhilfe schaffen.
Falls es, wie Sie ja unterstellen, eine sehr viel höhere
Zahl von Rechtsradikalen und Faschisten in der Ukraine
gäbe, dann müssten Sie doch eine Aufstockung einer
solchen Mission fordern und nicht deren Beendigung.
Gerade weil es in der Ukraine noch Defizite im Bereich
Rechtsstaatlichkeit und der vollständigen Beachtung der
Menschenrechte auch bei den Sicherheitskräften gibt,
benötigt die Ukraine unsere Unterstützung.
Das Land, seine Behörden und auch die Sicherheits-
kräfte befinden sich in einem Reformprozess, den die
Bundesrepublik positiv begleiten möchte. Dies haben
wir nicht zuletzt durch das erst kürzlich hier im Bundes-
tag ratifizierte Assoziierungsabkommen zum Ausdruck
gebracht. Von diesem Weg lassen wir uns nicht abbrin-
gen. Nicht durch russische Märchen und schon gar nicht
durch derartige Anträge.
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Der Antrag der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Deutsche Beteiligung an
der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden“ ist ein
schönes Beispiel dafür, wie diese Partei außenpolitisch
denkt – oder, man sollte besser sagen: fühlt.
Der Antrag wirft der Bundesregierung durch ihre Be-
teiligung an der EU-Polizeimission außenpolitisches
Fehlverhalten in zweierlei Hinsicht vor:
Der erste Vorwurf zielt in die Richtung, Deutschland
würde durch seine Beteiligung an dieser Mission eine
Seite in einem Bürgerkrieg übervorteilen und somit die
angebrachte Neutralität nicht wahren.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9625
(A) (C)
(D)(B)
Der zweite Vorwurf lautet, die EU-Mission würde
Anleitung und Beratung für Organisationen leisten, die
sich zu einem erheblichen Teil aus rechtsextremistischen
Aktivisten zusammensetzen.
Nun haben die Kolleginnen und Kollegen der Links-
partei ja zum gleichen Thema eine Kleine Anfrage an die
Bundesregierung gestellt, die das ihnen eigene Denken
schmissig auf den Punkt bringt: „Mögliche Zusammen-
arbeit der EU-Polizeimission in der Ukraine mit rechts-
extremen bewaffneten Kräften“ lautet der Titel der An-
frage. Da stellt man sich vor, wie der reaktionäre
deutsche Bundespolizist dem ewiggestrigen ukraini-
schen Rechtsextremen das Schießen beibringt. Doch
wenn man die Antworten der Bundesregierung auf die
Anfrage liest, so bleibt von diesem Vorwurf nichts übrig:
Es handelt sich bei der EU-Mission um eine zivile
Mission, an der derzeit fünf deutsche Polizisten beteiligt
sind, die die ukrainischen Sicherheitskräfte auch auf
Einhaltung der Menschenrechte und in Gender-Fragen
schulen. – Warum stellen Sie dann aber in Wirklichkeit
diesen Antrag, in dem ein Ende der EU-Polizeimission
gefordert wird? Der Antrag der Linkspartei hat im
Grunde ein Ziel, das weit über die eigentlichen Forde-
rungen des Antrags hinausgeht: Es geht der Linken pri-
mär darum, den Maidan und den Kampf der Ukraine für
eine Ausrichtung nach Europa zu desavouieren. Dafür
versucht man die Geschichte zu erzählen, die Proteste
des Maidan und der Kampf gegen die Aufständischen in
der Ostukraine wurden und werden maßgeblich von
Rechtsextremen geführt. Niemand bestreitet die Exis-
tenz von extremen Nationalisten und Rechtsextremen in
der Ukraine – auch auf russischer Seite sind sie vorhan-
den. Aber die Behauptung der Linkspartei, dass Rechts-
extreme ein maßgeblicher Machtfaktor und Träger der
Revolution seien, ist ein Schlag ins Gesicht aller ukraini-
schen Menschen, die aufgestanden sind, auch aller Men-
schen, die ihr Land verteidigen wollen gegen eine Ag-
gression, die zu einem großen Teil von außen gelenkt ist.
Damit komme ich zum zweiten Vorwurf des Antrags,
nämlich den der Einmischung der EU in einen Bürger-
krieg, für den die Linke auch die Gründe in ihrem An-
trag nennt – ich zitiere –: „Der Bürgerkrieg in der
Ukraine hat historische, politische und soziale Ursa-
chen.“ Ich bewundere bei dieser Formulierung die Hart-
näckigkeit, mit der die Rolle Russlands ausgeblendet
wird.
Das Gleichgewicht der Kräfte in der Ukraine haben
nicht die fünf deutschen Polizisten gestört, die das ukrai-
nische Innenministerium beim Aufbau des zivilen (!) Si-
cherheitssektors beraten und dabei mit der OSZE zusam-
menarbeiten. Es war Russland, das das Gleichgewicht
der Kräfte gestört, die Krim annektiert, Separatisten un-
terstützt hat, die nicht davor zurückschrecken, zivile
Flugzeuge abzuschießen, und es war Russland, das ei-
gene Soldaten zum Urlauben in die Ostukraine entsandt
hat. Russische Truppen „verfahren“ sich immer wieder
auf ukrainisches Gebiet, und dass Russland die Separa-
tisten mit Waffen und sonstigem Nachschub versorgt,
steht außer Frage. Ich frage mich nur, wo die wohlmei-
nenden Appelle der Linkspartei bleiben, Russland möge
in diesem Bürgerkrieg Neutralität wahren.
Europa hat Stellung bezogen: nicht nur verbal, son-
dern mit Sanktionen, Sanktionen, zu denen die große
Mehrheit dieses Hauses steht. Wir müssen nicht neutral
und tatenlos zusehen, wie sich Russland die Ostukraine
einverleibt oder zumindest die Gewichte zu seinen
Gunsten ändert. Neutral sein hieße in diesem Fall, einer
Aggression Russlands Vorschub zu leisten.
Wir müssen die Ukraine unterstützen beim Aufbau ei-
ner funktionierenden Demokratie, bei der wirtschaftli-
chen Entwicklung, bei der Herstellung von Sicherheit
und natürlich bei der Beendigung des Krieges, für den
Russland eine Schlüsselrolle spielt.
Die EU-Polizeimission leistet einen Beitrag dafür.
Deshalb wird sich Deutschland auch weiterhin daran be-
teiligen.
Franz Thönnes (SPD): Am 26. März 2015 haben
wir hier im Parlament über die Assoziierungsabkommen
zwischen der Europäischen Union und den Ländern Ge-
orgien, Moldau und Ukraine diskutiert. Mit einer großen
Mehrheit haben wir diesen Abkommen zugestimmt und
damit in einem seit Jahren laufenden Verhandlungs- und
Diskussionsprozess einen weiteren wichtigen Schritt ge-
macht. Nun liegt es an den Vertragsstaaten und, nach
endgültiger Ratifikation aller europäischen Mitgliedslän-
der, an der Europäischen Union, das Vertragswerk er-
folgreich umzusetzen.
Neben den vielen vereinbarten Regelungsbereichen
gibt es darin auch mehrere Komplexe, die sich mit dem
Thema der Inneren Sicherheit in den Vertragsländern
und damit auch in der Ukraine befassen.
So heißt es hier im Artikel 6 unter der Überschrift
„Dialog und Zusammenarbeit bei internen Reformen“,
dass die Vertragsparteien zusammenarbeiten, um zu ge-
währleisten, dass ihre Innenpolitik auf den gemeinsamen
Grundsätzen der Vertragsstaaten, insbesondere der Stabi-
lität und der Effizienz der demokratischen Institutionen
und Rechtsstaatlichkeit, sowie auf der Achtung der Men-
schenrechte und der Grundfreiheiten beruht, wie sie ins-
besondere im Artikel 14 genannt sind.
Im Artikel 14 wird die Festigung des Rechtsstaats be-
schrieben und die Achtung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten als Richtschnur der gesamten Zusam-
menarbeit im Bereich Handel, Freiheit und Sicherheit
hervorgehoben. In den Artikeln 22 und 24 wird aus-
drücklich die Bekämpfung von Kriminalität und Korrup-
tion, auch im Justizbereich, betont.
Während der Verhandlungen über das Assoziierungs-
abkommen und vor dem Hintergrund der zu vereinba-
renden Regelungsbereiche hat der Rat für Außenbezie-
hungen der Europäischen Union am 22. Juli und
17. November 2014 völlig zu Recht und den Herausfor-
derungen entsprechend die EU Advisory Mission for Ci-
vilian and Securtity Sector Reform Ukraine, EUAM
Ukraine, beschlossen.
9626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Wir haben vielfach über die Entwicklung in der
Ukraine, die teilweise von heftiger Gewalt begleitet war
und teilweise auch noch ist, hier im Deutschen Bundes-
tag diskutiert. Da sind die leider bis heute immer noch
kriegerischen Auseinandersetzungen mit Separatisten
sowie zeitweilig mit militärischen Akteuren aus Russ-
land. Es wird Zeit, dass der Waffenstillstand von Minsk
endlich von allen eingehalten wird und keine fremden
Kampfeinheiten mehr auf ukrainischem Boden stehen.
Aber es entspricht auch nicht unserem Verständnis ei-
nes demokratischen Rechtsstaates, dass ein Staatswesen
von Korruption, direkten politischen Einflüssen von
Oligarchen, illegalen Waffenträgern und illegalen, mili-
tärisch agierenden Privatarmeen gekennzeichnet ist.
Deshalb sind und waren wir uns auch einig über die vor-
rangige Notwendigkeit der Wiederherstellung des staat-
lichen Gewaltmonopols. Dazu bedarf es aber auch hand-
lungsfähiger und wirksamer staatlicher Sicherheitsstrukturen.
Das Ziel von EUAM Ukraine ist die Unterstützung
der Reform des zivilen Sicherheitssektors, einschließlich
der Polizei und der Rechtsstaatlichkeit.
Zu diesem Zweck soll EUAM Ukraine als nichtexe-
kutive Mission Aufgaben wahrnehmen wie die Beratung
bei der Reorganisation sowie Restrukturierung und die
Anleitung bei der Ausarbeitung neuer Sicherheitsstrate-
gien. Dazu gehört auch die entsprechende Umsetzung.
Ziel ist die Erstellung eines konzeptionellen Rahmens
für die Reform des zivilen Sicherheitssektors, um diesen
dauerhaft funktionsfähig, kontrollierbar und rechen-
schaftspflichtig zu machen, seine Legitimität und das
Vertrauen in der Öffentlichkeit zu erhöhen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Kabinettssitzung am
17. September 2014 deshalb eine deutsche Beteiligung
mit bis zu 10 bis 20 Polizisten sowie zivilen Experten
beschlossen.
Von den derzeit 56 Missionsmitgliedern vor Ort sind
8 aus Deutschland, 5 Polizisten sowie 3 zivile Experten.
Mitbeteiligte Nationen sind Belgien, Bulgarien, Däne-
mark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland,
Großbritannien, Irland, Italien, Litauen, Luxemburg,
Niederlande, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien
und Ungarn. Im Mittelpunkt der Arbeit der Mission steht
die Reform des Innenministeriums und der ihm unterste-
henden Sicherheitskräfte. Dabei wird die Mission bera-
tend tätig und unterstützt die Ukraine auch bei entspre-
chenden Regionalprojekten.
Dies ist nur zu begrüßen, genauso wie die Beratung
des ukrainischen Innenministeriums zu den Aspekten
Menschenrechte und Gender. Es ist ebenso darauf zu
verweisen, dass die Mission ihre Aktivitäten eng mit den
übrigen internationalen Akteuren sowie insbesondere
mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa, OSZE, koordiniert. Positiv ist gleichfalls die
Unterstützung des Pilotprojektes „Community Policing“
des ukrainischen Innenministeriums in Lviv sowie der
damit verbundene Austausch mit lokalen Akteuren und
Vertretern der Zivilgesellschaft. Der enge Austausch mit
dem ukrainischen Parlament, der Zivilgesellschaft sowie
lokalen Thinktanks trägt zur Offenheit und Transparenz
und damit auch zu einer öffentlichen Kontrolle der euro-
päischen Mission bei.
Mit dem heute hier zu beratenden Antrag fordert die
Fraktion Die Linke, die eingesetzten deutschen Polizei-
kräfte abzuziehen, jegliche weitere Unterstützung der
Mission einzustellen und sich innerhalb der EU für ihre
Beendigung einzusetzen. Begründet wird dies mit einer
der Bundesregierung unterstellten einseitigen Partei-
nahme in einem Bürgerkrieg und der angebliche Einbe-
ziehung deutscher Polizistinnen und Polizisten auf der
Seite einer Bürgerkriegspartei. Das ist fadenscheinig und
würde unsere Bemühungen um die Stärkung einer
rechtsstaatlichen Entwicklung in der Ukraine torpedie-
ren.
Innen- und Auswärtiger Ausschuss des Deutschen
Bundestages haben sich in ihren Sitzungen am 4. Fe-
bruar 2015 damit befasst und mit übergroßer Mehrheit
der Regierungsparteien sowie der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen den Antrag abgelehnt. Und dies zu Recht!
Deshalb bitte ich den Deutschen Bundestag, auch nach
dieser Debatte der Entscheidung des Auswärtigen Aus-
schusses sowie des mitberatenden Innenausschusses zu
folgen und den Antrag der Fraktion Die Linke ebenfalls
abzulehnen.
Die Bunderegierung hat in zwei Antworten – auf den
Drucksachen 18/2327 sowie 18/4084 – klar und deutlich
zu den zwei das Thema behandelnden Kleinen Anfragen
Stellung genommen. Die von den Antragstellern vorge-
tragenen Begründungen für den von ihnen geforderten
Abzug der eingesetzten Angehörigen der Bundespolizei
wie einseitige Unterstützung einer Bürgerkriegspartei,
die pauschale Verdächtigung, dass die neue ukrainische
Regierung und die Behörden kein ernsthaftes Interesse
am Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates hätten,
sowie die angebliche Stützung der ukrainischen Regie-
rung auf faschistische Politiker und Politikerinnen sind
unzutreffend und gehen fehl. Die Ukraine befindet sich
in einer rasanten Veränderung. An der einen oder ande-
ren Stelle sind am politischen Prozess durchaus noch
Personen beteiligt, die extrem rechtes Gedankengut ver-
treten haben oder es noch vertreten; doch ist deren An-
zahl und Einfluss durch die Wahlentscheidungen der
Bürgerinnen und Bürger deutlich zurückgedrängt wor-
den. Auch dass in einigen Einheiten rechtsextreme Ten-
denzen vorhanden sind, ist bekannt. Doch haben sowohl
Bundesregierung wie auch die Fraktionen dieses Hauses
sich gegenüber der ukrainischen Regierung sowie Parla-
mentariern der Werchowna Rada immer wieder klar ge-
gen Rechtsextremismus eingesetzt und deutlich gemacht,
dass man die Entwicklung aufmerksam beobachtet.
Freiwilligenverbände, dazu in dem einen oder ande-
ren Fall auch noch politisch ausgerichtet – auch rechts-
extremistisch –, neben der ukrainischen Armee, der Na-
tionalgarde oder anderen unter staatlicher Hoheit und
staatlichem Befehl stehende Einheiten sind keine Per-
spektive für die Zukunft der Ukraine, schon gar nicht
Privatarmeen. So ist es gut, dass die ukrainische Regie-
rung aktiv daran arbeitet, die Freiwilligenverbände voll-
ständig in die Struktur der Streitkräfte oder der Natio-
nalgarde zu integrieren. Die Absetzung und die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9627
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(D)(B)
Auseinandersetzungen mit dem ehemaligen Gouverneur
Kolomojski aus Dnjepropetrowsk und seinen Bataillo-
nen durch Präsident Petro Poroschenko zeigen in die
richtige Richtung. Im Übrigen entspricht ein derartiges
Vorgehen auch den vereinbarten Maßnahmen von
Minsk, wonach alle illegalen Gruppen zu entwaffnen
sind.
Vollends ins Leere geht der Vorwurf der Fraktion Die
Linke, die Bundesregierung habe im bisherigen Kon-
fliktverlauf nicht ein Mindestmaß an Neutralität gezeigt
und damit zur Eskalation beigetragen. Von Anfang an,
von den Bemühungen, das Blutvergießen auf dem Mai-
dan am 20. Februar 2014 zu beenden, über die Vielzahl
von Verhandlungen in den unterschiedlichsten Formaten
und unzähligen Telefonaten, über die ersten Verhandlun-
gen in Minsk bis zu den Vereinbarungen dort am 12. Fe-
bruar 2015 haben Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel die
Linie einer friedlichen Lösung des Konfliktes nachhaltig
verfolgt. Eine militärische Lösung schied von Anfang an
aus.
Im Übrigen wurde ebenso intensiv darauf hingewie-
sen, dass die Todesschüsse auf dem Maidan genauso
zügig aufzuklären sind wie der schreckliche Tod der
Brandopfer von Odessa.
Inzwischen wurden über 1 150 Untersuchungsverfah-
ren zu den Tötungen rund um den Maidan eröffnet. Eine
Benachrichtigung hierüber konnte jedoch nur gegenüber
circa 45 Personen bis Mitte November des letzten Jahres
erfolgen.
Eine detaillierte Aufarbeitung wird wohl dadurch er-
schwert, dass in einem erheblichen Umfang Beweisma-
terial durch ehemalige Amtsträger vernichtet wurde.
Kritisch hat sich das vom Europarat eingerichtete inter-
nationale Beratergremium, das sich um die Sicherstel-
lung internationaler Rechtsgrundsätze bei den Ermittlun-
gen kümmern soll, in einem Bericht vom 31. März 2015
zu den Maidan-Ermittlungen geäußert. Die ukrainische
Regierung hat hier die Aufgabe, die geäußerte Kritik
einer mangelnden Aufklärungsbereitschaft im Innenmi-
nisterium und im Geheimdienst sowie die nicht ausrei-
chenden Ressourcen bei der Generalstaatsanwalt auszu-
räumen bzw. ihre Ursachen zu beseitigen und für eine
nachdrückliche Aufklärung zu sorgen.
Gleiches gilt für die Ermittlungen infolge des Brandes
in Odessa mit 42 Toten. Obwohl inzwischen Strafverfah-
ren gegenüber 120 Personen eingeleitet worden sind und
ein Prozess gegenüber 20 Verdächtigen begonnen hat,
sind leider, was den eigentlichen Brand angeht, wohl
bislang keine Verdächtigen ermittelt worden. Der erste
Prozess gegen 20 Verdächtige hat Ende November 2014
begonnen. Das internationale Beratergremium des Euro-
parates soll auch die Aufarbeitung dieses gesamten Vor-
falles begleiten, und ich erwarte auch hier, dass seitens
der ukrainischen Behörden konsequent an einer Aufklä-
rung und Strafverfolgung gearbeitet wird.
Der Pauschalvorwurf des Nichtstuns läuft jedoch
ebenfalls ins Leere, wobei durchaus die Erwartung da
ist, dass die ukrainische Regierung hier noch nachdrück-
licher aktiv wird. Doch ist dies allemal kein Anlass zum
Rückzug aus der EU-Polizeimission, sondern eher ein
Grund, die Unterstützung und die Beratung der ukraini-
schen Sicherheitseinrichtungen zu intensivieren und
weiter auszubauen.
Wenn die Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar
2015 zu einem Erfolg werden sollen, was alle Fraktionen
im Deutschen Bundestag in Redebeiträgen unterstrichen
haben, um der Ukraine und der Region eine Perspektive
für einen friedlichen Weg in die Zukunft zu ermöglichen,
dann wäre es gerade jetzt angesichts der großen Heraus-
forderungen falsch und kontraproduktiv, deutsche Bera-
tungskompetenz und die aus anderen europäischen Län-
dern abzuziehen.
Abzuziehen sind vielmehr alle ausländischen bewaff-
neten Formationen, Militärtechnik und Söldner vom Ter-
ritorium der Ukraine, wie die Minsker Vereinbarungen
es vorsehen. Es wäre besser und zielgerichteter gewesen,
wenn die Fraktion Die Linke hierzu aktiv geworden
wäre. Ihr Antrag sollte damit vor diesem Hintergrund
abgelehnt werden, indem das Parlament der Empfehlung
des Auswärtigen Ausschusses folgt, damit die zivil
orientierte EU-Polizeimission zur Beratung beim Auf-
bau eines staatlichen, demokratisch legitimierten Ge-
waltmonopols in der Ukraine mit deutscher Unterstüt-
zung fortgesetzt werden kann.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke beantragt, die
deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der
Ukraine zu beenden. Wir wollen nicht, dass deutsche
Polizisten am Aufbau des ukrainischen Sicherheitsappa-
rates beteiligt werden. Denn die Mindestvoraussetzung
dafür müsste sein, dass es ernstzunehmende Indizien da-
für gibt, dass die ukrainische Regierung die Menschen-
rechte garantiert und demokratische Zustände anstrebt.
Das ist aber absolut nicht zu erkennen. Ganz im Gegen-
teil gibt es in den letzten Monaten schwerwiegende Indi-
zien dafür, dass dort eine zunehmend autoritäre Herr-
schaft aufgebaut wird.
Unsere Ablehnung der EU-Mission hat zwei wesent-
liche Gründe: Die Mission ist eine direkte Beteiligung
am innerukrainischen Bürgerkrieg, und sie unterstützt ei-
nen Sicherheitsapparat, der in hohem Maße von faschis-
tischen Kräften beeinflusst wird.
Die militärische Relevanz zeigt sich schon darin, dass
zu den Ansprechpartnern auch der ukrainische Geheim-
dienst SBU gehört. Diesem obliegt die Leitung der soge-
nannten Antiterror-Operation, wie der Krieg im Osten
des Landes von der ukrainischen Regierung bezeichnet
wird.
Ein noch deutlicheres Indiz ist die Beratung der Na-
tionalgarde durch die Mission. Die Nationalgarde unter-
steht zwar formal dem Innenministerium, ist aber eine
ausgesprochen militärische Truppe. Die Bundesregie-
rung hat in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion Die Linke – 18/2327 – nicht einmal ausschlie-
ßen wollen, dass sich das Beratungsangebot der deut-
schen Polizisten auch auf konkrete militärische Einsätze
der Nationalgarde im Krieg in der Ostukraine bezieht.
9628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Hinzu kommt, dass in einem „Reformpapier“ des ukrai-
nischen Innenministeriums vom November 2014 aus-
drücklich festgelegt wird, dass die Nationalgarde und
der Grenzschutz – der ebenfalls von der EU-Mission be-
raten wird – den „Status paramilitärischer Formationen“
erhalten sollen. Dass deutsche Polizisten dabei mithelfen
sollten, Paramilitärs zu schaffen, lehnt Die Linke eindeu-
tig ab.
Hinzu kommt die Rolle faschistischer Kräfte in der
ukrainischen Politik. Zwar ist bei den Parlamentswahlen
im Herbst 2014 die faschistische Swoboda-Partei aus
dem Parlament und damit aus der Regierung geflogen.
Andererseits hat die „Radikale Partei“ von Oleg
Ljaschko mit einem radikal-nationalistischen Programm
die Swoboda beerbt, 7 Prozent erhalten und, was weit
schwerer wiegt, ist wiederum Teil der Regierungskoali-
tion.
Insgesamt ist Die Linke hochgradig darüber besorgt,
dass es eine nicht zu übersehende Zusammenarbeit der
ukrainischen Regierung mit faschistischen und extrem-
nationalistischen Kräften bzw. deren Anführern gibt. So
genießen etliche faschistische Politiker und Chefs fa-
schistischer Milizen die offene Unterstützung der angeb-
lich „prowestlichen“ Regierungsparteien. So hat etwa
Andrij Bilezky mit Unterstützung der Volksfront ein Di-
rektmandat für die Oberste Rada gewonnen. Bilezky ist
Kommandant der Asow-Miliz, deren Angehörige offen
Hakenkreuze, SS-Runen und die faschistische
„Schwarze Sonne“ tragen. Selbst die Bundesregierung
hat diese Miliz als rechtsextrem eingeschätzt. Neben Bi-
lezky sind zwei weitere Asow-Milizionäre in die Rada
gelangt, über die Listen des Poroschenko-Blocks und der
Vaterlandspartei.
Die Asow-Miliz ist nicht das einzige rechtsextreme
Bataillon. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta-
ges hat in einer Ausarbeitung vor wenigen Wochen auch
bei den Bataillonen Aidar, Dnipro und Donbass alarmie-
rende Hinweis auf eine rechtsextreme Ideologie konsta-
tiert.
Man kann sich vorstellen, wie diese Milizen im Osten
der Ukraine wüten. Amnesty International, die OSZE
und der UNO-Menschenrechtskommissar haben bestür-
zende Hinweise über Menschenrechtsverbrechen dieser
Kräfte zusammengetragen: Plünderei, widerrechtliche
Festnahmen, Behinderung von Lebensmittellieferung,
Misshandlungen usw.
Die ukrainische Regierung unternimmt aber keinerlei
Anstrengung, diese Milizen aufzulösen und ihre Verbre-
chen zu untersuchen. Das Asow-Bataillon ist vielmehr
offiziell in die Nationalgarde integriert worden. Man
muss sich das mal vorstellen: Würden wir es in Deutsch-
land hinnehmen, wenn eine rechtsextreme Wehrsport-
gruppe formell in die Bundeswehr aufgenommen
würde?
Die Bevölkerung in der Ostukraine wird sich in ihrer
Ablehnung der Kiewer Regierung noch bestärkt fühlen,
wenn sie sehen muss, dass faschistische Bataillone für
ihre Verbrechen nicht bestraft, sondern von der Regie-
rung sogar noch legalisiert werden.
Wie ich schon erwähnt habe, gehört die Beratung der
Nationalgarde zu den Aufgaben der EU-Mission – damit
auch die Beratung des Asow-Bataillons und anderer fa-
schistischer Kräfte. Die Bundesregierung hat auf An-
frage bestätigt, dass es keinerlei Empfehlungen an die
deutschen Polizisten gegeben hat, sich der Beratung von
Nazimilizen zu enthalten.
Die Verbindungen insbesondere zwischen dem ukrai-
nischen Innenministerium und faschistischen Anführern
gehen aber noch weiter. So hat Innenminister Arsen
Avakov den Vizekommandanten des Asow-Bataillons,
Wadim Trojan, zum Polizeichef der Oblast Kiew er-
nannt.
Die Polizei der Stadt Kiew ist eine offene Koopera-
tion mit dem „Rechten Sektor“ in einem Kiewer Stadtteil
eingegangen, um gegen Drogen und illegales Glücks-
spiel vorzugehen.
Der Chef des Rechten Sektors, Dmitro Jarosch, ist
jetzt offizieller Berater des Generalstabes.
Der frühere Swoboda-Abgeordnete Juri Michaltschischin,
der schon mal den Holocaust als „Lichtblick in der euro-
päischen Geschichte“ bezeichnet, arbeitet jetzt beim Ge-
heimdienst, nach eigenen Angaben zuständig für „opera-
tive Information“, also Propaganda.
Die ukrainische Regierung arbeitet also offen mit Fa-
schisten zusammen, ja befördert sie in hohe Funktionen
in Militär, Polizei und Geheimdienst. Damit ist der
ukrainische Sicherheitsapparat in hohem Maße unter fa-
schistischem Einfluss – dass die EU da noch Beihilfe zur
weiteren „Optimierung“ dieser Sicherheitskräfte leistet,
ist ein ungeheuerlicher Skandal.
Es darf nicht sein, dass deutsche Polizisten Faschisten
unterstützen – weder im Inland, noch im Ausland. Des-
wegen muss die Unterstützung für die EU-Mission so-
fort eingestellt werden.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wer wie die Linke in der vergangenen Wo-
che die EU-Assoziierung mit der Ukraine, Moldau und
Georgien abgelehnt hat, ist offenbar an einem inneren zi-
vilen Aufbau dieser Länder nicht interessiert. Die EU-
Polizeimission in der Ukraine ist eine durch und durch
zivile Mission. Sie dient dem Aufbau von rechtsstaatli-
chen, menschenrechtsorientierten und korruptionsfreien
Polizeistrukturen in der Ukraine. Deutschland beteiligt
sich mit 20 Polizistinnen und Polizisten. Die Ukraine
steht ganz am Anfang vieler demokratischer und rechts-
staatlicher Veränderungsprozesse. Wer in diesen Zeiten
die EU-Polizeimission abziehen möchte, will am demo-
kratischen Aufbau des Landes offensichtlich nicht teil-
haben.
Wir nähern uns dem 8. Mai und damit dem 70. Jahres-
tag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus.
Das fordert dazu auf, noch einmal einen genauen Blick
auf die deutsche Geschichte – gerade auch mit Bezug auf
die Ukraine – zu werfen. Das berechtigte historische
Verantwortungsgefühl gegenüber der Sowjetunion führt
heute oft zu einem verkürzten Geschichtsmodell, weil
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9629
(A) (C)
(D)(B)
wir geografische und damit mentale blinde Flecken auf
der Landkarte haben. Diese betreffen die Ukraine,
Belarus, Polen, das Baltikum, die gesamte Region, die
Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands als Zwi-
schenländer zwischen Berlin und Moskau bezeichnet.
Hier fanden in der kurzen Zeitspanne zwischen 1930 und
1945 etwa 14 Millionen Menschen einen gewaltsamen
Tod: Opfer der von Stalin herbeigeführten Hungersnot in
der Ukraine, des zwischen Hitler und Stalin vereinbarten
Einfalls in Polen, der Exzesse der Wehrmacht in Belarus
und der Ukraine sowie des Völkermords an den Juden.
Es grenzt geradezu an den Versuch einer historischen
Schuldumkehr, wenn heute von deutscher Seite mit
Übereifer auf rechtsextreme Umtriebe in der Ukraine
hingewiesen wird – die es zweifelsohne gibt, wie aber
auch in Frankreich mit dem Front National, in Griechen-
land mit der „Goldenen Morgenröte“ und den Rechts-
populisten in der jetzigen Regierung. Dies könnte – ge-
rade in den Zwischenländern – den Verdacht aufkommen
lassen, dass eine Verwischung der deutschen Spur dort
stattfinden soll, wo von deutschem Boden ausgehend der
Faschismus so sehr gewütet hat.
Heute melden Medien, dass das amerikanische Au-
ßenministerium Russland und den von ihnen unterstütz-
ten Separatisten schwere Verletzungen des Minsker
Abkommens vorwirft. Die russische Armee soll Flugab-
wehrgeschütze und weitere schwere Waffen in die Ost-
ukraine liefern, verstärkt die Kämpfer vor Ort ausbilden
und außerdem bis zu zwölf Bataillone an der Grenze zu-
sammengezogen haben. In Europa bildet sich derzeit
eine interessante Querfront aus Links- und Rechtspopu-
listen, die von Moskau unterstützt wird. Sie eint die
Ablehnung des transatlantischen Bündnisses, und es ist
bekannt, dass sie den Aussagen von NATO und USA
den Wahrheitsgehalt abspricht. Mich allerdings erinnert
vieles an Bosnien, als ebendiese Kenntnisse der Aggres-
sion oder Aggressionsvorbereitungen der NATO – und
damit auch uns – bekannt waren und wir solche Informa-
tionen zurückgehalten haben, weil wir die Konsequen-
zen fürchteten. Ja, beide Seiten müssen die Waffenstill-
standsvereinbarungen von Minsk einhalten. Aber wie
wollen wir der Kiewer Regierung abverlangen, sich
noch wehrloser zu machen, während wir sehen, dass die
russische Seite wieder aufrüstet und möglicherweise ei-
nen nächsten Aggressionsschritt vorbereitet?
Während Europa endlich – viel zu spät – beginnt, auf
die Flüchtlingskatastrophe vor unseren Küsten zu
reagieren, vermeiden wir den Blick auf die humanitäre
Katastrophe, die sich in der Ukraine abspielt. Etwa
1,2 Millionen ukrainische Binnenflüchtlinge werden bei
uns erstaunlicherweise kaum zur Kenntnis genommen.
Wir müssen vermuten, dass in den dörflichen Regionen,
in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollier-
ten Gebieten, Menschen verhungern. Aber sie verhun-
gern still und ertrinken nicht vor unseren Augen. Ich
fordere dringlich auf, dass wir diese humanitäre Kata-
strophe in der Ukraine nicht genauso verdrängen, wie
wir es mit dem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer durch
die Beendigung von Mare Nostrum getan haben. Wer be-
ansprucht, aus der Krise gelernt zu haben, muss sein
Handeln jetzt auch auf den Osten Europas ausdehnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Weiterentwicklung des Personalrechts der Be-
amtinnen und Beamten der früheren Deutschen
Bundespost (Tagesordnungspunkt 17)
Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Vor mehr als
20 Jahren gab es mit der Postreform eine historische Zä-
sur. Durch das Poststrukturgesetz und das Postumwand-
lungsgesetz wurde die Privatisierung der Deutschen
Bundespost eingeleitet. Seitdem werden die drei Nach-
folgeunternehmen in den Bereichen Postdienst, Post-
bank und Telekom als separate Aktiengesellschaften er-
folgreich fortgeführt. Diesen Weg wollen wir mit dem
Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Personal-
rechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deut-
schen Bundespost weitergehen.
Dabei verfolgen wir insbesondere das Ziel, die orga-
nisatorischen Strukturen und rechtlichen Instrumentarien
im Postnachfolgebetrieb weiterzuentwickeln. Gleichzei-
tig soll die Beschäftigung der Bundesbeamtinnen und
Bundesbeamten, die bei den drei Postnachfolgeunter-
nehmen tätig sind, nachhaltig gesichert werden.
Die Weiterentwicklung des Personalrechts der Beam-
tinnen und Beamten bei den Postnachfolgeunternehmen
liegt deshalb auch im Interesse aller Beteiligten. Die Be-
amtinnen und Beamten haben einen Anspruch auf eine
ihrem Amt angemessene Verwendung. Dieser Anspruch
kann künftig bei gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen
besser gewährleistet werden als unter der geltenden
Rechtslage. Den Postnachfolgeunternehmen hilft die be-
hutsame Weiterentwicklung des dienstrechtlichen Instru-
mentariums, sich gemeinsam mit den bei ihnen beschäf-
tigten Beamtinnen und Beamten in einem globalen
Wettbewerb zu behaupten und die dafür notwendigen
unternehmerischen Entscheidungen zu treffen. Das dient
zugleich auch der Beschäftigungssicherung. Und für den
Bund schließlich reduziert sich die Wahrscheinlichkeit,
bei einer Auflösung oder Umwandlung der Postnachfol-
geunternehmen wieder unmittelbar selbst für eine
amtsangemessene Weiterbeschäftigung der dort beschäf-
tigten Beamtinnen und Beamten und für deren Personal-
kosten sorgen zu müssen.
Mit dem Gesetz ändern wir das Personalrecht und
weitere Rechtsvorschriften für die rund 100 000 Bundes-
beamtinnen und Bundesbeamten, die noch bei den drei
Nachfolgeunternehmen der früheren Deutschen Bundes-
post beschäftigt sind und für die der Bund als Dienstherr
weiterhin die Verantwortung trägt. Doch auch die rund
275 000 Versorgungsempfänger sind teilweise betroffen.
Im Wesentlichen geht es bei den Änderungen um vier
Bereiche.
Zum einen wird die Bundesregierung ermächtigt, ne-
ben den drei primären Postnachfolgeunternehmen durch
Rechtsverordnung weitere Unternehmen zu sekundären
Postnachfolgeunternehmen zu bestimmen und mit ho-
heitlichen Aufgaben zu beleihen. Dafür kommen aller-
dings ausschließlich Unternehmen infrage, die in einem
9630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachfolgeverhältnis zu
einem der drei primären Postnachfolgeunternehmen ste-
hen. Das ergibt sich schon aus den verfassungsrechtli-
chen Vorgaben nach Artikel 143 b des Grundgesetzes.
Leider ist dieser Aspekt in der Öffentlichkeit gelegent-
lich verzerrt dargestellt worden. Das hat zu ebenso unnö-
tigen wie unberechtigten Sorgen bei den Betroffenen ge-
führt. Die Neuregelung liegt aber gerade auch im
Interesse der Beamtinnen und Beamten. Denn ohne
diese Neuregelung würde bei einer Umwandlung der
drei primären Postnachfolgeunternehmen – beispiels-
weise durch Verschmelzung, Aufspaltung oder andere
gesellschaftsrechtliche Maßnahmen – die Pflicht zur
Weiterbeschäftigung wieder unmittelbar den Bund als
Dienstherrn treffen. Der Bund könnte aber in den meis-
ten Fällen kaum für eine angemessene Verwendung sor-
gen. Vermutlich würden die betroffenen Beamtinnen und
Beamten oft auch mit ihrem Fachwissen bevorzugt in
dem Unternehmen weiterhelfen. Gegebenenfalls kann
der Bund Sicherheitsleistungen festsetzen, um im Inte-
resse der Beamtinnen und Beamten zu gewährleisten,
dass die neuen Postnachfolgeunternehmen ihren Zah-
lungspflichten dauerhaft nachkommen.
Als Zweites sind künftig die Postnachfolgeunterneh-
men nur noch für aktive Beamte dienstrechtlich zustän-
dig. Die Zuständigkeit für Versorgungsempfänger wird
auf die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation
Deutsche Bundespost übertragen. Das gewährleistet eine
einheitliche Anwendung der Vorschriften. Außerdem
müssen die Nachfolgeunternehmen so nicht noch auf
Jahre hinaus dienstrechtliches Fachwissen vorhalten.
Das wäre schließlich weder wirtschaftlich noch beam-
tenrechtlich sinnvoll. Doch die Unternehmen haben die
Verwaltungskosten der Bundesanstalt zu tragen und leis-
ten dadurch einen Beitrag zur Finanzierung der Versor-
gungsausgaben.
Drittens erfolgt eine Zentralisierung der Beihilfebear-
beitung für alle bei Postnachfolgeunternehmen beschäf-
tigten Beamtinnen und Beamten. An der Finanzierung
der Beihilfeausgaben wird sich nichts ändern.
Abschließend ist als vierter Punkt zu nennen, dass die
dienstrechtlichen Vorschriften fortentwickelt werden,
um den Anspruch der Beamtinnen und Beamten auf eine
amtsangemessene Weiterbeschäftigung bei den Post-
nachfolgeunternehmen zu gewährleisten. Schließlich hat
es seit der Postreform am Markt Entwicklungen gege-
ben, die bei den damaligen Gesetzen nicht absehbar wa-
ren. Insbesondere geht es um Vorschriften zur Beurlau-
bung im dienstlichen Interesse und zur Zuweisung von
Tätigkeiten bei anderen Unternehmen. Dabei haben wir
die schutzwürdigen Belange der Beamtinnen und Beam-
ten berücksichtigt und die hergebrachten Grundsätze des
Berufsbeamtentums gewahrt.
Zu dem Gesetzentwurf hat der Haushaltsausschuss
am 23. Februar 2015 eine öffentliche Anhörung durch-
geführt. Dabei wurde mit den Sachverständigen unter
anderem die Vereinbarkeit der Neuregelungen mit Arti-
kel 143 Absatz 3 des Grundgesetzes erörtert und aus un-
serer Sicht bestätigt. Darüber hinaus wurden in der An-
hörung vonseiten der Gewerkschaften weitergehende
Änderungen vorgeschlagen. Im Ergebnis sind diese nach
unserer Auffassung jedoch nicht erforderlich. Der Ge-
setzentwurf trägt in der vorliegenden Fassung den Be-
langen der Beamtinnen und Beamten ausreichend Rech-
nung. Er ist ausgewogen mit Blick auf die Interessen der
Beschäftigten und Unternehmen.
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Über 100 000 Bun-
desbeamtinnen und Bundesbeamte sind derzeit noch bei
den Postnachfolgeunternehmen Deutsche Post AG,
Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank AG aktiv
beschäftig. Demgegenüber übersteigt die Zahl der Ver-
sorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger
der früheren Deutschen Bundespost mit 275 000 Perso-
nen die der Aktiven um ein Vielfaches. Dieses Verhältnis
wird sich, da keine neuen Beamtenverhältnisse mehr
begründet werden dürfen, in Zukunft noch weiter in
Richtung der Versorgungsempfängerinnen und Versor-
gungsempfänger verschieben. Ziel des heute zu be-
schließenden Gesetzentwurfes ist es einerseits, eine sta-
bile Rechtsgrundlage für künftige wirtschaftliche
Weiterentwicklungen zu finden, mit der die bisherige
Beleihung der Postnachfolgeunternehmen – Deutsche
Post AG, Deutsche Telekom AG, Deutsche Postbank AG –
auch auf Tochter- und Enkelunternehmen erstreckt und
auch eine Lösung für Umwandlungen und Verschmel-
zungen angeboten wird. Andererseits muss dem
Anspruch der Beamtinnen und Beamten auf eine ange-
messene Vergütung und einen angemessenen Schutz
Rechnung getragen werden.
Wir haben es uns in den letzten Wochen und Monaten
nicht einfach gemacht und unzählige Gespräche geführt
und eine Anhörung durchgeführt. Vor allem ging es mir
dabei darum, die Interessen der Beamtinnen und Beam-
ten, deren Status sich aufgrund des vorliegenden Geset-
zes keinesfalls verschlechtern darf, zu wahren. Hierbei
wurden vor allem drei Kernpunkte erörtert, die in der
Beurteilung des Gesetzentwurfes strittig waren und auf
die ich hier kurz eingehen möchte: So war erstens zu
prüfen, ob die Übertragung der Hoheitsgewalt per
Rechtsverordnung auf sogenannte sekundäre Postnach-
folgeunternehmen mit den Bestimmungen des Artikels
143 b GG vereinbar ist. Die Anhörung hat gezeigt, dass
es hier durchaus unterschiedliche Meinungen gibt. Dabei
ging es vor allem um die Frage, ob Artikel 143 b
Absatz 3 GG eine Begrenzung auf die ursprünglichen
drei Postnachfolgeunternehmen fordert. Nach herrschen-
der Meinung ist der im Gesetzentwurf vorgeschlagene
Weg gangbar, wenn nur Unternehmen infrage kommen,
die in einem rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachfol-
geverhältnis zu einem der drei primären Postnachfolge-
unternehmen und damit mittelbar zum ehemaligen Son-
dervermögen Deutsche Bundespost stehen. Insofern
trifft infolge einer solchen Beleihung diese Unternehmen
die Beschäftigungs- und Kostentragungspflicht für die
ihnen zugeordneten Beamtinnen und Beamten.
Die Bedenken hinsichtlich der Verfassungsgemäßheit
der geplanten Fassung konnten meines Erachtens deut-
lich widerlegt werden. Die Frage der Vereinbarkeit des
Gesetzentwurfes mit Artikel 143 b GG ist ausreichend
geklärt worden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9631
(A) (C)
(D)(B)
Zum anderen kam die Frage auf, ob man § 38 des Ent-
wurfes ergänzt. Es ist die Meinung vertreten worden,
dass sich die Ausübung der Dienstherrenbefugnisse
durch delegierte Unternehmen immer weiter auf das Be-
schäftigungsverhältnis der Beamtinnen und Beamten
von ihren Dienstherren entfernt. Die Wahrung der
Rechtsstellung in Artikel 143 b Absatz 1 GG müsse da-
her spezifiziert werden, damit die Situation der Beschäf-
tigten sich nicht verschlechtern werde. Dies gelte auch
für die Arbeitsverhältnisse von beurlaubten Beamtinnen
und Beamten.
Insgesamt sind knapp 25 000 Beamtinnen und Be-
amte – also immerhin ein Viertel der aktiven Beamtin-
nen und Beamten – bei den Postnachfolgeunternehmen
beurlaubt – sogenannte In-Sich-Beurlaubungen – und ar-
beiten projektbezogen in einem privatrechtlichen Ar-
beitsverhältnis für dasselbe Postnachfolgeunternehmen,
oft zu wesentlich besseren Konditionen. An diesen spe-
zifischen Gegebenheiten ändert sich durch das vorlie-
gende Gesetz nichts. Auch bei einer Umwandlung oder
Verschmelzung behalten diese Beschäftigten ihre Rechte
und Pflichten.
Aber: Beurlaubungen gibt es nicht auf ewig. Sie sind
immer projektbezogen und zeitlich limitiert. Beurlaubte
Beamte sind und bleiben Beamte. Der vorliegende Ent-
wurf ändert am Beamtenstatus nichts. In diesem Zusam-
menhang erscheint es mir sehr wichtig, auf die entspre-
chenden Arbeitsbedingungen der Beamtinnen und
Beamten zu achten. Es sollte keine Aufgabenverschlech-
terung stattfinden, und zudem sollten auch Perspektiven
und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für die Be-
amtinnen und Beamten bei den sekundären Postnachfol-
geunternehmen vorhanden sein. Diese Bestimmungen
werden aber meines Erachtens auch durch den vorlie-
genden Entwurf hinreichend umgesetzt. In § 38 Absatz 2
heißt es ausdrücklich: „Der Wechsel ist unter Wahrung
der Rechtsstellung der Betroffenen und der beruflichen
Entwicklungsmöglichkeiten bei den Aktiengesellschaften
im Sinne von § 1 Absatz 1 PostUmwG vorzunehmen. Es
dürfen nur Unternehmen mit Sitz im Inland als weitere
Postnachfolgeunternehmen bestimmt werden …“. Hinzu
kommt, dass vor Erlass einer Rechtsverordnung die Spit-
zenorganisationen der zuständigen Gewerkschaften nach
§ 118 des BBG zu beteiligen sind. Sollte dann ein ande-
res Unternehmen beliehen werden, gelten selbstver-
ständlich die bisherigen beamtenrechtlichen Grundsätze
fort. Zum einen werden die Beamtinnen und Beamten
unter Wahrung ihrer Rechtsstellung zu den bisherigen
Konditionen weiterbeschäftigt, zum anderen greifen die
Benachteiligungsverbote des Postpersonalrechtsgeset-
zes. Aus diesem Grunde bedurfte es keiner weiteren ge-
setzlichen Regelung.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen dritten
Punkt der Kernthemen kurz skizzieren, die Versorgungs-
lage. Zurzeit ist es so, dass bei allen Beschäftigten der
Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Versor-
gungsansprüche nach handelsrechtlichen Grundsätzen
gebildet werden, während bei den Beschäftigten der
Postnachfolgeunternehmen Unternehmensbeiträge in
Höhe von 33 Prozent der Beamtenbezüge gelten. Nach
dem Gesetzentwurf wird – richtigerweise – die Bundes-
anstalt die dienstrechtlichen Befugnisse für die Ruhe-
standsbeamten wahrnehmen und mit der Beihilfe-
bearbeitung betraut werden. Hierfür werden circa
200 zusätzliche Beamte zur Bundesanstalt übergeleitet.
Dies verursacht – das sehe ich absolut ein – aufgrund der
derzeitigen Kapitalmarktzinsen mehr Kosten bei den
Postnachfolgeunternehmen. Ich kann auch verstehen,
dass die Unternehmen dafür plädiert haben, den Kapital-
fonds aufzulösen und für alle Beschäftigten 33 Prozent
der Beamtenbezüge zu leisten.
Aus haushälterischer Sicht ist diese Forderung zum
jetzigen Zeitpunkt aber abzulehnen. Da je nach versiche-
rungsmathematischer Berechnung für den Bund zukünf-
tig die Höhe der Zahlungen anfallender Versorgungsfälle
nicht überblickbar und kalkulierbar ist, wäre dies eine
einseitige Risikoumverteilung auf den Bund und letzt-
endlich auf den Steuerzahler.
Alles in allem ist der vorliegende Gesetzentwurf ge-
eignet, die entstandene Lücke zu schließen und auch die
Interessen der beschäftigten Beamtinnen und Beamten
sicherzustellen und zu bewahren. Es ist aber selbst-
verständlich, dass die weitere Entwicklung der Post-
nachfolge- und eventueller sekundärer Postnachfolge-
unternehmen genau im Auge behalten wird und wir
gegebenenfalls im Sinne und für das Wohl der aktiven
Beamtinnen und Beamten eingreifen werden, um deren
Beschäftigungsverhältnisse neu zu regeln.
Frank Tempel (DIE LINKE): Die öffentliche Anhö-
rung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Wei-
terentwicklung des Personalrechts der Beamtinnen und
Beamten der früheren Deutschen Bundespost hat deut-
lich gemacht, dass erhebliche verfassungsrechtliche Ri-
siken bestehen, wenn der Entwurf in der jetzigen Form
beschlossen werden sollte. Mehrere Sachverständige be-
zogen sich auf das Gutachten von Professor Dr. Heinrich
Amadeus Wolff, der die vorgesehene Beleihung an an-
dere als im Artikel 143 b Absatz 3 Satz 2 GG vorgese-
hene Unternehmen verwirft. Auch eine Beleihung an
Tochter- und Enkelunternehmen lässt sich aus den ent-
sprechenden Verfassungsartikeln nicht ableiten. Der Ar-
tikel 143 b stellt eine abschließende Sonderregelung dar,
welche die Abweichungen von den allgemeinen dienst-
rechtlichen Prinzipien klar begrenzt und keine weitere
Veränderbarkeit in Aussicht stellt: Die überführten Be-
amtinnen und Beamten sind weiter Bundesbeamte unter
dem Dienstherren Bund. Die benannten Unternehmen
üben die Dienstherrenbefugnis auf verfassungsrechtli-
cher Grundlage aus. Die Rechtsstellung der Betroffenen
wird Kraft verfassungsrechtlicher Zusicherungen ge-
wahrt. Dieser mit Artikel 143b des Grundgesetzes beab-
sichtigte Schutz für die Beamtinnen und Beamten der
früheren Deutschen Bundespost ist nicht mit einer einfa-
chen gesetzlichen Regelung aufhebbar. Wenn die Große
Koalition entsprechende Änderungen durchsetzen will,
muss sie eine Grundgesetzänderung durchsetzen.
Neben diesen schwerwiegenden rechtlichen Bewer-
tungen des Gesetzentwurfes gibt es eine politische Be-
wertung.
9632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Die Postprivatisierung ist mit den Versprechen an die
Beamtinnen und Beamten einhergegangen, ihren Rechts-
status zu wahren. Verdi weist in ihrem Gutachten zur
Anhörung auf die heutigen Realitäten hin, und die stel-
len sich völlig anders dar: Die Beförderungs- und Auf-
stiegsmöglichkeiten sind minimal ausgeprägt. Personal-
konzepte, die in der öffentlichen Verwaltung dem
Laufbahnrecht entsprechend erarbeitet und durchgesetzt
werden, finden in den Nachfolgeunternehmen der Post
nicht statt. Die als Ausnahme gedachten Tätigkeits-
zuweisungen nach Paragraf 4 des Gesetzes zum Perso-
nalrecht der Beschäftigten der früheren Deutschen
Bundespost – PostPersRG – werden zehntausendfach
angewandt.
20 Jahre nach der Privatisierung sind rund 170 000 Be-
amtinnen und Beamte abgebaut worden. Die verbliebe-
nen über 100 000 Beamtinnen und Beamten fürchten um
ihren Status, falls weitere Unternehmen die Diensther-
renbefugnisse zugeschrieben bekommen. Die besondere
Rechtslage, dass Beamtinnen und Beamte in einem Pri-
vatunternehmen beschäftigt werden, setzt im Umgang
ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung voraus. Es ist
schwer vorstellbar, wie sich andere Unternehmen kurz-
fristig, praktikabel und rechtssicher in diese schwierige
Rechtslage einarbeiten könnten. Die Fürsorgepflicht des
Staates gegenüber den Beamtinnen und Beamten gebie-
tet es, keine Experimente auf dem Rücken der Betroffe-
nen durchzuführen.
Besonders problematisch im Sinne des Gleichbehand-
lungsgrundsatzes ist die im Gesetz vorgesehene Mög-
lichkeit der Zuweisung unterwertiger Tätigkeiten. Wieso
die Große Koalition ehemaligen Beschäftigten der Bun-
despost im Beamtenstatus Dinge zumuten will, die den
übrigen Beamtinnen und Beamten nicht zugemutet wer-
den können, ist nicht nachvollziehbar und abzulehnen.
Der dbb beamtenbund und tarifunion hat in seiner
Stellungnahme einen Änderungsvorschlag zum Paragraf
38 PostPersRG gemacht, der die Interessen der Beschäf-
tigten, die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen
und das Interesse des Bundes vermitteln soll. Wir halten
diesen Kompromissvorschlag aufgrund der Implikatio-
nen des Grundgesetzes für schwierig, aber für eine
denkbare Möglichkeit. Dort wird die Wahrnehmung der
Dienstherrenbefugnisse neu betrauter Postnachfolge-
unternehmen an die Fortsetzung der bisherigen arbeits-
vertraglichen Bedingungen und an den kontrollierbaren
Nachweis der notwendigen Fachkenntnis zur Bearbei-
tung beamtenrechtlicher Angelegenheiten gebunden.
Leider hat die Große Koalition weder Schlussfolge-
rungen aus der öffentlichen Anhörung gezogen noch
eine Kompromissvariante aufgegriffen. Sie wird sich se-
henden Auges den Folgen einer aussichtsreichen Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht ausgesetzt sehen.
Die Verantwortung für die absehbaren politischen, wirt-
schaftlichen und rechtlichen Verwerfungen trägt alleine
die Große Koalition.
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sowohl bei den eingereichten Stellungnahmen der Sach-
verständigen als auch bei der Anhörung im Haushalts-
ausschuss des Deutschen Bundestages wurde deutlich,
dass dieser Gesetzentwurf erhebliche Mängel und Pro-
bleme aufwirft. Insbesondere die Möglichkeit, dass die
Dienstherrenaufsicht über die ehemaligen Postbeamtinnen
und -beamten nicht mehr alleine den drei Postnachfolge-
unternehmen – Post, Postbank und Telekom – unterstellt
ist, sondern diese im vorliegenden Gesetzentwurf erwei-
tert wird, stellt eine weitreichende Veränderung dar. Wir
sehen hierin eine verfassungswidrige Änderung.
Die Ausweitung der Dienstherrenbefugnis auf andere
Unternehmen als die direkten Postnachfolgeunterneh-
men steht im Widerspruch zu Artikel 143 b Grundgesetz.
Er geht davon aus, dass die Postnachfolgeunternehmen
einen rechtlichen Einfluss auf weitere Unternehmen aus-
üben können müssen, wenn Dienstherrenrechte übertra-
gen wurden. Unsere verfassungsrechtlichen Bedenken
bestehen in der deutlichen Ausweitung der Beleihungs-
möglichkeiten.
Was bei den Beratungen im Bundestag schlichtweg
verschwiegen wurde ist, dass wegen des anstehenden
Verkaufs der Postbank hier schnell Vorsorge getroffen wer-
den soll. Der Bund trägt die Verantwortung für die Beam-
tinnen und Beamten, und dies erfolgt nach Artikel 143 b
Grundgesetz „unter Wahrung ihrer Rechtsstellung“.
Kritisch sehen wir auch, die ausdrücklich im Grund-
gesetz erwähnten Postnachfolgeunternehmen und die
Ausweitung der Dienstherrenfähigkeit im Zuge einer
Verordnungsermächtigung zu regeln. Ohne eine Ände-
rung des Grundgesetzes scheint uns diese Ausweitung
der Beleihung verfassungswidrig. Wir sehen die zwin-
gende Notwendigkeit, dass sich das Parlament mit dieser
Frage beschäftigt, da es sich hierbei um Beamtinnen und
Beamte des Bundes handelt.
Weitere Kritik besteht an der neuen Regelung, dass
zukünftig Zuweisungen einer unterwertigen Tätigkeit,
wenn auch befristet, möglich sein sollen. Dies stellt die
Beamtinnen der Postnachfolgeunternehmen schlechter
als andere Bundesbeamte.
Im § 38 sehen wir die Gefahr, dass jedes Unterneh-
men zum Postnachfolgeunternehmen werden kann, ohne
jegliche Kenntnis des Beamtenrechts. Hier sind wir an-
gehalten, die Rechte der Beamtinnen und Beamten zu
wahren. Wie gesagt: Sie stehen in unserer Verantwor-
tung.
Mit einem abschließenden Beispiel möchte ich noch
aufzeigen, welche weitere Regelungslücke durch das
Gesetz entsteht: Was würde mit den Beamtinnen und Be-
amten passieren, wenn die Postbank beispielsweise an
ein ausländisches Unternehmen verkauft würde? Eine
Ausleihe ins Ausland ist im Gesetz nicht geregelt. Sie
würden dann in die Beschäftigungslosigkeit versetzt
werden. Auch hierfür bedarf es einer klaren Regelung.
Auf Grundlage der eingegangenen Stellungnahmen,
die einige Unklarheiten im Gesetzentwurf definiert ha-
ben, und als Ergebnis der Anhörung des Haushaltsaus-
schusses des Deutschen Bundestages lehnen wir den Ge-
setzentwurf ab.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9633
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zu den An-
trägen:
– UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung glo-
bal gestalten – Post 2015-Agenda auf den
Weg bringen
– Armut und soziale Ungleichheit weltweit
überwinden, natürliche Grundlagen bewah-
ren
– Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen für
Klimaschutz und globale Gerechtigkeit
(Tagesordnungspunkt 19)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Diese Aussprache zum
Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „UN-
Ziele für nachhaltige Entwicklung global gestalten –
Post 2015-Agenda auf den Weg bringen“ möchte ich
nutzen, um die Öffentlichkeit erneut für dieses weitrei-
chende Projekt der Vereinten Nationen zu sensibilisie-
ren. Es wird unseren Alltag berühren und ist bisher in
der breiten Wahrnehmung eher untergegangen.
Bereits aus der Debatte zu diesem Thema Ende Fe-
bruar hier in diesem Haus ist hervorgegangen, welche
großen Umbrüche in der internationalen Entwicklungszu-
sammenarbeit 2015 vollzogen werden. Bundesentwick-
lungsminister Gerd Müller sprach von einem „Welt-
zukunftsvertrag“, der durch 17 neue Sustainable
Development Goals, SDGs, – also nachhaltige Entwick-
lungsziele – zwischen entwickelten Staaten, Schwellen-
und Entwicklungsländern dadurch geschlossen werden
soll. Beobachter des Post-2015-Prozesses sprechen so-
gar von einem Paradigmenwechsel in der internationalen
Entwicklungspolitik, da die klassische Aufteilung in Ge-
ber- und Empfängerländer aufgebrochen wird. Die von
einer offenen UN-Expertengruppe formulierten Haupt-
entwicklungsziele für die kommenden 15 Jahre, mit ei-
ner Vielzahl von Unterzielen, lösen die seit dem Jahr
2000 gültigen Millenniumsentwicklungsziele, MDGs,
ab.
In unserem Antrag stellen wir fest, dass die Millen-
niumsentwicklungsziele in vielen Bereichen bedeutende
Fortschritte gebracht haben. Wir zeigen jedoch auch die
Schwachstellen einiger Vorhaben der vergangen Jahre
auf, deren Lösung wir nicht länger aufschieben dürfen.
Deshalb begrüßen wir die internationalen Bemühun-
gen, auf dem soliden Fundament der Millenniumsziele
nachvollziehbare Vorhaben für eine nachhaltige Ent-
wicklung zu gestalten. Wir fordern die Bundesregierung
auf, die internationalen Entwicklungsbemühungen auch
in Deutschland durch kohärente Politikgestaltung sowie
durch Einbindung von Verbänden, Wissenschaft und der
Zivilgesellschaft zu untermauern. Viele dieser Aspekte
hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, BMZ, mit der Erarbeitung
einer „Zukunftscharta“ bereits aufgegriffen. Hervorhe-
ben möchte ich auch die im Antrag genannten Schlüssel-
elemente für Entwicklungszusammenarbeit: Krisenprä-
vention, zivile Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit –
mit diesen Instrumenten tragen wir international dazu
bei, die SDGs zu einem Erfolg zu machen.
Neu ist auch: Die Eigenverantwortung aller Staaten
für die Entwicklung auf ihrem Territorium bekommt in
Zukunft einen höheren Stellenwert. Die CDU/CSU-Frak-
tion begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Gleichzei-
tig schreiben die neuen Ziele erstmals nachhaltige und
globale Entwicklungsvorgaben für alle Unterzeichner
vor. Somit formulieren die SDGs – im Gegensatz zu ih-
rem „Vorgängermodell“ – auch klare Erwartungen an die
bisherigen Geberländer, insbesondere in den Bereichen
Klimaschutz, Produktions- und Konsumgewohnheiten.
Die deutschen Beiträge zur Umsetzung nachhaltiger
Entwicklung sind breit aufgestellt. Hierzu zählen Maß-
nahmen zu Ernährungssicherung und nachhaltiger Land-
wirtschaft, der Erhalt und Schutz der Biodiversität oder
der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen und regio-
naler Gesundheitsversorgung. Wir verpflichten uns auch
dazu, die Emission von Treibhausgasen weiter zurückzu-
fahren. Der Antrag fordert die Bundesregierung dazu
auf, sich auf den UN-Konferenzen in Lima und
Pyeongchang dafür einzusetzen, die globale Erderwär-
mung bis 2050 auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen.
Bevor von der Opposition der Einwand kommt, unser
Fokus auf Eigenverantwortung der Staaten würde einem
Teil der Weltbevölkerung in fragilen Staaten den Zugang
zu Entwicklung verschließen, möchte ich kurz darauf
eingehen: Das BMZ identifiziert die Gruppe der fragilen
Länder anhand einer jährlichen internen Bewertung der
Regierungsführung. Rund 1,5 Milliarden Menschen le-
ben in Ländern, die von Gewalt, Konflikten, unsicheren
politischen Verhältnissen geprägt sind. Die Bundesre-
gierung wird sich deshalb dafür stark machen, dass
auch diktatorische Staatsführungen, die die Post-2015-
Agenda der Vereinten Nationen unterzeichnen, ihren
Anteil für den Erfolg der Ziele leisten. Fakt ist aber
auch: Durch Not- und humanitäre Hilfe helfen wir wei-
terhin jenen, die durch fragile staatliche Strukturen von
Hunger, Flucht und Vertreibung betroffen sind.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass wir dem Pri-
vatsektor eine Rolle bei der Umsetzung von nachhaltiger
Entwicklung beimessen. Insbesondere kleinere und mitt-
lere Unternehmen schrecken bisher vor Investitionen
und Kooperationen in Entwicklungsländern zurück. Das
hat vielfältige Gründe. Wir wollen jedoch versuchen, die
bestehenden Hürden weiter abzubauen und damit zu ei-
ner verstärkten Entwicklung beitragen. Hier könnte ich
mir beispielsweise Erleichterungen bei der Kreditver-
gabe durch Förderbanken und einen Abbau von Regula-
rien vorstellen. Wir müssen es schaffen, dass öffentliche
Mittel eine Vorreiterfunktion einnehmen und als Kataly-
sator für private Finanzierung fungieren. Gute Ansätze
bestehen bereits – sie müssen weiter vorangetrieben wer-
den.
Aus den Reihen der Opposition ist zum Thema Post-
2015-Strategie ein ganzer Chor an konfusen Vorschlägen
zu hören: Da wird gesagt, dass „ein klares Bekenntnis
9634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
der Bundesregierung“ zur Agenda fehle, dass das Trans-
atlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und
den Vereinigten Staaten, TTIP, ein „Wahnsinn“ sei oder
der Text der Entwicklungsziele zu „technokratisch“ da-
herkomme. Die neuen Entwicklungsziele mögen in ein-
zelnen Punkten für manch einen Betrachter oder eine In-
teressengruppe nicht weit genug gehen, sie bilden aber
– und das ist der essenzielle Punkt – einen Konsens der
Weltgemeinschaft für die kommenden Jahre ab. Mit die-
sem Realismus erreichen wir in den nächsten Jahren
mehr als durch einen überzogenen Idealismus, den bei-
spielsweise die Schwellenländer China, Indien und Russ-
land nicht teilen. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat Deutschland eine entschlossene Botschafterin für
nachhaltige Entwicklungsarbeit.
Mit Blick auf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wie
ich bereits erwähnte, überfrachten Sie die Entwicklungs-
ziele in Ihrem Antrag.
Sie unterstellen den Entwicklungszielen, eine „neoli-
berale Agenda“ zu verfolgen. Dies sehen Sie insbeson-
dere im geplanten Freihandelsabkommen der EU mit In-
dien, im EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit
afrikanischen Staaten oder bei TTIP. Auch der Wahler-
folg von Syriza in Griechenland wird Ihrerseits als An-
lass genommen, um „Hoffnungen für einen grundlegen-
den Wandel und die Abkehr von der unsozialen
Austeritätspolitik“ zu propagieren.
Da in Ihrer Initiative der Fokus zur Verabschiedung
eines neuen Zielsystems für die Entwicklungspolitik
vollkommen aus den Augen gerät, lehnen wir den An-
trag ab.
Zum Antrag von Bündnis90/Die Grünen: Dieser geht
davon aus, dass die Industrieländer eine besondere Ver-
antwortung für den globalen Nachhaltigkeitsprozess in
Entwicklung und Umwelt haben. Hiermit fordern Sie
eine deutsche Vorleistung, die von Schwellenländern wie
Brasilien, China und Indien nicht geteilt wird.
Aber: Ein nicht abgestimmtes Handeln der Bundesre-
gierung bringt keinen Erfolg und belastet deutsche und
europäische Unternehmen und Arbeitsplätze, ohne dass
dadurch nennenswerte Fortschritte auf globaler Ebene
erreicht werden.
Nach dem Abschluss der Arbeit der Open Working
Group, OWG, der Vereinten Nationen – für unser Land
arbeitete Staatsministerin Maria Böhmer maßgeblich
mit – muss nun die Umsetzbarkeit der neuen Agenda
analysiert werden. Und hier muss gelten: Die Umset-
zung der 17 Ziele ist für alle Staaten der Vereinten Natio-
nen gültig – auf nationaler Ebene dürfen einfachere Ziele
nicht gegen schwerere ausgespielt werden, nur weil sie
einer größeren Anstrengung bedürfen. Die 17 Ziele bil-
den einen guten Katalog. Aus diesem Grund muss sich
die Bundesregierung auch dafür einsetzen, die SDGs in
ihrer Gesamtheit zu verabschieden.
Meine Botschaft an die Kritiker: Mit Blick nach
vorne ist es viel wichtiger, ein Monitoring-System für
die neuen Entwicklungsziele und ihre Unterziele zu eta-
blieren, statt den Wunschkatalog auf immer weitere
Ziele zu erweitern. Nur durch einen funktionierenden
Kontroll- und Evaluierungsprozess werden wir die
SDGs zu einem noch größeren Erfolg als die MDGs ma-
chen können. Die Herausforderung ist es, einen Prozess
zu entwickeln, der es ermöglicht, auch in Ländern, die
keine etablierten Mechanismen zur Datenerhebung ha-
ben, Entwicklung messen zu können. Wenn wir es schaf-
fen, die Ergebnisse des Monitorings in die praktische
Umsetzung zurückfließen zu lassen, werden wir zügig
einer nachhaltigen Entwicklung näherkommen. Aus die-
sem Grund begrüße ich das Eintreten der Bundesregie-
rung für messbare und quantifizierbare Ziele, „soweit es
der Charakter des jeweiligen Zieles zulässt“. Hier sind
wir auf dem richtigen Weg.
Machen wir uns nochmals klar, wo wir 2015 auf dem
internationalen Entwicklungspfad stehen: Der Gipfel-
Kalender ist dieses Jahr enggestrickt. Der G7-Gipfel in
Elmau unter deutscher Präsidentschaft, der Klimagipfel
in Paris, das Entwicklungsfinanzierungstreffen in Addis
Abeba und die UN-Konferenz in New York im Septem-
ber, wo das neues Zielsystem der Entwicklungszusam-
menarbeit beschlossen werden soll, werfen ihre Schatten
voraus. Als Gesamtheit sind diese Konferenzen eine
Chance für die Weltgemeinschaft, die Weichen für unse-
ren Planeten auf nachhaltiges Wirtschaften zu stellen.
Das klingt für einige vielleicht pathetisch. Wollen wir je-
doch Fragen der globalen Gerechtigkeit und einer sozia-
len Weltordnung in den nächsten Jahrzehnten zufrieden-
stellend beantworten, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen,
die notwendigen Maßnahmen einzuleiten.
Dr. Bärbel Kofler (SPD): Seit Januar laufen die in-
ternationalen Verhandlungen zur Post-2015-Agenda, de-
ren Herzstück die 17 Nachhaltigkeitsziele sind. Jeden
Monat wird derzeit ein weiteres Paket verhandelt, damit
beim UN-Gipfel im September ein neuer Zielkatalog
verabschiedet werden kann. Erst wurde die politische
Erklärung zu Beginn der Agenda verhandelt, dann der
Zielkatalog mit 17 Zielen und 169 Unterzielen, jetzt die
Implementierungsinstrumente, dann ein Kontrollmecha-
nismus und Fragen der Finanzierung.
Die neuen Ziele lösen die Millenniumsentwicklungs-
ziele ab, denn 2015 läuft die Frist zur Erreichung der
Millenniumsentwicklungsziele aus.
Die Bilanz ist gemischt: So sind Erfolge etwa bei der
Armutsbekämpfung, im Kampf gegen Malaria und
Tuberkulose, beim Zugang zu Trinkwasser oder bei der
Grundschulbildung von Mädchen zu verzeichnen. Diese
Fortschritte sind teilweise jedoch regional sehr unter-
schiedlich.
Gerade im Bereich Gesundheit hat uns die Ebola-
Krise eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig funk-
tionierende Gesundheitssysteme für alle Länder sind.
Funktionierende Systeme flächendeckend aufzubauen,
ist sicher keine leichte Aufgabe. Aber sie sind das Fun-
dament, das gebraucht wird, wenn wir erreichen wollen,
was die Nachhaltigkeitsziele zum Thema Gesundheit
vorschlagen.
Auch im Bereich Bildung bedarf es weiterer Anstren-
gungen, um „Bildung für alle“ Wirklichkeit werden zu
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9635
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lassen. Der im April vorgestellte Weltbildungsbericht
der UNESCO zeigt: Viel zu oft entscheiden Armut,
Wohnort, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder Be-
hinderung darüber, welche Bildungschancen Menschen
haben.
Das Risiko, die Grundschule nicht beenden zu
können, ist für Kinder aus sehr armen Familien heute
fünfmal höher als für solche aus sehr reichen. Auch auf
weiterführenden Schulen und Universitäten sind die
Chancen extrem ungleich verteilt, besonders arme, auf
dem Land lebende Mädchen und Frauen werden ausge-
schlossen.
Dabei ist Bildung ein Schlüssel, um soziale Ungleich-
heit zu überwinden und ein Leben ohne Armut zu errei-
chen. Wir brauchen gute öffentliche und gebührenfreie
Bildung, um diese Ungleichheit zu beseitigen, auch das
ist Aufgabe der neuen Nachhaltigkeitsziele. Mit den
Nachhaltigkeitszielen müssen wir es also schaffen, die
guten Entwicklungen der letzten Jahre zu verstetigen
und dort, wo Mängel bestehen, besser zu werden.
Deutliche Defizite gibt es bei der Frage von ökologi-
scher Nachhaltigkeit, aber auch bei der Aufgabe der
Industrieländer, eine substanzielle Entwicklungspartner-
schaft einzugehen und ein entwicklungsfreundliches in-
ternationales Umfeld zu schaffen. Insgesamt haben sich
die Fortschritte angesichts des Klimawandels und der
Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 in den letzten
Jahren verlangsamt.
Das bedeutet, dass viele Themen der Millenniums-
ziele auch in einer neuen Post-2015-Agenda noch einmal
aufgerufen werden müssen.
Dennoch sind die Nachhaltigkeitsziele nicht nur eine
Fortsetzung der bisherigen Entwicklungsziele. Im Un-
terschied zu den Millenniumszielen adressieren die
17 Nachhaltigkeitsziele auch globale Themen, die bisher
nicht berücksichtigt wurden.
Lassen Sie mich einige der neuen Themen und Ziele
nennen: Abbau inner- und zwischenstaatlicher Ungleich-
heiten mit Ziel 10, menschenwürdige Arbeit weltweit
mit Ziel 8, Klimawandel und Energie mit Ziel 7, Urbani-
sierung mit Ziel 11, Menschenrechte, Frieden und
Sicherheit.
Neu ist auch die universelle Geltung der Nachhaltig-
keitsziele. Die Universalität, also die Geltung der Ziele
für alle Länder dieser Erde, macht nachhaltige Entwick-
lung auch zur Aufgabe für Industriestaaten. Es handelt
sich somit nicht mehr um eine auf den Süden bezogene,
rein entwicklungspolitische Agenda, sondern um eine
globale Agenda, die auch für unsere nationalen Politik-
felder Richtschnur wird.
Das ambitionierte Ziel lautet, das Recht auf ein men-
schenwürdiges Leben und soziale Entwicklung mit den
ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten in Ein-
klang zu bringen.
Dies wird uns nur dann gelingen, wenn in New York
alle vorgeschlagenen Ziele verabschiedet werden – auch
die politisch vermeintlich unbequemeren wie die Redu-
zierung von Ungleichheit.
Gut zu hören, dass die deutsche Bundesregierung alle
17 Ziele unterstützt und auch in New York kein Staat den
vorliegenden Zielkatalog verändern möchte.
Wollen wir zukünftig die Nachhaltigkeitsziele errei-
chen, so wird es entscheidend darauf ankommen, dass
wir unsere Politikkohärenz verbessern. Eine bessere
Kohärenz muss zwischen Themenfeldern ebenso ge-
sucht werden wie eine bessere Kooperation zwischen In-
stitutionen.
Die Frage muss sein: Wie kann nationale Politik so
abgestimmt und gestaltet werden, dass sie mit Blick auf
Entwicklungszusammenarbeit und den Erhalt globaler
Güter wie Umwelt und Klima, soziale Gerechtigkeit und
stabile Finanzmärkte an einem gemeinsamen Strang
zieht?
Gerade bei dem Thema „Gute Arbeit weltweit“ zeigt
sich, dass viele nationale Politikfelder betroffen sind, um
globale Missstände zu beheben. Die Industrieländer sind
gefordert; denn oft sind es europäische oder US-ameri-
kanische Unternehmen, die unter ausbeuterischen Be-
dingungen in ärmeren Ländern produzieren lassen.
Ein Blick auf die aktuellen Zahlen der Internationalen
Arbeiterorganisation zeigt: Im Jahr 2013 verdienten rund
900 Millionen Beschäftigte so wenig, dass sie und ihre
Angehörigen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag aus-
kommen mussten. Fast 400 Millionen Menschen ver-
dienten sogar weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. Bei
Menschen mit diesem geringen Einkommen spricht die
Weltbank von absoluter Armut. Zu Recht!
Fast ein Drittel der Beschäftigten in Entwicklungslän-
dern lebt in großer Armut, sogenannte Working poor.
Diesen Menschen ist es nicht möglich, von ihrem
Arbeitslohn die grundlegendsten Lebensbedürfnisse zu
befriedigen.
Die fehlende finanzielle Sicherheit ist dabei jedoch
nicht das einzige Problem. Fast 21 Millionen Menschen
schuften unter sklavenähnlichen Bedingungen. Häufig
finden diese Formen der Ausbeutung versteckt statt.
Katastrophal sind auch die Bedingungen der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in der Textil- oder auch
Elektroindustrie oder im Kohle- und Rohstoffabbau.
Ein besonderes Problem stellt gerade in Entwick-
lungsländern die informelle Arbeit dar. Sie ist nicht
registriert, nicht reguliert und deshalb auch nicht arbeits-
und sozialrechtlich geschützt.
Eben aus all den genannten Gründen ist es wichtig,
hier zu verbindlichen, einheitlichen Standards in der Lie-
ferkette zu kommen.
Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen und ein
positives Beispiel für einen ressortübergreifenden
Ansatz zum Thema „Gute Arbeit weltweit“ vorstellen:
Den Vision Zero Fund.
Letzten Monat haben Arbeitsministerium und Ent-
wicklungsministerium gemeinsam einen Fund konzi-
piert, den Vision Zero Fund, der in den Produktionsstät-
ten in ärmeren Ländern Arbeitsschutzmaßnahmen
möglich machen wird.
9636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
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(D)(B)
Der Fund steckt noch in den Kinderschuhen, wird
aber auch im Rahmen von G 7 in Elmau beraten werden.
Auch Unternehmen aus Industrienationen sollen zur Fi-
nanzierung beitragen und machen es somit möglich, dass
in ihre Zulieferketten hinein Arbeitsschutzmaßnahmen
aufgebaut werden.
Nach Verabschiedung der Nachhaltigkeitsziele im
September 2015 wird es darum gehen müssen: Wer wird
die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zukünftig kon-
trollieren? Eines ist für mich klar, in jedem Fall müssen
Parlamente zukünftig aktiv in die Umsetzung der Nach-
haltigkeitsziele und deren Kontrolle einbezogen sein.
Und noch ein Wort zur Finanzierung der Nachhaltig-
keitsziele. Parallel zu den Post-2015-Verhandlungen in
New York wird die dritte Konferenz zur Entwicklungs-
finanzierung vorbereitet, die im Juli in Addis Abeba
stattfindet. Diese Verhandlungen können wir nicht losge-
löst voneinander betrachten.
Wenn wir im Herbst in New York eine ambitionierte
Post-2015-Agenda verabschieden wollen, müssen wir
im Sommer in Addis eine verbindliche Aussage dazu
machen, wie unser finanzieller Beitrag zur Umsetzung
dieser Agenda aussieht.
Wichtig für unsere internationale Glaubwürdigkeit ist
auch eine klare und verbindliche Aussage dazu, bis
wann wir das 0,7-Prozent-Ziel umsetzen werden. Die
Einführung der Finanztransaktionsteuer müssen wir wei-
ter voranbringen. Die Einnahmen aus der Finanztransak-
tionsteuer müssen auch für Entwicklungszusammenar-
beit und den internationalen Klimaschutz eingesetzt
werden. Das wäre ein wichtiger deutscher Beitrag für
eine nachhaltige globale Entwicklung.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Unter dem Eindruck
der Flüchtlingskatastrophe mit mehr als 1 000 Toten der
vergangenen Tage und Wochen diskutieren wir heute
über die kommenden Entwicklungsherausforderungen
und nachhaltigen Entwicklungsziele, SDGs, auch im
Vorfeld des G-7-Gipfels im Juni in Bayern.
Deshalb möchte ich auch zunächst meiner Trauer und
meiner Wut Ausdruck verleihen über den Tod so vieler,
für uns namenloser Menschen, der eindeutig hätte ver-
hindert werden können! Der Tod von Frauen, Männern,
Kindern und Alten hätte verhindert werden können,
wenn sich die Bundesregierung für die Verlängerung von
Mare Nostrum oder noch besser für ein rein ziviles See-
notrettungsprogramm eingesetzt und im Haushalt Geld
dafür eingestellt hätte. Die Anträge der Fraktion Die
Linke lagen im letzten Haushalt dazu vor, Sie hätten nur
zustimmen müssen!
Das heißt, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Regierungsfraktionen, Sie können auch nicht sagen, Sie
waren nicht informiert; nein, es wurde schlichtweg aus
politischem Kalkül kein Geld für ein Seenotrettungspro-
gramm im Mittelmeer zur Verfügung gestellt, weil Sie es
für wichtiger erachtet haben, ein deutliches Signal an die
Schlepperbanden und die potenziellen Flüchtlinge auf
dem afrikanischen Kontinent zu senden: Es gibt auch in
höchster Not keine Rettung mehr auf hoher See, deshalb
wagt nicht die Überfahrt! – Und das unter Inkaufnahme
von Toten.
Die Frontex-Initiative Triton kann und will ja auch
keine Alternative dazu sein. Das ist ein Grenzsiche-
rungsregime, kein Rettungsprogramm. Deshalb kann
und muss die einzige ernsthafte menschliche und zivili-
satorische Antwort auf die Katastrophe im Mittelmeer
sein: Sofortige Wiederaufnahme eines umfassenden See-
notrettungsprogrammes, legale, sichere Fluchtwege schaf-
fen und eine Erhöhung der geregelten Aufnahme von
Flüchtlingen in Europa.
Robuste militärische Mandate, wie nun von der EU
vorgeschlagen, um Schlepperbanden bzw. Flüchtlings-
boote zu bekämpfen und zu zerstören, ähnlich der mili-
tärischen Pirateriebekämpfung, lehnen wir ab; das be-
deutet in seiner Konsequenz nichts anderes als einen
bewaffneten Krieg gegen Flüchtlinge.
Wenn wir über Flüchtlinge reden, dann müssen wir
vor allem auch über Fluchtursachen reden. Dazu zählen
Krieg, Unterdrückung, Verfolgung, Armut, Umwelt- und
Klimazerstörung. Das zeigt, Europa bzw. die Regierun-
gen in der EU werden mit den Folgen ihrer eigenen Poli-
tik nun massiv konfrontiert.
Viele Flüchtlinge kommen aus Staaten mit (Bürger-)
Kriegen, die durch Waffenexporte und militärische Inter-
ventionen – siehe Irak – sowie eine dezidierte Regime-
Change-Politik – siehe Libyen und Syrien – vonseiten
der USA und EU-Staaten destabilisiert wurden. Viele
Krisenländer auf dem afrikanischen Kontinent wurden
und werden durch IWF- und Weltbankprogramme sozial
destabilisiert und durch die neoliberale Freihandelspoli-
tik der EU ausgebeutet.
Wer weiterhin, wie die Bundesregierung in ihrer
Afrika-Strategie, den Zugang zu billigen Rohstoffen, die
aggressive Öffnung von Märkten und die militärische
Präsenz ausbauen will, braucht sich über noch mehr
Flüchtlinge nicht zu wundern.
Andersherum gesprochen: Die weltweite Diskussion
und Verabschiedung neuer nachhaltiger Entwicklungs-
ziele – zu denen unter anderem gehören: Armut been-
den, Abbau von Ungleichheiten in und zwischen Staa-
ten, Ernährungssicherheit, nachhaltige Landwirtschaft,
Wirtschaft und menschenwürdige Arbeit, nachhaltiger
Konsum und Produktion, Kampf dem Klimawandel –
muss mit der neoliberalen Doktrin von Profitmaximie-
rung, Wettbewerbsfähigkeit, marktkonformer Demokra-
tie und Privatisierungswahn brechen, sonst werden so-
ziale und Umweltkrisen verschärft werden.
Soziale Rechte und Menschenrechte müssen im Rah-
men des SDG-Prozesses nachweislich gestärkt und sys-
tematisch kontrolliert werden. Rüstungsexporte müssen
gestoppt und Rüstungsausgaben nicht, wie nun beschlos-
sen, erhöht, sondern im Gegenteil für Armutsbekämp-
fung und Klimaschutz umgewidmet werden. Alternative
Handelsmandate, die nachhaltige Entwicklung ermögli-
chen, müssen im Rahmen der EU entwickelt und einge-
führt werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9637
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Der bereits beschlossene Aufwuchspfad für die Kli-
maschutz- und Anpassungsfinanzierung bis zu 100 Mil-
liarden US-Dollar pro Jahr bis 2020 durch die Industrie-
länder muss realisiert werden, und die Mittel müssen
zusätzlich zu bereits gemachten Zusagen bereitgestellt
werden. Für den 2-Grad-Celsius-Grenzwert als absoluten
Höchstwert für die globale Erwärmung unter besonderer
Berücksichtigung der Verantwortung der Industrieländer
muss endlich ein Ausstieg aus der Braunkohleverstro-
mung bundesweit bis 2040 angegangen werden.
Wir fordern zudem einen internationalen Kompensa-
tionsfonds bei den Vereinten Nationen, der den kostenlo-
sen Transfer klimafreundlicher Technologien organisiert
und einen Ausgleich für koloniales Unrecht ermöglicht.
All diese Forderungen können nur in einem breiten
Prozess gesellschaftlicher Beteiligung umgesetzt wer-
den. Deshalb brauchen wir auch keine undemokrati-
schen G-7/G-8-Formate auf weltpolitischer Bühne, son-
dern die Stärkung der Vereinten Nationen und ihrer
Organisationen. Diese Forderungen werden wir auch im
Rahmen der Proteste gegen den G-7-Gipfel in Elmau im
Juni auf die Straße tragen.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Jahr 2015 als große Chance für einen Durch-
bruch bei Klimaschutz und globaler Gerechtigkeit zu be-
greifen, das ist die Aufgabe, die die Bundesregierung
immer noch viel zu wenig annimmt. Nur so kann der
richtige Schritt hin zur sozial-ökologischen Transforma-
tion gelingen. Denn die Ergebnisse der Verhandlungen
um ein neues Klimaabkommen, die Konferenz zur Ent-
wicklungsfinanzierung sowie die Verhandlungen über
globale Nachhaltigkeitsziele – SDGs – werden für die
kommenden Jahrzehnte die internationale, europäische
und deutsche Politik prägen und die Spielräume für
nachhaltiges Handeln definieren. Vieles wird davon ab-
hängen, wie ambitioniert und glaubwürdig die EU und
die Bundesregierung im Vorfeld der Konferenzen auftre-
ten. Als Gastgeber des G-7-Gipfels hat Deutschland hier
eine ganz besondere Verantwortung und muss zum Vor-
reiter werden.
Aber wir vermissen bei der Bundesregierung den
politischen Willen zu einer völkerrechtlich verbindli-
chen Klima- und Gerechtigkeitspolitik, zu einem Regie-
rungshandeln, das seine Politikfelder aufeinander ab-
stimmt. Es braucht eine deutliche Erhöhung der Mittel
zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung. Und wir for-
dern, das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedli-
chen Verantwortlichkeiten auf alle Bereiche der Nach-
haltigkeitsagenda auszuweiten und nicht nur für den
Klimawandel anzuwenden.
Wir sagen, der Prozess muss politischer und in die
Gesellschaft getragen werden. Der Diskussionsprozess
im Vorfeld zu den SDGs ist bislang insgesamt zu techno-
kratisch. Die 17 Ziele gilt es beizubehalten. Es müssen
ambitionierte und aufeinander abgestimmte Ziele be-
schlossen werden, die den bestehenden Herausforderun-
gen begegnen und den Weg zu einer sozial-ökologischen
Transformation bereiten. Und die Gipfel in 2015 müssen
endlich zusammengedacht und zusammengebracht wer-
den. Immer noch ist unklar, wie der Nachhaltigkeitspro-
zess und der Klimaprozess miteinander verschränkt wer-
den sollen. Dabei ist Klima ein eigenes Ziel der
Nachhaltigkeitsagenda, wie sie von der Open Working
Group vorgeschlagen wurde.
Für uns in Deutschland heißt das konkret, dass der
Kohleausstieg auf den Weg gebracht werden muss. Es
geht darum, teure Energieimporte einzusparen und die-
ses Geld besser in unsere Zukunft zu investieren.
Deutschland braucht ein Klimaschutzgesetz, um bis
2050 jährliche Reduktionsziele verbindlich festzulegen
und einen CO2-Mindestpreis einzuführen. Wir fordern,
bis zur Finanzierungskonferenz in Addis Abeba im Juli
endlich einen transparenten und realistischen „Aufhol-
plan“ für das 0,7-Prozent-Versprechen vorzulegen. Denn
trotz des Zuwachses für Entwicklungszusammenarbeit
und internationale Klimafinanzierung ist das 0,7-Pro-
zent-Ziel noch immer in weiter Ferne. Das lässt sich aber
leicht erreichen, wenn wir nur den Willen dafür haben,
indem wir Maßnahmen ergreifen, die eine doppelte Steu-
erungsfunktion haben, die Fehlentwicklungen zurück-
nehmen und damit Gelder zur Finanzierung des sozial-
ökologischen Umbaus bereitstellen: den Abbau von über
50 Milliarden Euro umwelt- und klimaschädlicher Sub-
ventionen, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer,
die insbesondere den Hochfrequenzhandel weniger at-
traktiv macht und die Finanzindustrie an den Kosten der
sozial-ökologischen Transformation beteiligt, sowie die
Verabschiedung vom deutschen Versprechen gegenüber
der NATO, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszuge-
ben. Stattdessen sollten wir diese Gelder lieber in Ent-
wicklung und Klima investieren.
Aber der Antrag der Koalition erscheint mir wie ein
Antrag aus der Entwicklungspolitik der Vergangenheit.
Darin wird so getan, als ob die Nachhaltigkeitsagenda
lediglich eine Verlängerung der Millenniumsentwick-
lungsziele wäre. So werden zahlreiche Anforderungen
an den internationalen Prozess und vor allem an die Ent-
wicklungsländer, wie etwa der Aufbau von Steuersyste-
men, beschrieben. Welche Anpassungen in Deutschland
bei unserer Wirtschaft, unserer Landwirtschaft, unserer
Energiepolitik gemacht werden müssen, dazu schweigt
der Antrag aber vollständig. Dementsprechend verharrt
der Antrag in der Silomentalität des 20. Jahrhunderts.
So stocken die Verhandlungen etwa vor allem bei der
Anerkennung des Prinzips der Common but Differentia-
ted Responsibilities, das auf alle Bereich der Nachhaltig-
keit angewendet werden soll und nicht bloß auf den
Klimabereich. Hier sperrt sich auch die Bundesregie-
rung, da dies teuer wäre sowie eine Politikveränderung
hier in Deutschland erfordern würde. Gleichzeitig sper-
ren sich die Schwellen- und Entwicklungsländer vor al-
lem bei den Verhandlungen zum Ziel 16, wo es um gute
Regierungsführung geht. Ziel 16 ist jedoch entschei-
dend. Es ist inzwischen anerkannt, dass große Teile der
Finanzierung von Entwicklung durch Eigenmittel der
Entwicklungsländer erbracht werden müssen. Darum ist
der Aufbau von fairen und eigenen Steuersystemen ein
zentraler Hebel für nachhaltige Entwicklung. Um die
Blockaden entlang eigentlich überholter Nord-Süd-Kon-
stellationen aufzubrechen, käme es auf reiche Staaten
9638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
wie Deutschland an, um in Vorleistung zu treten. Dazu
ist Deutschland aber nicht bereit.
Die Debatte um Nachhaltigkeit betrifft alle Politikfel-
der in Deutschland. Auf dem Antrag stehen aber nur die
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
von CDU/CSU und SPD. Andere Fachpolitiker wurden
offensichtlich gar nicht gefragt. Auch frage ich mich,
wozu es diesen Antrag überhaupt braucht, wenn im Ver-
gleich zum Kabinettsbeschluss vom 3. Dezember gar
nichts wesentlich Neues drinsteht. Stattdessen über-
nimmt dieser Antrag die vielen schönen Worte von
Minister Müller, während es der gesamten Bundesregie-
rung an einer klaren Linie in ihrem politischen Handeln
fehlt. Jedes Ressort kocht sein eigenes Süppchen, gerne
auch einmal im Widerspruch zu anderen Politikfeldern.
Frau Merkel will TTIP und redet vom freien Handel,
während Minister Müller von einem fairen Handel
spricht. Minister Steinmeier reist für Friedensgespräche
durch die Krisen dieser Welt, während Frau von der
Leyen weitere Milliarden für teure und unsinnige Rüs-
tungsprojekte ausgibt. Mit einer solchen Politik ohne ge-
meinsamen Kompass wird es für Deutschland unmög-
lich sein, die Chancen, die das Gipfeljahr bietet, zu
nutzen. Aufgrund dieser widersprüchlichen Politik und
aufgrund der fehlenden Anerkennung, dass die Nachhal-
tigkeitsziele sich in erster Linie an uns selbst richten,
können wir diesem Antrag nicht zustimmen, sondern
werden uns enthalten.
Der Antrag der Linken dagegen anerkennt die breite
und universelle Agenda des Post-2015-Prozesses und
spricht zahlreiche Politikfelder wie Handel, Böden,
Wald oder Ozeane an, in denen die Nachhaltigkeitsa-
genda umgehend und vor allem auch von Deutschland
umgesetzt werden muss. Als besonderen Fokus der
Nachhaltigkeit konzentriert sich der Antrag auf die
Überwindung der sozialen Ungleichheit innerhalb und
zwischen Staaten. Allerdings gerät dabei der Zusammen-
hang mit den notwendigen ökologischen Maßnahmen et-
was in den Hintergrund. Ökologie, soziale Ungleichheit
und der Schutz der Menschenrechte müssen für die so-
zial-ökologische Transformation zusammen angegan-
gen werden. Außerdem ist der Antrag der Linken, wenn
er von „Entwicklungshilfe“ statt von „Entwicklungszu-
sammenarbeit“ spricht, auch noch nicht in der Gegen-
wart angekommen. Darum werden wir uns auch zu die-
sem Antrag enthalten.
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit: Das BMUB setzt sich gemein-
sam mit dem BMZ dafür ein, dass beim UNO-Gipfel der
Staats- und Regierungschefs im September dieses Jahres
in New York eine ambitionierte Post-2015-Agenda für
nachhaltige Entwicklung beschlossen wird.
Diese Agenda soll der Welt neuen Rückenwind für
den Wandel zu einer nachhaltigeren Entwicklung geben.
Denn wir brauchen ein globales Entwicklungsmodell,
das neben den ökonomischen und sozialen Chancen
auch die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde res-
pektiert.
Klimawandel, Verlust von Biodiversität, Armut, Hun-
ger und ein mit einem hohen Ressourcenverbrauch ver-
bundenes Wirtschaften zeigen, dass weltweit umgesteu-
ert werden muss.
Damit der Wandel zu einem wesentlich nachhaltige-
ren Wirtschaften weltweit gelingt, müssen alle Staaten
dazu beitragen. Daher wird die Post-2015-Agenda – an-
ders als die Millenniumsentwicklungsziele – universell
anwendbar sein. Das heißt, wir müssen die Post-2015-
Agenda auch hier in Deutschland entschlossen umset-
zen. Mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie haben
wir ein gutes Instrument, das wir für die Umsetzung der
globalen Ziele der Agenda nutzen und weiterentwickeln
werden.
Der von den Vereinten Nationen vorgelegte Katalog
mit 17 weltweit gültigen Nachhaltigkeitszielen ist ein
klares Bekenntnis zur weltweiten Verbesserung der Le-
bensbedingungen und zum Schutz natürlicher Ressour-
cen. Die Ziele erfassen alle drei Dimensionen der Nach-
haltigkeit: Soziales, Wirtschaft und Umwelt.
Besonders bemerkenswert ist, dass es gelungen ist,
einen Konsens zu erreichen, der weit über die Millen-
niumsziele hinausgeht und der wichtige neue Heraus-
forderungen wie Ressourceneffizienz und umweltver-
trägliches Wirtschaften aufgreift.
Für den weiteren Verhandlungsprozess bis September
gilt es nun, dieses Ambitionsniveau zu halten. In den
bisherigen Sitzungen in New York ist erfreulicherweise
deutlich geworden, dass kein Staat eine Neuverhandlung
des Katalogs will. Allerdings müssen wir den Schwel-
len- und Entwicklungsländern Wege zur Umsetzung der
Agenda aufzeigen und sie dabei auch unterstützen, wenn
wir wollen, dass sie voll hinter dem Zielkatalog stehen.
Nur wenn der Finanzierungsgipfel im Juli in Addis
Abeba zu einem für alle Seiten zufriedenstellenden Er-
gebnis kommt, werden wir im September die Agenda,
die die Welt braucht, verabschieden können.
Für den Erfolg der Agenda wird ferner wichtig sein,
dass ihr Kern weltweit für alle Menschen verständlich
ist. Die Bundesregierung hat daher sechs politische,
leicht verständliche Hauptbotschaften formuliert, die wir
in die Verhandlungen eingebracht haben.
Aus unserer Sicht wird dies die Kommunikation der
inhaltlich komplexen Agenda wesentlich erleichtern und
zur erfolgreichen Umsetzung beitragen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren
(3. Opferrechtsreformgesetz) (Tagesordnungs-
punkt 20)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Betrachtet man
die Geschichte der Strafverfolgung, die historische
Kriminologie und den Umgang mit Schuld und Sühne,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9639
(A) (C)
(D)(B)
so muss man feststellen, dass es eigentlich erst viel zu
spät, genau genommen erst seit 1986, auch um Opfer-
schutz geht. Vorher stand nur die Ermittlung des Täters
und dessen Bestrafung im Vordergrund. Und dies
zunächst auch ohne Berücksichtigung der Belange des
Opfers.
Erst die modernen Erkenntnisse der Kriminologie,
vor allem aber der Psychologie offenbarten, welche
massiven Auswirkungen für das Opfer oftmals mit dem
Ermittlungsverfahren und dem prozessualen Verfahren
verbunden waren.
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im
Strafverfahren schließen wir nun letzte Opferschutzlü-
cken.
Wichtig erscheinen mir hierzu vor allem die folgen-
den Bestandteile des vorliegenden Entwurfs: Mit dem
neuen § 48 Absatz 3 StPO wird nochmals ganz beson-
ders dem Erfordernis besonderer Schutzbedürftigkeit be-
gegnet, wenn der Zeuge auch zugleich der Verletzte der
Straftat ist.
Mögliche Maßnahmen wie die getrennte oder die au-
diovisuelle Vernehmung, der Ausschluss der Öffentlich-
keit oder der Verzicht auf nicht unerlässliche Fragen zum
persönlichen Lebensbereich können zukünftig weitere
Traumatisierungen des Opfers verhindern.
Ich erachte diesen verfeinerten „Instrumentenkasten“,
so will ich es einmal nennen, als einen der wesentlichen
Aspekte des vorliegenden Entwurfs. Denken wir daran:
Es gibt psychologische Erhebungen, die belegen, dass in
Einzelfällen die Aufarbeitung der Geschehnisse in der
Verhandlung für manche Opfer ebenso traumatisch war
wie das Erleiden und Durchleben der Tat selbst.
Genau in diese Richtung geht auch das neu einge-
führte Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung.
Hier kann der schutzbedürftige Verletzte nichtjuristische
Betreuung vor, während und nach der Hauptverhandlung
erfahren. Es soll ein Instrument sein, um im gesamten
Strafverfahren die psychische Belastung für das Opfer
möglichst gering zu halten, um eine Sekundärviktimisie-
rung zu vermeiden. Hierfür können sogar psychosoziale
Prozessbegleiter während der Hauptverhandlung, spe-
ziell auch während der Vernehmung des Verletzten, an-
wesend sein.
Diese Prozessbegleitung muss selbstverständlich für
den Verletzten kostenfrei sein. Deshalb war es wichtig,
die Kosten durch Erhöhung der Gerichtsgebühren abzu-
gelten. Sicher ist hier im Gesetzgebungsverfahren die
Schwierigkeit deutlich geworden, diese Kosten der Höhe
nach ungefähr zu kalkulieren – zumal sich Erfahrungen
aus anderen Ländern nicht einfach übertragen lassen.
Aber diese Schwierigkeit sollte uns nicht schrecken.
Wer dem Opfer effektiven Schutz zur Seite stellen will,
der muss auch Sorge dafür tragen, dass der Verletzte die
Leistungen ohne finanzielle Hürden in Anspruch neh-
men kann.
Damit wichtige Opferschutzinstrumente aber über-
haupt zielgerichtet eingesetzt werden können, müssen
die Betroffenen auch wissen, welche Rechte ihnen tat-
sächlich in welcher Phase des Verfahrens zustehen. Des-
halb war es wichtig, umfassende Unterrichtungspflich-
ten zu formulieren. Der Verletzte muss wissen, welche
Befugnisse ihm zustehen. Hier zeigen die neuen §§ 406 i
und 406 j StPO sehr eindrucksvoll, über welche Mög-
lichkeiten an Opferschutzmaßnahmen im Verfahren und
außerhalb des Strafverfahrens der Verletzte zu unterrich-
ten ist. Noch eindrucksvoller ist für mich persönlich
jedoch der Umstand, dass die Lektüre der dort aufge-
führten Möglichkeiten zeigt, wie ausgereift und fein-
gliedrig unsere Opferschutzsystematik in der StPO mitt-
lerweile ist.
Diese Unterrichtungs- und Informationspflichten sind
umfassend. So ist der Verletzte auch darüber zu infor-
mieren, bei welcher Stelle welche Opferschutzmaß-
nahme angeboten wird.
Abschließend darf ich feststellen, dass wir im vorlie-
genden Entwurf nicht nur europäischen Vorgaben der
Opferschutzrichtlinie gerecht geworden sind, sondern
ich glaube, dass es uns durchaus gelungen ist, Rahmen-
bedingungen zu schaffen, durch die sich der oder die
Verletzte einer Straftat ernst genommen und angenom-
men fühlt.
Sicher wird man das Geschehene damit nicht rück-
gängig machen können. Betrachtet man die Realität, ist
meines Erachtens jedoch schon viel gewonnen, wenn die
Situation des Opfers durch die Aufklärung der Straftat
nicht noch verschlechtert wird.
In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Bera-
tung.
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 25. Oktober
2012 wurde auf europäischer Ebene die Richtlinie 2012/
29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über
Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und
den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur
Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L
315 vom 14.11.2012, S. 57; Opferschutzrichtlinie 2012/
29/EU) verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland
hat sich bei den Verhandlungen dieser Opferschutzricht-
linie aktiv für die Schaffung gemeinsamer Mindestrechte
innerhalb der Europäischen Union eingesetzt.
Die Opferschutzrichtlinie ist bis zum 16. November
2015 umzusetzen.
In verschiedenen Bereichen des Strafverfahrensrechts
löst die Richtlinie Umsetzungsbedarf aus, dem eine An-
passung des geltenden Rechts durch konkretisierende
Änderungen Rechnung tragen muss. Dies ist auch in
Deutschland der Fall.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf werden vor allem
punktuelle Änderungen in der StPO vorgenommen.
Soweit die Opferschutzrichtlinie erweiterte Informa-
tionsrechte des Verletzten vorsieht, werden diese in den
Vorschriften der §§ 406 d ff. StPO-E geregelt.
Ebenso werden erweiterte Informationsrechte des
Verletzten bei Anzeigeerstattung nach § 158 StPO-E ein-
geführt.
9640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Schließlich wird mit dem Entwurf die psychosoziale
Prozessbegleitung im deutschen Strafverfahrensrecht
verankert. Die neuen Vorschriften hierzu knüpfen an die
Regelungen zum Verletztenbeistand in den §§ 406 f und
406 g StPO-E an.
Letztlich sieht der Entwurf eine Korrektur an den mit
dem StORMG eingeführten Neuerungen in § 171 b des
Gerichtsverfassungsgesetzes, GVG, vor.
Obwohl der vorliegende Gesetzentwurf bereits viele
wichtige Aspekte beachtet, sind noch dringend Verände-
rungen vorzunehmen.
Der Bundesrat hat am 27. März 2015 eine Stellung-
nahme zu dem Gesetzentwurf abgegeben. Zu dieser Stel-
lungnahme liegt auch bereits die Gegenäußerung der
Bundesregierung vor.
Zu den in der Stellungnahme angesprochenen sieben
Punkten möchte ich zunächst in der gebotenen Kürze
Stellung nehmen.
Erstens. Der Bundesrat geht zunächst auf den hohen
Erfüllungsaufwand ein. Er führt hierzu aus, dass der Ge-
setzentwurf von einem jährlichen Erfüllungsaufwand
von 90 000 Euro ausgeht.
Grundlage für diese Schätzung sind laut Gesetzent-
wurf die Erfahrungen aus Mecklenburg-Vorpommern.
Hierzu führt der Bundesrat aus, dass davon auszugehen
ist, dass die Beträge in Mecklenburg-Vorpommern in un-
mittelbarem Zusammenhang mit der Zahl der Einwohner
stehen. Rechnet man den Erfahrungswert auf die Ein-
wohnerzahl in Deutschland hoch, ergibt sich daraus be-
reits der 50-fache Betrag, also über 8,7 Millionen Euro.
Die Bundesregierung tritt dieser Berechnung entge-
gen. Sie verweist darauf, dass der Erfüllungsaufwand
sich danach richten wird, welches Finanzierungsmodell
die Länder wählen. Nach § 406 g Absatz 2 Satz 2 StPO-E
können die Länder selbst entscheiden, welche Strukturen
und damit auch welches Finanzierungsmodell – stellen-
bezogen oder fallbezogen – sie zur Umsetzung der psy-
chosozialen Prozessbegleitung wählen. Ebenso können
die Länder bestimmen, welche Pauschalen oder Vergü-
tungen angesetzt werden. Dies scheint folgerichtig und
ist demnach zugrunde zu legen.
Zweitens. Der Bundesrat fordert, dass in § 406 d Ab-
satz 3 Satz 2 die Wörter „wenn die Anordnung von Un-
tersuchungshaft gegen den Beschuldigten zu erwarten
ist“ durch die Wörter „wenn Untersuchungshaft gegen
den Beschuldigten vollzogen wird“ zu ersetzen.
Der Bundesrat hält den im Gesetzentwurf genannten
Zeitpunkt für verfrüht. Eine belastbare Einschätzung der
Wahrscheinlichkeit einer späteren Untersuchungshaft ist
bei Anzeigeerstattung nur in Ausnahmefällen möglich.
Die Bundesregierung hält der Stellungnahme des
Bundesrates insofern entgegen, dass es sich bei der Re-
gelung nur um eine Belehrungspflicht gegenüber dem
Verletzten handelt. Er soll darüber informiert werden,
dass er ein Recht hat, auf Antrag mitgeteilt zu bekom-
men, ob gegen den Beschuldigten freiheitsentziehende
Maßnahmen angeordnet oder beendet sind oder ob Voll-
zugslockerungen oder Urlaub gewährt wurden.
Da eine Belehrungspflicht dann überflüssig wäre,
wenn der Verletzte nur dann belehrt wird, wenn die Un-
tersuchungshaft bereits vollzogen ist, ist der Einschät-
zung der Bundesregierung insoweit zuzustimmen.
Drittens. Der Bundesrat fordert, dass in § 406 g Ab-
satz 2 Satz 2 nach dem Wort „es“ die Wörter „nach Maß-
gabe des § 406 f Absatz 2“ eingefügt werden. Bei der
Regelung des § 406 g Absatz 2 Satz 3 gibt es keine Mög-
lichkeit für das Gericht, einen ohne Beiordnung gewähl-
ten Prozessbegleiter abzulehnen, obwohl dessen Anwe-
senheit bei der Vernehmung des Verletzten vielleicht
untunlich ist.
Im Gegensatz hierzu enthält § 406 f Absatz 2 bei der
Wahl der Vertrauensperson eine entsprechende Möglich-
keit. Das Gericht muss die Anwesenheit der Vertrauens-
person bei der Vernehmung ausnahmsweise nicht gestat-
ten, wenn hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet
werden könnte.
Eine entsprechende Regelung auch für den gewählten
Prozessbegleiter einzufügen hält die Bundesregierung
richtigerweise für eine gute Idee und wird den Vorschlag
weiterverfolgen.
Viertens. In seiner Stellungnahme spricht der Bundes-
rat einen besonders wichtigen Punkt an. Im Einzelnen
geht es darum, dass in § 406 g StPO-E eine genaue De-
finition der Befugnisse, Aufgaben und Pflichten des
psychosozialen Prozessbegleiters ergänzt werden muss.
Hierbei ist vor allem darauf zu achten, dass die Regelung
ein Verbot von Gesprächen über die tat- und fallbezo-
gene rechtliche Beratung enthält.
Bereits in ihrer Gegenäußerung räumt die Bundesre-
gierung ein, dass diesem Anliegen – der Trennung von
Beratung und Begleitung durch die psychosoziale Pro-
zessbegleitung – grundsätzlich Rechnung zu tragen ist.
Auf einer solchen Änderung der Regelung muss be-
standen werden.
Fünftens. Der Bundesrat wendet sich weiter mit der
Prüfbitte, ob nach § 406 g StPO-E ein Auslagenersatz-
und Honoraranspruch des beigeordneten Prozessbeglei-
ters zu ergänzen ist, an die Bundesregierung.
Die Bundesregierung lehnt eine entsprechende Rege-
lung ab. Zur Begründung führt die Bundesregierung in-
soweit aus: Eine bundeseinheitliche Regelung eines
Auslagenersatz- und Honoraranspruchs erscheint weder
notwendig noch sachgerecht, da derzeit zwei Finanzie-
rungsmodelle bestehen: Ein Teil der Länder wird stellen-
bezogen finanzieren, sodass die – zusätzliche – Begrün-
dung eines Honoraranspruchs des Prozessbegleiters mit
diesem Finanzierungsmodell nicht vereinbar ist. Ein an-
derer Teil der Länder, die private Prozessbegleiter aner-
kennen wollen, haben die Möglichkeit, eine eigene Ver-
gütungsregelung zu schaffen. Eine bundeseinheitliche
Regelung könnte nicht beiden Finanzierungsmodellen
gleichzeitig gerecht werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9641
(A) (C)
(D)(B)
Dieser Auffassung der Bundesregierung ist zuzustim-
men.
Sechstens. Der Bundesrat verlangt weiter, Artikel 3
Nummer 2 des Kostenverzeichnisses in der Gebühren-
spalte zu ändern.
Zur Begründung seiner Forderung verweist der Bun-
desrat in seiner Stellungnahme darauf, dass im Kosten-
recht das Veranlassungsprinzip gilt. Dieses gebiete es,
dem Verurteilten die Kosten der wegen seiner Tatbege-
hung erforderlich gewordenen Prozessbegleitung grund-
sätzlich in voller Höhe aufzuerlegen. Dass diese Kosten
durchschnittlich mindestens 1 100 Euro betragen, sei all-
gemein anerkannt.
Die Bundesregierung verwirft diesen Vorschlag mit
der Begründung, dass der Gesetzentwurf für Strafverfah-
ren mit psychosozialer Prozessbegleitung Zuschläge auf
die Gerichtsgebühren vorsieht. Im Interesse der Resozia-
lisierung des Verurteilten wurden diese Zuschläge auf
maximal 750 Euro begrenzt. Eine Erhöhung der Gebüh-
renzuschläge würde auch zu einem Missverhältnis zu
den Ausgangsgebühren für Verfahren ohne psychosozi-
ale Prozessbegleitung führen.
Dieser Ansicht ist zuzustimmen.
Siebtens. Letztlich fordert der Bundesrat, das Inkraft-
treten des Gesetzes von 2016 auf 2017 zu verschieben.
Der Umsetzungsbedarf bei der Einführung der psycho-
sozialen Prozessbegleitung erfordert mehr Zeit. Diesem
Anliegen will zwar die Bundesregierung Rechnung tra-
gen. Da die Umsetzungsfrist für die Richtlinie aber am
16. November 2015 abläuft und bei Nichtumsetzung ein
Vertragsverletzungsverfahren droht, bin ich gegen eine
solche zeitliche Verschiebung.
Neben diesen Forderungen aus den Ländern ist es be-
sonders wichtig und unabänderlich, dass die folgenden
Forderungen umgesetzt werden:
Erstens ist eine gesetzliche Definition des „Verletz-
ten“ dringend notwendig, weil § 48 Absatz 3 StPO-E.
(„Ist der Zeuge zugleich Verletzter...“) dem erkennenden
Gericht die zwingende Prüfung auferlegt, festzustellen,
ob einem Zeugen als „Verletztem“ besondere Schutz-
rechte zuzubilligen sind. Dabei muss das Gericht ver-
bindlich entscheiden, ob ein Zeuge „Verletzter“ ist.
Damit muss das Gericht immer bereits einen Teil der
Beweisaufnahme vorwegnehmen, da es ja feststellen
muss, dass der Verletzte durch die angeklagte Tat ver-
letzt wurde. Eine solche vorweggenommene Beweis-
würdigung ist mit den Grundsätzen des Strafverfahrens
kaum vereinbar.
Zweitens sollte für die psychosoziale Prozessbeglei-
tung das Verbot des Gesprächs über den Tatvorwurf als
Standard vorgegeben werden. Hierbei kann auf die wei-
teren Ausführungen in der Stellungnahme des Bundesra-
tes Bezug genommen werden.
In der parlamentarischen Debatte über den vorliegen-
den Gesetzentwurf werden sicher noch einige Punkte
diskutiert und verhandelt werden müssen. Ich bin aber
sicher, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf bereits
auf dem richtigen Weg sind.
Dirk Wiese (SPD): Heute ist ein guter Tag für den
Schutz von Opfern schwerer Straftaten. Bundesminister
Heiko Maas hat die Umsetzung der EU-Richtlinie als
Chance genutzt und legt nun einen Gesetzentwurf vor,
der im Bereich der psychosozialen Prozessbegleitung
neue Maßstäbe setzt und weit über die Anforderungen
der EU-Richtlinie hinausgeht.
Lassen Sie mich aber kurz weitere Änderungen des
vorliegenden Gesetzentwurfs skizzieren, bevor ich auf
die psychosoziale Prozessbegleitung eingehe.
Wir stärken die Informationsrechte des oder der Ge-
schädigten hinsichtlich Zeit und Ort der Hauptverhand-
lung und der gegen den Angeklagten erhobenen Be-
schuldigungen. Zusätzlich werden die bislang in §§ 406 d
bis 406 h StPO normierten Informationspflichten zum
besseren Verständnis neu strukturiert und erweitert.
Bei der Erstattung der Anzeige hat der Geschädigte
nunmehr Anspruch auf eine schriftliche Anzeigebestäti-
gung und – sofern erwünscht – sprachliche Unterstützung.
In den §§ 161 a und 163 StPO ist künftig die Zuziehung
von Dolmetschern bei Vernehmungen des Geschädig-
ten durch die Ermittlungsbehörden vorgesehen. Damit
berücksichtigen wir die besonderen Schutzbedürfnisse
der Geschädigten. Aus Klarstellungsgründen wird ein
entsprechender Hinweis auf die besondere Schutzbe-
dürftigkeit der Geschädigten auch in § 48 StPO veran-
kert.
Damit komme ich auch schon zum Kernpunkt des
3. Opferrechtsreformgesetzes, der psychosozialen Pro-
zessbegleitung. Nach geltender Rechtslage wird diese le-
diglich im Rahmen der Belehrungspflicht nach § 406 h
Satz 1 Nummer 5 StPO erwähnt. Mit dem 3. Opfer-
rechtsreformgesetz räumen wir ihr nunmehr einen eige-
nen Standort in der Strafprozessordnung ein, um sie da-
mit, ihrer praktischen Bedeutung entsprechend, fest im
deutschen Strafverfahrensrecht zu verankern.
Worum geht es genau bei der psychosozialen Prozess-
begleitung?
Es handelt sich dabei um eine besonders intensive
Form der Begleitung von Geschädigten schwerer Straf-
taten, die eines besonderen Schutzes während und nach
der Hauptverhandlung bedürfen. Umfasst werden die
Betreuung durch qualifizierte Mitarbeiter, Informations-
vermittlung und eine grundsätzliche Unterstützung im
Strafverfahren. Ziel ist es, die individuelle Belastung der
Opfer so weit wie möglich zu reduzieren.
In der Schweiz und in Österreich gibt es bereits de-
taillierte gesetzliche Regelungen zur psychosozialen
Prozessbegleitung, in Deutschland hingegen wird diese
Form der psychosozialen Prozessbegleitung derzeit nur
in einzelnen Bundesländern wie Niedersachsen oder
Schleswig-Holstein durchgeführt. Die Erfahrungen sind
aber durchweg positiv, gerade die Begleitung von kindli-
chen und jugendlichen Opfern von Sexual- und Gewalt-
9642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
delikten reduziert die Belastung der Heranwachsenden
durch die Gerichtsprozesse erheblich.
Deshalb ist auch vorgesehen, den Anspruch auf
psychosoziale Prozessbegleitung von Kindern oder
vergleichbar schutzbedürftigen Personen als Opfer
schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten kostenlos zu hal-
ten. Auch Opfer von besonders traumatisierenden Taten
haben grundsätzlich Anspruch auf eine solche Prozess-
begleitung; darüber entscheidet jedoch das Gericht im
Einzelfall und auf Antrag der Geschädigten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit die-
sem Gesetzentwurf bekommen wir jetzt in Deutschland
ein Regelungssystem, das dem gestiegenen Bedarf ge-
recht wird. Wir setzen außerdem ein deutliches Zeichen,
dass wir den Staat in der Pflicht sehen, nicht nur dem
Beschuldigten ein rechtsstaatliches und faires Verfahren
zu gewährleisten, sondern dass es ebenso Pflicht ist, den
Opfern schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten die emo-
tionale und psychologische Unterstützung an die Seite
zu stellen, die sie benötigen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Mit dem vorlie-
genden Gesetz soll die Opferschutzrichtlinie umgesetzt
werden. Dabei gibt es gleich das erste Problem; denn die
Information und Unterstützung, die Teilnahme am Straf-
verfahren und der Schutz des Verletzten fallen nur teil-
weise in den Zuständigkeitsbereich der Bundesgesetzge-
bung. Wesentliche Bereiche – etwa die Regelungen über
den Zugang zu Opferhilfeeinrichtungen – liegen in der
Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Soweit die
Bundeszuständigkeit berührt ist, sind zudem viele der in
der Opferschutzrichtlinie vorgesehenen Rechtsinstru-
mente zum Schutz des Verletzten dem deutschen Verfah-
rensrecht bereits bekannt. Gerade die durch die Opfer-
rechtsreformgesetze eingeführten Neuerungen gehen in
Teilen über den neuen europäischen Mindeststandard hi-
naus.
Durch das 3. Opferrechtsreformgesetz wird der vierte
Abschnitt des Fünften Buches der Strafprozessordnung
ergänzt und erweitert, der die für alle Verletzten gelten-
den Vorschriften zusammenfasst. Daneben werden aber
auch Ergänzungen im Ersten und Zweiten Buch der
StPO eingeführt, zu nennen sind hier die erweiterten In-
formationsrechte des Verletzten bei Anzeigeerstattung
nach § 158 StPO und die neue Ausgangsnorm für die
besondere Schutzbedürftigkeit von Verletzten in § 48
StPO. Die Richtlinienumsetzung wird zudem zum An-
lass genommen, die in der Justizpraxis bereits bewährte
psychosoziale Prozessbegleitung im deutschen Strafver-
fahrensrecht zu verankern. Die neuen Vorschriften
hierzu knüpfen an die Regelungen zum Verletztenbei-
stand in den §§ 406 f und 406 g StPO an.
Im Rahmen des Strafprozesses ist die Stellung des
Opfers – und der Opferangehörigen – die letzten Jahre
verstärkt in den Vordergrund gerückt und hat zum Aus-
bau der Rechte von Opfern im Strafverfahren geführt,
teilweise auch zulasten von Beschuldigtenrechten. Es ist
eine grundsätzliche Herausforderung für einen Rechts-
staat, die Balance zwischen Beschuldigten- und Verletz-
tenrechten zu wahren. Die Entwicklung der letzten Jahre,
insbesondere die umfassende Zulassung von Nebenkla-
gevertretungen gerade auch bei weniger schwerwiegen-
den Delikten, wird von Kriminologinnen und Krimino-
logen sowie Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern
mitunter kritisch gesehen. Diese Kritik stellt nicht in Ab-
rede, dass es sehr wichtig und notwendig ist, Opfer bei
der Aufarbeitung der Tat zu unterstützen und vor weite-
rer Traumatisierung zu schützen. Dies muss aber den-
noch immer auch berücksichtigen, dass erst im Verlauf
des Strafverfahrens geklärt wird, ob überhaupt eine
Straftat stattgefunden hat und es tatsächlich ein Opfer
gibt bzw. wer konkret für die Tat verantwortlich ist. Erst
am Ende des Strafverfahrens wird die Schuld des poten-
ziellen Täters oder der potenziellen Täterin und die Rol-
lenverteilung zwischen Täter bzw. Täterin und Opfer
festgestellt. Die Berücksichtigung von Opferinteressen
darf nicht zulasten der Rechtsstellung des Beschuldigten
gehen, die im reformiert inquisitorisch konzipierten
Strafverfahren der Strafprozessordnung angesichts der
beherrschenden Rolle der Staatsanwaltschaft im Ermitt-
lungsverfahren und der überragenden Stellung des Ge-
richts in der Hauptverhandlung ohnehin nur schwach
ausgestaltet ist. So jedenfalls sah es die Bundesrechtsan-
waltskammer in ihrer Stellungnahme zum 2. Opferrechts-
reformgesetz (vergleiche Stellungnahme der Bundes-
rechtsanwaltskammer zum 2. Opferrechtsreformgesetz,
Seite 3, http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellung-
nahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2009/maerz/
stellungnahme-der-brak-2009-09.pdf).
Dieser Kritik auf der einen Seite steht eine Kritik von
Verbänden der Angehörigen von Opfern gegenüber.
ANUAS e. V. beispielsweise kritisiert, dass nur Kinder
und Jugendliche unter 18 Jahren oder vergleichbar
schutzbedürftige Personen, die Opfer eines Sexual- oder
Raubdeliktes oder eines schweren Körperverletzungsde-
likts sind, einen Rechtsanspruch auf eine psychosoziale
Prozessbegleitung haben (§ 406 h Absatz 5 Satz 1 StPO
n. F. i. V. m. § 397 a Nummer 4, 5 StPO). Heranwach-
sende oder Erwachsene, die von diesen Delikten betrof-
fen sind, müssen besondere persönliche Defizite bei der
Interessenwahrnehmung wie Einschränkungen des –
psychischen – Gesundheitszustands vorweisen und ha-
ben keinen Rechtsanspruch. Das Gericht kann aber auf
Antrag einen psychosozialen Prozessbegleiter beiord-
nen, wenn die besondere Schutzbedürftigkeit des
Verletzten dies erfordert. Es wäre aus meiner Sicht emp-
fehlenswert, generell wegen der regelmäßigen Traumati-
sierung jedenfalls für Angehörige von Tötungsopfern so-
wie für den Bereich schwerer Gewaltkriminalität einen
Rechtsanspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung
vorzusehen. Zumindest aber wenn die Schutzbedürftig-
keit feststeht, sollte auch ein Anspruch bestehen und
kein Raum für Ermessenserwägungen bleiben. Sicherzu-
stellen wäre auch, dass keine zu hohen Anforderungen
an die Schutzbedürftigkeit gestellt werden.
Der Gesetzentwurf insgesamt ist aber zustimmungs-
fähig, da er einige Verbesserungen für die Opfer enthält,
die kaum Belastungen für die Beschuldigten und ihre
Rechtsposition bedeuten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9643
(A) (C)
(D)(B)
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Auch wir Grünen wollen Opfer von Straftaten
besser schützen und deren Rechte stärken. Deshalb be-
grüßen wir, dass die Bundesregierung nun ein Gesetz
vorlegt, dass diesem Anliegen Rechnung trägt. Viele der
vorgeschlagenen Ergänzungen in der Strafprozessord-
nung bedeuten eine Verbesserung der Rechte von Ver-
letzten im Strafverfahren. Insbesondere eine Ausweitung
der Informationsrechte der Verletzten und zusätzliche
Belehrungspflichten waren längst überfällig. Das gilt
auch für die Neustrukturierung der Belehrungsvorschrif-
ten betreffend die Befugnisse der Verletzten im oder au-
ßerhalb des Strafverfahrens.
Zu begrüßen ist auch die gesetzliche Verankerung der
psychosozialen Prozessbegleitung. Qualifizierte Pro-
zessbegleitung durch Opferschutzverbände kann einen
Beitrag leisten, dass Verletzte möglichst schonend durch
die Verhandlungen, weitere Vernehmungen und gegebe-
nenfalls die Konfrontation mit Tätern kommen.
Dennoch sehen wir an verschiedenen Stellen Diskus-
sions- und Nachbesserungsbedarf.
Für Kinder und Jugendliche, die Opfer von den in
§ 397 a Absatz 1 Nummer 4 und 5 StPO genannten
schweren Gewalt- und Sexualstraftaten sind, ist grund-
sätzlich ein Rechtsanspruch auf kostenlose psychoso-
ziale Prozessbegleitung vorgesehen. Das ist gut und
richtig. Für erwachsene Opfer solcher Delikte ist eine
solche kostenlose Begleitung hingegen nur dann vorge-
sehen, wenn eine besondere Schutzbedürftigkeit besteht.
Ob eine solche anzunehmen ist, liegt im Ermessen des
Gerichts. Das muss man sich so vorstellen, dass dann je-
mand, der Opfer einer schweren Gewalttat oder sexuell
missbraucht wurde, dem Gericht erst mal ausführlich
darlegen muss, warum er besonders „schutzwürdig“ ist
– wie es im Gesetzentwurf heißt – und die Unterstützung
der kostenlosen psychosozialen Begleitung in Anspruch
nehmen möchte. Das aber sollte doch gerade vermieden
werden, denn die Verletzten sollen nicht ein zweites Mal
in eine Opferrolle gedrängt werden.
Insofern ist zu überlegen, den Gesetzentwurf dahin-
gehend zu ändern, dass auch für volljährige Opfer der
genannten Straftaten eine Begleitung vorgesehen sein
„soll“ oder sogar zwingend vorzusehen „ist“. In diese
Richtung gehen auch verschiedene Stellungnahmen zum
Gesetzentwurf.
Personen, die eine psychosoziale Begleitung überneh-
men, können nach dem Gesetzesvorschlag bei Verneh-
mungen während der Hauptverhandlung, aber auch
schon während der polizeilichen Vernehmung anwesend
sein. Die Länder können selbst bestimmen, „welche Per-
sonen und Stellen als psychosoziale Prozessbegleiter an-
erkannt werden und welche Voraussetzungen hierfür an
Berufsausbildung, praktische Berufserfahrung und spe-
zialisierte Weiterbildung zu stellen sind.“ Es gelten also
keine bundesweiten verbindlichen Standards. Ob es sinn-
voll ist, das hier so offen zu lassen – ich bin skeptisch –,
denn die Begleitung muss doch zwingend durch Perso-
nen übernommen werden, bei denen sicher ist, dass sie
die Aussagen oder gar das Verfahren nicht beeinflussen.
Um die Gefahr der Beeinflussung einzudämmen, soll-
ten im Gesetzentwurf zudem die Befugnisse und Aufga-
ben eines psychosozialen Prozessbegleiters möglichst
noch klarer gemacht werden. Es muss sichergestellt sein,
dass er mit Opfer(-zeugen) nicht über die Tat redet und
sie nicht dahin gehend in irgendeiner Form berät, son-
dern stattdessen nur „emotionale und psychologische
Unterstützung“ leistet.
Im Kontext der Diskussion über Opferrechtsreformen
sollten wir auch darüber nachdenken, wie wir abseits
von strafprozessualen Änderungen bzw. Neuregelungen
Opferschutz zukünftig noch besser sicherstellen und
weiterentwickeln können. Hierzu wäre notwendig zu
überprüfen, welchen Nutzen die bisher geltenden Vor-
schriften haben: Bieten sie den Opfern tatsächlich den
Schutz und die Unterstützung, die sie brauchen? Wichtig
sollte bei allen Maßnahmen doch vor allem sein, dass
das Opfer die Wahlfreiheit behält und nichts aufgenötigt
bekommt.
Mir ist klar, dass einige der angesprochenen Punkte
größere Projekte sind und nicht von heute auf morgen
umgesetzt werden können. Aber hier ist der richtige Ort,
die Diskussion anzustoßen.
Manchmal hilft auch – wie der Deutsche Anwaltsver-
ein in seiner Stellungnahme anregt – ein Blick ins Aus-
land: Dort gibt es teils alternative Modelle, mit deren
Hilfe die Rechte von Opfern und Beschuldigten glei-
chermaßen gesichert werden sollen. In den USA kann
ein vom Strafprozess völlig abgekoppeltes Verfahren ge-
führt werden, das sich nur auf das Opfer konzentriert.
Das nennt sich „parallel justice“. Ein solches Verfahren
muss nicht zurückgreifen auf die Entscheidung des
Strafprozesses oder diese abwarten, sondern beschäftigt
sich ausschließlich mit dem Opfer. Auch solche Ansätze
und Modelle können als Gedankenanstoß dienen.
Einen Punkt habe ich noch gar nicht angesprochen,
den wir im Zusammenhang mit Opferschutz jedoch nicht
unbeachtet lassen können: die Unschuldsvermutung, die
für den Angeklagten bis zum Schuldspruch gelten muss.
Jede Vorentscheidung in einem Strafverfahren dahin ge-
hend, ob es sich bei einem Zeugen um ein Opfer einer
bestimmten Straftat handelt, um ihm zum Beispiel eine
psychosoziale Begleitperson beiordnen zu können,
kommt mehr oder weniger in Konflikt mit der Un-
schuldsvermutung. Beide Prinzipien, die prozessuale
Opfervermutung wie auch die Unschuldsvermutung dür-
fen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das muss
bei jedem Gesetzentwurf mitgedacht und berücksichtigt
werden.
Und noch etwas: Stellen Sie sich eine Schlägerei mit
mehreren Beteiligten vor. Häufig ist dabei anfangs gar
nicht so einfach festzustellen, wer Verletzter bzw. Opfer
oder Täter ist. Auch hier kann die Annahme einer „Op-
fervermutung“ für einen der Beteiligten eine Vorent-
scheidung für das Verfahren bedeuten. Wie kann man
das verhindern? Auch das ist eine knifflige Frage, mit
der wir uns beschäftigen müssen.
Es ist nicht immer leicht, verschiedene schutzwürdige
Interessen und Rechtsstaatsprinzipien in ein ausgewoge-
9644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
nes Verhältnis zu bringen. Die Gesetze, die die Bundes-
regierung dem Bundestag zur Entscheidung vorlegt,
müssen sich aber genau daran messen lassen.
Wir werden hoffentlich noch Gelegenheit haben, die-
sen Gesetzentwurf vertiefter – vielleicht im Rahmen ei-
ner Anhörung – zu diskutieren. Die Ergebnisse einer sol-
chen Diskussion sind sicher nützlich, um ihn an einigen
Stellen nachzubessern.
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Die Inte-
ressen der Opfer in den Blick zu nehmen und dafür zu
sorgen, dass ihnen mehr Rechte zukommen, war und ist
ein wichtiges rechtspolitisches Ziel. Zahlreiche Gesetz-
gebungsvorhaben der letzten Jahre haben die Situation
der Opfer weiter verbessert und dazu geführt, dass der
Opferschutz seinen festen Platz in der Strafprozessord-
nung hat. Mit dem 3. Opferrechtsreformgesetz gehen wir
nun weitere wichtige Schritte, um den Schutzstandard
für die Opfer zu erhöhen.
Zum einen setzen wir die Verpflichtungen der Bun-
desrepublik aus der Opferschutzrichtlinie um. Umset-
zungsbedarf hat sich für uns nur in Teilbereichen, insbe-
sondere bei den Verfahrens- und Informationsrechten,
ergeben, da wir bereits ein breites Spektrum an opfer-
schützenden Maßnahmen in der Strafprozessordnung
verankert haben. Die Umsetzung der Richtlinie muss bis
zum 16. November 2015 erfolgen.
Wir wollen aber nicht nur die Richtlinie umsetzen,
sondern das Gesetzgebungsvorhaben auch nutzen, einen
Riesenschritt gerade für besonders schutzbedürftige Op-
fer zu tun. Kinder und Jugendliche, die Opfer schwerer
Gewalt- und Sexualdelikte geworden sind, bedürfen un-
serer besonderen Unterstützung. Wir wollen sie im Straf-
verfahren nicht allein lassen. Wir wollen ihnen die emo-
tionale und psychologische Unterstützung während des
gesamten Verfahrens geben, die sie benötigen. Mit der
Regelung zur psychosozialen Prozessbegleitung haben
diese Kinder und Jugendlichen künftig einen kostenlo-
sen Rechtsanspruch auf Prozessbegleitung.
Auch erwachsene Opfer können bei schwersten Straf-
taten unseren Schutz benötigen. In bestimmtem Fällen
haben wir daher einen Ermessensanspruch auf Bei-
ordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters oder ei-
ner -begleiterin eingeräumt.
Psychosoziale Prozessbegleitung ist eine besonders
intensive Form der Begleitung vor, während und nach
der Hauptverhandlung. Sie umfasst die qualifizierte Be-
treuung, Informationsvermittlung und Unterstützung im
Strafverfahren. Damit soll vor allem die individuelle Be-
lastung der Opfer reduziert werden. Prozessbegleitung
ersetzt also nicht den Anwalt oder die Anwältin. Rechts-
beratung ist und bleibt die Aufgabe allein der Anwälte
oder Anwältinnen. Prozessbegleitung ist eine nichtrecht-
liche Begleitung und damit ein zusätzliches Angebot für
besonders schutzbedürftige Opfer.
Eine erfolgreiche Prozessbegleitung setzt voraus, dass
qualifizierte und geschulte Fachkräfte nach klaren
Grundsätzen tätig sind. Professionelle Prozessbegleitung
wird daher nicht umsonst sein. Aber die Erfahrungen aus
Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schles-
wig-Holstein zeigen, dass es sich lohnt. Es lohnt sich für
die Betroffenen, die schweren seelischen Belastungen
durch die Tat und den Prozess ausgesetzt sind. Es lohnt
sich aber auch für die Justiz. Ein emotional gestärkter
Zeuge ist auch ein guter Zeuge, und wer ein Strafverfah-
ren schon einmal geführt hat, weiß, was ein guter Zeuge
wert ist.
Opferschutz lohnt sich! Lassen Sie uns daher weiter
auf diesem Weg voranschreiten! Ihr Ja zur psychoso-
zialen Prozessbegleitung ist vor allem ein Ja zum besse-
ren Schutz für Kinder und Jugendliche, die Opfer
schwerster Straftaten geworden sind.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes gegen den un-
lauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 21)
Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Das Zweite
Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb hat die Umsetzung der „Richtlinie 2005/29/
EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im bin-
nenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unterneh-
men und Verbrauchern“ zum Ziel.
Zielsetzung der Richtlinie ist eine Vollharmonisierung
des Lauterkeitsrechts im Verhältnis von Unternehmen
und Verbrauchern im europäischen Binnenmarkt. Die
Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten insofern eine voll-
ständige Rechtsangleichung vor. Eine solche Vollharmo-
nisierung bedeutet, dass das nationale Recht nicht hinter
dem Schutzniveau der Richtlinie zurückbleiben, aber
auch nicht über dieses hinausgehen darf.
In Deutschland haben wir diese Richtlinie aus dem
Jahre 2005 bereits durch das Erste Gesetz zur Änderung
des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb umge-
setzt. Dieses Gesetz ist seit dem 30. Dezember 2008 in
Kraft. Seinerzeit verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, bei
der Umsetzung möglichst viel vom erst 2004 neu ko-
difizierten Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb,
UWG, beizubehalten. Von besonderer Bedeutung war
dabei die Beibehaltung eines einheitlichen Lauterkeits-
rechts, das gleichermaßen dem Schutz der Verbraucher
wie auch der Mitbewerber und sonstigen Marktteilneh-
mer dient.
Folge war, dass bei der Umsetzung der Richtlinie Vor-
schriften zum Verhältnis von Unternehmen und Verbrau-
chern, B2C, nicht mit der notwendigen Klarheit von den
Vorschriften zum Verhältnis von Unternehmen zu Mit-
bewerbern und sonstigen Marktteilnehmern, B2B, ab-
gegrenzt wurden. B2C-Vorschriften wurden dabei mit
Regelungen verbunden, die für den B2B-Bereich gelten
und teilweise anderen Wertungen folgen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9645
(A) (C)
(D)(B)
Infolge dieses Ansatzes weicht das deutsche UWG
sowohl vom Wortlaut als auch von der Systematik her an
zahlreichen Stellen von der Richtlinie ab. Dies beanstan-
det die Europäische Kommission. Sie hält die deutsche
Umsetzung der Richtlinie für unzureichend und hat da-
her ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Richtig ist zwar, dass es in der Rechtsanwendungs-
praxis bei uns in Deutschland zu keinerlei Abweichun-
gen von den inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie oder
dem vorgegebenen Schutzniveau gekommen ist. Denn
die Rechtsprechung hat die Vorschriften unseres UWG
stets richtlinienkonform ausgelegt und insofern ein Aus-
einanderfallen von Wertungen und Schutzmaßstäben
vermieden.
Allerdings ist auch richtig, dass es nach der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht aus-
reicht, der Rechtsprechung im Wege der richtlinienkon-
formen Auslegung gleichsam die Umsetzung einer
Richtlinie zu überlassen. Das entspricht nicht der
unionsrechtlich gebotenen Klarheit und Bestimmtheit
bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches
Recht. Klarheit und Bestimmtheit sind aber notwendig,
um dem Erfordernis der Rechtssicherheit, insbesondere
im Bereich des Verbraucherschutzes, zu genügen.
Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Gesetzes
gegen den unlauteren Wettbewerb reagieren wir nun auf
diese unzureichende Umsetzung der Richtlinie und das
eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren: Das Lauter-
keitsrecht soll deutlich stärker als bisher an die zugrunde
liegende Richtlinie angepasst werden, um die vorge-
gebene Vollharmonisierung zu erreichen. Das bedeutet
zugleich, dass der Spielraum, den wir als nationaler Ge-
setzgeber haben, sehr begrenzt ist. Der Gesetzentwurf
sieht daher im Wesentlichen klarstellende Anpassungen
beim Wortlaut und in der Gesetzessystematik des UWG
vor. Regelungsgehalt und Struktur bleiben dagegen un-
verändert.
Unter anderem werden die Vorschriften im Verhältnis
von Unternehmen gegenüber Verbrauchern, B2C, sowie
im Verhältnis von Unternehmen zu anderen Unterneh-
men, B2B, klarer voneinander unterschieden. Das UWG
hat sich aber insofern bewährt, als dass es das Lauter-
keitsrecht einheitlich regelt. Es wird daher weiter an dem
Grundsatz festgehalten, dass sowohl der lauterkeits-
rechtliche Schutz von Verbrauchern als auch derjenige
von Mitbewerbern und sonstigen Marktteilnehmern in
ein und demselben Gesetz geregelt wird.
In diesem Zusammenhang wird die Generalklausel
in § 3 UWG neu gefasst und klarer strukturiert. Insbe-
sondere wird nun der Begriff der Unlauterkeit für den
Nichtverbraucherbereich definiert. Als Lauterkeitsmaß-
stab wird der Begriff der „fachlichen Sorgfalt“ auch im
Verhältnis von Unternehmen zu Mitbewerbern und sons-
tigen Marktteilnehmern, B2B, neu eingeführt. Das ent-
spricht den Vorgaben der Richtlinie.
An diesem Begriff der „fachlichen Sorgfalt“ hat sich
zum Teil erhebliche Kritik geregt, nämlich dass dieser
sowohl Maßstab für das Verhalten gegenüber Verbrau-
chern wie auch im Verhalten gegenüber Wettbewerbern
sein soll. Hier wird moniert, dass es zu Abgrenzungspro-
blemen und Rechtsunklarheiten führen könnte, wenn für
den B2C- und den B2B-Bereich die gleichen Kriterien
herangezogen würden. Ob dies tatsächlich zutrifft,
müssen wir uns im parlamentarischen Verfahren anse-
hen. Allerdings glaube ich durchaus, dass man diesen
unbestimmten Rechtsbegriff – wie auch andere unbe-
stimmte Rechtsbegriffe wie Treu und Glauben oder frü-
her den Begriff der guten Sitten im UWG – konkretisie-
ren und umfassend auf die jeweilige Lebenssituation
anwenden kann. Insofern bietet ein solch unbestimmter
Begriff zugleich auch den Vorteil, hinreichend flexibel
zu sein und damit auch bislang unbekannte Werbe- oder
Wettbewerbsstrategien rechtlich einhegen zu können.
Darüber hinaus wird künftig durch eine Anpassung
des § 4 UWG stärker herausgestellt, dass es sich bei den
Beispielen für Verstöße gegen die „fachliche Sorgfalt“
nur um eine Beweislastregelung zu den Generalklauseln
des § 3 UWG handelt. Ist einer der Tatbestände erfüllt,
wird ein Sorgfaltsverstoß vermutet. Eine Widerlegung
dieser Vermutung ist möglich. Bislang war dies nicht der
Fall, weil das Gesetz in der beschriebenen Konstellation
von einem Verstoß ausging.
Mit § 4 a UWG wird zudem – auch wieder mit Blick
auf die Richtlinie – eine eigene Regelung zu aggressiven
geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern in
das UWG neu aufgenommen. Bislang waren aggressive
geschäftliche Handlungen lediglich als Unterfälle der
Unlauterkeitstatbestände der Generalklausel geregelt.
Hier wird noch einmal verdeutlicht, dass es sich bei
diesen aggressiven geschäftlichen Handlungen um ein
vom Gesetzgeber missbilligtes Wettbewerbsverhalten
handelt.
Lassen Sie mich festhalten: Der Gesetzentwurf ist im
Interesse eines Gleichlaufs von Richtlinie und UWG zu
begrüßen. Die Auswirkungen in der Praxis werden sich
in engen Grenzen halten. Schon bislang haben die Ge-
richte das bisherige UWG richtlinienkonform ausgelegt.
Jetzt vollziehen wir das nach und passen den Gesetzes-
text ausdrücklich in diesem Sinne an.
Nicht im Gesetzentwurf aufgegriffen wurden die viel-
fachen Forderungen nach einer umfassenden Reform des
UWG wie etwa nach der Neuordnung der Katalog-
beispiele des § 4 UWG oder der Regelung zum fliegen-
den Gerichtsstand. Mit Blick auf das laufende Vertrags-
verletzungsverfahren erachte ich dies für richtig; wir
müssen jetzt ein schnelles Gesetzgebungsverfahren
durchführen. Für diese inhaltlichen Fragen bleibt Zeit
und Raum, wenn wir das Gesetz über unseriöse Ge-
schäftspraktiken evaluieren. Das wollen wir im Laufe
des Jahres angehen.
Insgesamt führt der Entwurf zu einer verbesserten
Verständlichkeit der die Unlauterkeit begründenden
Normen. Dies dient sowohl Verbrauchern wie Unterneh-
men. Die in den einzelnen Stellungnahmen vorgebrachte
Kritik an Details können wir im parlamentarischen Ver-
fahren miteinander diskutieren. Darauf freue ich mich.
9646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Verbraucher brau-
chen klare Rechte. Vorschriften müssen so eindeutig wie
möglich formuliert sein. So können Verbraucher ge-
schützt und Verstöße gegen geltendes Recht geahndet
werden – in Deutschland und in ganz Europa. Die Ver-
braucherpolitik von CDU/CSU will einen klaren Rechts-
rahmen und eine wirksame Rechtsdurchsetzung schaf-
fen.
Ein wichtiger Schritt ist das Gesetz gegen unlauteren
Wettbewerb, welches am 8. Juli 2004 in Kraft trat. Mit
dem zweiten Änderungsgesetz, das wir heute hier bera-
ten, möchten wir noch mehr Rechtssicherheit schaffen.
Das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb enthält be-
reits strenge Regeln. Täuschende Werbung, falsche
Gütezeichen oder der Aufbau eines Schneeballsystems
sind bereits unzulässige geschäftliche Handlungen. Das
Gesetz tritt diesen unseriösen Geschäftspraktiken und
Wettbewerbsverzerrungen entgegen und ahndet Ver-
stöße. Es muss nun Ansporn sein, weitere Verbesserun-
gen zu erreichen und Ungenauigkeiten klarzustellen.
Für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch für
Mitbewerber untereinander und andere Marktteilnehmer
wollen wir ein einheitliches Lauterkeitsrecht schaffen.
Dazu werden Begriffe konkreter formuliert und klarer
definiert.
Der Gesetzentwurf setzt die Vorgaben aus der EU-
Richtlinie 2005/29/EG nun vollständig um. Damit wird
einmal mehr eine Harmonisierung des Rechts innerhalb
der Europäischen Union erreicht. Es kommt nicht mehr
auf das Rechtssystem an, wenn die rechtlichen Maßga-
ben für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind. Der Ver-
braucher, der sich nicht in Deutschland aufhält, kann im
Ausland den gleichen Schutz erwarten und bekommt ihn
auch.
Die Gerichte in Deutschland legen das Gesetz gegen
unlauteren Wettbewerb bereits vollständig im Sinne der
Richtlinie aus. Damit ist bereits den Erfordernissen der
Richtlinie Genüge getan und ein hohes Niveau an
Rechtssicherheit erreicht. Den Parteien wird vor Gericht
ein umfassender und einheitlicher Rechtsschutz gewährt.
Allerdings dürfen wir uns damit nicht zufriedengeben.
Die nötige Rechtssicherheit ist noch nicht erreicht. Es
muss zusätzlich eine Rechtsangleichung durch den Ge-
setzeswortlaut erfolgen. Dazu ist der parlamentarische
Gesetzgeber aufgerufen, ebenfalls zu handeln.
Der Blick ins Gesetz muss die nötige Klarheit schaf-
fen. Im Sinne des Schutzes von Verbrauchern muss die
Gestaltung der Gesetzessprache in klarer und eindeutiger
Form erfolgen. Diese Vorgabe des Europäischen Ge-
richtshofs ist gut, da sie den Verbrauchern nützt.
Es ist nicht zumutbar, sich durch eine Vielzahl von
Urteilen verschiedenster Gerichte zu schlagen, wenn es
einen einfacheren Weg gibt. Mit dem Blick ins Gesetz
soll sich die Lösung für ein rechtliches Problem bereits
finden lassen. Rechtsklarheit wird durch einen verbindli-
chen Gesetzeswortlaut erreicht. Hierzu sind wir in die-
sem Haus aufgerufen.
Diese Rechtsklarheit führt zu mehr Transparenz und
Vorhersehbarkeit von Entscheidungen. Im Ergebnis wird
dies zu mehr Rechtssicherheit und Zufriedenheit führen.
Einen besonderen Schutz erfahren hierdurch die Ver-
braucher.
Ich bin zuversichtlich, für die offenen Detailfragen in
den Ausschussberatungen eine Lösung im Sinne einer
gerechten und verbraucherschützenden Umsetzung der
Richtlinie zu finden.
Christian Flisek (SPD): Mit der Richtlinie 2005/29/
EG über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen
gegen Verbraucher im Binnenmarkt – und weiteren euro-
päischen Richtlinien – wurde das Lauterkeitsrecht im
Verhältnis von Unternehmen zu den Verbrauchern auf
europäischer Ebene weitgehend vollharmonisiert, mit
der Folge, dass die Mitgliedstaaten eine vollständige
Rechtsangleichung vornehmen mussten. Damit darf das
von der Richtlinie geschaffene Schutzniveau weder un-
ter- noch überschritten werden.
Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes
gegen den unlauteren Wettbewerb haben wir 2008 die
Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Es hat sich je-
doch gezeigt, dass noch Klarstellungsbedarf besteht,
dem bisher nur auf dem Wege der Rechtsprechung Ge-
nüge geleistet wurde. Obgleich die Rechtsanwendung
den Vorgaben der Richtlinie entspricht, genügt das, nach
Auslegung des EuGH, jedoch nicht einer vollkommenen
Rechtsangleichung und leistet auch nicht die erforderli-
che Rechtsicherheit – insbesondere nicht im Bereich des
Verbraucherschutzes.
Mit dem jetzt vorliegenden Zweiten Gesetz zur Ände-
rung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb,
UWG, nehmen wir die Kritikpunktpunkte der EU-Kom-
mission auf. Der Gesetzentwurf ist von dem Grundsatz
geleitet, das UWG als einheitlich regelndes Gesetz für
das Lauterkeitsrecht zu bewahren. Das heißt, den lauter-
keitsrechtlichen Schutz von Verbraucherinnen und Ver-
brauchern auf der einen Seite und der Schutz von Mitbe-
werbern und sonstigen Marktteilnehmern auf der
anderen Seite auch weiterhin in ein und demselben Ge-
setz zu regeln.
Durch den Gesetzentwurf werden im UWG die ent-
sprechenden Stellen klarer formuliert, ohne dass an der
Struktur des Gesetzes grundlegende Veränderungen vor-
genommen werden. So wird zum Beispiel noch schärfer
zwischen den Regelungen für geschäftliche Handlungen
gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern einer-
seits und Unternehmen andererseits unterschieden (§ 3
Absatz 2 und 3 UWG). Um die Verbraucher noch besser
vor aggressiven geschäftlichen Handlungen zu schützen,
wird eine eigene Regelung hinsichtlich eines solchen
Verhaltens geschaffen (§ 4 a UWG neu). Damit wird der
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, insbeson-
dere in Situationen, in denen das Urteilsvermögen beein-
trächtigt sein kann – zum Beispiel Unglückssituationen –,
gestärkt.
Wir werden allerdings noch prüfen müssen, ob die
neuen Formulierungen im Gesetzentwurf zur Abgren-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9647
(A) (C)
(D)(B)
zung von B2B/B2C-Verhältnissen – § 3 Absatz 2 und 3
UWG – tatsächlich nur klarstellende Wirkung haben sol-
len oder ob dadurch ein neues Tatbestandsmerkmal für
die Anwendbarkeit der Verbrauchergeneralklausel ge-
schaffen wird. Zudem wird noch zu prüfen sein, ob wir
neben den reinen Anpassungen an die Richtlinie weitere
Änderungen aufnehmen wollen, um das UWG noch
schlagkräftiger zu machen. Die Verbände haben ihre
Vorschläge hierzu schon vorgelegt. Und auch der Bun-
desrat hat in seiner Stellungnahme weitere Änderungen
angemahnt. Zu nennen sind zum Beispiel Verschärfun-
gen beim Gewinnabschöpfungsanspruch, § 10 UWG, die
Einschränkung des sogenannten fliegenden Gerichts-
stands, § 14 UWG, und die Schaffung eines zusätzlichen
Bußgeldtatbestands für im elektronischen Geschäftsver-
kehr erfolgende unmittelbare Kaufaufforderungen ge-
genüber Kindern.
Ich bin diesen Vorschlägen gegenüber sehr offen, bei-
spielsweise der Frage, wie man Plattformen, deren Ge-
schäftsmodelle auf Urheberrechtsverletzungen beruhen,
die Werbeeinnahmen entziehen kann. Vor dem Hinter-
grund des laufenden Vertragsverletzungsverfahrens ist
das Ziel der Bundesregierung, dieses zügig zu beenden,
allerdings verständlich. Wir werden also im anstehenden
Beratungsverfahren klären müssen, ob wir weiter-
gehende Änderungen im jetzigen Gesetzentwurf aufneh-
men wollen oder diese im Verlauf der Legislaturperiode
erneut behandeln wollen.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Richtlinie über
unlautere Geschäftspraktiken ist im Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb umgesetzt. Sie zielt auf den Ver-
braucherschutz. Von ihr sollen direkt die wirtschaftli-
chen Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher
geschützt werden. Rechtssicherheit und ein hohes Ver-
braucherschutzniveau waren die Motive des europäi-
schen Gesetzgebers für die Richtlinie.
Auch mit dem vorliegenden Entwurf werden diese
Ziele nicht erreicht. Das Gegenteil ist der Fall. Ein hohes
Verbraucherschutzniveau ist ohne Rechtssicherheit nicht
denkbar. Rechtssicherheit setzt jedoch voraus, dass die
Regelungen verständlich und eindeutig sind.
Ich frage die Bundesregierung und insbesondere den
Bundesjustizminister, ob sie sich den vorliegenden Ent-
wurf überhaupt angesehen haben.
„Unlauter handelt, wer dem Verbraucher eine Infor-
mation vorenthält, die im konkreten Fall unter Berück-
sichtigung aller Umstände wesentlich ist.“ Weniger klar
und präzise lässt sich eine Regelung kaum fassen.
Ob eine geschäftliche Handlung „aggressiv“ ist, soll
sich auch nach „belastenden und unverhältnismäßigen
Hindernissen nichtvertraglicher Art“ bemessen. Wie Sie
vielleicht wissen, bin ich selbst Rechtsanwalt. Diese Re-
gelung erschließt sich mir erst, wenn ich die Begründung
des Entwurfes und die Richtlinie selbst lese, wo erklärt
wird, was sich die Verfasserinnen und Verfasser der
Norm eigentlich gedacht haben. Ein Gesetz, das ohne
Kommentierung nicht verstanden werden kann, eignet
sich nicht, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu ge-
währleisten.
Wie kommt es zu solchen Formulierungen? Eigent-
lich gibt es seit 2009 eine Sprachberatung in den Bun-
desministerien, die aus dem Modellprojekt „Verständli-
che Gesetze“ hervorgegangen ist. Bevor Gesetze im
Bundeskabinett behandelt werden, muss geprüft werden,
ob sie sprachlich richtig und verständlich sind. Wurde
dieser Entwurf nicht geprüft oder empfand man ihn gar
als verständlich?
Es ist nicht der erste Entwurf mit diesem Makel. Vor
allem Gesetze, die europäische Vorgaben umsetzen wol-
len, leiden an mangelnder Verständlichkeit und kaum er-
kennbarer Systematik. Ursachen sind eine völlig miss-
verstandene Pflicht, wie Richtlinien in das nationale
Recht umzusetzen sind und welche Vorgaben der Euro-
päische Gerichtshof dazu macht.
Im Entwurf heißt es, es bestehe „noch Klarstellungs-
bedarf gesetzessystematischer Art, um auch bereits im
Wortlaut eine vollständige Rechtsangleichung zu erzie-
len“. Die Verfasserinnen und Verfasser setzen dies hand-
werklich um, indem sie auch diese Richtlinie ohne ei-
gene Denkleistung einfach wörtlich abschreiben.
Richtlinien sind jedoch weder nach ihrer Entste-
hungsgeschichte, ihrer Struktur noch nach ihrer Ziel-
gruppe dazu geeignet, wörtlich übernommen zu werden.
Das nationale Recht ist den Richtlinien anzupassen. Ver-
bindlich ist das Ziel, nicht die Form. So steht es im Ver-
trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Mehr fordert auch der Europäische Gerichtshof nicht,
was die Verfasserinnen und Verfasser behaupten. Richtig
ist lediglich, dass eine Richtlinie in den Gesetzen Aus-
druck finden muss und nicht allein durch Auslegung und
Rechtsprechung umgesetzt werden darf.
Der Europäische Gerichtshof fordert nur, dass die
Rechtslage hinreichend bestimmt und klar zum Aus-
druck kommen muss. Ich bezweifle, dass die wörtliche
Übernahme von Richtlinien ohne Anpassungen an die
Systematik und Gepflogenheiten des nationalen Rechts
dieser Forderung entspricht. Der Marke „Law – Made in
Germany“ wird es jedenfalls nicht gerecht.
Abschließend möchte ich meinem Bedauern Aus-
druck verleihen, dass sich der europäische Gesetzgeber
ausgerechnet das Wettbewerbsrecht für eine Vollharmo-
nisierung ausgesucht hat: Vorschriften, die ein höheres
Verbraucherschutzniveau als die Richtlinie erreichen,
sind danach verboten. Davon ist auch aktuell geltendes
Recht in Deutschland betroffen. Der Europäische Ge-
richtshof zwingt uns, mit diesem Entwurf ein Stück Ver-
braucherschutz aufzugeben.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass
die Bundesregierung endlich handelt und einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des UWG vorlegt, ist lange über-
fällig. Gegen Deutschland ist bereits ein Vertragsverlet-
zungsverfahren der EU anhängig.
In einigen Punkten schafft der Gesetzentwurf jetzt
Rechtsklarheit. Die Voraussetzungen der Unlauterkeit
9648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
von Schneeballsystemen und Pyramidensystemen wer-
den gesetzlich klargestellt. Damit wird den Vorgaben des
EuGH Rechnung getragen.
Allerdings enthält der Gesetzentwurf zahlreiche
Schwachstellen.
Zuallererst muss ich auf die Regelungen zur Ab-
schöpfung von Unrechtsgewinnen in § 10 UWG hinwei-
sen. Dieser Gewinnabschöpfungsanspruch ist in der
Praxis ein weitgehend wirkungsloses Instrument. Ich
halte es für einen großen Fehler, dass die Bundesregie-
rung hier nicht nachbessern will.
Die Abschöpfung von Unrechtsgewinnen, die sich
Unternehmen durch unseriöse Geschäftsmodelle wie
etwa versteckte Abofallen aneignen, ist auf Grundlage
der jetzigen Regelung praktisch kaum möglich. Illegales
Verhalten lohnt sich also viel zu oft, weil die Unterneh-
men das ergaunerte Geld behalten können, wenn Ihnen
zum Beispiel kein Vorsatz nachzuweisen ist.
Dieses Problem ist seit Jahren bekannt: Eine Studie
aus 2011, vom Bundesverbraucherministerium in Auf-
trag gegeben, kommt zu dem klaren Ergebnis, dass die
Regelung, in der derzeitigen Form wirkungslos ist. Es
bedarf meiner Ansicht nach also keiner „Evaluierung“,
wie mir die Bundesregierung in der Beantwortung auf
meine kleine Anfrage „Stärkung der Verbraucherrechte
durch Sammelklagen“ im Juni 2014 angekündigt hat. Es
besteht ein klarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
Was geändert werden muss, haben die Bundesländer
bereits mehrfach festgestellt. Ich zitiere aus der Stellung-
nahme des Bundesrates zum UWG-Änderungsgesetz:
„Die Möglichkeit der Gewinnabschöpfung sollte unab-
hängig vom schuldhaften Handeln des Unternehmens
bestehen. Der Gewinnabschöpfungsanspruch ist als ein
Anspruch eigener Art nicht auf Schadensersatz gerichtet,
sondern auf Herausgabe eines ungerechtfertigt erlangten
Gewinns. Rechtssystematisch ist daher ein Verschulden
nicht zwingend erforderlich, sodass eine Abkehr vom
Verschuldenserfordernis als gerechtfertigt zu betrachten
ist. Auch Gewinne aus unverschuldeten Verstößen
stehen dem Handelnden nicht zu.“ Dem ist nichts hinzu-
zufügen.
Ein zweiter Mangel in Ihrem Gesetzentwurf ist, dass
wieder nicht die Gelegenheit genutzt wird, bei Rechts-
verletzungen im Internet endlich die Möglichkeit des
fliegenden Gerichtsstands abzuschaffen. Dies hatte sich
die Bundesregierung schon in der letzten Wahlperiode
2013 bei dem Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäfts-
praktiken vorgenommen, doch war sie im letzten Mo-
ment zurückgerudert. Nun wird § 14 UWG wieder nicht
reformiert, und es bleibt dabei, dass der Kläger sich in
Fällen, in denen die Verletzungshandlung an verschiede-
nen Orten stattgefunden hat, aussuchen kann, an wel-
chem Gericht er klagt. Dies hat mit Verbraucherschutz
nichts zu tun.
Diese Regelung ermöglicht es, für Geschäfte im
Onlinehandel abmahnfreudigere Gerichte bewusst aus-
zuwählen, wo die Abmahner mit besseren Erfolgsaus-
sichten und höheren Kosten für die Beklagten rechnen
dürfen. Darunter leiden besonders kleine und mittlere
Unternehmen, für die ein Gerichtsverfahren weit weg
von Wohnort und Geschäftssitz oft mit Kosten verbun-
den ist, die kaum zu schultern sind. Wir wollen, dass
auch im Onlinehandel der allgemeine Gerechtigkeits-
grundsatz gilt, nachdem am Wohn- bzw. Geschäftssitz
des Beklagten Klage zu erheben ist.
Drittens hätten Sie mit dem vorliegenden Gesetz auch
den Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern
können.
Bei digitalen Diensten wie Smartphone-Apps und
Online-Spielen lauern Kostenfallen, die etwa Kinder
auffordern, bei einem Bauernhof-Spiel virtuelle Heubal-
len zu kaufen, da sonst ihr virtuelles Pferd verhungert
und nicht weitergespielt werden kann.
Wir fordern die Einführung eines eigenen Bußgeldtat-
bestandes in § 20 UWG für Verstöße gegen das Verbot
direkter Kaufaufforderungen gegenüber Kindern und ha-
ben in dieser Frage die Bundesländer hinter uns. Das
wäre ein schärferes Schwert gegen unlautere Werbung
an Kinder als die rein privatrechtliche Sanktion, die in
der Realität kaum zur Anwendung kommt.
Viertens möchten wir auf einen agrarpolitischen
Aspekt hinweisen, der direkt vom Wettbewerbsrecht
berührt wird. Wir möchten das Wettbewerbsrecht so aus-
gestaltet wissen, dass es der Stärkung der berechtigten
Interessen der Bäuerinnen und Bauern, die heimische
Milcherzeugung zu sichern und ihre Position gegenüber
den mächtigen Handelsunternehmen zu stärken, nicht im
Wege steht.
Zum Schluss möchte ich noch auf eine aktuelle War-
nung des VZBV bezüglich der Änderungen der General-
klausel in § 3 UWG hinweisen, die alle Abgeordneten
aus dem Rechtsausschuss erhalten haben. In dem Brief
erklären die Verbraucherzentralen, dass die Änderung in
der Generalklausel „von ausschlaggebender Bedeutung
u.a. für die Klagebefugnis von Verbraucherverbänden“
sein könnte und Rechtsunsicherheiten schaffen könnte.
Dies muss im weiteren Gesetzesverfahren überprüft und
gegebenenfalls korrigiert werden.
Ich wünsche uns allen gute und konstruktive Beratun-
gen.
Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir be-
handeln heute in erster Lesung den Regierungsentwurf
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes ge-
gen den unlauteren Wettbewerb. Die hiermit verbunde-
nen Gesetzesänderungen dienen insbesondere dem
Zweck, das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb,
UWG, besser an die europarechtlichen Vorgaben der
Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken von Unter-
nehmen gegenüber Verbrauchern – Richtlinie 2005/29/
EG vom 11. Mai 2005 – anzupassen.
Das UWG dient dem Schutz von Mitbewerbern, Ver-
braucherinnen und Verbrauchern und sonstigen Markt-
teilnehmern vor unlauteren geschäftlichen Handlungen.
Es schützt zugleich das Interesse der Allgemeinheit an
einem unverfälschten Wettbewerb. Das UWG beruht in
großen Teilen auf europarechtlichen Vorgaben.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9649
(A) (C)
(D)(B)
Aufgrund der europarechtlichen Vorgaben für den
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher soll das
Gesetz nun in einigen Punkten neu strukturiert und geän-
dert werden.
Insbesondere wird noch trennschärfer als bisher zwi-
schen den Regelungen für geschäftliche Handlungen ge-
genüber Verbraucherinnen und Verbrauchern einerseits
und Unternehmen andererseits unterschieden werden.
Diese sind unterschiedlich schutzbedürftig. Neu soll in
das UWG zudem eine Regelung aufgenommen werden,
die Verbraucherinnen und Verbraucher ausdrücklich vor
der Beeinflussung durch aggressive geschäftliche Hand-
lungen schützt. Zwar verbietet schon das UWG in seiner
bisherigen Fassung die Beeinflussung von Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern, etwa durch die Ausübung von
Druck oder andere aggressive geschäftliche Handlun-
gen. Nun wird jedoch erstmals ein eigener Paragraf zum
Schutz vor Aggression geschaffen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir ei-
nerseits zwingende EU-rechtliche Vorgaben um. Wir tun
andererseits aber auch etwas für die Verbraucherinnen
und Verbraucher sowie für den lauteren und gegen den
unlauteren Wettbewerb. Das Bundesministerium der
Justiz und für Verbraucherschutz hat den Gesetzentwurf
sogfältig vorbereitet und ausführlich mit den beteiligten
Kreisen diskutiert. Im Ergebnis sind daher die beteilig-
ten Kreise weitestgehend mit den vorgeschlagenen Re-
gelungen einverstanden.
Auch der Bundesrat hat dem Gesetzentwurf im
Grundsatz zugestimmt. Er hat allerdings zusätzliche
Vorschläge zur Verbesserung der UWG-Regelungen
gemacht. Das sind wichtige Punkte. Im vorliegenden
Verfahren müssen wir aber auch darauf achten, einen
ambitionierten Zeitplan einzuhalten, um eine Klage we-
gen verspäteter Umsetzung von EU-Recht zu vermeiden.
Das alles können wir aber in den kommenden Bericht-
erstattergesprächen noch vertiefen.
Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es uns im
Rahmen des Entwurfs gelungen ist, einerseits die euro-
parechtlichen Vorgaben im Interesse der Verbraucherin-
nen und Verbraucher angemessen umzusetzen, anderer-
seits den im deutschen Recht bewährten einheitlichen
Ansatz der Regelung sowohl des Verbraucherschutzes
als auch des Mitbewerberschutzes in ein und demselben
Gesetz soweit als möglich beizubehalten.
Für eine Unterstützung dieses Gesetzgebungsvorha-
bens wäre ich Ihnen daher dankbar.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur
Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 22)
Wilfried Lorenz (CDU/CSU): Die Sprachen dieser
Welt halten nicht selten Überraschungen parat. So auch
die unsrige. Die Aneinanderreihung von gleich drei Sub-
stantiven im Wort Unterhaltssicherungsgesetz, USG, nö-
tigt manchem Bewunderung, manchem Erstaunen ab.
Wieder andere denken unversehens an Unterhalt für die
geschiedene Ehefrau oder Alimente für Kinder.
Vielleicht sollte das Gesetz eher Reservedienst- und
Freiwilligwehrdienstleistendeunterhaltssicherungsgesetz,
RDLFWDLUSG, heißen. Dann wären nicht nur mehr
Substantive in einem durchaus beachtlichen Wortunge-
tüm untergebracht und eine stattliche Abkürzung kre-
iert, sondern es wäre auch klarer, worum es darin geht:
Erstens, um die Anpassung des noch aus dem Jahre
1957 stammenden Unterhaltssicherungsgesetzes an ak-
tuelle Entwicklungen seit Aussetzung der Wehrpflicht.
Zweitens, um die Zentralisierung der Abläufe sowie
um die Zusammenfassung und Vereinfachung aller
Leistungen für Reservedienstleistende – früher: Reser-
visten –, die bislang auch im Wehrsoldgesetz, WSG, ge-
regelt waren, zu einem Anreizsystem.
Die Durchführung des Gesetzes wird von den Län-
dern auf den Bund übertragen und in einer Hand zusam-
mengefasst. Zuständig sind ab 1. November 2015 also
nicht mehr die Unterhaltssicherungsstellen auf lokaler
Ebene, sondern das Bundesamt für Personalmanagement
der Bundeswehr.
Drittens, um die angemessene Erhöhung und Erweite-
rung der Mindestleistungen für Reservedienstleistende,
auf ein Niveau in Höhe mindestens der Nettobesoldung
von Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades.
Die Mindestleistungen wurden zuletzt 1990, kurz nach
der Wiedervereinigung, angehoben. Sie dienen der Si-
cherung des Einkommens während des Dienstes – daher
die Begrifflichkeit Unterhaltssicherung.
Viertens, um die Sicherung des Unterhalts von Fami-
lienangehörigen freiwillig Wehrdienstleistender durch
Nachvollzug von Änderungen im Unterhaltsrecht.
So die Gleichstellung nichtehelicher und ehelicher
Kinder sowie die Aufnahme der Unterhaltsansprüche
von Müttern und Vätern nichtehelicher Kinder.
Warum ist das wichtig für die Bundeswehr?
Weil der Dienst in der Bundeswehr bislang nicht nur
wenig gesellschaftliche Anerkennung fand, sondern
auch nicht mehr zeitgemäße Arbeitsbedingungen bot,
die eine Tätigkeit des zivilen Bereiches in den Streitkräf-
ten attraktiver machten.
Weil wir qualifizierte Freiwillige brauchen, damit die
Bundeswehr trotz der demografischen Entwicklung ein-
satzfähig bleibt.
Weil das bisherige Verfahren kompliziert und mit Ad-
ministration überfrachtet war und viele abschreckte.
Und weil mit dem novellierten USG – spiegelbildlich
wie für aktive Soldatinnen und Soldaten – bestehende
Benachteiligungen beseitigt werden.
Zum Glück heißt die gesetzliche Regelung, die für ak-
tive Soldaten bereits beschlossen wurde und Abhilfe
schaffen wird, übrigens wunderbar selbsterklärend
9650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015
(A) (C)
(D)(B)
Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in
der Bundeswehr (Bundeswehrattraktivitätssteigerungs-
gesetz).
Darin sind Maßnahmen in den verschiedensten Berei-
chen enthalten – wie auch im jetzigen Entwurf zum
Unterhaltssicherungsgesetz. Dort mit Schwerpunkt Ver-
sorgung der Reservisten und freiwillig Wehrdienstleis-
tenden.
Warum sind die vorgeschlagenen Änderungen im Ge-
samtkontext wichtig?
Weil Gesetze, wenn sie gut gemacht und durchdacht
sind, einen inneren Zusammenhang bilden. Novelliert
oder schafft man das eine, muss man Auswirkungen auf
andere Regelwerke mit ähnlichem Bezug betrachten.
Das haben wir erfolgreich geschafft, Anreize für Berufs-,
Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistende und Reser-
visten geschaffen. Damit wird eine Kette guter Entwick-
lungen in Gang gesetzt, mit einem Stubs – wie bei
Dominosteinen –, indem wir über die Bundeswehr, ihre
Struktur und Verbesserung nachgedacht und die Ergeb-
nisse in konkrete, aufeinander abgestimmte gesetzliche
Maßnahmen haben einfließen lassen.
Wir werden den Gesetzesantrag der Bundesregierung
jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren positiv
begleiten.
Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Mit dem vorliegenden
Entwurf zur Novelle des Unterhaltssicherungsgesetzes
setzt die Koalition ihr Vorhaben um, auch auf der Ebene
der Versorgung von Reservistinnen und Reservisten und
von freiwillig Wehrdienstleistenden die notwendigen
Konsequenzen aus dem Umbau der Bundeswehr in eine
moderne und attraktive Freiwilligenarmee zu ziehen.
Das Unterhaltssicherungsgesetz ist zuletzt 1980 grundle-
gend überarbeitet worden. Den Anforderungen, die die
nicht als Berufs- oder Zeitsoldaten in der Bundeswehr
dienenden Menschen stellen, kann dieses Gesetz nicht
mehr angemessen gerecht werden. Deshalb begrüßt die
SPD-Fraktion, dass die Bundesregierung nunmehr tätig
geworden ist, um die Versorgung der Dienstleistenden
auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen.
Zwei Aspekte verdienen dabei besondere Beachtung:
Erstens. Wie begleitet das Gesetz die Umstrukturierung
der Bundeswehr funktional? Zweitens. Wie ordnet sich
das Gesetz in die Bemühungen ein, den Dienst in der
Bundeswehr für alle Dienstleistenden möglichst attraktiv
zu machen? Dass beides mit Geld zu tun hat, liegt auf
der Hand.
Funktional haben wir zwei Aufgaben zu lösen: Ers-
tens muss die Versorgung der Dienstleistenden wie bis-
her die Verluste mindestens ausgleichen, die ihnen durch
den Wehr- oder Reservedienst im zivilen Leben entste-
hen, und zweitens können und müssen angesichts der
deutlichen Verkleinerung der Streitkräfte die Verwal-
tungsabläufe gestrafft werden.
Mit der Novelle werden jetzt alle Reservedienstleis-
tenden durch neue, deutlich angehobene steuerfreie Ta-
gessätze mit aktiven Soldaten des gleichen Dienstgrades
mindestens gleichgestellt. Wenn ihr ziviler Verdienstaus-
fall höher ist als die Tagessätze der Soldtabellen, wird
wie bisher ein entsprechender Ausgleich geleistet. Län-
ger Dienende erhalten Leistungszuschläge, die ihr be-
sonderes Engagement auf eine wirtschaftlich solide
Grundlage stellen. Beim Unterhalt für Angehörige wird
ein moderner Familienbegriff zugrunde gelegt, der den
Veränderungen unserer Gesellschaft seit Anfang der
80er-Jahre Rechnung trägt. Die freiwillig Wehrdienst-
leistenden werden außerdem bei der Miete und Betriebs-
kosten für Wohnraum unterstützt, wo es durch die Unter-
bringung in der Kaserne zu unzumutbaren Härten
kommen kann.
In Zukunft wird es in der kleiner gewordenen Freiwil-
ligenarmee mehr Reservedienstleistende als freiwillig
Dienstleistende geben, die die Bundeswehr als Erben der
Grundwehrdienstleistenden ausbildet. Deshalb wird die
Versorgung der Reservedienstleistenden im neuen Un-
terhaltssicherungsgesetz an erster Stelle geregelt. Die
Bearbeitung aller Anträge wird zentralisiert – eine deut-
liche Vereinfachung des Verwaltungsaufwands. Alle
diese Maßnahmen hält die SPD-Fraktion für sinnvoll.
Entscheidend für die Attraktivität insbesondere von
Wehrübungen wird aber die deutlich bessere Min-
destentlohnung, mit der Reservisten und Aktive nun-
mehr weitestgehend gleichgestellt werden. Die geteilte
Verantwortung für die Auftragserfüllung spiegelt sich in
der gleichen Entlohnungsstruktur wider. In diesem
Sinne, aber auch durch die Ausweitung der Versorgungs-
leistungen für Angehörige fügt sich die vorliegende No-
velle überzeugend als ein weiterer Baustein in das At-
traktivitätsprogramm der Koalition ein.
Die Kritik aus Kreisen der Reserve, die sehr grund-
sätzlich den Entschädigungsgedanken für eine frei-
willige Dienstleistung in Zweifel zieht, hat rechts-
theoretisch sicherlich ihre Berechtigung. Dass die
Dienstleistung nicht einfach angemessen entlohnt bzw.
besoldet wird, sondern stattdessen auf Antrag eine Ent-
schädigung gewährt wird, bleibt eine unbequeme, weil
bürokratische Begleiterscheinung der Wehrübungen.
Qualitativ aber bedeutet das Gesetz einen großen Schritt
hin zu besserer Würdigung der Einsatzleistung von Re-
servisten und somit hin zu größerer Attraktivität. Die
SPD-Fraktion freut sich auf die parlamentarische Bera-
tung und auf die zügige Umsetzung dieser sinnvollen
Initiative.
Christine Buchholz (DIE LINKE): Wir beraten
heute den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Unter-
haltssicherung. Die Bundesregierung will das veraltete
Unterhaltssicherungsgesetz neu fassen. Dagegen ist im
Grunde nichts zu sagen, wenn das zum Beispiel zur Ent-
lastung von Ländern und Kommunen führt. Auch kann
es Sinn machen, dass die auf 400 Behörden zersplitterte
Bearbeitung aufgrund der erheblich zurückgegangenen
Fallzahlen in der Bundeswehrverwaltung konzentriert
wird.
Die Linke ist aber der Meinung, dass ein Gesetz, das
den Reservistendienst und den freiwilligen Wehrdienst
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2015 9651
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attraktiver machen soll, in die falsche Richtung geht.
Wir teilen die Grundauffassung nicht, dass die Bundes-
wehr zu einer Einsatzarmee umgebaut wird und die
„Einsatzbereitschaft“ der Armee für Auslandseinsätze
durch das Fithalten einer Reservearmee gestärkt werden
soll. Die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir be-
grüßt, aber wir lehnen die Verstärkung der Rekrutie-
rungsbemühungen für freiwilligen Wehrdienst ab.
Das Gesetz soll explizit die „Attraktivität“ des Reser-
vistendienstes und auch des freiwilligen Wehrdienstes
steigern. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der freiwil-
lig Wehrdienstleistenden innerhalb der ersten sechs Mo-
nate abbrechen, hat nicht in erster Linie mit der Vergü-
tung zu tun, sondern damit, dass jungen Menschen in
Werbeshows und Adventure-Camps eine Welt vorgegau-
kelt wird, die der Realität in der Bundeswehr nicht ent-
spricht.
Zu einzelnen Aspekten des Gesetzes:
Wir verweisen darauf, dass es bereits jetzt ein
Missverhältnis zwischen der Besoldung von freiwillig
Wehrdienstleistenden einerseits – bis zu 1 146 Euro im
Monat – und dem Taschengeld für FSJler und FSJlerin-
nen sowie Bundesfreiwilligendienstleistende – Ober-
grenze 363 Euro – gibt.
Die flexiblere Anerkennung der Erstattung von Miete
und Betriebskosten für freiwillig Wehrdienstleistende
wirft bei uns die Frage auf, warum die Tätigkeit von frei-
willig Wehrdienstleistenden gegenüber anderen Berufs-
gruppen im unteren Einkommenssegment privilegiert
werden soll.
Die Zusammenlegung der Administration für die Fra-
gen der Unterhaltssicherung von Reservisten und frei-
willig Wehrdienstleistenden kann, wie bereits erwähnt,
sinnvoll sein. Dass Arbeitgeber und Finanzbehörden
verpflichtet werden sollen, Daten über die Arbeitnehmer
an das Bundesamt für Personalmanagement der Bundes-
wehr zu übermitteln, halten wir im Sinne des Daten-
schutzes für bedenklich.
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir beraten in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes
zur Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur Än-
derung soldatenrechtlicher Vorschriften. Mit diesem
Gesetz verfolgt die Bundesregierung das Ziel, nach der
Verabschiedung des Gesetzes zur Steigerung der Attrak-
tivität des Dienstes in der Bundeswehr, das Maßnahmen
für die Berufs- und Zeitsoldatinnen und -soldaten be-
inhaltete, nun auch die Attraktivität des Dienstes der Re-
servedienste und freiwillig Wehrdienstleistenden zu er-
höhen. Diese Zielsetzung ist richtig und notwendig,
wenn die Bundeswehr auch in diesen Gruppen motivier-
tes Personal gewinnen und halten möchte.
Mit diesem Gesetzentwurf sollen die Durchführung
der Unterhaltssicherung auf den Bund übertragen und
vor allem Maßnahmen umgesetzt werden, die das Ein-
kommen der Reservedienstleistenden und den Unterhalt
von Angehörigen von freiwillig Wehrdienstleistenden be-
treffen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen erscheinen
sinnvoll. Nach dem Wegfall der Wehrpflicht scheint bei
gesunkenem Antragsaufkommen eine dezentrale Ver-
waltung tatsächlich nicht mehr die effizienteste Struktur
zu sein, sodass es mehr Sinn macht, wenn diese Aufgabe
zentral durch den Bund übernommen wird. Die Verein-
fachung des Antragsverfahrens soll zudem den Aufwand
reduzieren, der benötigt wird, um Leistungen zu bezie-
hen. Eine Anhebung der Leistungen nach dem Unter-
haltssicherungsgesetz, mehr als 20 Jahre nachdem dies
zuletzt geschah, ist nachvollziehbar. Die Gleichstellung
von ehelichen und nichtehelichen Kindern scheint längst
überfällig.
Klar ist, dass solche finanziellen Maßnahmen wichtig
sind, alleine aber nicht für einen attraktiven Dienst in der
Bundeswehr sorgen werden. Dies gilt für Berufs- oder
Zeitsoldatinnen und -soldaten genauso wie für freiwillig
Dienende. Sie muss den Soldatinnen und Soldaten An-
gebote machen, die es auch jenseits von finanziellen An-
reizen attraktiv machen, sich für einen freiwilligen
Dienst in der Bundeswehr zu melden. Sie muss die Men-
schen vor allem mit sinnvollen Tätigkeiten und einer
modernen Führungskultur für sich gewinnen.
Im parlamentarischen Verfahren werden wir die ein-
zelnen Punkte des Gesetzentwurfes noch genauer be-
trachten. Das grundsätzliche Anliegen von Verwaltungs-
vereinfachung, die Anpassung der Unterhaltssicherung
auf einen aktuellen Stand und die Schaffung von Anreiz-
systemen, scheint uns sinnvoll. Wir werden den Gesetz-
entwurf aber auch dahingehend hinterfragen müssen, ob
die hier vorgeschlagenen Maßnahmen in ihrer Höhe an-
gemessen sind. Im Raum stehen zudem Vorwürfe, dass
das hier gewählte Verfahren der Entschädigung nach der
Abkehr von der Wehrpflicht systemwidrig sei und die
Reservedienstleistenden trotz gleicher Leistung gegen-
über den aktiven Soldatinnen und Soldaten erheblich be-
nachteiligt werden. Wir werden uns mit dieser Kritik
auseinandersetzen. Ich würde es zudem begrüßen, wenn
wir diesen Gesetzentwurf auch zum Anlass nähmen, uns
mit den konzeptionellen Grundlagen des Reservediens-
tes und des freiwilligen Wehrdienstes zu befassen. Diese
Grundlagen sind schließlich in der Frage der Attraktivi-
tät von erheblicher Bedeutung.
Markus Grübel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Verteidigung: Nicht nur als Parlamen-
tarischer Staatssekretär, sondern insbesondere auch als
langjähriger Reservedienstleistender bin ich von der be-
sonderen Bedeutung des Reservistendienstes überzeugt.
Daher ist mir der Gesetzentwurf, den wir unter dem ak-
tuellen Tagesordnungspunkt behandeln, ein besonderes
Anliegen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD haben die
Bundesministerin der Verteidigung gebeten, Maßnah-
men zur Attraktivitätssteigerung des Reservistendienstes
zu prüfen, zeitnah einzuleiten und mit den notwendigen
Haushaltsmitteln in der mittelfristigen Finanzplanung zu
unterlegen. Dies unterstreicht den gemeinsamen Willen
der Regierungsfraktionen, den Reservistendienst attrak-
tiver zu machen.
Das Bundesministerium der Verteidigung strebt zu
diesem Zweck unter anderem eine Neufassung des aus
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dem Jahr 1957 stammenden Unterhaltssicherungsgeset-
zes an. Denn aufgrund der Entwicklungen in den letzten
Jahrzehnten besteht ein erheblicher Änderungsbedarf.
Die Vielzahl der notwendigen Änderungen macht dabei
eine konstitutive Neufassung erforderlich.
Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, die
Situation insbesondere der Reservistendienstleistenden
sowie der freiwillig Wehrdienstleistenden zu verbessern.
Zunächst möchte ich auf die Gruppe der Reservisten-
dienstleistenden eingehen. Für diese Personengruppe
werden Verbesserungen insbesondere in drei Bereichen
angestrebt:
Erstens soll die Mindestleistung angehoben werden.
Zweitens soll zur Qualitäts- und Effizienzsteigerung
die Antragsbearbeitung von den Ländern auf eine Stelle
in der Bundeswehr konzentriert werden.
Drittens sollen die Voraussetzungen für Leistungen an
Selbstständige erheblich vereinfacht werden.
Zunächst zur geplanten Leistungserhöhung:
Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Mindestleistungen
an die Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten
gleichen Dienstgrades in der ersten Erfahrungsstufe an-
geglichen werden. Dies bedeutet konkret, dass die Leis-
tungen von bislang circa 40 Prozent des Einkommens
der aktiven Soldatinnen und Soldaten auf künftig circa
100 Prozent angehoben werden.
Hierdurch sollen die Reservistendienstleistenden eine
Sicherung ihres Lebensbedarfs nach ihrem Dienstgrad
erhalten. Durch die Erhöhung der Mindestleistung wird
eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag zwischen CDU,
CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode erfüllt, nach
der die Attraktivität des Reservistendienstes gesteigert
werden soll.
Zweitens soll die Durchführung des Unterhaltssiche-
rungsgesetzes von den Ländern auf den Bund übertragen
werden. Die Bearbeitung der Anträge auf Leistungen
nach dem Unterhaltssicherungsgesetz soll nicht mehr
wie bisher bei rund 400 Behörden erfolgen, sondern
stattdessen bei einer Stelle in der Bundeswehrverwal-
tung konzentriert werden.
Damit wird unter anderem eine entsprechende Forde-
rung des Bundesrechnungshofes umgesetzt. Dieser hatte
zuvor bei Stichproben eine hohe Zahl von fehlerhaften
Bearbeitungen kritisiert.
Durch diese „Leistung aus einer Hand“ wird das An-
tragsverfahren für den Antragsteller außerdem verein-
facht und Kompetenz gebündelt.
Die Bundesregierung erwartet durch diese Bündelung
der Aufgabenwahrnehmung eine größere Routine bei der
Bearbeitung der komplexen Rechtsmaterie, eine Verein-
fachung der Verfahren und somit im Ergebnis eine grö-
ßere Zufriedenheit seitens der Reservistendienstleisten-
den.
Drittens werden die Grundlagen für Leistungen an
Reservistendienstleistende erheblich vereinfacht. Die
Praxis hat gezeigt, dass es für Reservistendienstleistende
wichtig ist, vor dem Reservistendienst einschätzen zu
können, wie hoch die Leistungen dafür ausfallen wer-
den. So sollen Reservistendienstleistende, die selbststän-
dig berufstätig sind, künftig eigenverantwortlich
entscheiden, ob ihr Betrieb während des Reservisten-
dienstes ruht oder eine Ersatzkraft beschäftigt wird. Die
Einkommensverluste sollen nunmehr pauschal auf der
Grundlage des letzten Einkommensteuerbescheides er-
stattet werden.
Neben der Sicherung des Einkommens der Reservis-
tendienstleistenden sollen aber auch weitere finanzielle
Leistungen wie Zulagen und Prämien, die bisher im
Wehrsoldgesetz geregelt waren, in diesem Gesetz zu ei-
nem neuen Anreizsystem für mehr Reservistendienst-
leistung gebündelt werden.
Lassen Sie mich abschließend auf die freiwillig Wehr-
dienstleistenden eingehen.
Ziel des Gesetzes ist es, den Lebensbedarf der freiwil-
lig Wehrdienstleistenden und ihrer Familien zu sichern.
Diese sollen nicht aufgrund des freiwilligen Wehrdienstes
Anträge auf Sozialleistungen stellen müssen. Um von
vornherein Härtefälle zu vermeiden, entfallen bei der Er-
stattung der Wohnraumkosten die Höchstgrenzen. An die
Stelle tritt die Erstattung der tatsächlichen Kosten. Zu-
dem werden im Gesetz zukünftig nichteheliche Kinder
und Adoptivkinder den ehelichen Kindern gleichgestellt.
Zur Vorbeugung gegen Gesetzesmissbrauch wird die
Erstattung von vertraglichen Verpflichtungen wie für
Wohnraum und Versicherungen gegen Krankheit sowie
Vermögensnachteile, die nicht für die Zeit des Wehr-
dienstes gekündigt werden können, für freiwillig Wehr-
dienstleistende zurzeit davon abhängig gemacht, dass
die Leistungsverpflichtungen sechs Monate vor Beginn
des freiwilligen Wehrdienstes bestehen.
Ziel dieser derzeit bestehenden Regelung ist es, aus-
zuschließen, dass freiwillig Wehrdienstleistende im Hin-
blick auf zu erwartende Erstattungen während des frei-
willigen Wehrdienstes gezielt Verträge abschließen.
Durch diese starre Frist kam es jedoch in der Praxis
regelmäßig zu Härten. Deswegen sollen in Zukunft Ver-
träge nur dann grundsätzlich keine Berücksichtigung fin-
den, wenn sie in Kenntnis eines bevorstehenden freiwil-
ligen Wehrdienstes abgeschlossen werden.
Diese Kenntnis erlangen freiwillig Wehrdienstleis-
tende insbesondere durch einen schriftlichen oder elekt-
ronischen Einplanungsvermerk des Karrierecenters der
Bundeswehr.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, den Ihnen
vorliegenden Gesetzentwurf zu unterstützen.
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
100. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3, ZP 2 Nachtragshaushalt und Unterstützung von Kommunen
TOP 4 Kleinanlegerschutzgesetz
TOP 5 Geburtsrecht im Staatsangehörigkeitsrecht
TOP 30, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
ZP 4 Aktuelle Stunde: Einfluss von Interessen-vertretern auf die Infrastrukturpolitik
TOP 6 Jahresbericht 2014 des Wehrbeauftragten
TOP 7 Grundfreibetrag, Kinderfreibetrag und -geld
TOP 8 Bilanz des Krieges in Afghanistan
TOP 9 Karenzzeit für Regierungsmitglieder
TOP 10 Aufnahme syrischer und irakischer Flüchtlinge
TOP 11 Verbraucherschutz im Datenschutzrecht
TOP 16 Status Palästinas in der UNO
TOP 13 Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten
TOP 14 Fluglärm
TOP 15 Einführung eines Ersatzpersonalausweises
TOP 12 EU-Polizeimission in der Ukraine
TOP 17 Personalrecht der früheren Bundespostbeamten
TOP 19 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung
TOP 20 Opferrechte im Strafverfahren
TOP 21 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
TOP 22 Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften
Anlagen