Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sieherzlich und rufe unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat uns als Thema der heutigenKabinettssitzung mitgeteilt: Jahresabrüstungsbericht2014.Für den einleitenden Bericht steht der Bundesaußen-minister Frank-Walter Steinmeier zur Verfügung. Anschlie-ßend werden Fragen dazu und gegebenenfalls sonstigeFragen an die Bundesregierung aufgerufen.Herr Minister, bitte schön.Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute hat das Bundeskabinett den 32. Jahresabrüstungs-bericht der Bundesregierung verabschiedet. Wie Sie wis-sen, fällt dieser Bericht in eine außen- und sicherheits-politisch äußerst brisante Zeit: Konflikte in der Ukraine,in Syrien und im Irak sowie der Vormarsch von Terror-gruppen wie ISIS im Mittleren Osten oder Boko Haramin Afrika. Wir sind mit einer Vielzahl von internationa-len Krisen konfrontiert, wie es in der jüngeren Vergan-genheit geradezu beispiellos ist.Was den Einsatz der OSZE im Rahmen der Ukraine-Krise angeht, wird deutlich, welch große Bedeutung derRüstungskontrollpolitik in der Tat zukommt. Es wirdaber auch klar, mit welchem Einsatz und welchen Risi-ken sie verbunden ist. Denken Sie zum Beispiel an dieGeiselnahme deutscher und internationaler Inspektorenim Frühjahr 2014 in der Region von Luhansk, die amEnde glücklich ausgegangen ist. Ich will die Gelegenheitnutzen, um allen beteiligten Soldatinnen und Soldatensowie den zivilen Helferinnen und Helfern an dieserStelle für ihren Einsatz recht herzlich zu danken.
Den Dank an die Bundeswehr will ich auf ihre Hilfe,Unterstützung und maßgebliche Rolle bei der Vernich-tung von Chemiewaffen aus Syrien ausweiten. In Kürzewerden hier in Deutschland in der Tat die letzten Restevon insgesamt 360 Tonnen Senfgas aus syrischen Che-miewaffenbeständen vernichtet sein. Gerade jetzt, wo inSyrien die neue Bedrohung der ISIS-Banden wütet, wirdvielleicht umso deutlicher, wie unendlich wichtig es ist,dass wir diese Waffen – hoffentlich noch rechtzeitig –aus der Welt geschafft haben.Auch in den Iran-Verhandlungen gibt es vorsichtigeAnzeichen für Hoffnung. Wer die Verhandlungen derletzten zehn Jahre in Erinnerung hat, der muss zugeben– das wurde auch gestern in Genf gesagt –: In den neunJahren zuvor sind wir nicht so weit gekommen wie inden letzten zwölf Monaten. – Zum ersten Mal habe ichden Eindruck, dass auch die iranische Seite wirklichernsthaft mit dem Ziel eines Abschlusses verhandelt. Essind nicht alle Hürden überwunden. Aber angesichts desbisherigen Fortschritts lohnt es sich, um auch die letztenHürden in Angriff zu nehmen. Man muss hoffen, dassMut, Kreativität, aber auch Bereitschaft aufseiten desIran, tatsächlich auf Atomwaffen zu verzichten, ausrei-chen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das sind Krisen-herde, auf die wir natürlich aktuell reagieren müssen.Aber zugleich müssen wir uns fragen: Ist es eigentlichZufall, dass so viele und so komplexe Krisen zur glei-chen Zeit stattfinden? Ich glaube, es entladen sich syste-matisch Spannungen in einer Welt, in der uns bekannteinternationale Ordnungsstrukturen an Prägekraft verlo-ren haben und die auf der einen Seite enger zusammen-wächst, in der auf der anderen Seite Gegensätze umsohäufiger aufeinanderprallen. Deutschland ist als globalvernetztes Land wie kein anderes auf den Erhalt bzw. dieStärkung einer regelbasierten Ordnung angewiesen. Des-halb bemühen wir uns um die Stärkung der internationa-len Ordnung.In diesem Zusammenhang sehe ich auch das heutigeThema Abrüstung. Ganz bewusst habe ich deshalb ges-tern den Weg nach Genf angetreten und habe dort vorder Abrüstungskonferenz geredet. Aufgrund der Abrüs-
Metadaten/Kopzeile:
8536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
tung entstehen seit Jahrzehnten Verträge, Prozesse undBausteine der internationalen Ordnung. Vor zwei Mona-ten trat der internationale Waffenhandelsvertrag ATT inKraft, ein Meilenstein für die internationale Regulierungvon Rüstungsexporten, insbesondere von Kleinwaffen.Genauso wie viele andere Fälle zeigt dieser Fall: In derAbrüstung findet seit Jahrzehnten das wichtigste Prinzipfür die internationale Ordnung umfassend Anwendung,nämlich der Multilateralismus. Die Abrüstung ist Teilder Arbeit an der internationalen Ordnung und Teil derArbeit bei der Schaffung internationaler Regeln, die wirerneuern und stärken müssen.Zum Schluss. In diesem Hohen Hause genießt die Ar-beit für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei-tung seit Jahren einen hohen Stellenwert und breite Un-terstützung von allen Seiten. Dafür bedanke ich michund setze darauf, dass dies auch im größeren Kontext derinternationalen Friedensordnung und in den wahrhaftigschwierigen Fragen, die noch auf uns zukommen wer-den, der Fall sein wird.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Ich habe bereits eine
ganze Reihe von Wortmeldungen notiert und bitte die
Geschäftsführer, zu helfen, dass wir niemanden überse-
hen. Als Erster Herr van Aken.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr
Steinmeier. – Abrüstung fängt bekanntlich zu Hause an;
sonst findet sie gar nicht statt. Ich finde erwähnenswert,
dass Sie in Ihren Ausführungen, aber auch bei den
Schwerpunkten Ihres Jahresrüstungsberichtes 2014 zum
Beispiel auf die Nuklearwaffen im Iran hinweisen, aber
nicht auf die in Deutschland.
Ich frage Sie, Herr Steinmeier: Sind die amerikani-
schen Atomwaffen mittlerweile aus Deutschland abge-
zogen, oder sind sie immer noch in Büchel stationiert?
Ich weiß, dass der ehemalige Bundesaußenminister Herr
Westerwelle dies wenigstens zum Thema gemacht hat.
Er hat zwar überhaupt nichts getan, hat es aber wenigs-
tens zum Thema gemacht. Davon finde ich bei Ihnen gar
nichts mehr wieder. Heißt das, dass sie weg sind oder
dass Sie das Thema aufgegeben haben? Sie müssen sich
hier selbst einmal an die Nase fassen. Was tut die Bun-
desregierung für die nukleare Abrüstung nicht nur im
Iran – es ist völlig richtig, was dort passiert –, sondern
auch in Deutschland?
Herr Minister.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Herzlichen Dank für die Frage. – Das Thema ist kei-
neswegs aufgegeben. Es ist nach wie vor virulent, aber
es ist ebenso schwierig wie in den letzten Jahren. Die
Bundesregierung setzt sich – das wissen Sie; die meisten
wollen es auch wissen – gegenüber den USA und Russ-
land dafür ein, dass Verhandlungen zu verifizierbarer und
vollständiger Abrüstung im substrategischen Nuklearbe-
reich tatsächlich beginnen. Erfolgreiche Abrüstungs-
gespräche schaffen die Voraussetzung dafür, dass der
Abzug der in Deutschland und Europa stationierten tak-
tischen Atomwaffen tatsächlich stattfindet. Wir selbst
sind in der Frage unverändert engagiert. Das Auswärtige
Amt hat gerade erst im letzten Jahr, im März 2014, ge-
meinsam mit der Stiftung Wissenschaft und Politik ein
internationales Seminar veranstaltet, bei dem Experten
darüber diskutiert haben, auf welche Weise und in wel-
chen Schritten nichtstrategische Nuklearwaffen unter
russischer und amerikanischer Beteiligung abgerüstet
werden können. Immerhin: Das Gute daran war, dass
sich Russen und Amerikaner an dieser Debatte beteiligt
haben.
Frau Finckh-Krämer.
Ich habe drei kurze Fragen. Die erste Frage zur Nicht-verbreitungs- und Abrüstungsinitiative, NPDI. Wird esdazu vor der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffen-sperrvertrag ein Außenministertreffen geben, und, wennja, mit welchen Themen bzw. welchem Ziel?Zweitens, Vertrag über den Offenen Himmel. Wie istder Stand bei der Beschaffung eines eigenen deutschenBeobachtungsflugzeuges?Drittens, der sogenannte P-5-Prozess, der nach derletzten Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperr-vertrag entstanden ist. Welche Bedeutung für die Über-prüfungskonferenz misst die Regierung diesem Prozessbei?Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Erstens. Was ein Außenministertreffen vor der nächs-ten Konferenz angeht, so wird noch geprüft, ob das sinn-voll ist. Es macht, glaube ich, nur Sinn, die Außenministerzusammenzubringen, wenn wir von der Expertenebenedas Signal bekommen, dass es Fortschritte auf der Ar-beitsebene gegeben hat. Um es in aller Offenheit zu sa-gen: Das ist bisher noch nicht der Fall. Insofern ist dieFrage nach dem Treffen der Außenminister noch nichtabschließend mit Nein zu beantworten; aber es muss sichbis dahin noch etwas bewegen.Zweitens. Was die Anschaffung eines eigenen Über-wachungsflugzeugs angeht, so ist dazu bisher keine ab-schließende Entscheidung innerhalb der Bundesregie-rung getroffen.Drittens. Der P-5-Prozess geht voran. Er widmet sichden Fragen, die eben in der ersten Frage von Herrn vanAken schon angesprochen worden sind, und weiterennoch offenen Fragen, insbesondere der Frage, wie wirdie Staaten, die zwar Atomwaffenstaaten, aber nicht Un-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8537
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
terzeichner des Atomwaffensperrvertrages sind, nachund nach in das Kontrollregime einbeziehen.
Frithjof Schmidt.
Danke. – Herr Außenminister, Sie haben in Ihrem
Vortrag auch die Bedeutung von Kleinwaffen angespro-
chen, gerade auch die Proliferation von Kleinwaffen.
Die Bundesregierung selbst sagt, dass gerade Staaten mit
fragiler Staatlichkeit besonders unterstützt werden soll-
ten. Welche konkreten Überlegungen gibt es, den Export
von Kleinwaffen restriktiv zu gestalten? Gibt es Fort-
schritte bei der Markierung von Kleinwaffen? Gibt es
Überlegungen, bestimmte Staaten oder Staatengruppen
zu listen und dann generell den Export von Kleinwaffen
dorthin nicht mehr zu genehmigen? Welche konkreten
Schritte zur Umsetzung der Beschränkung von Klein-
waffenexporten wollen Sie also unternehmen?
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Zunächst zu unserem multilateralen Engagement, das
durchaus über die Grenzen unseres eigenen Landes hi-
naus anerkannt wird. Deutschland hat in den wichtigsten
multilateralen Foren – dazu gehören natürlich zuvörderst
die Vereinten Nationen, aber auch die OSZE – durch in-
haltliche und finanzielle Beiträge nicht nur zur Verbesse-
rung der Kontrolle des illegalen Handels, sondern auch
– Waffen sind ja im Verkehr – zum besseren, sicheren
Umgang mit Kleinwaffen ein hohes Profil erworben. Bei-
spiel dafür ist der Einsatz beim letzten Staatentreffen zum
VN-Kleinwaffenaktionsprogramm für den vermehrten
Gebrauch neuer Technologie zur Sicherung von Klein-
waffen vor Diebstahl und unberechtigter Benutzung;
dazu gehört auch die Kennbarmachung der Herkunft von
Waffen.
Das Auswärtige Amt engagiert sich mit über 5 Millio-
nen Euro bei konkreten Projekten zur weltweiten Umset-
zung der Vorgaben des Kleinwaffenaktionsprogramms.
Die wichtigen Partner sind dabei das Abrüstungsbüro
der Vereinten Nationen, die OSZE und die NATO.
In dem Abrüstungsbericht selbst, der Ihnen vorliegt,
sind verschiedene Projekte aufgeführt, die wir bilateral
unterstützen, zum Beispiel die langfristige Förderung ei-
ner nationalen Kleinwaffenkommission an der Elfen-
beinküste, aber auch Projekte in anderen afrikanischen
Staaten, wo Kleinwaffen ein großes Problem sind.
Ansonsten darf ich darauf hinweisen, dass sich diese
Bundesregierung nicht nur einer größeren Transparenz
beim Rüstungsexport, sondern auch einer sehr nachhalti-
gen Kontrolle möglicher Empfängerländer, gerade be-
züglich des Missbrauchs von Kleinwaffen, verschrieben
hat.
Ich möchte noch einmal auf die Zeitvorgaben auf-
merksam machen. Ich weiß, dass es bei komplexen The-
men ein bisschen schwierig ist, diese einzuhalten. Aber
es gibt so viele Nachfragen, dass gegebenenfalls ergän-
zende Informationen noch bei der Beantwortung der
nächsten oder übernächsten Frage vermittelt werden
können. – Frau Vogler ist die nächste Fragestellerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich
möchte an das anknüpfen, was Sie eben gesagt haben.
Wie verträgt es sich mit dem Engagement der Bundes-
regierung gegen die weitere Verbreitung von Kleinwaf-
fen, dass kürzlich bei einem Besuch des Wirtschafts-
staatssekretärs Beckmeyer in Indien auch die Firma
Heckler & Koch Teil der Delegation gewesen ist? Wie
verträgt sich die Tatsache, dass viele Mitglieder dieses
Hauses und auch Mitglieder der Bundesregierung noch
kurz vorher beim Red Hand Day gegen den Einsatz von
Kindersoldaten eingestanden sind, damit, dass die Bun-
desregierung offensichtlich den Export von Kleinwaffen
durch die Beteiligung dieser Firma an der Wirtschafts-
delegation fördert, und zwar in ein Land, in dem nach-
weislich Minderjährige in bewaffneten Konflikten ein-
gesetzt werden? Wie verträgt sich das mit der von Ihnen
gerade postulierten Transparenz, dass genau dieser Teil
der Staatssekretärsreise vor der Öffentlichkeit geheim
gehalten wurde?
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich nehme an, dass Sie diese Frage unmittelbar an
Herrn Staatssekretär Beckmeyer richten wollen. – Wenn
das nicht der Fall ist, dann antworte ich Ihnen gerne wie
folgt: Ich begrüße es sehr, dass sich viele Abgeordnete
nicht nur an der Red-Hand-Diskussion beteiligen, son-
dern auch Gesicht zeigen und deutlich machen, dass sie
den Export und die Benutzung von Kleinwaffen in fal-
schen Händen möglichst gering halten, wenn nicht sogar
ausschließen wollen.
Was die Reise von Angehörigen der Bundesregierung
in Drittländer angeht: Bei den Reisen von Ministern und
Staatssekretären sind neben Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages Delegationen – in meinem Fall
häufig Kulturdelegationen –, selbstverständlich auch
Wirtschaftsdelegationen, dabei. Daran ist, finde ich,
überhaupt nichts auszusetzen.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Außenminister,Sie haben in Ihrem kurzen Bericht ein paarmal den Iranangesprochen. Mich interessiert, ob Sie die AuffassungIhres Kabinettskollegen Gabriel teilen, der im Hinblickauf den Blogger Badawi am Wochenende gesagt hat,dass man Herrn Badawi am besten helfen könne, indemman öffentlich nicht über den Fall spricht. – Das ist aucheine versteckte Kritik an dem unglaublich starken Enga-gement von Amnesty International und vieler internatio-naler NGOs, die den Fokus der Öffentlichkeit auf diedramatische Situation dieses Bloggers in Bezug auf die
Metadaten/Kopzeile:
8538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Britta Haßelmann
(C)
(B)
Menschenrechtsverletzungen gerichtet haben. Daher in-teressiert mich: Teilen Sie die Auffassung von HerrnGabriel, dass wir das lieber ausschweigen sollten? – Dasbetrifft allerdings Saudi-Arabien und nicht den Iran.Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Ich glaube, Sie unterstellen Herrn Gabriel etwas, waser so gar nicht zum Ausdruck bringen wollte. Wenn Siemit Ihrer Frage zum Ausdruck bringen wollen, dass esnur einen richtigen Weg gibt, um den Bedrängten und– wie in diesem Fall – den Geschlagenen zu helfen, dannwill ich Ihnen sagen: Ich habe gerade gestern Nachmit-tag in Genf ganz offen mit Amnesty International ge-sprochen. Es ging nicht nur um den von Ihnen genanntenFall, sondern auch um die unterschiedlichen Möglich-keiten und Wege, die wir nehmen müssen, um solchenMenschen in ihrer jeweiligen Situation zu helfen.Jenseits der etwas plakativen Gegenüberstellungen,was richtig ist, die öffentliche Pressekonferenz oder derVersuch, die Kontakte in diese Regionen oder diese Län-der zu nutzen,
wissen die NGOs sehr genau, dass wir sowohl sichtbarmachen müssen, welches Schicksal einzelnen Menschenin dieser Region droht, als auch andere Möglichkeitennutzen müssen, die nicht jeder zur Verfügung hat, um aufdas Schicksal derjenigen anzusprechen und möglichstBesserung zu erreichen. Ich glaube, das eine gegen dasandere auszuspielen, bringt nichts und hilft insbesondereden Menschen dort nicht.
Kollege Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich finde es sehr ange-
messen, dass wir heute noch einmal daran erinnern, dass
Deutschland einen sehr wichtigen Beitrag bei der Ver-
nichtung der syrischen Chemiewaffen geleistet hat,
umso mehr, als sich eine Fraktion mehrheitlich nicht zu
einem Ja durchringen konnte. Das zeigt im Grunde ge-
nommen, dass die Abrüstung sehr stark zur Schau ge-
stellt wird, dann aber, wenn es hart auf hart kommt, eine
Zustimmung verweigert wird.
Mich interessiert, Herr Bundesaußenminister, wie
Deutschland gerade hier eine weitere Unterstützung der
Vereinten Nationen bei dem gemeinsamen internationa-
len Anliegen betreffend Abrüstung und Rüstungskon-
trolle leisten kann. Vielleicht können Sie insbesondere
darauf noch einmal Bezug nehmen, dass wir leider vor
einigen Monaten erleben mussten, dass durch die Anne-
xion der Krim auch das Budapest-Abkommen verletzt
wurde, wodurch möglicherweise der Verbreitung der
Atomwaffen Vorschub geleistet wurde, weil damals die
Ukraine im Zusammenhang mit dem Budapest-Abkom-
men die russischen Atomwaffen nach Moskau zurückge-
geben hat. An diesen Anlass und diesen Zusammenhang
muss man immer wieder erinnern.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Vielen Dank für die Erinnerung an zurückliegendes
Abstimmungsverhalten, das manchmal merkwürdig
kontrastiert mit den Vorwürfen, die an uns oder die Bun-
desregierung gerichtet werden. – Ich erinnere daran, dass
wir seit Beginn der Regierungstätigkeit unablässig dafür
geworben haben, dass trotz der schwieriger gewordenen
Zeiten zum Beispiel ein Militärbündnis wie die NATO
das Thema Abrüstung nicht als Projekt verwirft, wohl
wissend, dass es im Augenblick nur schwer voran-
kommt. Wir haben beim letzten NATO-Gipfel im
Grunde genommen noch einmal die Formulierung auf-
rechterhalten, dass die in der NATO verbündeten Staaten
über mehr Transparenz und gegenseitige Kontrolle bei
Rüstungsverfahren miteinander ins Gespräch kommen;
dieses Angebot gilt auch für Russland.
Aus den Gründen, die eben genannt worden sind, dem
Völkerrechtsverstoß bei der Annexion der Krim, dem
Verstoß gegen das Budapester Abkommen, sind wir jetzt
in einer Situation, die auch gestern in der Genfer Abrüs-
tungskonferenz eine große Rolle gespielt hat. Das alles
hat in kurzer Zeit so viel Vertrauen zerstört, dass wir auf
vielen anderen Wegen, selbst da, wo in letzter Zeit
leichte Fortschritte erkennbar waren wie beim Umgang
mit spaltbarem Material, im Augenblick zurückfallen.
Insofern müssen wir uns bei der Entschärfung der
Ukraine-Krise möglichst auf eine politische Lösung kon-
zentrieren, um auf anderen Feldern der Rüstungspolitik,
der Rüstungskontrollpolitik und der Abrüstungspolitik
wieder voranzukommen.
Frau Brugger.
Herr Präsident, vielen Dank. – Herr Minister, ichwürde gern an eine Frage anknüpfen, die der Kollegevan Aken gestellt hat. Ich freue mich, zu hören, dass sichdie Bundesregierung dem Ziel des Abzugs der US-Atombomben aus Deutschland noch verpflichtet fühlt.Das konnte man in den letzten Monaten nicht so starkwahrnehmen. Es ist auch sicherlich gut, dass Sie Ver-handlungen zwischen den USA und Russland unterstüt-zen wollen, auch wenn sie derzeit als nicht besonderswahrscheinlich erscheinen. Trotzdem gibt es weitereFragen, die damit zusammenhängen und bei denen sichdie Bundesregierung endlich einmal positionierenmüsste; denn die USA modernisieren ihre Atomwaffen.Davon sind auch die in Büchel gelagerten betroffen.Für Deutschland stellt sich ganz konkret die Frage,wie sich die Bundesregierung zu diesen Modernisie-rungsplänen verhält. Wird es dadurch, dass diese Waffenfür Milliardenbeträge modernisiert werden, nicht un-wahrscheinlicher, dass diese Waffen abgezogen werden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8539
Agnieszka Brugger
(C)
(B)
Ich frage auch vor dem Hintergrund, dass es in den USAeine Debatte darüber gibt, dass sich die Staaten, in denendiese Waffen gelagert sind, an den Kosten beteiligen sol-len. Dazu, dass Deutschland Bundeswehrpiloten entspre-chend ausbildet und den Tornado als Trägermittel für ei-nen möglichen Abwurf dieser Waffen bereitstellt – dieseModernisierung würde viele Millionen kosten –, hülltsich die Bundesregierung aber in Schweigen. Ich glaube,es wäre wichtig, die Position der Bundesregierung dazuzu hören; auch das hat etwas mit Glaubwürdigkeit zutun.
Ich darf noch einmal alle Beteiligten bitten, gelegent-
lich auf die Lampen zu schauen, die der zeitlichen
Orientierung dienen sollen. – Herr Minister.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Abrüstungspolitik hat auch etwas mit Glaubwürdig-
keit zu tun, und ich versuche, Ihnen hier nichts vorzuma-
chen. Deshalb sage ich: Es bleibt ein langfristig anzu-
strebendes Ziel, möglichst eine nuklearwaffenfreie Welt
zu schaffen und auf dem Weg dahin den deutschen Bo-
den von Nuklearwaffen zu befreien. Aber es muss ver-
handelt werden. Niemand kann sich Abrüstungsziele
herbeiwünschen, sondern sie müssen, auch hinsichtlich
der Nuklearwaffen, politisch durchgesetzt, also in Ver-
handlungen erreicht werden. Das ist so einfach nicht
möglich.
Auch wenn Sie daraus einen Vorwurf ableiten, ist es,
glaube ich, verantwortungsvolle Außenpolitik, wenn wir
bezüglich der Ziele, die wir kurzfristig leider nicht errei-
chen können, nicht täglich mahnend an die Öffentlich-
keit treten, sondern uns auf die Bereiche konzentrieren,
in denen wir etwas bewegen können. Deshalb sage ich
noch einmal, genauso wie in meiner Antwort auf die vo-
rangegangene Frage: Wer nicht zur Kenntnis nimmt,
dass der Ukraine-Konflikt im Augenblick der Konflikt
ist, der uns an vielen anderen außen- und verteidigungs-
politischen Verabredungen mit Russland hindert, der
sieht nicht, wie bedrohlich dieser Konflikt für die wei-
tere Entwicklung ist, auch in der Abrüstungspolitik. Des-
halb müssen wir im Augenblick leider viel Zeit und
Engagement auf die Lösung dieses Konflikts verwen-
den. Ob der Abzug von substrategischen Nuklearwaffen
dadurch leichter wird, kann ich Ihnen nicht versprechen;
aber das Ziel gerät nicht dadurch aus den Augen, dass
wir uns im Augenblick auf noch drängendere Konflikte
konzentrieren müssen.
Herr Gehrcke.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Ich bin friedlich ge-
stimmt in diesen Saal gekommen. Nach der Frage des
Kollegen Mützenich möchte ich zum Ausdruck bringen,
dass ich der Meinung bin, dass wir hier verabreden soll-
ten, über den Jahresabrüstungsbericht im Plenum ge-
meinsam und seriös zu diskutieren.
Eine solche Debatte fände ich völlig richtig. Dazu gehö-
ren dann auch unser Abstimmungsverhalten und vieles
andere. Wir brauchen völlige Offenheit. Es wäre unse-
riös, sich schon jetzt intensiv zum Jahresabrüstungsbe-
richt zu äußern, den wir gerade erst erhalten haben.
Ich möchte einer Grundthese, die der Herr Außen-
minister vorgetragen hat, in Form einer Frage widerspre-
chen. Für mich gehört zur Abrüstung immer auch die
Bereitschaft zur einseitigen Abrüstung. Wenn man Pro-
zesse voranbringen will, muss man bereit sein, in be-
stimmten Bereichen einseitig voranzugehen, um andere
dazu zu bewegen, dasselbe zu tun. Herr Außenminister,
der Vorstand Ihrer Partei hat beschlossen, ein Konzept
für eine neue Entspannungs- und Ostpolitik vorzulegen.
Das Gleiche hat der Vorstand meiner Partei beschlossen.
Meinen Sie nicht auch, dass es Teil der Abrüstungspoli-
tik ist, über Entspannungs- und neue Ostpolitik gerade
jetzt zu diskutieren? Sie sagen zu Recht – damit komme
ich zum Ende meiner Frage –, dass die Ukraine vieles
blockiert, was eigentlich notwendig ist.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich bin nicht nur der Meinung, dass wir darüber dis-
kutieren müssen, sondern ich diskutiere darüber, auch
auf öffentlichen Veranstaltungen, und es gibt Papiere der
SPD dazu. Am liebsten würde ich die Frage an Sie zu-
rückgeben und Sie fragen: Glauben Sie wirklich, dass
der Aufruf nach einseitiger Abrüstung in der jetzigen
Situation, in der sieben Jahrzehnte nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs einseitig durch Russland Grenzen
verschoben werden, richtig ist? Glauben Sie, dass das
das richtige Fundament ist für einseitige Schritte seitens
der NATO, des Westens?
Insofern kann ich nur sagen: Es ist leider ein bisschen
komplizierter. Wenn es uns gelingt, den gegenwärtigen
Konflikt zu entschärfen, wäre das viel. Damit sind wir
noch lange nicht bei einer politischen Lösung. Aber um
das in den letzten zwölf Monaten verlorengegangene
Vertrauen wiederaufzubauen, werden wir möglicher-
weise Jahre brauchen. Bevor das nicht erreicht ist, be-
fürchte ich, werden die Staaten, die wir meinen, zu ein-
seitigen Schritten nur sehr schwer bereit sein.
Herr Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Außenminister,Sie hatten vorhin neben der Ukraine noch ein anderesThema erwähnt, nämlich die aktuelle Diskussion um denIran. Ich komme gerade aus Washington, wo man in denletzten Tagen sehr viel über eine Rede diskutiert hat undvor allen Dingen über die Differenzen des israelischenPremierministers und des amerikanischen Präsidentenhinsichtlich der Frage, wie der Verhandlungsstand zumIran-Deal einzuschätzen ist. Das Einzige, worüber man
Metadaten/Kopzeile:
8540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Volker Beck
(C)
(B)
sich einig ist, ist, dass ein „bad deal“ schlimmer ist alskein Deal.Jetzt ist aber natürlich die Frage – das ist ja da auchstrittig –: Welche Kriterien setzt man an, um zu sagen,dass es ein hinreichender oder guter Deal ist? Ich würdegerne die Position der Bundesregierung dazu erfragen.Denn es ist ja ein zentraler Punkt, dass man, um weitereatomare oder nukleare Aufrüstung in dieser Region zuverhindern, hier zu einem Ergebnis kommen muss. Ichwürde gerne wissen, welche Vorstellungen von Anforde-rungen an einen solchen Deal Sie haben, also etwa hin-sichtlich Break-out-Zeit für den Iran, Vertragsdauer ei-ner solchen Vereinbarung –
Herr Beck.
– oder Rückbau der jetzt vorhandenen Fähigkeiten
und nuklearen Möglichkeiten des Iran.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Herr Beck, Sie kommen gerade aus den USA. Ich
werde in wenigen Tagen auf dem Weg in die USA sein.
Dort besteht in der Tat großes Interesse, über unsere, die
deutsche Haltung zu dem gegenwärtigen Stand der Iran-
Verhandlungen zu sprechen.
Ich habe vorhin eine Tendenz angedeutet, und ich
sehe, dass es sich lohnt, die jetzt verbleibenden dreidrei-
viertel Monate, die wir noch bis zur Jahresmitte haben,
zu nutzen. Klar muss sein: Es wird darüber hinaus keine
weitere Verlängerung des Verhandlungsszenarios geben,
weder der Iran ist dazu bereit noch die Amerikaner noch
Dritte. Insofern gilt es jetzt. Was in den nächsten drei-
dreiviertel Monaten nicht gelingt, wird danach nicht
mehr gelingen. Wir werden dann in einer weiteren Re-
gion Zuspitzungen erleben. Dies würde ich gerne ver-
meiden. Deshalb beteilige ich mich auch nicht an diesen
schlagwortartigen Auseinandersetzungen, wie sie gerne
in der Öffentlichkeit geführt werden. Ein bisschen ge-
hört dazu auch die These: Ein schlechter Deal ist noch
schlechter als gar kein Deal.
Denn man muss sich ja fragen: Wer ist wirklich auf der
Suche?
Dahinter steckt ja ein Vorwurf, den ich nur ungern tra-
gen möchte, nämlich dass irgendjemand bereit wäre, ei-
nen schlechten Deal abzuschließen. Deshalb sage ich
auch in öffentlichen Reden in Israel immer: Es wird kei-
nen guten und keinen schlechten Deal geben, es wird nur
ein Verhandlungsergebnis geben, das ausschließt, dass
sich der Iran in den Besitz von Atomwaffen bringen
kann. Dafür gibt es verschiedene Kriterien, die in Bezug
zueinander stehen. Und ich plädiere tatsächlich dafür,
dass wir nicht jedes dieser Kriterien öffentlich diskutie-
ren.
Vielen Dank.
So, ich habe jetzt noch Wortmeldungen von Frau
Hänsel, Frau Keul, Frau Höger, Frau Brugger und Herrn
van Aken notiert. Damit würde ich gerne die Fragen zu
diesem Bericht abschließen, zumal es noch weitere an-
gemeldete Fragen an die Bundesregierung zu der heuti-
gen Kabinettssitzung gibt und wir uns jetzt schon dem
Ende des Zeitformats, das üblicherweise für die Regie-
rungsbefragung vorgesehen ist, nähern. Wir verlängern
sie dann entsprechend.
Für diese weiteren jetzt angemeldeten und genannten
Fragen halte ich dann aber an unserem Zeitregime für
die Fragen und für die Antworten fest: jeweils eine Mi-
nute, danach Ende.
So, Frau Hänsel.
Danke schön, Herr Präsident. – Es geht hier jetzt jaum den Jahresabrüstungsbericht. Gleichzeitig, HerrMinister, erleben wir, dass in der öffentlichen Diskus-sion massiv die Forderung nach Aufrüstung erhobenwird, vor allem nach mehr Geld für Militärausgaben. DieNATO-Mitgliedstaaten sollen 2 Prozent ihres BIP proJahr für Rüstung bzw. für Militär ausgeben. MeineFrage: Wie beurteilen Sie diese Bestrebungen derNATO? Denken Sie, dass sie in irgendeiner Form zurAbrüstung beitragen? Es geht ja auch um die Moderni-sierung von Waffen usw.Gleichzeitig erleben wir einen Aufwuchs der Präsenzvon NATO-Truppen in den Nachbarstaaten Russlandsund auch die Verbringung von Kriegsmaterial bzw. vonWaffen in diese Region. Wie wollen Sie denn angesichtsdieses Gebarens der NATO und ihrer Mitgliedstaatenverhindern, dass es zu einer neuen Aufrüstungsspirale inEuropa kommt?Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Ich muss zugeben: Bei dieser Frage ist es schwer, dieNerven zu behalten.
Als ob die Aufrüstung vom Westen ausgegangen sei! Sievergessen bei der ganzen Beschreibung der gegenwärti-gen Entwicklung – auch ich wünschte mir, sie verliefeanders –, dass dem etwas vorangegangen ist.
Die Korrektur von Grenzen hat, wie ich vorhin gesagthabe, sieben Jahrzehnte nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges stattgefunden, und zwar durch Annexion derKrim. Dem Nachbarland Russlands, der Ukraine, ist einTeil des Staatsgebietes entrissen worden. Sie beklagen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8541
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
sich aber im Wesentlichen darüber, dass es zu einer ver-stärkten Präsenz, nicht einmal einer Aufrüstung, derNATO am Ostrand des NATO-Gebietes – übrigens nichtdarüber hinaus – gekommen ist.Die NATO bewegt sich also im Rahmen des vertrag-lich Zulässigen, und zwar im Rahmen des Auftrages, densie hat und der darin besteht, ihre Mitglieder tatsächlichzu schützen.
Vielen Dank.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Insofern kann ich nur sagen: Ich kann verstehen, dass
Sie das Thema Aufrüstung gerne als Thema der NATO
adressieren möchten.
Nur: Ich befürchte, in Wahrheit ist es ein bisschen an-
dersherum.
Frau Keul.
Herr Minister, wir sind uns ja völlig einig über die
Bedeutung von Abrüstungsmaßnahmen auch als vertrau-
ensbildende Maßnahmen, gerade in der heutigen Zeit.
Aber genauso einig dürften wir uns über die Bedeutung
der Vereinten Nationen in der heutigen Zeit sein. Deswe-
gen frage ich Sie, wie es vor diesem Hintergrund dazu
passt, dass Sie im Auswärtigen Amt – das haben wir ge-
rade gehört – umstrukturiert haben. Die Abteilung „Ab-
rüstung“ ist zu einer Unterabteilung geworden und mit
der Abteilung „Vereinte Nationen“ zusammengelegt
worden. Können Sie uns versichern, dass die dadurch
freiwerdenden Mittel dem Thema Abrüstung erhalten
bleiben?
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich darf Ihnen versichern: Mit finanziellen Mitteln hat
das überhaupt nichts zu tun. Die für Abrüstung zur Ver-
fügung stehenden Mittel werden in keiner Weise einge-
schränkt. Mit Unterstützung des Hohen Hauses werde
ich auch in den kommenden Haushaltsverhandlungen
darum bemüht sein, die Mittelausstattung weiter zu ver-
bessern.
Die Zusammenfügung der beiden Kompetenzen „In-
ternationale Ordnung“ und „Abrüstung“ stellt keine Ab-
wertung beider Teile dar, sondern nach meiner festen
Überzeugung – ich freue mich darüber, dass das in den
meisten Expertenkommentaren, wie ich vernommen
habe, genauso gesehen wird – eine Verbesserung und
Aufwertung.
Dass es eine eigenständige Abrüstungsabteilung gab,
stammt im Grunde genommen aus einer Zeit, in der wir
noch in Ost-West-Kategorien gedacht haben. Inzwischen
haben wir andere Konfliktlagen. Darum habe ich in mei-
nen Eingangsbemerkungen vorhin gesagt: Abrüstung
liefert im Grunde genommen Bausteine für den Bau ei-
ner neuen und hoffentlich stärkeren internationalen Ord-
nung. Deshalb gehören diese Bereiche zusammen, auch
aufgrund der Kompetenzen, die in der Abteilung „Inter-
nationale Ordnung“ vorhanden sind. Ich finde, das war
eine richtige Entscheidung. Ich bin dankbar dafür, dass
die meisten in der Öffentlichkeit das so sehen.
Frau Höger.
Vielen Dank. – Herr Steinmeier, Sie haben auf dieFragen nach Abrüstung bisher nicht konkret geantwor-tet. Sie haben keine konkreten Ziele benannt und nichtgesagt, wo die Bundesregierung wirklich abrüsten will.Sie haben nur mit Verweis auf Russland erwähnt, dassjetzt keine Zeit für Abrüstung ist. Sie legen uns somitheute einen Abrüstungsbericht vor – wir alle haben ihnnoch nicht gelesen –, der wohl nur aus Sprechblasen be-steht. Was ist mit der Verpflichtung, pro Jahr im Umfangvon 2 Prozent des BIP aufzurüsten, die die NATO be-schlossen hat? Was ist mit den neuen Panzern, die Frauvon der Leyen beschaffen möchte? Ist das Aufrüstungoder Abrüstung? Wir fordern Abrüstung. Damit fängtman zu Hause an.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Ich finde, wenn Sie fragen und ich antworte, dannsollten Sie meine Antworten wenigstens zur Kenntnisnehmen. Wenn Sie meine Antworten zur Kenntnis ge-nommen haben, dann verstehe ich nicht, wie Sie sagenkönnen, dass ich auf Ihre Fragen bisher nicht geantwor-tet habe. Im Gegenteil!In der Vorbemerkung habe ich gesagt: Fast unerwartetund im Vergleich zu den Jahren davor überraschend istuns in einem Feld eine Abrüstungsmaßnahme in einerGrößenordnung gelungen, mit der niemand gerechnethätte, nämlich die Vernichtung von Chemiewaffen inSyrien. Das war sogar mit der Bereitschaft Syriens ver-bunden, dem internationalen Chemiewaffenabkommenbeizutreten. Gelänge uns – jetzt muss ich im Konjunktivsprechen – eine Vereinbarung mit dem Iran, wäre dasvon der Bedeutung her ein noch größerer Beitrag zurweltweiten Rüstungskontrolle und Abrüstung.Wer vor diesem Hintergrund sagt, ich würde nichtkonkret auf Ihre Fragen antworten, der, finde ich,
Metadaten/Kopzeile:
8542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
spricht nicht ganz die Wahrheit.
Frau Brugger.
Herr Präsident! Herr Minister, nochmals vielen Dank.
Leider muss auch ich behaupten, dass Sie auf meine
Frage nicht geantwortet haben. Ich habe vorhin nämlich
nicht nach der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des
Abzuges der US-Atomwaffen aus Deutschland gefragt,
sondern nach der Position der Bundesregierung zu den
US-amerikanischen Modernisierungsplänen, wodurch
diese Waffen ja leistungsfähiger gemacht werden sollen.
Ich habe gefragt, wie sich das auf die Wahrscheinlichkeit
des Abzuges auswirkt und was das finanziell für die
Bundesrepublik heißt – auch vor dem Hintergrund, dass
die SPD das in den vergangenen Jahren ebenfalls sehr
stark kritisiert und gesagt hat: Wir wollen nicht die Trä-
germittel für noch leistungsfähigere Atomwaffen moder-
nisieren. Das widerspricht auch dem Ziel, diese Waffen
abzuziehen.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Vielleicht wissen Sie hier mehr als ich. Nach allem,
was ich weiß und was mir an Informationen vorliegt, soll
es keine technischen Verbesserungen im Sinne von
Reichweitenverlängerung und optimierter Einsatzmög-
lichkeit geben, sondern einen lebensverlängernden Aus-
tausch von Materialien, die sozusagen technisch an ihr
Lebensende gekommen sind.
Insofern ist das, was Sie in Ihrer Frage unterstellen,
nämlich dass wir vor einer neuen Aufrüstungsrunde ste-
hen, schlicht und einfach nicht mit den Informationen
übereinstimmend, die ich zur Verfügung habe.
Herr van Aken.
Herr Steinmeier, um auf den letzten Punkt einzuge-
hen: Ihre Informationen sind da offenbar tatsächlich
nicht ganz korrekt. Es geht auch um eine Erweiterung
der Einsatzszenarien dieser taktischen Atomwaffen. Sie
sollten sich da noch einmal ordentlich briefen lassen.
Das wird dann tatsächlich etwas anderes sein als das,
was bis jetzt dort in Büchel steht.
Ich habe aber eine ganz andere Frage, bei der es um
Drohnen und vollautomatische bzw. vollautonome Waf-
fen geht. Das erwähnen Sie auch in den Schwerpunkten
Ihres Jahresabrüstungsberichtes.
Ich habe mit Freude vernommen, dass Sie sich für
eine internationale Ächtung der vollautonomen Waffen-
systeme einsetzen. Hier würde mich interessieren: Was
heißt das konkret? Sind Sie als Bundesregierung auch
bereit, hier einen einseitigen Schritt zu machen und die
Entwicklung, den Bau und den Einsatz vollautonomer
Waffensysteme zu verbieten?
Viel spannender finde ich aber, dass Sie im gleichen
Satz im Jahresabrüstungsbericht schreiben, dass das von
den Drohnen völlig zu trennen ist. Das kann ich über-
haupt nicht verstehen; denn Sie wissen genauso gut wie
ich, dass bewaffnete Drohnen und Kampfdrohnen
– ich bin in fünf Sekunden fertig, Herr Lammert – das
Einsatzszenario verändern und dass so natürlich neue
Kriege möglich werden.
Jetzt sind wir in der elften Sekunde.
Sie haben die Frage verstanden, Herr Steinmeier.
Ich bedanke mich.
Bitte.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Ich habe die Frage verstanden, aber ich bin nicht ganzeinverstanden mit der Unterstellung, dass es notwendi-gerweise ein und dasselbe ist, wenn wir von Drohnenund vollautonomen Waffensystemen reden. Das ist mög-licherweise die Sprachregelung in Ihrer Fraktion, aber inden internationalen Debatten, an denen ich mich betei-lige, wird hier sehr wohl ein Unterschied gemacht.Vollautomatische Waffensysteme sind Systeme, diedem Soldaten die Entscheidung darüber, ob auf denroten Knopf gedrückt wird oder nicht, abnehmen. Das istbei Drohnen nicht notwendigerweise der Fall. Drohnen– jedenfalls die, die heute im Einsatz sind – können dasnicht und sollen das nach unserer Auffassung auch nichtkönnen. Deshalb haben wir diesem Punkt schon im Ko-alitionsvertrag eine sehr herausgehobene Bedeutung zu-gemessen und dort in Bezug auf die vollautomatischenWaffensysteme sehr sorgfältig formuliert. Wir entwi-ckeln sie auch nicht. Insofern, glaube ich, besteht keinAnlass zur Sorge.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8543
(C)
(B)
Vielen Dank. – Jetzt haben sich zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung der Kollege Wunderlich
und die Kollegin Hein zu Wort gemeldet. – Herr Kollege
Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – In der heutigen Kabi-
nettssitzung ging es auch um den Fünften Zwischenbericht
der Bundesregierung zur Evaluation des Kinderförde-
rungsgesetzes. Nun wissen wir seit diesem Zwischen-
bericht – er liegt uns ja inzwischen vor –: Es fehlen
185 000 Kitaplätze. Die Qualität der Kitas wird darin
überhaupt nicht diskutiert. Uns steht möglicherweise ein
Kitastreik bevor, weil die Beschäftigten mit den Arbeits-
bedingungen unzufrieden sind: zu wenig Personal, zu
große Gruppen.
Durch alle Medien geistert ja immer wieder, dass das
Sondervermögen für den Kitaausbau um 550 Millionen
Euro aufgestockt wird. Diese Maßnahme ist ja schon
längst beschlossen, aber trotzdem fehlen Plätze. Und bis
die weiteren 30 000 Betreuungsplätze realisiert sind,
werden die Kinder der jetzigen Hortkinder selbst schon
einen Anspruch auf einen Kitaplatz haben. Ich frage
jetzt: Was plant die Bundesregierung über die bereits be-
schlossenen Maßnahmen hinaus, um dem Anspruch ins-
besondere im Hinblick auf Umfang und Qualität der
Kinderbetreuung gerecht zu werden?
Herr Minister.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Die Frage unterstellt ein wenig, dass wir bisher nicht
auf Qualität geachtet hätten.
Das ist schlicht und einfach nicht wahr. Wir haben durch
die Maßnahmen, die wir seit 2004 zur Verbesserung der
Betreuungssituation eingeleitet haben, inzwischen
300 000 Kinder mehr in der Betreuung und 65 000 Kin-
der mehr als noch 2013. Insofern geht der Aufwuchs
schneller voran, als das in den Jahren davor der Fall war.
Vergleicht man die Betreuungsquoten für die unter
Dreijährigen, so stellt man fest: Die Quote ist von
17,6 Prozent im Jahr 2008 auf 32,2 Prozent gestiegen.
Sie haben recht: Das reicht noch nicht. Eigentlich brau-
chen wir eine Betreuungsquote von 41,5 Prozent.
Aber was nicht eingetreten ist, ist, dass die Auswei-
tung der Quantität zulasten der Betreuungsqualität ge-
gangen ist. Es hat keine Absenkung des Qualifikations-
niveaus beim pädagogischen Personal gegeben,
was viele bei dem beschleunigten Aufwuchs befürchtet
haben. Es hat auch keine Verschlechterung des Personal-
schlüssels gegeben.
Die Redezeit ist sowieso abgelaufen, sodass der
Streit, ob das alles, teilweise oder gar nicht falsch ist,
müßig ist.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Wenn Sie die Antwort nicht hören wollen, hätten Sie
das vorher sagen können. Dann hätte ich verzichtet.
Frau Hein hat die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ichfrage trotzdem noch einmal nach der Qualität, und zwaranhand der Personalschlüssel. In dem Zwischenberichtheißt es, im Durchschnitt komme auf 4,1 Kinder eineLehrkraft. Wir wissen aber alle, dass die Personalstan-dards in den östlichen Ländern deutlich schlechter als inden westlichen Ländern sind. Wir alle wissen auch, dassin den westlichen Ländern deutlich mehr Plätze fehlenals in den östlichen Ländern.Ich frage Sie: Wie wollen Sie bei der derzeitigenPersonalsituation verhindern, dass sich die Personal-schlüssel am Ende doch noch verschlechtern, um denquantitativen Ausbau hinzubekommen, dass also diePersonalschlüssel eher den östlichen Standards angegli-chen werden, anstatt dass umgekehrt die östlichen Stan-dards den westlichen Standards angeglichen werden?Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Viele haben am Beginn unseres Vorhabens zum Aus-bau der Kinderbetreuung vorausgesagt, dass das notwen-digerweise zum Absinken des Qualifikationsniveausführen müsse. Viele haben vorausgesagt, dass das zu ei-ner negativen Veränderung bei den Personalschlüsselnführen würde. Beides ist nicht eingetreten. Seien Sie ver-sichert: Wir werden auch beim Ausbau der noch fehlen-den 8, 9 oder 10 Prozent darauf achten, dass das Quali-tätsniveau nicht sinkt.
Metadaten/Kopzeile:
8544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Außenminister,
ganz kurze Frage zur Kabinettssitzung: Wie erklären Sie
sich, dass das Programm zur energetischen Gebäudesa-
nierung, dessen Abgesang nun eingeleitet wurde, nicht
auf der Tagesordnung des Kabinetts stand? Der Stopp
für den geplanten Steuerbonus wird ja dazu führen, dass
wir die Klima- und Energieziele, die wir uns gesetzt ha-
ben, nicht einhalten werden.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Nicht alles, was heute nicht auf der Tagesordnung
war, ist deshalb als Ziel aufgegeben.
Das gilt auch für die energetische Gebäudesanierung. Ich
kann versichern, dass der Vizekanzler und zuständige
Minister für Wirtschaft und Energie nicht nur besorgt
sein wird, sondern sich auch darum kümmert, dass es
eine Anschlussregelung geben wird. Details dazu liegen
zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vor, aber sie
wird kommen.
In der Abteilung drei unserer Regierungsbefragung
gibt es die Möglichkeit, sonstige Fragen an die Bundes-
regierung zu richten. – Herr Kollege Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Im aktuellen Spiegel
steht, dass Sie, Herr Steinmeier, was ich außerordentlich
begrüße, sich mit der Bitte an Frau Grütters gewandt ha-
ben, die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische
Gedenkstätten in Dresden weiter zu finanzieren. Diese
Gedenkstätte hat eine Dokumentationsstelle, bei der man
sich nach sowjetischen Kriegsgefangenen erkundigen
kann und über deren Verbleib Auskunft erhält, ähnlich
wie dies früher auch beim Suchdienst des Internationa-
len Roten Kreuzes in Bad Arolsen für NS-Opfer war.
Diese Stelle wird nun aktuell nicht mehr finanziert; An-
fragen werden seit Wochen nicht mehr beantwortet.
Ich möchte wissen, ob Sie innerhalb der Bundesregie-
rung eine Lösung für die Finanzierung sehen und ob Sie
es im 70. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
für ein richtiges Zeichen halten, wenn diese Stelle ihre
Arbeit nicht fortsetzen kann. Das ist ja vielleicht auch
ein wenig Begleitmusik bei allen außenpolitischen
Schwierigkeiten, die gegenüber Russland und der
Ukraine bestehen, sodass man ein bisschen darauf ach-
ten sollte, welche Zeichen man setzt.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Vielen Dank. – Richtig ist, dass die Finanzierung bei
der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien in die-
sem Jahr ausläuft. Gleichwohl spielt das Thema im
deutsch-russischen Verhältnis im Augenblick eine wach-
sende Rolle, weil auf russischer Seite wenig Verständnis
dafür herrscht, dass im 70. Jahr nach Kriegsende die For-
schungen, jedenfalls im gegenwärtigen Format, nicht
weiter finanziert werden; sie könnten möglicherweise
über das Bundesarchiv oder andere vergleichbare Ein-
richtungen weiter finanziert werden.
Wir sind gegenwärtig bemüht, eine Lösung zu finden,
und werden dazu sicherlich auch in der nächsten Woche
noch einmal zusammenkommen. Ich selbst habe großes
Interesse, dass es eine Lösung geben wird.
– Ja, gerne.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Außenminister,
meine Frage bezieht sich auf ein außenpolitisches
Thema. Ich würde gern Ihre Einschätzung zu der Agen-
tur zur Modernisierung der Ukraine hören, an der ja die
Kollegen Steinbrück und Wellmann aus dem Deutschen
Bundestag beteiligt sein sollen und die privat von drei
Oligarchen aus der Ukraine finanziert wird, die nicht un-
bekannt sind. Dazu interessiert mich Ihre Einschätzung
als Außenminister, welche Bedeutung dies sowohl für
uns als auch für die Ukraine hat.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Wir haben vorhin über die außenpolitische Dimension
gesprochen, und ich habe gesagt, prioritär sind im Au-
genblick die Entschärfung des militärischen Konfliktes
und die Einleitung von Schritten zur politischen Lösung.
Aber wir sollten nicht vergessen: Das große Thema
der kommenden zwölf Monate wird, wenn uns die Ent-
schärfung tatsächlich gelingt, die wirtschaftliche Stabili-
sierung sein, die aus mindestens zwei Dimensionen be-
steht: erstens der Reformarbeit innerhalb der Ukraine
und zweitens der Unterstützung durch die internationale
Staatengemeinschaft, die EU, die Vereinigten Staaten,
den IWF und andere, die möglicherweise in Betracht
kommen. Für dieses Vorhaben, die Modernisierung und
Reform der eigenen Wirtschaft, braucht die Ukraine in-
ternationale Unterstützung.
Dazu, was mit diesem Gremium, das Sie eben ge-
nannt haben, im Einzelnen an Vorhaben und Ideen ver-
bunden ist, weiß ich nicht mehr als das, was auch Sie aus
der Zeitung wissen.
Wir sind damit am Ende der Regierungsbefragung.Vielen Dank, Herr Minister.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8545
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
– Habe ich eine Frage übersehen?
Herr Minister, dürfen wir die Frage des KollegenKoenigs noch aufrufen? – Bitte schön, Herr Koenigs.
Danke sehr, Herr Präsident. – Herr Minister, ist heute
über die rechtliche Grundlage des Deutschen Instituts für
Menschenrechte im Kabinett ein Beschluss gefasst wor-
den? Wenn nein, was ich befürchte: Ist dem Kabinett
klar, welche Blamage uns da droht?
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Zum zweiten Teil der Frage: ja. Zum ersten: in den
nächsten Wochen.
Eigentlich hätte diese Frage etwas eher gestellt wer-
den müssen, Herr Koenigs, nämlich im Rahmen der Fra-
gen zur heutigen Kabinettssitzung. Aber wir sind groß-
zügig, und wir haben es so oder so jetzt im Protokoll.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
Drucksache 18/4139
Wir rufen die mündlichen Fragen in der üblichen Rei-
henfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Justiz-
ministeriums. Zur Beantwortung steht der Parlamentari-
sche Staatssekretär Christian Lange zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Martina Renner auf:
Sind dem Generalbundesanwalt für das wiederaufgenom-
mene Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat inzwi-
schen alle beim Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV, und
beim Bundesnachrichtendienst, BND, vorhandenen Akten
und Quellenmeldungen zum Komplex übergeben worden?
C
Herr Präsident, liebe Kollegin Renner, ich würde
gerne, wenn Sie erlauben, wegen des Sachzusammen-
hangs die Fragen 1 und 2 gemeinsam beantworten. Ge-
statten Sie das?
– Wunderbar. Dann mache ich das gerne.
Dann rufe ich auch die Frage 2 auf:
Sind dem Generalbundesanwalt für das wiederaufgenom-
mene Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat die Iden-
titäten sämtlicher V-Personen des BfV und der Landesämter
für Verfassungsschutz und des BND im Komplex offengelegt
worden?
C
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
hat am 11. Dezember 2014 entschieden, die Ermittlun-
gen wegen des Oktoberfestattentats vom 26. September
1980 wieder aufzunehmen. Anlass hierfür sind die An-
gaben einer bislang nicht bekannten Zeugin. Bei einer
Befragung hat sie Aussagen getroffen, die auf bislang
unbekannte Mitwisser hindeuten könnten. Die Ermitt-
lungen werden sich nicht auf die Zeugin beschränken.
Der Generalbundesanwalt wird allen Ansatzpunkten er-
neut und umfassend nachgehen.
Der Generalbundesanwalt hat mit Schreiben vom
17. Februar dieses Jahres sowohl das Bundesamt für
Verfassungsschutz wie auch den Bundesnachrichten-
dienst um umfassende Mitteilung dort vorliegender Er-
kenntnisse sowie um Auflistung der dortigen Aktenbe-
stände mit Bezug zum Sprengstoffanschlag auf dem
Oktoberfest in München am 26. September 1980 gebe-
ten. Eine Entscheidung über eine Anforderung konkreter
Aktenteile wird auf Grundlage der entsprechenden Ant-
worten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des
Bundesnachrichtendienstes getroffen werden.
Inwieweit die Ermittlungen im Einzelnen die Offenle-
gung der Identität von V-Personen erfordern, wird der
Generalbundesanwalt zu gegebener Zeit prüfen. Grund-
lage hierfür werden insbesondere die Antworten auf die
oben genannten Erkenntnisanfragen sein, die der Gene-
ralbundesanwalt zeitgleich neben dem Bundesamt für
Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst
auch an alle Landesämter für Verfassungsschutz gerich-
tet hat.
Bitte schön, Ihre Zusatzfragen.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, so er-freulich es ist, dass die Generalbundesanwaltschaft dieWiederaufnahme beschlossen hat und, was längst über-fällig war, endlich wenigstens als Option von der Einzel-täterthese abweichen will, so schwierig finde ich IhreAntwort insofern, als ich in einer Kleinen Anfrage zuden im BfV und BND vorliegenden Akten gefragt habe.Dort gibt es sowohl Bestände zur WehrsportgruppeHoffmann als auch zum Oktoberfestattentat selbst, undes wird auch auf Quellenmeldungen zum Oktoberfestat-tentat hingewiesen. Sie werden allerdings in der Antwortauf die Kleine Anfrage nicht weiter präzisiert. Ich denke,das sind wichtige Beweismittel, die beim Bundesamtnicht nur angefragt werden sollten, sondern dringendbeigezogen werden müssen, damit sich der Generalbun-desanwalt weitere Tatbeteiligte – auch in der Tatvorbe-reitung – und einen möglichen auch organisatorischenneonazistischen Hintergrund dieser Terrortat deutlichererschließen kann. Warum ist da noch nicht mehr passiert,obwohl eigentlich klar ist, was im BfV und im BND zuder Sache vorliegt?
Metadaten/Kopzeile:
8546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
C
Frau Kollegin, der Generalbundesanwalt hat sich erst
vor zwei Wochen, am 17. Februar dieses Jahres, mit der
Bitte um umfassende Auskunft an den Bundesnachrich-
tendienst und an den Verfassungsschutz gewandt. Die
Antworten liegen noch nicht vor. Ich bitte, diese abzu-
warten. Danach kann ich Ihnen gerne Bericht erstatten.
Weitere Zusatzfrage.
Ich habe tatsächlich noch zwei weitere Zusatzfra-
gen. – Wir haben das Thema auch schon im Justizaus-
schuss besprochen. Auch dort wurde die Frage der
Quellenmeldungen bzw. Akten im BfV, BND oder mög-
licherweise MAD schon erörtert. Mir erscheint es relativ
spät, dass man sich erst jetzt schriftlich an die entspre-
chenden Sicherheitsbehörden gewandt hat. Warum ist da
so viel Zeit verflossen? Diese Frage stellt sich ja nicht
nur aus der Materie selbst, sondern auch aus dem Zu-
sammenhang heraus, dass wir heute, nach der Terrorse-
rie des NSU, einen anderen Blick auf die Aktenführung
in den entsprechenden Behörden haben.
Meine zweite Frage wäre: Inwieweit erwägt der
GBA, ähnlich wie es das BKA im Kontext einer soge-
nannten NSU/NSDAP-CD getan hat – das BKA ist
selbst ins BfV nach Köln gegangen und hat in den dort
hinterlegten Materialien, also CDs oder Schriften, auch
Quellenberichten, zu möglichen neuen Beweismitteln
recherchiert –, zum Beispiel auch im BfV selbst nach
möglichen weiteren Beweismitteln im Zusammenhang
mit dem Oktoberfestattentat zu suchen?
C
Frau Kollegin, Sie wissen, dass der Generalbundesan-
walt allen anderen neuen Hinweisen nachgehen wird.
Das hat er sowohl in den von Ihnen genannten Aus-
schusssitzungen als auch öffentlich erklärt. Dem hat
mein Haus nichts hinzuzufügen. Was die einzelnen Er-
mittlungsschritte anbelangt, nach denen Sie mehr oder
weniger gefragt haben, so wissen Sie, dass die Bundes-
regierung zu einzelnen Schritten eines noch nicht ab-
geschlossenen Ermittlungsverfahrens nicht Stellung
nimmt.
Sie hatten noch eine weitere Frage? – Nicht. Dann ist
Frau Keul jetzt an der Reihe.
Vielen Dank. – Zu dem Komplex des Oktoberfest-
attentats habe ich die Nachfrage, ob das Bundesjustizmi-
nisterium der Auffassung ist, dass der Verfassungsschutz
dann, wenn V-Leute konkret unter Mordverdacht stehen,
Auskunft über diese V-Leute an die Ermittlungsbehör-
den weitergeben muss.
C
Sie wissen, Frau Kollegin, dass die Bundesregierung
zu spekulativen Fragen nicht Stellung nimmt.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, ich hatte schon einmal mehrere
schriftliche Fragen zu diesem Komplex gestellt. Die ha-
ben Sie nur zu einem ganz geringen Teil beantwortet;
insbesondere haben Sie nicht die Frage beantwortet, ob
der Rechtsextremist, der in Niedersachsen ein bzw. meh-
rere größere Waffenlager seinerzeit unterhalten hat, der
dann festgenommen wurde und im Gefängnis unter mys-
teriösen Umständen umgekommen ist, Mitarbeiter einer
Verfassungsschutzbehörde gewesen ist. Können Sie der
Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag sagen,
warum dieses Faktum, das Sie mir nicht benannt haben
– Sie haben die Frage nicht beantwortet, ob er das war –,
nach so vielen Jahrzehnten immer noch eine geheimhal-
tungsbedürftige Information sein soll?
C
Herr Kollege, auch hier kann ich nur wiederholen,
dass wir uns zu den Verfahren, die der Generalbundesan-
walt durchführt, erst nach abgeschlossenen Ermittlungen
äußern. Zu einzelnen Verfahrensschritten äußern wir uns
ebenfalls nicht. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass
ich Ihre Frage insofern nicht beantworten kann.
Frau Pau.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Es kann sein,dass Sie jetzt Amtshilfe des Kollegen Krings brauchen.Ich mache Sie nur darauf aufmerksam.Haben Sie Kenntnis davon, ob beim BND oder auchim Bundesamt für Verfassungsschutz, nachdem die Wie-deraufnahme der Ermittlungen angeordnet wurde, ent-sprechende Arbeitsgruppen oder Organisationen gebil-det wurden, die sämtliches Material, welches infragekommt, noch einmal daraufhin sichten, ob gegebenen-falls Beweismittel, die sie benötigen, die aber noch un-ausgewertet sind oder irgendwo gelagert werden – wirhaben im Fall „Corelli“ Parallelen –, in diesen Ämternzur Verfügung stehen und jetzt in dieses laufende Ermitt-lungsverfahren eingeführt werden können?Meine zweite Frage in diesem Zusammenhang: Istman in Kontakt mit den gegebenenfalls noch lebendenV-Mann-Führern aus der damaligen Zeit? Befragt mangegebenenfalls auch diese? Auch hier haben wir eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8547
Petra Pau
(C)
(B)
NSU-Parallele; denn offensichtlich sind Führer von ge-wichtigen V-Leuten im NSU-Komplex erst in den Jahren2014 und 2015 nach neuen Aspekten befragt worden.C
Liebe Frau Kollegin Pau, Sie fragen immer wieder
nach einzelnen Ermittlungsschritten des Generalbundes-
anwaltes, zu denen wir nicht Stellung nehmen können.
Was die Frage nach der Amtshilfe des Bundesinnen-
ministers anbelangt, hat mir der Kollege gerade zugeru-
fen, dass er dazu, jedenfalls spontan, nicht Stellung neh-
men kann.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, für mich er-
schließt sich nicht, warum Sie die Frage meiner Kollegin
nicht beantworten. Frau Keul hat eine ganz konkrete
Frage gestellt, und zwar nach der Auffassung des Bun-
desjustizministeriums und nicht nach irgendwelchen
Spekulationen. Sie hat ganz klar nach einem Sachverhalt
und der Bewertung des Justizministeriums gefragt. Ich
möchte Sie bitten, jetzt dazu etwas zu sagen.
C
Frau Kollegin, ich habe Ihrer Kollegin Keul korrekt
geantwortet, dass auf eine Wenn-dann-Frage,
die sich im Augenblick nicht stellt und die im Übrigen
auf Ermittlungen Bezug nimmt, das Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz nicht Stellung
nimmt.
Herr Kollege Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Auch ich muss da
nachhaken. Meine Kollegin Pau hat überhaupt nicht
nach Ermittlungsschritten des Generalbundesanwalts ge-
fragt. Sie hat nach „Kenntnis der Bundesregierung“ ge-
fragt: ob der Bundesregierung bekannt ist, dass beim
Bundesnachrichtendienst oder beim Verfassungsschutz
Arbeitsgruppen gebildet worden sind, die diese Akten
sichten und zusammenstellen etc. pp., wie es in ähnlich
gelagerten Fällen auch schon der Fall war. Da gab es
keine Ermittlungen vom Generalbundesanwalt, sondern
die Kenntnis der Bundesregierung zu den mutmaßlich
gebildeten Arbeitsgruppen in den Behörden.
C
Darauf habe ich Ihnen geantwortet, dass mir der Kol-
lege aus dem Bundesinnenministerium, der hier sitzt, zu-
gerufen hat, dass er dazu nicht Stellung nehmen kann.
Ich sehe hierzu jetzt keine weiteren Nachfragewün-
sche.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwor-
tung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Anette Kramme zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Klaus Ernst auf:
Würde sich die Bundesregierung der Meinung der Ge-
werkschaft Verdi anschließen, dass die Praxis der Deutschen
Post AG, befristeten Beschäftigten, deren Arbeitsverträge zum
31. März 2015 auslaufen, eine schlechter bezahlte unbefristete
Anstellung in der neu gegründeten Tochtergesellschaft Deli-
very anzubieten und damit den gültigen Tarifvertrag zwischen
Deutscher Post AG und Verdi zu umgehen, einen Fall von Ta-
Ich bitte die Staatssekretärin Kramme, die Frage zu
beantworten.
A
Gerne, Herr Präsident. – Herr Ernst, mir fällt es im-
mer schwer, Fragen zu beantworten, die im Konjunktiv
gestellt sind. Aber ich versuche einmal, Ihre Frage zu
übersetzen. Ich vermute, Sie fragen, ob sich die Bundes-
regierung einer Kommentierung der Gewerkschaft Verdi
zu tariflichen Vorgängen bei der Post AG anschließt.
Die Vorgänge und ihre Beurteilungen liegen in der
Verantwortung der Tarifvertragsparteien. Mit Rücksicht
auf die grundgesetzlich gewährte Tarifautonomie kom-
mentiert die Bundesregierung grundsätzlich keine Ta-
rifauseinandersetzungen.
Bitte schön, Herr Ernst.
Dann muss ich einfach die Feststellung treffen, dassdie Post zum Teil im Eigentum des Bundes ist. Kann ichdavon ausgehen, dass es der Bundesregierung egal ist,dass die Post, die zum Teil im Eigentum des Bundes ist,einen großen Teil ihrer Beschäftigten ausgliedert,schlechter bezahlt? Wie ist das in Einklang zu bringenmit der Aussage der Bundesregierung, die Tarifautono-mie zu stärken? Ist das nicht ein eklatanter Punkt, andem die Tarifautonomie unterlaufen wird und an dem dieBundesregierung offensichtlich zusieht, wie das pas-siert?
Metadaten/Kopzeile:
8548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
A
Herr Ernst, Sie wiederholen nur Ihre Frage. Ich kann
an dieser Stelle wieder nur antworten, dass die Bundes-
regierung Tarifauseinandersetzungen nicht kommentiert.
Im Übrigen nehmen Sie die Frage 4 vorweg. Aber ich
kann Frage 4 mit Einverständnis des Präsidenten gerne
jetzt schon beantworten.
Von mir aus gerne. Herr Ernst hat dann entsprechend
viele Zusatzfragen.
Ich rufe also die Frage 4 des Abgeordneten Klaus
Ernst auf:
Welche Schritte plant die Bundesregierung angesichts des
Vorhabens der Deutschen Post AG, bestehende Mitbestim-
mungsrechte und Tariflöhne durch die Tochtergesellschaft
Delivery zu umgehen, um „mit einer klugen Arbeitsmarkt-
politik die Weichen für … eine starke Sozialpartnerschaft von
Arbeitgebern und Gewerkschaften“ zu stellen, wie im Koali-
tionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD angekündigt?
Bitte schön, Frau Kramme.
A
Auch an dieser Stelle kann ich nur antworten, dass die
Bundesregierung nicht in Tarifauseinandersetzungen
eingreift, im Übrigen ihre Arbeitsmarktpolitik fortsetzt,
die wir durchaus erfolgreich mit dem Tarifpaket gestartet
haben.
Herr Ernst.
Ich möchte Sie einfach darauf hinweisen, dass es sich
hier nicht um die Kommentierung einer Tarifauseinan-
dersetzung handelt, sondern um die Rolle der Bundesre-
gierung als Miteigentümer der Deutschen Post. Sehe ich
es richtig, dass Sie sich weigern, Ihrer Funktion als Ar-
beitgeber bei der Deutschen Post in der Weise gerecht zu
werden, dass Sie dem Deutschen Bundestag Rechen-
schaft darüber ablegen, welche Politik die Bundesregie-
rung bei der Post eigentlich betreibt?
A
Herr Ernst, Sie bezeichnen das Ganze unter Bezug-
nahme auf Verdi als „Tarifflucht“ und als Verstoß gegen
einen Tarifvertrag. Insoweit sind dann allerdings tatsäch-
lich die Tarifvertragsparteien zuständig, können gegebe-
nenfalls Klagen einreichen etc. Wir befinden uns also
tatsächlich in der Situation einer Tarifauseinanderset-
zung. Diese kommentiert die Bundesregierung nicht.
Weitere Frage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie sollen ja auch nicht die Ta-
rifauseinandersetzung kommentieren, sondern das Ver-
halten der Bundesregierung gegenüber einem Unterneh-
men, das sich im Eigentum des Bundes befindet und in
dem es Aufsichtsratsmitglieder gibt, die von der Bundes-
regierung maßgeblich beeinflusst werden. Ich nehme zur
Kenntnis, dass Sie nicht bereit sind, dieses Verhalten des
Arbeitgebers – nicht das Verhalten der Tarifparteien,
sondern ein Verhalten, für das Sie als Bundesregierung
Mitverantwortung haben – vor dem Deutschen Bundes-
tag zu diskutieren. Oder liege ich da jetzt falsch?
A
Herr Ernst, Sie treffen eine eigene Bewertung. Das
steht Ihnen an dieser Stelle natürlich frei. Es handelt sich
im Übrigen nach Auffassung der Bundesregierung um
die laufenden Geschäfte eines Unternehmens.
Ich glaube, dass Sie bereits vier Zusatzfragen gestellt
haben, Herr Ernst.
– Ja, das ist so.
Weitere Wortmeldungen dazu sehe ich nicht.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die
Fragen 5 und 6 des Kollegen Ebner werden schriftlich
beantwortet.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur. Zur Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Ferlemann zur Verfügung.
Die Frage 7 des Kollegen Hunko wird schriftlich be-
antwortet.
Dann rufe ich die Frage 8 des Kollegen Krischer auf:
Aus welchem Grund werden vom Bundesministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur gleich drei verkehrspoliti-
sche Modellversuche – Ladesäulen für Elektroautos, selbst-
fahrende Autos, Warnhinweise für Geisterfahrer – an der
Bundesautobahn 9 durchgeführt, und welche konkreten Be-
dingungen weist diese Autobahn im Unterschied zu anderen
Autobahnen in Deutschland auf, die die Durchführung von
diesen Modellversuchen hier sinnvoll erscheinen lassen –
bitte für jeden der drei genannten Modellversuche einzeln er-
läutern?
Herr Ferlemann, bitte schön.
E
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich gebe folgende Antwort auf dieFrage:Im Straßenverkehr nimmt die digitale Kommunika-tion einen zunehmend größeren Stellenwert ein. Durch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8549
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
(C)
(B)
den Einzug neuer Technologien und Kommunikations-systeme in moderne Fahrzeuge findet eine Vernetzungstatt, die neue Möglichkeiten eröffnet und Mobilität imIndividualverkehr verändert. Um die sich daraus erge-benden Herausforderungen strukturiert und zielgerichtetanalysieren zu können, wird ein digitales Testfeld Auto-bahn eingerichtet, auf dem die Wirkungen von Innova-tionen einzeln, aber auch im Zusammenspiel bewertetwerden können. Unter anderem sollen hier automati-sierte Fahrfunktionen erprobt werden. Das ist nicht dasautonome Fahren; das fahrerlose Fahren ist nicht Gegen-stand dieser Erprobung.Das Testfeld soll auf der BAB 9 zwischen Münchenund Nürnberg eingerichtet werden. Bei der BAB 9 han-delt es sich um eine hochbelastete Autobahn, die zweiMetropolregionen miteinander verbindet. Sie ist aufzahlreichen Abschnitten mit moderner Verkehrsbeein-flussung ausgestattet, die von einer leistungsfähigen Ver-kehrsrechnerzentrale aus gesteuert wird.Das Projekt „Schnellladen auf der A 9“ wird im Rah-men des Schaufensters Bayern-Sachsen ELEKTRO-MOBILITÄT VERBINDET umgesetzt. Es war nichtGegenstand einer individuellen Vorauswahl durch dasBundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruk-tur, sondern Teil eines umfassenden Gesamtpakets derBewerbung der Bundesländer Bayern und Sachsen imRahmen des Wettbewerbs zum Schaufensterprogrammdes Bundes 2012. Vergleichbare Projekte bzw. Maßnah-men gibt es auch in anderen Regionen bzw. an anderenBundesautobahnen.
Herr Krischer.
Herr Staatssekretär Ferlemann, herzlichen Dank für
diese Ausführungen. – Ich habe nach drei konkreten Pro-
jekten gefragt – das basiert auf Pressemitteilungen Ihres
Hauses –: selbstfahrende Autos, Ladesäulen/Elektromo-
bilität und Warnanlagen für Geisterfahrer. Alle wurden
von Ihnen in Verbindung mit der A 9 kommuniziert.
Sie haben jetzt dargelegt: Dieser Autobahnabschnitt
hat besondere Belastungen, weist eine besondere Tech-
nik auf. – Ich würde sagen: Wir haben in Deutschland
wahrscheinlich Dutzende Autobahnabschnitte, auf die
ähnliche Kriterien zutreffen. Warum konzentrieren Sie
das an einer Stelle? Wieso werden mehrere Dinge, die
nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen – mir
kann niemand erläutern, was Elektromobilität mit Geis-
terfahrern zu tun haben soll, außer dass beides auf Autos
bezogen ist –, auf diesem Streckenabschnitt gemacht,
und warum werden die Versuche nicht an anderen Stre-
ckenabschnitten gemacht?
E
Wir können die Versuche – da haben Sie recht – auch
auf anderen Streckenabschnitten machen. Es gibt auf an-
deren Strecken andere Versuche zur Elektromobilität.
Hier ist es so, dass wir elektronisch versuchen wollen,
Geisterfahrer vom Falschfahren abzuhalten. Weil wir die
technologische Ausstattung an dieser Strecke haben und
das sehr gut darstellen können, wollen wir es an dieser
Strecke ausprobieren. Das schließt aber nicht aus, dass
wir Modellprojekte auch noch an anderen Autobahnstre-
cken machen, wo gegebenenfalls ähnliche technologi-
sche Voraussetzungen bestehen. Nur: Hier ist es beson-
ders gut für diese Modellprojekte.
Bitte.
Noch eine weitere Nachfrage: Wäre das Ministerium
in der Lage, uns eine Auflistung zu geben, welche weite-
ren Modellprojekte an anderen deutschen Autobahnen
stattfinden, damit wir anhand einer Gesamtübersicht se-
hen können, welche Modellprojekte in welchen anderen
Regionen bzw. an welchen anderen Autobahnen es gibt?
E
Das Auskunftsrecht des Parlaments ist unendlich. Der
Aufgabe wollen wir uns gerne stellen. Es handelt sich al-
lerdings um eine sehr große Arbeit. Ich gebe ein Bei-
spiel: An der A 2 testen wir, ob wir mit Telematik nicht
deutlich geringere Unfallzahlen erreichen und die Ver-
kehrsmenge deutlich stärker beeinflussen können. Das
geschieht in diesem Streckenzug über ein ganzes Bun-
desland – in diesem Fall das schöne Niedersachsen –
hinweg.
Es gibt viele Projekte, die wir auf den Autobahnen
durchführen. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen alle mögli-
chen Modellprojekte aufzuzeigen. Das ist allerdings, wie
schon gesagt, eine erhebliche Arbeit.
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Stephan Kühn wer-den ebenso wie die Fragen 11 und 12 des AbgeordnetenMatthias Gastel schriftlich beantwortet.Dann kommen wir zu den Fragen 13 und 14 des Kol-legen Herbert Behrens. – Er ist nicht anwesend. Es wirdverfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.Die Fragen 15 und 16 des Kollegen Dr. André Hahnwerden schriftlich beantwortet.Wir sind dann mit diesem Geschäftsbereich fertig.Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit.Die Fragen 17 und 18 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 19der Kollegin Katrin Kunert.Ich rufe nun die Frage 20 der Kollegin Höhn auf:Hält die Bundesregierung weiterhin am Ziel fest, wonachsie eine „Halbierung der CO2-Emissionen der Bundesregie-rung einschließlich Geschäftsbereich bis 2020 gegenüber
Metadaten/Kopzeile:
8550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
wurde bis zum Jahr 2014 bereits erreicht?Herr Staatssekretär Pronold, bitte.Fl
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte
Frau Höhn, das Ziel der „Halbierung der CO2-Emissio-
nen der Bundesregierung einschließlich Geschäftsbe-
reich bis 2020 gegenüber 1990“ wurde im Maßnahmen-
programm „Nachhaltigkeit“ der Bundesregierung am
6. Dezember 2010 beschlossen. Dies knüpft an die
Selbstverpflichtungserklärung der Bundesregierung vom
18. Oktober 2000 an.
Zahlen zu Emissionen von Treibhausgasen für 2014
liegen bislang generell nicht vor, daher auch nicht für
den Bereich der Bundesregierung. Laut „Energie- und
CO2-Bericht Bundesliegenschaften“ des damaligen Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
aus dem Jahr 2012 wird für die Dienstliegenschaften des
Bundes, also die unmittelbare Bundesverwaltung, eine
Senkung der CO2-Emissionen um 66 Prozent gegenüber
1990 ausgewiesen. Der Bericht soll in diesem Jahr durch
unser Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit als energetischer Sanierungsfahr-
plan Bundesliegenschaften vorgelegt werden. Für 2014
wird ein weiterer Rückgang der CO2-Emissionen in un-
seren Liegenschaften erwartet.
Frau Höhn.
Danke, Herr Präsident. – Hier geht es um eine Vor-
bildfunktion. In diesem Sinne möchte ich gerne auf ei-
nen Artikel hinweisen, der gestern in der taz stand. Die
Überschrift dieses Artikels lautet: „Schlupflöcher beim
Klimaschutz“. In dem Artikel geht es um einen internen
E-Mail-Verkehr bezüglich der Umweltministerkonfe-
renz, die jetzt auf EU-Ebene stattfinden wird. Offen-
sichtlich ist es so, dass das Wirtschafts- und das Finanz-
ministerium Schlupflöcher eruiert haben. Mit allen
diesen Schlupflöchern würde der Bedarf nach Emissi-
onsreduzierungen bei Verkehr, Landwirtschaft und
Haushalten – so wird aus diesen internen Mails zitiert –
„sich um etwa 47 bis 103 Prozent verringern“.
Ist dem Ministerium dieser interne E-Mail-Verkehr
des Finanz- und Wirtschaftsministeriums bekannt – ja
oder nein?
Fl
Mir ist er zumindest nicht bekannt. Auch in der Vor-
bereitung auf die Beantwortung dieser Frage ist er mir
nicht bekannt geworden. Den Hinweis auf den Pressebe-
richt nehme ich zur Kenntnis. Ich kann Ihnen aber versi-
chern, dass in unserem Hause geplant ist, den Gebäude-
bestand weiterhin energetisch zu optimieren. Hierfür
haben wir Nachhaltigkeitskriterien, die wir sehr ernst
nehmen. Wir wollen ohne Rechentricks eine bessere
CO2-Einsparung im Gebäudebestand erreichen.
Frau Höhn, bitte.
Können Sie denn einfach einmal ganz konkret sagen,
wie viele und welche Ministerien inklusive Kanzleramt
Ökostrom beziehen?
Fl
Ich kann Ihnen nur anbieten, die Antwort auf diese
Frage nachzureichen. Dies gehört meines Wissens nach
zu den Aufträgen, die im Rahmen des energetischen Sa-
nierungsplanes bearbeitet werden. Wir werden entspre-
chende Ergebnisse noch dieses Jahr vorlegen. Wenn es
möglich ist, werde ich das eruieren und Ihnen die Ant-
wort umgehend zukommen lassen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwor-
tung steht der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Ab wann wird nach Informationen der Bundesregierung
der Leseraum zur Einsicht in vertrauliche TTIP-Dokumente
– TTIP: Transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen
der Europäischen Union und den USA – in der Berliner US-
Botschaft eingerichtet sein, und plant die Bundesregierung, an
die US-amerikanische Botschaft auch die Namen nationaler
Parlamentarier als Zugangsberechtigte zu übermitteln, wie
dies die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Transpa-
renzinitiative vorgeschlagen hat?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
U
Frau Höhn, Sie stellen eine Frage zum Thema TTIPund zur Einrichtung von Leseräumen in der US-Bot-schaft. Die Antwort der Bundesregierung lautet wiefolgt: Wie andere Mitgliedstaaten hat auch die Bundes-regierung dem US-Handelsbeauftragten eine Liste vonRegierungsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern übermit-telt, die Zugang zum Leseraum erhalten sollen, unddabei auch gefordert, Abgeordneten des DeutschenBundestages Zugang zu den konsolidierten TTIP-Ver-handlungstexten zu ermöglichen. Bislang liegt allerdingskeine Rückmeldung der US-Seite vor.Auf Wunsch des Deutschen Bundestages ist die Bun-desregierung auch bereit, Namen nationaler Parlamenta-rier an die USA zu melden. Allerdings ist derzeit offen,ob von der US-Seite nationalen Parlamentariern der Zu-gang zu Leseräumen gewährt wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8551
(C)
(B)
Herr Präsident, darf ich noch eine Nachfrage stellen?
Ja, klar.
Okay, danke. – Heute Abend findet eine Veranstal-
tung des Landwirtschaftsministeriums zum Thema TTIP
statt. Nach der Eröffnung durch den Minister ist ein Vor-
trag von Friedrich Merz als Gastredner zum Thema
„TTIP – Chancen für eine neue Partnerschaft mit den
USA“ vorgesehen. Nun wissen wir, dass Friedrich Merz
seit 2005 für die Kanzlei Mayer Brown LLP arbeitet, die
sich unter anderem auf internationale Schiedsverfahren
spezialisiert hat. Halten Sie das für eine vertrauensbil-
dende Maßnahme?
U
Ich denke, dass er möglicherweise auch aufgrund sei-
ner vielen anderen Funktionen an dieser Veranstaltung
teilnimmt. Mir obliegt es nicht, dies weiter zu kommen-
tieren. Ich bin nicht der Verantwortliche für Herrn Merz.
Nein, aber der Bundesregierung! Sie sind ein Vertre-
ter der Bundesregierung. Aber ich habe ja kein Recht auf
eine gute Antwort, sondern ich kriege hoffentlich noch
eine gute Antwort.
Aber Sie haben das Recht auf eine Zusatzfrage. Bitte
schön.
Meine zweite Zusatzfrage lautet: Wir wissen, dass es
bei CETA Bereiche gibt, die liberalisiert werden sollen.
Es gibt Negativlisten, die die Bereiche umfassen, die von
der Liberalisierung ausgenommen werden. Jetzt bittet
die EU-Kommission ihre Mitglieder, einige dieser Aus-
nahmen wieder von der Liste zu nehmen, zu schauen,
was andere Mitgliedstaaten gemeldet haben, und darauf
zu achten, dass möglichst wenig Bereiche auf diese Ne-
gativliste kommen. Wie sieht das die Bundesregierung?
Wird sie hier Abstriche machen, was die Ausnahmen bei
CETA angeht?
U
Die aktuelle Situation bei CETA ist wie folgt, liebe
Frau Kollegin: Im Grunde befinden wir uns in einer ab-
geschlossenen Verhandlungssituation, in der es ein nach-
trägliches Verhandeln als solches nicht gibt. Gleichwohl
gibt es natürlich einen Prozess des Legal Scrubbings, in
dem wir uns zurzeit befinden. Wir werden als Bundesre-
gierung alle unsere Möglichkeiten ausnutzen, und zwar
in dem Sinne, den wir gegenüber den Ausschüssen und
dem Parlament auch artikuliert und vertreten haben. Der
Minister ist an dieser Stelle prononciert befragt worden
und hat auch prononcierte Antworten gegeben. Wir wer-
den unsere Möglichkeiten ausnutzen und die deutsche
Interessenlage nachdrücklich vertreten. Dazu gehört
möglicherweise auch das, was Sie angesprochen haben.
Herr Kollege Ströbele.
Herr Staatssekretär, das ist zwar nicht mein Fachge-
biet. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, werden
in der US-Botschaft endlich Dokumente zur Kenntnis-
nahme zur Verfügung gestellt. Jetzt geht es darum, dass
auch deutsche Parlamentarier davon Kenntnis bekom-
men können. Da verstehe ich nicht: Hat die Bundesre-
gierung diese vertraulichen Unterlagen nicht? Warum
stellt die Bundesregierung diese vertraulichen Unterla-
gen den Abgeordneten nicht direkt zur Verfügung? Das
gehört doch zu ihren Verpflichtungen.
U
Herr Abgeordneter Ströbele, es ist etwas komplizier-
ter, als Sie es in Ihrer Frage dargestellt haben. Wir haben
den Abgeordneten des Deutschen Bundestages bereits
zwei Komplexe zur Verfügung gestellt. Das sind faktisch
Papiere über Ergebnisse von abgeschlossenen Verhand-
lungen. Zurzeit finden wir EU-Papiere mit – parallel
dazu – noch nicht ausverhandelten US-Texten vor. Die
US-Seite hat öffentlich und gegenüber der Kommission
Bedenken geäußert und gesagt, dass sie die US-amerika-
nischen Verhandlungstexte zurzeit nicht öffentlich kom-
muniziert wissen möchte. Das ist die aktuelle Lage. Vor
dieser Situation stehen wir.
Nun gibt es eine Verabredung mit Brüssel, dass mög-
licherweise über US-Botschaften Leseräume eingerich-
tet werden. Ich persönlich sage Ihnen an dieser Stelle:
Aus meiner Sicht ist es eine Zumutung, von europäi-
schen und deutschen Repräsentanten zu verlangen, in ir-
gendwelche Leseräume zu gehen. Eigentlich gehört es
sich, solche Papiere dem Parlament direkt zur Verfügung
zu stellen. Das ist unser Verständnis davon, wie wir un-
sere Arbeit tun und tun wollen.
Es ist unser Ziel, dass Europa die Konsultationen mit
den USA vorantreibt. Unsere Position ist – das vertreten
wir auch gegenüber der Europäischen Kommission –,
dass die deutschen Vertreter mit Nachdruck darauf hin-
weisen, dass in dieser Frage Klarheit hergestellt werden
muss.
Es liegen hierzu keine weiteren Zusatzfragen vor. –Mit diesem Thema, Herr Kollege Ströbele, sind wir re-gelmäßig im Ältestenrat befasst. Mein Eindruck ist, dasswir da keine unterschiedliche Interessenlage vertretenund sicherstellen, dass das Parlament über den jeweili-gen Verhandlungsstand zeitnah und authentisch unter-richtet wird.
Metadaten/Kopzeile:
8552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
(B)
Die Frage 22 des Kollegen Oliver Krischer wirdschriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Heike Hänselauf:Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus demFakt, dass mit Geld aus den Rettungspaketen für Griechen-land Rüstungsgüter in Milliardenhöhe von Rüstungsfirmen
U
Frau Kollegin Hänsel, Sie fragen mit Blick auf Grie-
chenland nach der Finanzierung von Rüstungsgütern.
Ich antworte für die Bundesregierung wie folgt: Der
Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor,
dass Griechenland derzeit neue Kaufverträge über Rüs-
tungsgüter in Milliardenhöhe, wie Sie es formuliert ha-
ben, abschließt, die mit Geld aus den Rettungspaketen fi-
nanziert werden sollen.
Der Bundesregierung liegt eine Pressemitteilung ei-
nes deutschen Unternehmens vor, aus der hervorgeht,
dass Griechenland 2014 einen Vertrag über den Kauf
von Panzermunition aus deutscher Produktion im Wert
von 52 Millionen Euro abgeschlossen hat. Bei der be-
stellten Munition handelt es sich um die Erstausstattung
für die von Griechenland gekauften Panzer des Typs
Leopard 2. Ein etwaiger Antrag auf Ausfuhrgenehmi-
gung würde nach den Politischen Grundsätzen der Bun-
desregierung für den Export von Kriegswaffen und sons-
tigen Rüstungsgütern vom 19. Januar 2000 sowie den
geltenden Gesetzen und Bestimmungen zur Rüstungs-
exportkontrolle beurteilt werden.
Frau Hänsel.
Danke schön. – Dann frage ich noch einmal ganz kon-
kret: Können Sie ausschließen, dass die griechische Re-
gierung in der Vergangenheit, seitdem sie im Hilfspro-
gramm der Euro-Gruppe ist, Geld aus ihrem Budget für
Rüstungskäufe ausgegeben hat?
U
Aktuell liegen mir dazu keine Erkenntnisse vor.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte dazu die Information geben, dass viele
Rüstungskäufe Griechenlands bei deutschen Firmen mit
massiven Schmiergeldzahlungen in Verbindung standen.
Hier hätte ich gerne eine Bewertung der Bundesregie-
rung, wie sie diese massiven Schmiergeldzahlungen und
die Rolle der deutschen Rüstungsfirmen im Zusammen-
hang mit den Rüstungskäufen der griechischen Regie-
rung in den letzten Jahren – auch während des Hilfspro-
grammes – bewertet. Macht sich die Bundesregierung
im Zusammenhang mit dem Memorandum zum Hilfs-
programm dafür stark, dass keinerlei weitere Rüstungs-
käufe mit diesen Geldern getätigt werden?
U
Frau Hänsel, wir haben bereits diverse Fragen zu die-
sem Thema schriftlich beantwortet. Ich will Ihnen gerne
die Haltung der Bundesregierung, wie sie in den schrift-
lichen Antworten zu diesem Thema vorgetragen worden
ist, erneut vortragen. Wir verfolgen mit Aufmerksam-
keit, was in Medienberichterstattungen über den Vorwurf
rechtswidriger Zahlungen zu lesen ist.
Sollten Zweifel an der Zuverlässigkeit eines der ge-
nannten Unternehmen bestehen, u. a. aufgrund be-
lastbarer und konkreter Anhaltspunkte für straf-
rechtlich relevantes Fehlverhalten,
so werden wir, denke ich, handeln; dann wäre eine sol-
che Ausfuhrgenehmigung nicht gegeben.
Die Bundesregierung sieht hierzu vor dem Hinter-
grund der bekannten Informationen jedoch derzeit
keine Veranlassung. Auch der Ausschluss von öffent-
lichen Aufträgen … ist vergaberechtlich nur mög-
lich, wenn eine rechtskräftige Verurteilung … vor-
liegt; der Ausschluss aufgrund eines mutmaßlichen
Gesetzesverstoßes ist nicht zulässig.
Frau Keul, bitte sehr.
Ich habe eine Nachfrage und bin der Bundesregierungbezüglich der Kenntnisse über die U-Boot-Käufe Grie-chenlands gerne behilflich. Parallel dazu, dass wir hierim Mai 2010 über die ersten Hilfen für Griechenland dis-kutiert haben, wurden im Hintergrund neue Verträgeüber den Kauf von U-Booten der Howaldtswerke-Deut-sche Werft verhandelt. Diese sind nach Verabschiedungdes ersten Rettungspakets gekauft worden:Von 2002 bis 2013 kaufte der griechische Staat vierU-Boote der Howaldtswerke-Deutsche Werft imWert von 1,14 Milliarden Euro. Dazu 170 Panzervom Typ Leopard-2 im Wert von 1,7 Milliarden Eurosowie dutzende Militärfahrzeuge von MercedesBenz. Heute besitzt Griechenland mehr Panzer alsFrankreich, Deutschland und Großbritannien zu-sammen.Meine Frage bezieht sich auch auf den EU-Verhal-tenskodex für Waffenausfuhren. Darin sind bestimmteKriterien angelegt. Kriterium acht besagt: Die wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit des Landes sollte bei derGenehmigung von Exporten berücksichtigt werden.Können wir uns jetzt darauf verlassen, dass wenigstenszukünftig – ab jetzt – keine Exporte von Rüstungsgüternnach Griechenland mehr genehmigt werden, die dieStaatsschulden dieses Landes noch weiter erhöhen wür-den?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8553
(C)
(B)
U
Frau Abgeordnete, weil Sie im Grunde wiederum un-
terstellen, dass das Geld gezahlt worden ist, um damit
Rüstungsgüter zu bezahlen, will ich als Erstes feststel-
len: Die Euros haben keine Bänder. – Früher haben wir
immer gesagt: Die Mark hat keine Bänder. Insofern: Es
entzieht sich meiner Kenntnis, womit was bezahlt wor-
den ist. Dass es solche Verkaufsprozesse gegeben hat, ist
in den Medien nachzulesen; da haben Sie recht. Mit wel-
chen Mitteln bezahlt worden ist,
entzieht sich meiner Kenntnis,
weil ich über den tatsächlichen Staatshaushalt Griechen-
lands zu wenig Kenntnisse besitze.
Was ich feststellen kann und muss, ist: Es gibt Politi-
sche Grundsätze der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus
dem Jahr 2000. Das ist im Grunde der zu beachtende und
auch vom Wirtschaftsministerium genutzte Maßstab für
die Beurteilung der Ausfuhr von Rüstungsgütern. Inso-
fern haben wir hier Griechenland so zu behandeln wie
einen NATO-Staat; denn Griechenland ist und bleibt
Mitglied der NATO. Insofern haben wir hier eine klare
Rechtssetzung, an die wir uns halten.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amtes.
Ich rufe Frage 24 der Kollegin Hänsel auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Absichtserklärung, dass die US-Armee ukrainische Ein-
heiten, wie es am 11. Februar 2015 der Oberkommandeur der
US-Streitkräfte in Europa, Ben Hodges, für März 2015 ange-
schau.de/ausland/ukraine-ausbildung-101.html; bitte begrün-
den)?
Frau Professor Böhmer.
D
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin, ich
beantworte Ihnen die Frage: Der Bundesregierung sind
die Ankündigungen des US-Militärs bekannt. Darüber
hinausgehende Kenntnisse zu Einzelheiten der geplanten
Ausbildungskooperation hat sie nicht. Die Bundesregie-
rung setzt sich gemeinsam mit der US-Regierung für
eine politische Lösung des Konflikts ein. Grundlage da-
für ist die vollständige Umsetzung der Minsker Verein-
barung.
Danke schön, Frau Staatsministerin. – Nun haben die
USA angekündigt, dass sie ein Bataillon von Fallschirm-
jägern in die Ukraine entsenden und auch ukrainische
Artillerieeinheiten ausbilden wollen. Hier geht es also
um eine militärische Ausbildung der ukrainischen Ar-
mee. Deshalb möchte ich noch einmal ganz konkret
nachfragen: Wie passt das zu Ihrer Aussage, dass Sie
sich gemeinsam mit den USA für eine politische Lösung
einsetzen wollen? Inwiefern erleichtert die militärische
Ausbildung der ukrainischen Armee vonseiten der US-
Regierung eine politische Lösung, oder wirkt sie nicht
umgekehrt weiterhin eskalierend?
D
Frau Kollegin, ich kann für die Bundesregierung nur
erneut betonen: Für uns ist klar, dass es für diesen Kon-
flikt keine militärische Lösung gibt. Daher setzen wir
uns mit allem Nachdruck für eine politische Lösung ein.
Das spiegelt sich in unserem Handeln wider. Das spie-
gelt sich in der Initiative der Bundeskanzlerin wider. Das
spiegelt sich auch im nachdrücklichen Einsatz unseres
Bundesaußenministers wider. Sie wissen, dass allein
deshalb die jüngsten Minsker Vereinbarungen zustande
gekommen sind, und ich kann nur an alle Partner appel-
lieren, diese Minsker Vereinbarungen auch wirklich um-
zusetzen.
Wenn Sie sagen, dass es eine enge Abstimmung mit
dem NATO-Partner USA gibt, heißt das dann, dass die
Bundesregierung ihr Einverständnis gegeben hat, dass
die US-Regierung Soldaten zur Unterstützung der mili-
tärischen Ausbildung in die Ukraine schickt? Ich frage
Sie ganz konkret: Ist die Bundesregierung damit einver-
standen?
D
Frau Kollegin, wenn ich schon am Anfang sage, dassuns die Ankündigungen bekannt sind, wir aber keine da-rüber hinausgehenden Kenntnisse haben, dann erschließtsich doch, dass die von Ihnen gestellte Frage nur mitNein beantwortet werden kann. Wir haben keine Kon-takte, wir sind auch nicht gefragt worden.Ich möchte eines hinzufügen: Mir liegt eine Meldungvon Reuters von gestern vor, in der es heißt:Russland unterstützt die Separatisten im Osten derUkraine nach Einschätzung des US-Militärs mitetwa 12 000 Soldaten.
Es handle sich um eine Mischung aus russischenMilitärberatern, Bedienpersonal für Waffen undKampftruppen …Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu zitieren.
Metadaten/Kopzeile:
8554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
Weitere Zusatzfragen hierzu gibt es nicht.
Die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Omid
Nouripour sowie die Frage 27 der Abgeordneten Sevim
Dağdelen werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern.
Die Frage 28 der Abgeordneten Sevim Dağdelen, die
Frage 29 des Abgeordneten Volker Beck, die Frage 30
der Abgeordneten Katrin Kunert und die Frage 31 der
Abgeordneten Ulla Jelpke werden schriftlich beantwor-
tet.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Welche Sofortmaßnahmen ergreift die Bundesregierung
nach den Berichten, dass die Geheimdienste National Security
Agency, NSA, und Government Communications Headquar-
ters, GCHQ, 2010/2011 die Chips, „Encryption Keys“, in
SIM-Karten von Telekommunikationsgeräten sowie mutmaß-
lers Gemalto weder kurzfristig festgestellt noch durch Ver-
nun der Gefahr zu begegnen, dass diese Dienste auch Kom-
munikation von Personal in Bundesregierung und Bundesbe-
hörden mit bislang als sicher geltenden Geräten ausforschen
sowie Dokumente mit solchen Chips missbrauchen können,
und inwieweit waren unter Umständen auch deutsche Stellen
an der erstgenannten Ausspähung zusammen mit jenen aus-
ländischen Diensten beteiligt?
Zur Beantwortung steht Staatssekretär Krings zur
Verfügung.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Ströbele, zunächst einmal
vielen Dank dafür, dass Sie – im Gegensatz zu den ande-
ren sechs Fragestellern, deren Fragen schriftlich beant-
wortet werden – bei der Stange geblieben sind und dass
ich die Gelegenheit bekomme, Ihre Frage mündlich zu
beantworten. Das tue ich gerne.
In Ihrer Frage geht es um den sogenannten Gemalto-
Hack, also um den vermeintlichen oder tatsächlichen
Angriff auf SIM-Karten, worüber wir alle in den Medien
gelesen haben. Ich darf dazu wie folgt antworten: Es ist
bekannt, dass handelsübliche, nur durch schwache Ver-
schlüsselungsverfahren geschützte Mobilfunktelefonie
mit gewissen Aufwänden abgehört werden kann. Für die
Übertragung von sensiblen Informationen in der Bun-
desverwaltung ist derartige Mobilfunktelefonie daher
nicht geeignet, sofern keine zusätzlichen Schutzmaßnah-
men ergriffen werden.
In der Bundesverwaltung werden – um derartigen Ri-
siken zu begegnen – für die sensible Kommunikation
seit Jahren moderne und vom BSI zugelassene Kommu-
nikationsgeräte eingesetzt, mit denen sicher verschlüs-
selt und folglich gesichert kommuniziert werden kann.
Die Sicherheit dieser Geräte ist nach hier vorliegenden
Kenntnissen durch den genannten Angriff nicht beein-
trächtigt. SIM-Karten des Herstellers Gemalto werden in
diesen Geräten nämlich nicht eingesetzt.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, ich finde es ja schön, was Sie für
die Bundesregierung und die Bundesbehörden gesagt ha-
ben. Aber gerade gestern oder heute, glaube ich, ging
eine Meldung durch die Zeitungen, dass selbst bei soge-
nannten Kryptotelefonen, von denen ich auch eines
besitze und über das auch der Vorsitzende eines Parla-
mentarischen Untersuchungsausschusses offensichtlich
verfügt, der Verdacht besteht, dass jemand versucht hat,
sich da Zutritt zu verschaffen. Damit nicht genug: Als er
das dann zur Untersuchung zum BSI nach Bonn ge-
schickt hat, ist dieses Päckchen sogar noch von irgendje-
mandem geöffnet worden.
Die Frage ist also: Woher nehmen Sie die Sicherheit,
dass die SIM-Karten, die in diesen Telefonen angeblich
noch über das Normale hinaus gesichert sein sollen,
auch funktionieren?
D
Sie haben ja ganz konkret danach gefragt, ob es
Sofortmaßnahmen im Anschluss an den sogenannten
Gemalto-Hack gibt. Darauf habe ich geantwortet, dass
wir diese SIM-Karten nicht benutzen, sondern andere In-
strumente nutzen, die davon nicht betroffen sind, die
auch höheren Sicherheitsanforderungen genügen, die
kryptieren. Niemand kann eine hundertprozentige Si-
cherheit geben; das ist, glaube ich, auch ganz klar. Bei
Fragen der IT-Sicherheit und -Absicherung befinden wir
uns natürlich in einer Art Katz-und-Maus-Spiel: Wir
versuchen, immer stärkere Sicherheitsmaßnahmen ein-
zubauen, und umgekehrt gibt es verschiedenste Akteure
von außen, die versuchen, diese Sicherheitsmaßnahmen
zu durchbrechen. Insofern gibt es natürlich keine hun-
dertprozentige Sicherheit.
Aber zu dem, was von Ihnen hier als konkreter Sach-
verhalt noch einmal zitiert worden ist, also dem, was die
in den Niederlanden sitzende und in Frankreich produ-
zierende Firma als Angriff offenbar hat erleiden müssen,
wobei nicht klar ist, wie erfolgreich dieser Angriff war,
gibt es auch unterschiedliche Aussagen. Diese Art von
Angriff betrifft die Handys und Kommunikationsmittel
innerhalb der Bundesregierung, nach denen Sie gefragt
haben, nicht; da können Sie sicher sein.
Eine weitere Zusatzfrage.
Nun behauptet ja die Firma Gemalto, dass sie es beiihren Chips ausschließt, nachdem sie es überprüft hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8555
Hans-Christian Ströbele
(B)
Dies wird aber von Fachleuten bestritten; die Quellenhabe ich in meiner Frage genannt. Welche Auffassunghat denn die Bundesregierung dazu? Kann diese Aus-kunft der Firma Gemalto überhaupt stimmen? Kann manin kurzer Zeit tatsächlich feststellen, ob so etwas millio-nenfach passiert ist oder nicht?D
Die Aussage der Firma Gemalto geht in die Richtung:
Wir wurden zwar als Unternehmen angegriffen; aber nur
unsere Bürokommunikation ist angegriffen wurde, nicht
unsere Fertigungsteile. Man konnte zwar offenbar in un-
sere Bürosysteme hineingehen oder hat es jedenfalls ver-
sucht; aber da, wo diese SIM-Karten produziert worden
sind – die sind ja das sensible Teil, das auch in vielen
deutschen Handys eingebaut ist –, hat der Angriff nicht
stattgefunden, jedenfalls nicht erfolgreich. – So die Aus-
sage der Firma Gemalto.
Wir sind zurzeit in Gesprächen und in intensiver Ab-
stimmung mit unseren Partnerbehörden in den Nieder-
landen, wo die Firma ihren Sitz hat, und in Frankreich,
wo die Produktionsstätten sind, um dies zu verifizieren
oder zu falsifizieren. Noch können wir Ihnen also keine
Antwort darauf geben, ob die Aussage von Gemalto zu-
trifft oder nicht.
Frau Hänsel.
Danke schön. – Ich habe noch einmal eine generelle
Frage, weil ich es natürlich als etwas absurd empfinde,
dass Sie sich jetzt hier in die Einzelheiten des Forschens
hineinbegeben müssen, wie man diese SIM-Karten viel-
leicht wieder sicher machen kann usw. Wie bewertet
denn die Bundesregierung eigentlich die Meldungen,
dass es vonseiten des US-amerikanischen und des briti-
schen Geheimdienstes dieses Knacken der SIM-Cards
gegeben hat? Ich habe in den Medien eigentlich so gut
wie keine Bewertungen, Stellungnahmen der Bundesre-
gierung gelesen. Vielleicht können Sie mich da noch ein-
mal auf den aktuellen Stand bringen. Wie ist die politi-
sche Bewertung dieses Vorgehens der Geheimdienste?
D
Ich habe eben darauf hingewiesen, dass wir bisher
nicht einmal wissen, wie erfolgreich dieser Angriff be-
zogen auf die SIM-Karten war. Das Gleiche gilt für die
Urheberschaft dieses Angriffs. Natürlich gibt es Vermu-
tungen, die auch in den Medien kursieren. Da gibt es ja
die üblichen Verdächtigen, die dann genannt werden,
vielleicht mit Anhaltspunkten, vielleicht auch ohne An-
haltspunkte. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht
sagen, wo die Urheberschaft eines solchen Angriffes zu
sehen ist, zumal wir gar nicht wissen, welches Ausmaß
er angenommen hat.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Ströbele auf:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zur Entwick-
lung und zum derzeitigen Stand der „automatisierten und sys-
tematischen Gewinnung, Verarbeitung und Auswertung von
Massendaten aus dem Internet“, wie „zentral“ vor allem etwa
„Kontaktlisten und Beziehungsgeflechte in … sozialen Netz-
werken wie Facebook, Twitter oder YouTube“, durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz , welches solche
selbst so formulierte Überwachung im Rahmen seiner neuen
Referatsgruppe „Erweiterte Fachunterstützung Internet“ Be-
richten zufolge
mindestens seit 2013 betreibt, und inwieweit berücksichtigt
das BfV dabei – neben politischen Bedenken dagegen – auch
die Rechtslage, dass es keine Massendaten über solche Kom-
munikation abfangen darf, sondern sich lediglich gemäß § 3
des Artikel-10-Gesetzes die Überwachung von (zum
Beispiel E-Mail-)Verbindungen einzelner Teilnehmer durch
die G-10-Kommission genehmigen lassen darf?
D
Herr Präsident! Herr Kollege Ströbele! Meine Damenund Herren! In der Frage geht es um eine Arbeitseinheitbeim Bundesamt für Verfassungsschutz. Einleitend möchteich eine Mitteilung des Bundesamtes für Verfassungs-schutz vom 26. Juni 2014 zur Einrichtung der in derFrage thematisierten Referatsgruppe „Erweiterte Fach-unterstützung Internet“, EFI, zitieren:Ziel ist es, die bereits vorhandenen Daten besserauszuwerten. Im Bereich der digitalen Kommunika-tion handelt es sich dabei um Daten, die das BfVgemäß seinen Befugnissen nach dem G 10-Gesetzbereits erhoben hat. Die Datenerhebungsgrundlageselbst wird dadurch nicht ausgeweitet.Das BfV führt Telekommunikationsüberwachungs-maßnahmen ausschließlich bezogen auf Einzelpersonenund auf Grundlage des § 3 G-10-Gesetz oder des § 8 aAbsatz 2 Nummer 4 des Bundesverfassungsschutzgeset-zes – Auskunftsersuchen zu Telekommunikationsver-kehrsdaten – durch. Zwingende Voraussetzung für beideMaßnahmen ist das Vorliegen bestimmter einzelnerKommunikationskennungen. Das sind beispielsweiseRufnummern oder E-Mail-Adressen, die überwacht wer-den sollen. Zudem müssen die entsprechenden materiel-len Voraussetzungen gemäß § 3 G-10-Gesetz bzw. § 8 aBundesverfassungsschutzgesetz im Einzelfall vorliegen.Bei jeder einzelnen Maßnahme bedarf es der Prüfungund Zustimmung durch die G-10-Kommission als unab-hängigem parlamentarischem Kontrollorgan. Dement-sprechend führt das Bundesamt für Verfassungsschutzgerade keine massenhaften, anlasslosen, verdachtsunab-hängigen oder sonst ungezielten Maßnahmen gegen eineVielzahl oder beliebige Grundrechtsträger durch.Die genannte Referatsgruppe „Erweiterte Fachunter-stützung Internet“ befindet sich im Aufbau. Ein entspre-chender Aufbaustab wurde am 1. April 2014 gegründet.Die Arbeit der Referatsgruppe – das gilt insbesonderefür die Auswertung und Analyse von Internetdaten, zumBeispiel der Kommunikation in sozialen Netzwerken –basiert ausschließlich auf Daten, die auf geltenderRechtsgrundlage erhoben werden.
Metadaten/Kopzeile:
8556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
(C)
(B)
Herr Kollege Ströbele.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden?
Sie behaupten, dass lediglich die Daten aus Facebook
und den anderen sozialen Netzwerken analysiert und
verarbeitet werden, die vorher aufgrund einer Anwei-
sung der G-10-Kommission erhoben wurden?
D
Es gibt keine strategische Netzüberwachung, wie wir
das aus den USA gehört haben. Das Bundesamt für Ver-
fassungsschutz ist nicht die NSA. Beide haben ganz un-
terschiedliche Herangehensweisen. Das dürfen Sie ruhig
für bare Münze nehmen. Das heißt, dass es immer eine
konkrete Rechtsgrundlage gibt. Ich habe das G-10-Ver-
fahren angesprochen. Die Daten, die auf Basis dieser
Rechtsgrundlage vor einigen Monaten oder einigen Jah-
ren erhoben wurden, sollen durch diese Referatsgruppe
besser ausgewertet und analysiert werden können.
Ich will das noch einmal präzisieren: Es werden keine
persönlichen Daten aufgenommen, ausgewertet und
möglicherweise gespeichert, deren Erhebung nicht durch
die G-10-Kommission angeordnet und legitimiert
wurde?
D
Ich habe die Norm eben zitiert.
Nach meinem Kenntnisstand sind alle Daten im Rahmen
eines G-10-Verfahrens erhoben worden. Wichtig ist – ich
sage das, um nicht aufs Glatteis zu geraten –, dass über-
all eine Rechtsgrundlage vorhanden sein muss. Nach
meinem Kenntnisstand ist das ein G-10-Verfahren. Es
mag auch Rechtsgrundlagen geben, bei denen ein G-10-
Verfahren nicht erforderlich ist. Aber alle Daten, die auf
Basis der bisherigen Rechtsgrundlage, die im Rahmen
eines rechtsstaatlichen Verfahrens erhoben werden konn-
ten, sollen jetzt mithilfe dieser neuen Arbeitseinheit aus-
gewertet werden. Das ist eine Umorganisation innerhalb
des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Daten, die oh-
nehin auf rechtmäßiger Grundlage erhoben werden, wer-
den nun vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der
Erkenntnisse und mit moderner Technik ausgewertet.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Die Frage 34 des Abgeordneten Andrej Hunko und
die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Hubertus
Zdebel werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Wir unterbrechen die Sitzung bis zum Beginn der Ak-
tuellen Stunde, bis 15.30 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Auswirkung der Ermordung des russischen
Politikers Boris Nemzow auf die Politik Russ-
lands
Ich eröffne die Aussprache. – Als erster Redner hat
der Abgeordnete Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestern haben wir Abschied vom russischen Opposi-tionspolitiker Boris Nemzow genommen. Es war ein ein-drucksvoller Akt der Trauer, als Tausende von russi-schen Menschen an dem aufgebahrten Leichnam imAndrej-Sacharow-Zentrum in Moskau vorbeizogen, umBoris Nemzow die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ih-nen haben dafür stundenlang in der Kälte ausharren müs-sen. Es waren auch zahlreiche Ausländer dabei, darunterTeilnehmer aus allen 28 EU-Staaten.Ich habe als Vertreter der Bundesregierung an derPanichida, der russisch-orthodoxen Totenmesse, fürBoris Nemzow teilgenommen, gemeinsam mit unserenehemaligen Bundestagsmitgliedern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Wolfgang Gerhardt von der FDPsowie dem deutschen Botschafter von Fritsch.Unser allererster Gedanke der Anteilnahme gilt derFamilie, den Angehörigen und den Freunden von BorisNemzow, aus deren Mitte er plötzlich und unerwartetdurch einen feigen und heimtückischen Mord herausge-rissen wurde. Dann fällt unser Blick auf den Verlust, dendiese vier Kugeln der russischen Opposition, aber auchganz Russland zugefügt haben.Ich habe Boris Nemzow persönlich schon Anfang der90er-Jahre als blutjungen Gouverneur von NischnijNowgorod mit seinem unbändigen Lockenkopf, mit sei-ner schwarzen Lederjacke, von der er sich nie trennenwollte, und seiner Reformbegeisterung, mit der er westli-che Investoren für seine Region zu gewinnen versuchte,kennengelernt. Persönlich war er in diesen Jahren erfolg-reich. Er stieg 1997/98 zum Vize-Ministerpräsidentenauf, aber auch er wurde wie seine wirtschaftsliberalenMitstreiter Gajdar, Tschubajs, Jawlinskij und andere Op-fer einer tragischen Entwicklung, dass nämlich die Men-schen in Russland die ersten Schritte zur Demokratieund Marktwirtschaft als Verlust ihrer sozialen Sicherheitverbunden mit Rubelabsturz und Nichtzahlung von Löh-nen und Gehältern erleben mussten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8557
Dr. h. c. Gernot Erler
(C)
(B)
Diese Schulterlast konnte die Reformergenerationvon Nemzow nie mehr abwerfen. Da half auch nicht dieGründung immer neuer oppositioneller Parteien, dieeher zur Zersplitterung beitrugen. Boris Nemzow hatsich trotzdem nie entmutigen lassen. Er wurde zu einerunerschrockenen Stimme der Kritik am politischen Esta-blishment. Er machte all denen Mut, die sich ein künfti-ges Russland ohne Demokratie, ohne Bürgerrechte, ohneFreiheitsrechte nicht vorstellen konnten. Zuletzt hat erschonungslos die aktuelle Ukraine-Politik von PräsidentPutin öffentlich angegriffen. Vielleicht musste er deshalbsterben. Es gibt viele Spekulationen. Sich an ihnen zubeteiligen, hat keinen Sinn.Aber eines ist mit Händen zu greifen: Dieser zynischeMord hat etwas mit der künstlich aufgeheizten und ag-gressiven Atmosphäre in einem Land zu tun, in dem sichNGOs mit internationalen Verbindungen selber zu aus-ländischen Agenten erklären müssen und in dem der Prä-sident alle, die seinen Kurs kritisieren, als Nationalverrä-ter und Anhänger einer fünften Kolonne ins Abseitsstellt. Wo ein unerklärter Krieg im Nachbarland geführtwird, können Nationalverräter nicht geduldet werden.Eine solche Sprache allein kann tödliche Folgen haben,wenn sie unbequeme Stimmen kriminalisiert und letzt-lich für vogelfrei erklärt. Deswegen ist es unverzichtbar,die russische Führung aufzufordern, alles nur Möglichezu veranlassen, um den Mörder und seine Hintermännerdingfest zu machen und vor Gericht zu stellen.
Aber es ist ebenso unverzichtbar, eine Änderung dergesellschaftlichen Atmosphäre einzufordern, die Hem-mungen abbaut, auf vermeintliche Vaterlandsverräterloszugehen, auf Bürgerinnen und Bürger, die in Wirk-lichkeit nur von ihrem verbrieften Recht, eine andereMeinung zu haben und diese auch öffentlich kritisch zuäußern, Gebrauch machen. Von dieser Debatte im Deut-schen Bundestag sollte – das wünschte ich mir – ein star-kes politisches Signal in diese Richtung ausgehen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
Danke sehr, Herr Präsident. – Ich glaube, dass es ge-stattet sein muss, zu Beginn dieser Debatte ein Wort überdie eigenen Gefühle zu sagen. Die Nachricht vom Mordan Boris Nemzow – ich denke, dass man den Begriff„Mord“ benutzen muss
und nicht nur von „Tod“ reden darf – hat bei mir Entset-zen, Nachdenklichkeit, den Versuch, etwas innezuhalten,Fassungslosigkeit und Trauer ausgelöst. Ich denke, eswar richtig, dass sich der Bundestag entschlossen hat,heute eine Aktuelle Stunde dazu durchzuführen, damitwir darüber reden.Ich möchte gern, dass die Bürgerinnen und Bürger inRussland verstehen, dass diese Aktuelle Stunde nicht ge-gen sie gerichtet ist, sondern dass wir im Rahmen dieserAktuellen Stunde Trauer und Nachdenken mit ihnen tei-len wollen. Wir wollen die Bürgerinnen und BürgerRusslands nicht belehren, sondern wir möchten mit ih-nen zusammen auf eine Veränderung des politischen Kli-mas hinwirken. Das ist mir sehr wichtig.
Ich will sehr deutlich sagen, was ich von der russi-schen Regierung und vom russischen Präsidenten er-warte. Präsident Putin muss das einlösen, was er gesternin der Öffentlichkeit gesagt hat. Er sagte, dass dieserMord eine Schande ist. Ich erwarte von ihm und von derrussischen Regierung – das würde ich von jeder Regie-rung in der Welt erwarten –: Es muss aufgeklärt werden,und zwar rasch und mit rechtsstaatlichen Mitteln – dasbetone ich ausdrücklich: mit rechtsstaatlichen Mitteln –,und es müssen Transparenz und Öffentlichkeit geschaf-fen werden. Das ist das, was man von der russischen Re-gierung und von Präsident Putin erwarten muss. Ichmöchte, dass der Deutsche Bundestag zu einer Entwick-lung in diese Richtung beiträgt.
Es ist bestimmt nicht entscheidend, was wir dazu mei-nen. Es ist entscheidend, dass in Russland verstandenwird, dass es um die Verfasstheit des Landes geht, dasses um die Verfasstheit Europas geht, dass es um die Zu-kunft Russlands geht. Wenn man das betont, dann bleibtes dabei: Wenn dieser Mord nicht aufgeklärt wird, dannbehält Russland eine offene Wunde. Eine offene Wundesollte Russland aber nicht behalten. Deswegen müssendieser Mord und all seine Umstände aufgeklärt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin kein Freundvon Verschwörungstheorien – noch nicht einmal dann,wenn sie in meiner eigenen Umgebung verbreitet wer-den –,
weil sie meistens überhaupt nichts erklären.
Ich finde auch alle Verschwörungstheorien rund um die-sen Mord unnütz. Ich bin der Auffassung, dass es, wennman die Ansprüche stellt, die Sie gestellt haben, nichtklug ist, ein Klima zu bereiten, in dem von Anfang an
Metadaten/Kopzeile:
8558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
feststeht, dass am Ende Putin schuld ist, nur er und keinanderer.
Das ist keine Aufklärung und sorgt nicht für ein Nach-denken über das gesellschaftliche Klima.
Ich möchte Aufklärung und aufklärerisches Wirken.Aufklärerisches Wirken muss nach vorne gerichtet sein.Ich will Ihnen einige Punkte nennen, die für mich unver-zichtbar sind. Angesichts der aktuellen Situation möchteich betonen: Man muss zur Entspannung zurückkehren,auch wenn das heute fast unmöglich erscheint. Manbraucht innenpolitische Entspannung in Russland, undman braucht politische Entspannung in Europa. Daswäre ein vernünftiger Weg. Wir sollten darauf hinwir-ken, dass alle Vereinbarungen von Minsk umgesetztwerden.Im Krieg um die Ukraine und in der Ostukraine darfes nicht wieder zu offener Gewalt kommen, weil Gewaltimmer auch staatliche Gewalt in den entsprechendenLändern zeitigt, und das war die Voraussetzung dafür,dass so etwas wie der Mord an Boris Nemzow in Russ-land passieren konnte. Entspannung ist heute denkbar,und die Ergebnisse von Minsk könnten ein Weg zur Ent-spannung sein.
Ich denke sehr darüber nach und bitte Sie, sich indiese Richtung auch ein Stück weit selbst zu überprüfen:Die Isolation und die Selbstisolation Russlands müssendringend aufgehoben werden. Isolation und Selbstisola-tion führen immer zu innenpolitischen Verschärfungenund Verengungen. Ich glaube, dass wir Russland einenWeg zurück nach Europa weisen und die Tore weit auf-machen müssen, weil das und nichts anderes demokrati-siert.
Ich möchte Ihnen in dieser Situation auch gernesagen: Wenn der Deutsche Bundestag Verstand undCourage hat, dann müssen wir die Visafrage erneut aufdie Tagesordnung setzen. Ich möchte, dass wir die russi-schen Bürgerinnen und Bürger einladen. Kommt in un-ser Land! Kommt nach Europa! Wir haben eine gemein-same Gestaltungsaufgabe in Europa. Wir müssen eineneue Ostpolitik und eine europäische Entspannungspoli-tik entwickeln.Wenn wir so damit umgehen, ein Stück weit innehal-ten und nicht immer mehr zuspitzen, dann könnte derMord an Boris Nemzow ein Signal zur Umkehr werden.Diese Umkehr ist in Europa dringend notwendig.Das wollte ich Ihnen sagen.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Franz Josef Jung, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am letztenFreitag wurde der russische Regimekritiker BorisNemzow in unmittelbarer Nähe des Kremls heimtückischermordet. Herr Erler hat darauf hingewiesen: Er wurdegestern unter Teilnahme von Tausenden Bürgerinnenund Bürgern zunächst aufgebahrt und dann beigesetzt.Ich denke, wir sind uns in diesem Parlament einig,dass wir erwarten, dass dieser hinterhältige Mord umfas-send aufgeklärt wird und die Täter zur Verantwortunggezogen werden. Täter, Auftraggeber und Motive desVerbrechens dürfen aus unserer Sicht nicht wieder imDunkeln bleiben, wie das beispielsweise bei den Mordenan Anna Politkowskaja, an Natalja Estemirowa und anAleksandr Litwinenko geschehen ist.Ebenso, denke ich, müssen wir uns über die Auswir-kungen der Ermordung von Boris Nemzow auf die Poli-tik in Russland unterhalten. Ich finde, hier ist es schonvon Bedeutung, dass der konfrontative Kurs von Prä-sident Putin gegenüber den Regierungsgegnern und Op-positionellen ein Klima von Hass und Hysterie geschaffenhat – unterstützt durch die entsprechenden Staatsmedien,die hier Aggression und Feindschaft schüren –, einKlima, das hier letztlich den dunkelsten Kräften in dieHände spielt. Deshalb ist es, denke ich, dringend not-wendig und geboten – auch im Interesse Russlands –,dass Präsident Putin dafür sorgt, dass dieses Klima derRepression beendet wird und die Freiheitsrechte derBürgerinnen und Bürger gewährleistet werden.
Meine Damen und Herren, ich finde schon, dass derMord an Boris Nemzow ein besonderes und bezeichnen-des Licht auf die innere Entwicklung Russlands wirft.Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheitund Bürgerrechte werden unterdrückt. Von einem lupen-reinen Demokraten kann wahrlich keine Rede sein.Wer in Russland Präsident Putin und sein Regime kri-tisiert, der muss den Sicherheitsapparat nicht nur persön-lich fürchten, sondern er muss auch damit rechnen, dassseine Nächsten in Gefahr geraten, wie es das Beispieldes Bruders des Kremlkritikers Nawalnyj zeigt, und ermuss mit den Schlägern des sogenannten Anti-Maidanrechnen, die jede Opposition gegen Präsident Putin mitGewalt im Keim ersticken.Die Tatsache aber, dass in Moskau am vergangenenSonntag Zehntausende im Rahmen eines Trauermar-sches für Boris Nemzow auf die Straße gegangen sind,macht deutlich, dass es viele mutige Bürger in Russlandgibt, die gegen dieses Klima der Einschüchterung ihreStimme erheben und auf die Straße gehen. Ich denke,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8559
Dr. Franz Josef Jung
(C)
(B)
diese mutigen Bürgerinnen und Bürger haben unsere So-lidarität und unsere Unterstützung verdient.
Die Politik der Repression, des Rechtsbruchs oderauch der kriegerischen Auseinandersetzung in derUkraine schadet aus meiner Sicht Russland. Deshalbwäre es im Interesse Russlands, wenn Präsident Putineine derartige Politik beendete, die Freiheitsrechte um-fassend gewährleistete, das Minsker Abkommen in dieTat umsetzte und partnerschaftliche Beziehungen zu Eu-ropa wieder aufnähme.Der wirtschaftliche Niedergang Russlands zeigt ausmeiner Sicht, wie notwendig es ist, diese falsche und un-demokratische Politik zu beenden. Wir wollen ein demo-kratisches, ein modernes, ein freiheitliches Russland, mitdem wir gut zusammenarbeiten können. Hier gilt dieHoffnung von Boris Nemzow, die auch gestern vieleMenschen zum Ausdruck gebracht haben: Russland wirdfrei sein – im Interesse der Menschen, im Interesse derSicherheit, im Interesse von Frieden und Freiheit in Eu-ropa.Besten Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Boris Efimowitsch Nemzow war ein brillanter Kopf. Erwar widerständig und unerschrocken. Er war ein Volks-tribun, und – ich glaube, das darf ich sagen – er war auchein Draufgänger. Er hatte eine Entscheidung getroffen.Sie hieß: in der Wahrheit leben – ohne Rücksicht auf Ge-fahr und ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Und erwusste, dass er in Gefahr war.Die Liste der Menschen, die für ihre Aufrichtigkeit inden vergangenen Jahren ermordet wurden, ist lang – vielesind schon genannt worden –: Anna Politkowskaja,Natalja Estemirowa – ich habe sie noch hier in Berlingetroffen –, Stanislaw Markelow, Sergej Magnitskij. Alldiese Morde sind nie aufgeklärt worden. Diese Wunden,Herr Kollege Gehrcke, sind alle noch offen. Alle dieseMenschen stehen für den Wunsch nach Wahrheit, Frei-heit und Gerechtigkeit. Sie stehen für ein anderes Russ-land und für eine Alternative zu der Machtpyramide, anderen Spitze Präsident Putin steht.Der eindrucksvolle Gedenkzug für Boris Nemzowzeigt uns, dass in der russischen Gesellschaft mehr Le-bendigkeit und Widerspruchsgeist stecken, als PutinsPropaganda uns glauben lassen will. Auch wir selbersollten an diese Kräfte glauben und nicht zu zaghaft sein.
Nemzow war in ungewöhnlich jungem Alter – derKollege Erler hat das schon gesagt – Gouverneur undspäter Vizepremier unter Jelzin und mit Aufgaben be-traut, die eigentlich eine „Mission impossible“ waren. Indiesen tumultuösen Zeiten wurden auch viele Fehler ge-macht: Viele Menschen gerieten in Not, und die Oligar-chen konnten ihr System in vielen rechtsfreien Räumenerrichten.Tatsächlich schien es so zu sein, als würde mit Putindie Ordnung in das Land zurückkehren. Doch heute wis-sen wir, dass seine Herrschaft zu einem System aus Ge-heimdienst und Oligarchie geworden ist, überwölbt vonKorruption, die alles zusammenhält. In diesem Systemmuss jeder etwas abbekommen. Dazu gehört auch Will-kür – ohne Chance auf Gerechtigkeit, ohne eine freieJustiz, an die sich Bürgerinnen und Bürger wenden kön-nen.Dieses System hat auch immer schon zu Gewalt ge-griffen – daran erinnern wir uns nicht mehr so gut –: derKrieg in Tschetschenien – er war gnadenlos –, der Kriegin Georgien und jetzt der in der Ukraine.Je deutlicher wurde, dass Putin kein Modernisierer istund dass ihm die ökonomische Modernisierung nicht ge-lingt, desto stärker baute er an seiner Propagandama-schine, an den Feindbildern von äußeren und innerenGegnern, und desto schärfer wurde die Repression. DieBürgergesellschaft im eigenen Land – das konnte manJahr für Jahr sehen – wurde immer stärker stranguliert;kritische Nichtregierungsorganisationen sollten gezwun-gen werden, sich selber mit der stalinistischen Figur des„ausländischen Agenten“ zu belegen.Derzeit rollt in der Duma das nächste Gesetz an, näm-lich das Verbot der Zusammenarbeit mit unerwünschtenOrganisationen. Das ist der nächste Strangulierungs-schritt, der in der Pipeline ist, und die Feindpropagandadurchdringt das ganze Land.Nun hat Präsident Putin heute selber den Mord anBoris Nemzow als einen politisch motivierten bezeich-net. Was bedeutet das? Es legt vielleicht offen, dass estatsächlich die Vertikale der Macht schon gar nicht mehrgibt, sondern dass sie beginnt, Putin zu entgleiten, hin zuKräften, die nationalistischer, die extremistischer sind,hin zu einer kruden Mischung aus Nationalbolschewis-mus und faschistoiden Tendenzen. Eine Person mit zweiNamen steht für diese Kombination, nämlich Strelkowund Girkin. Es kann sein, dass Putin bereits ein Teil sei-nes Apparates zu entgleiten beginnt und dass dieseSchüsse direkt vor der Kremlmauer auch eine Botschaftan ihn gewesen sind. Ebenso kann er einen Kadyrownicht mehr steuern; auch Kadyrow ist ihm schon entglit-ten. Wenn wir heute auf Russland und auf diesen entfes-selten Hass schauen, so stellen wir fest, dass er tatsäch-lich zu einem Drama für das russische Volk selbergeworden ist.Putin hat das Land in diese Isolation geführt. Keinervon uns weiß derzeit, wie und durch wen das Land wie-der zurück auf den Weg in die europäische Familie und
Metadaten/Kopzeile:
8560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Marieluise Beck
(C)
(B)
in unser gemeinsames Haus Europa findet. Aber BorisNemzow war einer der profiliertesten Oppositionspoli-tiker Russlands; er hatte Pläne für die Rückkehr in dieDuma, und er war eine Hoffnung für viele Bürgerinnenund Bürger, weil er so ganz unterschiedslos gegen Kor-ruption vorgegangen ist. Nun ist dieser mögliche Oppo-nent nicht mehr da.Wir sollten – das ist unsere Aufgabe – all diejenigenMenschen treffen und sie ermutigen, die ohne Ansehender eigenen Person diese zarten Pflänzchen der Bürger-gesellschaft in Russland trotz aller Widerstände auf-rechterhalten, und dies – da gebe ich dem KollegenGehrcke recht – ohne umständliche und teure Visaproze-duren, wir sollten sie reisen lassen, wir sollten sie als un-sere Partner begreifen. Das wäre die beste Art, BorisNemzow zu ehren.Schönen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibtviele Merkwürdigkeiten bei diesem Mord unter den Au-gen des Kreml, in der sensibelsten russischen Sicher-heitszone schlechthin, unter Augen, denen sonst über-haupt nichts entgeht. Hängen Sie da mal ein Plakat auf;es ist in Sekunden wieder weg. Exakt zum Tatzeitpunktversperrt ein Müllauto die Sicht, exakt zum Tatzeitpunktsind 15 Überwachungskameras ausgeschaltet, weil sieangeblich gewartet werden. Wie idiotisch ist denn diesesMärchen, meine Damen und Herren? Ein FSB-Sicher-heitschef, der dies verantwortete, wäre nicht einen Taglänger im Amt, wenn er so etwas machte.Von der Kollegin Beck und dem Kollegen Jung wurdeschon auf das völlig vergiftete Meinungsklima hinge-wiesen, in dem Hass und Verfolgung gegen Andersden-kende blühen und sich natürlich einige ermutigt fühlen,den Ruhm und die Größe Russlands durch solche Mord-taten wiederherzustellen.Meine Damen und Herren, Russlands Regierung undeine Mehrheit der Bevölkerung sehen sich in einem ver-meintlichen Abwehrkampf gegen äußere Feinde, und ihrPräsident will nicht zulassen, dass die Ehre Russlandsvon Feinden beleidigt wird. Die Frage ist, wie wir jetzteigentlich auf so etwas reagieren.Ich möchte vorsichtig daran erinnern, dass das Ver-hältnis zu Russland in erster Linie eine außenpolitischeFragestellung ist. Es geht leider nicht darum, menschlichsehr verständlichen Regungen der Empörung und desAbscheus Genüge zu tun, sondern darum, wie wir au-ßenpolitisch damit umgehen und praktische Politik be-treiben können. Das hat für mich zwei Konsequenzen.Erstens. Wir müssen immer darauf achten, dass wirdie Diplomatie nicht vernachlässigen. Russland ist undbleibt unser größter östlicher Partner. Für Russland giltübrigens umgekehrt: Wir sind und bleiben dessen größ-ter westlicher Partner.Wir müssen auch darauf achten, dass unsere Außen-politik nicht durch Empfindungen und Gefühle geleitetwird, so schwierig das manchmal ist. Wir tun das an an-derer Stelle auch nicht, zum Beispiel gegenüber China,wo die Menschenrechtslage noch schwieriger ist als inRussland.Zweitens. Wir müssen leider von unserer Konver-genzvermutung, also von unserer Sicht der Dinge, dassandere Staaten so werden wie wir, wenn wir nur langegenug mit ihnen zusammenarbeiten, Abschied nehmen.Wir haben keinen Hebel zur Durchsetzung unsererWerte. Wir müssen aufpassen, dass unsere Verstörungüber die Zustände in Russland nicht auf die Außenpolitikdurchschlägt. Die Akzeptanz unserer Werte durch anderedarf nicht Bedingung für unsere Außenpolitik sein. Andieser Erkenntnis kommen wir leider nicht vorbei; sonstkönnen wir zwei Drittel der Staaten dieser Welt nichtmehr besuchen oder mit ihnen den Kontakt aufrechter-halten.Wir haben sehr oft über den Begriff der „wertebezo-genen Außenpolitik“ gesprochen. Aber damit geratenwir – wir sehen das in der Ukraine, in Belarus und inRussland – leider zu oft auf Traumpfade statt auf Wege,die in die Zukunft führen. Wir werden von außen leiderwenig verändern. Wo das versucht wurde, ist es meistensfurchtbar schiefgegangen: in Libyen, Irak, Syrien undanderswo. Viele Probleme, die wir jetzt haben, sind ausder Vorstellung entstanden, wir könnten einen RegimeChange bewirken.Die russische Innen- und Außenpolitik ist nicht mitden Anforderungen des 21. Jahrhunderts kompatibel.Man glaubt in Russland offenbar, einen äußeren und in-neren Feind zu brauchen. Das ist – das sage ich ganzdeutlich – kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwä-che.Gestern hat der russische Finanzminister, HerrSiluanow, die Haushaltsplanung für die nächsten dreiJahre vorgestellt. Ich empfehle sehr, sich das anzugu-cken. Er höchstpersönlich, nicht etwa die CIA oder je-mand anderes, erklärt, dem Staat gehe das Geld aus; siemüssten das Haushaltsbudget kürzen und nicht nur dieRüstungsausgaben senken, sondern auch Renten und So-zialleistungen kürzen. Die Wirtschaft schrumpft diesesJahr um 3 Prozent. Die Inflationsrate beträgt 16 Prozent,und es gibt, so der russische Finanzminister, einen Kapi-talabfluss von 30 Milliarden Dollar im ersten Quartaldieses Jahres. Bezogen auf das ganze Jahr rechnet er mit90 Milliarden bis 100 Milliarden Dollar. Das kennzeich-net exakt den Schwächezustand, in dem sich Russlandbefindet und der nur zu einem kleinen Teil durch Sank-tionen verursacht wurde.Das moralische Koordinatensystem in Russland istdurcheinandergeraten. Vor allem das steht der dringendnotwendigen Modernisierung Russlands entgegen, ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8561
Karl-Georg Wellmann
(C)
(B)
aber mit Mitteln unserer Außenpolitik nicht zu ändern.Ich habe keine Sorgen: Die westliche Wirtschaftskraftund Innovationskraft sind denjenigen Russlands haus-hoch überlegen. Wir müssen uns darüber keine Sorgenmachen, sondern nur auf die veränderte Lage reagieren.Wenn man auf russischer Seite glaubt, ökonomischeSchwäche durch militärische Kraftmeierei kompensierenzu können, so müssen wir uns auch sicherheitspolitischdarauf einstellen, und ich habe den Eindruck, dass wirdas tun.Der Vorrang der Diplomatie in der Außenpolitik gibtuns im Verhältnis zu Russland vor, erstens die Lage re-alistisch zu beurteilen und die notwendigen Schlüsse zuziehen und zweitens Russland weiter das Angebot einerZusammenarbeit zu machen, sofern selbstverständlichdie Regeln der europäischen Nachkriegsordnung einge-halten werden. Dies tut die Bundesregierung offensicht-lich, auch wenn das Gedränge auf der Regierungsbankim Moment nicht gerade furchterregend ist.
Wir werden deshalb die aktuelle Krise gemeinsam mitunseren Freunden und Verbündeten bestehen. Daranhabe ich keinen Zweifel.Danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Stefan Liebich, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Un-sere Reden klingen heute sehr ähnlich, und in einer sol-chen Debatte muss das nichts Schlechtes sein. Wenn Au-ßenminister Steinmeier und auch viele andere sagen,dass das Wichtigste ist, dass die Urheber dieses Verbre-chens gefunden und in einem transparenten und rechts-staatlichen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werdenmüssen, dann benennen sie das, was jetzt notwendig ist.Trotzdem klingt hier bei vielen Rednern ein gewisserZweifel an. Herr Jung hat das angesprochen, auch FrauBeck hat das angesprochen. Die Liste derjenigen, die ihrLeben in Russland bereits verloren haben, ist genanntworden. Man muss natürlich besorgt sein, ob die Aufklä-rung dieses Mordes gelingt. Nur dadurch wird es mög-lich sein, den jeweiligen Mutmaßungen, die es jetzt aufallen Seiten gibt, etwas entgegenzusetzen.Auch ich möchte, wie Herr Erler es am Beginn seinerRede gemacht hat, darüber sprechen, wie sich das Klimain Russland entwickelt hat. Ich denke, das gehört zu die-sem Thema; denn das raue Klima in Russland in diesenTagen ist der Nährboden, auf dem diese Gewalt entsteht.Ich möchte jemanden zitieren, der Russland und Moskaudeutlich besser kennt als ich: Wladimir Kaminer hat die-ser Tage im ZDF ein Interview gegeben, das sehr deut-lich war. Sie kennen Wladimir Kaminer: in Moskau ge-boren, in Berlin Erfinder der „Russendisko“.Er sagte: Menschen sterben. Zuerst wurde in derUkraine scharf geschossen, und Tausende Russen undTausende Ukrainer haben dort ihr Leben gelassen, undjetzt wird auch vor dem Kreml scharf geschossen. DieMacht der vom Staat gelenkten Medien trägt ganz sicherdaran Schuld. Beinahe jede Woche, jeden Tag wird diepolitische Opposition diffamiert. Sie haben jede ver-nünftige Kritik an der Politik der Regierung gleich alsHeimatverrat abgestempelt und haben diese Menschenals fünfte Kolonne und als amerikanische Spione ge-schmäht. Durch diese Propaganda, durch diese unsägli-che Propaganda, die alles Böse in den Menschen hervor-gerufen hat, Homophobie, Fremdenfeindlichkeit, dieseHetze gegen westliche Werte, drehen viele Menschendurch. – So hat Kaminer es beschrieben.
Ja, es ist schrecklich, dass so ein Klima in Russlandentstanden ist, und das hat Konsequenzen. LewSchlossberg, der Verleger der Zeitung PskovskayaGuberniya, wurde am 29. August letzten Jahres kranken-hausreif geprügelt. Die drei Angreifer wurden nichtidentifiziert. Elena Klimowa, die Gründerin des Online-portals Children 404, das sich um lesbische, schwuleund Transgender-Jugendliche kümmert, wurde wegen„Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Bezie-hungen“ angeklagt. Auch Folter ist ein Thema in Russ-land. Im aktuellen Jahresbericht von Amnesty Interna-tional heißt es zu Russland:Nach wie vor wurden Menschen gefoltert und miss-handelt, ohne dass die Täter mit Bestrafung rechnenmussten.Folter, deren Straflosigkeit, Einschränkung der Mei-nungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Hass-propaganda gegen Andersdenkende und Minderheiten –das gibt es nicht nur in Russland, aber das gibt es auchdort. Wir messen nicht mit zweierlei Maß. Wir kritisie-ren das, wo immer es geschieht.
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, es istrichtig, Kritik zu üben, und es ist notwendig, Kritik zuüben, aber – da möchte ich an Herrn Wellmann anknüp-fen – wir werden Nachbarn bleiben, wer immer dort oderhier gerade regiert. Wir müssen einen Weg finden, mitei-nander umzugehen, auch wenn es manchmal nicht leichtist. Da erscheint es mir notwendig, dass Gesprächska-näle genutzt und nicht geschlossen werden. Es ist einFehler aus meiner Sicht, die G-8-Runde in eine G-7-Runde zu verwandeln, es ist ein Fehler aus meiner Sicht,den NATO-Russland-Rat gerade dann zu suspendieren,wenn man ihn am dringendsten braucht.
Metadaten/Kopzeile:
8562 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Stefan Liebich
(C)
(B)
Ich finde es richtig, dass sich die Obleute im Auswär-tigen Ausschuss und der Vorsitzende des AuswärtigenAusschusses entschieden haben, gerade jetzt die Dumaund auch die Rada zu besuchen. Es ist notwendig, weiterim Gespräch zu bleiben.Ich möchte mit einem Punkt schließen, den HerrGehrcke und Frau Beck hier angesprochen haben. Wirkönnen selber etwas tun. Wir sollten endlich die Visa-freiheit einführen. Wir haben das in der letzten Wahl-periode diskutiert, und wir waren schon ziemlich weit.Es geht nicht um ein Lob für Wladimir Putin oder fürseine Regierung. Weltanschauung entsteht dadurch, dassman sich die Welt anschauen kann. Ich denke, wir soll-ten diese Chance den Russinnen und Russen einräumen.
Haben wir keine Angst vor unseren Nachbarn, öffnenwir uns!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Franz Thönnes, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSchüsse auf Boris Nemzow waren ein kaltblütiger undkalkulierter Mord. Dieser Mord macht es schwierig füreine friedliche Entwicklung in Russland, er macht esschwierig für einen gesellschaftlichen Veränderungspro-zess, der notwendig ist, und er macht es auch schwierigfür uns, mit einem Russland umzugehen, in dem ein der-artiges Klima herrscht.Wir denken an Boris Nemzow heute, an seine Fami-lienangehörigen, mit denen wir trauern, und an seinemutigen Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Russland.Unser Mitgefühl ist bei ihnen. Boris Nemzow ist mit sei-nem Tod auch ein Opfer des in den letzten Jahren sichzunehmend verschlechternden Klimas geworden.Die Vorredner haben darauf hingewiesen: wachsenderNationalismus, Wahrheiten, Unwahrheiten, Halbwahr-heiten, Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten undder Medienrechte, die Unterdrückung von zivilgesell-schaftlichen Bewegungen bis hin zu der Notwendigkeit,sich zu einem ausländischen Agenten zu erklären, wennman bürgerrechtlichen Selbstverständlichkeiten nach-kommen will. Hinzu kam der propagandistische und me-diale Aufbau einer Mehrheitsmeinung, die diejenigen,die nur etwas abweichen, die Fragen stellen, die etwasinfrage stellen, die andere Vorschläge haben, am Ende zuStaats- oder Volksfeinden erklärt.Medienberichten nach soll der angesehene ehemaligeMenschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin dazu gesagthaben, der Mord an Boris Nemzow zeige, dass die Ge-sellschaft krank vor Hass sei. Das sind Worte, die ausRussland selbst kommen und den Zustand beschreiben.Ich will mich nicht wie andere auch – es ist gut, dass wirdas nicht machen – an irgendwelchen Spekulationenüber mögliche Täter beteiligen. Die Aufklärung und dieStrafverfolgung liegen bei den verantwortlichen Behör-den in Russland selbst. Ich hoffe, dass die Aufklärungdiesmal konsequenter und ergebnishaltiger erfolgt alsbei den Morden im politischen Bereich, die wir in denvergangenen Jahren erlebt haben.Auch deswegen stellt sich jetzt die Frage, die heute anuns alle gestellt wird: Welche Auswirkungen hat dies aufdie Politik Russlands? Daran knüpft nämlich der Titelunserer heutigen Debatte an. Ich habe hier keine Glasku-gel vor mir. Vielmehr glaube ich, wir müssen bei demVersuch, dies zu beantworten, natürlich auf die Ge-schichte der letzten acht bis zehn Jahre zurückblicken.Aber ich will auch dazu sagen: Keiner von uns, auf bei-den Seiten, kann behaupten, zu jeder Zeit an jedem Tagalles richtig und nichts falsch gemacht zu haben. Umsomehr knüpfe ich an dem an, was jetzt eine gute Grund-lage ist, nämlich am Minsker Abkommen vom 12. Fe-bruar 2015. Dieses Abkommen sollte uns die Möglich-keiten geben, schrittweise in eine friedlichere Zukunft inEuropa zu gehen. Das, was die vier Staatschefs, ausFrankreich, aus der Ukraine, aus Russland und die Bun-deskanzlerin, Frau Dr. Merkel, unterzeichnet haben, isteine gute Grundlage als Ergänzung zu dem Maßnahmen-paket und als Hilfe zu dessen Umsetzung.Weil das die erste Debatte dazu ist, die wir nach dem12. Februar 2015 führen, will ich an dieser Stelle derBundesregierung, der Bundeskanzlerin, dem Bundes-außenminister einen großen Dank sagen für die Beharr-lichkeit der Bemühungen, hier eine neue Vereinbarungzustande zu bringen, die eine gute Grundlage für einefriedlichere Entwicklung bietet.
In dieser Vereinbarung heißt es unter anderem:Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich un-verändert zur Vision eines gemeinsamen humanitä-ren und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik biszum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränk-ten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipiender OSZE.Das ist das, was wir mit russischen Kolleginnen undKollegen diskutieren müssen: Wie soll das ausgefülltwerden? Was bedeutet das konkret für uns? Wie stärkenwir gemeinsam die OSZE? Wie kommen wir gemeinsamdazu, diese Vorstellungen auch umzusetzen? – Das istnicht nur eine Frage von Putin. Dies ist auch eine Fragefür die Parlamentarier, dies ist eine Frage, die ebenso indie Gesellschaften hinein gestellt werden muss.Das bedeutet, neues Vertrauen zu entwickeln, und dasbedeutet, daran zu arbeiten, wie wir es jetzt in der OSZEmachen, wenn wir Ende dieses Monats in der Pfalz mitukrainischen Kollegen, mit russischen Kollegen, mitdeutschen Kollegen, mit französischen Kollegen zusam-menkommen und auch vor dem Hintergrund von Kriegs-erfahrungen diskutieren, wie sich eine friedlichere Zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8563
Franz Thönnes
(B)
kunft entwickeln kann. Vielleicht setzen wir das imHerbst in der deutsch-dänischen Grenzregion fort.Das bedeutet auch, mehr Besuche zu organisieren,mehr Diskussionen mit Parlamentariern durchzuführen.Das bedeutet, gemeinsame Interessen auszuloten, damitwieder Kalkulierbarkeit entsteht, damit man weiß, wasder andere denkt und wie der andere denkt und welcheZukunftsperspektiven man hat und wie Konflikte fried-lich gelöst werden können. Eigentlich sollte das im40. Jahr nach Helsinki eine der Hauptaufgaben sein, diezu erfüllen sind.Die 6 000 deutschen Unternehmen, die gut 1 000deutsch-russischen Schulpartnerschaften, die 90 deutsch-russischen Städtepartnerschaften, die Weiterentwicklungdes Petersburger Dialoges, all das können gute Grundla-gen sein, die auch nicht aufs Spiel gesetzt werden dür-fen. Deswegen bin ich sehr dafür, dass auch die Hinder-nisse ausgeräumt werden. Das ist jetzt keine Idee nurvon den Kolleginnen und Kollegen der Linken oder auchder Grünen. Vielmehr waren wir Außenpolitiker uns allegemeinsam einig; schließlich haben wir schon in denvergangenen Jahren in einer Arbeitsgruppe gemeinsamdafür gearbeitet, dass Visaliberalisierung und Visafrei-heit stattfinden müssen,
damit die Menschen kennenlernen können, wie Gesell-schaften funktionieren, damit man unterschiedlicheWahrheiten und unterschiedliche Sichtweisen kennen-lernt.
Herr Kollege.
Deswegen will ich schließen: –
Gut.
– Der Tod von Boris Nemzow mahnt nicht nur Russ-
land, sondern er mahnt die Verantwortlichen in Russ-
land, dass es Sicherheit in einer Gesellschaft nur geben
kann, wenn ein Klima des guten Umgangs und der Of-
fenheit da ist, wo Regierung und Opposition um den
richtigen Weg streiten, wo sich die Zivilgesellschaft frei
und ohne Angst und ohne Repression bewegen kann und
wo die Menschen ihre Bürgerrechte nutzen können. Da-
ran gilt es zu arbeiten, und darüber gilt es mit russischen
Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv zu diskutieren.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, BorisNemzow, das war heimtückischer Mord. Hier ist jemandumgebracht worden – das lässt uns fassungslos zurück –wegen seines politischen Wirkens, wegen seiner Über-zeugung. Wir wissen nicht, wer dafür verantwortlich ist.Wir sind pessimistisch, ob das aufgeklärt werden wird,aber wir beharren auf der Forderung, dass es eine rück-haltlose und umfassende Aufklärung geben muss.Wir wissen aber auch, in welchem gesellschaftlichenKlima dieses passiert ist. Die Abgrenzung Russlandsnach außen spiegelt sich in einer innergesellschaftlichen– nicht nur innerstaatlichen – Feinderklärung gegen allesAbweichende wider.
Und dann gehört das ganze System dazu: dass die Pres-sefreiheit nicht mehr gewährleistet ist, dass kritischeMedien verstaatlicht, gleichgeschaltet oder so unterDruck gesetzt wurden, dass sie schließen mussten. Dazugehört, dass diejenigen, die bei der dritten Amtseinfüh-rung von Präsident Putin beim „Marsch der Millionen“zu Tausenden auf die Straße gegangen sind – viele vondenen haben bei den ersten beiden Wahlen noch Putingewählt –, massiv kriminalisiert worden sind, wie esAlexej Nawalnyj geschehen ist.Dann fragt man sich, wie es kommen kann, dass esunter solchen Bedingungen nach wie vor so ist, dassPutin, ja, die Zustimmung einer breiten Mehrheit der Be-völkerung – manche sagen: 85 Prozent – hat. Aber es giltder Satz „Propaganda tötet“. Das stand auf einem derPlakate beim Gedenkmarsch am Sonntag. – Das ist derKern des Problems. Boris Nemzow wusste das sehr gut.Er hat gesagt:… die Zensur muss beendet werden, damit dieschreckliche Propaganda aufhört. Die Lügen habender russischen Bevölkerung den Verstand geraubt.
Das war übrigens einer seiner letzten Sätze, nur knappvier Stunden vor seinem Tod.Was heißt das – Sie haben ja recht, Herr Thönnes; wirkönnen nicht in eine Glaskugel gucken, aber wir könnenuns das selber fragen – für eine Politik in Europa, die zuRecht immer wieder betont hat, dass Russland ein Part-ner, kein Gegner ist, die von der Erkenntnis, ich glaube,aller Fraktionen dieses Hauses, ausgeht, dass es Sicher-heit und Frieden in Europa nur mit und nicht gegenRussland geben wird? Ich glaube, es müssen auch Posi-tionen überprüft werden.Manche haben gesagt: Putin, war das nicht ein Fort-schritt gegenüber Jelzin, da er doch das Chaos beendet
Metadaten/Kopzeile:
8564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Jürgen Trittin
(C)
(B)
hat? Ja, er hat das Chaos beendet; nur: Wenn man dieBandenkriege der Oligarchen durch eine Tyrannei unddie umfassende Macht des Geheimdienstes beendet,
dann herrscht noch keine Ordnung.
Ordnung herrscht erst auf der Basis des Rechts.Es hat diejenigen gegeben, die gesagt haben: Manmuss Russland wirtschaftlich öffnen, und dann entstehtso etwas wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Dieser Mechanismus ist in Russland widerlegt worden.Die politische Legitimation hat sich abgelöst vom wirt-schaftlichen Wohlergehen.
Ich glaube, das zeigt uns: Wir müssen uns in unsererPolitik gegenüber Russland auch ein Stück überprüfen.
Das heißt nicht, dass man alles glauben muss, was vonRussland kommt: die Märchen von der Einkreisung, das„sie“ und „wir“, mit dem Putin sich rechtfertigt. Es istnicht wahr, dass es ein böser Akt der Aggression gewe-sen ist, dass die baltischen Staaten der NATO beigetretensind. Vielmehr ist dies mit Zustimmung Russlands, derhöchstpersönlichen Zustimmung Wladimir Putins, undzusammen mit der Einrichtung des NATO-Russland-Ra-tes geschehen.
Ich sage auch – da mag ich mich von manchen Stim-men jenseits des Atlantiks unterscheiden – sehr deutlich:Wir haben kein Interesse an einem wirtschaftlich ruinier-ten Russland. Ein „wirtschaftliches Wettrüsten“ liegtnicht in unserem Interesse. 145 Millionen Russen, diesich von Europa ausgegrenzt und abgegrenzt fühlen –das kann nicht in unserem Interesse sein.
Deswegen gilt für uns: Ja, machen wir die Tore auf, ste-hen wir nicht nur zu Minsk 2, sondern reißen wir endlichdie bisher praktizierte Form der Visapolitik ein, öffnenwir uns den russischen Bürgerinnen und Bürgern, schaf-fen wir Luft unter der Miefglocke, unter dieser Beton-decke der Propaganda, die über Russland gelegt wordenist!
Ich will ausdrücklich sagen: Ich halte den Vorschlagder Bundeskanzlerin, des Bundesaußenministers und desBundeswirtschaftsministers für richtig, so etwas wieeine Freihandelszone zu schaffen. Ich finde es fahrlässig,wenn in der Europäischen Kommission versucht wird,die Frage des Handels aus dem Zusammenhang der As-soziierung mit der Ukraine herauszunehmen. Das ist dasfalsche politische Signal.Aber ich füge hinzu: Freihandel wird es nachhaltigund dauerhaft nur dort geben, wo die Herrschaft desRechts gilt. Das gilt nicht automatisch. Wir müssen offensein gegenüber den russischen Bürgerinnen und Bür-gern, aber auch fest auf der Grundlage des Rechts undder Menschenrechte stehen. So geht Europa.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Tod vonBoris Nemzow ist der Opposition in Russland – insbe-sondere der außerparlamentarischen Opposition – eineIdentifikationsfigur genommen worden. Der russischenBevölkerung ist Hoffnung genommen worden – Hoff-nung auf die Aussicht, sich zivilgesellschaftlich in derOpposition für ein besseres Russland engagieren zu kön-nen.Er war kein Angehöriger der Nomenklatura, sondernjemand, der sich, ausgehend von Tschernobyl 1986, umMissstände in Russland gekümmert hat. Ihm lag Korrup-tionsbekämpfung und Bekämpfung von Machtmiss-brauch von Anfang an am Herzen. Nun ist er der vorläu-fig letzte politisch Ermordete in einer langen Kette.Namen wurden genannt; ich erwähne nur: Politkowskajaund Magnitskij. Er war jemand, der sich im Bewusstseinengagiert hat, Risiko auf sich nehmen zu müssen und– auch wider Willen – Identifikationsfigur zu sein.Wir haben heute geradezu fraktionsübergreifend einSignal nach Russland gesendet. Am 25. September 2001hat Putin von dieser Stelle aus die gemeinsame europäi-sche Kultur beschworen. Er hat seinerzeit – sicherlichnoch unter dem Eindruck des 11. September – Sicher-heitsherausforderungen angesprochen. Auch im Jahr2007, wo er in München sprach, deutete er an, dass erFelder der Zusammenarbeit sieht. Er hat sich von demseinerzeit von Gorbatschow vorgeschlagenen „gemein-samen Haus Europa“ nicht nur verabschiedet, sonderndie russische Gesellschaft von den europäischen Wertender Toleranz, der Meinungsvielfalt und vor allen Dingender Rechtsstaatlichkeit abgegrenzt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir zeigenheute in Richtung Russland, dass wir noch Hoffnung fürdie russische Zivilgesellschaft sehen, dass wir nicht wol-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8565
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
len, dass Russland in eine Diktatur der Dunkelheit undder Unterdrückung zurückfällt.Die russische Außenpolitik läuft Gefahr, sich nochmehr zu isolieren. Der Mord hat gezeigt, dass das Ge-waltmonopol – wer auch immer dafür verantwortlichist – offensichtlich nicht in den Händen des Rechtsstaa-tes liegt, sondern dass der russische Staat durch dasKlima der Unterdrückung, das er geschaffen hat, zuge-lassen hat, dass so etwas passieren konnte.Ich beteilige mich nicht an Verschwörungstheorien.Wir müssen aber Antworten finden, Antworten, mit de-nen wir uns nicht auf das Niveau der gegenwärtigen rus-sischen Politik begeben. Diese Antworten müssen – ichsage das ganz bewusst – asymmetrisch sein. Unser Au-ßenminister und unsere Bundeskanzlerin haben bereitsAntworten gegeben, die deutlich machen, dass wir aufVerhandlungen setzen und dass wir gegenüber Russlandklarmachen: Es geht darum, Rechtsstaatlichkeit undMenschenwürde durchzusetzen. Vielleicht müssen wirmit Blick auf den Europarat andere Antworten geben alsin den letzten Monaten: Möglicherweise muss manRussland dort Sitz und Stimme wiedergeben und es zurVerantwortung ziehen. Möglicherweise muss man denEuroparat beauftragen, entsprechende Untersuchungendurchzuführen, und auch den europäischen Menschen-gerichtshof einbeziehen.Es ist heute mehrfach das Thema der Visaliberalisie-rung angesprochen worden. Das ist kein Wert an sich.Aber: Was wirkt denn mehr, als wenn junge russischeMenschen, Wissenschaftler, junge Familien, die Chancehaben, für einige Wochen Mitteleuropa kennenzulernen,zu spüren, was es heißt, in einer Stadt wie Berlin, Mün-chen oder Paris Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Viel-falt zu erleben und kein Klima der Unterdrückung? Esstimmt mich auch sehr nachdenklich, wenn in einerStadt mit 12 Millionen Einwohnern aus Anlass der Er-mordung Nemzows gerade einmal 50 000 Menschen aufdie Straße gehen, während in Paris, das deutlich kleinerist, 2 Millionen Menschen gegen die Anschläge gegenCharlie Hebdo und jüdische Einrichtungen demonstrie-ren.Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Ant-wort kann nur heißen: Fortsetzung der Verhandlungen,Verschärfung der Sanktionen, Aufklärung des Verbre-chens, Stärkung der russischen Zivilgesellschaft und– mit Blick auf unsere eigene Gesellschaft – uns aufzu-stellen gegen die Desinformation und Propaganda Russ-lands, die nicht Meinungsvielfalt ist, sondern die Verhin-derung von Meinungsvielfalt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sieuns den Weg, den die Bundeskanzlerin und Außenminis-ter Steinmeier mit dem Minsker Abkommen eingeschla-gen haben, fortsetzen. Das Minsker Abkommen mussumgesetzt werden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein cha-rismatischer, ein glaubwürdiger Oppositionsführer istam vergangenen Freitag in Moskau in Sichtweite desKremls ermordet worden. Boris Nemzows gewaltsamerTod ruft allen, die an den Geschehnissen in Russlandund der Entwicklung des Landes Anteil nehmen, die an-deren in Erinnerung, die unter nie befriedigend geklärtenUmständen dort und im Ausland zu Tode gekommensind und die durch ihre oppositionelle Haltung gegen-über der Staatsmacht miteinander verbunden waren. Eswar deswegen gut und richtig, dass mehrere Kollegenheute – Frau Beck, Herr Jung, Herr Kiesewetter – anPersönlichkeiten wie Anna Politkowskaja und NataljaEstemirowa erinnert haben.Die starke öffentliche Reaktion in Russland selbst– die Menschen in Moskau sprechen davon, dass weitmehr als die offiziell geschätzten 20 000 an dem Trauer-zug für Nemzow teilgenommen haben – und die Re-aktionen von Präsident Putin und MinisterpräsidentMedwedew zeigen, dass der Tod Nemzows ein Ereignisvon besonderer Bedeutung ist. Theorien über die Urhe-ber und die Nutznießer kursieren reichlich, die einen mitder Tendenz, die Staatsmacht, ihre selbsternannten Hel-fershelfer und letztlich Präsident Putin für Nemzows Todverantwortlich zu machen. Andere tragen Entlastungsan-griffe, Gegenangriffe vor. Es hat überhaupt keinen Sinn,dass wir uns an solchen Mutmaßungen beteiligen.Für uns ist doch wichtig, zu prüfen und darüber nach-zudenken, was gerade diesen Mord zu diesem Zeitpunktso bedeutungsvoll erscheinen lässt. Uns allen ist dochklar – das zeigt auch das von Herrn Liebich angeführteZitat von Kaminer –, dass der Ukraine-Konflikt denRahmen dafür abgibt. Es ist dieser Konflikt, dem Präsi-dent Putin seinen zurzeit großen Rückhalt in der russi-schen Bevölkerung verdankt. Und es ist dieser Konflikt,weswegen Nemzow den Präsidenten immer wieder mitscharfen Worten angegriffen hat. Er war einer der weni-gen, die das wagten. Schon dieser Umstand genügt, umdie Trauer um Nemzow auch mit Wut und Misstrauenaufzuladen.Stark muss der Mord an Nemzow aber auch auf dieje-nigen wirken, die von außen auf Russland schauen unddenen sich seit Beginn des Ukraine-Konflikts der er-schreckende Eindruck vermittelt, dass dieser großeNachbar unberechenbar geworden ist. Dies sind außerder Ukraine selbst vor allem die baltischen Staaten, be-sonders Estland und Lettland. Diese kleinen Länder, dieseit den livländischen Kriegen im 16. Jahrhundert alsRusslands Tor zur Ostsee zum Imperium gehörten, kön-nen ja gar nicht anders, als die Geschehnisse in derUkraine auch als unmittelbare Bedrohung für ihre jungeUnabhängigkeit aufzufassen. In beiden Ländern gibt esnennenswerte russischsprachige Minderheiten, die als
Metadaten/Kopzeile:
8566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Dr. Fritz Felgentreu
(C)
(B)
Vorwand für eine hybride Kriegsführung nach dem Vor-bild der Besetzung der Krim herhalten könnten. JedesSignal der Instabilität aus Moskau wird hier aufmerksamregistriert, immer verbunden mit der Frage, ob irgend-wann der Punkt erreicht ist, an dem sie zur Zielscheibeeiner Regierung werden, die mit einem auswärtigenKonflikt ihre inneren Probleme zuzudecken versucht.Diese Sorge motiviert unterschwellig die Außen- undBündnispolitik im Baltikum seit seiner Unabhängigkeit.Hier liegt doch der Grund für das Streben in die NATO,das zugleich von russischer Seite als schlagender Belegfür deren Einkreisungstheorie angeführt wird.Hier liegt auch der Grund, warum Estland vor achtTagen seine Unabhängigkeit mit einer Militärparade aus-gerechnet in der russischsprachigen Grenzstadt Narvagefeiert und dazu auch britische und amerikanische Sol-daten eingeladen hat.
Es ging darum, sich selbst, der eigenen Bevölkerung undnatürlich auch dem potenziellen Gefährder, HerrGehrcke, zu signalisieren, dass Estland im Notfall ebennicht alleine dastünde. Am folgenden Tag, heute vor ei-ner Woche, antwortete Russland dann auf diese NATO-Parade zum estnischen Nationalfeiertag mit grenznahenManövern.Heute treffen sich in Riga die Außen- und Verteidi-gungsexperten der europäischen Parlamente und unterstrei-chen so auf Einladung der lettischen Ratspräsidentschaftdie Solidarität der EU mit den baltischen Mitgliedstaa-ten. Mitten in diesem sensiblen Umfeld erreicht uns dieNachricht vom Mord an Boris Nemzow.Meine Damen und Herren, in einer solchen Zeit, inder das scheinbar Festgefügte bedrohlich zu wanken be-ginnt, ist es an uns, durch eine Politik der Verlässlichkeitunseren Verbündeten Rückhalt zu geben. Mit Sanktionenreagiert Europa auf die Verletzungen der völkerrechtli-chen Sicherheitsgarantien für die Ukraine und auf dieVerletzung der KSZE-Schlussakte, und die NATO hatden Aufbau einer Eingreiftruppe beschlossen, die in derLage sein wird, sehr schnell auf jede Bedrohung in Ost-europa zu reagieren. Beides ist richtig. Wir zeigen damit,dass wir Unrecht nicht hinnehmen, uns selbst aber an dasgebunden fühlen, was die NATO mit Russland verein-bart hat. Ob es ausreicht, muss die Zukunft zeigen.Die EU wird immer bestrebt sein, Russland für eineeuropäische Friedensordnung zurückzugewinnen.Europa braucht ein nach innen wie nach außen stabiles,in sich ruhendes Russland als zuverlässigen Partner.Aber die Ermordung des bedeutenden Oppositionsfüh-rers Nemzow trägt nicht dazu bei, Vertrauen in den russi-schen Staat und seine Führung wiederaufzubauen. Wirwollen uns deshalb umso mehr wünschen, dass dieserStaat die Kraft findet, das Verbrechen vollständig aufzu-klären.Dem Toten selbst, der eine in vielfältiger Hinsicht be-eindruckende Persönlichkeit war, sei aus dem DeutschenBundestag mit Worten Puschkins für seine Lebensleis-tung gedankt. Boris Nemzow hat „in grausamer Zeit dieFreiheit gepriesen“ – „w swoj schestokij wek on wosslawilswobodu“ –, und er hat dafür mit seinem Leben bezahlt.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Der Name Boris Nemzow reiht sich in einelange Liste von motivierten und engagierten Politikern,Journalisten und Bürgerrechtlern ein. Ich halte es fürrichtig und angemessen, ihre Namen immer wieder, auchin dieser Aktuellen Stunde, zu wiederholen, um ihrer zugedenken: Sergej Juschenko, Paul Klebnikov, AleksandrLitwinenko, Anna Politkowskaja, Stanislaw Markelow,Natalja Estemirowa. Sie alle mussten für ihre kritischenWorte mit ihrem Leben bezahlen.Kurz vor seinem Tod gab Nemzow dem RadiosenderMoskauer Echo sein letztes Interview. Darin übte erscharfe Kritik am Kreml. Er verurteilte die Annexion derKrim als Verletzung des Völkerrechts, die Sanktionen,denen Russland ausgesetzt ist, und die damit verbundeneKapitalflucht – all das wegen Putins unsinniger Aggres-sion gegen die Ukraine, so Nemzow. Redefreiheit, Ge-dankenfreiheit, Versammlungsfreiheit – für diese Frei-heitsrechte musste er sterben.Der Mord an Nemzow beleuchtet schonungslos denaktuellen Zustand Russlands. Die russische Gesellschaftist tief gespalten. Es gibt eine winzige Minderheit, dieauf hemmungslose Weise ihren Reichtum demonstriert,und demgegenüber eine überwältigende Mehrheit derrussischen Bevölkerung, die in trostloser Armut lebt.Doch jegliche Diskussion darüber, jegliche Kritik wirdim Keim erstickt. Durch die Kriminalisierung der Oppo-sition bei gleichzeitiger Stärkung nationalistischerKräfte entsteht ein aggressives Klima von Hass und Hys-terie. Der Kollege Vaatz wies mich gerade auf ein Zitatdes Vizedekans der Moskauer Hochschule hin. Diesersagte zum Tod von Nemzow allen Ernstes: „Ein Mist-stück weniger“, meine verehrten Kolleginnen und Kolle-gen. So viel, um Ihnen ein Bild zu geben von dem Hassund der Hysterie in diesem Russland von heute. Wiekann ein Dekan einer Hochschule so etwas sagen?Das ist der Nährboden, auf dem politischer Mord ge-deiht. Wer immer diesen Mord begangen haben mag:Die politische Verantwortung für dieses Klima trägt dasherrschende Regime im Kreml. Dabei darf nicht überse-hen werden, dass die gewaltige staatliche Propaganda-maschinerie in der Bevölkerung durchaus Wirkungzeigt. Die klassische Rhetorik vom Freund-Feind-Den-ken mündet in einer Selbstisolation Russlands, in einerAbschottungspolitik, weil man sich von ausländischenFeinden bedroht fühlt. Der erfolgreiche Kampf gegen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015 8567
Dr. Hans-Peter Uhl
(C)
(B)
die vorgegebene Dekadenz des Westens mit den damitverbundenen Wertvorstellungen kann allein durch dasrussische Volk geführt werden; das ist der Gegenstandder Propaganda. Es heißt, der russische Bär werde vonallen bedroht und von den Truppen der NATO einge-kreist. „Die ganze Welt hat sich gegen unser Russlandverschworen“, so wird dort geredet.Jeder vernünftige Mensch erkennt das Zerrbild derWirklichkeit. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig– mehrere Redner, und zwar parteiübergreifend, habendies zu Recht gefordert, und das ist auch gut so –, als denDialog mit Russland zu suchen, den Dialog mit denHerrschenden, aber besser noch: den Dialog mit den Be-herrschten, mit der Zivilgesellschaft. Das müssten wirtun.
Dabei kommt der Reform des Petersburger Dialogs eineentscheidende Bedeutung zu.
Das ist das Format – das ist von einigen zu Recht gesagtworden –, das wir jetzt für eine konstruktive Verständi-gung brauchen.Deutschland hat ein Interesse an einem gesundenRussland. Deutschland hat ein Interesse an einem Russ-land in Frieden und Freiheit in einem zusammenwach-senden Europa; alles andere wäre töricht. Hoffnung undMut, immer neue Anläufe zu wagen, gibt der Protest-marsch Zehntausender von Bürgern am letzten Sonntagin Moskau. Wir sollten nicht beklagen, dass es nur we-nige Zehntausend waren. Bei diesem Klima von Hassund Hysterie ist das kein Wunder. Wir sollten froh sein,dass es so viele waren, die den Mut und die Zivilcourageaufgebracht haben, auf die Straße zu gehen. Diese Men-schen mit ihren Fahnen, die Patrioten Russlands dürfenwir in Europa nicht enttäuschen.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Seit etwa 17, 18 Jahren reise ich regelmä-ßig in unterschiedlichster Funktion – auch privat – nachRussland. In diesen Tagen muss ich oft an eine Begeg-nung aus dem Jahre 1998 denken: In einer Kellerwoh-nung in Moskau hatte sich eine Gruppe aus der RegionTrier/Luxemburg spontan mit der Touristenführerin ge-troffen, die uns vorher die Stadt nahegebracht hat. Ich er-innere mich daran, mit welcher Begeisterung diese jungeFrau davon sprach, in ihrem Land endlich wieder frei re-den zu können. Sie hielt 1998 förmlich eine politischeRede. Vor allen Dingen war sie davon überzeugt – dassagte sie damals –, dass dies Russland auch nie wiederzu nehmen sei. Unsere Touristenführerin hat sich aller-dings gewaltig getäuscht, und ich gebe zu, ich auch.Der hinterhältige politische Mord an Boris Nemzowführt der Welt erneut vor Augen, in welchem innenpoliti-schen Klima sich Russland wieder befindet. Mehr dennje drohen gesellschaftliche Spaltungen, Ausgrenzungenund Repressalien für alle diejenigen, die dem Haupt-strom jetzt nicht mehr folgen. So viele Nachrichten, dieuns aus Russland erreichen, sind schlichtweg bedrü-ckend, vor allen Dingen für die Menschen, die eine engeBeziehung zu diesem Land haben. Wir empfinden es alsbedrückend, was wir dort hören. Wir ringen in Europamit der unberechenbar gewordenen Außenpolitik Putins.Doch auch im Innern hat sich vieles verändert: rück-wärts und nicht zum Guten gewandt. Viele Menschen inRussland leiden unter dieser Politik des letzten Jahrhun-derts. Russland ist wieder an einem Punkt angekommen,an dem es eben gefährlich ist, im Land frei zu reden.Trotz des wachsenden nationalen Stolzes, den man vorOrt in Russland jetzt tatsächlich erleben kann, bin ichdavon überzeugt, dass die Kreml-Spitze kein Spiegelbildder russischen Gesellschaft ist. Die russische Gesell-schaft war schon seit langem und ist auch heute weiterals die Kreml-Spitze und ihr Präsident. Man muss nurmit Studenten, mit der Wirtschaft, mit NGOs, mit denen,die Zusammenarbeit miteinander pflegen, sprechen.Im Umgang mit Russland bleiben nur Gespräche undDiplomatie. Gestern und heute sind Kollegen der russi-schen Duma bei uns im Bundestag zu Gast gewesen. Wirhalten diesen Kontakt auch vor Ort in Russland. Wir su-chen den Dialog mit Gesprächspartnern, mit unserenKollegen in der Duma, aber auch außerhalb der Dumamit der Opposition, mit NGOs. Diese Gespräche undKontakte mit der Opposition, mit kritischen Medien undGesellschaftsgruppen werden wir unbeirrt fortsetzen.Bei allen Schwierigkeiten, die dabei oft entstehen, undgerade in einem Klima der wachsenden Angst müssenwir alle diejenigen stärken, die weiterhin in Russland fürFreiheit und Demokratie eintreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor zwei Jahren wa-ren wir bereits alarmiert, als die Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung – imVisier war auch das Goethe-Institut – durchsucht undUnterlagen und Computer beschlagnahmt wurden. Zugenau diesem Zeitpunkt war ich damals in Moskau. Ichhabe erlebt, dass es meinen Gesprächspartnern aus derWirtschaft, aus der kommunalen Administration und vonNGOs schlichtweg peinlich war, was sich damals dortabgespielt hat.Aktuell sind wir erneut mit einem solchen Fall kon-frontiert. Einem Vertreter einer unserer politischen Stif-tungen soll die Arbeit in Russland unmöglich gemacht
Metadaten/Kopzeile:
8568 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. März 2015
Bernhard Kaster
(C)
werden. Mit Thomas Schneider von der Konrad-Adenauer-Stiftung hat Russland diesmal ausgerechnetden Leiter eines Projektes, das die Förderung des Dia-logs zwischen der Europäischen Union und Russlandzum Ziel hat, mit einem Einreiseverbot für viele Jahrebelegt. Dieses Projekt wendet sich vor allem dem Ju-gendaustausch zu. Das ist ein ganz fatales Signal. Das istein Schlag ins Gesicht aller, die sich abseits der großenpolitischen Differenzen um ein friedliches Miteinanderder Völker bemühen.
Gerade in Anbetracht dieser großen Differenzen aufpolitischer Ebene gewinnt der Austausch im Bereich derZivilgesellschaft an Bedeutung. Viele Kolleginnen undKollegen haben das in der heutigen Debatte gesagt. Siehaben den Jugendaustausch, die Zusammenarbeit derUniversitäten, die Städtepartnerschaften, all das, was wirda haben, angesprochen. In diesem Bereich gibt es ange-sichts der derzeitigen Situation aber viel Verunsiche-rung. Diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren,müssen wir ermutigen und stärken, weil gerade dieserAustausch in dieser Zeit so wichtig ist.Der brutale Mord an Boris Nemzow muss aufgeklärtwerden. Wir müssen den Dialog mit all denjenigen stär-ken, die nach wie vor mutig für Demokratie, Freiheit undVölkerverständigung eintreten und für die es jetzt so vielschwerer geworden ist.Vielen Dank.
Wir sind am Ende der Aktuellen Stunde, aber erst am
Anfang der Klärung grundlegender Fragen, die die Red-
nerinnen und Redner heute, wie ich finde, in sehr ein-
dringlicher und nachdrücklicher Weise angesprochen ha-
ben.
Ich denke, die Aktuelle Stunde, wie wir sie heute durch-
geführt haben, tut dem Deutschen Bundestag sehr gut.
Ich möchte für uns sagen: Der Deutsche Bundestag wird
die Aufklärung dieses Verbrechens, des Mordes an Boris
Nemzow, mit wachen Augen weiterverfolgen. – Danke.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 5. März 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.