Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich. Ich könnte jetzt eigentlich jeden Einzelnen von
Ihnen namentlich begrüßen. Dieser Versuchung wider-
stehe ich aber tapfer,
um nicht einen Berufungsfall für künftige Sitzungen zu
schaffen.
Jedenfalls freue ich mich über Ihre Anwesenheit umso
mehr.
Ich teile Ihnen mit, dass es eine interfraktionelle Ver-
einbarung gibt, die heutige Tagesordnung um eine Ver-
einbarte Debatte zu dem Thema „Flüchtlingskatastrophe
im Mittelmeer“ zu erweitern, und dass diese Verein-
barte Debatte im Anschluss an die Fragestunde um
15 Uhr als Zusatzpunkt 1 unserer Tagesordnung mit ei-
ner Debattendauer von einer Stunde aufgerufen wird.
Unsere Fragestunde wird also entsprechend früher en-
den. – Dazu kann ich keinen Widerspruch erkennen.
Dann haben wir das so vereinbart.
Solche Vereinbarungen sind ohnehin umso einfacher,
je weniger
potenzielle Widerspruchsmöglichkeiten aufgrund der
Präsenz bestehen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 1:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierung
für das Jahr 2014 nach § 7 des Gesetzes zur Einset-
zung eines Nationalen Normenkontrollrates.
Der mit diesem Thema federführend Beauftragte ist
der Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, Helge
Braun. Ich möchte ihn deswegen bitten, dazu gleich ei-
nige einführende Bemerkungen zu machen.
Falls es nach der Erledigung dieses Themas noch
sonstige Fragen zu anderen Themen der Kabinettssit-
zung oder an die Bundesregierung gibt, rufe ich diese
selbstverständlich auf. Es wäre hilfreich, wenn es bei
vorhandenem bzw. absehbarem Interesse schon einmal
eine vorherige Information gäbe.
Bitte schön, Herr Braun.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelleIhnen heute den Bericht zur besseren Rechtsetzung fürdas Jahr 2014 vor. Ich möchte definitorisch vorwegschi-cken, dass wir dabei insbesondere zwei Zahlenwertebetrachten: Zum einen betrachten wir die Bürokratiekos-ten, also die Kosten, die für die Wirtschaft aus Informa-tions- bzw. Mitteilungspflichten entstehen. Zum anderenbetrachten wir einen größeren Wert, und zwar den Erfül-lungsaufwand, der für die Bürgerinnen und Bürger, fürdie Verwaltung und für die Wirtschaft entsteht. Daruntersubsumieren wir nicht nur echte Bürokratiekosten im en-geren Sinne, sondern all die Kosten, die der Staat denBürgern, der Verwaltung und der Wirtschaft darüber hi-naus aufbürdet, etwa dadurch, dass gewisse Arten vonMüll getrennt werden müssen, dass aufgrund des Min-destlohns höhere Löhne gezahlt werden müssen, odereben auch dadurch, dass gewisse Umweltstandards– Einbau von Filteranlagen etc. – eingehalten werdenmüssen.Wenn wir uns den Erfüllungsaufwand für den Bürgeranschauen, sehen wir, dass sich dieser im Jahr 2014positiv entwickelt hat. Die Bürgerinnen und Bürger ha-ben insgesamt einen Erfüllungsaufwand im Wert von886 Millionen Euro weniger zu leisten. In Stunden um-gerechnet heißt das: Wir haben den Menschen im Jahr2014 ungefähr 8 Millionen Stunden zurückgegeben, die
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Staatsminister Dr. Helge Braun
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sie für sinnvollere und schönere Dinge als für die Erfül-lung bürokratischen Aufwands verwenden können.Bei der Verwaltung geben wir 199 Millionen Euro da-durch frei, dass wir Aufwand reduzieren. Sowohl für denBürger als auch für die Verwaltung spielen dabei die Än-derungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversiche-rung eine besondere Rolle. Denn in Zukunft wird relativautomatisiert der Zusatzbeitrag erhoben, und es ist nichtmehr so wie bisher, dass der Bürger sein Einkommennachweisen und selber dafür sorgen muss, dass der Zu-satzbeitrag entrichtet wird.Ich nenne zwei weitere Beispiele, die wohl ganz ein-drücklich zeigen, wo wir den Bürger entlastet haben.Das erste Beispiel ist die vorausgefüllte Steuererklä-rung; so muss man in Zukunft seine Lohnsteuerdaten,wenn man am elektronischen Verfahren teilnimmt, nichtmehr selber in die Anlagen der Steuererklärung eintra-gen, sondern man kann die Daten automatisiert abrufen.In Zukunft können auch weitere Bestandteile der Steuer-erklärung im automatisierten Verfahren durchgeführtwerden. Das, denke ich, nützt den Bürgerinnen und Bür-gern.Das zweite schöne Beispiel ist i-Kfz. Das Abmeldenvon Fahrzeugen ist heute schon vielfach über das Inter-net möglich, ohne dass man zur Kfz-Zulassungsstellegehen muss. Onlineverfahren zu weiteren Verwaltungs-dienstleistungen werden folgen.Eine Sondersituation hatten wir im Jahr 2014 bei derWirtschaft. Wir konnten die Wirtschaft von echten Büro-kratiekosten entlasten. Der Bürokratiekostenindex ist imJahr 2014 leicht gesunken. Aber bezüglich des Erfül-lungsaufwandes gab es durch den Mindestlohn einenSondereffekt. Es sind – ich habe es eingangs beschrie-ben – insgesamt 9,7 Milliarden Euro mehr durch dieWirtschaft aufzubringen, weil diejenigen, die bishernoch keinen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro bekom-men haben, zusätzliche Lohnkosten dadurch verursa-chen, dass an sie jetzt 8,50 Euro bezahlt wird. Das waraber explizit der politische Wille des Gesetzgebers.Zusätzlich zu unserem Arbeitsprogramm werden wirmorgen einen wichtigen Schritt gehen. Wir werden näm-lich unser Portal „amtlich einfach“ online stellen. In die-sem Portal kann man sich über eine Befragung von Bür-gern und Unternehmen informieren, die wir zusammenmit dem Statistischen Bundesamt durchführen. Hier gehtes darum, zu erfahren, wo Bürger oder Unternehmen Bü-rokratie als besonders belastend empfinden. Dieses Por-tal ist gleichzeitig auch ein Wegweiser durch die Büro-kratie. Ich zeige Ihnen einmal diesen Wegweiser. – WieSie sehen, sehen Sie nichts, weil es zu klein ist. Es sollSie einfach nur neugierig machen, diese Plattform ein-mal zu besuchen. Wir haben für verschiedene Lebensla-gen – zum Beispiel Aufnahme eines Studiums, Geburteines Kindes, Sterbefall – alle einzelnen bürokratischenSchritte, die in solchen Fällen notwendig sind, aufge-führt. Der Bürger oder das Unternehmen kann diesenWegweiser benutzen, um zu sehen: Was ist zwingend?Was ist möglich? Was kann ich beantragen? Was ist da-für erforderlich?Diese Plattform dient aber auch dazu – das ist für unsder viel bedeutendere Punkt –, dass wir Ideen von Bür-gern und Unternehmen aufnehmen, wie wir noch unbü-rokratischer werden können, wie wir Dinge vereinfachenkönnen, und zwar über eine Kommentarfunktion. Dasfordert die OECD von uns seit langem. Nun führen wires ein. Da es an den Lebenslagen, den einzelnen Verfah-rensschritten entlangläuft, ist es sehr gut strukturiert undkann deshalb hoffentlich zu sehr konkreten Maßnahmenim Rahmen unserer Gesetzgebung führen.Ich will meinen einleitenden Vortrag schließen, indemich sage: Ich glaube, wir haben eine Menge getan. Es istaber auch noch viel zu tun. Dazu entwickeln wir unsauch methodisch weiter. Ich hoffe auf gute Ergebnisse inden nächsten Jahren.
Vielen Dank. – Nachfragen? – Kollege Gambke.
Vielen Dank. – Sie haben mit schönen Worten die Er-
folge deutlich gemacht. Aber wenn man einen Bericht
im Kabinett entgegennimmt, dann, denke ich, würdigt
man den Bericht auch kritisch.
Meine erste Frage lautet explizit: Wo sind die kriti-
schen Punkte? – Es wird neben den Kosten zum Beispiel
nicht die Verfahrensdauer angesprochen. Wie ich aus der
Wirtschaft weiß, sind nicht immer die Kosten, sondern
vielfach die Verfahrensdauern für Probleme bei der Be-
antragung verantwortlich. Ist einmal kritisch gewürdigt
worden, dass bisher bei der Evaluation von Bürokratie
gerade diese Dimension nicht betrachtet wird?
Eine zweite Frage möchte ich auch im Kontext der
kritischen Würdigung anschließen. Die letzte Bundes-
regierung hat sich als Ziel vorgenommen, die Bürokra-
tiekosten um 25 Prozent abzubauen. Die jetzige Bun-
desregierung sagt: One in, one out. – Wenn ich die
verschiedenen Projekte betrachte, die nicht unter die
„One in, one out“-Regelung fallen, aber bisher beschlos-
sen wurden, vom Mindestlohn bis zur Maut, dann frage
ich: Ist im Kabinett kritisch hinterfragt worden, ob man
sich nicht, wie ja auch der Normenkontrollrat gefordert
hat, ambitioniertere Ziele setzen sollte als die, die sich
die jetzige Bundesregierung gesetzt hat?
Ich darf aus methodischen Gründen und im weitesten
Sinne als Beitrag zum Bürokratieabbau darauf hinwei-
sen, dass wir uns auf jeweils eine Minute Redezeit für
Fragen und Antworten verständigt haben. – Herr Staats-
minister.
D
Vielen Dank. – Zur ersten Frage nach den Verfahrens-dauern: In der Tat sind Verfahrensdauern relativ schwerstrukturiert zu erfassen. Ich glaube aber, dass gerade dasModell, das ich am Schluss angesprochen habe, den Un-ternehmen die Gelegenheit bietet, bei der Befragung
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Staatsminister Dr. Helge Braun
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oder in der Kommentarfunktion Hinweise zu einzelnenVerfahrensprozessen zu machen. Sie haben also dieMöglichkeit, darauf hinzuweisen, dass ein bestimmterbürokratischer Weg besonders zeitkritisch ist. Die ent-sprechenden Punkte könnten wir im Weiteren in das Ar-beitsprogramm aufnehmen. Ich glaube, die Frage derVerfahrensdauer ist ein Punkt, den wir im Rahmen desneuen Verfahrens stärker würdigen können. Wir achteninsofern schon darauf.Wir erhalten, wie Sie richtig gesagt haben, viele Ein-gaben. Die Unternehmen sagen: Heutzutage ist Zeitnoch viel mehr wert als früher Geld. Wir sehen aber,dass die Verfahrensdauer häufig einen bestimmtenGrund hat: das Beibringen gewisser Unterlagen zurSchaffung von Plausibilität bzw. Nachvollziehbarkeit.Wir arbeiten an dieser Stelle daran und schauen, wie wirdie Verfahren vereinfachen können.Sie hatten dann angesprochen bzw. gefragt, ob wirden Bericht im Kabinett kritisch gewürdigt haben. Dashaben wir heute selbstverständlich getan.Was war Ihre zweite Frage? Bitte sagen Sie es nocheinmal kurz.
Warum kein Abbauziel?D
Genau, die Frage nach einem konkreten Abbauziel. –
„One in, one out“ heißt ja: Es wird, wenn das Prinzip in
Kraft tritt, also ab 1. Juli dieses Jahres, keinen Zubau
mehr geben. Man kann sich, nachdem man sich in einer
Legislaturperiode ein so großes Abbauziel vorgenom-
men hat, nämlich 25 Prozent weniger Bürokratie, nicht
in der nächsten Legislaturperiode schon wieder vorneh-
men, 25 Prozent abzubauen. Wir sind ein Staat mit ei-
nem sehr präzisen Ordnungsrahmen. Das soll so bleiben.
Deshalb ist es richtig, das Ziel zu verfolgen, nicht zuzu-
bauen, sondern das Niveau zu halten. Aber ein Abbau
von weiteren 25 Prozent, also insgesamt quasi eine Hal-
bierung des Bürokratieaufwandes in Deutschland, wäre
unter anderem mit der gewollten Rechtssicherheit und
den hohen Umweltstandards in unserem Land nicht zu
vereinbaren. Wir wollen keine Standards reduzieren,
sondern Verfahren vereinfachen. Da ist „One in, one
out“ schon ein ambitioniertes Ziel.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen zu diesem Be-
richt. Es gibt eine Reihe angemeldeter Nachfragen zu
anderen Themen, aber, wenn ich das richtig verstanden
habe, nicht unbedingt zur heutigen Kabinettssitzung. Ich
frage der guten Ordnung halber: Gibt es noch Fragen zur
heutigen Kabinettssitzung? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich jetzt sonstige Fragen an die Bundesre-
gierung auf. Wenn ich es richtig sehe, steht Herr Minis-
ter Müller zur Verfügung. Ich beginne mit der angemel-
deten Frage der Kollegin Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Müller,
es hat sehr lange gedauert, einen nationalen Flüchtlings-
gipfel von Bund, Ländern und Kommunen einzuberufen,
weil die Bundesregierung sich lange geweigert hat. Die
Kanzlerin musste durch öffentlichen Druck dazu ge-
bracht werden. Jetzt soll er am 8. Mai stattfinden. Kön-
nen Sie uns erklären, warum Sie bisher, bis heute, nicht
beabsichtigen, die kommunalen Spitzenverbände zu die-
sem Gipfel einzuladen? Das sind doch die Hauptakteure;
die Kommunen sind diejenigen, die für die Fragen der
Unterbringung, der Erstaufnahme, der Begleitung und
der Betreuung von Flüchtlingen die Hauptverantwortung
tragen, also diejenigen Akteure, die genau wissen, wo in
der Praxis Engpässe, Sorgen und Nöte bestehen. Dass
Sie ausgerechnet die kommunalen Spitzenverbände
nicht einladen, können wir nicht nachvollziehen. Wir
würden gerne von Ihnen eine Erklärung dafür haben.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Bundesregierung,
insbesondere in Person von Herrn Altmaier, dem Chef
des Kanzleramtes, ist in einem ständigen Dialog auch
mit den Vertretern der Kommunen. Sie haben recht, dass
die Kommunen einen ganz entscheidenden, wichtigen
Beitrag zur Umsetzung und zur Lösung der insbesondere
mit der Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge verbun-
denen Probleme leisten. Dafür gebühren ihnen unsere
volle Anerkennung und unser Dank.
Ich möchte auch den Tausenden von Ehrenamtlichen
im Lande meinen Dank aussprechen, die durch ihren
großartigen Einsatz die Flüchtlinge menschenwürdig
empfangen und ihnen Türen öffnen.
Zum Flüchtlingsgipfel sind Bund und Länder eingela-
den. Die Länder vertreten hier die Kommunen mit; das
entspricht dem in der Verfassung niedergelegten Verhält-
nis von Bund, Ländern und Kommunen.
Frau Kollegin Amtsberg.
Meine Frage bezieht sich auf den Zehn-Punkte-Plan,über den in den letzten Tagen häufig diskutiert wurde.Ich würde gerne wissen, ob die Bundesregierung nachden Ereignissen vom Wochenende einen Fehler darinsieht, sich dafür eingesetzt zu haben, dass die MissionMare Nostrum eingestellt wurde und deren Aufgabendann irgendwie auf andere Weise kompensiert wurden.Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Diese entsetzliche Katastrophe fordert die gesamteEuropäische Union zum Handeln auf. Deshalb haben dieAußen- und Innenminister einen Zehn-Punkte-Katalogerarbeitet. In ihm wurde auch das Thema Seenotrettungverankert und eine Ausweitung der jetzt laufenden Mis-
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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sion vereinbart. Es ist von einer Verdoppelung der Mitteldie Rede. Auf alle Fälle ist das Ziel, durch eine wesentli-che Ausweitung der jetzigen Mission möglichst solcheUnglücke, wie sie jetzt passieren, zu verhindern.
Frau Hänsel.
Danke schön. – Herr Minister Müller, auch meine
Nachfrage bezieht sich auf das Flüchtlingsdrama. Sie ha-
ben den Zehn-Punkte-Plan angesprochen, der allerdings
vor allem eine Bekämpfung der Schleuserkriminalität
vorsieht. Man liest vonseiten der EU unter anderem, dass
die Zahl der Schiffe in Libyen reduziert werden müssen.
Sie fordern gleichzeitig ein Sofortprogramm in Höhe
von 10 Milliarden Euro.
Meine ganz konkrete Frage lautet: Setzen Sie sich da-
für ein, dass die Flüchtlinge auf hoher See gerettet wer-
den? Setzen Sie sich dafür ein, dass mithilfe dieser Mit-
tel mehr Schiffe auf dem Mittelmeer zur Rettung der
Flüchtlinge eingesetzt werden? Oder legen Sie den Fo-
kus, wie alle anderen auch, auf die Abwehr, auf die
Schleuserbekämpfung usw.? Sie haben heute im Mor-
genmagazin gesagt, die Boote müssten in die andere
Richtung fahren. Könnten Sie sich vielleicht ganz kon-
kret äußern: Sind Sie für mehr Geld für die Flüchtlings-
rettung?
In Ihrem Haus ist ja auch ein Papier zum Thema
christlich-jüdische Werte in Arbeit. Der christliche Wert
der Nächstenliebe müsste für Sie da doch an oberster
Stelle stehen, also konkret, dass die Menschen auf hoher
See gerettet werden.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Vielen Dank. – Im Prinzip könnte ich nur dreimal Ja
sagen, aber ich möchte das auch begründen.
Die erste und wichtigste Aufgabe ist, die Rettung der
Flüchtlinge im Mittelmeer in Zusammenarbeit der
28 europäischen Mitgliedstaaten sofort und effektiver zu
organisieren. Ich habe heute früh gesagt, dass ich per-
sönlich Mare Nostrum nicht durch Triton ersetzt hätte.
Jetzt wird reagiert. Die erste und wichtigste Aufgabe ist
also, Rettung sofort und effektiver zu organisieren.
Der zweite Punkt ist – das findet sich auch in dem
Zehn-Punkte-Plan –: Wir müssen das Problem der Auf-
nahme von Bürgerkriegsflüchtlingen – ich spreche jetzt
von den Bürgerkriegsflüchtlingen, nicht von Zuwande-
rern oder Asylbewerbern zum Beispiel aus dem Balkan –
und deren Verteilung in Europa solidarisch miteinander
gemeinsam lösen.
Zum dritten Punkt, zu meiner Aussage, dass es gelte,
mit dem Boot zurückzufahren in die Krisenländer, in die
Herkunftsländer. Wir haben, wenn Sie die Gesamtzahl
der Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber in
Deutschland in den Blick nehmen, im Wesentlichen drei
Hauptströme nach Europa bzw. nach Deutschland: ein-
mal die Asylbewerber aus dem Balkan, zum anderen
– das ist die Spezialherausforderung – die Bürgerkriegs-
flüchtlinge aus Syrien und aus dem Irak und zum Dritten
Flüchtlinge aus vier oder fünf afrikanischen Staaten,
zum Beispiel aus Somalia oder Eritrea.
Herr Minister, ich muss Sie an die Zeit erinnern.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Jawohl. – Ich habe vorgeschlagen, dass die Europäi-
sche Union Handlungsfähigkeit zeigt und mit einem
neuen Instrument, einem EU-Mittelmeer-und-Afrika-
Programm reagiert, das ein Volumen von 10 Milliarden
Euro umfassen sollte.
Herr Kollege Beck, weil ich gerne bei diesem Kom-
plex bleiben möchte: Bezieht sich Ihre Frage auf diesen
Themenkomplex?
Ja.
Bitte.
Herr Minister, zunächst einmal möchte ich der Bun-desregierung empfehlen, in der Geschäftsordnung desDeutschen Bundestages nachzuschauen, was wir bezüg-lich der Beteiligung der kommunalen Spitzenverbändein der letzten Legislatur geregelt haben. Vielleicht kön-nen Sie sich diese Regelung auch bei Ihren Gipfeln zueigen machen.Nun zur Sache selbst: Mir ist nicht klar, wie Sie mit3 Millionen Euro mehr für Triton bezüglich der Seenot-rettung das leisten wollen, was im Rahmen von MareNostrum einst geleistet wurde. Das geht zunächst schonvom Mandat her gar nicht. Das Mandat von Triton ist einFrontex-Mandat; es dient der Sicherung der EU-Außen-grenzen und nicht der Rettung des Lebens von Schiff-brüchigen auf dem Meer. Außerdem ist mir unklar, wieman mit der Verdoppelung der Mittel für Triton, die da-mit aber immer noch ein Drittel unter denen für MareNostrum liegen, das Gleiche wie mit Mare Nostrum er-reichen will. Wir sehen doch gerade, dass mit einemDrittel der Mittel im Ergebnis nichts dagegen getan wer-den konnte, dass Hunderte von Menschen im Mittelmeerertrunken sind.Ich möchte Sie dann konkret fragen, wie die Bundes-regierung sich die in dem Zehn-Punkte-Plan vorgese-hene Bekämpfung der Schleuser vorstellt. Zu dieserFrage fand auf europäischer Ebene am 20. April 2015ein Gespräch statt. Der zuständige Kommissar sprachvon einer Front Line, an der man arbeite. Das ist dieDenke von Frontex; das entspricht aber nicht der Denkevon Mare Nostrum, einem Mandat, bei dem es um dieRettung von Leben ging.
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Kollege Beck, auch Sie können jetzt leider keinen
Vortrag zu dem Thema halten.
Nein, ich wollte bloß die Grundlage für die Frage
klarstellen.
Nein, wenn für die Frage insgesamt eine Minute zur
Verfügung steht, können nicht für die Beschreibung der
Grundlage der Frage 90 Sekunden in Anspruch genom-
men werden.
Da mögen Sie recht haben, Herr Präsident. Ich bin
reumütig.
Dass ich das noch erleben darf.
Herr Minister, ich möchte Sie trotzdem fragen, wie
Sie zu der angekündigten Zerstörung von Schleuserboo-
ten stehen. Wir alle sind gegen die Schleuser. Aber Ter-
roristen sind sie nicht.
Was bei Atalanta zulässig ist, ist meines Erachtens bei
der Bekämpfung der Schleuser unverhältnismäßig. Des-
halb bitte ich Sie, klarzustellen, was die Bundesregie-
rung in diesem Rahmen innerhalb der EU plant.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Erstens stelle ich noch einmal klar: Im europäischen
Rahmen muss klar und effektiv sichergestellt werden,
dass im Mittelmeer eine effektive Rettung der Flücht-
linge aus Seenot erfolgen kann.
Zweitens. Es ist klar, dass wir es bei dem Schlepperpro-
blem mit einem Problem zu tun haben, bei dem insbeson-
dere in Libyen organisierte Kriminalität dahintersteckt.
Die Frage, welche Möglichkeiten zur Bekämpfung oder
Verhinderung bestehen, wurde in der Tat im Kreis der
Innenminister in Brüssel erörtert. Entscheidungen in
diese Richtung sind aber noch keine getroffen worden.
Drittens ist entscheidend – ich sage das noch einmal –,
dass wir in die entsprechenden Länder gehen. Ich per-
sönlich habe vorgeschlagen, einen EU-Syrien-Sonderge-
sandten zu benennen. Er sollte sich nicht nur mit den
Strukturen im Land selbst vertraut machen, sondern
auch die Themen Schleuserbekämpfung, Grenzsiche-
rung und Betreuung der Flüchtlinge mit den syrischen
Ansprechpartnern erörtern.
Frau Pfeiffer.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, die
Frau Bundeskanzlerin fährt morgen nach Brüssel, um
über das Thema Flüchtlinge zu diskutieren. Ich begrüße
das sehr. Meine Frage: War das heute Thema im Kabi-
nett? Wenn ja, können Sie darüber etwas berichten?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Im Rahmen der informellen Aussprache war das
selbstverständlich ein Thema. Man spricht über Erfah-
rungen. Sie werden nachher vom Bundesminister des
Auswärtigen und vom Bundesminister des Innern in der
Debatte darüber ganz konkret informiert werden.
Herr Kollege Movassat.
Herr Bundesminister, Sie haben gerade davon gespro-chen, dass Kriegsflüchtlinge aufgenommen und in denLändern der Europäischen Union besser verteilt werdensollen. Nun ist es so, dass das Asylrecht als Grund fürAsyl nicht nur Krieg kennt. Insofern frage ich: Wie ge-hen Sie mit anderen Asylgründen um?Das Problem, das hier besteht, ist doch, dass dieFlüchtlinge alle keine legalen, keine sicheren Wege undMöglichkeiten haben, nach Europa zu kommen. Das istja der Grund, warum sie es über das Mittelmeer versu-chen. Daher meine Frage: Gedenkt die Bundesregierung,irgendetwas zu tun, um Menschen, die Asylgründe ha-ben, einen sicheren Weg in die Europäische Union undnach Deutschland zu ebnen?Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Diese interessante Frage können Sie mit dem Bundes-innenminister erörtern. Ich kann Ihnen sagen – ich nutzediese Gelegenheit gerne dazu –, dass unser Haus, dasBMZ, derzeit 120 Projekte in den Krisenländern Afrikasund des MENA-Raumes umsetzt, damit die Flüchtlingein Not, in Elend, in dramatischen Situationen vor Ortüberhaupt überleben können; ich habe viele dieser Kri-sencamps besucht. Ich möchte mich beim Bundestag,beim Finanzminister und beim Haushaltsausschuss be-danken. Deutschland leistet hier Herausragendes.Ich nenne das Beispiel Libanon/Beirut. Ich war dort vorkurzem in einem Palästinenserlager, aber auch in einemsyrischen Bürgerkriegslager. Dieses Land hat 1,2 Millio-nen Flüchtlinge infolge des syrischen Kriegsgeschehensaufgenommen. Wir finanzieren dort beispielsweise überUNICEF die Beschulung von 80 000 Kindern.Auch den türkischen Freunden möchte ich ein herzli-ches Dankeschön sagen. Als Kobane zu fallen drohte,kamen über die syrisch-türkische Grenze innerhalb vonzwei Tagen 250 000 syrische Flüchtlinge in die Türkei.
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Diese Dimension muss man sich auch in Deutschlandeinmal vor Augen führen, wenn wir über unsere Pro-bleme in den Kommunen, im Land diskutieren. Damitmöchte ich die Lage hier nicht verniedlichen. UnserAuftrag ist es, dort zu stabilisieren und diesen Ländernzu helfen.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie
können sich sicherlich vorstellen, dass Ihre Antwort auf
meine Frage mich nicht zufriedengestellt hat. Denn auf
der einen Seite lobhudeln Sie den Einsatz der Kommu-
nen über alle Maßen, auf der anderen Seite sagen Sie den
Kommunen aber: Ihr seid verfassungsrechtlich eine ab-
geleitete Ebene der Länder, und deshalb habt ihr bei ei-
nem Flüchtlingsgipfel, bei dem es um die Unterbringung
von Flüchtlingen vor Ort in Deutschland, in den Städten,
Gemeinden und Landkreisen geht, nichts zu suchen. –
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Auffassung der
gesamten Bundesregierung ist und frage Sie, wie das in
Einklang zu bringen ist mit den Regeln, die wir uns hier
im Deutschen Bundestag selbst gegeben haben. Es ist ja
so, dass wir den kommunalen Spitzenverbänden in der
letzten Legislaturperiode umfangreiche Beteiligungs-
rechte, Anhörungsrechte und Stellungnahmerechte bei
Gesetzesvorhaben und Fragen, die sie selbst betreffen,
eingeräumt haben.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Der Bund achtet die Rechte der selbstbewussten Län-
der im Föderalismus. Ich stelle die Lage einmal dar:
Bayern finanziert den Aufwand, die Kosten für die Be-
treuung der Flüchtlinge zu 100 Prozent,
Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und andere Bun-
desländer finanzieren den Aufwand zu 60 oder zu
70 Prozent.
Herr Minister, es war jetzt aber nicht nach der Finanz-
verteilung gefragt worden, sondern nach der Beteiligung
der Kommunen als Gesprächspartner bei einer mögli-
chen Konferenz.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Herr Präsident, ich widerspreche Ihnen nicht. Aber
gehen Sie davon aus, dass ich die Frage verstanden habe.
Es gibt aber nicht nur bei der Fragestellerin den Ein-
druck, dass Sie die Frage nicht beantworten.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Gut. – Ich beantworte die Frage so, wie ich die Ant-
wort verstehe.
Die Antwort lautet: Aufgrund des bestehenden Verhält-
nisses zwischen Bund, Ländern und Kommunen ent-
scheidet nicht der Bund, ob Rheinland-Pfalz oder Nord-
rhein-Westfalen die Aufwendungen für Flüchtlinge zu
60 oder zu 80 Prozent übernehmen,
sondern die Länder regeln dies im Verhältnis mit ihren
Kommunen.
Deshalb haben wir die Situation, dass jetzt bei diesem
Gipfel der Bund mit den Ländern diese und viele andere
Probleme bespricht.
Frau Amtsberg.
Ich kann mich gar nicht entscheiden, welche der bei-den nicht beantworteten Fragen ich jetzt wiederhole. Ichentscheide mich für die des Kollegen Movassat; er hatte,wie ich finde, eine sehr richtige Frage gestellt. Dahermöchte ich gerne fragen: Herr Minister, die Bundes-regierung hat immer wieder beteuert, dass die Seenotret-tung das Schlepperwesen begünstigt. Ich möchte Sie fra-gen, ob Sie mir zustimmen, dass legale Zugangswege indie Europäische Union das Leiden vielleicht nicht fürimmer verschwinden lassen, aber zumindest die Zahl derTodesopfer senken würden. Denn dann würde nicht
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Luise Amtsberg
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mehr die Notwendigkeit bestehen, auf seeuntauglicheBoote zu steigen.Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Es gibt viele Lösungsvorschläge und viele Wege;
aber das ist jetzt nicht unsere Aufgabe. Nachher werdenSie eine entsprechende Debatte mit dem Außen- unddem Innenminister führen, und wir werden auch dienächsten Jahre mit diesem Thema konfrontiert sein. Jetztist es wichtig, dass die Seenotrettung sofort und effektiv– denn aktuell sterben Menschen im Mittelmeer – umge-setzt und ausgeweitet wird.Darüber hinaus müssen wir uns den Hunderttausen-den von Flüchtlingen, die in Libyen, aber auch in ande-ren Staaten auf Hilfe warten, zuwenden. Ich sage nocheinmal: Das Elend und die Not dieser Menschen sindgroß, sie sind traumatisiert und sehen keinen anderenAusweg. Sie kommen nicht aus Freude hierher und set-zen sich nicht aus Freude dieser Gefahr aus; das habe ichselber gesehen, meine Damen und Herren. Deshalb plä-diere ich für den Ansatz – über ihn wird meiner Meinungnach viel zu wenig diskutiert –, dorthin zu gehen, wo dieMenschen herkommen, und ihnen mit unseren Mittelnund Möglichkeiten zu helfen.
Frau Hänsel.
Herr Minister Müller, da würde ich gerne nachhaken.
Man muss einmal ganz deutlich machen: Die EU-Kom-
mission spricht in ihrem Zehn-Punkte-Plan davon, dass
die Stärkung von Frontex, die effizientere Rückführung
von Flüchtlingen und die Bekämpfung von Schleuser-
banden die wichtigsten Aspekte in diesem Zusammen-
hang sind. Ich höre nicht, dass auch von dem Schwer-
punkt Seenotrettung die Rede ist. Im Gegenteil, man
denkt sogar an Beispiele wie die Operation Atalanta zur
Piratenbekämpfung, weil es mittlerweile um die Ver-
nichtung der Boote geht.
Meine ganz konkrete Frage an Sie lautet: Unterstützt
die Bundesregierung und unterstützen Sie ein robustes
Mandat – welcher Art auch immer – zur Bekämpfung
von Flüchtlingsbooten? Sind Sie also dafür, dass zukünf-
tig jedes Boot, das in Libyen, Tunesien oder sonst wo im
Hafen liegt, als potenzielles Schleuserboot betrachtet
werden sollte, wodurch man in ganz neue Dimensionen
vorstoßen würde?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Erstens haben der Innen- und der Außenminister klar
bekundet, dass gehandelt werden muss, und zwar, wie es
in dem Papier steht, durch eine Verdopplung der Mittel
für die Seenotrettung. Darüber, wie das im Einzelnen or-
ganisiert wird, beraten im Augenblick die Experten.
Zweitens müssen die Maßnahmen weit darüber hi-
nausgehen. Die Frage ist: Wie kann organisiertes
Schleppertum – hier werden mit dem Leid und dem Tod
von Menschen Millionen verdient – gestoppt werden?
Dazu wurden unter anderem die Vorschläge, die Sie ge-
rade erwähnt haben, gemacht. Entscheidungen in dieser
Richtung sind bis dato aber nicht gefallen.
Frau Pfeiffer.
Vielen Dank. – Herr Minister, ich möchte auf diewichtige Rolle der Entwicklungszusammenarbeit imHinblick auf die Flüchtlingsproblematik eingehen, so-wohl was die Prävention als auch was die Ursachenbe-kämpfung betrifft. Welche Maßnahmen muss die deut-sche Entwicklungspolitik treffen, um zu versuchen, dieSituation vor Ort ganz konkret zu verbessern? WelcheMaßnahmen muss die deutsche Entwicklungspolitiktreffen, um die Staaten, aus denen die Menschen aus-wandern, an ihre eigene Verantwortung zu erinnern?
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Wir sind im Augenblick bei der Regierungsbefra-
gung. Ich sehe auf der Regierungsbank ein Mitglied des
Kabinetts, an das Fragen gerichtet werden können. Dass
man diese mal mehr und mal weniger gut und vollstän-
dig beantwortet findet, liegt in der Natur der Sache. Aber
solange der Minister nicht selbst um die Beantwortung
durch einen Kollegen bittet, sehe ich keine Veranlas-
sung, dass wir in diesem Tagesordnungspunkt anders als
üblich verfahren. Wir haben im Übrigen großen Wert da-
rauf gelegt, dass für diesen Tagesordnungspunkt Mit-
glieder der Bundesregierung zur Verfügung stehen.
Die nächste Frage stellt Kollege Ströbele.
Mir drängt sich eine Frage auf, von der ich annehme,
dass Sie sie bisher noch nicht beantwortet haben. Es ist
ja gut und richtig, dass man versucht, in Libyen eini-
germaßen lebbare Verhältnisse zu schaffen, in diesem
Failing State, den wir da im Augenblick haben. Aber mir
ist nicht klar, welche Vorstellungen die internationale
Gemeinschaft und insbesondere die Bundesregierung ei-
gentlich haben. Angenommen, das klappt halbwegs:
Was geschieht mit den Flüchtlingen, die ja nach wie vor
nach Libyen kommen, wenn sie wahrscheinlich nicht
mehr auf Schiffe und nicht mehr zu Schleppern gelassen
werden? Sollen die dort in Lager kommen, wie es unter
Gaddafi war, der dafür viele Millionen Dollar bekom-
men hat? Das war wirklich kein Vorbild; dort herrschten
unmenschliche Verhältnisse. Oder will man den Flücht-
lingen – wenigstens einigen – eine legale Möglichkeit
eröffnen, nach Europa und damit auch nach Deutschland
zu kommen? Welche Vorstellungen gibt es da?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich bin dankbar, dass wir diese Diskussion so offen
führen können. Es gibt da keine einfachen Antworten.
Libyen ist ein Staat mit zwei Machtzentren – in Tobruk
und in der Nähe von Tripolis – und befindet sich im Au-
genblick in Verhandlungen und Gesprächen mit dem
UN-Vermittler. Darauf bauen wir.
Ich habe heute auch mit dem Außenminister darüber
gesprochen, wie gegebenenfalls Deutschland oder auch
die EU die diplomatischen Bemühungen durch den von
mir ins Spiel gebrachten Sondergesandten voranbringen
kann, damit Libyen eine Allparteienregierung bekommt
und wir einen Ansprechpartner für die Staatengemein-
schaft, für Europa, aber auch für Deutschland haben, um
die entsprechenden Probleme angehen zu können. Es
geht darum, das Schleusertum zu bekämpfen, menschen-
würdige Zustände für die Hunderttausende von Flücht-
lingen zu schaffen, die sich dort aufhalten, die Grenz-
sicherung auszubauen und Wege zu finden – Stichwort
Resettlement –, diese Menschen in ihre eigenen Länder
zurückzubringen und ihnen dort eine Perspektive zu bie-
ten.
Mir liegen jetzt noch zwei Wortmeldungen zu diesemThemenkomplex vor, nämlich von Frau Hänsel undHerrn Beck. Danach würde ich dieses Thema gerne ab-schließen.Ich weiß, es gibt daneben noch eine weitere Wortmel-dung – das habe ich notiert –, sodass nicht nur diese,sondern gegebenenfalls auch noch andere Fragen beant-wortet werden können. Wie Sie sicher beobachtet haben,haben wir den üblichen Zeitrahmen für die Regierungs-befragung schon deutlich überschritten, was mit Blickauf die Aktualität dieses Themas aber zweifellos ange-messen ist.Frau Hänsel.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9431
(C)
(B)
Es geht um einen etwas anders gelagerten Themen-
komplex, aber in eine ähnliche Richtung. – Man hört aus
Ihrem Hause, dass Sie an einem Strategiepapier für
christlich-jüdische Werte in der Entwicklungspolitik ar-
beiten. Wir sind ein säkularer Staat. Es gibt das Grund-
gesetz, die UN-Menschenrechtscharta und den Interna-
tionalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte. Meine Frage lautet: Wieso brauchen wir jetzt ei-
gentlich noch ein sozusagen religiöses Strategiepapier?
Wir sehen ja weltweit, dass Religionen oft eher zu Kon-
flikten beitragen.
Von daher finde ich, dass wir die Menschenrechte sehr
stark in den Vordergrund stellen und auch garantieren
sollten. Gerade unser Grundgesetz ist eine gute Grund-
lage für ein würdiges Leben für alle und dafür, die inter-
nationale Entwicklungszusammenarbeit zu gestalten –
Bitte achten Sie auf die Zeit.
– und hier nicht eventuell konfliktfördernd zu agieren.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich stehe für eine wertebasierte Entwicklungspolitik.
Der Satz: Die Würde des Menschen ist unteilbar
– unantastbar und unteilbar –, verbindet uns alle, welt-
weit. Wir haben für die Einhaltung der Menschenrechte
zu kämpfen, und dazu gehört an oberster Stelle auch Re-
ligionstoleranz.
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Religionen
in den Konfliktregionen zusammenzuführen und das Ge-
spräch mit ihnen zu suchen. Ob in der Zentralafrikani-
schen Republik, im Südsudan, in Nigeria oder in anderen
Krisengebieten, wo ich zu Besuch war: Ich habe dort
gemeinsam mit den Religionsführern – den christlichen,
den Muslimen, aber auch anderen – an einem Tisch ge-
sessen. Die große Erkenntnis für mich war, dass die
Kriege in den allermeisten dieser Krisengebiete keine
Religionskriege – zum Beispiel Muslime gegen Christen –
sind, wie uns suggeriert wird. Die Religionsführer bieten
sich vielmehr die Hand.
Diesen Ansatz möchte ich verstärken: Religionsviel-
falt, Toleranz und Wahrung der Minderheitenrechte.
Herr Kollege Beck.
Ich will mein Glück noch einmal mit einer Frage ver-
suchen, die ich bereits gestellt habe, die aber vielleicht
eher in Ihr Ressort fällt. Wie soll bei einer Erhöhung der
Mittel für Triton um 3 Millionen Euro gewährleistet
sein, dass die Seenotrettung wenigstens auf dem Niveau
der Operation Mare Nostrum erfolgt, die am 31. Oktober
2014 endete, wenn man berücksichtigt, dass das Mandat
von Frontex dafür nicht ausreicht und die Mittel dann
immer noch um ein Drittel geringer sind als die, die
Mare Nostrum zur Verfügung standen?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Die Seenotrettung darf nicht am Geld scheitern.
Ich bin vorgestern so weit gegangen, zu sagen: Wenn in
Brüssel um 6 Millionen Euro gestritten wird, dann finan-
zieren wir das aus unserem Haushalt vor. Ich denke, ich
erhalte dafür Ihre Unterstützung. Das Signal ist ange-
kommen.
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wir leben in einer
neuen Zeit dramatischer Herausforderungen. Das Mittel-
meer verbindet uns. Aber in den Regionen rund um das
Mittelmeer, in denen viele Deutsche Urlaub machen,
herrscht Krieg. 15 Millionen Menschen sind auf der
Flucht. Das ist eine dramatische Situation. Da schaue ich
in Richtung Brüssel: Wie reagiert Brüssel?
Ja, meine Damen und Herren, Deutschland reagiert,
und zwar ganz entschieden. Aber dies ist eine Gemein-
schaftsaufgabe der Europäischen Union. Deshalb habe
ich die 10 Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe im
Rahmen eines Krisenprogramms aus Brüssel eingefor-
dert.
Es ist ein gesamteuropäisches Thema, auf diese Krisen
mit neuen Zeichen der politischen Bewältigung zu re-
agieren.
Alle Leidenschaften zu diesem Thema sind mehr alsnachvollziehbar.
Aber ich mache auch darauf aufmerksam, dass wir da-rüber fast eine Dreiviertelstunde gesprochen haben unddass wir nachher dazu eine Debatte führen werden. Da
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9432 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
kann dann jeder den Gesichtspunkt, der ihm besonderswichtig ist, in der gebotenen Deutlichkeit vortragen.Jetzt gibt es eine Frage des Kollegen von Notz zu an-deren Aufgaben der Bundesregierung.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Frage zumThema Vorratsdatenspeicherung geht an den Vertreterdes Innenministeriums. Der Staatssekretär aus diesemMinisterium ist dankenswerterweise anwesend.Von den vielen Voraussetzungen, die uns durch diehöchste Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherungvorgegeben sind, ist nach unserer Auffassung keine er-füllt. Ich will aber zu diesem Kompromiss – in Anfüh-rungsstrichen –, den es zwischen dem BMJ und demBMI gegeben hat, zwei Dinge konkret nachfragen.Erster Punkt. Die Kommunikation der Berufsgeheim-nisträger, die nicht gespeichert werden darf, soll jetztdoch gespeichert werden. Wenn ich das in den Leitliniendazu richtig verstanden habe, wird mit einem Beweis-verwertungsverbot argumentiert. Das gibt es aber schonseit Jahrzehnten. Jetzt frage ich Sie, Herr Schröder: Wiepasst die Rechtsprechung, wonach die Kommunikationvon Berufsgeheimnisträgern nicht gespeichert werdendarf, mit Ihrer Argumentation zusammen, die Kommuni-kation dürfe gespeichert werden, weil es ein Beweisver-wertungsverbot gebe, aufgrund dessen die Daten in Ge-richtsverfahren nicht verwertet werden dürften? MeinerAnsicht nach steht beides nicht in einem dialogischenVerhältnis, sondern es ist irrig, so zu argumentieren.Meine zweite Frage.
Nein, Herr Kollege von Notz. Diese stellen Sie bitte
gleich gesondert, denn Sie haben schon mit der ersten
Frage den Zeitrahmen überschritten.
Herr Kollege Schröder.
D
Wir nehmen bei der Vorratsdatenspeicherung beson-
dere Rücksicht auf die Berufsgeheimnisträger. Das ist in
einem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. Unseres
Erachtens ist es sinnvoller, mit Beweisverwertungsver-
boten zu arbeiten, als den Staat genau wissen zu lassen,
welche IP-Adressen von welchen Berufsgeheimnisträgern
verwendet werden. Es wäre ein viel größerer Eingriff in
den Datenschutz, wenn alle Berufsgeheimnisträger genau
benennen müssten, mit welchen Kommunikationsmit-
teln sie kommunizieren. Der geringere Eingriff ist mei-
nes Erachtens, wenn die Berufsgeheimnisträger so arbei-
ten können wie bisher – wenn sie keine zusätzlichen
Daten übermitteln müssen – und das Ganze über das
Mittel der Beweisverwertungsverbote organisiert wird.
Eine weitere Frage?
– Nein, im Augenblick nicht. – Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Präsident. – Wir befinden uns jetzt im
schleichenden Übergang zur Fragestunde.
Nein, schleichende Übergänge gibt es im Deutschen
Bundestag nicht, Herr Kollege Ströbele. Dass ausgerech-
net Sie das ernsthaft vorschlagen, erschüttert mich bei-
nahe.
Ich hatte bisher nur Gelegenheit, den Herrn Staatsse-
kretär Lange dazu im Rechtsausschuss zu befragen. Jetzt
habe ich die Gelegenheit, den Staatssekretär im Innen-
ministerium dazu zu befragen. Deshalb habe ich im An-
schluss an das, was der Kollege gefragt hat, an Sie die
Frage – darauf kommen wir gleich auch noch im Rah-
men der Fragestunde –: Wenn ich es richtig verstanden
habe, sind Ausnahmen vorgesehen, nämlich in sozialen
Bereichen bzw. für Personen, die in Notfällen in An-
spruch genommen werden, oder im kirchlichen Bereich.
Das heißt, wenn sich ein Hilfesuchender an seinen
Beichtvater oder an einen Priester wendet, werden seine
Verbindungsdaten nicht gespeichert. Aber wenn er sich
an seinen Psychiater, seinen Arzt oder gar an seinen
Rechtsanwalt oder, noch schlimmer, an seinen Abgeord-
neten wenden will, dann werden sie gespeichert. Wie er-
klären Sie diese Unterschiede?
D
Wir sind innerhalb der Bundesregierung strikt an das
Ressortprinzip gebunden. Insofern hat mein Kollege
Lange sich bereit erklärt, die Frage zu beantworten.
Die Frage wird, wie angekündigt, eigentlich in der
Fragestunde aufgerufen. Ich würde jetzt einmal eine
Ausnahme von der sonstigen strengen Regel zulassen,
weil die Frage schon gestellt wurde. Wenn Sie einver-
standen sind, Herr Kollege Lange, sie jetzt zu beantwor-
ten, dann können wir nachher die Fragestunde davon
entlasten.
C
Herr Präsident, ich schlage vor, dass ich die Frage 1– es geht nämlich exakt um diese Frage – beantwortewie geplant und dann noch zusätzlich gerne die weitereFrage als Nachfrage akzeptiere. Im Übrigen haben wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9433
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
beide Fragen bereits heute Morgen im Rechtsausschussausführlich erörtert. Aber ich wiederhole beides gernenoch einmal.
Aber natürlich nicht vor der deutschen Weltöffent-
lichkeit. Das gibt Ihnen jetzt eine ganz andere Plattform.
C
Vielen Dank für diesen Hinweis. Ich fühle mich ent-
sprechend geehrt.
Dann kommen wir jetzt zur Frage 1 des Kollegen
Ströbele:
Wie glaubt die Bundesregierung nunmehr eine Vorratsda-
tenspeicherung verfassungskonform regeln zu können – was
der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der
Justiz und für Verbraucherschutz, Christian Lange, in der Fra-
gestunde des Deutschen Bundestages am 25. März 2015 auf
meine mündliche Frage 2, Plenarprotokoll 18/96, hin vor al-
lem wegen der damals noch schwebenden Kontroverse mit
dem Bundesministerium des Innern und wegen der „rechtlich
und technisch komplexen Materie“ noch nicht beantworten
konnte –, nachdem der Europäische Gerichtshof 2014 die
Speicherung der Daten jeglicher Berufsgeheimnisträger sowie
solcher Personen ausschloss, „bei denen keinerlei Anhalts-
punkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mit-
telbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straf-
taten stehen könnte“, und wie glaubt die Bundesregierung
technisch, organisatorisch und regulativ sicherstellen zu kön-
nen, dass derartige Daten, wie erforderlich, sicher erkannt und
von denen anderer Personen unterschieden werden können
und die Speicherung verbindlich unterbleibt?
C
Herr Kollege Ströbele, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Leitlinien zur Einführung einer Speicherfrist
und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, die der Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz am
15. April 2015 vorgestellt hat, kombinieren zeitlich und
inhaltlich eng begrenzte Speicherfristen mit sehr stren-
gen Abrufregelungen. Auf diese Weise wird der Forde-
rung des Europäischen Gerichtshofs nachgekommen, die
Regelung auf das absolut Notwendige zu beschränken.
Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird sicher-
gestellt. Verkehrsdaten, die sich auf Personen, Behörden
oder Organisationen in sozialen oder kirchlichen Berei-
chen beziehen, die grundsätzlich anonym bleibenden
Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung
in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die
selbst oder deren Mitarbeiter insoweit besonderen Ver-
schwiegenheitspflichten unterliegen, sind grundsätzlich
von der Speicherpflicht ausgenommen.
Darüber hinaus dürfen Daten von Personen, die nach
§ 53 StPO berechtigt sind, das Zeugnis zu verweigern
– nämlich die besagten Rechtsanwälte, Seelsorger,
Ärzte, Apotheker und dergleichen –, nicht abgerufen und
verwendet werden. Zufallsfunde unterliegen einem Ver-
wertungsverbot.
Berufsgeheimnisträger bereits von der Speicherung
der Verkehrsdaten auszunehmen, ist nicht möglich. Es ist
unter Datenschutzgesichtspunkten nicht vertretbar, eine
Art Datenbank mit Berufsgeheimnisträgern und ihren
Rufnummern anzulegen und bei allen TK-Anbietern zu
hinterlegen. Der Eingriff in deren Berufsfreiheit und ihr
Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre dann
sogar noch größer – Kollege Schröder hat darauf hinge-
wiesen – als der Nutzen, der in der Ausnahme von der
Speicherung liegt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ströbele.
Meine vorhin an Staatssekretär Schröder gerichtete
Frage ist nicht beantwortet. Warum macht man diesen
Unterschied? Gibt es Berufsgeheimnisträger erster und
zweiter Klasse? Hat ein Anruf bei meinem Pfarrer oder
Beichtvater höheren Schutz, als wenn ich – oder ein
Mensch, der in Not ist – einen Psychiater anrufe?
C
Das ist nicht der Fall, und das will ich Ihnen gerne er-klären, so wie ich das bereits heute Vormittag gemachthabe. Für die besagten Organisationen, zum Beispiel fürdie Telefonseelsorgehotlines, enthält das Telekommuni-kationsgesetz bereits jetzt Sonderregelungen. Nach § 99TKG dürfen Einzelverbindungsnachweise Verbindungenzu diesen Organisationen nicht erkennen lassen. Organi-satorisch wird das dadurch gewährleistet, dass die Bun-desnetzagentur die Inhaber solcher Anschlüsse auf An-trag in eine Liste aufnimmt, die die Dienstanbieterquartalsweise abrufen müssen. Auf diese bereits beste-hende Liste kann auch zur Umsetzung der Ausnahmevon der Speicherpflicht mit Bezug auf die genannten Or-ganisationen zurückgegriffen werden.Was den Unterschied zu den anderen, also denRechtsanwälten angeht, sehen die Leitlinien diese Aus-nahmen von der Speicherpflicht vor, weil es unter Da-tenschutzgesichtspunkten – ich wiederhole mich – nichtvertretbar ist, eine Datenbank mit Berufsgeheimnisträ-gern und ihren Rufnummern anzulegen und bei den TK-Anbietern zu hinterlegen.Bei dynamischen IP-Adressen – auch darauf hatte ichbereits hingewiesen – ist eine Ausnahme auch technischnicht möglich. Stattdessen wird ein besonderer Schutzauf der Ebene des Abrufs durch Erhebungs- und Verwer-tungsverbote gewährleistet. Diese sind im Übrigen be-währte Schutzmechanismen, die die Strafprozessord-nung auch für andere Ermittlungsmaßnahmen vorsieht,so zum Beispiel nach § 160 a StPO für Ermittlungsmaß-nahmen generell und nach § 100 c StPO für die Wohn-raumüberwachung im Besonderen. Genauso wie bei der
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9434 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
Wohnraumüberwachung soll das Erhebungs- und Ver-wertungsverbot nach den Leitlinien für alle in § 53 StPOgenannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen,zum Beispiel für Rechtsanwälte, gelten. Im Übrigen hatsich dieses Verfahren bewährt.
Eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, bei anderen Be-
rufsgeheimnisträgern wie Rechtsanwälten, Abgeordne-
ten, Psychiatern und Ärzten gehe das nicht, dann kann
man daraus auch den Schluss ziehen, dass man keine
Vorratsdatenspeicherung vornehmen darf. Das ist nicht
nur die Auffassung des Abgeordneten Ströbele – das
wäre schon wichtig genug –,
sondern auch die Auffassung des Europäischen Ge-
richtshofs. Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass
der Europäische Gerichtshof gesagt hat, Daten von Be-
rufsgeheimnisträgern dürften nicht gespeichert werden,
weil dann der Schutz dieser Personengruppe hinfällig
oder zumindest angetastet werde?
C
Herr Kollege Ströbele, ich weise noch einmal darauf
hin, dass wir die Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs umsetzen, indem wir die besonderen Rechte
von Rechtsanwälten und anderen Berufsgeheimnisträ-
gern durch ein entsprechendes Erhebungs- und Verwer-
tungsverbot schützen, wie ich gerade ausgeführt habe.
Ich habe nicht gesagt, dass es nicht geht. Vielmehr ist es
unseres Erachtens unter Datenschutzgesichtspunkten
nicht vertretbar, eine Art Datenbank für Berufsgeheim-
nisträger zusätzlich anzulegen und ihre Rufnummern bei
allen TK-Anbietern zu hinterlegen. Abgeordnete sind
durch die vorgesehenen Erhebungs- und Verwertungs-
verbote in besonderem Maße geschützt. Das gilt schon
heute; ich hatte Ihnen entsprechende Beispiele genannt.
Uns sind keinerlei Beschwerden bekannt, ganz im Ge-
genteil. Dieses Verfahren hat sich bewährt. Deshalb wol-
len wir daran festhalten.
Herr von Notz.
Das ist meiner Ansicht nach keine Beantwortung der
Frage, Herr Staatssekretär. Deswegen frage ich noch ein-
mal anders nach. Da in dem entsprechenden Gerichts-
urteil steht, Daten von Berufsgeheimnisträgern dürften
nicht gespeichert werden, und Sie darauf hinweisen, dass
ein Beweiserhebungs- bzw. ein Beweisverwertungsver-
bot besteht: Sind Sie der Auffassung, dass den Richtern
und Richterinnen des EuGH die Beweisverwertungsver-
botsregelungen nicht bekannt waren und dass Ihr Vor-
schlag auf ernstzunehmende Art und Weise mit diesem
Urteil korrespondiert, oder teilen Sie meine Auffassung,
dass es sich hier um eine reine Schein- und Alibiargu-
mentation handelt und Sie nur darauf spekulieren, mit ir-
gendeiner Regelung bis zum nächsten Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts oder des EuGH durchzuhalten,
um erneut eine rechtswidrige Regelung zu schaffen, die
letztlich illegitim in die Grundrechte der Bürgerinnen
und Bürger eingreift?
C
Ich teile Ihre Auffassung nicht. Wir gewährleisten,
dass die besonderen Schutzbedürfnisse der Berufsge-
heimnisträger erfüllt werden. Das ist eine seit vielen Jah-
ren und Jahrzehnten bewährte Methode in Deutschland.
Dies entspricht der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs. Die Richtlinie entsprach ihr nicht. Deswe-
gen ist sie moniert worden. Aber unser Gesetzentwurf,
den wir vorlegen werden, wird dem genügen.
Ich schließe damit die Regierungsbefragung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
Drucksachen 18/4641, 18/4678
Es gibt zwei zugelassene dringliche Fragen aus dem
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidi-
gung, die ich zuerst aufrufe. Dabei geht es um Konse-
quenzen aus der Veröffentlichung von Dokumenten zur
Rolle der US-Militärbasis in Ramstein im Zusammen-
hang mit der gezielten Tötung durch Drohnen.
Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Brauksiepe zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Abgeordneten
Sevim Dağdelen auf:
Wird die Bundesregierung – vor dem Hintergrund, dass
der Spiegel und die US-Enthüllungsplattform „The Intercept“
neue, vormals streng geheime Dokumente der US-Regierung
präsentierten, welche die zentrale Rolle der US-Militärbasis
Ramstein für alle Steuerungs- und Überwachungssignale der
Frage nachgehen, ob es in Ramstein einen Rechtsbruch von
deutschem Boden aus zu ahnden gibt, um somit weitere mög-
liche gezielte Tötungen durch Drohnen von deutschem Boden
zu verhindern?
Bitte, Herr Brauksiepe.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin, ich be-antworte die von Ihnen gestellte Ja/Nein-Frage mit Neinund führe ergänzend Folgendes aus:Nach intensiven, vertraulichen Gesprächen sichertedie US-amerikanische Regierung der BundesregierungMitte Januar 2015 zu, dass amerikanische Einsätze von
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9435
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
unbemannten Luftfahrzeugen in keiner Weise von Deutsch-land aus gesteuert oder durchgeführt würden und sämtlicheEntscheidungen über Einsätze unbemannter Luftfahr-zeuge durch die US-Regierung in Washington fielen.Jedwedes Handeln der Vereinigten Staaten von deut-schem Staatsgebiet aus erfolge nach den Regeln des gel-tenden Rechts. Die Bundesregierung verweist in diesemZusammenhang auch auf ihre Antwort auf Ihre schriftli-che Frage vom 8. April 2015.Die Air Base Ramstein und die sich darauf befindli-che Satelliten-Relaisstation wird von den USA ohne dieMitwirkung oder Einbeziehung der Bundesregierung be-trieben und genutzt. Selbst wenn sie dabei eine entschei-dende Rolle beim Datentransfer zu Drohnen der USAoder zu deren Steuerung einnehmen sollte, folgt darauskeineswegs zwingend ein Rechtsbruch oder eine Straftat,die von deutschem Boden ausgeht.Unter rechtlichen Gesichtspunkten kann nur ein kon-kreter Drohneneinsatz bei Kenntnis aller maßgeblichenTatsachen bewertet werden. Dies ist immer eine Fragedes Einzelfalls, wobei in erster Linie Ziel des Einsatzes,äußere Rahmenbedingungen und gegebener Kenntnis-stand der Verantwortlichen im Mittelpunkt stehen wür-den und weniger die Struktur des Datentransfers.Allein die zitierten Presseveröffentlichungen haben indieser Hinsicht bislang keinen Anlass für die zuständi-gen Justiz- und Polizeibehörden für die Einleitung kon-kreter Ermittlungen gegeben. Allerdings hat der Gene-ralbundesanwalt beim Bundesgerichtshof bereits im Juni2013 einen sogenannten Beobachtungsvorgang im Zu-sammenhang mit etwaigen von Deutschland aus geplan-ten, gesteuerten oder überwachten Drohneneinsätzenangelegt. Dabei prüft er anhand offen verfügbarer Infor-mationen, ob es Anhaltspunkte für in seine Verfolgungs-zuständigkeit fallende Straftaten gibt.Bei weiteren Erkenntnissen würden die zuständigenBehörden selbstverständlich auf der Grundlage der je-weils einschlägigen Rechtsgrundlagen tätig werden, wiedies in der Vergangenheit schon erfolgt ist. Ich verweisein diesem Zusammenhang auf die Einstellungsverfügungder Bundesanwaltschaft vom 20. Juni 2013 hinsichtlicheines Drohneneinsatzes in Pakistan, Aktenzeichen 3 BJs7/12-4.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen und liebe
Gäste, von meiner Seite aus. – Frau Dağdelen hat eine
Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte vor mei-
ner eigentlichen Frage mit einer Verständnisfrage nach-
haken, weil die Antwort so schnell vorgelesen wurde.
Habe ich es jetzt akustisch richtig verstanden, dass Sie
gesagt haben, auch wenn von Ramstein aus Drohnenan-
griffe stattfinden würden, diese nicht rechtswidrig wä-
ren? Sie haben das so schnell vorgelesen; deshalb frage
ich nach.
D
Frau Kollegin, ich habe darauf hingewiesen, dass dies
nicht zwingend der Fall ist, sondern dass die rechtliche
Würdigung eines Drohneneinsatzes immer nur als Ein-
zelfall unter Würdigung aller mit diesem Einzelfall zu-
sammenhängenden Umstände erfolgt.
Okay, gut. – Dann habe ich jetzt meine erste Nach-
frage, Frau Präsidentin.
Ich möchte fragen: Unter welchen Umständen ist die
Bundesregierung bereit, zumindest diesen einzelnen Fäl-
len einzelne Würdigungen zuteilwerden zu lassen und zu
prüfen, ob sie völkerrechtswidrig bzw. rechtswidrig sind
und ob die Bundesrepublik Deutschland, wenn tatsäch-
lich die Daten für die tödlichen Drohnenangriffe über
Ramstein fließen, eventuell Gefahr läuft – ich verweise
in diesem Zusammenhang auf den Wissenschaftlichen
Dienst des Bundestages –, an „völkerrechtswidrige(n)
Militäroperationen“ beteiligt zu sein, die „durch auslän-
dische Staaten von deutschem Territorium“ aus durchge-
führt werden würden? Dies würde laut Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes von 2014 „eine Beteiligung
an einem völkerrechtswidrigen Delikt“ darstellen. Viele
Strafrechtler sagen auch, das sei Beihilfe zum Mord.
D
Frau Kollegin, ich habe bereits in meiner Antwort auf
Ihre Frage darauf hingewiesen, dass die in unserem
Rechts- und Rechtswegestaat zuständigen Justiz- und
Polizeibehörden, die über die Einleitung von konkreten
Ermittlungen zu entscheiden hätten, dafür bislang keinen
Anlass gesehen haben, über das hinaus, worauf ich Sie
auch hingewiesen habe, dass es einen Beobachtungsvor-
gang gibt und dass es in der Vergangenheit schon einmal
ein Verfahren gegeben hat, das seitens der Bundesan-
waltschaft dann mit Begründung eingestellt worden ist.
Das sind die in unserem Rechtswegestaat dafür zuständi-
gen Institutionen und die von ihnen dazu bisher getroffe-
nen Entscheidungen.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Vielen herzlichen Dank. – Herr Staatssekretär, schonseit längerem, genauer: seit Sommer 2013, stellt meineFraktion hier im Deutschen Bundestag beständig KleineAnfragen, schriftliche Fragen, mündliche Fragen überErkenntnisse und Kenntnisse bezüglich der Drohnen-morde, die laut verschiedensten Berichten von deut-schem Boden ausgehen sollen. Von den aktuellen Be-richterstattungen von Spiegel und „The Intercept“möchte ich nur eine kurz zitieren und Sie fragen, ob Siees bestätigen können bzw. ob Sie Kenntnis davon haben.Der Spiegel schreibt am 18. April 2015:Im Juni 2013, kurz vor Obamas Berlin-Besuch,drängte die damalige Staatssekretärin im Auswärti-
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9436 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
gen Amt darauf, von Washington eine Zusicherungzu verlangen: dass sich US-Stellen in Deutschland„nicht an gezielten Tötungseinsätzen“ beteiligen.Emely Haber– die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt –wurde laut einem internen Vermerk jedoch über-stimmt: „Bundeskanzleramt und Verteidigungsmi-nisterium plädieren hingegen dafür, Druck aus Par-lament und Öffentlichkeit, auszusitzen‘.“Meine Frage: Ist Ihnen dieser Vermerk bekannt, oder be-streiten Sie das, was im Spiegel steht? Sagen Sie: „Dasist unwahr, was der Spiegel hier behauptet“?Zweite Frage. Aufgrund dieser Berichterstattung imSpiegel gab es Informationen und Auskünfte des Bun-desministeriums der Verteidigung, dass mit anderen Ka-nälen die neuesten an die Öffentlichkeit gelangten Fak-ten in sachlich zuständigen Häusern besprochen werdenwürden. Meine Frage: Wie oft, wann und wo fanden seitdiesen Enthüllungen von Spiegel und „The Intercept“solche Beratungen statt? Falls sie noch nicht stattgefundenhaben: Wann gedenken Sie diese stattfinden zu lassen?D
Frau Kollegin, ich kann Ihnen zu diesem Vermerk
nichts sagen. Ich habe keine Kenntnisse über diesen Ver-
merk. Ich kenne auch niemanden, der öffentlich oder an-
derswo behauptet, dass dies ein Vermerk aus dem Bun-
desministerium der Verteidigung sei.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat seit der
kurzfristigen Einreichung Ihrer dringlichen Frage auch
nicht sämtliche anderen Ministerien dahin gehend einbe-
zogen, zu erfahren, ob es irgendwo dort einen solchen
Vermerk gibt. Deswegen kann ich Ihnen diesen Vermerk
nicht bestätigen.
Vielen Dank. – Eine weitere Zusatzfrage hat der Ab-
geordnete Ströbele.
Ich bitte die Kollegen, sich wirklich an die Eine-Mi-
nute-Regelung zu halten; das macht schon Sinn.
Danke, Frau Präsidentin. Danke auch für den Hin-
weis. – Ich frage ganz kurz. Sie behaupten, die US-Re-
gierung habe ausdrücklich in Abrede gestellt, bestritten,
dass von Ramstein aus sogenannte Killerdrohnen, also
Drohnen, die illegale, gezielte Hinrichtungen durchfüh-
ren, eingesetzt werden. Wo und wann und wie – schrift-
lich oder mündlich? – hat die US-Regierung so etwas
verlauten lassen? Mir ist nur bekannt, dass die US-Re-
gierung bestreitet, dass von Ramstein aus Drohnen ein-
gesetzt werden. Das heißt aber überhaupt nicht, dass
Drohnen nicht, wie Sie es in Ihrer Antwort vorhin darge-
stellt haben, über Ramstein gesteuert werden. Der Be-
richt des Spiegels und andere Veröffentlichungen besa-
gen: Diese Drohnen werden über Ramstein gesteuert,
das heißt, mit Unterstützung aus Deutschland.
D
Herr Kollege Ströbele, ich habe darauf hingewiesen
und wiederhole das gerne, dass die Regierung der Verei-
nigten Staaten der Bundesregierung versichert hat, jed-
wedes Handeln der Vereinigten Staaten von deutschem
Staatsgebiet erfolge nach den Regeln des geltenden
Rechts. Das kann ich hier nur noch einmal wiederholen.
Die Bewertung bestimmter Drohneneinsätze, die Sie
vorgenommen haben, ist Ihre Bewertung; sie ist nicht
die Bewertung der Bundesregierung. Für die Bundesre-
gierung kann ich nur wiederholen, dass nur für den Ein-
zelfall eine solche Bewertung vorgenommen werden
kann. Die Bundesregierung sitzt nicht über die Regie-
rung der Vereinigten Staaten zu Gericht; es ist nicht ihre
Aufgabe, über jeden einzelnen Drohneneinsatz der Ver-
einigten Staaten vor Gericht zu sitzen und darüber eine
Bewertung abzugeben.
Ich kann nur feststellen, dass die zuständigen Straf-
verfolgungsbehörden in Deutschland im Hinblick auf ei-
nen Drohneneinsatz bisher in keinem Fall abschließend
zu einer solchen Bewertung gekommen sind, wie Sie sie
hier gerade politisch, wie das Ihr gutes Recht ist, vorge-
nommen haben.
Kollege Movassat und dann Frau Kotting-Uhl.
Danke. – Herr Staatssekretär, am 18. November 2011
wurde laut Berichten das Bundesverteidigungsministe-
rium von den USA darüber informiert, dass in Ramstein
eine Relaisstation für Drohneneinsätze errichtet wird.
Was wurde Ihnen dazu mitgeteilt, welchem Zweck diese
Relaisstation für Drohneneinsätze dient? Wurden Sie
zum Beispiel darüber informiert, dass sich US-Drohnen-
piloten über diese Relaisstation in die Drohnen einlog-
gen?
D
Herr Kollege Movassat, es handelt sich bei dem vonIhnen genannten Schreiben um kein geheimes Papier.Dieses Schreiben ist Bestandteil der dem NSA-Untersu-chungsausschuss vom Bundesministerium der Verteidi-gung vorgelegten Akten. Von daher ist es nicht geheim.Ich könnte Ihnen das Schreiben jetzt komplett vorle-sen. Das würde die in unserem Verfahren hier vorgese-hene Zeit sprengen. Ich möchte mir jetzt auch nicht he-rausnehmen, zu entscheiden, welche Sätze darausbesonders wichtig sind. Also, ich könnte es Ihnen vorle-sen; das würde einige Zeit dauern. Aber, wie gesagt, esist dem NSA-Untersuchungsausschuss mit zur Verfü-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9437
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
gung gestellt worden und von daher kein geheimes Pa-pier.
Kollegin Kotting-Uhl hat die nächste Rückfrage.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, Sie
haben jetzt zweimal betont, dass die Nichtrechtmäßig-
keit, die Rechtswidrigkeit nur in jedem einzelnen Fall,
also individuell, festgestellt werden könne. Dass Ram-
stein in diesen Zusammenhängen eine Rolle spielt, ist,
glaube ich, gar nicht zu bestreiten. Mich überzeugt
durchaus die Argumentation, die auch im Spiegel darge-
legt wurde, dass aufgrund der Erdkrümmung eine Daten-
übertragung von den USA in die Einsatzgebiete gar nicht
zeitnah erfolgen kann; da entsteht eine Zeitverzögerung,
die eben dadurch ausgeschaltet wird, dass man das von
Ramstein aus macht. Das scheint mir relativ logisch zu
sein.
Meine konkrete Frage bezieht sich auf die Überprü-
fung der Rechtswidrigkeit in jedem einzelnen Fall. Sie
sagen, es sei nicht die Aufgabe von Deutschland, über
die USA zu Gericht zu sitzen. Es ist aber sehr wohl die
Aufgabe von Deutschland, zu schauen, ob unser Recht
eingehalten wird. Deshalb meine Frage: Wer überprüft
das nun in jedem einzelnen Fall?
D
Frau Kollegin, ich zitiere sonst eher zurückhaltend
aus Medienberichten. Aber ich will jetzt einmal einen
Satz aus Spiegel Online zitieren, der am 19. April veröf-
fentlicht worden ist:
Der Einsatz von bewaffneten Drohnen ist nach gän-
giger Rechtsauffassung in bewaffneten Konflikten
grundsätzlich legal.
Das drückt genau das aus, was ich hier zum Ausdruck
gebracht habe. Es ist grundsätzlich legal. Ob es im Ein-
zelfall legal ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden.
Wir haben von unseren amerikanischen Partnern die
Zusicherung erhalten, dass ihr Handeln von deutschem
Staatsgebiet aus nach den Regeln des geltenden Rechts
erfolgt, was sich im Übrigen auch schon aus dem
NATO-Truppenstatut und anderen völkerrechtlichen
Vereinbarungen ergibt. Danach hat sich jeder Gaststaat
hier an deutsches Recht zu halten. Also, über diese ver-
traglichen, völkerrechtlichen Vereinbarungen hinaus ha-
ben wir diese Zusicherung der Vereinigten Staaten erhal-
ten, und wir haben keinen Anlass, an der Richtigkeit der
Zusicherungen, die wir bekommen, zu zweifeln.
Vielen Dank. – Nächste Rückfrage von Kollegin
Renner.
Danke, Frau Präsidentin. – Ich möchte noch einmal
zu dem Dokument fragen, zu dem auch Kollege
Movassat eben schon gefragt hat und das im Spiegel ver-
öffentlicht worden ist. In diesem Dokument aus dem
Herbst 2011 aus dem Verteidigungsministerium geht es
um ein Bauvorhaben auf dem Gelände von Ramstein,
wo unter dem Namen „UAS Satcom“ ein Kontrollzen-
trum für die Drohneneinsätze errichtet werden soll.
Da ist von „Predator“ und „Reaper“ die Rede. Das
sind Begriffe, die diese Drohnen – bemannte und unbe-
mannte – technisch ganz genau bezeichnen. Und es ist
eben auch davon die Rede, dass es um die Aufstellung
von „Mission Control Vans“ geht.
Nun ist dieses Schreiben für uns nicht nur inhaltlich
von Interesse, sondern auch Beleg dafür, dass der Bun-
desregierung möglicherweise doch schon zu einem
früheren Zeitpunkt – vor der Veröffentlichung der
Snowden-Dokumente und dieses Dokuments – bekannt
gewesen sein muss, dass von Ramstein aus Drohnen
gesteuert werden. Ich frage deswegen: Welche Konse-
quenzen wird die Bundesregierung ziehen, wenn nach
Analyse dieser Dokumente klar wird, dass die in der
Vergangenheit getätigten Aussagen gegenüber dem
Deutschen Bundestag nicht der Wahrheit entsprochen
haben?
D
Frau Kollegin, sollten Sie mit dem letzten Teil IhrerFrage die Unterstellung verbunden haben, dass die Bun-desregierung zu irgendeinem Zeitpunkt den DeutschenBundestag oder einzelne Mitglieder des Deutschen Bun-destages bewusst unwahr unterrichtet hat, weise ich diesin aller Entschiedenheit zurück.Der von Ihnen angesprochene Vorgang war auch Ge-genstand einer Kleinen Anfrage Ihrer Fraktion, auf dieIhnen das Auswärtige Amt mit Schreiben vom 12. Juli2013 geantwortet hat. Ich greife den Punkt gerne nocheinmal auf. In der Tat haben die US-Streitkräfte den Auf-tragsbautengrundsätzen entsprechend das BMVg da-rüber informiert, dass sie in Ramstein eine Relaiseinrich-tung errichten wollen. Sie haben im November dannauch das von Ihnen und mir angesprochene Schreibenvorgelegt. Die Baumaßnahme kann von den Gaststreit-kräften selbst vorgenommen werden.Die Bundesregierung ging in dem Zusammenhangvon der Errichtung eines Kontrollzentrums außerhalbder Bundesrepublik Deutschland aus, da die Baube-schreibung in der Tat lediglich die Baumaßnahmen zurErrichtung einer Station zur Weiterleitung von Datenüber Satelliten umfasste. Über betriebliche Einzelheitenim Zusammenhang mit der Baumaßnahme der US-Gast-streitkräfte liegen dem Bundesministerium der Verteidi-gung nach wie vor keine Erkenntnisse vor.
Metadaten/Kopzeile:
9438 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
Für uns ist entscheidend, dass die Vereinigten Staatenuns gegenüber klargestellt haben, dass ihr Handeln gel-tendem Recht folgt.
Die letzte Nachfrage zu diesem Punkt hat Katja Keul.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär Brauksiepe, ich
habe eben beruhigt zur Kenntnis genommen, dass wir
uns einig sind, dass es keine Nettigkeit ist, wenn sich die
Amerikaner hier an das deutsche Recht halten, sondern
dass sie auch verpflichtet sind, deutsches Recht und das
Völkerrecht zu beachten. Sind wir uns auch einig da-
rüber, dass zur Prüfung, ob Rechtsverstöße vorliegen,
der Generalbundesanwalt zuständig ist? Sind wir uns
auch darüber einig, dass für strafrechtliche Ermittlungen
das Legalitätsprinzip gilt, das heißt, dass auch ermittelt
werden muss, wenn der Verdacht auf eine Straftat ent-
steht? Und sind wir uns auch darüber einig, dass der Ge-
neralbundesanwalt als politischer Beamter dem Wei-
sungsrecht der Bundesregierung untersteht?
D
Frau Kollegin, das war jetzt eine Vielzahl von Fragen.
Ich versuche, sie aus der Erinnerung zu rekapitulieren
und zu beantworten.
Für Völkerstrafrecht ist der Generalbundesanwalt zu-
ständig. Die hier angesprochenen Tatbestände würden,
wenn sie unter das Strafrecht fallen würden, vermutlich
darunterfallen. Es ist generell denkbar, dass es Straftaten
gibt, für deren Verfolgung in unserem Rechtswegestaat
andere Strafverfolgungsbehörden zuständig wären. Das
war ein Punkt, wonach Sie gefragt haben. Darüber sind
wir uns also einig.
Ja, der Generalbundesanwalt fällt mit seiner Tätigkeit
in den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums
der Justiz und für Verbraucherschutz. Ich weiß nicht, ob
Sie mit Ihrer Frage insinuieren wollten, dass der Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz die politi-
sche Entscheidung treffen sollte, den Generalbundes-
anwalt anzuweisen, Ermittlungen zu führen. Ich kann
nur noch einmal wiederholen, was ich eben schon gesagt
habe, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesge-
richtshof im Zusammenhang mit etwaigen von Deutsch-
land aus geplanten, gesteuerten oder überwachten Droh-
neneinsätzen bereits im Juni 2013 einen sogenannten
Beobachtungsvorgang angelegt hat. Das heißt, er hat
selbstverständlich die Möglichkeit, Maßnahmen zu er-
greifen, wenn er dies für geboten hält.
Ich komme nun zur dringlichen Frage 2 des Kollegen
Movassat:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Sachverhalt, dass die im Magazin Der Spiegel, Nummer 17/
2015, veröffentlichten Regierungsdokumente zur Rolle der
US-Militärbasis in Ramstein belegen, dass die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages in zahlreichen Kleinen Anfragen,
mündlichen und schriftlichen Fragen zur Unterstützung der
Relaisstation in Ramstein für die extralegalen Tötungen in
Afrika, dem Jemen und Pakistan möglicherweise bewusst von
dem Fragerecht der Parlamentarierinnen und Parlamentarier
vereinbar?
D
Herr Kollege, ich antworte Ihnen wie folgt: Nach in-
tensiven, vertraulichen Gesprächen sicherte die amerika-
nische Regierung der Bundesregierung Mitte Januar 2015
zu, dass US-amerikanische Einsätze von unbemannten
Luftfahrzeugen in keiner Weise von Deutschland aus ge-
steuert oder durchgeführt würden und sämtliche Ent-
scheidungen über Einsätze unbemannter Luftfahrzeuge
durch die US-Regierung in Washington fielen. Jedwedes
Handeln der Vereinigten Staaten von deutschem Staats-
gebiet aus erfolge nach den Regeln des geltenden
Rechts. Die Bundesregierung verweist in diesem Zusam-
menhang erneut auf ihre Antwort auf die schriftliche
Frage der Abgeordneten Dağdelen vom 8. April 2015.
Die Air Base Ramstein und die sich darauf befindli-
che Satelliten-Relaisstation wird von den USA ohne die
Mitwirkung der Bundesregierung betrieben und genutzt.
Die Bundesregierung hat zu jedem Zeitpunkt sämtliche
Anfragen entsprechend ihrem jeweiligen Kenntnisstand
beantwortet. Beschuldigungen, die Bundesregierung
habe gelogen oder getäuscht, weise ich mit Entschieden-
heit zurück.
Herr Movassat, Sie haben eine Rückfragemöglich-
keit.
Danke schön. – Herr Staatssekretär, in einem internenRegierungsdokument, das Sie nicht kennen wollen,steht, dass das Bundesverteidigungsministerium dafürplädiert hat, die ganze Sache gegenüber dem Parlamentauszusitzen. Wer es nicht kennt, hat spätestens nach die-ser Fragestunde den Eindruck, dass genau das geschehenist; denn Sie weichen wirklich jeder Frage aus.Ich komme nun zu meiner Frage. Es gibt zahlreicheAnhaltspunkte dafür, dass der US-Drohnenkrieg ohneRamstein nicht möglich ist und dass Ramstein der ent-scheidende Ort ist, um die Satelliten- bzw. die Datenver-bindung herzustellen. Ein ehemaliger US-Drohnenpilothat gesagt, dass er, immer wenn er sich zum Einsatz ge-meldet hat, mit Ramstein Verbindung aufnehmen mussteund dann mit seiner Drohne verbunden wurde. Dieneuen Dokumente, die der Spiegel veröffentlicht hat, be-stätigen dies ebenfalls.Sie sagen, im Einzelfall könne etwas rechtswidrigsein. Was ich mich frage, ist: Ab welchem Punkt hat dieBundesregierung im Einzelfall genügend Anhaltspunktedafür, sich die Sachen genauer anzuschauen und zu prü-fen, ob möglicherweise Rechtsverstöße vorliegen? Woliegt die Schwelle für Sie?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9439
(C)
(B)
D
Herr Kollege, Sie haben gesagt: „Was ich mich
frage“. Offenbar haben Sie jetzt aber mich gefragt.
Ja.
D
Gut. Dann antworte ich inhaltlich so, wie ich das auch
vorher schon gemacht habe: Wir haben klare völker-
rechtliche Verträge mit den Vereinigten Staaten. Wir ha-
ben in die identische Richtung gehende darüber hinaus-
gehende Zusicherungen, und wir haben in unserem Land
Strafverfolgungsbehörden, deren Aufgabe es ist, bei ent-
sprechendem Anlass – falls sie den sehen – Ermittlungen
einzuleiten. So ist unser Rechtswegestaat organisiert.
Die Bewertung eines konkreten Drohneneinsatzes
– auch das möchte ich wiederholen – kann nur im Ein-
zelfall erfolgen. Wie Sie den von Ihnen hier zitierten
Presseberichterstattungen, die ich ebenfalls auszugs-
weise zitiert habe, entnehmen können, sind solche Ein-
sätze nicht grundsätzlich völkerrechtswidrig. Die Völ-
kerrechtswidrigkeit könnte nur im Einzelfall festgestellt
werden. Dies ist von den zuständigen Stellen aber bisher
in keinem Fall erfolgt.
Herr Movassat, Sie haben eine zweite Frage.
Herr Staatssekretär, wenn die ganze Sache so einfach
wäre, dann hätte die Bundesregierung keinen Fragen-
katalog an die US-Regierung geschickt. Dieser wurde
von der US-Regierung ein Jahr lang nicht beantwortet
und lag da einfach herum. Dann hat die US-Regierung
Ihnen irgendwann das Wort gegeben und zugesichert:
Da passiert nichts Rechtswidriges.
Da wird natürlich immer sehr geschickt mit Worten
agiert. Die US-Regierung sagt, es würden von Ramstein
aus keine Drohnenangriffe gestartet und es würde von
dort aus nicht gesteuert. Das ist eine interessante Art,
Worte zu verwenden. Denn es wurde weder behauptet,
dass die Drohneneinsätze von Ramstein aus starten,
noch, dass der Pilot in Ramstein sitzt und sie steuert. Der
Pilot sitzt in den USA und wird mit Ramstein verbun-
den.
Ich frage mich: Wie kann es sein, dass es die Bundes-
regierung angesichts solch schwerwiegender Vorwürfe
bei einer Zusicherung der US-Regierung belässt und
nicht einmal darauf besteht, dass zumindest der Fragen-
katalog beantwortet wird? Wir sprechen immerhin von
dem möglichen Vorwurf der Beihilfe zum Mord. Das
müsste doch für die Bundesregierung, die dem Grundge-
setz verpflichtet ist, Anlass genug sein, hier aktiv zu
werden.
D
Herr Kollege, die Regierung der Vereinigten Staaten
hat uns die von mir inzwischen ungefähr ein halbes Dut-
zend Mal zitierte Zusicherung gegeben. Wir arbeiten mit
unseren amerikanischen Partnern vertrauensvoll zusam-
men. Das vertrauensvolle Verhältnis basiert auch darauf,
dass man dem Wort des anderen vertraut.
Zusatzfrage der Kollegin Höger.
Vielen Dank, dass ich jetzt eine Zusatzfrage stellen
darf. – Es gibt sehr viele Berichte, Herr Staatssekretär
Brauksiepe, darüber, dass die Einsätze in Pakistan, im
Jemen und in Somalia, also in Ländern, die keine
Kriegsteilnehmer in irgendwelchen Kriegen sind, völ-
kerrechtswidrig sind und dass dort extralegale Tötungen
durch die USA vorgenommen werden. Deutschland ist
leider Gottes dadurch, dass die Drohnen von Ramstein
aus mit gesteuert werden, indirekt darin verwickelt.
Es wundert mich schon, wenn Sie sagen, Sie trauen
den Antworten auf diesen Fragenkatalog. Frau von der
Leyen, die vor kurzem in den USA war, wollte laut Be-
richt des Spiegel nicht danach fragen und hat das Thema
US-Drohnenkrieg und Beteiligung von Ramstein nicht
auf die Tagesordnung gesetzt, obwohl die Beantwortung
der Fragen für sie nicht uninteressant sein dürfte, um die
Dinge weiter zu verfolgen und um genau beurteilen zu
können, was dort passiert.
D
Frau Kollegin, ich bitte Sie, das, was Regierungsver-
treter miteinander besprechen, doch ihnen und ihren Ver-
abredungen zu überlassen. Die von Ihnen angesproche-
nen Fragen sind mit den Vereinigten Staaten erörtert
worden. Inzwischen habe ich das Ergebnis mehr als ein
halbes Dutzend Mal zitiert.
Aber Fragen dürfen gestellt werden. Dann müssen sie
vielleicht noch einmal beantwortet werden.
D
Sehr gerne.
Die Kollegin Dağdelen stellt jetzt die nächste Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte gerne zudem Aspekt der vertrauensvollen Zusammenarbeit kurzFolgendes sagen: Es gibt manche Berichte, die behaup-ten, dass Deutschland ein Vasallenstaat der USA ist, weilman immer noch von vertrauensvoller Zusammenarbeitspricht und die Glaubwürdigkeit der USA überhauptnicht infrage stellt. Das gilt auch angesichts des Umstan-
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9440 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
des, dass selbst die Bundeskanzlerin und Millionen Bür-gerinnen und Bürger jahrelang abgehört worden sind,ohne vom vertrauensvollen Verbündeten USA davon inKenntnis gesetzt zu werden.In diesem Zusammenhang möchte ich gerne wissen,ob die Bundesregierung zumindest ansatzweise bereitist, eigenständige Untersuchungen anzustellen und demweisungsgebundenen Generalbundesanwalt die Anwei-sung zu geben, hier tätig zu werden, um die Souveränitätdieses Landes zu bewahren.D
Frau Kollegin, es ist Ihr gutes Recht als frei gewählte
Abgeordnete in einem freien Land dieses, Ihr Land als
Vasallenstaat zu bezeichnen. Dass wir alle dieses Recht
haben, haben wir zu einem Großteil unseren amerikani-
schen Freunden zu verdanken, die uns zusammen mit ih-
ren Verbündeten von der Nazidiktatur befreit haben.
Dafür sind wir bis heute – ich denke, ganz überwie-
gend – zu Recht dankbar.
Ich wiederhole, dass in unserem Rechtswegestaat
Strafverfolgungsbehörden für die Verfolgung möglicher
Straftaten zuständig sind; je nach Art der möglicher-
weise vorliegenden Straftat auch der Generalbundesan-
walt oder andere Behörden. Es entspricht nach meinem
Kenntnisstand nicht der Tradition und geübten Praxis
dieser Bundesregierung, dass der zuständige Bundes-
minister, in diesem Fall der Bundesminister der Justiz
und für Verbraucherschutz, dem Generalbundesanwalt
politisch motivierte Anweisungen gibt. Er ist erwachsen
und ist sich seiner Kompetenzen ohne Zweifel bewusst,
sonst hätte er nicht – auch das, Frau Präsidentin, wieder-
hole ich voller Vergnügen so oft, wie es gefragt wird –
beim Bundesgerichtshof bereits im Juni 2013 einen so-
genannten Beobachtungsvorgang in Zusammenhang mit
etwaigen von Deutschland aus geplanten, gesteuerten
oder überwachten Drohneneinsätzen angelegt. Sonst
hätte die Bundesanwaltschaft auch nicht am 20. Juni
2013 eine Einstellungsverfügung hinsichtlich eines
Drohneneinsatzes in Pakistan erlassen. Mein Eindruck
ist also: Alle zuständigen Behörden und Institutionen in
diesem Land sind sich ihrer Verantwortung bewusst.
Danke, Herr Staatssekretär. – Die nächste Rückfrage
hat Herr Kollege Liebich.
Herr Staatssekretär, wie bereits angesprochen wurde,
hat die Verteidigungsministerin ihren Amtskollegen in
den USA nach den Veröffentlichungen getroffen. Dann
ist von ihrem Haus gesagt worden, es sei explizit nicht
über diese Veröffentlichungen gesprochen worden. Zu-
dem sagte ihr Haus, man hätte mit den „sachlich zustän-
digen Häusern auf anderen Kanälen“ darüber geredet.
Mich würde interessieren, was die „anderen Kanäle“
sind und wie oft welche Beratungen dazu stattgefunden
haben. Wenn die Verteidigungsministerin nicht mit ih-
rem Amtsbruder in den USA darüber spricht und es „an-
dere Kanäle“ gibt, dann würde ich gerne wissen, welche
Kanäle dies sind und wie wir darüber informiert werden.
D
Herr Kollege, ich traue mir nicht zu, eine vollständige
Übersicht über Presseartikel zu diesem Thema zu haben.
Wenn es aber beispielsweise um die Nürnberger Zeitung
von heute geht, kann ich sagen: Es ist plausibel, dass
diese Zeitung von heute nicht Gegenstand von Gesprä-
chen in den letzten Tagen gewesen sein kann. Ansonsten
habe ich mehrfach darauf hingewiesen, dass wir mit den
Vereinigten Staaten auf allen Ebenen vertrauensvoll zu-
sammenarbeiten und wir uns selbstverständlich auch in-
nerhalb der Bundesregierung über diese Fragen abstim-
men. Ich habe Ihnen die Ergebnisse mitgeteilt; sie sind
Ihnen immer auch auf Anfragen Ihrer Fraktion hin
– Kleine Anfragen, schriftliche Fragen – mitgeteilt wor-
den. Wir wiederholen das mit Freuden bei jedem Anlass,
den Sie uns bieten.
Danke, Herr Brauksiepe. – Herr Ströbele ist jetzt mit
einer Rückfrage dran.
H
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gibt es Ihnen und der Bun-desregierung nicht genügend Anlass, den USA hin undwieder nicht ganz so sehr zu vertrauen und an der Wahr-heitsliebe des Partners USA das eine oder andere Mal zuzweifeln, dass Sie in den letzten Monaten und Jahren zurKenntnis nehmen mussten, dass die NSA und die US-Administration – auch angesichts der Vorwürfe, die sichaus den Dokumenten von Edward Snowden ergeben,dass deutsche Kommunikationsbeziehungen massen-weise verdachtslos ausgespäht worden sind – zwar im-mer wieder behauptet haben, die USA hielten sich anGesetz und Recht, aber trotzdem eingestehen mussten,das Handy der Kanzlerin abgehört zu haben? Oder kön-nen Sie mir ein deutsches Gesetz nennen, nach dem esfür US-Behörden zulässig ist, das Handy der Kanzlerinabzuhören? Wenn es sich dabei um eine gesetzwidrige,strafbare Handlung handelt, kann es ja nicht sein, dasssich die USA immer an Gesetz und Recht in Deutsch-land halten. Auch angesichts der Masse der entsprechen-den Dokumente kann es nicht stimmen, dass sie sich in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9441
Hans-Christian Ströbele
(C)
(B)
Fragen der Massendatenüberwachung immer an Gesetzund Recht in Deutschland gehalten haben.
Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Ströbele, in der Tat bezog sich die Ant-
wort unserer amerikanischen Freunde nicht auf eine
Frage der Bundesregierung zum Thema Datenüberwa-
chung, sondern auf eine Frage zum Thema Drohnenein-
sätze. Die Einschätzung der Bundesregierung zu dieser
Antwort habe ich Ihnen mitgeteilt; da kann ich mich nur
wiederholen.
Frau Renner.
Herr Staatssekretär, Sie antworten mit Freude, wir
fragen mit Freude. – Auch das NATO-Truppenstatut legt
fest, dass sich die US-Streitkräfte an deutsches Recht
und Gesetz zu halten haben. Wenn jetzt valide Anhalts-
punkte dafür im Raum stehen, dass man sich von Ram-
stein aus möglicherweise an Straftaten, möglicherweise
auch an völkerrechtswidrigen Einsätzen beteiligt hat,
dann ist es das eine, dass der Generalbundesanwalt ein
Prüfverfahren durchführt. Das andere ist die Frage: In-
wieweit gibt es Überlegungen, Kontroll- und Prüfrechte
seitens anderer Behörden auszuüben? Ist zum Beispiel
überlegt worden, Ramstein zu besuchen, zu inspizieren,
sich die entsprechenden Anlagen zeigen zu lassen? Eine
solche Aktion wäre neben der Klärung der Frage, ob der
Generalbundesanwalt in diesem Zusammenhang ermit-
teln soll, doch eigentlich angezeigt, wenn man als Bun-
desbehörde sozusagen in allen Teilen Rechtsstaatlichkeit
gewährleisten will.
D
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, dass es schon häu-
figer „Besuche“ – um Ihr Wort aufzugreifen – in Ram-
stein gegeben hat.
Für die Verfolgung von möglicherweise strafrechtlich zu
würdigenden Handlungen gibt es gleichwohl in unserem
Rechtswegestaat die zuständigen Strafverfolgungsbehör-
den; ich kann mich hier nur wiederholen.
Die letzte Nachfrage in dieser Runde stellt die Kolle-
gin Keul.
Herr Staatssekretär, weil Sie das mit so viel Freude
wiederholt haben, möchte ich noch einmal anmerken,
dass ein Beobachtungsvorgang etwas anderes ist als eine
strafrechtliche Ermittlung und dass eine Beobachtung si-
cherlich nicht dem Legalitätsprinzip unterliegt.
Je länger ich Ihnen zuhöre, desto mehr stellt sich mir
die Frage: Hält das Verteidigungsministerium eigentlich
noch an der Rechtsauffassung fest, dass Gewalteinwir-
kungen auf dem Territorium eines anderen Staates, ins-
besondere durch bewaffnete Drohnen, ausschließlich im
Rahmen eines bewaffneten Konfliktes völkerrechtsmä-
ßig und jenseits eines solchen bewaffneten Konfliktes
völkerrechtswidrig sind?
D
Frau Kollegin, für die Bundesregierung ist das Völ-
kerrecht selbstverständlich maßgebend. Es gibt legitime
Ziele militärischer Maßnahmen und nicht legitime Ziele;
diese Unterscheidung gibt es, und die hält die Bundesre-
gierung selbstverständlich für richtig.
Worum es sich handelt, das kann nur im Einzelfall ge-
würdigt werden unter Berücksichtigung aller Umstände
dieses Einzelfalls.
Nachdem die dringlichen Fragen aufgerufen und mitFreude beantwortet worden sind, rufe ich jetzt die münd-lichen Fragen auf Drucksache 18/4641 auf.Die Frage 31 der Kollegin Bärbel Höhn wurde durchdie Bundesregierung nachträglich dem Geschäftsbereichdes Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bauund Reaktorsicherheit zugeordnet und wird nachFrage 28 aufgerufen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.Die Frage 1 des Kollegen Hans-Christian Ströbelewurde bereits durch Staatssekretär Christian Lange be-antwortet.1)Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Katja Keul auf:Wie sind die vom Bundesministerium der Justiz und fürVerbraucherschutz und vom Bundesministerium des Innernjüngst vorgestellten Pläne für eine geplante Vorratsdatenspei-cherung in Deutschland mit dem Urteil des Europäischen Ge-richtshofes vom 8. April 2014 vereinbar, in dem das Gerichtdie damalige EU-Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie für nich-tig erklärte und feststellte, dass eine anlasslose Speicherungvon Daten ohne Differenzierung auf die Daten eines bestimm-1) Siehe Seite 9433 A
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9442 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
ten Zeitraums, eines bestimmten geografischen Gebiets odereines bestimmten Personenkreises, der in irgendeiner Weise ineine schwere Straftat verwickelt sein könnte, unzulässig ist?Herr Staatssekretär, bitte.C
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die Frage 2 der Kol-
legin Keul beantworte ich wie folgt:
Die Leitlinien zur Einführung einer Speicherpflicht
und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, die der Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz am
15. April 2015 vorgestellt hat, kombinieren zeitlich und
inhaltlich eng begrenzte Speicherfristen mit sehr stren-
gen Abrufregelungen. Auf diese Weise wird den Vorga-
ben des Europäischen Gerichtshofs nachgekommen.
Die vorgeschlagene Regelung ist deutlich enger ge-
fasst als die alte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeiche-
rung. Es werden weniger Daten für einen deutlich kürze-
ren Zeitraum gespeichert, es sollen bei weitem nicht alle
Daten gespeichert werden, und die Daten von Diensten
der elektronischen Post sind komplett ausgenommen.
Hinsichtlich der Speicherfrist wird, ausgehend von
der Sensibilität der Daten für den Bürger, nach Daten-
arten differenziert: Die Höchstspeicherfrist für Standort-
daten beträgt vier Wochen, für die übrigen Verkehrsda-
ten zehn Wochen. Auch für den Zugriff auf die Daten
werden mit striktem Richtervorbehalt, sehr engem Straf-
tatenkatalog und Substantiierungsanforderungen hohe
Hürden errichtet.
Auf Standortdaten darf nur einzeln zugegriffen wer-
den. Bewegungsprofile sind nicht möglich. Grundrechts-
eingriffe werden auf das absolut Notwendige beschränkt.
Darüber hinaus werden Datensicherheit, Transparenz
und effektiver Rechtsschutz gewährleistet. Berufsge-
heimnisträger werden besonders geschützt.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Sie werden si-
cherlich, wie ich auch, das Urteil des Europäischen Ge-
richtshofs gelesen haben, in dem steht, dass eine anlass-
lose Speicherung von Daten ohne Differenzierung auf
die Daten eines bestimmten Zeitraums, eines bestimm-
ten geografischen Gebietes oder eines bestimmten Per-
sonenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere
Straftat verwickelt sein könnte, unzulässig ist. Wenn ich
mir Ihre Leitlinien, die uns schriftlich vorliegen, ansehe,
muss ich Sie fragen: Sind wir uns darüber einig, dass
das, was nach diesen Leitlinien stattfinden soll, erstens
anlasslos ist, zweitens, was den Beginn der Speicherung
betrifft, zeitlich nicht eingeschränkt ist, drittens geogra-
fisch nicht eingeschränkt ist und auch nicht auf einen be-
stimmten Personenkreis eingeschränkt ist? Wie passt das
mit dem Urteil des EuGH zusammen?
C
Frau Kollegin, die Definition von „anlasslos“ hat der
EuGH selbst gegeben, indem er festgestellt hat – Rand-
ziffer 57 des Urteils –, dass sich die Richtlinie generell
auf alle Personen, auf alle elektronischen Kommunika-
tionsmittel sowie auf sämtliche Verkehrsdaten erstreckt.
Zugleich hat er hervorgehoben – Randziffer 58 –, dass
die Erfassung sämtlicher Personen erfolgt, ohne dass sie
Anlass zur Strafverfolgung gegeben haben. Der EuGH
beanstandet – das steht in derselben Randziffer –, dass
die Richtlinie – Zitat – „keinerlei Ausnahme“ bezüglich
der Personen enthält, die „nach den nationalen Rechts-
vorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen“.
Diesen Vorgaben werden wir dadurch nachkommen,
dass gerade nicht alle Daten gespeichert werden – wie
ich es in der Antwort eben dargestellt habe. So sind die
Daten von Diensten der elektronischen Post komplett
ausgenommen. Auch aufgerufene Internetseiten und In-
halte der Kommunikationen werden nicht gespeichert.
Hinsichtlich der Speicherfrist wird, ausgehend von der
Sensibilität der Daten für den Bürger, nach Datenarten
differenziert. Die Höchstspeicherfrist für Standortdaten
beträgt vier Wochen, für die übrigen Verkehrsdaten zehn
Wochen. Schließlich werden Berufsgeheimnisträger be-
sonders geschützt. Wir sind der Überzeugung, dass wir
dem EuGH-Urteil damit Genüge tun.
Frau Kollegin, haben Sie eine zweite Nachfrage?
Ja, ich habe eine zweite Nachfrage. – Sie werden ver-
stehen, dass mich das nicht überzeugt. Ich habe eine
konkrete Frage zu Ihren Leitlinien. In Ihren Leitlinien
steht unter anderem, dass es jetzt den neuen Straftatbe-
stand der Datenhehlerei geben soll. Ich frage mich: Was
ist das für ein neuer Straftatbestand? Bedeutet das, dass
das, was unter anderem der Finanzminister von NRW in
den letzten Jahren gemacht hat, nämlich das Aufkaufen
von Bankdaten-CDs aus der Schweiz, zukünftig eine
Straftat sein soll?
C
Frau Kollegin, wir haben dies in der Tat in die Leitli-
nien aufgenommen. Wir sind im Augenblick dabei, die
entsprechenden Vorschriften in einen Referentenent-
wurf zu gießen. Diesen haben wir abzuwarten. Wenn er
vorliegt, kann ich Ihnen über die Einzelheiten gerne
Auskunft geben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich sehe keineweiteren Rückfragen.Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Katja Keul auf:Hält der Bundesminister der Justiz und für Verbraucher-schutz an seiner öffentlichen Äußerung vom 15. Dezember2014 fest, als er auf Twitter die Nachricht verbreitete, „VDSlehne ich entschieden ab – verstößt gg Recht auf Privatheit uDatenschutz. Kein deutsches Gesetz und keine EU-RL!“, und,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9443
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
falls nein, was hat zu seiner veränderten politischen Bewer-tung des Themas geführt ?Herr Staatssekretär.C
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin, ich
beantworte Frage 3 wie folgt:
Der Tweet ist vor dem Hintergrund eines Interviews
mit der Süddeutschen Zeitung vom 15. Dezember 2014
zu sehen, mit dem der Tweet verlinkt ist. In dem Inter-
view selbst hat sich der Bundesminister der Justiz und
für Verbraucherschutz, Herr Maas, zu dem Vorhalt: „Ihr
Koalitionspartner fordert in dem Antrag die Vorratsda-
tenspeicherung und ein Verbot der sogenannten Sympa-
thie-Werbung für Terrororganisationen“, wie folgt geäu-
ßert – ich zitiere Herrn Maas –:
Ich lehne beides ganz entschieden ab. Eine anlass-
lose Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen das
Recht auf Privatheit und gegen den Datenschutz.
Das hat der Europäische Gerichtshof klargestellt.
Für eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, so wie
die Sicherheitspolitiker sie sich wünschen, wird es
kein deutsches Gesetz und keine EU-Richtlinie ge-
ben.
Genau so kommt es jetzt auch, Frau Kollegin Keul.
Das erkennen Sie an den Leitlinien, die wir vorgestellt
haben. Sie entsprechen nicht den Vorstellungen der Si-
cherheitspolitiker, sondern mit ihnen wird versucht, die
Balance herzustellen zwischen Sicherheit auf der einen
Seite und Datenschutz auf der anderen Seite. Deshalb ist
dieser Tweet in vollem Einklang mit dem Vorgehen der
Bundesregierung.
Frau Kollegin Keul, haben Sie eine Rückfrage?
Ja, habe ich. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr
Lange, Sie hatten mich heute schon im Rechtsausschuss
auf dieses andere, angeblich verlinkte Zitat hingewiesen.
Ich bin dem noch einmal nachgegangen. Der Link in
dem Tweet des Ministers verweist aber gerade nicht auf
dieses Interview, sondern auf eine Onlinezusammenfas-
sung der Süddeutschen Zeitung, in der der Minister wört-
lich zitiert wird:
„In unserem Grundgesetz steht ein solches Grund-
recht auf innere Sicherheit nicht.“ Auch die VDS
und das Verbot der Sympathiewerbung lehne er
„ganz entschieden ab“.
Das ist das, was verlinkt worden ist.
Im Übrigen ist, glaube ich, auch der Tweet selber, der
zweifelsfrei dem Minister zuzuordnen ist, eindeutig. Im
Tweet steht:
VDS lehne ich entschieden ab –
– so hat er es auch verlinkt –
verstößt gg Recht auf Privatheit u Datenschutz.
Kein deutsches Gesetz und keine EU-RL!
Was hat den Minister bewogen, von dieser Rechtsauffas-
sung abzurücken?
C
Frau Kollegin, ich habe bereits ausgeführt, wie das
Zitat in der Süddeutschen Zeitung von Herrn Bundes-
minister Maas lautete. Ich kann es gerne wiederholen.
Der entscheidende Satz lautet:
Das hat der Europäische Gerichtshof klargestellt.
Für eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, so wie
die Sicherheitspolitiker sie sich wünschen, wird es
kein deutsches Gesetz und keine EU-Richtlinie ge-
ben.
Dem hat die Bundesregierung nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank, dass Sie das wiederholt haben. Aber ich
sagte gerade, dass dies nicht die Stelle ist, die mich hier
interessiert. Das steht weder in dem Tweet, noch ist es
das, worauf in dem Tweet verlinkt wird. Es mag ja sein,
dass der Minister noch andere Interviews gibt, die von
anderen Personen freigegeben werden, aber ich hatte Sie
zu dem gefragt, was der Minister selbst getweetet hat.
Ich frage deswegen noch einmal: Was hat den Minister
bewogen, seine Rechtsauffassung zu ändern?
C
Frau Präsidentin, ist es die dritte Nachfrage?
Das war die zweite. Sie hat nur insgesamt mehrere
Fragen gestellt.
C
Dann beantworte ich die zweite Nachfrage gerne, in-
dem ich noch einmal sage, dass der Bundesminister die-
sen Tweet im Hinblick auf dieses Interview – es fand
auch am selben Tag statt – geschrieben hat. So hatte ich
es bereits dargestellt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dann kommen wir zur Frage 4 des AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz:Welche zusätzlichen Vorkehrungen für die IT-Sicherheitder durch die geplante Vorratsdatenspeicherung anfallendenMassenspeicher bei den privaten Providern wird die Bun-desregierung – auch vor dem Hintergrund der bisherigenErkenntnisse zu geheimdienstlichen Attacken auf Datenbe-stände weltweit – vorschlagen, um dem Diktum des Bundes-verfassungsgerichts zu entsprechen, wo-
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9444 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
nach verschärfte Vorschriften für die Datensicherung zurverfassungsrechtlichen Absicherung zwingend erforderlichsind?Herr Staatssekretär.C
Frau Präsidentin, die Frage des Kollegen von Notz
beantworte ich gerne wie folgt:
Der Bundesminister der Justiz und für Verbraucher-
schutz hat am 15. April 2015 Leitlinien zur Einführung
einer Speicherfrist und Höchstspeicherfrist für Verkehrs-
daten vorgestellt. Durch die in den Leitlinien skizzierte
Regelung wird eine nach dem Stand der Technik höchst-
mögliche Sicherheit der Daten gewährleistet. Die Spei-
cherung hat im Inland zu erfolgen.
Die Anbieter müssen die Daten gegen unbefugte
Kenntnisnahme und Verwendung schützen. Konkret er-
forderlich sind insbesondere der Einsatz eines besonders
sicheren Verschlüsselungsverfahrens, die Speicherung in
gesonderten Speichereinrichtungen mit einem hohen
Schutz vor Zugriffen aus dem Internet, die revisionssi-
chere Protokollierung des Zugriffs sowie die Gewähr-
leistung des Vieraugenprinzips für den Zugriff auf die
Daten. Daneben sind detaillierte Löschungsvorschriften
sowohl für die TK-Anbieter als auch für die Strafverfol-
gungsbehörden vorzusehen.
Es handelt sich hierbei nicht nur um rechtliche, son-
dern insbesondere um technische Detailfragen. Diese
Fragen erörtern wir derzeit mit den entsprechenden Ex-
perten. Konkrete Regelungen dazu werden wir in dem
Gesetzentwurf vorlegen.
Herr von Notz.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Dazu hätte ich
eine Rückfrage. Sie bezeichnen es als technische De-
tailfragen. Meiner Ansicht nach sind es Vorgaben, die
das Bundesverfassungsgericht sehr klar gefasst hat.
Mich würde interessieren, ob diese konkret – wir haben
ja bisher nur diese Leitlinien – ins Gesetz geschrieben
werden und wie die Einhaltung dieser Voraussetzungen
für solch riesige Datenbanken, wie sie jetzt nach Ihrem
Willen entstehen sollen, sozusagen regelmäßig geprüft
werden sollen.
Zum Vieraugenprinzip und zur Verschlüsselung, die
jetzt bei all den Unternehmen in Deutschland implemen-
tiert werden soll, frage ich: Gibt es eine Kosteneinschät-
zung der Bundesregierung, was das die Unternehmen
kosten wird?
C
Genau darüber, Herr Kollege von Notz, sind wir im
Augenblick in den Beratungen bei uns im Hause. Der
Gesetzentwurf ist noch nicht fertiggestellt. Deshalb kann
ich Ihnen darauf zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Ant-
wort geben.
Haben Sie eine zweite Rückfrage, Herr von Notz?
Eine Nachfrage zu dem Aspekt habe ich noch. Mir ist
zu Ohren gekommen bzw. ich habe es an mehreren Stel-
len von den beiden zuständigen Ministern so argumen-
tiert gesehen, dass der Kompromiss – Kompromiss in
Anführungsstrichen; denn mit uns hat er nicht stattge-
funden, insofern ist es keiner – zwischen den beiden
Häusern, Bundesinnenministerium und Bundesjustizmi-
nisterium, unverändert durchs Parlament gehen soll. Da
frage ich Sie jetzt einmal als Parlamentarier: Halten Sie
das für eine legitime Vorgehensweise, wenn zwei Minis-
ter einen Kompromiss aushandeln, oder glauben Sie,
dass dieses Haus sehr wohl ein Mitspracherecht hat, wie
dieses Gesetz am Ende auszusehen hat?
C
Zunächst einmal, Herr Kollege, äußere ich mich zu
der Glaubensfrage nicht. Ich lege Wert auf die Gewalten-
teilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative.
In dem Fall obliegt es der Legislative, sich zu überlegen,
wie sie mit einem Gesetzentwurf, den wir vorlegen wer-
den, umgehen wird.
Dann kommen wir zur Frage 5 des Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung – vor dem Hinter-
grund weiterer seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
von 2010 entstandener privater Massen-
speicher, sowohl auf privater als auch auf öffentlicher Ebene,
national als auch europaweit – ihren Gesetzesvorstoß zur Vor-
ratsdatenspeicherung hinsichtlich der vom Bundesverfas-
sungsgericht zwingend vorgesehenen Prüfung einer „Überwa-
chungsgesamtrechnung“?
Herr Staatssekretär.
C
Vielen Dank. – Diese Frage beantworte ich wie folgt:Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts kommt derBegriff „Überwachungsgesamtrechnung“ nicht vor. Erbezieht sich, in Auslegung des Urteils, auf einen vomBundesverfassungsgericht eingebrachten Aspekt. DieFreiheit, in seiner Freiheitswahrnehmung nicht total er-fasst und registriert zu werden, zählt das Bundesverfas-sungsgericht – Zitat – „zur verfassungsrechtlichenIdentität der Bundesrepublik Deutschland“. Eine Gesetz-gebung – Zitat –, „die auf eine möglichst flächende-ckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafver-folgung oder Gefahrenprävention nützlichen Datenzielte“, wäre „von vornherein mit der Verfassung unver-einbar“. Es dürfen also nicht praktisch alle Aktivitätender Bürger durch alle staatlich erfolgten oder veranlass-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9445
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
ten Speicherungen zu Strafverfolgungszwecken zusam-men erfasst und rekonstruiert werden können.Dieser Gefahr wird in dem Gesetzentwurf dadurchbegegnet, dass enge Zugriffsschranken und eindeutigeVerwendungszwecke normiert werden. Die Speicherungerfolgt nicht bei staatlichen Stellen. Strafverfolgungsbe-hörden haben nur Zugriff auf einzelne – ich wiederhole:einzelne – Datensätze unter eng normierten Vorausset-zungen. Um die Evaluation des Gesetzes zu ermöglichenund dem Gesetzgeber zu ermöglichen, den Umfang dererhobenen Daten zu überprüfen, sehen wir Statistik-pflichten vor.Insbesondere wird die Neuregelung deutlich enger alsdie alte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung sein.Es werden weniger Daten für einen deutlich kürzerenZeitraum gespeichert. Es werden bei weitem nicht alleDaten gespeichert. Durch diese Regelungen wird auchmit Blick auf die Gesamtheit der bereits vorhandenenDatensammlungen sichergestellt, dass die Freiheitswahr-nehmung der Bürger nicht total erfasst und registriertwerden kann. Damit wird den Vorgaben des Bundesver-fassungsgerichts Rechnung getragen.
Herr von Notz.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Auch dazu eine
Nachfrage, Herr Staatssekretär. In der Fachliteratur wird
im Hinblick auf diesen Gedanken des Bundesverfas-
sungsgerichts von einer Überwachungsgesamtrechnung
gesprochen. Damit ist mitnichten allein die Vorratsda-
tenspeicherung bezüglich der Kommunikationsdaten ge-
meint, sondern in dem Urteil von 2010 waren damit alle
möglichen Vorratsdatenspeicherungen gemeint; das war
vor Edward Snowden und vor PNR.
Es findet also eine massenhafte Speicherung von Da-
ten statt. Sie wissen vielleicht: Wir haben einen Untersu-
chungsausschuss zur NSA. Geheimdienste aus aller Welt
machen nichts anderes, als Vorratsdatenspeicherungen
durchzuführen, und zwar im Hinblick auf alle möglichen
Daten. Deswegen frage ich Sie: An welcher Stelle hat
das, was Karlsruhe entschieden hat, in Ihre Überlegun-
gen Eingang gefunden? Ich meine damit nicht etwa die
Farce, dass man E-Mails ausgenommen hat, sondern ich
frage Sie: Wie berechnen Sie bei der Überwachungsge-
samtrechnung Snowden, die Geheimdienste und andere
Vorratsdatenspeicherungen wie PNR konkret mit ein?
C
Erstens lege ich Wert darauf, dass es sich bei dem
Stichwort „Überwachungsgesamtrechnung“ um einen
Begriff handelt, der von Herrn Professor Roßnagel in ei-
nem Aufsatz über das Urteil zur VDS geprägt wurde und
der keinesfalls in der gesamten Literatur üblich ist.
Zum Zweiten. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Urteil das damalige Gesetz zur Vorratsdatenspei-
cherung wegen Verstoßes gegen Artikel 10 Absatz 1
Grundgesetz für nichtig erklärt. Der Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit verlange, so sagte das Bundesverfas-
sungsgericht, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer
solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des
mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs
in angemessener Form Rechnung trägt. Erforderlich
seien hinreichend anspruchsvolle und normenklare Re-
gelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenver-
wendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes. Der
Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten seien nur
verfassungsmäßig, wenn sie überragend wichtigen Auf-
gaben des Rechtsgüterschutzes dienten.
Genau diesen Vorgaben wollen wir mit unserem Ge-
setzentwurf Rechnung tragen. Insbesondere sollen deut-
lich weniger Daten für einen deutlich kürzeren Zeitraum
gespeichert werden, so wie es uns im Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vorgegeben wurde. Es sollen des-
halb auch bei weitem nicht alle Daten gespeichert wer-
den. Die Daten von Diensten der elektronischen Post
sind komplett ausgenommen. Hinsichtlich der Speicher-
frist wird, ausgehend von der Sensibilität, nach Daten-
arten differenziert. Ich sagte bereits: Die Höchstspei-
cherfrist für Standortdaten beträgt vier Wochen, für
übrige Verkehrsdaten zehn Wochen. Was den Zugriff auf
die Daten betrifft, installieren wir einen strikten Richter-
vorbehalt. Es gibt einen sehr engen Strafenkatalog und
Substantiierungsanforderungen mit hohen Hürden.
Auf Standortdaten darf nur einzeln zugegriffen wer-
den. Bewegungsprofile sind nicht möglich. Grundrechts-
eingriffe werden auf das absolut Notwendige beschränkt.
Darüber hinaus gewährleisten wir für die Bürger Daten-
sicherheit, Transparenz und effektiven Rechtsschutz.
Und schließlich werden die Berufsgeheimnisträger, über
die wir bereits gesprochen haben, besonders geschützt.
Herr von Notz hat keine weitere Frage; die Beantwor-tung erfolgte auch in der doppelten Zeit.Die Frage 6 der Abgeordneten Kunert wird schriftlichbeantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Finanzen.Die Frage 7 der Abgeordneten Kunert, die Fragen 8und 9 des Abgeordneten Christian Kühn, die Fragen 10und 11 der Abgeordneten Haßelmann sowie die Frage 12der Abgeordneten Paus werden schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales.Auch hier werden die Fragen 13 und 14 der Abgeord-neten Sabine Zimmermann schriftlich beantwortet.Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.Die Frage 15 des Abgeordneten Krischer wird eben-falls schriftlich beantwortet.Ich rufe die letzte Frage in dieser Fragestunde auf,nämlich die Frage 16 des Abgeordneten Ebner:
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9446 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Aus welchen Gründen hat sich das Bundesinstitut für Risi-kobewertung, BfR, – im Gegensatz zum US-amerikanischenÄquivalent, der Environmental Protection Agency, EPA, diemit mehreren Teilnehmerinnen und Teilnehmern vertretenwar – nicht an dem Treffen der Arbeitsgruppe der Internatio-nalen Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisa-tion, IARC, zur Ermittlung der Kanzerogenität von Glyphosat
der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancetveröffentlichten Einstufung von Glyphosat als „wahrschein-lich krebserregend beim Menschen“ führte, und in welcherWeise werden sich das BfR oder andere Institutionen desBundes mit dieser Einstufung sowie der zugehörigen, zur Ver-öffentlichung anstehenden Monografie des IARC vertieft aus-einandersetzen?Bitte, Herr Staatssekretär.P
Danke, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Kollege
Ebner, die Arbeitsgruppe der Internationalen Krebsfor-
schungsagentur der WHO zur Einschätzung der Kanze-
rogenität von Glyphosat und anderen Stoffen wurde
nach den internen Regeln der Krebsforschungsagentur
zusammengestellt. Regierungen oder nationale Behör-
den nehmen keinen Einfluss auf deren Zusammenset-
zung.
Herr Ebner.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, lassen
wir einmal die Frage hinsichtlich der Beteiligung des
BfR beiseite, das natürlich dennoch als Beobachter an
diesen Besprechungen hätte teilnehmen können.
Unabhängig von der Einschätzung des Bundesinstitu-
tes für Risikobewertung nun zu meiner Frage. Nach der
Einschätzung der Internationalen Krebsforschungsagen-
tur bei der Weltgesundheitsorganisation und der Einstu-
fung von Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend
beim Menschen“ und der häufigen Feststellung von
Lymphdrüsenkrebs bei Landwirten, die mit Glyphosat in
Verbindung kommen, frage ich Sie angesichts der anste-
henden Zulassungsverlängerung: Sind Sie ebenso wie
Staatssekretärin Flachsbarth – entgegen dem Vorsorge-
prinzip der Europäischen Union – der Auffassung, dass
diese Krebsgefährdung erst niet- und nagelfest bewiesen
sein muss, bevor die Bundesregierung hier handelt? Und
ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Verlän-
gerung der Zulassung von Glyphosat erteilt werden
soll – ja oder nein?
Herr Staatssekretär, bitte.
P
Die Bundesregierung nimmt hier ihre Aufgabe in der
Form wahr, dass die entsprechenden Institute eine Be-
wertung vornehmen, die sie der EFSA, die zuständig ist,
übermitteln. In dem Falle – das habe ich schon berich-
tet – haben wir uns an die Übermittlungsfristen gehalten.
Neuere Erkenntnisse werden ebenfalls bewertet. Es wird
auch – das ist schon berichtet worden, wie mir zugegan-
gen ist – eine Bewertung vorgenommen, wenn die ent-
sprechenden Veröffentlichungen über die Grundlagen
der Einschätzung der WHO zugänglich sind.
Im Übrigen wird ein Dissensverfahren innerhalb der
WHO durchgeführt, um die unterschiedlichen Stellung-
nahmen der einzelnen Einrichtungen der WHO zu kon-
zertieren.
Herr Ebner, wenn Sie möchten, können Sie eine
zweite Nachfrage stellen.
Danke, Frau Präsidentin. – Der Präsident des BfR,
Professor Hensel, hat heute Morgen im Ausschuss für
Ernährung und Landwirtschaft seine Einschätzung wie-
derholt, dass ihn Funde von Glyphosat im Urin von
Stadtbewohnern nicht überraschen, sondern zu erwarten
waren. Gleichzeitig wissen wir, dass krebserregende
Substanzen – und als solche hat die Internationale
Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisa-
tion Glyphosat nun einmal eingestuft – schon in gerin-
gen Mengen hochproblematisch sein können, insbeson-
dere dann, wenn sie über einen langen Zeitraum
aufgenommen werden.
Jetzt frage ich Sie: Plant die Bundesregierung in
Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die Menschen in
diesem Land als ersten Schritt eine Ausweitung des Hu-
manmonitorings auf Glyphosat zum Beispiel in Urin
oder in Muttermilch, um die Belastung der Bevölkerung
überhaupt quantifizieren zu können, und wird sie in Zu-
kunft auch tierische Lebensmittel auf Glyphosatrück-
stände überprüfen?
Herr Staatssekretär, bitte.
P
Herr Kollege Ebner, ich verweise noch einmal auf das
Verfahren. Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln un-
terliegt einem genau festgelegten Verfahren. In diesem
Verfahren werden die entsprechenden Stellungnahmen
verfasst, eingereicht und bewertet, und dann wird ent-
schieden. An diesem Verfahren ändert sich nichts.
Ich habe Kenntnis, dass der Präsident des BfR seine
Einschätzung – insbesondere seine Gefahreneinschät-
zung – vor dem Ausschuss auch in dieser Weise wieder-
gegeben hat, und die brauche ich hier nicht zu wiederho-
len.
Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9447
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dienicht beantworteten Fragen werden schriftlich beantwor-tet.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Vereinbarte DebatteFlüchtlingskatastrophe im MittelmeerFür diese Debatte ist eine Stunde vorgesehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir mit unse-rer Arbeit beginnen, darf ich Sie bitten, sich von IhrenPlätzen zu erheben. Darum bitte ich auch die Gäste hierin unserem Haus.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen undBürger unseres Landes sind zutiefst betroffen über dasSchiffsunglück im Mittelmeer, bei dem in der Nacht zumSonntag vermutlich mehr als 800 Menschen – Frauen,Männer, Kinder – ums Leben kamen. Die Opfer kamenaus Afrika und aus den Ländern des Nahen Ostens. Siehatten sich auf der Flucht vor Kriegen, vor Gewalt, vorArmut, vor Hunger, vor politischer und religiöser Verfol-gung auf den Weg nach Europa gemacht.Das Unglück mit seinen zahlreichen Opfern ist dieschwerste Flüchtlingskatastrophe in einer langen Reihevon ähnlichen tödlichen Unglücken, bei denen in denvergangenen Jahren bereits Tausende Menschen ihr Le-ben verloren haben. Angesichts des großen Leids, dassich beinahe täglich im Mittelmeer ereignet, sind wir– insbesondere wir als verantwortliche Akteure in Poli-tik und Gesellschaft – mehr denn je aufgefordert, alles inunserer Macht Stehende zu tun, damit sich diese tragi-schen Ereignisse nicht wiederholen. Wir hoffen sehr– das hoffen wir alle –, dass der morgen anstehende Gip-fel zur Flüchtlingspolitik Maßnahmen zur Verhinderungderartiger Katastrophen auf den Weg bringen wird.Der Deutsche Bundestag trauert mit den Angehörigender Opfer, mit ihren Familien, mit ihren Freunden,Freundinnen und allen, die ihnen nahestanden. Wir drü-cken ihnen unser tief empfundenes Mitgefühl aus.Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzenerhoben. Ich danke Ihnen von Herzen.
Ich gebe dem ersten Redner in der Debatte, dem Bun-desminister des Inneren, Dr. de Maizière, das Wort.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben die Bilder vomWochenende wahrgenommen und in unsere Herzen ein-gebrannt. Ich möchte mit noch ein paar anderen Ge-schichten und Bildern beginnen:Ich werde die junge Frau, eine junge Afrikanerin,nicht vergessen, die ich vor einiger Zeit im Erstaufnah-melager in München gesehen habe. Sie hatte ein Kind,das sie noch stillte, vor sich liegen und war schon wiederhochschwanger. Sie war alleine gekommen und Monateunterwegs. Man kann nur ahnen, wie es zu der Schwan-gerschaft gekommen war.Ich bin geprägt von den gestrigen Bildern von Flücht-lingen, die sich an ein Boot geklammert haben, das zer-schellt war.Ich höre Berichte von 5 bis 10 Milliarden Dollar, diedie Schlepper im Jahr im Mittelmeer verdienen.Ich war gestern bei der Bundespolizei am FrankfurterFlughafen und habe dort einen Mann gesehen, der aufge-halten worden ist. Er hatte Asyl beantragt. Das war einsyrischer Professor. Er war von New York nach Deutsch-land geflogen und hatte hier Asyl beantragt, weil seinVisumantrag zweimal abgelehnt worden war.Ich habe vor meinen Augen eine Schulklasse, die ichvor wenigen Tagen in Nürnberg getroffen habe – unbe-gleitete Minderjährige und junge Erwachsene in allenStatusgruppen – und die begeistert Deutsch gelernt ha-ben.Ich habe vor meinen Augen das Bild des abgebrann-ten Flüchtlingsheims.Aber ich denke auch an andere Bilder und Gesprächeaus der letzten Zeit. Ich habe in der Außenstelle desBAMF mit einer jungen Frau gesprochen. Sie konntedrei Sätze Arabisch und sagte, sie stamme aus Syrien.Der Dolmetscher meinte, sie stamme aus Serbien.Ich erlebe den bitteren Streit in Deutschland, ob maneine Familie noch nach Italien oder in die Niederlandeschicken könne, und dazu unterschiedliche Entscheidun-gen der Verwaltungsgerichte.Mir erzählte ein Landrat, dass er Probleme mit einemjungen Tunesier hat, der mittelschwere Straftaten begehtund in jedem Asylbewerberheim Unruhe stiftet. Die Tu-nesische Botschaft aber weigert sich, für ihn einen Passauszustellen, sodass er nicht abgeschoben werden kann.Ich erinnere mich an die Präsidentin des Kosovo, diemir gesagt hat, dass sie persönlich an eine Bushaltestellein Pristina gegangen ist, um kosovarische Bürger, für die18 Busse bereitstanden, um sie nach Deutschland zubringen, davon abzuhalten, ihr Land zu verlassen.
– Dazu habe ich einiges erzählt. – Der Oberbürgermeis-ter von Duisburg hat uns letzte Woche in der Migrations-konferenz gesagt, dass es in Duisburg – wahrlich keineeinfache Stadt – überhaupt keine Probleme mit Asylbe-werbern gibt, aber massive Bedenken gegen Armuts-migranten aus Bulgarien und Rumänien.Warum erzähle ich diese Geschichten?
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9448 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
Ich erzähle diese Geschichten, weil sie zeigen, dass dasThema „Asyl, Flüchtlinge und Migration“ ganz viel-schichtig ist. Dahinter verbergen sich sehr viele unter-schiedliche Geschichten und Schicksale. Deswegen istmein erster Wunsch: Bitte vereinfachen wir diese De-batte nicht. Bitte lassen Sie uns nicht von einem hohenmoralischen Ross aus sprechen.
Bitte machen wir keine Versprechungen, die wir nichthalten können.
Wir brauchen Emotionen und einen kühlen Verstand.Wir brauchen die Kraft zur Differenzierung für alle dieseGruppen. Es gibt keine einfachen Antworten. Es gibtkeine schnellen Lösungen. Es ist richtig, dass sichEuropa nicht abschotten darf.
Es ist aber genauso richtig, dass Europa nicht jeden ausAfrika aufnehmen kann, der nach Europa möchte.
Das übersteigt die Kapazitäten unseres letztlich reichenEuropas und gefährdet die Zukunft Afrikas. Beides wol-len wir nicht.
Die Ursachen, mit denen wir es zu tun haben, sindeine Mischung aus bitterer Armut, brutaler politischerVerfolgung und dreckigen Verbrechen. Diesen Ursachenmüssen wir mit einer europäischen Antwort begegnen:nachhaltige Humanität, stabilisierende Entwicklungs-politik und harte Strafverfolgung. Das muss unsere Ant-wort sein. Das ist leicht gesagt, aber schwer getan.Meine Gefühle am Wochenende waren eine Mi-schung aus Trauer und Zorn: Trauer über die Toten undZorn über die Täter. Das Ende der Operation MareNostrum war übrigens nicht das Ende der Seenotrettung.Im Gegenteil: Seit dem Beginn der Operation Triton ste-hen nicht weniger Einsatzmittel zur Rettung Schiffbrü-chiger zur Verfügung.
Zusätzlich zu den Schiffen, Flugzeugen und Hubschrau-bern, die eingesetzt wurden, operieren in dem Seegebietdie italienische Marine und die Seenotrettungskräfte Ita-liens und Maltas.Es spricht für sich, dass bis April 2015 entlang derRoute circa 19 000 Menschen von Triton aus Seenot ge-rettet wurden. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres wa-ren es etwa genauso viele Menschen. Es gibt nur einenUnterschied: Es sind viel mehr Menschen in seeuntüchti-gen Booten losgeschickt worden. Damit konnten sie ge-rade das Hoheitsgewässer ihres Landes verlassen. Dannwurde die Notrufzentrale angerufen. Gewollter Schiff-bruch und Gefährdung von Menschenleben ist der Kerndes Geschäftsmodells dieser dreckigen Verbrecher.Meine Damen und Herren, Deutschland, die EU, wiralle wollen angesichts dieser Ereignisse nicht einfach zurTagesordnung übergehen. Wir müssen verhindern, dassweitere Menschen im Mittelmeer zu Tode kommen. Mi-gration ist schwierig genug; ich habe einige Beispielegeschildert. Migration darf keine Frage von Leben undTod werden.Es war richtig, dass uns die Hohe Vertreterin amMontag zu einer gemeinsamen Sitzung der Außen- undInnenminister eingeladen hatte. Die Kommission hat indieser Sitzung zehn Punkte zur Diskussion und Be-schlussfassung vorgelegt. Diesen Punkten wurde im We-sentlichen zugestimmt, auch wenn sie noch weitererKonkretisierungen und Präzisierungen bedürfen.Ich nenne die Punkte, die mir wichtig sind:Erstens, die Seenotrettung: Wir müssen alle Maßnah-men, die dort möglich sind, konzentrieren. Die Seenot-rettung unter Führung von Triton und Poseidon mussdringend verbessert und auf europäischer Ebene finan-ziert werden, gerne auch unter stärkerer deutscher Betei-ligung. Es wird zu diskutieren sein, was das ist. DieKommission hat eine Verdoppelung vorgeschlagen. Eskann auch eine Verdreifachung sein. Seenotrettung istdas Erste, Wichtigste und Dringlichste, was unverzüg-lich beginnen muss.
Zweitens, der Kampf gegen kriminelle Schlepper:Von Libyen aus können die Schleuserbanden die Flücht-linge sehenden Auges in den Tod schicken. Sie könnenweithin ungehindert agieren. Deswegen müssen wir– auch das ist ein Vorschlag der Kommission – darüberreden, wie wir solche Todesboote zerstören und die In-frastruktur schädigen können. Wenn Menschen gerettetworden sind, dürfen diese Boote nicht erneut dazu ge-nutzt werden, weitere Menschen in Lebensgefahr zubringen.
Möglicherweise müssen wir auch vorbeugend tätig wer-den, dass solche Schiffe gar nicht erst genutzt werden.Der UN-Sicherheitsrat hat gestern getagt. Die 15 Mit-glieder des Sicherheitsrates drängen auf eine stärkereinternationale Zusammenarbeit, um weitere Bootstragö-dien zu vermeiden und die Schlepperbanden zu bekämp-fen. Alle illegalen Wege für die Migration müssten ge-schlossen werden, so der Sicherheitsrat gestern.Drittens brauchen wir eine politische StabilisierungLibyens und der Region. Dazu wird sicher gleich Frank-Walter Steinmeier reden. Aber ich habe in diesem Zu-sammenhang einige Fragen: Warum hat für die beiden li-byschen Machtzentren das Thema Flüchtlinge im Mo-ment noch keine Priorität? Und was sagen eigentlich dieafrikanischen Führer dazu, dass ihnen ihre Mittelschicht
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9449
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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wegläuft? Ist das dort ein ebenso großes Thema wie beiuns, und was können wir tun, damit es auch dort ein gro-ßes Thema wird?Viertens. Wir haben in Europa auch eine gemeinsameVerantwortung für die Flüchtlinge, die gerettet werden.Wir dürfen die Erstaufnahmestaaten nicht alleine lassen.Es muss sichergestellt werden, dass die Flüchtlingeüberall, auch in Griechenland und Italien, aufgenommenund registriert werden. Wenn dafür Unterstützung erfor-derlich ist, muss diese von der Kommission und denübrigen Mitgliedstaaten geleistet werden, gerne unterFührung der EASO. Deutschland ist bereit. Ich bin dazubereit, dass wir mit vielen Mitarbeitern dort hingehenund Italien bei der Aufnahme dieser Flüchtlinge helfenund sie unterstützen.
Das eigentliche Ziel muss sein, dass wir dort die Re-gistrierung und auch die Prüfung der Asylgründe unddes Flüchtlingsschutzes vornehmen, dass wir von dort inEuropa und nach Europa verteilen und dass wir von dortgemeinsam, auch europäisch, zu Rückführungen kom-men, die human sind. Das ist die richtige Lösung. Dazugehört eine geordnete und gerechte Verteilung inEuropa. Ich glaube, dass jetzt die Zeit ist, darüber ernst-haft zu reden.Es kann nicht sein, dass sich nur 10 von 28 Staaten ander Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Das ist nichtin Ordnung, und das müssen wir jetzt sofort zu beendenversuchen.
Meine Damen und Herren, wir arbeiten mit Hoch-druck daran, einen substanziellen Beitrag zu einem ge-meinsamen europäischen Handeln zu leisten. Das istnicht einfach. Ich habe es bereits gesagt: Es gibt keineeinfachen und schnellen Lösungen. Wir müssen Men-schen retten. Wir müssen die Fluchtursachen bekämp-fen. Wir müssen die Schlepper bekämpfen. Das allesmüssen wir gemeinsam und solidarisch tun: in Europaund für Europa.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Dr. de Maizière. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Petra Pau für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Tausende Flüchtlinge, Menschen oh-nehin in Not, ertrinken im Mittelmeer. Das ist einemenschliche Katastrophe und ein politisches Desaster.Versagt hat die EU-Flüchtlingspolitik, also auch diedeutsche. Sie ist auf Abwehr ausgerichtet statt auf Lö-sungen. Das muss sich ändern.
1990 lief der BBC-Film Der Marsch. Darin versu-chen immer mehr Menschen, ihrem Elend in Afrika zuentkommen und Hilfe im gelobten Europa zu finden. Siestoßen auf eine hochgerüstete Festung, in der Rassismusbrodelt. Das war vor 25 Jahren, einem Vierteljahrhun-dert. Nun scheint das Szenario Realität zu werden. Mitdem Abendland und westlichen Werten hat all das nichtszu tun. In denselben 25 Jahren sind die Fluchtursachennicht weniger geworden, nicht der Hunger, nicht dasElend, nicht Vertreibung, auch nicht Kriege. Genau dortliegt aber das tiefere Problem. Wer weniger Flüchtlingewill, muss eine globale Entwicklung fördern, die Ge-rechtigkeit schafft und Frieden gebietet.
Das beginnt bei fairem Handel ohne Rüstungsexporte.Nun will sich die EU auf einen Zehn-Punkte-Plan ei-nigen, von A wie Asylverfahren bis Z wie Zusammenar-beit der Polizeien. Nach E wie Entwicklung und H wieHumanismus sucht man vergebens. Da hilft auch derVerweis nichts, das eine müsse sofort sein und das an-dere folge langfristig; denn wenn die langen Fristennicht sofort beginnen, werden sie auch in weiteren25 Jahren nicht fruchten.Flüchtlinge wiederum, die es bis in die Bundesrepu-blik schaffen, treffen auf zwei Deutschlands. In einemschüren „besorgte“ Bürger Hass. Im anderen leisten be-wegte Bürger Hilfe. Letzteren gelten unser Dank, unserZuspruch und unsere Unterstützung.
Zumeist handelt es sich um Ehrenamtliche, beispiels-weise vom Arbeiter-Samariter-Bund, von der Arbeiter-wohlfahrt oder aus der Nachbarschaft von Unterkünftenund aus den Gemeinden. Aber auch das gehört zum All-tag: Sie brauchen Schutz.Noch etwas muss sich ändern. Integration ist mehr alsInnenpolitik. Sie betrifft nahezu alle Bereiche: Bildungund Soziales, Recht, Arbeit, Teilhabe usw. Die Sozial-ministerinnen von Brandenburg und Thüringen habendazu aktuell ein Konzept vorgelegt. Ich empfehle uns al-len einen Blick darauf.Schließlich geht es nicht, dass der Bund sagt: Wir re-gistrieren die Flüchtlinge, während die Betreuung alleinden Ländern und den Kommunen obliegt. Der Bundmuss umgehend mehr Verantwortung übernehmen, mitGeld, mit Liegenschaften, mit humanen Standards undmit einer Politik, die Flucht und Vertreibung entgegen-wirkt.
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9450 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015
(C)
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Vielen Dank, Kollegin Petra Pau. – Nächster Rednerin der Debatte ist Bundesminister Dr. Frank-WalterSteinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich weiß nicht, wie viele Flüchtlingslager ich in den letz-ten Jahren gesehen und erlebt habe. Die Schicksale de-rer, die sich etwa im Mittleren Osten mit knapper Not,mit Haut und Haaren und ein bisschen Leben in dieFlüchtlingslager gerettet haben, übersteigen häufig ge-nug das Vorstellbare. Allein 11 Millionen Flüchtlingegibt es im weiteren Umfeld Syriens und des Iraks, diemeisten davon im Libanon und in Jordanien.Ja, auch bei uns gibt es – wer wüsste das nicht – kriti-sche Diskussionen, in manchen Fällen auch Abneigunggegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Ich weiß das,und wir müssen das thematisieren, gerade angesichtsvon brennenden Flüchtlingsunterkünften.Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. 100 000 Flücht-linge aus Syrien haben Aufnahme in Deutschland gefun-den, mehr als in allen anderen europäischen Ländern. Ichfinde, das ist der Zeitpunkt, den vielen Städten undKommunen, die die Aufnahme organisiert haben, undden Menschen, die die Flüchtlinge in ihrer Nachbar-schaft aufgenommen haben und viele von ihnen be-treuen, Dank zu sagen.
Wäre das der Anlass für diese Diskussion, wäre esgut, aber dem ist leider nicht so. 800, 900, vielleicht1 000 Menschen sind am vergangenen Wochenende beieinem Schiffsunglück vor der Küste Libyens im Mittel-meer ums Leben gekommen. Man kann die Not, diediese Menschen auf überfüllte und untaugliche Bootetreibt, die furchtbaren Momente der Havarie und das fürdie meisten chancenlose Ringen um das Überleben aufoffener See nur erahnen. Das alles ist unerträglich.Das erschüttert uns in Wahrheit nicht nur als Mitmen-schen – Gott sei Dank das auch –, sondern das muss unsin ganz besonderer Weise als Europäer erschüttern; denndiese Menschen waren nicht auf dem Weg irgendwohin,sie waren auf dem Weg nach Europa, mit vielen Hoff-nungen auf dieses Europa. Deshalb trifft diese Tragödie,über die wir heute reden, eben nicht nur die Flüchtlinge,sondern sie betrifft auch Europa. Natürlich ist es unsereVerantwortung, Menschen vor dem sicheren Tod zu be-wahren, selbst wenn sie von gewissenlosen Menschen-händlern auf eine Reise unter Todesgefahren geschicktwerden. Deshalb sage ich zunächst einmal: Das ist Ge-genstand der humanitären Verantwortung, und vor derdürfen wir nicht kneifen.
Ich habe diese Woche nach dem Rat der Außenminis-ter und der Innenminister gesagt: Das, was wir am ver-gangenen Wochenende erlebt haben, ist nicht das Ende;es ist der traurige Höhepunkt einer Tragödie, und wirkönnen nicht einmal mit Sicherheit sagen, wie es in dennächsten Wochen und Monaten weitergehen wird. VieleTausend werden auch weiterhin den Weg über das Mit-telmeer wagen. All das gehört zur bitteren Wahrheit.Manche macht dieser Zustand einfach nur fassungslos,andere begnügen sich mit der Suche nach Schuldigen,und Dritte wollen das Problem mit einem Handstreichaus der Welt schaffen. Ich verstehe alle diese drei Emp-findungen, ich kenne sie teilweise von mir selbst. Aberuns allen ist klar: Keine dieser drei Empfindungen bieteteine wirklich überzeugende Antwort.Sicher erwarten die Menschen in Deutschland mehrvon uns, aber wir dürfen auch nicht über die Möglichkei-ten und die Grenzen unserer Politik täuschen. Deshalbspreche ich von den vier Dimensionen, die ineinander-greifen müssen, damit wir in den nächsten Monaten mithoffentlich größerer Effizienz tätig werden können.Das Erste ist die erwähnte humanitäre Verantwortung.Ganz vorn steht die Verbesserung der Seenotrettung.Wichtig ist nicht – das möchte ich sagen –, wie diese zu-künftige europäische Mission heißen wird. Deshalb halteich die Debatte, ob sie wieder Mare Nostrum heißenwird oder nicht, für nicht entscheidend. Entscheidend istdoch, egal wie sie heißt, dass der Erfolg bei der Rettungvon Schiffbrüchigen größer wird. Die Verdoppelung derfinanziellen Mittel, die jetzt von der Kommission ange-kündigt worden ist, ist jedenfalls der richtige Weg. Dasmuss sein, und das finde ich richtig.
Das Zweite ist: Wenn wir wissen, dass Flüchtlingeweiterhin ankommen werden, dann werden wir jeden-falls seitens der Regierung Wert darauf legen, dass wirzu einer gerechteren Verteilung in Europa kommen.Thomas de Maizière und ich haben das im Rat in dieserWoche angemahnt. Aber das wird keine ganz einfacheDiskussion werden. Dazu gehört Überzeugungsarbeitund Beharrlichkeit, und die werden wir beide – das ver-spreche ich – an den Tag legen.
Drittens – das hat der Innenminister eben gesagt –: Eswäre eine Selbstlüge, wenn wir sagen würden, wir könn-ten mit besserer Verteilung und Seenotrettung das Pro-blem lösen. Wir müssen bereit sein, mit größerer Effi-zienz, auch mit größerer Bereitschaft der Länder zurZusammenarbeit endlich das kriminelle Tun derjenigenzu beenden, für die das Ganze, das wir hier miteinanderdiskutieren, keine Frage von Humanität ist. Das, was wirhier unter humanitärer Verantwortung diskutieren, ist fürdiejenigen, die flüchtende Menschen durch das Kriegs-gebiet in Libyen treiben und die Überlebenden dieserFlucht in seeuntaugliche Boote setzen, nichts anderes alsschlichte Profitgier. Ich glaube, das können wir nichtlänger erdulden und ertragen. Diesen Menschen müssenwir das Handwerk legen.
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Viertens. Es gibt die außenpolitische Dimension;Thomas de Maizière hat sie angekündigt. Es lässt sichleicht sagen: Wir müssen dafür sorgen, dass die Transit-länder nicht mehr Gelegenheit bieten für den Ausbauvon illegaler Migration, das Tätigwerden von Schleuser-banden und die Aktivitäten von Menschenhandel. Daslässt sich leicht sagen. Es lässt sich ebenfalls leicht sa-gen: Wir müssen die Ursachen für die Flucht aus denHerkunftsländern bekämpfen. All das ist richtig.Nur, werfen wir einen Blick auf die Landkarte: Wasist denn tatsächlich der Fall? Wir haben in der Tat guteKooperationen. Es hat gerade erst eine Konferenz mitden mediterranen Staaten aus Nordafrika in Barcelonastattgefunden. Dort, wo Staatlichkeit existiert – in Ma-rokko, in Tunesien, in Algerien –, haben Schleuserban-den keine Grundlage für ihr schändliches Tun gefunden.Sie finden sie in einer Region vor, in der die Staatlichkeitkollabiert und wo zwei Machtgruppen miteinander imStreit sind und Krieg gegeneinander führen. Das LandLibyen bietet aufgrund erodierender Staatlichkeit imGrunde genommen die Grundlage dafür, dass sich krimi-nelle Banden, Menschenhändler, dort verbreiten könnenund dass Menschen auf eine unverantwortliche Art undWeise in große Gefahr, ich will nicht sagen: auf den Wegdes fast sicheren Todes, gebracht werden.Was die Herkunftsländer angeht, so sieht es ja nichtanders aus. Die zusammenbrechende libysche Staatlich-keit hat eine Vorgeschichte. Das Ende des Gaddafi-Regi-mes, das notwendig war, hat mit sich gebracht, dass dieInhalte der Waffenkeller Gaddafis heute in die ganze Ge-gend verstreut sind
und dass die Kämpfer und die Soldaten der ehemaligenlibyschen Armee heute in Nordmali und in Niger tätigsind. Deshalb sage ich: Es wird uns so ganz einfach nichtgelingen, die sicherlich notwendige Stabilisierung vonTransitländern und Herkunftsländern herbeizuführen.Gegen Ende meiner Rede will ich sagen: Für mich istdas alles kein Grund, sich auf Schuldvorwürfe zu be-schränken oder gar in Resignation zu verfallen, sondernes ist eben der Beginn von beharrlicher Arbeit, an derStabilisierung dieser Nachbarregionen zu wirken.Ich frage noch einmal mit Blick auf Engagements undBemühungen, die wir in den letzten Jahren hinter uns ge-bracht haben: Wie lange ist daran gezweifelt worden, obman nach 12 Jahren Verhandlungen im 13. Jahr mit demIran ein Verhandlungsergebnis zustande bringt? Nochhaben wir es nicht; aber zumindest die Chance dafür istda. Der zuständige Sonderbotschafter der Vereinten Na-tionen verhandelt jetzt fünf Monate über die Frage einerRegierung der nationalen Einheit für Libyen.Machen wir uns nichts vor: Wir sind darauf angewie-sen, dass diese Bemühungen zum Erfolg führen. Nur mitder Stabilisierung von Staatlichkeit, nur mit der Beendi-gung des Konflikts zwischen den Machtgruppen inTobruk und Tripolis wird Libyen veränderbar und nichtmehr das Durchgangslager für viele Millionen Flücht-linge auf einer gefährlichen Reise über das Mittelmeer ingefahrvolle Situationen sein. Deshalb: Klagen wir unsnicht selbst an wegen mangelnder Mitmenschlichkeit.Verlangen wir von uns selbst, dass wir mehr tun, um inSeenot Geratene zu retten. Aber haben wir auch Ver-ständnis dafür, dass die Stabilisierung der Nachbarregio-nen Mühe, Zeit und Aufwand bedeuten wird. Das gehörtzum Realismus, mit dem ich die gegenwärtige Situationbeschreibe.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – NächsteRednerin in dieser Debatte: Katrin Göring-Eckardt fürBündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Herr Außenminister, zum Realismus gehört, dasswir uns erinnern. Vor eineinhalb Jahren sind schon ein-mal mehrere Hundert Flüchtlinge im Mittelmeer, vorLampedusa, ertrunken. Ganz Europa ist damals auf diekleine Insel gepilgert. Es gab Versprechen und Schwüre,dass das nie wieder passieren dürfe.Europa ist gescheitert. Mehr als 1 000 Menschen sindin den vergangenen Tagen beim verzweifelten Versuchgestorben, bei uns in Europa Schutz zu finden, ihr Rechtauf internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen, ihrRecht darauf, um Asyl zu ersuchen. Diese Menschen ausSyrien, Eritrea, dem Irak, Afghanistan sind auch unsereToten. Wir kennen noch nicht einmal ihre Namen, undwir haben keine Kerzen für sie angezündet.Nicht das Mittelmeer ist grausam, sondern es ist dieAbschottungspolitik, die über Jahre gemacht worden ist;es ist die Entscheidung, die Seenotrettungsaktion MareNostrum zu beenden, meine Damen und Herren,
wegen 9 Millionen Euro im Monat und wegen des Kal-küls, „weniger Seenotrettung“ hieße „weniger Anreizefür Schlepper“. Ja, wir müssen gegen kriminelles Verhal-ten vorgehen; wir müssen Schlepper zur Verantwortungziehen – da sind wir uns einig –, aber vor allem müssenwir ihnen doch die Geschäftsgrundlage entziehen. Werauf sicherem, auf legalem Weg nach Europa kommenkann, der braucht keinen Schlepper.
Ich finde es erschreckend, dass jetzt wieder weniger überKorridore der sicheren Überfahrt geredet wird als übermilitärische Maßnahmen zur Abschreckung und Verfol-gung von Schleppern und sogar über ein UN-Mandat da-für.
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Katrin Göring-Eckardt
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Tausende Menschen haben mit ihrem Leben bezahlt.Das war mit Ansage, das war mit Wissen, nicht nur weilwir als Grüne und andere das hier im Haus thematisierthaben; Hilfsorganisationen haben es gesagt, Kirchen ha-ben es gesagt, die Verantwortlichen vor Ort in Südita-lien, in Griechenland, auf Malta haben es immer wiedergesagt. Das hätte Ihnen, Herr Innenminister, Ihr Ver-stand, aber auch Ihr Herz sagen können: Wer keinenAusweg mehr hat, der versucht alles, der versucht alles,was nur irgendwie möglich ist, was nur irgendwie geht.Deswegen: Ja, es sind auch unsere, es sind auch Ihre To-ten. In jeder Hinsicht sind es die Toten einer gescheiter-ten Abschottungspolitik. Das ist nicht die Suche nachSchuldigen. Das ist Realismus; das ist: die Wahrheit sa-gen. Das ist die Grundlage dafür, dass das Handeln wirk-lich verändert wird, dass wirklich etwas getan wird, umdie Flüchtlinge zu retten.
Wir brauchen die sicheren Korridore. Das ist Not-hilfe. Das ist das Erste, was wir tun müssen. Wir brau-chen die Seenotrettung. Natürlich: Wir müssen mehrFlüchtlinge aufnehmen, auch hier bei uns in Deutschland– das müssen wir ehrlicherweise sagen –, und wir müs-sen darüber reden, wie das geht.Herr Außenminister, ich stimme Ihnen zu: Es wirdnicht einfach sein, die Region zu stabilisieren. Jeder hierweiß, dass das Monate, dass das Jahre, dass das womög-lich sogar Jahrzehnte dauern wird. Aber wir können da-rauf nicht warten, so wie die Menschen nicht wartenkönnen, die hierher, in unser Europa, in eine sichereAufnahme, kommen wollen.Mir geht es nicht darum, ob die Seenotrettung „MareNostrum“ oder anders heißt. Mir geht es darum, dass esum Seenotrettung und nicht um Grenzsicherung geht,und das ist der Unterschied.
Meine Damen und Herren, wenn es in der Europäi-schen Union um Wirtschaft und Finanzen geht, spannenwir riesige Rettungsschirme auf. Wenn es um die Flücht-linge geht, dann scheitert es an 9 Millionen Euro. Wirsind eine Gemeinschaft der Menschlichkeit, des Frie-dens, der Solidarität. Wenn wir all das nicht preisgebenwollen, dann müssen wir jetzt gemeinsam als EuropaVerantwortung übernehmen; sonst verraten wir unsselbst; sonst verraten wir unsere Werte, das, weswegenwir ein einzigartiger Kontinent sind. Es ist auch morgendie Aufgabe beim Gipfel, das deutlich zu machen. Wennder Westen, wenn Europa diese Wertegemeinschaft ist,dann sind die Toten im Mittelmeer die größte Verletzungdes europäischen Wertekanons seit der Gründung. Sokönnen wir unsere Seele verlieren. Das müssen wir ver-hindern. Tun Sie jetzt etwas, das ehrlich ist, das anhältund nicht wieder nach ein paar Monaten vergessen ist,wenn die Katastrophen von den ersten Seiten der Zeitun-gen verschwunden sind.Vielen Dank.
Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Europa und jeder einzelne von uns ist schockiert von denKatastrophen auf dem Mittelmeer, die in wenigen Tagenüber 1 000 Menschenleben gefordert haben. Die Bilder,die uns erreichen, lösen Trauer und Entsetzen aus. Die-sen Schock gab es auch am 3. Oktober 2013, als beiLampedusa rund 370 Menschen starben. Damals warsich Europa einig: So etwas darf sich nicht wiederholen.Diesen Anspruch hat Europa nicht erfüllt.In meiner Rede Ende Oktober 2014 habe ich daraufhingewiesen, dass die Frontex-Mission Triton mögli-cherweise nicht unsere humanitären Ansprüche erfüllenwird und Europa nachsteuern muss. Ja, mit Triton wur-den 11 400 Menschen gerettet; aber die neue Katastro-phe zeigt auch, dass das nicht ausreicht. Wir brauchenkurzfristig eine erweiterte strategische Rettungsmission.Europa muss zeigen, dass es handlungsfähig ist und zuseinen humanitären Werten steht.Eine Rettungsmission macht aber nur Sinn, wenn siein eine breitere Strategie eingebettet ist. Wir sollten unsauch keine Illusion darüber machen: Eine Rettungsmis-sion bietet niemals absoluten Schutz. Die Mission MareNostrum konnte zwar viele Menschen retten; trotzdemstarben auch in dieser Zeit rund 3 500 Flüchtlinge aufdem Mittelmeer. Und jeder Tote – da sind wir uns einig –ist ein Toter zu viel.Die gewaltige Fläche des Mittelmeeres lässt sichnicht komplett überwachen. Eine dauerhafte Lösungwird daher nicht auf dem Wasser, sondern nur an Landzu finden sein. Der Bundesinnenminister hat recht: Wirwerden keine einfachen und auch keine schnellen Lösun-gen finden. Wir brauchen eine Vielzahl an Maßnahmen.Auch der aktuelle Zehn-Punkte-Plan der EU-Kommissionkann ein Ende der Katastrophen nicht garantieren. So-lange Menschen die Überfahrt wagen, wird immer auchein Risiko bleiben.Wir diskutieren Flüchtlingszentren in Transitstaaten.Sie könnten ein Teil der Lösung sein, auch wenn die in-stabile Lage zum Beispiel in Libyen die Einrichtung er-schwert. Doch auch in den anderen Krisenstaaten betrei-ben wir mit der UNO solche Zentren. Europa muss inden Transitländern vor den Gefahren der Überfahrt war-nen und aufklären. Zur Wahrheit gehört auch, dass nichtjede Überfahrt über das Mittelmeer, die zu einer Einreisenach Europa führt, auch einen Asylanspruch garantiert.Nur wenn wir die Menschen von der Überfahrt abhalten,wird auch das Sterben aufhören.
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Andrea Lindholz
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Ein europäisches Programm zur Neuansiedlung vonbesonders Schutzbedürftigen wäre ein weiterer Ansatz.Doch selbst wenn es jetzt europaweit noch mehr Auf-nahmebereitschaft geben sollte – was zu begrüßenwäre –, müssten wir uns darüber im Klaren sein, dasssolche Programme angesichts von weltweit über 50 Mil-lionen Flüchtlingen niemals eine substanzielle Lösungdarstellen können. Wir werden niemals alle Menschenbei uns aufnehmen können.Gerade deswegen ist auch der Kampf gegen Schleu-ser von zentraler Bedeutung. Menschenschmuggel istheute eine der lukrativsten Einnahmequellen der organi-sierten Kriminalität. In den instabilen Transitländernfehlen zuverlässige Partner für die Strafverfolgung. Da-her sind als Option auch Militäreinsätze gegen Schleuserund die Zerstörung der Schiffe zu prüfen. Letztendlichmuss der Markt ausgetrocknet werden; denn erst wennklar ist, dass sich die Überfahrt nicht lohnt, wird auchdas tödliche Milliardengeschäft mit der Verzweiflungder Menschen aufhören.
Wir müssen langfristig die Herkunfts- und Transitlän-der durch effektiveren Einsatz der europäischen Ent-wicklungshilfe stabilisieren. Die EU-Staaten zusammenleisten über die Hälfte der weltweit gezahlten Entwick-lungshilfe. Über die EU müssen wir diese Mittel ver-stärkt koordinieren und mit innen- und außenpolitischenZielen verknüpfen. Europa muss sich, seine Mittel undseine Ziele vielleicht neu überdenken. Wir leben in die-sen Zeiten eben anders und müssen schauen, wofür wirdiese Gelder verwenden.Ich finde es unerträglich, wenn Herr Gysi die Bundes-regierung für das Elend der Welt verantwortlich macht.
Auch der Vorwurf, unsere Flüchtlingspolitik sei verant-wortungslos, ist haltlos.
Deutschland setzt in der Flüchtlingspolitik in Europaund weltweit Maßstäbe.
Das bestätigt uns der UN-Flüchtlingskommissar. Jederdritte Asylbewerber in Europa wird in Deutschland re-gistriert und versorgt. Wir haben alles andere als eineAbschottungspolitik betrieben. Wir müssen den Men-schen in unserem Land, den Kommunen und den vielenehrenamtlichen Helfern für die großartige Leistung dan-ken, die sie derzeit erbringen, um den Flüchtlingsstrombei uns zu bewältigen.
Wir sind auch weiterhin gefordert, eine verantwor-tungsvolle Asylpolitik zu betreiben, eine Asylpolitik, diedarauf ausgerichtet ist, an die Solidarität in unseremLand zu appellieren und diese zu erhalten. Auch das istein Teil der Wahrheit unserer Asylpolitik. Niemand inEuropa sollte die Tragödien auf dem Mittelmeer miss-brauchen, um politisches Kapital daraus zu schlagen.
Europa hat die humanitäre Pflicht, zu helfen. Europakann solche Katastrophen dauerhaft aber nur gemeinsamund zusammen mit den Herkunftsstaaten verhindern.Und: Die Ursachen für diese Katastrophen können nur inAfrika und im Nahen Osten und nicht bei uns behobenwerden. Wir warten seit Jahren auf eine kohärente Stra-tegie der EU. Der aktuelle Zehn-Punkte-Plan der Kom-mission ist ein weiterer Schritt, genauso wie die für Maierwartete Migrationsstrategie. Europa muss konsequent,zügig und auch solidarisch handeln.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Nächste Red-
nerin in dieser Debatte: Ulla Jelpke für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat inden letzten Jahren in der Tat immer wieder große Flücht-lingstragödien im Mittelmeer gegeben. Aber war dasAnlass für eine Umkehr in der EU-Flüchtlingspolitik?Leider nein. Man erschreckt sich kurz, verspricht sehrviel, und dann geht alles weiter wie bisher. Ich finde, dasmuss jetzt endlich ein Ende haben.
Ehrlich gesagt: Flüchtlings- und Hilfsorganisationensind es leid, die ewigen Betroffenheitsfloskeln der EU-Innenminister zu hören. Auch Sie, Herr Minister deMaizière, haben es vor einer Woche noch abgelehnt,Mare Nostrum überhaupt zu akzeptieren, und haben esals Beihilfe für Schlepperunwesen diffamiert. Ist Ihneneigentlich klar, wie beschämend es ist, dass die EU imvorigen Jahr diese humanitäre Rettungsaktion eingestellthat, weil nicht genug Geld dafür da war? Die EU hat da-mit den Tod von Hunderten von Flüchtlingen in Kauf ge-nommen. Am Tod der 900 Menschen, die vor wenigenTagen ertrunken sind, tragen Sie eine Mitschuld, genauwie alle anderen Innenminister, die legale Zugangswegein die Europäische Union bisher verhindert haben.
Was tut not? Es muss ein radikaler Wechsel in derFlüchtlingspolitik her. Flüchtlinge, die in Europa Asylbeantragen wollen, brauchen gefahrlose Möglichkeitender Einreise. Doch was macht die EU? Sie rüstet sich re-gelrecht für einen Krieg. Man sollte sich – so steht es imZehn-Punkte-Programm der EU – von der Militärmis-
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Ulla Jelpke
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sion vor Somalia zu ähnlichen Operationen gegenSchleuser im Mittelmeer inspirieren lassen. In Zukunftsollen also Flüchtlingsboote schon an der afrikanischenKüste zerstört werden. Wie das gehen soll? Keine Ah-nung. Ich sage Ihnen: Das wird ein Krieg gegen Flücht-linge werden, der das Elend weiter verschlimmern wird.
Die Linke fordert stattdessen: Schicken Sie nicht Kriegs-schiffe, sondern Fähren nach Nordafrika, die asylsu-chende Flüchtlinge nach Europa bringen können. Hierkönnen sie dann Asylanträge stellen, ohne dass einMensch sterben muss.Die Schleuser werden so dargestellt, als wenn sie al-lein schuld sind an der Zahl der Flüchtlinge, die nachEuropa wollen, und den Schiffskatastrophen, ganz nachdem Motto: Haltet den Dieb! Natürlich gibt es Fluchthel-fer und Schleuser, die kriminell sind und die Flüchtlingeschwer ausbeuten. Aber die EU macht das Geschäft fürdie Schleuser doch erst möglich. Wenn man ihnen wirk-lich die Geschäftsgrundlage nehmen will, dann mussman Wege eröffnen, damit Flüchtlinge nach Europakommen können. Das bedeutet zum Beispiel, eine Visa-politik einzuführen oder andere Möglichkeiten für legaleWege nach Europa zu suchen.
Die Debatte klingt immer wieder an: Fluchtursachenmüssen bekämpft werden. – Wie werden sie denn wirk-lich bekämpft? Dazu würde es zum Beispiel gehören,eine gerechte Wirtschafts- und Handelsordnung geradeauch in Nordafrika einzuführen und damit aufzuhören,subventionierte Nahrungsmittel nach Afrika zu schickenund so die heimischen Märkte dort zu zerstören.
Das Leerfischen der afrikanischen Küstengewässerdurch EU-Fangflotten einzustellen, damit die Menschendort eine Lebensgrundlage haben, wäre ein weitererwirklicher Beitrag im Kampf gegen Fluchtursachen. Daswürde den Flüchtlingen eine Perspektive in ihren Län-dern geben können.
Begreifen Sie bitte: Die Abschottung funktioniertnicht, sie macht die Überfahrten über das Mittelmeer nurgefährlicher und treibt die Zahl der Todesopfer hoch.Deshalb fordert die Linke ganz klar – übrigens auch dieFlüchtlingsorganisationen –: Eine Rettungsoperation wieMare Nostrum muss wieder her.
Und: Flüchtlinge müssen in weitaus größerem Umfanghier aufgenommen werden. Für Menschen in Not müs-sen legale und gefahrlose Fluchtwege geschaffen wer-den, sonst wird die Tragödie in einigen Monaten hier er-neut Thema sein.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein un-endlich trauriger Anlass, der uns heute hier versammelt.Erneut und sehr erwartbar sind wieder Tausende Men-schen im Mittelmeer ertrunken. Sie haben ein besseresLeben gesucht, sie haben den Tod gefunden. Europa hatdabei nicht einmal zugesehen. Europa hat weggeschaut.Die Zahlen im Haushalt der EU sprechen eine klareSprache: Wir schützen unsere Grenzen besser als dieMenschen. Das ist nicht mein Europa. Mein Europa be-deutet: Leben.
In den vergangenen Tagen waren die Medien voll vonAppellen, an dieser Situation etwas zu verändern. Vielehaben sich gefragt, und ich habe mich das manchmalauch gefragt: An wen richten sich diese Appelle eigent-lich? Die Antwort lautet: Meist an andere. Ich fragemich: Wie steht es um unsere Verantwortung? Natürlich,wir zetteln keine Kriege an, wir sind keine Schleuser,wir nehmen unglaublich viele Flüchtlinge auf, wir mutenunserer Bevölkerung einiges zu, unser Engagement fürVerständigung in der Welt ist verbunden mit dem Namenunseres Außenministers, und es ist beispielhaft. Ja, wirübernehmen viel Verantwortung, aber so empfinde iches: Vor Lampedusa haben wir versagt.Verantwortung heißt, dass man tut, was man kann.Was das Mittelmeer angeht, kann ich nicht sehen, dasswir alles getan hätten, was wir hätten tun können, ob-wohl uns der Papst dazu aufgefordert hat, obwohl unsdas Europäische Parlament dazu aufgefordert hat, ob-wohl es eigentlich überhaupt keiner Aufforderung bedarfaußer der des Herzens und des Rechts, einfach das zutun, was die Not verlangt. Die Toten im Mittelmeer sindauch meine Toten. Ich fühle mich mitverantwortlich, undich verneige mich vor ihnen.Herr Innenminister, ich habe Sie Anfang März ange-schrieben. Ich zitiere aus dem Schreiben: Wenn dasFrühjahr kommt, werden Frontex und die italienischeMission vor Libyen nicht ausreichen, weiteres Massen-sterben zu verhindern. – Ich habe dann auch etwas überMare Nostrum geschrieben. Nun ist es so gekommen.Recht zu behalten, macht niemanden lebendig. Und esist klar: Wir wissen gar nicht, ob diese Katastrophe über-haupt hätte verhindert werden können.Natürlich ist es keine Lösung für die Flüchtlingspro-blematik, die Menschen aus dem Meer zu fischen. Alles,was gesagt wurde, ist ja richtig: Wir müssen die Schleu-
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Dr. Lars Castellucci
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ser bekämpfen, die Fluchtursachen beachten, den Men-schen andere Wege bieten, über das Meer zu kommen.Wir brauchen eine Flüchtlingspolitik in Europa, die vonHumanität und Solidarität getragen ist, weil das unserenKontinent ausmacht.
Wir können nicht auf ein Gesamtkonzept warten, son-dern müssen handeln, wenn Handeln verlangt ist. Viel-leicht ist es ein Handeln, das nicht hundertprozentigrichtig ist, aber eines, das Leben schützt; das ist unsereerste Aufgabe.
Der Respekt vor dem Leben jedes Einzelnen ist dasFundament Europas. Deswegen erwarte ich, Herr Innen-minister, dass beim morgigen Krisengipfel eine Seenot-rettung verabredet wird, die der aktuellen Lage ange-messen ist. Wie auch immer die Lösung aussieht: Siemuss der aktuellen Lage angemessen sein – nicht mehrund nicht weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein traurigerAnlass, der uns heute hier versammelt. Aber es kannauch ein Wendepunkt sein; das sind Krisen öfters. Waswir dieser Tage hören, klingt danach. Lassen wir diesenWorten nun Taten folgen!
Vielen Dank, Herr Dr. Castellucci. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Luise Amtsberg für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Innenminister, es ist etwa ein halbes Jahr her, da ha-ben Sie das Ende der Seenotrettungsoperation MareNostrum mit den Worten begleitet, dass das, was „alsNothilfe gedacht war“, sich „als Brücke nach Europa er-wiesen“ habe. Die Bundesregierung hat Italien damalsklargemacht, dass diese Brücke in die EuropäischeUnion für Schutzsuchende nicht gewünscht ist und ge-schlossen werden muss. Ja, Herr de Maizière, Mare Nos-trum war eine Brücke, eine, die vor Ertrinken gerettethat. Deswegen war Mare Nostrum ein Menschen-rechtsprojekt, das bis heute seinesgleichen sucht.
Auch in dieser Legislatur haben wir, die Opposition,die entsprechenden Themen immer wieder gemeinsamauf die Tagesordnung gehoben. Wir haben gemeinsamparlamentarische Reisen an die Grenzen und in die Kri-senregionen gemacht, haben hier und vor Ort mit Flücht-lingen gesprochen, haben Frontex angehört und Grenz-zäune gesehen. Dennoch sind wir seit Lampedusa überdas parlamentarische Bedauern nie hinausgekommen.Herr Innenminister, Sie sagen, die Debatte war lei-denschaftlich; Sie haben sie auch als ideologisch kriti-siert. Ich frage mich wirklich: Wen wundert es eigent-lich? Gerade eben haben Sie noch gesagt, Triton ersetzeMare Nostrum und könne vom finanziellen Aufwandher, aber auch logistisch mithalten. Triton patrouilliertaber nur innerhalb der 30-Meilen-Zone, mit acht Bootenund zwei Flugzeugen. Deutschland unterstützt dasGanze mit einem Rettungshubschrauber, der noch nichteinmal angekommen ist. Wir können doch nicht ernst-haft sagen, dass das gleichzusetzen ist.
Ich sage auch ganz deutlich: Es geht einfach nicht,immer wieder das Argument vorzutragen – eine ver-quere Sicht –, dass die Seenotrettung einen Anreiz dar-stellt, aber das Fehlen legaler Einreisewege nicht als Teildes Problems zu betrachten.
Die Menschen, die fliehen, die fliehen müssen, würdenbestimmt lieber auf sicherem Wege nach Europa kom-men; sie suchen es sich nicht aus, so zu kommen. Wennes legale Wege in die EU gibt, steigen Flüchtlinge nichtin seeuntaugliche Boote. Wenn sie nicht mehr in see-untaugliche Boote steigen, haben die Schlepper keineGeschäftsgrundlage mehr. Wenn Sie mir so weit folgenkönnen, dann wissen Sie eigentlich auch, was dernächste Schritt sein muss: die Schaffung legaler Zu-gangswege.
Wenn Sie das nicht überzeugt, dann sei an dieserStelle vielleicht darauf hingewiesen, dass der überwie-gende Teil der Schutzsuchenden, die zu uns kommen,aus Herkunftsländern mit einer sehr hohen Asylanerken-nungsquote stammen: 80 Prozent der Syrer, 60 Prozentder Eritreer werden als Asylberechtigte anerkannt.Schon allein deshalb sind wir zur Hilfe verpflichtet undmüssen ihnen diese Wege aufzeigen. Aber genau daswurde in dem am Montag vorgestellten Zehn-Punkte-Plan bedauerlicherweise vergessen: Kein einziges Wortüber legale Zugangswege.
Ich sage das, weil das Rad nicht neu erfunden werdenmuss. Legale Einreisewege gibt es bereits zuhauf. Mor-gen beraten wir einen Antrag der Grünen zur weiterenAufstockung des Syrien-Kontingentes. Das ist ein lega-ler Weg. Wir wollen mehr Personal in den Botschaften,damit Familienzusammenführungen verbessert werden.
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Luise Amtsberg
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Auch das ist ein legaler Weg der Zuwanderung. Außer-dem wollen wir ein höheres Resettlement-Kontingent.Auch das ist ein legaler Weg, der – das stimmt – in demZehn-Punkte-Programm erwähnt worden ist. Aber wiekann es sein, dass sich die gesamte EU auf die Auf-nahme von gerade einmal 5 000 Resettlement-Flüchtlin-gen verständigt?
Hier wäre ein Machtwort unserer Bundeskanzlerin inRichtung der anderen Mitgliedstaaten gefragt. Ich hoffe,dass das morgen in Brüssel passieren wird.Ein weiteres bedauerliches Ergebnis ist, dass Tritonmehr Geld bekommen soll. Wer glaubt, dass das der See-notrettung dient, der ist echt auf dem Holzweg; denn Tri-ton ist eine Mission von Frontex, unserer Grenzschutz-agentur. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini hatgesagt, dass es nicht primäres Ziel dieser Mission sei,Menschenleben zu retten.Was wir wollen, ist eine zivile Seenotrettung, eineMission, die ganz klar nur dieses Mandat hat.
Eine Sache vielleicht noch, weil diese Debatte natür-lich nicht ohne das Schlagwort „Fluchtursachen be-kämpfen“ auskommt. Ich finde das auch richtig. UnserAnspruch muss sein, die Situation vor Ort – da, wo esuns möglich ist – zu ändern. Wir müssen darüber bera-ten, wie wir eine Verbesserung der Situation in den Tran-sitstaaten erreichen können. Aber das sind natürlichMaßnahmen, die in weiter Ferne liegen. Deshalb sageich: Eine Debatte über Aufnahmezentren und die Exter-nalisierung der Asylverfahren stellt sich derzeit über-haupt nicht, weil die Sicherheitslage beispielsweise inLibyen das nicht zulässt.Ich möchte daran erinnern: Es gab vor kurzem eineEU-Mission, bei der es darum ging, Libyen bei der Si-cherung seiner Grenzen zu unterstützen; die Europa- undAußenpolitiker werden sie kennen: EUBAM. Sie kannderzeit aber nicht mehr operieren, weil die Sicherheits-lage vor Ort derart dramatisch ist. Mittlerweile soll sieirgendwo in Tunesien tätig sein, aber eigentlich arbeitetsie gar nicht mehr.Zu den Herkunftsländern. Wir haben im Rahmen ei-ner Kleinen Anfrage die Bundesregierung zu Eritrea be-fragt: Was heißt es eigentlich, die Lage vor Ort zu ver-bessern? Wissen Sie, was das Auswärtige Amt uns aufdiese Frage geantwortet hat? Die Bekämpfung derFluchtursachen liege primär in Eritreas Verantwortung. –So macht man keine Flüchtlingspolitik, und so wird mandie Situation vor Ort auch nicht ändern.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Erika Steinbach für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die dramatischen Flüchtlingstragödien im Mittelmeermachen jeden beklommen, der ein Herz im Leibe hat.Der Untergang von fast Tausend Menschen auf einemSeelenverkäufer ist nur ein Teil davon. Wie viele Men-schen auf dem Grunde des Mittelmeers liegen, wissenwir alle nicht. Auch viele kleine Schiffe sind untergegan-gen, von denen wir nie erfahren haben.Eines wird deutlich: Wir brauchen mehr Hilfe im Mit-telmeer. Aber – und das wurde auch schon gesagt – dasalleine reicht bei weitem nicht aus; denn das ist nur eineBekämpfung der Symptome, und keine Krankheit kannman nur durch die Bekämpfung der Symptome heilen.Wir müssen versuchen, an die Wurzeln zu gehen.
Es ist unabdingbar, die Ursachen für diese giganti-schen und atemberaubenden Flüchtlingsbewegungen zubeseitigen. Kein Land, auch Europa nicht, kann diese ge-waltigen Flüchtlingsströme alleine bewältigen; da ma-chen wir uns nichts vor. Es ist in diesem Zusammenhangauch nicht hilfreich, in erster Linie immer die Europäi-sche Union für die humanitäre Situation der Flüchtlingeverantwortlich zu machen. Wir in Europa helfen, undDeutschland hilft mehr als jedes andere europäischeLand. Verantwortlich sind vor allem die Gewalt, dasChaos und die Perspektivlosigkeit in den jeweiligen Her-kunftsländern, vor denen sich die Menschen in das sta-bile und für sie sehr verheißungsvolle Europa retten wol-len.Ein europäisches Gesamtkonzept zur Rettung, zurAufnahme und auch zu einer fairen Verteilung der hier inEuropa angelangten Flüchtlinge ist längst überfällig.
Ich bin froh, dass es jetzt Konferenzen dazu gibt. Viel-leicht denken jetzt auch andere EU-Mitgliedsländer ein-mal darüber nach, wie sie Hilfe geben können, damitnicht länger zehn EU-Länder das alleine zu schulternversuchen. Es geht alle in der Europäischen Union an. Esmuss eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf alle28 EU-Mitgliedstaaten geben.
Weil Syrien angesprochen wurde: Deutschland nimmtdie allermeisten syrischen Flüchtlinge auf, und zwar
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Erika Steinbach
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auch auf Basis legaler Kontingente. Das haben wir sehrfrüh auf den Weg gebracht.Europa steht aber auch in der Verantwortung, seinemhumanitären Selbstverständnis gerecht zu werden undseine trotz unseres Wohlstands begrenzten Ressourcenund Kapazitäten am Ende klug einzusetzen. Manches,was ich hier gehört habe, klingt nach einer völlig unge-steuerten Zuwanderung durch offene Grenzen; mancherfordert das fast. Damit wären die Europäische Union unddie Länder der Europäischen Union aber absolut über-fordert, die Akzeptanz bei unseren Bürgern würdeschwinden, und das würde Hilfe absolut unmöglich ma-chen.
Dringend erforderlich und unverzichtbar ist eine um-gehende und konsequente Bekämpfung der skrupellosenund kriminellen Schlepperbanden und Menschenhänd-ler. Wir müssen alles daransetzen, diesen Schleuserban-den, denen ein Menschenleben gar nichts bedeutet – siewollen Geld haben und sonst überhaupt nichts –, dasHandwerk zu legen, und zwar mit allen Möglichkeiten.
Der Vorschlag der EU-Kommission, aus den Erfahrun-gen mit der Pirateriebekämpfung zu lernen und systema-tisch nach Schiffen der Menschenhändler zu suchen unddiese nach Bergung der Flüchtlinge zu zerstören, ist si-cherlich eine Facette eines ganzen Tableaus.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das, was wirheute sehen, ist nur ein Vorbote dessen, was noch zu er-warten ist. Weltweit sind mehr als 50 Millionen Men-schen auf der Flucht, und ein erheblicher Teil davon vorden Toren Europas. Wenn die Staatengemeinschaft unfä-hig bleibt, Krieg und Elend einzudämmen, wird das auchEuropa destabilisieren. Das kann nicht in unserem Inte-resse sein. Den Vorschlag von Bundesentwicklungs-minister Gerd Müller, ein EU-Sofortprogramm für dieFinanzierung eines Wirtschafts- und Stabilisierungspro-gramms in den Fluchtländern ins Leben zu rufen, halteich für einen wichtigen Ansatz, um Fluchtursachen zuminimieren. Seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktionunterstützen wir ausdrücklich diesen Weg.
Wir müssen gemeinsam mit anderen dringend vor Ortdie Fluchtursachen bekämpfen. Dazu brauchen wir nichtnur eine gemeinsame europäische Strategie mit einerbesseren Verzahnung der Außen-, der Innen- und derEntwicklungspolitik in und zwischen den EU-Mitglied-staaten, sondern auch ganz elementar die Stabilisierungder Herkunfts- und Transitländer; denn dort liegen dieUrsachen für all das Elend, das die Menschen auf denWeg, auf die Flucht schickt. Das ist längst überfällig.Insbesondere die Länder der Afrikanischen Union unddie wohlhabenden Golfstaaten sind gefordert, sich deut-lich stärker als bisher zu engagieren. Sie sind gefordert,mit Engagement die Probleme ihres eigenen Kontinentsanzugehen. Wir wollen gerne dabei helfen, aber dortliegt die Wurzel des Übels, das die Menschen dazubringt, sich auf die Reise zu begeben. Wir wollen denMenschen helfen. Das heißt, wir müssen die Ursachenangehen und so unterstützend wirken.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Der tragische, der sehr traurige Anlassfür diese Debatte hat im Ton dieser Debatte Gott seiDank seinen Niederschlag gefunden. Darüber bin ichfroh. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das so kommt.Nur an einer Stelle kam es zu einer Personalisierung,die ich gerne weggeräumt hätte. In aller freundschaftli-chen und kollegialen Verbundenheit zu Ulla Jelpkemöchte ich nicht stehen lassen, dass es eine persönlicheVerantwortung des amtierenden Bundesinnenministersfür die tragischen Ereignisse, die uns hier zusammenge-führt haben, gibt. Diese Personalisierung ist nicht ange-messen.
Im Übrigen bin ich über den Zehn-Punkte-Plan froh.Aber ich sage auch ausdrücklich – die Mitverursacherwerden das vielleicht gar nicht anders sehen –: Dasreicht nicht. Wenn für uns klar ist, dass wir eine umfas-sendere Seenotrettung im Mittelmeer bis weit unter dielibysche Küste brauchen, um die Menschen vor dem Er-trinken zu bewahren, dann mutet es mich aus europäi-scher Sicht ein bisschen kleinkrämerisch an, wenn dafürnun statt 3 Millionen vielleicht 6 Millionen Euro im Mo-nat zur Verfügung gestellt werden, während wir vorherüber ein Jahr lang erwartet haben, dass Italien 9 Millio-nen Euro pro Monat für sein Engagement aufwendet. Ichdenke, hier muss deutlich mehr passieren. Das wäre auchmeine Erwartung an den Gipfel, der morgen stattfindet.Das würde ich mir sehr wünschen.
Um auch das gleich abzuräumen: Die Logik und dieArgumentation, weil die Operation Mare Nostrum soviele Menschen vor Seenot gerettet hat, hätte sie einenstarken Pull-Effekt gehabt und dazu geführt, dass sichmehr Flüchtlinge auf den Weg gemacht haben, könnennicht wahr sein. Wenn diese Betrachtungsweise richtigwäre, müsste man den Maßstab einmal umdrehen undsagen: Gäbe es keine Seenotrettung, wäre die Gefahr fürdie Menschen, ums Leben zu kommen, so groß und derAbschreckungseffekt entsprechend stark, sodass dannvielleicht keine mehr kommen. Diese Argumentation
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Rüdiger Veit
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dürfen wir uns bitte schön weder in die eine noch in dieandere Richtung zu eigen machen.
Ich warne auch davor, die ganze Betrachtung auf dasverbrecherische Schleuserunwesen zu konzentrieren.Denn ich glaube nicht, dass eine Vielzahl von Schleu-sern dazu führt, dass es viele Flüchtlinge gibt. Vielmehrglaube ich, dass es viele und immer mehr Schleuser gibt,weil es viele Flüchtlinge gibt.
Wir müssen uns auch vor der Einschätzung hüten, eskönnte heute gelingen, eine Wüste und vielleicht auchdas Mittelmeer auf eigene Faust, ohne Unterstützung,ohne Organisation und ohne Schleuser zu durchqueren.Das ist per definitionem eigentlich gar nicht denkbar. In-sofern sage ich noch einmal: Wir dürfen nicht glauben,dass wir, wenn wir das eine Problem wirksam bekämpfthaben, wir das andere Problem los sind. Der Leidens-druck der Menschen, die sich auf den Weg nach Europamachen, ist so groß, dass sie sich, egal wer sich um dieFrage des Transports und der Organisation kümmert,weiterhin auf den Weg machen werden. Die Ursachen,die wir in der Tat alle bekämpfen wollen, sind bereits be-nannt worden.Ich will jetzt mit Blick auf den Gipfel, der stattfindet,an die Bundesregierung und namentlich auch an dieBundeskanzlerin drei Bitten äußern. Ich sage wirklichohne jeden falschen Unterton: Sie wird ja aus der Sichtmancher hier im Hause zu Recht als eine der mächtigs-ten Frauen nicht nur in Europa, sondern auch in der Welteingeschätzt. Deswegen bitte ich, dass sie mit allemDruck und der Durchsetzungskraft, die ihr eigen seinkann, jetzt an dieser Stelle beharrlich ist, dass sie Fol-gendes bitte umsetzt und nicht nur mit den Kolleginnenund Kollegen darüber redet.Der erste Punkt ist eine angemessene Verteilung vonFlüchtlingen in ganz Europa.
Das heißt nicht automatisch, dass wir in Deutschlandmehr aufnehmen müssten, im Gegenteil: nach Maßgabeder letzten Zahlen sogar etwas weniger.
– Je nachdem – in der Tat –, je nach der Betrach-tung. – Aber ich weise darauf hin – ich bitte, jetzt mit einpaar Sekunden Redezeit ein bisschen großzügig zusein –: Es gibt eine kleine Schwachstelle in der Argu-mentation. Solange Deutschland in den vergangenenJahrzehnten nicht in dieser Weise betroffen war, habenalle Bundesregierungen und Innenminister, egal welcherCouleur, immer gesagt: Wir können mit Dublin eigent-lich ganz hervorragend leben. Ich sage einmal: Solangees uns nicht in diesem Maße betrifft, ist es für uns viel-leicht ein weniger großes Problem, wenn die Mittel-meeranrainerstaaten mit einer großen Anzahl vonFlüchtlingen belastet sind. Das ist auch ein Glaubwür-digkeitsproblem. Aber trotzdem müssen wir energischund intensiv in diese Richtung weiter handeln. Das wäremeine Bitte zu Punkt eins.Zu Punkt zwei: Resettlement, legale Möglichkeitenfür Flüchtlinge, zu uns zu kommen. Die Zahl ist schongenannt worden: 2013 gab es ein Resettlement-Pro-gramm in ganz Europa im Umfang von etwas über5 000 Menschen. In der gleichen Zeit kamen über400 000 Flüchtlinge nach Europa. Über 400 000! Manbetrachte einmal diese Relation. Oder – noch eine andereZahl zum Vergleich –: Im Libanon gibt es bei etwas über4 Millionen Einwohnern 1,5 Millionen Flüchtlinge.Rechnen Sie das einmal auf Deutschland um! Das wären27 Millionen Flüchtlinge in Deutschland – 27 Millio-nen! –, wobei wir noch ganz andere Voraussetzungen ha-ben.Das heißt, es ist schändlich, wenn sich Europa seinerVerantwortung hier nicht stellt und nicht zu ganz ande-ren Zahlen und Kapazitäten für die Aufnahme vonFlüchtlingen, die nun wirklich schutzbedürftig sind,kommt. Auch da würde ich Sie, Frau Bundeskanzlerin,bitten, sich nachdrücklich einzusetzen und Druck zu ma-chen, damit man nicht nur darüber redet, sondern auchzu einem Ergebnis kommt.
Dritte und letzte Bemerkung. Ich bin ein kleines biss-chen skeptisch, wenn es um Aufnahmezentren, Internie-rungslager und Beratungsmöglichkeiten im Vorfeld geht.Ich stelle klar: Alles, was hilft, zu verhindern, dass sichMenschen unter Lebensgefahr über das Mittelmeer aufden Weg machen müssen, ist eine gute Idee. Aber ob alldas funktionieren kann, weiß ich nicht.
Solche Überlegungen hat auch schon Ihr Amtsvorvor-vorgänger, Otto Schily, mit seinen europäischen Kolle-gen angestellt. Wir haben es damals nicht zu einem Er-gebnis gebracht. Ich halte das auch heute für höchstproblematisch. Auch bin ich mir über die Größenord-nung solcher Einrichtungen in Transitländern oder Her-kunftsländern überhaupt nicht im Klaren. Das gilt auchim Hinblick auf die Probleme und die Frage: Wer betreutdie Menschen da eigentlich? Aber ich bitte Sie, auf euro-päischer Ebene zu überlegen – auch das ist eine Bitte anSie –, ob nicht die unmittelbare Vergabe von Schutzvisadurch die Botschaften und Konsulate der bessere Wegwäre, um die Menschen in zuverlässiger Art und Weisezielgerichtet zu beraten und vielleicht zu ermöglichen,dass einige der ganz besonders Schutzbedürftigen auf le-galem und ungefährlichem Wege nach Europa und somitauch nach Deutschland kommen. Ich wäre Ihnen sehrdankbar und ich wäre sehr froh, wenn Sie, Frau Bundes-kanzlerin – nachdem schon Frank-Walter Steinmeier undThomas de Maizière versprochen haben, sich dafür ein-zusetzen –, uns in der nächsten Sitzungswoche über guteErgebnisse unterrichten könnten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 99. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. April 2015 9459
Rüdiger Veit
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Gutes Gelingen!
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube, in dieser Debatte ist deutlichgeworden, dass sich alle in diesem Haus im Ziel einigsind: Das Sterben im Mittelmeer muss beendet werden.Wir haben in dieser Debatte allerdings, glaube ich, ge-merkt, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungendarüber gibt, wie wir dieses Ziel erreichen. Liebe FrauGöring-Eckardt, ich finde es unangemessen, dass Siehier Schuldzuweisungen vornehmen
und versuchen, aus dieser ernsten Lage politisches Kapi-tal zu schlagen.
Ich will Kommissar Avramopoulos zitieren, der amMontag zu Recht gesagt hat: Es geht nicht um Schuldzu-weisungen, sondern es geht jetzt darum, Verantwortungfür die Zukunft zu tragen.
Darum geht es. Um diese Verantwortung ringen wir ge-meinsam.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bun-desinnenminister hat zu Recht gesagt: Wir müssen zwi-schen den Flüchtlingen differenzieren. – Wir sollten unsum eine differenzierte Debatte in diesem Land bemühen.Ich beginne mit den Syrern. Wir haben bei den Syrerneine Anerkennungsquote, die sich in Richtung 100 Pro-zent bewegt. Das heißt also, es ist anerkannt, dass dieSyrer nach unseren gesetzlichen Vorschriften in Europaden Anspruch und das Recht auf Anerkennung alsFlüchtlinge haben.
Aber es ist ihnen natürlich nicht zuzumuten, dass sie zu-nächst einmal unter Lebensgefahr nach Europa kommenmüssen, um dieses Recht überhaupt in Anspruch neh-men zu können.
Deswegen will ich das, was der Bundesinnenministerhier gesagt hat, ausdrücklich unterstützen: Wir müssenAnlaufstellen auch außerhalb Europas schaffen, um einePrüfung vornehmen zu können. Aber hier ist ein euro-päischer Konsens erforderlich; denn es muss dann natür-lich entschieden werden, wie diese Flüchtlinge in Eu-ropa verteilt werden.Ich möchte darauf hinweisen, dass es in Deutschlandschon vor zweieinhalb Jahren ein Programm zur Auf-nahme von 10 000 Syrern gab, in der Hoffnung, es mögeVorbild für andere europäische Länder sein. Diese Hoff-nung hat sich leider nicht erfüllt.
Ich glaube, das muss jetzt anders werden. Angesichts derToten im Mittelmeer muss Europa in seiner GesamtheitVerantwortung übernehmen.
Aber auch da gilt: Wir können nicht alle Syrer in Europaaufnehmen, sondern auch andere Länder sind gefordert.Ich möchte das sehr vorbildliche Verhalten der Türkeierwähnen, die Flüchtlinge sowohl dezentral als auchzentral unterbringt. Aber auch die arabische Welt ist ge-fordert, sich dieses Themas anzunehmen.Thema Afrika: Es ist heute schon richtig gesagt wor-den: Die Probleme Afrikas können nur in Afrika undnicht auf europäischem Boden gelöst werden. Deswegenist es wichtig – Gerd Müller ist zu Recht für seine Akti-vitäten in Afrika gelobt worden –, die Lebensbedingun-gen der Menschen dort zu verbessern. Aber es mussauch darum gehen, Fluchtalternativen innerhalb Afrikaszu schaffen. Das ist eine außenpolitische Aufgabe. Manmuss mit den Regierungen Afrikas verhandeln, dass sieauch bereit sind, Flüchtlingslager auf ihrem Boden zuakzeptieren. Hier kann die Europäische Union beweisen,dass sie auch außenpolitisch handlungsfähig ist. Es gehtalso darum, nicht immer nur die Einrichtung diplomati-scher Stellen zu fordern, sondern auch Erfolge vorzuwei-sen. Das wünschen wir uns sehr.Wir müssen den Kampf gegen Schleuser verstärken,und es wäre sehr gut, wenn wir uns einig wären, dass dasnicht gute Fluchthelfer, sondern Verbrecherorganisatio-nen sind, für die das Leben der Menschen nichts wert ist.Deswegen müssen sie auch mit der uns zur Verfügungstehenden Härte bekämpft werden.Meine Damen und Herren, es muss nach Afrika, andie dortige Bevölkerung, die klare Botschaft ausgesen-det werden, dass die Menschen nicht alle nach Europakommen können. Diese Botschaft darf nicht erst inNordafrika überbracht, sondern muss auch in Zentral-afrika über die Regierungen transportiert werden. DerBundesinnenminister hat zu Recht gesagt: Auch dieseLänder haben kein Interesse daran, dass ihre Eliten, dassdie kräftigsten und stärksten jungen Männer nach Eu-ropa gehen. Sie werden in ihren Ländern gebraucht. Ichglaube, dass es hier eine Zusammenarbeit mit den Regie-rungen geben kann und geben muss.Was sind unsere Erwartungen an die EuropäischeUnion und an die Mitgliedstaaten der Europäischen
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Union? Wir reden immer von Subsidiarität und meinenmit Subsidiarität, die EU-Kommission und die Institutio-nen sollen sich aus den Dingen heraushalten, die dieMitgliedstaaten allein regeln können. Aber Subsidiaritäthat auch eine Kehrseite, nämlich die Gemeinschaft istdann zum Handeln aufgefordert, wenn ein Staat überfor-dert ist. Malta, Italien, Griechenland sind überfordert,also ist es eine Aufgabe der Europäischen Union, nachdem Prinzip der Subsidiarität auch einzugreifen.
Wir haben derzeit die Situation, dass 70 Prozent allerAsylbewerber in fünf Ländern – Frankreich, Italien,Deutschland, Schweden, Ungarn – aufgenommen wer-den. Auch das kann auf Dauer nicht so bleiben, sondernhier muss gehandelt werden. Wir erwarten, dass die Eu-ropäische Kommission wie angekündigt zügig eine mitsubstanziellen Punkten gefüllte Migrationsagenda vor-legt. Sie kann nicht mehr nur im Ungefähren und Viel-leicht bleiben.
Ich halte es für dringend erforderlich, dass wir eineeuropäische Flüchtlingskonferenz einberufen und unsdas Gesamtproblem – Flüchtlingspolitik in Europa –vornehmen. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsameAsylrecht, das in Europa seit 2013 gilt, auch gemeinsamumsetzen. Dort ist vorgesehen, dass überall die Unter-bringung von Flüchtlingen mit gemeinsamen Standardsmöglich ist. Derzeit haben wir noch die Situation, dassselbst die Gerichte bei uns entscheiden: Ihr könnt inner-halb der Dublin-Regelungen niemanden in Nachbarlän-der abschieben, weil dort die Standards nicht erfülltsind. – Auch das muss anders werden. Auch hier erwarteich ein Handeln der Europäischen Union, und sie hatdazu die Möglichkeiten.Schließlich, meine sehr verehrten Damen und Herren:Die EU braucht eine Afrika-Strategie nicht nur auf demPapier, sondern eine, die auch umgesetzt wird. Natürlichist es wichtig, dass wir gemeinsam die Lebensbedingun-gen in Afrika verbessern, dass dort Brunnen gebohrt undStraßen gebaut werden. Aber ich will aufgreifen, was derBundesaußenminister gesagt hat: Das allein reicht nichtaus, um Terroristen und Verbrecher, um organisierte Kri-minalität zu bekämpfen. Da sind etwas robustere Maß-nahmen erforderlich – auch das gehört zur Realität undzur Wahrheit, über die wir in diesem Haus reden müs-sen –: nicht nur gute Maßnahmen zu ergreifen und Hil-fen über Entwicklungspolitik zu geben, sondern auch dieBereitschaft zu zeigen, einzugreifen und die Verbrecherin die Schranken zu weisen. Ich habe großen Respektvor unseren französischen Freunden und Nachbarn, diein Mali bewiesen haben, wie das geht und wie man dasmachen kann.
– Ja, dass Sie sich da aufregen, ist mir klar.Es gibt ein ganzes Bündel von notwendigen Maßnah-men, die jetzt umzusetzen sind. Es ist nicht einfach, aberes geht darum, dass wir all diese Fragestellungen Stückfür Stück abarbeiten. Das bedeutet, Verantwortung zuübernehmen und zu tragen. Dass wir das gemeinsam tun,darauf hoffe ich.Vielen Dank.
Damit haben wir das Ende dieser Aussprache erreicht.
Wir sind damit zugleich auch am Schluss unserer heu-
tigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 23. April 2015,
9 Uhr, ein
Die Sitzung ist geschlossen.