Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sieherzlich zu unserer 80. Plenarsitzung und rufe gleich dieTagesordnungspunkte 18 a bis 18 d auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungNationaler Bildungsbericht – Bildung inDeutschland 2014undStellungnahme der BundesregierungDrucksache 18/2990Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDBildung in Deutschland gemeinsam voran-bringen, Lehren aus dem Nationalen Bil-dungsbericht 2014 ziehen, Chancen der In-klusion nutzenDrucksache 18/3546Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten ÖzcanMutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBildung schafft Teilhabe und Chancengleich-heit – Empfehlungen des Nationalen Bil-dungsberichts 2014 zügig umsetzenDrucksache 18/3412Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, SabineZimmermann , weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEBildungsverantwortung gemeinsam wahrneh-men – Konsequenzen aus dem Bildungs-bericht ziehenDrucksache 18/3728Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt esoffenkundig keinen Dissens. Dann können wir so ver-fahren.
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7620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Frau Professor Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Deutschland ist mittlerweile einLand, in dem Bildung großgeschrieben wird. Deutsch-land ist eine Bildungsrepublik. Die massiven Investitio-nen der letzten Jahre, sowohl an Geld als auch an Ideen,in den Bereich der Bildung haben sich ausgezahlt. Dasist kein Verdienst, mit dem wir uns allein schmückenkönnen, sondern das ist eine gemeinsame Anstrengungdes Bundes, der Länder, der Kommunen, der Sozialpart-ner, aber vor allen Dingen der Lehrerinnen und Lehrerund der Erzieherinnen und Erzieher, die hervorragendeArbeit leisten.
Wenn man sich den Bericht anschaut, dann erkenntman die zeitliche Entwicklung. Das Entscheidende andem Bericht ist ja, dass seit 2006 Daten zu denselben In-dikatoren erhoben werden. Damit gibt es in Deutschlandendlich einmal eine Längsschnittbetrachtung, also eineDarstellung der Entwicklung im Zeitverlauf. Dieser Bil-dungsbericht zeigt die positive Entwicklung auf. Wennich in die Anträge schaue, dann stelle ich fest, dass diegrüne Fraktion sagt: „Ja, positive Entwicklung, aber zugering und zu langsam“, und die linke Fraktion sagt: Nurleichte Fortschritte erkennbar. – Nein, meine Damen undHerren, es sind große Steigerungen erkennbar.Ich will einmal einige wenige Punkte herausgreifen.Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die dieSchule ohne Hauptschulabschluss verlassen, lag einmalbei 8 oder 9 Prozent. Ich erinnere mich noch, dass dieserAnteil ursprünglich sogar bei 12 Prozent lag. Jetzt liegter bei 5,9 Prozent. Diese Zahl umfasst auch diejenigen,die eine Förderschule besuchen, was nicht als Abschlussgerechnet wird. Natürlich wollen wir eine weitere Sen-kung, aber hinter dem jetzt erreichten Ergebnis stecktbereits eine enorme Anstrengung.Nehmen wir den Übergangsbereich: Jahrelang hattenwir – Sie hier im Bundestag; wir in allen Landtagen –darüber diskutiert, dass sich immer mehr junge Men-schen in diesem Übergangsbereich, also in Warteschlei-fen, befinden. Zum ersten Mal in den letzten Jahren hatsich die Zahl der jungen Menschen in diesem Über-gangsbereich verringert. 2013 – das steht in diesem Be-richt – wurde ein absoluter Tiefstand erreicht. Trotzdemmuss noch viel getan werden; das ist völlig unstrittig.Auch über die Studienanfängerquote wird viel disku-tiert. Sie liegt bei über 50 Prozent, wobei – kleiner Ne-bensatz – bei dieser Studienanfängerquote auch alle aus-ländischen Studierenden erfasst werden. Es sind alsonicht über 50 Prozent eines Altersjahrgangs, die hier le-ben und die ein Studium beginnen, sondern es werdenauch alle ausländischen Studierenden hinzugerechnet.Im Moment gibt es einen riesigen Run aus dem Ausland.Wir sind in einer Spitzenposition, was die Zahl ausländi-scher Studierender betrifft. Was mich besonders freut,ist, dass wir auch in den MINT-Fächern einen Zuwachsan Studierenden zu verzeichnen haben, und da ist einüberproportionaler Zuwachs des Anteils von jungenFrauen festzustellen, vor allem dann – das wundert unsnicht –, wenn es um die Abschlüsse geht.Stichwort Weiterbildungsangebote. Dieser Berichtmacht deutlich: Seit 15 Jahren haben erstmals 49 Pro-zent der 16- bis 64-Jährigen an einer Weiterbildung teil-genommen.Viel diskutiert wurde auch der Rechtsanspruch auf ei-nen Betreuungsplatz für die unter Dreijährigen. Das Fa-zit des Bildungsberichts lautet, dass dieser Rechtsan-spruch umgesetzt wurde und dass ein bedarfsgerechtesAngebot an Betreuungsplätzen vorhanden ist. Wenn ichmir einmal die Studien ansehe, dann bin ich immer wie-der verblüfft, dass in Deutschland 96 Prozent aller Kin-der, die vier Jahre alt sind, in eine Betreuungseinrichtunggehen. Das vermutet man gar nicht; denn im OECD-Durchschnitt sind es 82 Prozent. In diesem Bereich hatDeutschland in den letzten Jahren eine enorme Verände-rung erfahren.Der Bericht zeigt noch etwas anderes sehr deutlich. Indem Bericht steht – das möchte ich zitieren –, dass imZusammenhang mit dem Ausbau „keine Abstriche beider Qualifikation des in Kindestageseinrichtungen täti-gen pädagogischen Personals oder den Personalschlüs-seln erkennbar sind“.Dieser kleine Ausschnitt – wir werden noch andereZahlen hören – zeigt, dass es richtig war, dass sich dieBundeskanzlerin zusammen mit den Ministerpräsidentenauf dem Bildungsgipfel 2008 konkrete Zahlenziele ge-setzt hat, auch wenn das immer ein bisschen gefährlichist. Wir gehen in die richtige Richtung. Auf dem Bil-dungsgipfel wurde vereinbart, dass man die Ziele bis2015 erreichen will. Das heißt, der Bildungsbericht, deruns 2016 vorliegen wird, wird zeigen, ob wir die Zieleerreicht haben und wo wir stehen. Ich glaube, es kommtnicht so sehr darauf an, jedes Ziel zu erreichen. Ichkenne keinen Gipfel, egal zu welchem Thema, auf demso viel geschafft wurde wie im Zusammenhang mit demBildungsgipfel.
Anders als die Grünen das in ihrem Antrag formulie-ren, ist Aufstieg durch Bildung kein „uneingelöstes Ver-sprechen“. Schauen Sie sich einmal an, wo wir hinsicht-lich der sozialen Mobilität im internationalen Vergleichliegen: Im Vergleich mit vergleichbaren Ländern sindwir unter den Besten.Wenn Sie diese Zahlen hören, denken Sie vielleicht,dass wir sehr selbstzufrieden sind. Selbstzufriedenheitwäre falsch, aber ich denke, dass man sich auch in derPolitik einmal freuen kann. Man kann sagen: „Es ist et-was geschafft worden“, ohne dabei zu verkennen, dass
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Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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noch eine Wegstrecke vor uns liegt und noch ganz vielzu tun ist.
Zentrales Anliegen ist natürlich die Verbesserung derBildungschancen und der Teilhabechancen für alle Kin-der und Jugendlichen. Ein guter Start ins Leben ist wich-tig. Dieser Bereich ist aber auch mit Blick auf dasThema Integration außerordentlich wichtig. Wenn mansich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund anschaut, stellt man fest, dass lautPISA-Studien diese Gruppe zwischen 2003 und 2012 ei-nen Kompetenzzuwachs von 24 Punkten verzeichnenkonnte. Kinder und Jugendliche ohne Migrationshinter-grund konnten während desselben Zeitraums einenKompetenzzuwachs von 3,6 Punkten verzeichnen. Dasheißt, dass sich in diesem Bereich Anstrengungen aus-zahlen und die jungen Leute motiviert sind. Wir könnenalso sagen: Die jungen Leute mit Migrationshintergrundholen auf,
auch wenn sie noch nicht das Niveau erreicht haben, daswir uns wünschen. Dass man aufseiten der Linken indiesem Zusammenhang von einer „hohen Ausgrenzungvon Lernenden mit Zuwanderungshintergrund“ spricht,kann ich nicht verstehen; denn dafür gibt es überhauptkeine Belege
in dem dicken Bildungsbericht, im Gegenteil.
Entscheidend ist die Sprachförderung. Diesbezüglichwird in den Ländern viel gemacht. 2013 haben wir dasProgramm BISS, Bildung durch Sprache und Schrift,aufgelegt. Es kommt da darauf an, dass die Millionen,die auch von den Ländern zur Verfügung gestellt wer-den, effektiv eingesetzt werden. Das passiert aber an vie-len Stellen nicht. Man muss gemeinsam mit den Länderndie Wirksamkeit dieses Programms überprüfen undSchlussfolgerungen daraus ziehen.Meine Damen und Herren, was soll in den nächstenJahren wichtig sein? Entscheidend ist, dass die Qualitätvon Bildungsprozessen verbessert wird. Die zentralenFiguren in Bildungsprozessen sind natürlich die Erziehe-rinnen und Erzieher sowie die Lehrerinnen und Lehrer.Zur Verbesserung der Qualität der frühen Bildung unter-stützt unser Ministerium die WeiterbildungsinitiativeFrühpädagogische Fachkräfte. Sie sollte eigentlich bis2014 laufen, wurde aber verlängert, erst einmal bis 2018.Ich habe mich gefreut, dass die Linken sagen, dass dieseWeiterbildungsinitiative einen Vorbildcharakter hat.
– Ja, das kann man auch einmal sagen.Ärgerlich ist aber, dass in Ihrem Antrag behauptetwird, wir würden eigentlich nicht viel machen und eswürde alles nur ein bisschen weiterentwickelt. Als Bei-spiel führen Sie die Bildungsketten an. An dieser Stellekriege ich wirklich Zustände.
– Ja.
Bildungsketten bedeuten – das habe ich hier schon ein-mal erläutert –: siebente, achte Klasse, Potenzialanalyse,individuelle Ansprache, dann Entscheidung für Berufe,Berufseinstiegsbegleitung etc. Ich habe bei all meinenBesuchen in unterschiedlichsten Einrichtungen, auchschon als Landesministerin, von den Lehrern, von denErziehern, von den betreffenden Jugendlichen und vonden Eltern nur Positives gehört. Das funktioniert. Aber:Modellversuche sind das eine, wichtig ist, dass dieDinge auch einmal im großen Maßstab, in der Flächefunktionieren.
Da entwickeln wir nicht nur ein bisschen weiter, son-dern Frau Nahles und ich haben uns darauf verständigt,dass in den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro für diesenBereich ausgegeben wird. So können wir 500 000 Ju-gendliche erreichen; bei der Berufseinstiegsbegleitungsind es über 100 000. Das gab es noch nie. Wir brauchennicht alle fünf Minuten einen neuen Vorschlag, ein neuesModell, sondern das, was funktioniert, muss in der Flä-che verstärkt angewendet werden.
Wir wissen, dass wir im Bereich der dualen Ausbil-dung Probleme haben. Wir müssen die Attraktivität er-höhen. Es geht vor allen Dingen um die Passgenauigkeit,also darum, dass jeder den für sich geeigneten Beruf fin-det. Wir können es uns nicht mehr erlauben, dass wienoch vor Jahren nur mit Abitur eingestellt wird und Ju-gendliche mit einem Hauptschulabschluss oder ohne Ab-schluss keine Chance haben. Das ist aber auch in derWirtschaft angekommen. Wir haben uns im Ministeriumüberlegt, wie man jetzt dort das Rad ein Stück weiterdre-hen kann, und haben dann alles, was uns eingefallen ist,und auch die Vorschläge, die von den Regierungsfraktio-nen gekommen sind, in das große Paket „Chance Beruf“gepackt. Es soll dafür sorgen, dass wir mit unserer dua-len Ausbildung nicht nur international wertgeschätztwerden, sondern dass auch genügend junge Leute eineduale Ausbildung machen.
Das Thema Weiterbildung habe ich bereits genannt.49 Prozent sind eine gute Zahl. Wir haben beim Bund In-strumente, um Weiterbildung individuell zu befördern,zum Beispiel die Weiterbildungsprämie. Dieses Instru-ment haben wir jetzt evaluiert, um zu schauen, wer es
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Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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nutzt. Das Ergebnis ist sehr schön. Diese Weiterbil-dungsprämie wird entgegen dem sonstigen Trend in derWeiterbildung gerade von denen genutzt, die wir sonstnicht erreichen, die aus finanziellen Gründen oder weilsie bildungsfern sind nicht in Weiterbildung gehen. Des-wegen ist dieses Instrument so wichtig. Wir haben seitdem 1. Januar einen Telefonservice freigeschaltet, damitin dem großen Bereich der Weiterbildung gute Informa-tionen für jeden Bürger bereitgestellt werden, damit sichjeder zurechtfindet und die Möglichkeiten nutzen kann.Noch ein paar weitere Stichpunkte. Über den Hoch-schulpakt haben wir schon öfter gesprochen. Ich musshier nicht noch einmal die Milliarden, die investiert wer-den, und all die anderen Punkte nennen. Aber zwei Sa-chen sind mir wichtig. Der Hochschulpakt ist aus meinerSicht die größte Leistung in der Bundesrepublik Deutsch-land für die Bewältigung der demografischen Entwick-lung. Zweitens ist es ein Rieseninstrument für Chancen-gerechtigkeit. Ohne den Hochschulpakt hätten diejungen Leute, die in den Jahren von 2005 bis 202018 geworden sind bzw. werden, geringere Chancen. Wirhaben dafür gesorgt, dass sie genau die Chancen habenwie die jugendlichen Generationen vor ihnen. GeradeChancengerechtigkeit ist mir ein wichtiges Thema. Aberes geht nicht nur um Quantitäten, sondern auch um dieQualität. Ich denke hier an den Qualitätspakt Lehre undanderes.
Es gibt keinen Königsweg, aber die Durchlässigkeitzwischen den unterschiedlichen Bildungsgängen wirdverbessert. Ich denke zum Beispiel an berufliche Bil-dung, Studieren mit beruflicher Qualifikation und anStudienabbrecher, die in Meisterberufe oder andere Aus-bildungen wechseln. In einem Ihrer Anträge las ich: Naja, da gibt es ANKOM und Bundesprojekte. Das betrifft20 Hochschulen, an denen der Bund Maßnahmen geför-dert habe. – Erst einmal muss ich sagen, dass es um vielGeld geht. Die TU Braunschweig beispielsweise be-kommt 8 Millionen Euro; das ist eine beachtlicheSumme.Es geht aber nicht darum, ein einzelnes Modell zu ha-ben. Wir haben uns im letzten Jahr auf einer Konferenzdamit befasst. Die Oldenburger Uni hatte die Förderungfür ein Projekt bekommen – hier wurden wichtige Er-gebnisse erzielt –, bei dem es um die Anrechenbarkeitging: Was ist denn ein IHK-Abschluss in unterschiedli-chen Studiengängen an Credits wert? Die Ergebnissegelten natürlich nicht nur für Oldenburg oder Umge-bung, sondern sie sind – das wurde bei der Tagung deut-lich – auch für andere interessant und verwendbar. Dasist deswegen wichtig, weil es das ist, was wir als Bundoft machen, was wir können: Initiativwirkung. Natürlichspielt Geld auch eine Rolle; es fließen Millionen. Aberdamit wird auch eine Anregung gegeben, die weit überdas hinausgeht, was vielleicht ein einzelnes Bundeslandmacht.Im Bildungsbericht gibt es immer ein Schwerpunkt-kapitel. Diesmal geht es um die Situation von Menschenmit Behinderung. Die Analyse, die dort vorgelegt wird,ist einzigartig. So etwas gab es noch nicht. Es wird ana-lysiert, wie die Situation von Menschen mit Behinde-rung in der Bundesrepublik Deutschland im frühkindli-chen Bereich, im Studium usw. ist. Sonst haben wirimmer nur partiell Zahlen und Daten. Es ist auch einSinn des Bildungsberichts, im Schwerpunktkapitel einThema flächendeckend ganz genau zu untersuchen. Imnächsten Bildungsbericht wird der Schwerpunkt aufMenschen mit Migrationshintergrund, insbesondere imBildungsprozess, liegen.Wenn man sich das Kapitel im aktuellen Bericht be-züglich der Inklusion der Menschen mit Behinderung– es geht natürlich um mehr – durchliest, dann muss mansagen: Ich war sehr erfreut über die Einschätzung, dasses ein hochdifferenziertes ausgebautes System im recht-lichen und im sozialen Sinn für Menschen mit Behinde-rung gibt. Aber was die Abstimmung zwischen den ein-zelnen Bildungsbereichen angeht, funktioniert es nicht.Wir haben es manchmal falsch gemacht und etwas inDeutschland eingeführt, nur weil wir gesehen haben,dass es in Großbritannien oder in Asien gut funktioniert,ohne dabei die gewachsene historische Situation inDeutschland zu berücksichtigen. Man kann aus dem Bil-dungsbericht herauslesen – das finde ich gut –: Wir ha-ben in Deutschland ein System der Förderschulen, wirhaben geschützte Werkstätten, und wir wollen Inklusion.Wir müssen zwar Änderungen vornehmen. Wir dürfendies aber nicht tun, indem wir einfach die Rezepte vonwoanders übernehmen. Vielmehr müssen wir uns fragen:Wie können wir im Rahmen unseres gewachsenen Sys-tems klug – und nicht vor allen Dingen schnell – für In-klusion sorgen? Weil wir nicht einfach die Rezepte vonwoanders übernehmen können, besteht hier viel For-schungsbedarf.Wir starten in diesem Jahr das Forschungsförderpro-gramm „Inklusion im Bildungssystem“, das sehr breitangelegt ist.
Daraus werden sich Empfehlungen für konkrete Maß-nahmen ergeben. 70 Prozent aller Grundschullehrer sa-gen laut Bildungsbericht, dass sie sich nicht gerüstet füh-len. Sie brauchen in diesem Bereich Kompetenzen, zumBeispiel Diagnostikmöglichkeiten. Diese werden wir ef-fektiv auf der Basis der Forschungsergebnisse entwi-ckeln. Ich glaube, dass es auch im Hinblick auf die„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, die schon läuft,Möglichkeiten gibt, diese Dinge im Rahmen der Lehrer-bildung schon jetzt zu verankern oder zu erproben.
Wir haben große Fortschritte gemacht. Wir müssenaber immer daran denken: Es dauert lange, bis Fort-schritte im Bildungsbereich ihren Niederschlag finden.Änderungen, die man heute vornimmt, zeigen vielleichterst in 15 Jahren ihre Wirkung. Das heißt, das wird nichtfix gehen. Man braucht also einen langen Atem, undman braucht lange Zeit Geld. Die Bildungsfinanzierungmuss auf hohem Niveau fortgesetzt werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7623
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Meine letzte Bemerkung. Heute ist der 16. Januar2015. Das heißt, seit 16 Tagen liegt auf dem Tisch derLänder ein schönes Geldpaket; ich meine die BAföG-Mittel. Mit diesem Geld können sie das, was von einzel-nen Rednern, wie ich annehme, nachher bestimmt gefor-dert wird, machen. Sie können, wenn sie es wollen,Schulsozialarbeiter, Personal für Ganztagsschulen, Ju-niorprofessoren, Professoren, Laboringenieure und wei-teres Personal für Hochschulen einstellen. Das ist Geld,das dauerhaft zur Verfügung steht, und zwar für Dauer-stellen; so etwas gab es noch nie, jedenfalls nicht, so-lange ich mich erinnern kann. Diese Mittel müssennatürlich genutzt werden; denn es war eine große Kraft-anstrengung, sie zur Verfügung zu stellen.
Wir haben die Weichen richtig gestellt. Aber es gibtnoch viel zu tun.Danke.
Das Wort hat nun die Kollegin Rosemarie Hein für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derfünfte nationale Bildungsbericht gibt erneut Anlass, denZustand des Bildungssystems in Deutschland kritisch zubeleuchten. Das will ich tun. Vor allen Dingen müssenwir die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.Die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Be-richt finde ich ausgesprochen enttäuschend. Sie machtvor allem das, was sie in Sachen Bildung seit Jahren tut:Sie lobt sich
– das finde ich nicht –, und sie setzt auf ein „Weiter so“.Doch mit einem „Weiter so“ werden wir die gravieren-den Defizite, die es im deutschen Bildungssystem auf al-len Ebenen nach wie vor gibt, nicht beheben können.
Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen.Das Bildungssystem in Deutschland ist insgesamt nachwie vor von einer großen sozialen Ungleichheit geprägt.Kinder von Eltern, die keinen akademischen Abschlusshaben, besuchen um ein Vielfaches seltener ein Gymna-sium als Kinder aus Akademikerelternhäuser. Das Zielder Hochschulreife erreichen sie häufiger als andere– auch wenn das besser geworden ist – erst über den län-geren Weg der berufsbildenden Schulen. Ein deutlich ge-ringerer Anteil von ihnen nimmt ein Hochschulstudiumauf. Sechsmal häufiger landen sie an Hauptschulen. Ichfinde, das ist ein Ausweis, dass es, was das Bildungssys-tem in Deutschland betrifft, so nicht weitergehen kann.
Probleme gibt es nach wie vor auch im Bereich derberuflichen Bildung. Ende des vergangenen Jahres – in-zwischen liegen auch neuere Zahlen vor – wurde festge-stellt, dass wieder weniger Ausbildungsverträge abge-schlossen wurden als im Jahr zuvor, in dem schon einTiefststand zu verzeichnen war. Das ist nicht mitPassungsproblemen zu erklären, wie es die Bundes-regierung und Sie, Frau Ministerin, immer wieder tun.Es fehlt eindeutig ein Ausbildungsangebot. Es gibt genü-gend Bewerberinnen und Bewerber, die einen Beruf er-lernen wollen. Sie bekommen aber keinen Ausbildungs-platz; das ist das Problem. 81 000 Bewerberinnen undBewerber sind im vergangenen Jahr ohne Ausbildungs-vertrag geblieben. Das sind zwar 2 400 weniger als imJahr zuvor; aber wenn das Abbautempo so weitergeht,werden wir nicht 10 oder 15, sondern 34 Jahre brauchen,um dieses Defizit auszugleichen.Vor allem fehlt Geld, viel Geld. Sie haben zum wie-derholten Male auf die 1,2 Milliarden Euro verwiesen,die der Bund den Ländern zur Verfügung stellt. Ich fragemich, was von diesem Betrag noch alles finanziert wer-den soll.
Sie haben angekündigt, dass Sie in den nächsten vierJahren insgesamt 6 Milliarden Euro mehr in die Bildunggeben werden.
Es gibt aber Studien, die belegen, dass jährlich zwischen20 und 40 Milliarden Euro zusätzlich nötig wären, umdie Defizite im Bildungsbereich insgesamt auszuglei-chen.
Sie können nicht immer nur auf die Länder verweisen,
Sie müssen die Länder auch entsprechend ausstatten; an-ders funktioniert das nicht.
Ich habe 15 Jahre Bildungspolitik in den Ländern ge-macht. Ich weiß, was dort in den Bildungshaushaltensteht. Ich weiß, was das für ein Kampf ist,
und ich weiß, wo dann das Ende der Fahnenstange er-reicht ist.
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Dr. Rosemarie Hein
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Wir wollen nicht verhehlen, dass es auch positiveEntwicklungen gibt.
Aber wie das so ist: Auch bei den positiven Entwicklun-gen gibt es Defizite. Obwohl die Zahl der Betreuungs-plätze für unter Dreijährige stark gestiegen ist, wurdenvor allen Dingen in den westlichen Bundesländern dieZielzahlen gar nicht erreicht.Sie haben uns zitiert, weil wir die WiFF-Initiative lo-ben. Wir loben sie, weil diese Weiterbildungsinitiativegeeignet ist, bei ausgebildeten Fachkräften sonderpäda-gogische Sachkompetenz zu entwickeln. Was diese Ini-tiative jedoch nicht leisten kann, ist die Ausbildung vonErzieherinnen und Erziehern. Man darf nicht verkennen,dass die WiFF-Initiative ein Weiterbildungsprogrammist. Ihre Arbeit ist aller Ehren wert, reicht aber nicht ausfür eine vernünftige Versorgung mit ausgebildetem Er-ziehungspersonal.
Zu den positiven Trends gehört auch der Wunschnach höheren Bildungsabschlüssen. Der Realschulab-schluss – das steht auch im Bildungsbericht – wird zumneuen Regelabschluss; das ist sehr schön. Bei Lernförde-rung im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes derBundesregierung ist das Ziel, einen höheren Bildungs-abschluss zu erreichen, jedoch nicht vorgesehen. Diessei kein Grund, Lernförderung zu beantragen, hat uns dieBundesregierung schriftlich erklärt. Wenn der Realschul-abschluss aber ein solch anerkannter und erstrebenswerterAbschluss wird – wir wissen, dass man dadurch deutlichbesser einen Ausbildungsplatz bekommt –, dann mussauch er Ziel von Lernförderung sein. Ich kann Ihnen ver-sichern: Die Schulen könnten mit dem Geld, was man indie Lernförderung steckt, etwas Besseres anfangen. Aberdie Schulen bekommen das Geld nicht und das gehört zuden Grundstrickfehlern in unserem Bildungssystem.Gut ist auch, dass immer mehr junge Leute ein Stu-dium aufnehmen; hier wurden die Zielzahlen des Bil-dungsgipfels in der Tat überboten. Doch die Lehre anden öffentlichen Hochschulen wird vor allem durch be-fristet eingestelltes Lehrpersonal abgesichert.
– 1,2 Milliarden Euro; ich hoffe, Sie können rechnen.
Es ist keine zukunftsfähige Entwicklung, wenn mandurch prekär Beschäftigte die Lehre absichern will. Damuss etwas passieren! Das können Sie jetzt im Übrigenauch leisten.
Besondere Probleme weist der Bildungsbericht beider schulischen Bildung aus. Es wurde schon gesagt:2012 haben immer noch 5,9 Prozent der Schülerinnenund Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Anden Förderschulen besteht in den Ländern sehr oft nichteinmal die Möglichkeit, einen Hauptschulabschluss zuerwerben; auch das gehört zu den Defiziten.
Problematisch ist, dass die Entwicklung neuer Schul-formen – die es gibt in den Ländern, und zwar zuhauf –von den Autoren des Bildungsberichtes so eingeschätztwird, dass dies die Übersichtlichkeit im Bildungssystemnicht erhöht, im Gegenteil, es wird unübersichtlicher.Familien werden immer mehr verunsichert und sind da-durch auch in ihrer Mobilität eingeschränkt.
Besonders nachdenklich gemacht hat mich die Fest-stellung, dass die Zahl der allgemeinbildenden Schulenin den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen ist unddass es nicht mehr möglich ist, überall ein wohnortnahesAngebot zu machen. Die Schulwege werden länger. Da-rüber verliert die Bundesregierung leider kein Wort. Dassei nicht ihr Bier, dafür sei der Bund nicht zuständig,nicht für die Schulsanierung, nicht für die Schulsozial-arbeit, nicht für die Ausstattung mit Lehrkräften usf. –alles Ländersache.
– Wissen Sie, ich bin Lehrerin. Ich weiß, was es heißt,jeden Schultag fünf bis sechs Stunden das Interesse vonSchülerinnen und Schülern wachzuhalten. Es steht imBildungsbericht, wir sind heute bei diesem Thema. Dannlassen Sie mich auch darüber reden! Sie können sich dortnicht einfach rausmogeln!
– Herr Kauder, ich mache mal einfach weiter, ja?
– Das kennen Sie noch nicht. – Seit meiner Schulzeit hatsich die Lebenswelt von Kindern gravierend verändert.Ich habe große Hochachtung vor dem, was die Lehren-den zurzeit leisten.
Die Bundespolitik erfindet in ihrer UnzuständigkeitProgramme, mit denen sie an der Schule vorbei versucht,
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Dr. Rosemarie Hein
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die Defizite, die es im schulischen Bereich gibt, zu be-seitigen. Das sind durchaus vernünftige Programme, wie„Kultur macht stark“, die als Ergänzung von uns sehrwohl durchaus anerkannt werden.
– Wir haben nicht wegen des Programms dagegen ge-stimmt, sondern weil es einen Ersatz leisten soll, wasnicht möglich ist.
Das können diese Programme einfach nicht leisten –auch nicht die Berufseinstiegsbegleitung. Das alles kanndie Situation an Schulen nicht verbessern.Über die inklusive Bildung wird meine Kolleginnachher reden; ein paar Minuten Redezeit wird sie nochhaben. Wir haben uns entschlossen, einen entsprechen-den Antrag einzureichen, weil die Bundesregierung ebennicht die Konsequenzen zieht, von denen wir glauben,dass sie gezogen werden müssen.Wir fordern deshalb erneut die Einführung einer Ge-meinschaftsaufgabe „Bildung“, damit wir hier nicht im-mer darüber debattieren müssen, wer zuständig ist;
denn die Bildung unterliegt laut Grundgesetz der staatli-chen Aufsicht, und Staat sind wir bitte schön auch.Zu dieser Gemeinschaftsaufgabe gehören eine bes-sere Ausfinanzierung des Bildungssystems und einRechtsanspruch auf Ausbildung.
Die hohe Betreuungsqualität im frühkindlichen Bereichund die hohen Betreuungszahlen haben auch etwas da-mit zu tun, dass es hier einen Rechtsanspruch gibt. Dasdarf man nicht vergessen.Daneben ist auch eine inhaltliche und strukturelle De-batte notwendig. Hier könnte ein Bildungsrat helfen, denwir schon 2012 vorgeschlagen haben. Ich freue mich,dass die SPD dem jetzt zustimmt. Vielleicht finden wirja noch mehr Gemeinsamkeiten. Ich freue mich auf dieDebatte im Ausschuss.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit jeher wissenwir: Bildung ist der Schlüssel und die Eintrittskarte zueinem selbstbestimmten Leben, zu gesellschaftlicherTeilhabe und zu ökonomischer Unabhängigkeit. Wederdie soziale oder ethnische Herkunft noch die religiöseWeltanschauung, das Geschlecht, das Alter, die Sexuali-tät oder der Umstand einer Behinderung sollen hier be-einflussend wirken. Deshalb möchte ich mich in meinerRede auf das Schwerpunktthema des Berichtes fokussie-ren, nämlich auf die Menschen mit Behinderung.
Schauen wir uns die aktuelle Datenlage an, so sehenwir, dass wir in unserer Verantwortungsgemeinschaftbeim Umgang mit Menschen mit Behinderung, bei derUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention undhinsichtlich eines inklusiven Bildungssystems noch ei-nen langen Weg vor uns haben.35 Prozent der Kindertagesstätten in Deutschland ar-beiten im Moment inklusiv, das heißt, dort werden Kin-der mit und ohne Behinderung gemeinschaftlich betreut,erzogen und gebildet. 35 Prozent: Diese Zahl ist nichtklein, aber deutlich ausbaufähig.Im Bereich der Schule haben 6,6 Prozent der Kindereinen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das sind einehalbe Million Kinder und Jugendliche. 72 Prozent vonihnen gehen in die Förderschule. Lediglich 28 Prozentwerden also in einer allgemeinbildenden Schule be-schult. Auch das ist deutlich steigerungsfähig.Zwar besuchen immer mehr Kinder und Jugendlichemit und ohne Behinderung gemeinsam unsere Kitas undSchulen, doch diese Zahl nimmt mit steigendem Alterab, das heißt, vom Besuch einer Kita an wird mit jedemweiteren Übergang – von der Kita zur Grundschule, vonder Grundschule zur weiterführenden Schule – erneut se-lektiert, wodurch junge Menschen – insbesondere mitBehinderung – aus dem Bildungssystem herausfallen.Das kann nicht unser Anspruch an ein inklusives, ge-meinsames Bilden und Lernen in Schulen sein.
Fast drei Viertel der Förderschülerinnen und -schülerhaben überhaupt keinen Schulabschluss. Auch da ist un-ser Anspruch ein anderer.Ein großes Defizit – Frau Wanka hat es erwähnt – be-steht auch in der Fortbildung der Lehrkräfte. Obwohl70 Prozent der Grundschullehrkräfte – Sie hatten es er-wähnt – einen Bedarf an Fort- und Weiterbildung an-gemeldet haben, haben real aber nur 9,5 Prozent einsolches Angebot angenommen. Bei den Gymnasiallehr-kräften sind es gerade einmal 2 Prozent. Das heißt, selbstwenn eine Schule Fortbildung anbietet, so ist die Wahr-nehmung dieses Angebots doch immer noch sehr über-schaubar.Ausbildungsuchende junge Menschen müssen einedoppelte Einschränkung hinnehmen. Zum einen gingen
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7626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Kerstin Tack
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zwischen 2009 und 2012 sowohl die Zahl der neu abge-schlossenen Ausbildungsverträge als auch das Angebotund die Nachfrage nach Ausbildungsverhältnissen umjeweils circa 30 Prozent zurück. Zum anderen steht ih-nen sowieso nur ein begrenztes, institutionell definiertesBerufsspektrum zur Verfügung.Im Bereich der akademischen Ausbildung waren2012 lediglich ein Siebtel aller Studierenden durch eineBehinderung oder eine chronische Erkrankung beein-trächtigt und haben aufgrund ihrer BeeinträchtigungNachteile im Studium erfahren. Häufig wechseln sie dieHochschule und ihr Studienfach. Häufig kommt es zuAbbrüchen, und es gibt Schwierigkeiten bei den Prü-fungsordnungen. Häufig brauchen sie mehr Zeit, um ihrStudium zu absolvieren. Die Prüfungssituation erlebensie als schwieriger, als es für Studierende ohne Beein-trächtigung der Fall ist. Deshalb muss die Unterstützungfür diese Studierenden eine ganz besondere sein.
Wir sehen also: Wir sind im Bildungssystem nocheine ganze Ecke von den von uns erklärten Zielen ent-fernt. Ich denke, es reicht auch nicht, ein Kind aus einerFörderschule in eine allgemeinbildende Schule zu ste-cken und ihm einige wenige Förderstunden zu geben.Das ist, wenn man es bei Lichte betrachtet, nicht mehrals eine Einzelintegration. Was wir wollen, ist Inklusion.Wir wollen die Veränderung der Systeme. Wir wollen,dass durch unsere Systeme allen Kindern und Jugendli-chen eine gute Förderung organisiert wird, eine gute Un-terstützung, die jedem, völlig unabhängig davon, ob mitoder ohne Behinderung, einen erfolgreichen Bildungs-weg ermöglicht.
Aber wir sehen – das macht auch der Bericht deutlich –:Es gibt Hürden bei der Umsetzung. Natürlich sind dieunterschiedlichen Regelungen in den Schulsystemen derBundesländer nicht immer hilfreich. Es ist kein Geheim-nis, wenn ich sage, dass wir uns als SPD-Fraktion hiereine stärkere Beteiligung des Bundes bei der Standard-setzung, aber auch bei der finanziellen Unterstützung derUmsetzung wünschen.
Sosehr wir uns über den Wegfall des Kooperationsver-botes im Hochschulbereich freuen, so sehr wünschen wiruns natürlich, dass weiter gehende Maßnahmen ergriffenwerden.
Die Definition von inklusiver Bildung ist in den Bun-desländern sehr unterschiedlich. Das ist ein Problem,wenn wir unsere einheitlichen Standards, die wir fürrichtig halten, umsetzen wollen. Auch die sehr unein-heitlichen Diagnoseverfahren führen in der Regel dazu,dass es wenig einheitliche Lebensbedingungen für Kin-der und Jugendliche mit Behinderungen im deutschenBildungssystem gibt. Deshalb möchten wir einenSchwerpunkt in der Bildungsforschung setzen, insbeson-dere wenn es darum geht, gute Rahmenbedingungen füreine erfolgreiche inklusive Bildung zu definieren und sieüber alle Länder hinweg in einer Gemeinschaftsverant-wortung umzusetzen.Wir brauchen dringend auch eine Forschung dahingehend, welche digitalen und analogen Instrumente hilf-reich sind, um Menschen mit Behinderung im Bildungs-system eine gute Chance zu gewährleisten.Wir brauchen eine andere Form der Vernetzung derAkteure: der Ärztinnen und Ärzte, der Pädagoginnenund Pädagogen, der Logopädinnen und Logopäden undanderer, die in Schulen gemeinschaftlich wirken sollen,um für die Begleitung der Kinder konzeptionell dasBestmögliche herausarbeiten zu können.Klar ist aber auch: Auch Betriebe und Unternehmenmüssen sich stärker in der Ausbildung für Jugendlichemit Behinderungen öffnen.
Wir nehmen wahr: Es gibt große Defizite in dem Wissendarüber, welche Unterstützung ein Unternehmer be-kommt, wenn er sich entscheidet, einem jungen Men-schen mit Beeinträchtigung in seinem Unternehmen eineAusbildung zu ermöglichen. Das heißt, wir haben einAufklärungsproblem. Wir haben aber auch das Problem,dass viele Betriebe das immer noch als Benachteiligung,teilweise sogar als Belastung erleben. Wir haben die ge-sellschaftliche Aufgabe, verstärkt über dieses Thema zuinformieren und den Wert der Vielfalt in Unternehmenviel deutlicher herauszustellen.
Die Initiative Bildungsketten – auch sie hat FrauWanka bereits erwähnt – wollen wir gerne fortgeführtsehen. Aber wir wissen auch, dass bei Menschen mit Be-hinderung, die in Ausbildung sind, die Abbrecherquotesehr hoch ist. Daraus leiten wir den Auftrag ab, genauerdarauf zu achten, welcher Ausbildungsbereich für die je-weilige Person der richtige ist und was zu schaffen, zuleisten und mit einer guten Unterstützung und gegebe-nenfalls auch mit ausbildungsbegleitenden Hilfen dannauch bis zum Ende durchhaltbar ist.Im Hochschulbereich stehen wir vor der Herausforde-rung, andere Formen der Studienangebote und Studien-bedingungen zu ermöglichen. Die Möglichkeiten derNachteilsausgleiche müssen flexibler eingesetzt werden.
Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bei allden Fachkräften und Lehrkräften bedanken, die sichtrotz manchmal unzureichender Rahmenbedingungentagtäglich darum bemühen, dass Inklusion durch ge-meinsame Beschulung und konzeptionelle Arbeit in denEinrichtungen möglich ist. Diesen Anstrengungen giltmein ganz herzlicher Dank.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7627
(C)
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Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-
ten heute den fünften Nationalen Bildungsbericht. Das
ist zugleich die erste Debatte zur Bildungspolitik im
Deutschen Bundestag seit der vergebenen Chance zur
Abschaffung des unsäglichen Kooperationsverbotes in
der Bildungspolitik. Das sage ich insbesondere mit Blick
auf die SPD.
Diese Debatte passt auch zeitlich sehr gut, finde ich.
Erst in der vergangenen Woche hat der Bildungsforscher
Professor Klaus Klemm die vom DGB in Auftrag gege-
bene Bilanz des Bildungsgipfels der Bundesregierung
von 2008 vorgestellt. Ich empfehle Ihnen, vor allem der
GroKo, diese Bilanz genau anzuschauen. Diese Analyse
bringt Bemerkenswertes zutage.
Sie wollten die Schulabbrecherquote von 8 auf 4 Pro-
zent halbieren. Aktuell liegt die Quote bei 5,9 Prozent.
Ziel verfehlt!
Sie wollten die Quote der jungen Erwachsenen ohne
Berufsausbildung von 17 auf 8,5 Prozent halbieren. Ak-
tuell liegt die Quote bei 13,8 Prozent. Ziel deutlich ver-
fehlt!
Sie wollten die Ausgaben für die Bildung auf 10 Pro-
zent des BIP erhöhen. Auch hier Ziel verfehlt!
Damit sind Sie in den Kernbereichen des Bildungs-
gipfels gescheitert. Wenn ich Ihr Lehrer wäre, hätten Sie
jetzt eine fette Sechs dafür bekommen.
Liebe Frau Ministerin, ich will nicht verhehlen, dass
es auch Lichtblicke gibt, ohne Frage. Sie haben die Stu-
dienanfängerquote und die Weiterbildungsquote er-
wähnt. Wenn man sich das Ganze aber genauer anschaut,
dann kommt man zu dem Schluss, dass diejenigen, die
zur Risikogruppe gehören, erneut abgehängt werden.
Herr Kollege Mutlu, darf der Kollege Rupprecht eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte sehr.
Der Kollege Rupprecht befindet sich scharf rechts
von Ihnen, Herr Mutlu.
Herr Kollege Mutlu, wenn Sie den Bildungsbericht
richtig gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass das Errei-
chen der Ziele für 2015 angestrebt wird. Die Zahlen, die
Sie genannt haben, wurden 2013 erhoben. Deswegen
lautet meine Frage an Sie: Kann es sein, dass Sie in der
Bewertung falsch liegen?
Lieber Kollege Rupprecht, wenn Sie meinen, dass Sieinnerhalb eines Jahres das alles aufholen, was Sie in denletzten vier, fünf Jahren nicht geschafft haben, dann sageich Ihnen: Wenn Sie das schaffen, gratuliere ich Ihnenals Erster.
Ihre Bildungspolitik beruht auf dem Matthäus-Effektund manifestiert meiner Ansicht nach Bildungsunge-rechtigkeit von Generation zu Generation. Aufstiegdurch Bildung ist noch immer ein uneingelöstes Verspre-chen dieser Koalition.
Ihre vollmundig ausgerufene Bildungsrepublik istsechs Jahre nach dem Bildungsgipfel nichts anderes alseine Republik der Bildungsungerechtigkeit. So lesensich auch die Ergebnisse des Bildungsberichtes 2014.Bereits beim Bildungsbericht 2010 hat meine Fraktionhier in diesem Hause gefordert, dass der Bericht auchkonkrete Handlungsempfehlungen enthalten soll, um– ich zitiere aus unserem Antrag auf Drucksache 17/4436 –„aus den Analysen der Fachleute einen möglichst hohenGewinn für die Bildungspolitik zu ziehen“. Im Gegen-satz zu den ersten Berichten enthält der vorliegende Be-richt neben einer aktuellen Bestandsaufnahme nun end-lich konkrete Handlungsempfehlungen. Diese konkretenHandlungsempfehlungen sind Ihnen aber anscheinendegal. Denn ein Blick auf Ihren Antrag zeigt: Viele Worte,aber kaum Taten! – Das reicht nicht.
Man fragt sich mitunter schon, wie es sein kann, dasstrotz klarer Handlungsempfehlungen nichts, aber auchgar nichts von diesen Empfehlungen Einzug in Ihr politi-sches Handeln findet.Meine Damen und Herren, der Königsweg – ich be-mühe ihn nun genauso wie die Ministerin – zu mehr
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7628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Özcan Mutlu
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Teilhabe und damit zu mehr Bildungsgerechtigkeit istInklusion. Das ist auch der Schwerpunkt des Bildungs-berichtes. Aber Inklusion ist nicht kostenneutral undzum Nulltarif zu haben. Das wissen Sie genauso gut wieich, wie ich Ihrer Rede, Frau Kollegin Tack – das warbeinahe eine Oppositionsrede –, entnommen habe.
Denn die Kommunen und die Länder können die bil-dungspolitische Mammutaufgabe, zu der wir seit der Ra-tifizierung der UN-Konvention 2009 verpflichtet sind,nicht alleine stemmen. Der Bildungsbericht 2014 unddie Bilanz des DGB zeigen: Wir haben kein Erkenntnis-defizit, sondern ein Handlungsdefizit, Frau Ministerin.Deshalb sage ich: Leere Worte reichen nicht. Lassen Sieuns gemeinsam einen erneuten Anlauf nehmen und dasKooperationsverbot in Gänze abschaffen.
Ich komme zum Schluss. Bund, Länder und Kommu-nen müssen eine gemeinsame Bildungsstrategie entwi-ckeln, und zwar mit klaren Zielen und Zuständigkeiten.Es geht nicht darum, den Ländern die Kompetenz in derBildung zu nehmen, sondern darüber nachzudenken, wiewir gemeinsam an einem Strang ziehen können, damitdie Bildungsrepublik tatsächlich Realität wird. Wir sindgerne bereit, Ihnen dabei zu helfen.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Xaver Jung das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!Liebe Schüler auf der Tribüne, macht euch keine Gedan-ken. Eure Schule ist nicht so schlecht, wie Herr Mutlueben behauptet hat.
Liebe Frau Hein, Sie können nicht alle Aufgaben, dieden Ländern per Verfassung gegeben sind, vom Bundbezahlen lassen. So einfach können wir es uns nicht ma-chen, und das tun wir auch nicht.
Wir sind auf einem guten Weg. Die Bildung inDeutschland hat sich auf allen Ebenen verbessert. Zudiesem Ergebnis kommt sowohl die aktuelle OECD-Stu-die als auch die nun vorliegende Ausgabe des NationalenBildungsberichts.
Man kann es nicht oft genug sagen: Die gemeinsamenAnstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen, derBildungsträger aus Wirtschaft und Gesellschaft sowieder Pädagoginnen und Pädagogen in den unterschied-lichsten Bildungsbereichen zeigen eine positive Ent-wicklung. Dies sind einmal mehr gute Nachrichten fürdieses Haus. Ich möchte unserer Bildungsministerin ei-nen herzlichen Dank aussprechen. Mit viel persönlichemEinsatz und Ausdauer kämpfen Sie, liebe Frau Wanka,stets für moderne und bessere Bildung. Die Aufwüchseim Bildungsetat in den letzten Jahren sind ein großarti-ges Zeichen dafür.
Ich möchte mich auch ausdrücklich bei allen beteilig-ten Autoren und Instituten für die Ausarbeitung und dieVorlage des ausführlichen Berichts bedanken. Das Er-gebnis ist die Bestätigung für eine vorausschauende Bil-dungspolitik. Der Ausbau der Betreuungsplätze für unterDreijährige ist weit vorangeschritten und geht weiter vo-ran. Immer mehr junge Menschen erlangen einen Be-rufsabschluss. Wir sollten auch die berufliche Bildungnicht schlechtreden. Auch junge Menschen mit Migra-tionshintergrund werden besser integriert. Das sagt derBericht.Unser duales Ausbildungssystem und unsere Hoch-schulen genießen einen sehr guten Ruf in der Welt. Im-mer mehr beginnen ein Studium, immer mehr höherwer-tige Abschlüsse werden erreicht. Auch für Studierendeaus dem Ausland sind unsere Hochschulen attraktiverdenn je. Die Möglichkeiten der Weiterbildung werdengut aufgenommen. Wir freuen uns über all diese gutenErgebnisse.
Wir erkennen auch den verstärkten Bedarf an Nach-wuchs im MINT-Bereich. Dazu unterstützen wir die Ini-tiative der Helmholtz-Stiftung „Haus der kleinen For-scher“. Das ist eine tolle Initiative, die Kindern imKindergarten und künftig auch in der Grundschule denSpaß am Entdecken und an den Naturwissenschaften nä-herbringt. Wir freuen uns über die Aufstockung der Mit-tel in diesem Bereich ebenso wie über die zusätzlichenMittel im Bereich der Grundbildung.Der Bildungsbericht zeigt uns aber auch klar auf, wowir noch besser werden können. Wir werden den Vor-schlägen gerne nachkommen.
Wir wollen eine verbesserte Qualität der Betreuung,die nach dem Kindertagesstättenausbau nun verstärkt an-gegangen wird. Wir treten auch weiterhin für ein mög-lichst wohnortnahes, differenziertes Schulsystem ein.Wir setzen uns für mehr qualifizierte Aus- und Weiter-bildung von Erziehern und Erzieherinnen ein. Dieser Be-ruf verdient mehr Wertschätzung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7629
Xaver Jung
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In der Lehrerbildung rüsten wir mit der Qualitäts-offensive Lehrerbildung bereits auf. Trotz Haushaltskon-solidierung entlasten wir die Länder im Bereich der Ki-tas, Schulen und Hochschulen in dieser Wahlperiode um6 Milliarden Euro. Bereits in diesem Jahr stehen denLändern zusätzlich, wie gesagt, 1,2 Milliarden Euro ausden BAföG-Mitteln für Bildung und Wissenschaft zurVerfügung. Wir ruhen uns also nicht auf dem Erreichtenaus, wie mancher hier heute Morgen schon gesagt hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, frühkindliche Bil-dung hilft, Sprachbarrieren abzubauen und den Grund-stein zu einer guten, weiterführenden Bildung zu legen.Deshalb wollen wir mit unserem Antrag, dass es zwischenden Ländern vergleichbare und frühzeitige Sprachtestsvon Kindern in jungen Jahren gibt. So können wir frühreagieren, sozialen Disparitäten entgegenwirken und in-dividuelle Förderung garantieren.Immer weniger Jugendliche verlassen die Schuleohne Abschluss. Dennoch sehen wir hier weiteren Hand-lungsbedarf und werden uns darum kümmern. Ähnlichwie im Bereich der dualen Ausbildung muss die Abbre-cherquote weiter gesenkt werden. Wir schaffen diesdurch eine frühzeitige Berufsorientierung und Praktikasowie ausbildungsbegleitende Hilfen bis hin zur Ausbil-dungsassistenz.Der Schwerpunkt des Berichts lag dieses Mal auf In-klusion. Auch hier haben wir Handlungsanweisungen,die wir gerne aufgreifen. Seit Jahren haben viele Schulenerfolgreich eigene inklusive Konzepte verfolgt, trotz derteilweise fehlenden personellen, sachlichen und räumli-chen Voraussetzungen. Wir wollen diese Erfolgsmodelleanerkennen und kommunizieren.Nahezu alle Bundesländer verfolgen bereits eigeneModelle bei der Umsetzung in die Praxis. In unseremAntrag fordern wir deshalb einen runden Tisch. Gemein-sam mit den Bundesländern muss in einem regelmäßigenFachkongress – alle zwei Jahre – mit Politikern, Wissen-schaftlern, Pädagogen, Eltern und Schülern sowie Ver-tretern der Behindertenverbände und der Selbsthilfe eineBestandsaufnahme generiert und an konkreten Hand-lungsempfehlungen gearbeitet werden.
Dabei ist die immer wieder aufkommende, ideolo-gisch geprägte und wenig sachliche Diskussion darüber,die Förderschulen abzuschaffen, fehl am Platz. Wir dür-fen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
Im Hinblick auf elf verschiedene Förderschultypen istes wichtig, die Diskussion im Bereich der inklusivenBildung differenziert zu führen; denn viele junge Men-schen mit Beeinträchtigungen sind auf die individuelleBegleitung von erfahrenen Fachkräften sowie auf die zu-sätzliche Ausstattung an diesen Schulen angewiesen.Wir brauchen auch in Zukunft Förderschulen.
Auch im Bereich der Diagnostik von sonderpädago-gischem Förderbedarf zeigt uns die Studie Handlungs-bedarf auf. Denn es gibt weder einen Konsens darüber,was „sonderpädagogischer Förderbedarf“ meint, noch da-rüber, wie er festgestellt werden soll. So kommt es, dasssich die Betroffenen für die ihnen zustehenden zusätzli-chen Ressourcen teils halbjährlich diagnostizieren lassenmüssen. Da kann man sich vieles sparen. Inklusion zieltdoch darauf ab, die Verschiedenartigkeit der Schülerinnenund Schüler als selbstverständlich anzusehen. Damit ver-bunden wäre ein sinnvoller Bürokratieabbau.
Wir wollen auch prüfen, wie digitale Lernmaterialienund Medien sowie technologische Unterrichtshilfen denBildungszugang für Menschen mit Beeinträchtigungenerleichtern können und welche Voraussetzungen für denEinsatz in allen Schularten geschaffen werden müssen.Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU-Bun-destagsfraktion werden den Reformkurs für mehr Ver-gleichbarkeit und Qualitätsentwicklung im Bildungsbe-reich weiterverfolgen. Trotz aller Freude über dieErfolge der letzten Jahre sind wir uns in der Koalitionder vielfältigen Herausforderungen sehr bewusst undwerden sie gerne gemeinsam mit den Ländern angehen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Werner für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ja, Frau BundesministerinDr. Wanka, die Analyse ist einzigartig, und der Berichtist umfangreich. Die Stellungnahme der Bundesregie-rung zum fünften Nationalen Bildungsbericht mit demSchwerpunkt „Bildung von Menschen mit Behinderung“zeigt aber recht deutlich, wie wenig wichtig der Bundes-regierung die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention ist: Nur eine einzige Seite widmen Sie Men-schen mit Behinderung im Bildungssystem, und das beieinem Bericht, der 342 Seiten umfasst.
Das ist wirklich traurig.
– Lesen Sie einmal Ihre Stellungnahme.
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7630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Katrin Werner
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Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht, das nieman-dem verwehrt werden darf. Deshalb ist es für uns mehrals wichtig, dass jeder Mensch in diesem Land die Mög-lichkeit zur Teilhabe an einem inklusiven Bildungssys-tem hat, und zwar nicht irgendwann in ferner Zukunft,sondern jetzt und sofort.
Das Bildungssystem braucht hierzu mehr Geld. DieLänder und Kommunen brauchen die Unterstützungvom Bund. Es ist völlig unmöglich, dass der Bund beimFachkräftemangel im Bereich Bildung, Erziehung undPflege die Augen schließt und die Kommunen ihrem ei-genen Schicksal überlässt. Inklusion darf kein Spar-modell werden.
Inklusion ist wichtiger als die schwarze Null des Finanz-ministers.
Denn:Wer die Felder nicht bestellt, der kann nachher auchnicht ernten.Das waren Worte Ihrer Kollegin in der Aktuellen Stundeam Mittwoch dieser Woche. Bestellen Sie die Felder;dann können Sie auch die Zukunft ernten!
Am 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Men-schen mit Behinderung, mussten wir uns hier im Plenumvon einer Kollegin aus der CSU anhören – ich zitiere –:Die Mutter, die ihr Kind mit Downsyndrom an dasGymnasium bringen will, tut dem Kind, so meineich, nichts Gutes.Das ist Blödsinn.
Ich verstehe nicht, warum bei so einem Zitat hier in derRegierung niemand aufschreit.So verwundert es aber auch nicht, dass die Bundesre-gierung eine absolut oberflächliche, inhaltslose Stellung-nahme zur inklusiven Bildung für Menschen mit Behin-derung abgibt. Es gibt keinerlei neue Maßnahmen.
Dass Sie sagen, dass Inklusion eine Herausforderungist und weiter erforscht werden müsse, ist echt zu wenig.
Die vor knapp sechs Jahren in Deutschland in Kraft ge-tretene UN-Behindertenrechtskonvention ist geltendesRecht und verpflichtet die Politik zur Schaffung eines in-klusiven Bildungssystems. Ich möchte nicht in IhrerHaut stecken, wenn die UN Ende März Deutschland un-ter die Lupe nehmen. Die Kritik wird heftig.Sie sagen: Es mangelt an für ein inklusives Schulsys-tem gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern. Sie sa-gen: Es gibt nicht die richtigen Räume. Sie sagen: Esgibt nicht ausreichend Geld. Ich sage Ihnen: Es mangeltan Ihrem politischen Willen,
endlich die Ärmel hochzukrempeln und etwas in Rich-tung inklusiver Bildung zu tun.
Wir fordern erstens die sofortige Erstellung eines ge-sonderten Aktionsplans zur inklusiven Bildung – selbst-verständlich unter Einbeziehung der Menschen mit Be-hinderung.Wir fordern zweitens, dass Bund und Länder zusam-men die Bildungsarbeit angehen.Wir fordern drittens, dass Bund, Länder und Kommu-nen ein unabhängiges Beratungs- und Unterstützungs-system vor Ort befördern.Wir fordern viertens eine Qualitätsoffensive bei derAus- und Weiterbildung für das gesamte Bildungs- undAusbildungspersonal.Wir fordern fünftens den breiten Einsatz pädagogi-scher Fachkräfte mit Behinderung im Bereich der inklu-siven Bildung. Damit treten Sie übrigens auch demFachkräftemangel entgegen.Wir fordern sechstens einkommens- und vermögens-unabhängige sowie bedarfsgerechte Assistenzleistungenfür Menschen mit Behinderung an den Unis und Schu-len – und das auch über den ersten berufsqualifizieren-den Abschluss hinaus.Und wir fordern siebtens die Verankerung einer Be-rufsausbildungsquote für junge Menschen mit Behinde-rung in Betrieben.Wenn Sie etwas gegen das weitere Auseinanderdrif-ten dieser Gesellschaft tun wollen, müssen Sie dieÄngste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behin-derungen abbauen. Sie müssen endlich begreifen, dassder Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention undder Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mitBehinderung „Nichts über uns ohne uns!“ die Grundlagejeder positiven Veränderung ist.Danke.
Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7631
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Nationale Bildungsbericht sollte eigentlich eineChance sein, eine realistische Debatte über den Zustandunseres Bildungssystems zu führen; das heißt, Frau Kol-legin Hein, Herr Kollege Mutlu, weder alles in Grundund Boden zu reden
noch Dinge, die schwierig sind, zu beschönigen. – WennSie einen Moment zuhören,
kriegen wir das miteinander hin, glaube ich.Sie werden denjenigen, die im Bildungssystem tätigsind, die dort als Erzieherinnen und Erzieher arbeiten,den Eltern, den Kindern, den Schülerinnen und Schü-lern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Ausbildern, denPrüfern, denen, die in den Hochschulen im wissenschaft-lichen Mittelbau oder als Professorinnen und Professo-ren arbeiten, all denjenigen, die in der Weiterbildung tä-tig sind, nicht gerecht, wenn Sie alles in diesem Land imBereich der Bildung in Grund und Boden reden.
Wir werden ihnen aber auch nicht gerecht, wenn wirobjektive Probleme im Alltag des Bildungssystemsschönreden; auch regierungsamtlich sollten wir das nichttun. Ich bin der Ministerin sehr dankbar, dass sie daraufhingewiesen hat, dass wir auch vor großen Herausforde-rungen stehen. Aber es hat sich in den letzten Jahrenauch verdammt viel bewegt, und das hat Gründe.
Ich kann mich erinnern, dass es in den letzten 15 Jah-ren zwei Dinge gab, die uns alle wachgerüttelt haben. Dawar natürlich der PISA-Schock 2000. Was für die Ame-rikaner Ende der 50er-Jahre der Sputnik-Schock war, derzu Anstrengungen in der Luft- und Raumfahrt geführthat – bis zur Mondlandung –, war für unser Bildungssys-tem der PISA-Schock. Der PISA-Schock war aus meinerSicht deshalb heilsam, weil durch ihn ideologische Grä-ben in der bildungspolitischen Debatte überwunden wor-den sind.Was haben wir uns in diesem Land jahrelang gestrit-ten – ich sage mal: Konservative und Sozialdemokra-ten – über die Frage, ob Leistung wichtig ist oder Chan-cengleichheit! PISA hat uns vor 15 Jahren bescheinigt,dass wir an beiden Ecken im Bildungssystem massiveProbleme hatten: beim Zugang, bei der Chancengleich-heit und bei der Leistungsfähigkeit, bei der Qualität inder Breite und der Exzellenz in der Spitze. Da hat sich inden letzten Jahren dank vielfältiger Anstrengungen vomBund, aber vor allen Dingen auch von Ländern undKommunen, die nach wie vor in unserem Bildungssys-tem hauptverantwortlich und zuständig sind, eine ganzeMenge getan. Wir haben einen Aufbruch in den Ländernerlebt. Wir haben den Kitaausbau erlebt. Wir haben Län-dervergleiche, Ganztagsschulprogramme, Bildungsstan-dards. Das Ganze braucht Zeit, zu wirken; das ist garkeine Frage. Bildung ist manchmal eine langfristige In-vestition, auch über Legislaturperioden hinaus. Das, wasSie heute säen, kann man dann eben erst in 10 oder15 Jahren im Bildungssystem wirklich sehen. Natürlichist vieles noch nicht so weit, wie wir es haben wollen.Nicht alle Ziele sind erreicht. Aber es hat sich doch eineganze Menge getan.Ein zweiter Aufbruch, der im Bildungssystem stattge-funden hat, ist in den 2000er-Jahren der Aufbruch imBereich der Hochschulen gewesen. Das war ein massi-ver Aufbruch; ich nenne an dieser Stelle die StichworteExzellenzinitiative, Hochschulpakt, Pakt für Forschungund Innovation. Das war ein Riesenaufbruch, vergleich-bar der Bildungsexpansion Ende der 60er- und Anfangder 70er-Jahre im Bereich der Hochschulen. Auch das istein Riesenerfolg.
Trotzdem müssen wir angesichts dieses Bildungsbe-richts auch über die objektiven Herausforderungen undProbleme im System reden. Es geht dabei um drei The-men.Erstens geht es nach wie vor um die Frage, wie es umdie Chancengleichheit bestellt ist. Bei allen Verbesserun-gen – ich komme gleich darauf – ist es für uns Sozialde-mokraten nicht erträglich, dass nach wie vor auch inunserem Land Herkunft, Migrationshintergrund, Geld-beutel der Eltern stärker über die Bildungs- und Lebens-chancen von Kindern und Jugendlichen entscheiden alsin anderen Ländern. Wir wollen nicht, dass die Herkunftentscheidet, sondern wir wollen, dass sich Talente entfal-ten können, dass Leistung in diesem Land zählt undnicht Herkunft, dass Menschen selbstbestimmt lebenkönnen, dass sie ihren eigenen Lebensweg gehen kön-nen.
Deshalb ist der Befund so, dass sich zwar einiges ge-tan hat, aber wir in diesem Bereich, wenn wir einmalganz ehrlich sind, nach wie vor weit von Chancengleich-heit entfernt sind, wenn es beispielsweise um Kinder undJugendliche mit dem berühmten Migrationshintergrundgeht. Da liegt noch eine ganze Menge im Argen.
Die Zahl derjenigen, die ohne Schulabschluss daste-hen, hat sich zwar insgesamt reduziert, aber noch immer-hin 50 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr un-sere Schulen ohne jeden Schulabschluss. 1,5 MillionenMenschen zwischen 20 und 30 stehen ohne beruflicheErstausbildung da. Unter diesen sind ganz viele, die
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7632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Hubertus Heil
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Wurzeln außerhalb unseres Landes haben. Aber dafürkönnen die Kinder und Jugendlichen nichts. Sie sind hierin dieser Gesellschaft aufgewachsen. Hier geht es umeine Frage der Gerechtigkeit. Ich füge aber hinzu: Es istauch eine Frage der ökonomischen Vernunft. Wir kön-nen nicht über Fachkräftemangel klagen und diese Po-tenziale in unserem Land ungenutzt lassen. Jeder brauchteine Chance auf Teilhabe in diesem Land.
Deshalb, Herr Kollege Mutlu, sind wir beim Befundgar nicht anderer Meinung. Wir stehen hier vor einer rie-sigen Herausforderung. Nur zu glauben, dass das derBund alleine stemmen könne, ist illusorisch. Wir brau-chen vielmehr eine Kraftanstrengung von Bund, Län-dern, Kommunen, von Gewerkschaften, Arbeitgebern,um dieses Thema anzugehen.
Zu sagen, dass wir inzwischen angefangen haben, dasmiteinander anzugehen, gehört auch dazu.
Zweitens. Wir müssen, auch wenn Geld im Bildungs-system nicht alles ist, natürlich über Geld reden. Wir ha-ben da eine ganze Menge bewegt, zum Beispiel im letz-ten Jahr auf Bundesebene. Ich sage, da hat sich in einemJahr mehr bewegt als in vielen Jahren davor. In diesemeinen Jahr haben wir es geschafft, die Länder massiv zuentlasten – 6 Milliarden Euro haben wir da auf den Weggebracht –, damit sie stärker in Bildung investieren kön-nen, wir haben den Hochschulpakt verlängert, dasBAföG erhöht usw. usf. Wir haben seit 1995 als Gesamt-staat auch massiv die Bildungsausgaben um sage undschreibe 42 Prozent gesteigert. Ich gebe aber zu: Dasreicht noch nicht. Es geht allerdings nicht um solcheMondzahlen, wie Sie sie, Frau Kollegin Hein, in dieWelt setzen, in Höhe von 40 Milliarden Euro. Ich weißnicht, woher Sie das nehmen,
möglicherweise aus einer Gelddruckerei. Das ist abernicht das, was wir brauchen.
Wir müssen natürlich über die Frage reden, was wiran zusätzlichen Geldmitteln organisieren müssen, aberauch darüber, wo wir es einsetzen, um die Qualität zuverbessern. Da sage ich: Wenn uns die erste PISA-Studieetwas gelehrt hat, dann das, dass die frühe und individu-elle Förderung von Kindern und längeres gemeinsamesLernen vernünftig sind. In der frühkindlichen Förderungist nach wie vor das Problem, dass wir zwar beim Aus-bau vorangekommen sind, aber weitere Anstrengungenbrauchen, um zu mehr Qualität zu kommen.
Daran arbeitet diese Bundesregierung, insbesondereFrau Ministerin Schwesig. Ich glaube, das ist der richtigeWeg. Wir müssen mehr in die frühkindliche Förderunginvestieren. Mit „wir“ meine ich Bund, Länder undKommunen, also den Gesamtstaat. Wir müssen den Er-zieherinnen und Erziehern den Rücken stärken. Wirmüssen Weiterbildung ermöglichen. Dann werden wir indiesem Bereich den Primat der Herkunft als Grund fürBildungschancen stärker durchbrechen. Die frühe undindividuelle Förderung von Kindern braucht mehr Inves-titionen. Das müssen wir uns alle miteinander vorneh-men.
Drittens. Neben der Frage von Chancengleichheit undneben der Geldfrage müssen wir auch über Zuständig-keiten reden. Ich will keine alten Schlachten schlagen.Ich will nur versuchen, mit einigen Missverständnissenaufzuräumen. Ein Missverständnis ist: Diejenigen, diesich nach wie vor dafür einsetzen, dass das Koopera-tionsverbot nicht nur im Bereich der Wissenschaft fällt– das haben wir gemeinsam geschafft –, sondern auch imBereich der allgemeinen Bildung, der schulischen Bil-dung, sind nicht diejenigen – in ihrer überwiegendenZahl; wir jedenfalls nicht –, die auf Zentralismus setzen,denen es darum geht, dass sich der Bund neue Kompe-tenzen anmaßt. Es geht um Gemeinsamkeit, um Koope-ration und um gemeinsame Kraftanstrengung.
Ich weiß, dass es im Moment in diesem Hause, geradebei unserem Koalitionspartner – auch wenn der Bundes-rat dem offen gegenübersteht –, keine Zweitdrittelmehr-heit für eine entsprechende Verfassungsänderung gibt.Gleichwohl müssen wir aus meiner Sicht mit Blick da-rauf daran arbeiten und darüber diskutieren, dass wir unsfür zusätzliche Anstrengungen auf diesen Weg machenmüssen. Ich werde dazu gleich zwei Beispiele nennen.
Herr Kollege Kauder, erinnern wir uns daran, welcheKlimmzüge wir oft machen müssen. In der letzten Gro-ßen Koalition haben wir beispielsweise aufgrund wirt-schaftlicher Not versucht, mithilfe des Konjunkturpake-tes in den Kommunen Geld an vernünftiger Stelleeinzusetzen. Wir haben versucht, Umwege zu finden.Über energetische Gebäudesanierung durften wir dannauch Schulen sanieren. Aber warum, meine Damen undHerren, ist es eigentlich nicht möglich, dass wir mitBund und Ländern zum Beispiel im Bereich der Ganz-tagsschulen vorangehen, wenn dafür Geld vorhandenwäre?
Warum ist es so, dass wir beim Thema „Haus der klei-nen Forscher“ – ein ganz wichtiges Projekt zur Förde-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7633
Hubertus Heil
(C)
(B)
rung beispielsweise der MINT-Berufe, über die Helm-holtz-Gemeinschaft gefördert – zwar im Kitabereicheine ganze Menge fordern können, um die Neugier vonKindern und ihren Forschergeist zu wecken, wenn esaber darum geht, das Ganze auf den Bereich der Grund-schulen auszudehnen, wir an Grenzen stoßen, weil wirmit Geld des Bundes keine Dinge machen können, beidenen der Bund im gesetzgeberischen Bereich keineKompetenz hat? Noch einmal: Mir geht es nicht um Zen-tralismus. Man kann von Berlin ganz schlecht Bildungs-politik für ganz Deutschland machen, auch wenn mandie alleinige Zuständigkeit hat.
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir einegemeinsame Kraftanstrengung brauchen. Deshalb sageich: Auch für die Grünen gibt es im Übrigen keinenGrund zur Häme. Wenn ihr es schaffen würdet, eureneinzigen Ministerpräsidenten in Stuttgart, HerrnKretschmann, davon zu überzeugen, dass eine Änderungder Verfassung in diesem Bereich zielführend ist, dannarbeiten wir weiter daran, unseren Koalitionspartner inBerlin zu überzeugen. Das ist doch ein Deal, den wir ein-gehen können.
Meine Damen und Herren, Verantwortung, Leiden-schaft und Augenmaß braucht auch die Bildungspolitik.Ich spreche der Opposition nicht ab, dass sie auch Lei-denschaft für dieses Thema hat. Das ist gut. Ich sprecheIhnen aber an der einen oder anderen Stelle das Augen-maß ab. Ich richte das ganz deutlich an die Kollegin, dievorhin gesprochen hat. Es ist nicht in Ordnung, wenn wiruns wechselseitig unterstellen, dass wir die Herausforde-rungen von Inklusion nicht begriffen haben. Sie habendie Rede meiner Kollegin Tack vielleicht gehört. Es istein gemeinsames Ziel, dafür zu sorgen, dass Menschenmit und ohne Behinderung in diesem Land gleichberech-tigte Teilhabe am Leben haben. Das gilt vor allen Din-gen auch in der Bildung. Nur eines ist auch ganz klar: Zuglauben, dass man das mit der Brechstange hinbekommt,dass man das mit einem Fingerschnipp hinbekommt, un-terschätzt die Lebensrealität von Eltern, von Kindern,von denjenigen, die an den Schulen lehren. In diesemBereich haben wir Riesenprobleme.
Herr Kollege.
Aber das Ziel eint uns. Wir haben viel zu viele Kinder
an Förderschulen, die dort nicht hingehören, auch wenn
wir, wie gesagt, einen Übergang brauchen. Sie gehören
in die Regelschulen. Das ist ganz klar. Das geht aber
nicht ohne Assistenz, ohne Unterstützung und ohne Um-
steuern. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir müs-
sen aufpassen, dass das Thema Inklusion die Gesell-
schaft nicht spaltet, sondern dass wir Inklusion in diesem
Land hinbekommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Katja Dörner erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Angesichts der Ereignisse in Frankreichfällt es mir ehrlich gesagt schwer, in unserer herkömmli-chen Manier über den Nationalen Bildungsbericht zu de-battieren; und das vor dem Hintergrund – ich denke, da-rin sind wir uns alle einig –, welche zentrale Rolleunsere Bildungsinstitutionen in unserem Land für einegelingende Integration spielen.
Die aktuellen Ereignisse müssen für uns ein besonde-rer Ansporn sein, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen,Kitas, Schulen, Hochschulen, aber auch die Einrichtun-gen der Erwachsenenbildung, Einrichtungen für Jugend-liche darin zu unterstützen, dieser wichtigen und zentra-len Aufgabe gerecht werden zu können. Das ist ausmeiner Sicht sehr wichtig.Gestern hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs-erklärung erneut bekräftigt, dass der Islam zu Deutsch-land gehört. Ich halte das für eine Selbstverständlichkeit.Aber leider muss das offensichtlich bekräftigt und betontwerden.Was heißt das für unsere Bildungsinstitutionen? Ichmöchte hier auf eine ganz konkrete Fragestellung zusprechen kommen. Ich komme aus Nordrhein-Westfa-len, und Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundesland,das – im Schuljahr 2012/2013 – islamischen Religions-unterricht eingeführt hat, einen islamischen Religionsun-terricht in deutscher Sprache nach modernen religions-pädagogischen Grundsätzen.
Die grüne Schulministerin von Nordrhein-Westfalen,Sylvia Löhrmann, hat gestern gesagt, dass der islamischeReligionsunterricht auch „ein Zeichen der Anerkennungund Wertschätzung“ für die Muslime in unserem Landist. Ich finde, heute ist eine gute Gelegenheit, diesen Satzhier ganz dick zu unterstreichen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, islamischer Reli-gionsunterricht ist gelebte Integration und auch geradeaktuell ein Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Ge-sellschaft. Nun ist mir ja hinlänglich bekannt, dass wirhier auf Bundesebene – der Bundestag, die Bundesregie-rung – in diesem Zusammenhang keine Handlungskom-petenzen haben. Aber ich weiß, hier sitzen Kolleginnenund Kollegen aus der ganzen Bundesrepublik, aus allenBundesländern. Ich möchte Sie einladen, sich einmal an-zuschauen, welche Erfahrungen wir mit dem islami-schen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen ge-macht haben.
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7634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Katja Dörner
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will natürlichauch auf den Nationalen Bildungsbericht im engerenSinne eingehen. Da muss ich sagen: Ich muss mich dochsehr wundern. Der Bildungsbericht beschreibt die früh-kindliche Bildung als ein zentrales Handlungsfeld. Früh-kindliche Bildung in der Kita ist – neben der Familie –die Grundlage für alles. Aber ich habe heute seitens derKoalitionsfraktionen noch niemanden gehört, der dazugesprochen hat.
Die Ministerin hat zwei Sätze dazu gesagt, aber die wa-ren eher retrospektiv. Ich finde das wirklich bitter. Es be-stätigt mich leider in meinem Eindruck, dass die Kitas,dass die frühkindliche Bildung bei dieser Bundesregie-rung ganz schlechte Karten hat. Wir halten das fürfalsch.
Schon bei der Verteilung der berühmt-berüchtigten6 Milliarden Euro wurden die Kitas mit eher mickrigenSummen abgespeist: Gerade einmal 550 Millionen Eurozusätzlich gibt es für die gesamte Legislaturperiode. Dasist, wenn man nur den Ausbau der Plätze betrachtet, eherein Tropfen auf den heißen Stein, und für die dringendnotwendige Qualitätsverbesserung bleibt da natürlichüberhaupt nichts mehr übrig. Eine Verbesserung derFachkraft-Kind-Relation ist der Schlüssel für mehr Qua-lität in der Kita; das schreiben Sie selbst in Ihrem An-trag. Also die dringende Aufforderung an die Bundesre-gierung: Tun Sie endlich etwas dafür, dass es hier zuVerbesserungen kommt.
In den letzten Tagen haben wir von Vertretern derUnion und auch der SPD viele Äußerungen dazu gehört,wie die Spielräume im Haushalt auch für familienpoliti-sche Leistungen genutzt werden sollten. Das Stichwort„Kita“ ist dabei gar nicht gefallen. Ich finde das schade;ich halte das auch für falsch. Wir brauchen dringendmehr Geld für die Kitas, insbesondere – ich habe esschon gesagt – für Qualitätsverbesserungen. Das sindzentrale bildungspolitische Investitionen, und es istüberhaupt nicht einsichtig, zumindest für uns Grünenicht, dass das für die Regierungsfraktionen überhauptkeine Rolle spielt.
Im kompletten Forderungsteil Ihres Antrags kommt dieganze Thematik der frühkindlichen Bildung und desKitaausbaus gar nicht vor. Ich muss konstatieren: Dassind sehr schlechte Aussichten für die frühkindliche Bil-dung in dieser Legislaturperiode.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Uwe Schummer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!Liebe Kollegin Werner, welchen Stellenwert die Frageder Behindertenpolitik und der Inklusion bei den Linkenhat, sieht man daran, dass der profilierteste Sprecher, denSie in dem Bereich haben, Herr Ilja Seifert, nicht mehrdem Parlament und Ihrer Fraktion angehört. Sie habenihn nicht ausreichend abgesichert; er war Ihnen nichtmehr wichtig.
Insofern ist es eine ganz politische Frage, ob man letzt-endlich bereit ist, in der eigenen Truppe Konsequenzenzu ziehen, oder man sie immer nur von anderen einfor-dert, aber selber versagt.
40 Prozent derer, die in einer Förderschule unterrich-tet werden, gelten als lernbehindert. Ich denke, dass wiruns mit Blick auf unsere Bildungslandschaft angesichtsder offenkundig steigenden Zahl der Menschen mitLernbehinderung selber einmal fragen müssen, ob nichtmanchmal auch die Bildungsmethoden und -systemefalsch sind. Der Nürnberger Trichter und die Schwer-punktsetzung auf eine rein theoretische Herangehens-weise können nach meiner Überzeugung vermeintlicheLernbehinderungen produzieren. Denn es ist nicht im-mer ein Kind lernbehindert, sondern es sind oftmals dieMethoden, die Systeme, die das Lernen behindern.
Begreifen kommt auch von greifen.Der Weg aus der praktischen Erfahrung zum Ver-ständnis wurde in der allgemeinen Bildung weitgehendverbaut. Praxis und Theorie in der dualen Berufsausbil-dung zeigen auch der allgemeinen Bildung, wie es bes-ser gehen kann: wie man auf der einen Seite von derTheorie zur Praxis gelangt und auf der anderen Seiteüber die Praxis zum theoretischen Verständnis kommt.Beide Wege müssen möglich sein; beide Wege sindgleichberechtigt in der Bildung.
Berufsschulen und überbetriebliche Werkstätten kön-nen im Verbund mit den allgemeinbildenden Schulendiese praktischen Wege wieder freilegen. Der Bildungs-bericht empfiehlt auch, dass dort, wo sonderpädagogi-scher Förderbedarf vorhanden ist, dieser mit den Bil-dungsakteuren besser abgestimmt wird. Eine Assistenz
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Uwe Schummer
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sollte in der Schule, in den Bildungseinrichtungen nichtisoliert mitlaufen, sondern Assistenz und Bildungsperso-nal sollten eng miteinander verzahnt sein.Jährlich verlassen etwa 50 000 Jugendliche mit son-derpädagogischem Förderbedarf die Schule. Nur wenigefinden eine Berufsausbildung. Nur 10 Prozent der Be-triebe im dualen System bieten auch für behinderte Ju-gendliche Ausbildungsplätze an. In meinem Bundestags-büro war ein Vertreter des Verbandes der Floristen zuBesuch, der sich darüber beklagte, dass die Floristenkeine Auszubildenden mehr finden. Ich habe ihn gefragt:Haben Sie es denn auch einmal mit behinderten Jugend-lichen versucht? – Man konnte schon an seinen Augensehen, dass das nicht so richtig sein Thema war. Schließ-lich kam die Antwort: Die Kunden, die zu uns kommenund Blumen kaufen, haben nie Zeit, sie müssen sofortweiter. – In diesem Zusammenhang sollte man vielleichteinmal über Entschleunigung nachdenken.
Wir sollten uns mit der Frage beschäftigen, ob man nichtArbeitsprozesse und -strukturen so organisieren kann,dass sie menschengerecht sind und dass dadurch auchbehinderte junge Menschen ein Stück weit die Chancebekommen, mitzuarbeiten.
Da kann einiges im Hintergrund geschaffen werden.Man hat auch entsprechende Finanzierungsmöglichkei-ten für den Umbau von Arbeitsplätzen. Es gibt auchKunden, die Zeit haben und die froh sind, wenn sie einKäffchen bekommen und mit dem Floristen ein Ge-spräch führen können. Entschleunigung ist etwas, wasuns allen guttut. Deshalb ist das ein Thema, das wir so-wohl in der Arbeitswelt als auch in der Politik aufgreifensollten.Ich war am Montag in einer katholischen Grund-schule in Neuzelle in Brandenburg. Ich fand es span-nend, zu sehen, wie hier eine Regelgrundschule aus einerFörderschule entwickelt worden ist, eine Regelgrund-schule in Vielfalt, wie sie sich selber nennt. Zwei Drittelder Kinder sind ohne Förderbedarf, ein Drittel benötigtSonderförderung. Die Klassengröße liegt bei 16. Von derersten Klasse an lernen Kinder, behindert oder nicht, ge-meinsam. Es gibt ausreichend finanziertes geschultesPersonal und Räume für den Fall, dass sich Schüler mitihrer Assistenz zurückziehen wollen.Wir wissen, dass die Zahl der Schüler mit besonderemFörderbedarf seit vielen Jahren konstant bei 500 000 liegt,bei einer allerdings insgesamt sinkenden Schülerzahl.Wir wissen auch, dass im Grundschulbereich die inklu-sive Beschulung bei etwa 44 Prozent liegt, im Sekundar-bereich sinkt sie auf 23 Prozent.Deshalb ist es wichtig, auf der einen Seite Zielsetzun-gen für die Inklusion zu entwickeln. Auf der anderenSeite müssen aber auch die Voraussetzungen geschaffenwerden. Die wunderbare, fabelhafte grüne Bildungspoli-tik von Frau Löhrmann in Nordrhein-Westfalen hinge-gen sorgt erstens dafür, dass ein Unterrichtsstundenaus-fall überhaupt nicht erfasst werden kann.
Man hat sich für 700 000 Euro ein Gutachten erstellenlassen, in dem festgestellt wird, weshalb man Ausfall-stunden nicht addieren kann. Zweitens wird jeder Schü-ler in Nordrhein-Westfalen mit 2 800 Euro weniger imJahr gefördert, als das beispielsweise in Thüringen derFall ist. Damit wird im Grunde die Zielsetzung erkenn-bar: Wir schaffen die Förderschulen ab und übertragendie Mittel auf die Regelschulen; das wird schon irgend-wie klappen. – Auf diese Weise fährt man Inklusion kra-chend gegen die Wand!
Die Eltern und Lehrer in Nordrhein-Westfalen sind dannbedauerlicherweise sauer und regen sich auf über Inklu-sion, obwohl die Auswirkungen offenkundig auf einefalsche, alles über Bord werfende Bildungspolitik vonFrau Löhrmann zurückzuführen sind.
Das beschädigt die Inklusion.
Deshalb kann ich nur empfehlen, die katholische Re-gelschule in Neuzelle in Brandenburg als Vorbild zu se-hen, sie einmal zu besuchen und davon zu lernen.Es ist gut, dass wir in diesem Bildungsbericht ge-meinsam – Bund und Bundesländer – Konsequenzenentwickelt haben. Das ist auch ein gutes Zeichen, dasswir als Bund mit den Ländern diese Aufgabe bewältigen.
Nächster Redner ist der Kollege Rossmann für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vom Bildungsgipfel 2008 bis zu den Bildungsberichtengeht es immer um strategische Bildungspolitik. Anliegeneiner strategischen Bildungspolitik muss dabei sein, zumeinen möglichst viele Kräfte zu bündeln, zum anderenmöglichst zu einer gemeinsamen Analyse zu kommenund daraus auch Handlungen abzuleiten. Ich finde, dazugehört auch eine Differenzierung. Wenn wir das aufneh-men, was in den Beiträgen, von dem unserer Ministerinbis zu dem meines Vorredners, geäußert wurde, dannsind wir doch schon weitergekommen: in Licht undSchatten, in Prioritäten und Posterioritäten. Aber dieserBildungsbericht und die Diskussion dazu zeigen dochauch, dass es so etwas wie einen „Spirit“ geben kann, ge-
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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meinsam mit Kommunen, Ländern, Bund, Sozialpart-nern und Wissenschaft an wichtigen Schlüsselstellen an-zusetzen. Aber ich bitte dann auch alle Seiten darum,dabei mitzugehen.Natürlich kann man einem Antrag der Koalitionsfrak-tionen vorwerfen, dass darin nicht ausgiebig etwas zuHochschulen gesagt wird. Aber das war auch nicht dieAbsicht. Wir haben uns, weil es – der Kollege Heil unddie Ministerin haben es gesagt – um Bildungschancenfür alle geht, vorgenommen, diese Forderung auch ein-mal auf die rund 500 000 Kinder, die eine Schule besu-chen, auf eine noch größere Zahl von Kindern, die hof-fentlich eine Kindertagesstätte besuchen, und aufdiejenigen, die mit einer Behinderung eine Berufsbil-dungseinrichtung oder Hochschule besuchen, zu bezie-hen. Herr Mutlu, dann lässt man anderes eben weg. Wirfinden, dass das eine Ausfüllung einer strategischen,politischen Schwerpunktsetzung ist.Herr Jung, noch einmal vielen Dank dafür, dass wirdort auch viele differenzierte Vorschläge machen konn-ten. Aber es soll ja nicht nur bei den Vorschlägen blei-ben, sondern entscheidend ist auch die Tat.
In diesem Zusammenhang will ich nur darauf auf-merksam machen: Wenn Sie sich jetzt die Vereinbarun-gen der Allianz für Aus- und Weiterbildung anschauen,die diese Bundesregierung mit initiiert hat, dann findenSie dort über das hinaus, was im berufsbildenden Be-reich schon gemacht worden ist, sehr präzise Verabre-dungen, speziell für junge Menschen mit Behinderung inder beruflichen Ausbildung mehr zu tun, angefangen bei400 000 Praktikumsplätzen, bei denen sich die Wirt-schaft verpflichtet hat, diese bewusst auf Menschen miteiner Behinderung auszurichten, bis hin zur assistiertenAusbildung. Die assistierte Ausbildung soll ja auch einPfund sein, mit dem man wuchern kann. Es wurde sogarverabredet, zusätzliche Ausbildungsplätze für diesen Be-reich zur Verfügung zu stellen. Das macht doch das Stra-tegische aus: etwas zu erkennen, gemeinsam zu verabre-den und dann auch umzusetzen. Das macht uns dannauch in Teilen zufrieden hiermit.
Ich will gerne in der Logik des Bildungsberichtesbleiben und noch sagen: Das gibt uns ja auch dieChance, tiefer zu graben. Was die frühkindliche Bildungangeht, müssen wir uns – Kollege Heil hat es angespro-chen; die Ministerin hat es auch angesprochen –, wennwir den Bildungsbericht lesen, auch selbstkritische Fra-gen stellen. Im Bildungsbericht steht in einem Kapitel,dass ausgerechnet bei Kindern aus Migrationsfamilien,von denen wir alle uns wünschen, dass sie besonders gutSprache lernen, ein zu großer Anteil eben nicht in eineKindertagesstätte geht. Ich will nicht versäumen, daraufhinzuweisen, dass es ja auch verwirren muss, wenn esein Betreuungsgeld dafür gibt, dass ein Kind keine Kin-dertagesstätte besucht, und wir gleichzeitig erwarten,dass dort Sprache gelernt werden soll. Wir müssen ausdem Bildungsbericht diagnostizieren: Da fehlen zweiJahre im Spracherwerb, die über gute Kindertagesstättenfür Migrantenkinder ermöglicht werden könnten. Viel-leicht können wir auch an so etwas arbeiten.Ein zweiter Punkt. Der Bildungsbericht stellt dieSchlüsselstellung der Ganztagsschule heraus, sagt aberauch, dass die Entwicklung auf diesem Gebiet stagniert.Muss uns nicht die im Bildungsbericht festgestellte Sta-gnation beim Ausbau guter Ganztagsschulen veranlas-sen, noch einmal zwischen Kommunen, Bund und Län-dern darüber nachzudenken, wie man gemeinsam eineFortsetzung der Ganztagsschulentwicklung mit Qualitätund auch mehr Quantität erreichen kann? Die Elternwünschen sich das. Das ist aber auch strategisch wichtigin Bezug auf die Anforderungen, die der moderne Ar-beitsmarkt stellt. Es soll doch möglich sein, dass Frauenwie Männer zur qualifizierten Wertschöpfung ausrei-chend beitragen. Dafür bleibt die Ganztagsschule eineSchlüsselstelle, und wenn es eine Schlüsselstelle ist,dann ist sie es auch für eine strategische Bildungsverant-wortung aller Kräfte.
Das Dritte, was durch den Nationalen Bildungsberichtals Schwerpunkt herausgearbeitet wird, ist der Übergangvon der allgemeinen Bildung zur beruflichen Bildung.Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich heraus-stellen, wie wichtig es ist – Kollege Rupprecht, wir ha-ben als Parlamentsfraktionen das verstärkt, was die Re-gierung im Auge hatte –, Berufsorientierung nicht nurverstärkt auf Gymnasiasten auszuweiten, sondernschwerpunktmäßig auch für Menschen mit Behinderung,für Förderschüler und andere. Der Bericht und die prak-tischen Erfahrungen mit der Berufsorientierung bestäti-gen, dass wir alle im Blick haben müssen und nicht nurdie Abiturienten. Wir müssen alle ernst nehmen. KollegeSchummer, ich fand Ihre Ausführungen über die Floris-ten sehr gut, weil das ein praktisches Beispiel war. Das,was Sie zu Nordrhein-Westfalen gesagt haben, wirdgleich noch gekontert, aber jetzt erst einmal zum prakti-schen Bezug: Praktische Hilfen sind wichtig, und diesenBereich müssen wir ausbauen.Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist dieVerbindung von Berufs- und Hochschulausbildung. Wirkönnen uns darüber freuen, dass wir laut Bildungsbe-richt viele Master haben. Der Bildungsbericht sagt unsaber auch, dass wir uns erst recht freuen können, wennwir viele Meister haben. Diese Gleichwertigkeit istwichtig. Priorität darf nicht die akademische Bildung ha-ben, sondern die Priorität muss auf einem erfolgreichenAbschluss im beruflichen oder akademischen Bereichliegen. Das ist eine Botschaft des Bildungsberichts, diezu Handlungen führen kann, die zu Handlungen führenmuss.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Strategischsind wir gut aufgestellt: mit volatilen Bildungsgipfeln,mit einem kontinuierlich erscheinenden Bildungsbericht,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7637
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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mit einer KMK, die sich zunehmend konsensorientiertund strategisch ausrichtet. Wir werben nach wie vor da-für, die Weisheit, die in einem CDU-Parteitagsbeschlusszum Ausdruck kommt – Beschluss C 13 und C 53, Par-teitag 2014 in Köln – aufzugreifen und einen nationalenBildungsrat, den uns die vormalige Bildungsministerin,Frau Schavan, anempfohlen hatte, nicht von vornhereinauszuschließen, sondern offen darüber nachzudenken,ob ein solcher nationaler Bildungsrat die Bildungsrepu-blik Deutschland durch einen Konsens und die strategi-sche Bündelung aller Kräfte weiter befördern könnte.
Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bises Chancen für alle gibt, ist noch viel zu tun. Das ist dasKernergebnis des Bildungsberichts 2014 und auch meinZwischenfazit in dieser Debatte.Der Reformstau ist auch deswegen so groß, weil zweiCDU-Bundesbildungsministerinnen zu wenig für Bil-dungsgerechtigkeit getan haben. Ein Kurswechsel hin zueinem inklusiven Bildungsaufsteigerland tut not.
Sieben Jahre nach dem Bildungsgipfel brechen immernoch zu viele die Schule ab, bleiben zu viele ohne Be-rufsabschluss, bleiben Geringqualifizierte abgehängt.Dieser Chancenmangel und die soziale Spaltung im Bil-dungssystem verschwinden nicht durch föderale Klein-staaterei und nicht durch Unterfinanzierung.
Sie werden nur durch gemeinsames Handeln von Bund,Ländern und Kommunen für alle Bereiche der Bildungs-kette von der Kita bis zur Weiterbildung überwunden:für U 3, für Ganztagsschulen, für Inklusion, für Schul-sozialarbeit und eine Ausbildungsgarantie. Das ist not-wendig.
Ob gemeinsames Handeln dann zu einem nationalenBildungsrat führt, darüber müssen wir diskutieren, undzwar fraktionsübergreifend, mit den Verbänden und vorallem entlang der Frage nach seinem Mehrwert. Falschdagegen ist es, die Idee zu vereinnahmen und vorzupre-schen, wie die SPD es gerade macht. Mit solchen Kaper-fahrten riskiert man, dass eine genauso alte wie interes-sante Idee baden geht. Notwendiger als ein neuesGremium ist es aus unserer Sicht, mehr Kooperation inder Bildung überhaupt zu ermöglichen.
Das bildungsfeindliche Kooperationsverbot muss fallen.Das hat uns die Große Koalition 2006 eingebrockt und2014 nicht behoben. Dieses Kooperationsverbot mussfallen, und deswegen muss vor allem die Union endlichihren Widerstand aufgeben.
Solange Bund und Ländern eine echte Bildungszusam-menarbeit verbaut bleibt, bliebe ein neues Strategie-gremium wie der nationale Bildungsrat nur eine lahmeEnte.Zu alten Fehlern kommen neue Versäumnisse hinzu.Es ist zwar wunderbar, dass Bund und Länder die Wis-senschaftspakte fortsetzen, aber wo bleibt der Vorschlagder Koalition, wie die neuen Kooperationsmöglichkeitenin der Wissenschaft, also die neue Verfassungsrealitätseit dem 1. Januar 2015, genutzt werden können? Fehl-anzeige! Da sind Sie blank, Sie haben keinen zusätzli-chen Cent und keine neue Idee – das ist mau für unsereWissensgesellschaft.
Anstatt substanziell für bessere Studien-, Lehr- undArbeitsbedingungen zu sorgen, diskutieren die Kollegenaus der Koalition seit Monaten lieber über eine angebli-che Akademikerschwemme. Dabei übersehen sie, dasswir durch den demografischen Wandel vor einem ver-schärften Fachkräftemangel sowohl an beruflich als auchan akademisch Qualifizierten stehen. Unser Landbraucht mehr Meister und mehr Master. Wir als Grünewollen es den jungen Menschen selber überlassen, ob sieein Studium oder eine Ausbildung wählen.
Für Fachkräftesicherung ist unerlässlich, niemandenzurückzulassen, keine Bildungsverlierer zu produzierenund Hürden für qualifizierte Einwanderung einzureißen.In unserer global vernetzten und wissensbasierten Volks-wirtschaft kommt es auf Vielfalt, auf Kreativität, auf In-ternationalität und auf Ideenreichtum an. Deutschland istauf Einwanderung als Innovationstreiber in Wissen-schaft und Arbeitswelt angewiesen. Die Liste der Man-gelberufe muss daher jetzt erweitert werden. Auch jungeFlüchtlinge und Asylbewerber brauchen eine Ausbil-dungsgarantie mit gesichertem Aufenthaltsstatus, inten-siver Sprachförderung und gleichberechtigtem Zugangzur Ausbildungsförderung. Das sagen Ihnen auch jedesUnternehmen und jeder Betrieb.
Gerechte Chancen und gute Bildung für alle – beidesist konstitutiv für eine gelingende Persönlichkeitsent-wicklung und eine freiheitlich-demokratische Gesell-schaft. Gute Bildung immunisiert gegen Fundamentali-sierung und Fanatisierung und gleichzeitig auch gegenjede Form von Vorurteilen und Menschenfeindlichkeit.Deshalb ist gute Bildung eine Antwort auf Islamismusund Islamophobie, also auch ein wirksames Therapeuti-kum gegen gesellschaftliche Spaltpilze wie Pegida und
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Kai Gehring
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Co. Auch deswegen muss eine chancengerechte Bil-dungspolitik bei dieser Regierung einen höheren Stellen-wert bekommen. Das ist auch für den sozialen Zusam-menhalt in unserem Land unerlässlich.
Die Kollegin Benning erhält nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Dieser Nationale Bildungsberichtuntersucht die einzelnen Stationen des Bildungsweges,von der Kita bis zur beruflichen Ausbildung, bis zumStudium. Jede Station baut dabei auf der vorherigen auf.Je besser ein Bildungsschritt gelingt, desto günstiger istes für den folgenden. Unter Führung der Union sind wirin den letzten Jahren bei der Verbesserung jeder einzel-nen Stufe deutlich vorangekommen.
Bildung bedeutet neben dem Erwerb von Wissen im-mer auch die Entwicklung der Persönlichkeit. Am Be-ginn des Bildungsweges geschieht Entscheidendes. Inunserem Antrag verweisen wir auf die Studie der Leo-poldina zur frühkindlichen Sozialisation. Erfahrungen,die in der frühen Kindheit gemacht werden, prägen dengesamten weiteren Lebensweg. Dies gilt zum Beispielauch für den Spracherwerb; das wurde eben bereitsmehrfach gesagt. Eine sichere Beherrschung der deut-schen Sprache ist eine Grundvoraussetzung für einen er-folgreichen Bildungsweg in Deutschland. Kinder ausnicht deutschsprachigen Familien sollten daher so frühwie möglich Kontakt zu deutschen Muttersprachlern be-kommen.
Sehr erfolgreich wirkt hier das Bundesprogramm„Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“.
Wichtig wäre ein früherer Sprachtest möglichst bei allenKindern jedes Jahrgangs, um bei Nachholbedarf gezieltnachsteuern zu können.In der frühen Kindheit entwickelt sich auch dasSelbstkonzept eines Menschen. Er entwickelt hier Strate-gien, um seine Ziele zu erreichen, und lernt, mit Belas-tungen umzugehen. Je mehr Kompetenzen in dieser Zeiterworben werden, umso besser sind die Prognosen fürdie gesamte weitere Entwicklung im Jugend- und Er-wachsenenalter, sowohl für den Schul- und Berufserfolgals auch für Gesundheit und Wohlstand. Die enorme Be-deutung der frühkindlichen Bildung ist daher offenkun-dig.Hier ist in den letzten Jahren viel passiert. Die Beteili-gung der unter Dreijährigen an frühkindlicher Bildung,Betreuung und Erziehung hat sich in Westdeutschlandseit 2006 verdreifacht und betrug im März 2013 deutsch-landweit 29 Prozent.
Bei den drei- bis sechsjährigen Kindern beträgt die Bil-dungsbeteiligung insgesamt 96 Prozent. Quantitativ istder Ausbau also gut gelungen. Jetzt muss verstärkt aufdie Qualität geschaut werden. Nach wie vor sind es dieEltern, die in dieser Zeit entscheiden, welche Angeboteihr Kind wahrnimmt. Besonders für Kinder aus bil-dungsfernen Elternhäusern kommt es daher entschei-dend darauf an, die Eltern anzusprechen und einzubezie-hen. Ich kenne viele gute Beispiele dafür.
Meine Damen und Herren, Deutschland lebt von sei-nen Köpfen. Flapsig ausgedrückt kann man auch sagen:Was man nicht im Boden hat, muss man in der Birne ha-ben.
– Ein guter Spruch.
– Das gilt nicht nur im Münsterland; das gilt bundesweit.– Wir sollten uns daran halten. Unser Wissen macht unsnämlich auch wirtschaftlich stark. Dabei haben wir einenwachsenden Bedarf in den sogenannten MINT-Fächern:Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik.
Wir brauchen mehr junge Menschen, die sich hier aus-bilden lassen, auch und gerade mehr junge Frauen.
Der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufenwirkt hier bereits. Immer mehr Frauen folgen der Auf-forderung: „Komm, mach MINT“. 2012 gab es nämlichschon 57 Prozent mehr MINT-Studienanfängerinnen als2008. Es geht darum, in jungen Jahren Interesse zu we-cken und eigene Erfahrungen zu ermöglichen, mit demZiel, aus diesem Grundwissen einen Nährboden für spä-tere technische und naturwissenschaftliche Berufsausbil-dungen wachsen zu lassen.Genau hier setzt die Stiftung „Haus der kleinen For-scher“ an. 2006 gegründet und vom Bundesbildungsmi-nisterium gefördert, hat sie sich mittlerweile zur größtenfrühkindlichen Bildungsinitiative entwickelt, die es inDeutschland je gegeben hat. Wussten Sie das?
– Das ist gut.
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Sybille Benning
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Was zunächst auf Kitas ausgerichtet war, wird seit 2011auch auf die Grundschulen ausgeweitet. Unser Ziel istes, die kleinen Forscher in 80 Prozent aller Kitas experi-mentieren zu sehen.
Bei älteren Schülern muss man noch mehr für dieMINT-Fächer werben. Dazu gehört zum Beispiel, Lehre-rinnen und Lehrer als Botschafter für Naturwissenschaf-ten zu gewinnen. Nötig ist auch mehr Spielraum fürvertiefende Erfahrungen und Experimente über die regu-lären Lehrpläne hinaus. Hier kommt den Ganztagsschu-len eine besondere Bedeutung zu. Das Angebot wurde inden letzten Jahren massiv ausgebaut. Mittlerweile gehtschon jeder dritte Schüler ganztags zur Schule. Der Be-darf ist noch größer.
Ganztagsschulen erhöhen nachweislich die Bildungs-chancen. Studien belegen, dass Kinder, die regelmäßigan Ganztagsangeboten teilnehmen, bessere Lernerfolgeerzielen. Der Erfolg schulischer Ganztagsbetreuung be-stimmt sich maßgeblich durch die pädagogischen Kon-zepte. Hier müssen innovative Lösungen gefunden wer-den.Meine Damen und Herren, das formale Ziel jederSchulausbildung ist der Schulabschluss. Noch immer istdie Zahl derer, die ihn nicht schaffen, leider zu hoch. DerÜbergang zum nächsten Schritt, zur Ausbildung, wirddamit deutlich erschwert. Denn nicht jeder, der eineAusbildung oder ein Studium anfängt, schafft den ange-strebten Abschluss. Aber auch hier passiert sehr viel. DieInitiative Bildungsketten zur Berufseinstiegsbegleitungverzeichnet seit Jahren große Erfolge.Gerade haben Bund, Länder und Sozialpartner die Al-lianz für Aus- und Weiterbildung unterzeichnet. DasKonzept der assistierten Ausbildung sieht vor, dass so-wohl die Auszubildenden als auch die Betriebe währendder Ausbildung Ansprechpartner haben, die bei Schwie-rigkeiten vermitteln können. Dies alles ist ein entschei-dender Beitrag zur Stärkung der beruflichen Bildung imdeutschen Mittelstand, dem Rückgrat unserer Wirt-schaft. Denn wir brauchen beides: Wir brauchen berufli-che und akademische Bildung.
Das sage ich bewusst, weil ich die Verzahnung beiderSysteme für unabdingbar halte.
Die Anzahl der Studienanfängerinnen und -anfängerübersteigt bei weitem die von Bund und Ländern an-gestrebte Zielmarke von 40 Prozent. Sie lag 2012 bei51,4 Prozent. Gerade in den MINT-Fächern sind jedochzu viele Abbrüche zu verzeichnen. Gemeinsam mit denHochschulen und Kammern suchen wir nach neuen Lö-sungen, wie es weitergehen kann, wenn ein begonnenerBildungsweg nicht abgeschlossen wurde. Damit es wei-tergeht und aus dem scheinbaren Scheitern eine genutzteChance wird, müssen wir klären, was angerechnet wer-den kann: von einer Ausbildung für eine andere, von ei-nem begonnenen Studium für eine Ausbildung und vonauf dem Ausbildungsweg erworbenen Qualifikationenfür ein Studium.Die Gründe für einen Abbruch liegen oft nicht imfachlichen Bereich, sondern in den sogenannten Sekun-därtugenden. Wesentliche Kompetenzen dafür werdenbereits in der frühen Kindheit erworben. Hier sind wirdann wieder bei der Bedeutung der frühkindlichen Bil-dung für den gesamten Bildungsweg.Meine Damen und Herren, das Schwerpunktthemades Bildungsberichtes 2014 – die Inklusion und dieFrage, was wir für Menschen mit Behinderung im Bil-dungsbereich tun müssen – wurde in dieser Debatte be-reits umfangreich erörtert. Mir ist wichtig, dass wir mitden Verbesserungen im gesamten Bildungsbereich ge-rade diejenigen erreichen, die vielleicht keinen aner-kannten besonderen Förderbedarf haben, aber dringendeine bessere individuelle Förderung benötigen.
Betonen möchte ich: Für die Bewältigung der anste-henden Herausforderungen ist das Zusammenwirkenaller Akteure zwingend erforderlich. Bund, Länder,Kommunen und Bildungsträger in Wirtschaft und Ge-sellschaft müssen zusammenarbeiten.
Der Bund stellt in dieser Legislaturperiode zusätzlich6 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung zur Verfü-gung. Durch die freiwerdenden BAföG-Mittel können– und sollten – die Länder insgesamt 1,2 Milliarden Eurojährlich in Schulen und Hochschulen investieren. Wenndie darin liegenden Chancen jetzt gut genutzt werden,kommen wir alle einen Riesenschritt voran. Wir kennenunsere Aufgaben, und wir gehen sie entschlossen an.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat nun der Kollege Willi Brase für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin meiner Vorred-nerin ausgesprochen dankbar, dass sie auf die Bedeutungvon MINT hingewiesen hat. Wir haben mal ein bisschengeschaut: Wie sieht es denn in den Bundesländern aus,was passiert dort? Ich erinnere daran, dass wir 2008beim Bildungsgipfel Maßnahmen beschlossen haben,die für Bund, Länder und Kommunen, vor allen Dingenaber für Bund und Länder gelten, Herr Mutlu. Wenn Siebeklagen, dass zu wenige einen Schulabschluss haben,dann müssen Sie die Länder genauso adressieren.
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7640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Willi Brase
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Bei den Abschlüssen in MINT-Fächern können wireine wunderbare Statistik zur Kenntnis nehmen: Bezo-gen auf 1 000 erwerbstätige MINT-Akademiker hatteNordrhein-Westfalen 2013 74 Abschlüsse vorzuweisen,Niedersachsen und Bremen 68, Schlusslicht war Hessenmit 54; der Durchschnitt in Deutschland lag bei 63.Also: Wenn man Bundesländer kritisieren will, dannmuss man anerkennen, dass Nordrhein-Westfalen undNiedersachsen hier sehr gut im Feld liegen.
– Kauder, hör up!
Ich fand es auch sehr interessant, zu erfahren, dassdas Bundesland Sachsen einen Bildungsplan für Kitasvorgelegt hat – auch ein Ausdruck der gemeinsamenVerabredung 2008: Wir machen einen Plan, damit dasmit den Kitas vernünftig läuft und immer mehr jungeKinder eine Chance haben.
Auch das, was die Bundesländer hier machen,
ist eine gute Sache.
Lieber Uwe Schummer, wenn ich mir anschaue, wasdie Regierung Rüttgers – Herr Rüttgers war ja mal Bil-dungsminister in der Bundesregierung – in Nordrhein-Westfalen hinterlassen hat, muss ich feststellen: Da bliebeiniges unerledigt. Wir haben in Nordrhein-Westfalenseit 2010/2011 den Ausbau der U-3-Betreuung um75 Prozent gesteigert.
Wir haben die Zahl der Ganztagsplätze seit diesem Da-tum von 225 000 auf 280 000 Plätze erhöht – eine Stei-gerung um 25 Prozent. Wir haben die Zahl der Studien-anfänger ebenfalls um 25 Prozent gesteigert, in denMINT-Fächern sogar um 50 Prozent.
Das ist Ausdruck einer richtigen Politik, die aber nichterst 2011 oder 2012 begonnen hat, sondern teilweiseJahre zurückgeht. Das Beste, was Nordrhein-Westfalenpassiert ist, war, dass man Ende der 60er-Jahre den Aus-bau der Hochschulen und Fachhochschulen massiv vo-rangetrieben hat. Auch Herr Rüttgers hat etwas getan;das wollen wir nicht außen vor lassen. Also: Die Ländermachen schon gute Sachen.
Für Inklusion nimmt NRW zwischen 2012 bis 2017750 Millionen Euro zusätzlich in die Hand für über3 800 Lehrerstellen; auch das geht also gut voran.Im Bildungsbericht – ich will doch noch mal kurz da-rauf zurückkommen – wurde auch beschrieben, dass wirin dieser Republik nach wie vor das Problem haben, dassjunge Leute mit sozial schwierigem oder bildungsfernemHintergrund wesentlich schlechtere Chancen haben, einenhöheren Abschluss zu erreichen. Das ist leider immernoch so. Das betrifft den Bund, das betrifft die Länder,das betrifft die Kommunen. Deshalb will ich eine Initia-tive erwähnen, mit deren Vertretern ich in den letzten Tagenhabe sprechen können, die Initiative ArbeiterKind.de. Eshandelt sich hierbei um freiwilliges Engagement vonjungen Leuten, die sagen: Wir wollen Informationenauch in diese Familien hineinbringen, damit auch Kinderaus diesen Familien eine Chance haben – mit den Bedin-gungen, die wir als Gesellschaft schon lange zur Verfü-gung stellen –, zu studieren, wenn sie dies wollen.30 000 Schülerinnen und Schüler werden von dieser Ini-tiative jedes Jahr angesprochen. Mir war es ein Bedürf-nis, von dieser Stelle auch zu sagen: Danke, dass hierauch junge Menschen sich Gedanken machen, wie manes erreicht, dass alle eine Chance bekommen, auf demWeg nach vorne zu gehen.
Leider habe ich nicht mehr viel Redezeit, Herr Präsi-dent, aber eine Bemerkung darf ich noch machen: Mitder Allianz für Aus- und Weiterbildung wollen wir nichtnur für mehr Ausbildungsplätze für junge Leute und fürmehr Berufsorientierung sorgen, sondern auch noch ein-mal die Gleichwertigkeit von allgemeiner und akademi-scher Bildung deutlich machen. Das kann man nicht oftgenug sagen. Wir bieten den jungen Menschen zweiWege an, die sie ganz nach oben führen, und wer dasmöchte, muss und wird alle Unterstützung bekommen.Vielen Dank für Ihr Zuhören.
Sven Volmering ist der letzte Redner zu diesem Ta-
gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als letzter Redner dieser Debatte möchte ichnoch einmal die Gelegenheit nutzen, allen Menschen,die im Bildungssektor arbeiten, zu danken. Sie leisten inunseren Kitas, Schulen, Hochschulen und Fortbildungs-einrichtungen wirklich Großartiges.
Im Nationalen Bildungsbericht 2014 wird festgestellt,dass es positive Entwicklungen in allen Bildungsberei-chen gibt und dass die Bildungsbeteiligung sowie der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7641
Sven Volmering
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Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland verbes-sert wurden. Das ist ein Erfolg,
und ich freue mich, dass die Grünen und Linken in ih-ren Anträgen versteckt ebenfalls von Verbesserungensprechen.
Inhaltlich erinnern Sie hingegen an Scheinriesen, diemeinen, in wenigen Schritten, bestehend aus Rechtsan-sprüchen und neuen Gesetzen, das Ziel einer perfektenBildungsrepublik sofort erreichen zu können. Das funk-tioniert so nicht. Mit dem Antrag unserer Koalition, derviele konkrete Punkte enthält, werden wir erfolgreicherfür das Bildungssystem sein, weil er realistischer ist, alses Ihre allgemeinen Forderungen sind.
Das Ceterum censeo eines neuen Artikels 91 b Ab-satz 2 des Grundgesetzes, von dem wir in dieser Debatteauch immer wieder gehört haben, ändert nichts, aberauch gar nichts an dem Befund, dass der Bund in engerKooperation mit Ländern und Kommunen sehr viel inder Bildungspolitik leistet, von dem die Schulen direktund indirekt profitieren.Frau Dörner, Sie haben bemängelt, es gebe in derfrühkindlichen Bildung nichts, was stützend wirkt. Fürmeine einjährige Tochter habe ich letztens bei der Kin-derärztin zum Beispiel das Starterset des Programms„Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ bekom-men. Die Stiftung Lesen hat hier mit Mitteln des BMBFetwas wirklich Ausgezeichnetes geschaffen. Mit insge-samt drei Sets, die bis zur Einschulung wirken, wird einegute Leistung angeboten und letztendlich Lust aufs Le-sen gemacht. Das kommt in Deutschland jedem Kind –aus allen Bevölkerungsschichten und mit jedem Hinter-grund – zugute.
Als weitere Maßnahmen nenne ich die vielen Wettbe-werbe, die der Bund fördert. „Jugend forscht“ wird indiesem Jahr beispielsweise 50 Jahre alt, und die Quali-tätsoffensive Lehrerbildung wurde in dieser Debatteauch schon zigmal angesprochen.Das Engagement des Bundes in der Bildungsfor-schung ist hier letztendlich heruntergeredet worden. Dasist ein falsches Signal. Wir fördern insgesamt 300 For-schungsprojekte mit 165 Millionen Euro. Diese liefernuns sehr deutlich Erkenntnisse darüber, wo wir auf ge-sellschaftliche Entwicklungen reagieren müssen.
Wir müssen endlich von der reinen Zahlen- und Quo-tenfixierung wegkommen
und auch von der Qualität sowie der inhaltlichen Ausge-staltung der Angebote in der Bildungspolitik sprechen.Die Bildungsforscherin Fabienne Becker-Stoll hat inder FAS vom 2. August 2014 darüber gesprochen, dassKinder aller Schichten und Bevölkerungsgruppen besserzu Hause bei ihren Eltern bleiben sollten, bevor sie eineschlechte Einrichtung besuchen. Das verdeutlicht denSpagat, den wir in der Politik zwischen Qualität, Quanti-tät und politischen Zielen vollziehen müssen. An dieserStelle bin ich froh – das sage ich auch deutlich –, dasswir das Betreuungsgeld haben.
– Nein, nicht „oh wei, oh wei“; das ist doch richtig!Die Fragen nach der Qualität stellen sich auch bei an-deren Themen, zum Beispiel beim Thema Inklusion undbeim Thema Ganztag. Die gesellschaftliche Antwort, diemanchmal gegeben wird – weniger Leistung, keineHausaufgaben, keine Noten –, ist hier sicherlich auchkein Lösungsweg.
Die Schülerinnen und Schüler müssen abseits derSchule Zeit für sich haben, sie müssen Zeit haben, Ge-lerntes zu wiederholen, neue Hürden zu meistern undLeistungen zu zeigen. Herr Heil, darin sind wir uns jaauch durchaus einig, wie wir gerade gehört haben.Aber natürlich gilt es, Verbesserungsvorschläge zudiskutieren. Das betrifft beispielsweise unterrichtlicheBelastung am Mittag. Das betrifft die Inhalte, wie wir inden letzten Tagen auf Twitter gelernt haben. Aber dasbetrifft auch die Erfahrungen von Vereinen, dass Kinderund Jugendliche weniger Zeit für außerschulischesEngagement haben.Wenn Lehrerverbände und Studien davor warnen,dass der psychische Druck für manche Schüler immergrößer wird, weil Abitur und Studium als alleinseligma-chende Königswege der Bildung angesehen werden,dann muss reagiert werden. Angesichts des demografi-schen Wandels und der steigenden Zahl der Studieren-den brauchen wir uns nicht zu wundern, dass bei49 Fachkräftegattungen, bei denen eine duale Ausbil-dung möglich wäre, dramatische Engpässe in Millionen-höhe bestehen.Wir müssen das Bildungssystem stärker mit der Le-bensrealität verbinden. Eine Tatsache ist, dass es Infor-mationsdefizite bei der Berufsorientierung gibt,
bei allen Schulformen und in allen gesellschaftlichenSchichten, wie durch eine Allensbach-Studie herausge-funden wurde. Daher ist es gut, dass in dem Antrag derGroßen Koalition allein zu dieser Thematik acht Punktebenannt werden. Von den Grünen gab es im gesamtenAntrag insgesamt nur neun Forderungen. Von daher kön-nen Sie sich Ihre Kritik in diesem Bereich eindeutig spa-ren.
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7642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Sven Volmering
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Die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Unterneh-men und Behörden muss intensiviert werden. Die Aus-sage, dass nur ein Viertel der Schüler die Angebote derBundesagentur für Arbeit im Bereich der Berufsorientie-rung nutzt und für hilfreich hält, ist erschreckend. Ge-nauso erschreckend ist es, wenn man von Schülern im-mer wieder hört, dass es bei der Berufsberatung den Tippgebe, Model zu werden, weil man so gut aussehe. DiesePunkte beweisen, dass da noch nicht der Weisheit letzterSchluss erreicht ist.Von daher ist es kein Wunder, dass sich die Jugendli-chen vor allem mit ihren Eltern über Berufsfragen unter-halten, was mal positiv, mal negativ sein kann. Es istdeshalb gemeinsames Ziel der Großen Koalition – daswird auch in dem Antrag festgehalten –: Wir wollen jun-gen Menschen und ihren Eltern realistische Zukunftsper-spektiven aufzeigen, um die Abbrecherquoten zu senkenund jedem Jugendlichen, wie es die Allianz für Aus- undWeiterbildung vorsieht, eine Ausbildungsgarantie zu ge-ben.
Diese Intensivierung der Berufsorientierung, die un-ser Ziel ist, bedeutet natürlich eine Herausforderung fürdie Schulen. Deshalb brauchen sie Entlastungen. Überdieses Thema sollte in der KMK einmal geredet werden;denn die Kollegen an den Schulen ächzen natürlichschon unter einem enormen Bürokratieaufwand inDeutschland: Dokumentationspflichten, das Schreibenvon Papieren für die Schublade und auch die Erhebungmanch unwichtiger Statistiken rauben Zeit für die Schü-lerinnen und Schüler. Deshalb muss Bürokratie im deut-schen Bildungssystem reduziert werden. Nicht allesmuss bis ins letzte Detail geregelt und standardisiertwerden.
Da muss Schulen einmal die Freiheit gewährt werden,stärker auf aktuelle Entwicklungen in Gesellschaft, Poli-tik und Wirtschaft einzugehen, ohne durch zentrale Vor-haben und Vorgaben gelähmt zu werden.
Warum sollten Schulen, die beispielsweise Vorreiter beider Inklusion sind, nicht die Möglichkeit haben, in Ei-genverantwortung von Klassenfrequenzrichtlinien abzu-weichen? Es ist gerade das Hohe Lied auf Nordrhein-Westfalen gesungen worden. Aber in Dinslaken ist ge-nau diese Abweichung von der Landesregierung verbo-ten worden, als eine Vorreiterschule im Bereich der In-klusion diese dringende Bitte geäußert hatte. Auch inNRW ist also nicht alles Gold, was glänzt. Auch das ge-hört zur Wahrheit dazu.
Wir müssen bereit sein, neue Strategien zuzulassen.Das Handwerk hat die Idee des dualen Abiturs vorge-stellt, um Abiturienten in entsprechende Berufe zu lo-cken. Auch mit diesem interessanten Ansatz sollten wiruns beschäftigen. Ebenso werden uns die Themen digi-tale Bildung und Inklusion in diesem Jahr verfolgen.Nichtsdestoweniger will ich zum Abschluss zitieren.In der Bibel steht: „Gelassenheit bewahrt vor großenFehlern.“ – Ein großer Fehler wäre es, Herr Präsident,die Redezeit zu überziehen. Allerdings wäre es ein ande-rer Fehler, es so zu machen, wie es der DGB in der letz-ten Woche getan hat, nämlich teilweise überdramatischalles schlechtzureden.Deutschland ist in der Bildung auf einem guten Weg.Die Koalition hat einen starken Antrag vorgelegt, dender Bundestag in aller Gelassenheit annehmen kann.
Darüber entscheiden wir dann später. – Zunächst
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2990, 18/3546, 18/3412 und
18/3728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen
feststellen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 19 a und
19 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsultationsergebnisse beherzigen – Klage-
privilegien zurückweisen
Drucksache 18/3747
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Interessengeleitetes Gutachten zu Investoren-
schutz zurückweisen
Drucksache 18/3729
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Aussprache 96 Minuten dauern. – Ich stelle
dazu Einvernehmen fest und eröffne hiermit die Aus-
sprache.
Das Wort erhält zunächst die Kollegin Katharina
Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben im Deutschen Bundestag schon daseine oder andere Mal über die Schiedsgerichte im TTIP-Abkommen diskutiert: über die Gefahren von unklaren
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7643
Katharina Dröge
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Rechtsbegriffen, die mangelnde Unabhängigkeit vonSchiedsrichtern, intransparente Schiedsverfahren, man-gelnde Berufungsinstanzen oder ganz grundsätzlich überden Sinn oder Unsinn dieses Konzeptes.Ich bin froh, dass wir auch heute wieder darüber spre-chen. Denn nach wie vor sind die Klageprivilegien fürKonzerne eine der entscheidenden Fragen, wenn es umdas Für und Wider von TTIP geht.
Seit dieser Woche gibt es allerdings noch eine neueTatsache, die wir in der Debatte berücksichtigen müssen,und zwar die Entscheidung der europäischen Bürgerin-nen und Bürger. Die Kommission hat nämlich endlich,nach Monaten der Auswertungszeit, die Ergebnisse derEU-weiten Bürgerbefragung zu den Schiedsgerichtenveröffentlicht.Das Ergebnis spricht eine eindeutige Sprache: Über97 Prozent der Befragten sagen Nein zu den Schiedsge-richten im TTIP-Abkommen.
Über 97 Prozent halten die Schiedsgerichte für gefähr-lich und unnötig. Sie wollen sie grundsätzlich nicht. Dasheißt, sie lehnen sie nicht nur im Detail ab, sondern siewollen sie gar nicht.Das Ergebnis ist auch deshalb so klar und eindeutig,weil fast 150 000 Stellungnahmen zu diesem Thema inBrüssel eingegangen sind. Das ist eine enorme Zahl imVergleich zu den vielen anderen Befragungen, die dieEU ansonsten durchführt.
Ich glaube, angesichts dieser Zahlen ist es jetzt unsereVerantwortung als Politiker, hierauf eine ebenso eindeu-tige Antwort zu geben.
Wir Grünen haben mit unserem Antrag einen konkre-ten Vorschlag gemacht. Aus unserer Sicht ist es nun end-lich notwendig, dass wir als Deutscher Bundestag sagen,dass wir keine Schiedsgerichte in TTIP und CETA ak-zeptieren werden.
Diesen Vorschlag wollen wir gerne mit Ihnen disku-tieren, und zwar ernsthaft und ehrlich. Aber man führtkeine ehrliche Debatte, und man nimmt die Bürgerbefra-gung nicht ernst, wenn man das Ergebnis nur freundlichentgegennimmt und es dann, bildlich gesprochen, in denAktenschrank stellt, um es dort verstauben zu lassen.Genau das scheinen Sie als Bundesregierung leider vor-zuhaben. Denn so müssen es die Menschen verstehen,dass Herr Gabriel in einer Pressemitteilung diese Wocheangekündigt hat: Zur Frage der Schiedsgerichte wirdsich die Bundesregierung erst dann abschließend äußern,wenn auch das ganze Verhandlungsverfahren abge-schlossen ist, also in vier oder fünf Jahren oder noch spä-ter, je nachdem, wann TTIP ausverhandelt ist.
Weil wir gerade beim Thema Wahrheit und Klarheitsind: Nicht ernst nimmt man die Bürgerinnen und Bür-ger übrigens auch dann, wenn man, wie Landwirt-schaftsminister Schmidt letzte Woche im Spiegel,erklärt, man könne unter TTIP nicht mehr die Herkunfts-angabe zu jeder Wurst oder jedem Käse schützen,
nur um dann schleunigst zurückzurudern, wenn manmerkt, wie viel Ärger man sich damit einhandelt.
Sehr geehrte Bundesregierung, die Bürgerinnen undBürger wollen wissen, ob das Kölsch künftig noch ausKöln kommt oder, was ich nicht hoffen will, auch inDüsseldorf gebraut werden kann.
– Sie können Herrn Schmidt sagen, dass das ein schlech-tes Beispiel ist. Denn genau so wird er im Spiegel zitiert.Damit stiftet die Bundesregierung bei diesem ThemaVerwirrung.Sie wollen auch wissen, ob Konzerne uns unter TTIPvor intransparenten Schiedsgerichten verklagen könnenoder ob sie sich weiter an normale staatliche Gerichtewenden müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund der SPD, ich finde, die Bürgerinnen und Bürger ha-ben es verdient, dass die Bundesregierung endlich, nach-dem wir so oft darüber diskutiert haben, klar sagt, wassie an den Schiedsgerichten akzeptiert. Sagen Sie unsdoch einfach, welche Regeln Sie gut und welche Sieschlecht finden bzw. wann Sie zu den SchiedsgerichtenJa und ab wann Sie Nein sagen. Wir haben das schon oftdiskutiert. Sie sagen immer nur: Wir werden prüfen. Wirwerden vielleicht nachverhandeln, vielleicht werden wiraber auch nicht nachverhandeln. Vor allem aber werdenwir den Bürgerinnen und Bürgern nicht sagen, was dieBundesregierung will. – Das geht nicht. So nimmt mandie Bürgerinnen und Bürger nicht ernst.
Zur Ehrlichkeit in der Debatte gehört im Übrigenauch, dass wir die Chance nutzen und jetzt klären, wer in
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7644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Katharina Dröge
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dieser Bundesregierung die Schiedsgerichte und das Ab-kommen will und wer nicht; denn auch hier liefern Sieals Bundesregierung eine ziemlich verwirrende Perfor-mance ab.
Auf der einen Seite gibt es einen Parteitagsbeschluss derSPD, der ziemlich klar ist. Es gibt diverse öffentlicheÄußerungen der Minister der Bundesregierung. Außer-dem gibt es sogar einen kritischen Parteitagsbeschlussder CSU zu den Schiedsgerichten, wie ich mit Freudezur Kenntnis genommen habe. Auf der anderen Seite istda Frau Merkel, die eigentliche Erfinderin des TTIP-Projekts und vielleicht die Einzige, die das Ganze wirk-lich will.
Doch auch Frau Merkel äußert sich zu TTIP nur dann,wenn sie gar nicht darum herumkommt. Ansonsten gehtsie lieber auf Tauchstation und freut sich darüber, dassdas Thema TTIP nicht so wirklich mit ihr in Verbindunggebracht wird. Man hat das Gefühl, es wäre Frau Merkelsehr recht, wenn das so unbeliebte Thema TTIP letztend-lich nicht mit der CDU/CSU, sondern mit Herrn Gabrielund der SPD in Verbindung gebracht würde.
Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, ob Sie bzw. Ihr Minister das wirklich wollen soll-ten.
Was Sie aber auf jeden Fall wollen sollten – das istmein dringender Appell an Sie –, ist, dass die Bürgerin-nen und Bürger, die sich mit dem Thema TTIP beschäfti-gen, endlich wissen, woran sie bei Ihnen sind. Hier ha-ben Sie eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entwederhören Sie auf die 150 000 Bürgerinnen und Bürger, dienun abgestimmt haben, und auf die 1,3 Millionen Men-schen, die die Resolution gegen TTIP unterschrieben ha-ben,
und geben den Kirchen, den Gewerkschaften sowie denUmwelt- und Sozialverbänden in Europa eine Stimme,oder eben nicht. Es ist Ihr gutes Recht, das frei zu ent-scheiden. Aber es ist auch Ihre Pflicht, zu sagen, wo Siestehen; das schulden Sie den Bürgerinnen und Bürgern.Damit müssen Sie heute endlich anfangen.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht soll-
ten wir eingangs kurz darüber sprechen, worüber wir ei-
gentlich reden.
– Das Thema Kölsch wird der Kölner Abgeordnete Herr
Professor Hirte nachher mit Frau Dröge persönlich be-
sprechen. Da will ich mich nicht einmischen. Ich fühle
mich eher für den Wein zuständig. Aber dieser wurde
heute nicht angesprochen.
Es geht darum, wer im 21. Jahrhundert im internatio-
nalen Handel die Standards setzen wird.
Setzen wir in Europa zusammen mit den USA und Ka-
nada – das Abkommen CETA ist quasi ausverhandelt;
hier sind wir auf der Zielgeraden angekommen – die
Standards nicht nur für Europa – das ist wahrscheinlich
die letzte Chance, unsere Standards in Technik, im Ver-
braucherschutz, im Arbeitsschutz und in anderen Berei-
chen weltweit zu setzen –, oder schaffen wir es nicht?
Wenn wir es nicht schaffen, wird es trotzdem eine Rege-
lung geben. Was wird passieren? Dann werden andere
das Vakuum, das durch die Nicht-Regulierung entstan-
den ist, ausfüllen. Die USA verhandeln parallel zu TTIP
mit 13 asiatischen Staaten über die Trans-Pacific Part-
nership. China hat nun angekündigt, ein Freihandelsab-
kommen mit den USA abzuschließen.
Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Gambke?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, dass Sie meineFrage zulassen. – Ich glaube, wir sind an einer ganz ent-scheidenden Stelle. Sie haben davon gesprochen, dassStandards gesetzt werden sollen. Ist Ihnen bewusst, dassdie Bruttowertschöpfung, die China bei den produziertenWaren erreicht, bei 25 Prozent liegt, während Amerikanur 19 Prozent erreicht? Ist Ihnen bewusst, dass der pa-zifische Raum dabei ist, Handelsabkommen abzuschlie-ßen? Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Er-folgsaussichten, auf atlantischer Ebene – die Amerikanersind im zudem im pazifischen Raum aktiv, wir nicht –
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7645
Dr. Thomas Gambke
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die Trends zu setzen, sowie die Tatsache, dass China eingerade gefälltes Schiedsgerichtsurteil der WTO umge-setzt hat? Dieses Urteil betreffend den Export SeltenerErden zeigt, dass es durchaus möglich ist, auf WTO-Ebene Schiedsgerichte und Appellationsgerichte, alsoBerufungsgerichte, einzurichten.Wie bewerten Sie dann die sehr singuläre und übri-gens in der Fachwelt sehr umstrittene Art und Weise, mitder jetzt versucht wird, auf atlantischer Ebene Schieds-gerichte zu etablieren?
Das ist eine umfangreiche Frage, die ich auch um-fangreich zu beantworten versuchen werde. – In der Tat– da sind wir uns einig – wären multilaterale Lösungenim Rahmen der WTO am besten. Leider sind die WTO-Verhandlungen in den letzten Jahren nicht so schnell vo-rangekommen – das gilt insbesondere für die Doha-Runde –, wie wir uns das alle gemeinsam in Europa er-hofft haben. Weil die Verhandlungen nicht so schnell vo-rankommen, wurde begonnen, bilaterale Abkommen zuverhandeln und auch abzuschließen.Im Übrigen hat nicht Europa mit diesen bilateralenVerhandlungen begonnen, sondern Europa hat sehr langeversucht, den multilateralen Ansatz weiterzuverfolgenund alle Staaten einzubinden. Erst als andere mit diesenbilateralen Verhandlungen begonnen haben, konnten wirin der EU nicht außen vor bleiben und mussten unsereInteressen entsprechend vertreten. Selbstverständlich istes aber immer noch das europäische Ziel und das Zieldieser Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion, dieWTO an erster Stelle zu stärken.Es gab, wie Sie wissen, im letzten Jahr in Bali einenFortschritt, dem jetzt auch die Inder zugestimmt haben.Es geht also im Schneckentempo weiter. Ich sehe auchdie Abkommen zwischen Europa und Kanada und Eu-ropa und den USA nicht im Gegensatz zur WTO; viel-mehr können diese Abkommen Standards setzen, die wirim Rahmen der WTO aufgreifen. Genau das ist doch dasThema, das Sie beschrieben haben.
Das ist die Herausforderung: Wer wird zukünftig mul-tilateral diese Standards setzen? Werden es europäisch-amerikanische Standards sein, oder werden es asiatischeStandards sein? Die Interessen, um die es hier geht, sindganz unterschiedlich.Wenn Sie jetzt die Frage nach den Gewichten stellen,dann muss ich sagen: Es ist in der Tat so, dass die Euro-päische Union und die Vereinigten Staaten von Amerikamit TTIP einen Markt von über 800 Millionen Men-schen schaffen würden, in dem weit über 50 Prozent derWeltexporte stattfinden. Die aufstrebenden Länder inAsien werden natürlich an Exportstärke gewinnen, ins-besondere China und die ASEAN-Staaten, die wir allegut kennen, weil wir uns mit dem Thema intensiv aus-einandersetzen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wirgerade jetzt auf transatlantischer Ebene versuchen, un-sere Standards als Weltstandards zu implementieren.Zu den Schiedsgerichtsverfahren will ich an dieserStelle auch gleich etwas einflechten. Diese sind ein In-strument, die es im Rahmen der WTO und im Rahmenvon Freihandelsabkommen der Europäischen Union mitanderen Staaten gibt, und Investitionsschutzabkommenund Schiedsgerichte gibt es selbstverständlich auch aufnationaler Ebene. Wie Sie wissen, hat Deutschland vor50 Jahren diese Schiedsgerichte und diese Investitions-schutzabkommen quasi erfunden. Wir haben 130 Ab-kommen abgeschlossen. Im Übrigen wurden über 20dieser Abkommen unter Rot-Grün zwischen 1998 und2005 abgeschlossen.
Deshalb kann ich auch gar nicht erkennen, weshalbInvestitionsschutzabkommen per se schlecht sein sollen.Sie haben solche Abkommen während Ihrer Regierungs-zeit abgeschlossen.
– Herr Kollege, ich bin eigentlich noch immer bei derBeantwortung Ihrer Frage.
Er scheint mit der Antwort zufrieden zu sein.
Ich möchte aber den Gedanken fortsetzen. Die 23 Ab-kommen, die in rot-grüner Regierungszeit abgeschlossenwurden, und die weiteren fünf, die in rot-grüner Zeit ra-tifiziert wurden, betreffen bei weitem nicht nur Ent-wicklungsländer oder Schwellenländer. In Ihrer Regie-rungszeit ist zum Beispiel das Abkommen mit Polenabgeschlossen und das Abkommen mit Kroatien ratifi-ziert worden, und es sind Abkommen mit Mexiko undanderen Staaten abgeschlossen worden.Insofern wird auch an dieser Stelle deutlich – eigent-lich wollte ich das erst später ausführen –, dass das, wasimmer gesagt wird, nämlich dass Schiedsgerichtsverfah-ren nichts für entwickelte Staaten seien, sondern nur imUmgang mit Entwicklungsländern oder Schwellenlän-dern sinnvoll seien, nicht richtig ist. Das ist mitnichtender Fall.Ich will Ihnen dazu gerne ein paar Zahlen nennen:Deutschland hat, wie bereits erwähnt, 130 Abkommengeschlossen. Im Übrigen gab es nach meinen Informa-tionen überhaupt erst drei Klagen gegen Deutschland,von denen bisher keine erfolgreich war. Das heißt, bishergab es hier – es wird ja immer unterstellt: es kommen ir-gendwelche finsteren Konzerne und Mächte von irgend-woher und klagen in Deutschland gegen Standards –keine erfolgreiche Klage.Im Gegenteil, umgekehrt wird ein Schuh daraus.Wenn Sie sich die aktuelle Situation anschauen, dann er-kennen Sie, dass die Mehrzahl der weltweit anhängigen
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7646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Dr. Joachim Pfeiffer
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Schiedsgerichtsverfahren von EU-Staaten gegen andereStaaten geführt wird; 53 Prozent aller Schiedsgerichts-verfahren werden von EU-Staaten angestrengt, währendnur 22 Prozent aus den USA kommen.Wenn wir die jüngste Entwicklung, die des Jahres2014, betrachten, dann zeigt sich, dass Schiedsgerichts-verfahren sogar von Staaten der Europäischen Union ge-gen andere Staaten der Europäischen Union angestrengtwerden – Verfahren, die es nach Ihrer Einschätzung jagar nicht geben dürfte. Welche sind es? Im letzten Jahrgab es Schiedsgerichtsklagen gegen Spanien und gegenTschechien.Hinzu kamen – das müssten Sie eigentlich wissen;aber vielleicht verschweigen Sie es – Schiedsgerichts-klagen aus der Ökostrombranche, aus dem Bereich er-neuerbare Energien. Neun Investoren aus den Niederlan-den, aus Großbritannien, aus Luxemburg, aber auch ausDeutschland, zum Beispiel die Stadtwerke Münchenoder die STEAG, klagen in Washington vor einem inter-nationalen Schiedsgericht gegen Spanien, das die Regelnfür Ökostromförderung in Spanien rückwirkend geän-dert und damit bereits getätigte Investitionen beeinträch-tigt hat.Genau darum geht es. Solche Rechtsstreitigkeiten gibtes nicht nur zwischen Entwicklungsländern und Schwel-lenländern einerseits und den entwickelten Staaten ande-rerseits; auch in entwickelten Staaten gibt es ab und zuden Fall, dass Rechtsgrundlagen für getätigte Investitio-nen verändert werden. Genau dann kommen solche Kla-gen vor. Da helfen uns auch der europäische Binnen-markt und das bestehende Rechtssystem bisher nicht imnotwendigen Umfang weiter.Insofern kann ich nur davor warnen, Schiedsgerichts-verfahren von vornherein zu verdammen. Es geht viel-mehr darum, jetzt mit dem Abkommen mit den USA ei-nen Standard zu setzen, der nachher weltweit Vorbild fürandere Freihandelsabkommen werden kann und werdenwird und dann hoffentlich multilateral in der WTO um-gesetzt werden kann.
Das ist das Ziel, das wir als Union und die Bundesregie-rung in Europa verfolgen.Frau Dröge, Sie haben eben das Konsultationsverfah-ren, das die EU auf diesem Gebiet durchgeführt hat, an-gesprochen. Sie haben ein paar Zahlen genannt. DieseZahlen sind richtig;
aber sie sind doch etwas lückenhaft. Sie haben von einerVolksbefragung gesprochen. Ein Konsultationsverfahrender EU ist keine Volksbefragung, auch keine Bürgerbe-fragung,
sondern quasi eine Fachumfrage bei denen, die von sol-chen Themen betroffen sind. Diese Personen sind aufge-fordert, sich zu äußern. Jetzt nehmen wir einmal an, alle500 Millionen Bürger wären betroffen; das gab es bisherübrigens noch nie.Zumindest wir gehen so vor – ich weiß nicht, wie Siees machen –: Wenn im Deutschen Bundestag eine Anhö-rung stattfindet, dann setzen wir uns mit den Sachargu-menten auseinander und entscheiden nicht anhand derZahl der Eingaben darüber, wer Recht hat und wer nichtRecht hat; wir setzen uns vielmehr inhaltlich mit den Ar-gumenten auseinander.
Für uns geht ganz klar Qualität vor Quantität.Was ist bei den Stellungnahmen passiert?
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen – Zwi-schenrufe verstehe ich schlecht –, stehe ich zu deren Be-antwortung gerne zur Verfügung.
– Okay.
Herr Kollege Pfeiffer, möglicherweise hat Ihre eben
etwas länger dauernde Antwort auf eine Zwischenfrage
abschreckend gewirkt.
Wenn man sich nicht mit den Fakten auseinanderset-zen will, dann ist das natürlich immer schade.Die Fakten sind – lassen Sie mich jetzt zur Konsulta-tion kommen –: Von 500 Millionen Bürgern in Europa –Sie sagen ja: es war eine Bürgerumfrage –
haben 150 000 sozusagen teilgenommen.
Davon haben 145 000 Vordruckexemplare, Postkarten
oder Standard-E-Mails der einschlägigen Organisationender Empörungsindustrie an die EU geschickt.
145 000 der 150 000 waren Standardformulare, warengenau gleich.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7647
Dr. Joachim Pfeiffer
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Deshalb sage ich: Es kann sicher nicht danach gehen:Wer schickt am schnellsten die meisten E-Mails, undwer schickt am schnellsten die meisten Postkarten? Dasist nicht Aufgabe eines Konsultationsverfahrens, son-dern Aufgabe ist die inhaltliche Auseinandersetzung.
Es haben 3 000 Personen und 450 Organisationen ent-sprechende Eingaben gemacht. Die werden jetzt selbst-verständlich fachlich vertieft und fundiert geprüft, undes wird geschaut, inwieweit diese berücksichtigt werdenkönnen, berücksichtigt werden müssen. Das ist der ganznormale Vorgang, der da abläuft.Wenn Sie davon sprechen, 97 Prozent seien dagegen,sage ich: Es waren in der Tat 97 Prozent, nämlich dieEmpörungsindustrie, die dazu aufgerufen hat, E-Mailsund Postkarten zu schicken. Das ist aus unserer Sichtwirklich keine ernsthafte Auseinandersetzung.
Man wird sich selbstverständlich auch mit diesem Vor-druck beschäftigen. Aber es hätte gereicht, den einmalzu schicken; den hätte man nicht gleich 145 000-malschicken müssen.
Aber das hat man gemacht.
Das wird jetzt ausgewertet.Wie gesagt, ich bin mal gespannt, ob wir es bei dernächsten Anhörung im Ausschuss auch von der Zahl derEingaben zur Anhörung abhängig machen, wie wir unsinhaltlich positionieren. Ich glaube, das kann nicht unserZiel sein.Es geht darum – ich will das noch einmal deutlichmachen –, jetzt die Chance zu nutzen, zu definieren, wiedie zukünftigen Standards sind.Im Übrigen geht es auch darum, den Wildwuchs, denwir bisher haben, zu bereinigen. Ich hatte Ihnen vorherschon gesagt: Wir haben in Deutschland 130 Investi-tionsschutzabkommen; in der gesamten EU sind es1 400, und zwar liegen ihnen unterschiedliche Standardszugrunde.
Einige haben einzelne Länder mit einzelnen anderenLändern abgeschlossen. Dann hat die EU Abkommenmit anderen Ländern oder mit anderen Regionen abge-schlossen. Das heißt, wir haben jetzt die Chance, vonden 1 400 Abkommen mit sehr unterschiedlichen Stan-dards im technischen Bereich, aber auch bei der Recht-setzung wegzukommen und einheitliche europäischeStandards zu schaffen. Das müssten Sie eigentlich be-grüßen, weil das Rechtsklarheit, Rechtssicherheit schafftfür die Bürger und für die Unternehmen. Wir arbeitendaran, diese Standards jetzt zu entwickeln.Deshalb kann ich überhaupt nicht erkennen, warumwir zum jetzigen Zeitpunkt sagen sollen: Es soll keineInvestitionsschutzabkommen geben. Ich wage einmaldie Prognose: Wenn wir uns am Ende des Tages damitauseinandersetzen – ich habe Ihnen vorher die Zahlengenannt und gesagt, wer weltweit Schiedsgerichtsver-fahren betreibt –, werden wir feststellen, dass im Zweifelwir in Europa ein größeres Interesse an solchen Schieds-verfahren und -instanzen haben als die USA.Wir haben eine vor allem mittelständisch geprägte In-dustrie, gerade in Deutschland, die auch exportiert. Ichdenke an den Fall, dass ein Mittelständler irgendwo ineinem amerikanischen Bundesstaat, in einem County imSüden der USA einer Laienjury – die Mitglieder sind indem County direkt gewählt – gegenübersteht und es umspezielle Medizintechnikprodukte geht. Ich bin mir nichtganz sicher, ob wir gut beraten sind, wenn wir für solcheFälle keine Expertengremien haben.Diese Gremien ersetzen nicht das bestehende Rechts-system, sondern sie sind quasi ein Auffangnetz, ein Not-fallnetz für den Fall, dass die Dinge aus dem Ruder lau-fen.
– Nein, es ist weder eine Parallelgesetzgebung noch eineParallelwelt. Das stimmt doch alles nicht.
– Ich stehe gern für Zwischenfragen zur Verfügung, HerrErnst. Dann kann ich Ihnen gern ausführlich erläutern,wie da der Sachverhalt ist.
Lieber Kollege Dr. Pfeiffer, da die vereinbarten Rede-
zeiten keine ungefähren Richtwerte sind, sondern prä-
zise Vorgaben, würde ich Sie bitten, jetzt zum Ende zu
kommen.
Ich bin ja eigentlich immer noch bei der Beantwor-tung der Zwischenfrage. Ich will es aber in der Tat auchnicht überstrapazieren.
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7648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Dr. Joachim Pfeiffer
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Ich rate, dass wir uns mit dem Thema ohne Hysterieauseinandersetzen. Lassen Sie uns die Fakten betrach-ten! Lassen Sie uns das beste Freihandelsabkommen unddas beste Investitionsschutzabkommen, das es bisher aufder Welt gibt, mit den USA zusammen entwickeln unddamit weltweit Standards setzen. Daran arbeiten zumin-dest wir.
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege
Klaus Ernst.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Pfeiffer, machen wir es gleich am Anfang:Sie haben davon gesprochen, die Europäer müssten einInteresse an solchen Schiedsverfahren haben, weil esauch entsprechende europäische Verfahren gibt. Es gibteines, da werden wir, die Bundesrepublik Deutschland,von Vattenfall wegen des Atomausstiegs verklagt. Kön-nen Sie mir bitte sagen, welches Interesse der deutscheBürger an so einem Verfahren haben soll? Welches Inte-resse?
– Sie können mir gerne eine Zwischenfrage stellen,wenn Sie wollen. – Es geht aber nicht einmal darum,sondern es geht darum, dass nicht der Bürger klagendarf, weil das in den Schiedsverfahren gar nicht vorgese-hen ist. Bei diesen Verfahren hat der Bürger kein Klage-recht, übrigens hat auch die Bundesrepublik Deutsch-land kein Klagerecht, auch kein Verband hat einKlagerecht, sondern ausschließlich die Unternehmen ha-ben ein Klagerecht gegen die Staaten. Warum ein Staatdaran Interesse haben sollte, entzieht sich wirklich mei-ner Logik, Herr Pfeiffer.
Jetzt kommen wir gleich zum nächsten Punkt. Sie sa-gen: Sie mit Ihrer Angstmacherei! Die ist ja unerträg-lich! – Wir werden abgehängt, weil die Chinesen Ab-kommen schließen. – Ja, glauben Sie wirklich, dass derdeutsche Export von den Regelungen zwischen Chinaund den Amerikanern abhängt?
Ich sage Ihnen: Wenn das so wäre, dann dürften ja dieAmerikaner ohne entsprechende Abkommen gar nichterst bei uns investiert haben und wir ohne entsprechendeAbkommen nicht in den USA. Aber das läuft.Ich sage Ihnen, was den Fortschritt ausmacht – dassind nicht die Abkommen –: Innovationen, vernünftigausgebildete Leute, neue Technologien. Das macht aus,ob wir Handel treiben können, und nicht das Aufgebenvon Prinzipien des deutschen Rechtsstaats in Form vonsolchen Handelsabkommen, meine Damen und Herren.
Das musste einfach einmal gesagt werden, weil es mirlangsam wirklich auf den Senkel geht, wie hier argu-mentiert wird.Meine Damen und Herren, wo ist das Neue bei diesenSchiedsverfahren? Sie sagen immer, wir hätten ja inzwi-schen Abkommen mit Kroatien und mit was weiß ich fürLändern. Ich sage Ihnen: Das Neue ist, dass wir zwi-schen Wirtschaftsblöcken mit Rechtssystemen, die funk-tionieren, Abkommen schließen wollen. Ich möchtegerne von Ihnen wissen, warum wir unter solchen Vo-raussetzungen eine Paralleljustiz brauchen.
Aber genau darum geht es: um den Aufbau einer Paral-leljustiz, bei der der Bürger selbst ausschließlich der Be-nachteiligte ist, weil er als Steuerzahler zahlt, aber selbergar nicht klagen darf.
Meine Damen und Herren, Sie haben vor, den An-wendungsbereich dieser Schiedsgerichte massiv gegen-über dem zu erweitern, was vorher war. Massiv! Ich sageIhnen: Da gibt es berechtigte Kritik. Eine Kritik stammtvon der Neuen Richtervereinigung. Das interessiert Sievielleicht nicht, weil – diesen Eindruck habe ich – Sieeher Interessenvertretung für die Großindustrie und dieExportindustrie machen.
Aber hören Sie sich einmal an, was die Richter dazu sa-gen. Sie sagen, dass sie gegen solche Schiedsgerichtesind,weil hierdurch demokratisch legitimierte Schutzge-setze ohne Einhaltung grundlegender Verfahrens-prinzipien und ohne wirksame Kontrolle in Fragegestellt werden.Unabhängigkeit, Öffentlichkeit, rechtliches Gehörund Überprüfbarkeit von Entscheidungen sind ele-mentare Errungenschaften unseres Rechtsstaats.Diese dürfen nicht durch Schiedsgerichtsklauselnausgehöhlt werden.Recht haben die Richter! Recht haben sie, die Richter,Herr Pfeiffer!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7649
Klaus Ernst
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Der DGB und seine Einzelgewerkschaften sind striktdagegen. Selbst Heiko Maas, der Justizminister, hat sichin der Süddeutschen Zeitung positioniert – ich möchtedas zitieren –:Ich bin eindeutig gegen diese Schiedsgerichte. Wirbrauchen so etwas zwischen OECD-Staaten nicht.Recht hat er.
Frau Hendricks, die Bundesumweltministerin, hatsich positioniert. Sie sagt – Zitat –:Ein solches Schlupfloch würde die Errungenschaf-ten von 150 Jahren Arbeiterbewegung, 100 JahrenFrauenbewegung und 50 Jahren Umweltbewegungmit einem Federstrich zerstören.Auch sie hat recht.
Meine Damen und Herren, Ihre Ministerin hat an dieserStelle vollkommen recht.Jetzt haben wir das Problem, dass die SPD-Basis demBraten nicht so richtig traut. Deshalb der Beschluss aufdem SPD-Konvent, wo gesagt wird: Es sind Schiedsver-fahren abzulehnen und Begriffe wie „faire und gerechteBehandlung“ oder „indirekte Enteignung“. – Jetzt sindSchiedsverfahren und diese Begriffe aber enthalten, wieman bei CETA lesen kann. Das ist Bestandteil vonCETA. Deshalb müsste eigentlich logischerweise – –
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie jetzt eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Heider?
Ja, von wem auch immer. – Bitte schön.
Herr Kollege Ernst, vielen Dank, dass Sie die Frage
zulassen. – Sie haben gerade die deutsche Richterschaft
zitiert. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass in der deut-
schen Zivilprozessordnung seit 1897 Verfahren über die
Schiedsgerichtsbarkeit, über die vorläufige Vollstreck-
barkeit von Schiedsgerichtssprüchen enthalten sind und
dass noch nie ein Richter daran Zweifel gehabt hat, dass
es seine Berechtigung hat?
Tja.
Das ist genau das Problem. Sie machen Politik nach demMotto: Das war schon immer so. Dann machen wir soweiter.
Sie sind nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass esein wesentlicher Unterschied ist, ob es um Schiedsver-fahren geht, an denen Gleiche mit gleichen Rechten be-teiligt sind – was in vielen Schiedsverfahren üblicher-weise der Fall ist, übrigens auch bei anderen in der Justizüblichen Verfahren.
Es geht hier um Sonderrechte für eine kleine Gruppe.
– Natürlich, wenn es nicht um Sonderrechte für einekleine Gruppe gehen würde, dann sagen Sie mir, warumnur Unternehmen in diesen Verfahren Klagerecht haben.
– Ich bin noch nicht fertig, Herr Heider. Ich bin immernoch bei der Beantwortung Ihrer Frage. Sie dürfen sichaber gerne setzen. Stehen ist ja auch fade. – Ich sage Ih-nen nur: Genau das ist das Problem. Es sind vollkommenandere Verfahren als die, die Sie ansprechen. Es gehtausschließlich um ein Recht für die großen Unterneh-men. – So, jetzt bin ich mit der Beantwortung IhrerFrage fertig.Meine Damen und Herren, ich habe gerade angespro-chen, dass große Teile der Bundesregierung selbst Be-denken gegen diese Abkommen haben. Das ist gut undrichtig. Aber ich muss ehrlich sagen: Ich kenne michnicht mehr mit dem aus, was Herr Gabriel eigentlichwill. Einmal sagt er so, dann sagt er wieder das Gegen-teil. Ich frage mich: Wo ist die Haltung der Bundesregie-rung in dieser Frage, Frau Zypries?
Ich habe den Eindruck, die Aussagen unseres Bundes-wirtschaftsministers in der Frage der Handelsabkommenhaben die Halbwertszeit von Einwegunterwäsche.
So schnell kann man gar nicht gucken, dann ist die Posi-tion geändert. Die SPD-Basis muss sich doch veräppeltvorkommen bei dem, was sie beschließt, was aber in derpraktischen Frage keine Bedeutung hat.Meine Damen und Herren, 97 Prozent derjenigen, diesich an der Debatte beteiligt haben, die von der Europäi-schen Union angeregt wurde, lehnen die Verfahren ab.Jetzt spielen Sie das herunter, Herr Pfeiffer, und sagen:Es waren nur 150 000, die sich beteiligt haben, und eswar auch keine Volksbefragung.
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7650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Klaus Ernst
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Kennen Sie den Unterschied? Ich kann es Ihnen sagen.Schon der frühere Handelskommissar hat gesagt: Ichverhandele für 500 Millionen Europäer. Und es gibt nur400 000 Unterschriften dagegen. – Was soll denn das?Sie nehmen den Bürger nicht ernst. Die 500 Millionen inEuropa hat niemand gefragt, ob sie solche Abkommenwollen. Das will ich Ihnen nur sagen.
Nun heißt es von der Bundesregierung mit Blick aufTTIP:Die endgültige Entscheidung über die Einbezie-hung von Investitionsschutz und Investor-Staat-Schiedsverfahren in TTIP wird erst nach Abschlussder Verhandlungen und Prüfung des Verhandlungs-ergebnisses getroffen werden.Dann läuft es im Ergebnis genauso wie bei CETA. Dortist es enthalten; dort steht es drin. Trotzdem hat die Bun-desregierung keine vernünftige Haltung. Meine Damenund Herren, Sie veräppeln nicht nur Ihre Mitglieder, sieveräppeln die ganze Republik, wenn Sie so herumeiern.
– Wollen Sie noch eine Frage stellen? Bitte.Selbst der Beirat der Bundesregierung, Ihr Beirat, denSie vom Wirtschaftsministerium ins Leben gerufen ha-ben, hat sich zu dem, was dort läuft, sehr deutlich kri-tisch geäußert.
– Nein, nein, dafür ist er nicht da. Er stellt nämlich dasVerfahren infrage, dass Sie sich nämlich festgelegt ha-ben, ohne den Beirat ernst zu nehmen.
In diesem Brief steht – ich zitiere es –:Eine solch apodiktische Haltung löst bei uns dieFrage aus, welche Funktion ein TTIP-Beirat hat,wenn die Bundesregierung entweder sich den Ent-scheidungen der anderen Mitgliedstaaten anschließtoder aber in ihrer Haltung bereits festgelegt ist.Das ist der Eindruck des Rates, der offensichtlich kriti-siert, was dort eigentlich läuft.Im Übrigen wird immer wieder argumentiert: DieBundesrepublik Deutschland ist das einzige Land, dasdagegen ist. Wie ist es denn wirklich? In den Niederlan-den, in Österreich, in Frankreich und in anderen Länderngibt es massive substanzielle Vorbehalte gegen diese Ab-kommen. Die Regierungen von Australien, Argentinien,Bolivien, Brasilien, Ecuador, Indien, Südafrika und Ve-nezuela zeigen, wie man es machen kann.
Sie haben entweder Investitionsschutzverträge aufge-kündigt, gar nicht erst unterschrieben oder bekannt gege-ben, keine weiteren Abkommen zu unterzeichnen.
Meine Damen und Herren, der Bundesminister ver-läuft sich momentan in eine fragwürdige Argumentation.Wenn auch noch ein Gutachter beauftragt wird, der aufder Schlichterliste bei internationalen Schiedsverfahrenist, dann fragt man sich doch: Ist der denn unabhängig? –Sie fragen doch auch keinen Metzger wegen eines Gut-achtens,
ob Vegetarismus vielleicht besser ist als Fleischkonsum.Aber Sie nehmen hier einen Gutachter, der selber anSchiedsverfahren beteiligt ist! Der ist wirklich sehr un-abhängig.
Meine Damen und Herren, selbst Ihre eigenen Sachver-ständigen haben bezogen auf die Schiedsgerichte mas-sive Bedenken gehabt.
Angeblich geht es bei den Abkommen um mehr In-vestitionen. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür,dass dem so ist. Aber es gibt eine Frage, die wir als Ab-geordnete ernst nehmen sollten.
Herr Kollege Ernst, nachdem leider trotz mehrfacher
Aufforderung keine Zwischenfragen mehr eingelaufen
sind, muss ich Sie an das Ende der Redezeit erinnern.
Danke für den Hinweis; ich bin gleich fertig. – Der
Volksmund sagt: Vor dem Gesetz sind alle gleich, aber
einige sind gleicher.
Dass man diesen Gleichen aber auch noch ein eigenes
Rechtssystem gibt, ist unerträglich.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Barthel.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7651
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
gerade beim Veräppeln sind, Herr Kollege Ernst, müssen
wir doch erst einmal schauen, was für einen Antrag die
Linke in diese Debatte eingebracht hat. Dazu haben Sie
nur ganz zum Schluss etwas gesagt. Ich will auf diesen
Antrag eingehen, aber vorher noch sagen: Soweit Sie
hier Argumente vorgebracht haben, haben Sie Richter,
den Beirat und Sozialdemokraten zitiert.
Insoweit kann man Ihnen nur recht geben: Das waren
Argumente, mit denen man sich auseinandersetzen
muss.
Was Sie hier beantragen, ist aber etwas ganz anderes.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Gefälligkeits-
gutachten, von nicht gegebener Neutralität und fordern
dann, kein Geld „für tendenziöse Gutachten zu ver-
schwenden“.
Dann frage ich Sie einmal: Wo auf dieser Welt gibt es
absolute Neutralität? Warum sollte man einer Bundes-
regierung, einer Bundestagsfraktion oder wem auch im-
mer das Recht nehmen, Gutachten in Auftrag zu geben,
bei denen man damit rechnet, dass die eigene Position
unterstützt wird, wenn man doch weiß, dass es – gerade
bei dieser Frage – keine absolute Wahrheit, keine abso-
lute Neutralität und Interessenfreiheit gibt? Herr Kollege
Ernst, warum geben Sie von der Fraktion Die Linke bei
Herrn Professor Däubler ein Gutachten zum Tarifein-
heitsgesetz in Auftrag, übrigens auch mit Steuergeldern
finanziert, das Ihre Position bei der Tarifeinheit stützt?
Das ist doch in Ordnung. Entscheidend ist nur, dass man
sich mit diesen Gutachten auseinandersetzen muss.
Wenn einem nichts Besseres einfällt, als andere wegen
ihres Interessenhintergrunds anzupissen, dann zeigt das
nur, dass man selber keine Argumente hat und deshalb
versuchen muss, mit Lobbyismus zu kommen.
Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ernst?
Gleich. Lassen Sie mich den Gedanken zu Ende füh-
ren. – Es geht hier um Transparenz, darum, sichtbar zu
machen: Welche Argumente werden von wem vorge-
bracht? Dann ist es völlig legitim, diese Leute zu Anhö-
rungen einzuladen und sich von ihnen Gutachten erstel-
len zu lassen. Sie haben ja in der Anhörung Gelegenheit
gehabt, Herrn Schill zu befragen, und er hat Ihre Fragen
ganz offen beantwortet. Dann gibt es aber kein Problem
mehr.
Ansonsten müssten wir alle uns nämlich fragen, was wir
hier eigentlich machen. Sie, Kollege Ernst, und ich, wir
kommen aus den Gewerkschaften. Wir machen auch
kein Geheimnis daraus: Natürlich haben wir einen Inter-
essenhintergrund. Dementsprechend argumentieren wir
und holen wir Gutachten ein. Das ist völlig legitim. Sich
aber nicht mit den Inhalten auseinanderzusetzen, spricht
für geistige Armut, und das haben Sie heute hier mit Ih-
rem Antrag geliefert.
Herr Kollege Barthel, ich habe Sie so verstanden,
dass der Kollege Ernst jetzt eine Zwischenfrage stellen
darf. Deshalb erteile ich ihm dazu das Wort.
Herzlichen Dank. – Die Behauptung, dass wir uns
hier nicht mit Inhalten auseinandersetzen, muss ich in al-
ler Deutlichkeit zurückweisen. Wir haben uns mit die-
sem Thema schon auseinandergesetzt, als der Großteil
der SPD mit diesem Thema noch gar nicht vertraut war,
als Sie noch gar nicht wussten, was da überhaupt laufen
soll. Die Art und Weise, wie die Diskussion geführt
wird, ärgert mich.
Um was geht es eigentlich? Es geht um die Frage:
Welche Art von Gutachten lassen Sie erstellen? Ich habe
nichts dagegen, dass man mit Interesse ein Gutachten er-
wartet; das macht jeder. Aber das Wirtschaftsministe-
rium ist nicht einmal in der Lage, einen neutralen Gut-
achter zu benennen. Wissen Sie denn, was Herr Schill
gemacht hat, wo er gearbeitet hat? Wissen Sie, dass er
indirekt über seinen früheren Chef selber an Verfahren
beteiligt war? Können Sie sich vorstellen, dass jemand,
der auf einer Schlichterliste eines internationalen
Schiedsgerichts steht, keinesfalls der Auffassung sein
wird, dass ein Schiedsgericht überflüssig ist? Er lebt
doch davon. Er verdient sein Geld damit, und wie Sie
wissen, verdienen Schiedsrichter ausgezeichnet. Ange-
sichts dieser Tatsache, Herr Barthel, können Sie doch
nicht behaupten, das sei seriös.
Natürlich versucht man, auf der wissenschaftlichen
Ebene Experten zu finden, die alle Aspekte berücksichti-
gen. Aber wenn jemand selber an diesem Verfahren be-
teiligt ist, dann ist er doch nicht neutral. Das ist die Kri-
tik, die wir in unserem Antrag formuliert haben. Herr
Barthel, wir sagen klipp und klar: Neutral ist Ihr Gutach-
ten nicht. Nehmen Sie andere, wirklich neutrale Gutach-
ter! Dann werden Sie zu einem ganz anderen Ergebnis
kommen.
Ich würde gerne von Ihnen wissen, wo es absoluteNeutralität gibt. Da bin ich gespannt. Sie sagen, das seiunseriös. Setzen Sie sich doch einmal mit den Argumen-ten von Professor Schill auseinander! Sein Interessen-hintergrund ist bekannt. Aber das ist doch kein Grund,uns nicht mit den Argumenten von jemandem auseinan-derzusetzen, der Erfahrung mit solchen Verfahren hat.
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7652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Klaus Barthel
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Man muss mit Fakten argumentieren, und genau hierliegt das Problem. In Ihrer Rede haben Sie sich zu99 Prozent nicht mit Ihrem Antrag beschäftigt. Aber da-rüber müssen wir eine Debatte führen. Ich bin gespannt,wann die Linken einen Antrag vorlegen, so wie es dieGrünen gemacht haben, in dem sie sich ernsthaft mit derSache auseinandersetzen und die Frage klären, wie dieLinken in Zukunft Welthandel und Weltwirtschaft ge-stalten wollen. Aber Sie wollen sich auf Debatten überHandelsverträge nicht einlassen. Stattdessen bringen Siekonfuse Kritik vor.
Herr Ernst, ich muss schon sagen: Sie betreiben platteStimmungsmache, und das können wir überhaupt nichtbrauchen.Schauen wir uns doch die Kampagnen der letzten Wo-chen an. Erst wird gezetert, der Konventsbeschluss derSPD sei Verrat, weil er Tür und Tor öffne und keine Ab-lehnung von TTIP und CETA beinhalte. Ein paar Tagespäter ziehen Sie den Konventsbeschluss der SPD ausder Tasche als Bestätigung für Ihre Position; denn darinsteht: Wir wollen keine Schiedsgerichte. – Wieder einpaar Tage später wird Sigmar Gabriel kritisiert, weil erden Konventsbeschluss angeblich aufgegeben habe. Daswird daran festgemacht, dass er hier darauf hingewiesenhat, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern auch aufeuropäischer Ebene eine breitere Diskussion brauchen,wenn wir in Bezug auf TTIP, CETA und Investoren-schutz noch etwas verändern wollen.
Genau deswegen ist Sigmar Gabriel zurzeit in Europaunterwegs: Er will anderen Ländern unsere Positiondeutlich machen. Er macht deutlich, was wir wollen,
nämlich Bewegung in die Verhandlungen über TTIP undCETA bringen. Das ist schon ein Stück weit gelungen.Dann gibt es Kampagnen – hier komme ich auf dieGrünen zu sprechen –, mit denen die Bürgerinnen undBürger durch Informationen, die einfach nicht stimmen,auf die Palme gebracht werden.
Es wurde zum Beispiel behauptet, dass die SPD-Frak-tion am letzten Dienstag vor Weihnachten gezwungenwerde, irgendeine Entscheidung über TTIP oder CETAzu treffen. Die Folge war, dass Hunderte von Bürgerin-nen und Bürgern bei uns Abgeordneten der SPD anrufenund uns bewegen wollen, das nicht zu tun.
Es ist richtig: Am Ende kommt es auf die Sozialdemo-kratie an. Es ist schon klar, dass sich die Blicke auf unsrichten. Aber die Bürgerinnen und Bürger durch un-wahre Behauptungen auf die Palme zu bringen, das istnicht in Ordnung. Ich frage Sie alle: Wem nützt das ei-gentlich? Wem hilft das?
Hilft das den Grünen? Hilft das Campact? Hilft das derLinken? – Nein, es bewirkt nichts anderes, als die Poli-tikverdrossenheit zu erhöhen, Misstrauen zu säen unddie Politikferne zu unterstützen.
Deswegen haben auch Sie von den Grünen heute in derweiteren Debatte die Gelegenheit, sich von solchenKampagnen zu distanzieren, anstatt sie draußen in derÖffentlichkeit zu unterstützen.
Ich bin gespannt, wie die Grünen die heutige Debattekommentieren werden,
weil ich gehört habe, dass Sie ursprünglich gefordert ha-ben, dass wir heute über Ihren Antrag abstimmen. Wirhaben das ja schon einige Male erlebt: Wenn wir einenAntrag zum Investorenschutz ablehnen, wird im Um-kehrschluss behauptet, wir seien für den Investoren-schutz und für Schiedsgerichte.
Wir sind dafür, dass wir Ihren durchaus seriösen Antragüberweisen, in den Ausschüssen behandeln und weiterdiskutieren, weil wir ihn nicht einfach ablehnen, sondernin der Sache darüber diskutieren wollen.
Zur Sache komme ich jetzt; es besteht ja leider immerdas Problem, dass man sich zuerst mit anderen Dingenauseinandersetzen muss. Es ist doch klar, dass das Bun-deswirtschaftsministerium, die SPD und im Übrigenschon die alte Bundesregierung der Auffassung waren,dass wir keine Schiedsgerichtsverfahren und keinen In-vestorenschutz brauchen. Das ist zu TTIP zu Protokollgegeben worden. Im Übrigen gilt der alte Spruch – weiles ein ordoliberaler Spruch ist, dachte ich immer, dass ervon Ludwig Erhard ist; ich habe aber gelesen, dass ervon Montesquieu ist –: Wenn ein Gesetz nicht nötig ist,ist es nötig, kein Gesetz zu machen. – Das heißt fürmich: Wenn ISDS nicht nötig ist, dann ist es nötig, kein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7653
Klaus Barthel
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ISDS zu machen. Das ist die Position des Wirtschafts-ministeriums, das ist die Position der Sozialdemokraten,und das war auch schon die Position von Schwarz-Gelb.Das Konsultationsverfahren hatte das gleiche Ergebnis:
Es gibt ein neues Nachdenken in der Kommission. Dazuwird mein Kollege Dirk Wiese, der heute hier als neuesMitglied des Wirtschaftsausschusses reden wird, sichernoch etwas sagen.Ich will zum Schluss noch einmal sagen: Es geht beidieser Debatte um mehr als nur die Abwehr von Schieds-gerichtsverfahren.
Es geht um mehr als die Frage, wer die Verträge zum in-ternationalen Handel und zum Investorenschutz aushan-delt. Vorrangig geht es um die Frage, welche Abkommenmit welcher Qualität und welchen Inhalten wir interna-tional aushandeln.
Unsere Kriterien sind: Können wir die Daseinsvorsorgesichern? Können wir die Standards auf der Welt verbes-sern? Können wir einklagbare Rechte für Verbraucher,für Umweltschutzverbände, für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer schaffen? Können wir Datenschutz- undVerbraucherrechte verankern? Können wir die Finanz-märkte regulieren? Können wir Steuerdumping unterbin-den?
Lieber Kollege Barthel, leider ist die Redezeit be-
grenzt. Deshalb bitte ich Sie, zum Schluss zu kommen.
Jawohl. – Es geht also nicht nur um einen Abwehr-
kampf, sondern auch um Gestaltung. Derjenige, der an
dieser Auseinandersetzung um die Gestaltung solcher
Handelsabkommen teilnimmt, ist nicht ängstlich, son-
dern mutig.
Der Mut besteht darin, so etwas vernünftig auszuarbei-
ten und nach vorne zu treiben. Ich hoffe, dass wir in den
nächsten Wochen und Monaten dabei weiterkommen.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Max
Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Letztendlich ist eine angeregte Debatte über die beiden
Anträge der Bundestagsfraktionen der Grünen und der
Linken entstanden. Die einen fordern, wir sollten über-
haupt keine Gutachten mehr in Auftrag geben, und wenn
doch, dann müssten die Auftraggeber aus der Linken-
fraktion kommen und die Bundesregierung dafür bezah-
len, damit das Ergebnis stimmt.
– Das ist doch völlig klar, Kollege Ernst. Ich kenne ja
dein Ansinnen, also darf ich beim Du bleiben. – Das-
selbe gilt auch für die Bundestagsfraktion der Grünen,
die grundsätzlich die Verhandlungen zu den Freihandels-
abkommen ablehnt. Ich bin aber dankbar für die Wort-
meldung und die Frage des Kollegen Gambke; denn es
schien durch, dass Ihrer Meinung nach Schiedsgerichte
unter Umständen gar nicht so schlecht sind, ja sogar not-
wendig, wenn es um internationale Investitionen von
Unternehmen geht.
Ein Grund für Freihandelsabkommen ist, dass wir
Möglichkeiten schaffen wollen, um in der Weltwirt-
schaft weiter voranzukommen; denn die Weltwirtschaft
ist für die deutsche Wirtschaft elementar, ebenso wie für
die europäische und die amerikanische. Letzten Endes
sind sie ein Segen; denn damit sind die Arbeitsplätze
vieler Menschen verbunden. Wenn wir in Ländern mit
unterschiedlichen, auch schwierigen Rechtssystemen
keine Investitionen mehr tätigen würden, dann würden
dort – davon bin ich überzeugt – gar keine Investitionen
getätigt. Damit würden wir aber auch unsere eigenen
wirtschaftlichen Möglichkeiten beschneiden. Im abge-
laufenen Jahr konnten wir 1,5 Prozent Wirtschafts-
wachstum verzeichnen. Ein Grund dafür ist, dass wir
eine großartige exportorientierte Industrie haben, die in
vielen Ländern der Welt Investitionen getätigt hat. Diese
Investitionen haben nicht zum Abbau von Arbeitsplätzen
in unserem Land geführt, sondern dazu, dass in unserem
Land Arbeitsplätze entstanden sind bzw. gefestigt wur-
den.
Deshalb sind Freihandelsabkommen notwendig und zu
befürworten. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die EU
und Kanada ein Freihandelsabkommen ausgehandelt ha-
ben; abgeschlossen ist es noch nicht. Zu begrüßen ist
auch, dass die Europäische Union und die USA ein Frei-
handelsabkommen anstreben. Letztlich ist das ein Segen
für die Menschen in beiden Erdteilen.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Janecek?
Ja, gerne.
Herr Kollege Straubinger, Sie sind jetzt der dritteRedner für die Große Koalition in dieser Debatte. Kön-nen wir erwarten, dass Sie sich in Ihrer zehnminütigen
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7654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Dieter Janecek
(C)
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Rede auch einmal zum Thema äußern, was in den beidenersten Reden nicht der Fall war?
Wie gedenken Sie, mit dem Ergebnis des Konsultations-verfahrens – 97 Prozent sind dagegen – umzugehen?Wenn die EU ein solches Verfahren durchführt, habenSie die Pflicht, darauf zu reagieren und zu beschreiben,wie Sie damit umgehen wollen. Wollen Sie zum Beispielverhindern, dass Schiedsgerichtsverfahren zukünftig inprivate Hände gegeben werden? Wollen Sie einen Pro-zess in Gang setzen, der die Sache in staatliche Verfah-ren überführt? Das wäre ja einmal ein konstruktiver An-satz. Ich bitte Sie einfach, die Fragen, die sich hierstellen, zu behandeln.
Lieber Herr Kollege Janecek, es ist so, dass wir uns
damit befassen. Wir setzen uns mit der Fragestellung
und der Kritik auseinander. Die Intention Ihrer Anträge
ist aber meistens, ein Freihandelsabkommen zwischen
den USA und der EU zu verhindern.
In Ihren Anträgen beziehen Sie sich ja immer nur auf ei-
nen kleinen Teil. Sie filetieren das Gesamtabkommen.
Einmal werden die Schiedsgerichte herausgestellt und
kritisiert, dann wird uns ein Antrag vorgelegt, in dem es
um den Schutz der Daseinsvorsorge geht, und dann
kommt ein Antrag, in dem es darum geht, ob die Regio-
nalmarken geschützt sind usw.
Damit wollen Sie für eine immerwährende Diskussion
sorgen und Sand ins Getriebe streuen.
Ich bin überzeugt, Herr Kollege Janecek, dass das
Konsultationsverfahren eines gezeigt hat: 500 Millionen
Menschen hätten sich beteiligen können. 150 000 Ein-
wendungen gab es; die Kollegen haben das vorhin schon
dargelegt. Ich will das nicht geringschätzen, aber doch
sagen: Wenn 145 000 Einwendungen letztendlich gleich-
lautende Postkarten sind, die von Interessenverbänden
verschickt wurden, um Unterstützung zu erfahren, muss
ich annehmen, dass die Einsender nicht in die Tiefe eines
solchen Abkommens und der daraus resultierenden Fra-
gen vorgedrungen sind; das muss ich unterstellen. Das
zeigt, dass dieses Konsultationsverfahren entsprechend
bewertet werden muss. Eine solche Bewertung nehmen
wir übrigens auch in anderen Bereichen vor. Auch ich
bekomme in der Regel Unterschriftenlisten zu einem
Thema: einmal dafür und einmal dagegen. Der Politiker
muss dann auswählen, was er im Hinblick auf die zu-
künftige Entwicklung unseres Landes für das Richtige
hält. Das ist ein sehr komplexer Vorgang, Herr Kollege
Janecek.
Um was geht es? Es geht letztendlich um den Schutz
von Investitionen unserer Firmen. Wenn Kollege Ernst
anprangert, hier würden nur die Interessen von Firmen-
inhabern geschützt, muss ich sagen, dass das völlig klar
ist; denn sie tätigen die Investitionen in anderen Län-
dern. Es geht nicht darum, Arbeitnehmerrechte in den
USA einzuklagen, sondern es geht darum, dass Investi-
tionen, die in anderen Ländern getätigt werden, vor Dis-
kriminierung oder möglicherweise auch vor unbilliger
Enteignung geschützt sind.
Sie haben vorhin gefragt: Was kann Deutschland für
ein Interesse daran haben, dass Vattenfall oder die deut-
schen Bürger vor einem Schiedsgericht klagen? Da stelle
ich die Gegenfrage: Warum haben wir ein Interesse da-
ran, dass RWE, Eon und auch EnBW in einem ordentli-
chen Rechtsstaat auf Schadensersatz klagen können,
weil wir den Atomausstieg beschlossen haben? Das ist in
einem Rechtsstaat in Ordnung. Daher kann man daran
überhaupt keine Kritik üben.
Ich glaube, dass es ein entscheidendes Moment ist, dass
wir hier keine großen Unterschiede haben.
Es geht hier um den Punkt: Wir brauchen Schiedsge-
richte, damit eine Firma ihre Interessen durchsetzen
kann. Was nützt mir ein Gerichtsurteil, wenn ich hinter-
her zwar einen Schein, einen Anspruch habe, dieser aber
nicht befriedigt wird? Mit diesem internationalen Ab-
kommen wird durch die Schiedsgerichtsverfahren ge-
währleistet, dass es eine Befriedigung des berechtigten
Anspruchs gibt. Deshalb ist es zum Schutz unserer Fir-
men und unserer Unternehmen und damit auch der Ar-
beitsplätze in unserem Land.
Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst möchte
noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön. Dem kann ich überhaupt nichts abschla-
gen.
Dann haben Sie das Wort. Ich bitte aber, darauf zuachten, dass die Zwischenfragen oder Zwischenbemer-kungen präzise sind und nicht zu lang werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7655
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Kollege Straubinger, das, was Sie eben angesprochen
haben, ist genau der Punkt: Wer kann wo klagen? Wäh-
rend deutsche Unternehmen vor den deutschen Gerich-
ten klagen müssen, wenn sie glauben, ungerecht behan-
delt worden zu sein, können ausländische Unternehmen
vor Schiedsgerichte ziehen, und zwar ohne die Möglich-
keit, dass der Staat dagegen in Revision gehen kann.
Im Übrigen verlaufen die Verfahren dort, wie wir gerade
bei Vattenfall sehen, unter sehr großer Geheimhaltung.
Selbst wir als Abgeordnete sind bis heute nicht alle um-
fassend informiert worden, was genau in der Klage-
schrift steht usw. Genau das ist der Unterschied. Ich bin
ja wie Sie der Auffassung – da sind wir uns vollkommen
einig –, dass ein Unternehmen in einem Rechtsstaat auch
das Recht hat, gegen staatliche Entscheidungen zu kla-
gen.
Die Frage ist allerdings, wo. Wir debattieren hier über
diese unterschiedliche Gerichtsbarkeit und nicht darüber,
dass es Unternehmen nicht mehr möglich sein soll, eine
Klage gegen einen Staat zu führen.
Sie haben zum Schluss gesagt, dass es keine großen
Unterschiede gibt. Dann haben Sie gesagt: Wenn jemand
vor ein ordentliches Gericht geht, dann bekommt er ei-
nen Schein. Dieser Schein ist üblicherweise ein Urteil,
und in Rechtsstaaten werden Urteile vollstreckt. Das
heißt, wenn funktionierende Rechtssysteme vorhanden
sind, reicht das aus. Denn wenn es anders wäre, Kollege
Straubinger, müssten wir uns und müsste sich das ganze
Hohe Haus sehr schnell Gedanken darüber machen, wie
wir unser Rechtssystem so verändern können, dass Rich-
tersprüche auch durchgesetzt werden.
Um gleich beim letzten Punkt zu bleiben: Herr Kol-lege Ernst, es ist für ein Unternehmen wahrscheinlichleichter, Ansprüche gegenüber einem Staat geltend zumachen als gegenüber einem Vertragspartner, der viel-leicht pleitegegangen ist und bei dem nichts mehr zu ho-len ist. Das ist der große Unterschied bei dem gesamtenVerfahren.
Es geht darum, seine Rechte durchzusetzen, und zwarso, dass dies auch eine Wirkung hat.
– Natürlich geht es auch darum.
Hinzu kommt: Auch was die Rechtspflege inDeutschland angeht, gibt es unterschiedliche Urteile zugleichen Sachverhalten. Deshalb bin ich sehr dafür, dassim Hinblick auf Schiedsgerichte unter Umständen auchüber die Möglichkeit von Berufungen diskutiert wird.
Dazu finden derzeit ja Verhandlungen statt. Aber Sielehnen im Grunde genommen Verhandlungen zu demgesamten Komplex ab.
Das ist letztendlich der Denkfehler, den Sie bei diesemThema machen, liebe Kollegen.
Der nächste Punkt. Hier heißt es immer, multinatio-nale Konzerne würden diese Regelung ausnutzen, Staa-ten zwingen, ihre Gesetzgebung zu ändern, und derglei-chen mehr.
Die Praxis zeigt, dass die Schiedsgerichtsverfahren, diebisher angeleiert worden sind, in der Regel vom Mittel-stand ausgegangen sind.
– Ja, natürlich; die meisten Verfahren sind bisher vonmittelständischen Unternehmen angestrengt worden. –Warum das so ist, kann man nachvollziehen: Ein multi-nationaler Konzern hat in den jeweiligen Ländern sicher-lich wesentlich leichter den nötigen Zugang, um seinePosition entsprechend zu verdeutlichen.
Aber ein kleiner Automobilzulieferer,
der zum Beispiel im Zuge der Expansion eines großenAutomobilherstellers – ich sage es einmal so – gebetenworden ist, in dem entsprechenden Land Investitionenzu tätigen,
mit der Folge, dass diese Investitionen dann möglicher-weise nicht mehr so gut geschützt sind, kommt unter die
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7656 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Max Straubinger
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Räder. Deshalb kommt das Ansinnen, Investitionsschutz-abkommen mit Schiedsgerichten zu versehen, eher ausden Reihen des Mittelstandes. Auch der Bayerische Bau-ernverband hat sich erst jüngst dafür ausgesprochen,Freihandelsabkommen mit Schiedsgerichten anzustre-ben.
Dasselbe gilt für den Zentralverband des DeutschenHandwerks, der sich ebenfalls positiv zum Abschlussdieses Freihandelsabkommens geäußert hat.Werte Kolleginnen und Kollegen, der Grund dafür ist,dass damit viele Arbeitsplätze, auch in der mittelständi-schen Wirtschaft, verbunden sind. Natürlich kann man indieser Debatte immer wieder die multinationalen Kon-zerne als großes Gespenst erwähnen. Tatsache ist aber:Wir brauchen unsere großen Weltfirmen, die bereit sind,in verschiedensten Ländern Risiken einzugehen,
wobei sie große Erfolge erzielen, manchmal aber auchNiederlagen erleiden. Wenn wir diese Unternehmennicht hätten, hätten wir auch nicht die Exportmöglich-keiten, die wir haben und von denen viele mittelständi-sche Betriebe und viele Handwerksbetriebe profitieren.In Dingolfing – das ist in meinem Wahlkreis; ich kanndas also beurteilen – steht das größte Automobilwerkvon BMW. Viele mittelständische und kleine Hand-werksbetriebe erhalten von BMW Aufträge, zum Bei-spiel im Rahmen von Werkverträgen, oder sie erledigendie Reparatur von Maschinen und Anlagen. Stellen Siesich einmal vor, welche Situation wir hätten, wenn essolche exportorientierten Werke nicht gäbe, wenn sienicht gebaut worden wären. Über 20 Prozent der dortproduzierten Autos werden in die USA geliefert, undetwa 80 Prozent kommen auf den Weltmarkt; das mussman sich einmal vorstellen. Daran hängen viele Arbeits-plätze in unserem Land.Man darf keine Ängste vor Freihandelsabkommenschüren, sondern es gilt, Freihandelsabkommen positivzu begleiten. Handelsabkommen waren für unser Landbisher immer großartige Erfolge. Ich bitte Sie, die zu-künftigen Diskussionen über dieses Thema auch unterdiesem Gesichtspunkt zu führen, dieses Vorhaben mitpositiver Kritik zu begleiten und von der ablehnendenHaltung, die die linke Fraktion und die grüne Fraktion inihren Anträgen heute wieder einmal zum Ausdruck ge-bracht haben, Abstand zu nehmen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion
Die Linke der Kollege Alexander Ulrich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!TTIP und CETA sind Angriffe auf unsere Lebensweise,auf unsere Standards, auf unsere Demokratie und
auf unsere Rechtsstaatlichkeit und müssen deshalb ge-stoppt werden!
Ein Großbündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbän-den, Kirchen, Diakonie, Umweltverbänden, Verbrau-cherschützern, vielen Kommunalpolitikern – auch mitCDU-, CSU- oder SPD-Parteibuch –, vielen Landwirten,sogar den Bierbrauern – Herr Kauder, der Bier-Botschaf-ter, ist nicht da –, Kulturschaffenden, vielen, vielen– täglich werden es mehr – ist gegen diese Verträge, wiesie jetzt vorliegen.Wenn Sie davon sprechen, das sei eine Empörungsin-dustrie, dann haben hoffentlich all die vielen Menschenin diesem Land, die Angst haben um unsere Standards,gehört, dass sie von Ihnen auf diese Weise in eine Eckegestellt werden. Wenn Sie diese Proteste nicht ernst neh-men, sind Sie mit schuld daran, wenn sich Bürger vonder Demokratie verabschieden.
Wenn hier gesagt wird, fast 150 000 kritische Ein-wände gegen TTIP, das sei ja nichts, rufe ich in Erinne-rung, dass wir als Linke schon immer sagen: Wir wollen,dass bei wichtigen europapolitischen EntscheidungenVolksabstimmungen abgehalten werden. Herr Seehofersagt das auch manchmal, wenn Europawahlen anstehen.Lassen Sie uns doch über diese Verträge eine Volksab-stimmung machen! Das Thema wäre morgen beendet,
weil die Bürgerinnen und Bürger wissen: Das, was daverhandelt wird, ist nicht in ihrem Interesse.Jetzt komme ich zur „Empörungsindustrie“, HerrPfeiffer. Ich möchte etwas zitieren, was gestern, am15. Januar, veröffentlicht worden ist:Wir lehnen die angedachten Regelungen zum In-vestitionsschutz … ab. Sie beschädigen rechtsstaat-liche Prinzipien und schränken die demokratischeEntscheidungsgewalt ein.Wer war denn das? Haben Sie Vorstellungen? Dasstammt aus einer gemeinsamen Erklärung von CDA undKatholischer Arbeitnehmer-Bewegung,
gestern hier in Berlin verabschiedet. Wollen Sie Ihre ei-genen Leute zu einem Teil der „Empörungsindustrie“ er-klären? Wunderbar!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7657
Alexander Ulrich
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Hoffentlich haben alle gehört, dass diese Erklärung inder Bundestagsfraktion der CDU/CSU nicht ernst ge-nommen wird.Ein weiteres Beispiel für die „Empörungsindustrie“:Investitionsschutzvorschriften sind in einem Ab-kommen zwischen den USA und der EU grundsätz-lich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIPeingeführt werden.
Wer hat das verabschiedet? Die „Empörungsindustrie“kommt diesmal aus dem Parteikonvent der SPD. Tun Siedoch einmal, was Ihr Parteikonvent beschlossen hat! TunSie nicht so, als wäre das alles Schnee von gestern! Ma-chen Sie uns keine Vorwürfe, weil wir euch an dieserStelle ernst nehmen!
Eine SPD, die Sozialstandards gefährden will, Verbrau-cherschutzstandards gefährden will und andere Dingeauch, braucht man nicht in einer Bundesregierung. WennSie nur den Job der FDP erledigen wollen, dann gehenSie lieber wieder in die Opposition; dort sind Sie besseraufgehoben.
Als gewählte Volksvertreter haben wir die Aufgabe,die Demokratie zu verteidigen. Mit der Zustimmung zuCETA würden wir das nicht tun. Ich sage es noch ein-mal: Warum sollen diese Abkommen eigentlich abge-schlossen werden? Hat hier tatsächlich jemand Angst,dass wir auch nur ein Automobil weniger nach Kanadaoder in die USA verkaufen, wenn wir diese Abkommennicht abschließen? Hat hier wirklich jemand Angst, dassdie BASF oder andere auch nur ein Produkt wenigerdorthin verkaufen, wenn wir diese Abkommen nicht ab-schließen? Hat hier jemand Angst, dass ein kanadischesGericht oder ein amerikanisches Gericht möglicherweisenicht zur gleichen Rechtsprechung kommen könnte wieein solches Schiedsgericht, bei dem es nur darum geht,Großkonzerne zu schützen? Dann sagen Sie das! SagenSie, Sie glauben nicht, dass die Justiz in Kanada oder inden USA zu einer Rechtsprechung kommt, die tatsäch-lich sinnvoll ist.Sie machen auch immer wieder den gleichen Fehler:Sie tun so, als würden alle diejenigen, die mit diesenVerträgen Ängste verbinden, mit dieser Haltung diedeutschen Exporte gefährden. Exportieren wir heutenichts? Wir sind eine der Exportnationen dieser Welt.Und wir haben Angst, zu sagen: „Wir wollen solche In-vestorenschutzklagen nicht“? Das soll irgendjemandernst nehmen? Noch einmal: Wir sind eine der Export-nationen. Wenn wir als die Exportnation auf europäi-scher Ebene sagen: „Wir wollen den Investorenschutzraushaben aus CETA und wollen ihn auch nicht reinver-handelt haben bei TTIP“,
dann, bin ich mir sicher, könnten diese Verträge auchverändert werden. Deshalb ist die Frage, ob sich SigmarGabriel tatsächlich zum Handlanger der Großindustriemachen will oder ob er seine eigene Partei ernst nimmt.Deshalb: TTIP und CETA können noch verhindert wer-den, auch dieser Investorenschutz kann verhindert wer-den.Ich rufe alle auf, die auch morgen hier in Berlin aufdie Straße gehen: Machen Sie weiter Druck! Sie habenschon viel erreicht. Noch einmal: Die SPD wird schonnoch rechtzeitig einknicken.Vielen Dank.
Der Kollege Dirk Wiese spricht jetzt für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Viel zu lange wurden Freihandelsabkommeneinfach nur verhandelt und beschlossen, ohne dass dieÖffentlichkeit daran teilnahm. Dass sich dies jetzt end-lich ändert und wir hier im Parlament darüber diskutie-ren, wie wir Freihandel gestalten und unter den Primatder Rechtsstaatlichkeit stellen wollen, ist gut und richtig.
Warum ist Freihandel eigentlich gut und richtig fürunser Land und für unsere Bürgerinnen und Bürger? Ers-tens. Wir wollen Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitermöglichen. Zweitens. Wir wollen Exportweltmeisterbleiben und Wohlstand sichern. Drittens. Wir wollen dieMenschen mitnehmen und unsere Entscheidungen trans-parent machen.
Bedauerlicherweise interessieren Sie von den Linkensich nicht für die Ziele und die Zukunft der Menschen,sondern für Gutachter.
Das wäre auch gar nicht schlimm, wenn es nicht sodurchschaubar wäre. Warum? Weil Experten nicht imluftleeren Raum leben, sondern mitten in der Gesell-schaft. Jemanden zu fragen, der sich auskennt, ist, ehr-lich gesagt, besser, als substanzlose Anträge zu stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wirtschafts-ministerium hat einen anerkannten Experten beauftragt –mehr nicht. Oder in aller Klarheit: Wenn Sie ein Haus
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7658 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Dirk Wiese
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bauen und die Statik stimmen soll, dann fragen Sie einenArchitekten und nicht Ihren Nachbarn von nebenan.
– Es ist immer schlimm, wenn man den Spiegel vorge-halten bekommt.Ich komme jetzt zum Antrag von Bündnis 90/DieGrünen. Sie gehen auf einige wichtige Punkte fundiertein, und ich bin für Ihre klare Positionierung in der De-batte dankbar; denn bisher wusste ich nicht so recht, woSie bei TTIP und CETA eigentlich stehen und was Siewollen bzw. noch geändert haben wollen bzw. nochhineinverhandelt bzw. erst gar nicht hineinverhandelt ha-ben möchten. Aus Ihren heutigen Forderungen ist end-lich zu entnehmen, dass Sie für die Ratifizierung vonCETA und TTIP sind, wenn die EU-Kommission dieISDS-Klauseln bei CETA noch herausnimmt und sie beiTTIP erst gar nicht hineinnimmt. Das war heute eineklare Positionierung.
Die Menschen müssen wissen, was wir verhandelnund was unsere Ziele sind. Nur dann können wir sie mit-nehmen und für die Potenziale des gerechten Freihandelsgewinnen.Mehr Transparenz zu schaffen, muss unser Anspruchin Deutschland und vor Ort in den Regionen sein. Es istvon höchster Wichtigkeit, dass wir als Deutscher Bun-destag, als Fraktion, mit den Regierungen der anderenMitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und derZivilgesellschaft eine offene und ehrliche Diskussion da-rüber führen, was möglich ist.Wir als Sozialdemokraten gehen mit gutem Beispielvoran. Am 23. Februar 2015 wird es eine öffentlicheVeranstaltung zu den transatlantischen Freihandelsab-kommen im Willy-Brandt-Haus geben, bei der unter an-derem Sigmar Gabriel, Cecilia Malmström, MartinSchulz und Bernd Lange auch zu dem Investitionsschutzund den ISDS-Bestimmungen sprechen werden.
Unser Fahrplan ist dabei klar: Wir setzen uns dafürein, dass ein Freihandelsabkommen ausgehandelt wird,das gut für die Arbeitsplätze vor Ort in Deutschland undin Europa ist, primär einen Mehrwert für die Bürgerin-nen und Bürger darstellt und mit dem versucht wird,weiter unsere hohen Standards in vielen Bereichen zu ei-nem Exportschlager zu machen. Dafür müssen wir unseinsetzen.
Freihandel heißt aber auch ein Geben und Nehmen– gerade auch in den Gesprächen dazu –; denn in einigenBereichen – da müssen wir als Parlament auch ehrlichsein – sind die US-Standards durchaus höher. Ich erin-nere zum Beispiel an den Finanzmarktbereich.Um zu einem Abkommen für die Menschen zu kom-men, dürfen wir nicht immer nur sagen, was wir nichtwollen, sondern wir müssen auch einmal offensiv sagen,was wir wollen. Das ist unter anderem die Aufhebungder Buy-American-Clause, damit unsere kleinen undmittelständischen Unternehmen die Möglichkeit bekom-men, sich auf dem US-Beschaffungsmarkt dem Wettbe-werb zu stellen.
Wenn ein ausgehandeltes Freihandelsabkommen dannam Ende gute Arbeit schafft und gute Arbeitsplätze er-hält und sichert, ist das ein Mehrwert, auf den wir allestolz sein können und mit dem wir unsere weltweitePosition als Exportweltmeister sichern können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Abschluss vier Punkte ansprechen, die auch überTTIP und CETA hinausgehen:Erstens. Das öffentliche Konsultationsverfahren derEU-Kommission hat mir wieder einmal verdeutlicht,dass das Recht des internationalen Investitionsschutzesund die darauf beruhende Schiedsgerichtsbarkeit einerumfassenden Reform bedürfen: hin zu mehr Transpa-renz, einer zweiten Instanz, einer unabhängigen Institu-tionalisierung und besseren Klagemöglichkeiten fürkleine und mittlere Unternehmen, um nur einige Punkteauf dem Weg hin zur Stärkung des internationalenRechts anzusprechen.Zweitens. Bei vergleichbaren Rechtssystemen sindentsprechende Regelungen nicht notwendig. Nach Durch-laufen sämtlicher nationaler Instanzen dürfte in der Re-gel davon ausgegangen werden, dass eine neutrale Ent-scheidung über die jeweilige streitige Angelegenheitgefällt wird.Drittens. Wir müssen aufpassen, was sich im Asien-Pazifik-Raum tut; denn ich möchte mitgestalten, beste-hende Defizite ausräumen und reformieren, und ichmöchte nicht irgendwann gestaltet werden.
Da die USA derzeit die TTP-Verhandlungen mit dempazifischen Raum beschleunigen, ist anzunehmen, dassdie USA und ihre Verhandlungspartner in diesem Ab-kommen ihre Regeln und Standards für den Handel fest-schreiben wollen. Bedrohlich kann das für uns in der Eu-ropäischen Union dann werden, wenn China so mächtigwird und so viel Einfluss gewinnt, dass es die globaleHandelsstruktur dominant prägen kann. Daher ist es vonhöchster Wichtigkeit, dass demokratische Länder rechts-staatliche Prinzipien für einen freizügigen Handel veran-kern, bevor uns andere Länder ihre Standards auferle-gen.
Viertens. Ich lade alle Bürgerinnen und Bürger ein,mit uns allen über die Vor- und Nachteile von Freihan-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7659
Dirk Wiese
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delsabkommen zu diskutieren, aber nicht Ängste schü-ren, sondern konstruktiv und offen darüber reden, wo-rum es eigentlich geht. Machen wir uns an die Arbeit!Lassen Sie uns gestalten und etwas bewegen und nichtnur dagegen sein! Oder um es am Ende mit den Wortenvon Willy Brandt zu sagen: „Der beste Weg, die Zukunftvorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Katja Keul.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte damit beginnen, dass ich meinen
Kollegen aus der Union, Patrick Sensburg, aus der Deut-
schen Richterzeitung unter der Überschrift „Parallel-
justiz – Rechtsstaat bleibt außen vor!“ zitiere. Dort sagt
er, Paralleljustiz sollte man besser als Scheinjustiz be-
zeichnen. Fälle, in denen die Scheinjustiz Anwendung
fände, könnten die Geltung des deutschen Rechts und
unseres Rechtsstaates unterminieren. – Recht hat der
Mann, auch wenn er hier vom Strafrecht redet.
– Was gibt es da zu lachen?
Wir wollen keine Paralleljustiz, weder im Strafrecht
noch im Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht.
Frau Kollegin Keul, der Kollege Dr. Heider möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen. – Sie sind bemüht, einmal den Hinter-
grund von Schiedsverfahren aufzuklären. Ich darf darle-
gen, dass das nicht etwa eine Paralleljustiz ist, wie Sie
das darstellen, sondern dass das ein seit über 100 Jahren
gepflegtes Verfahren in Deutschland ist, womit sich Par-
teien gegenseitig Recht erweisen.
Ist es richtig, dass die Grünen eine Schiedsordnung
haben und in einem Schiedsverfahren innerhalb Ihrer
Partei geurteilt wird, wenn es Streitigkeiten gibt? Wür-
den Sie mir zustimmen, dass das ein ordentliches Ver-
fahren ist, um Streitigkeiten beizulegen?
Vielen Dank, Herr Heider, dass Sie mir die Gelegen-heit geben, die Frage zu beantworten, die vorhin einbisschen im Raum stehen geblieben ist.
Das Schiedsgericht im Zivilrecht, das Sie vorhin ange-sprochen haben, ist nicht das Problem. Dort, wo Privatemit Privaten vor einem Zivilgericht streiten, ist nichtsdagegen einzuwenden, dass man zu einem Schiedsrich-ter geht. Entscheidend ist natürlich, dass im Vertrag ge-währleistet ist, dass keinem der beiden Vertragsparteiender Weg zu den staatlichen Gerichten verwehrt wird.Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht esum das öffentliche Recht. Hier geht es um Streitigkeitenzwischen Privaten auf der einen und dem Staat auf deranderen Seite. Das ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit.Das hat mit dem Zivilgericht nichts zu tun.
Um das noch einmal zu Ende auszuführen: Beim Straf-recht mache ich mir weniger Sorgen als der KollegeSensburg; denn da ist eine Paralleljustiz ohnehin alsStrafvereitelung verboten – da sind wir außen vor –,während im öffentlichen Recht gerade etwas von höchs-ter Stelle verhandelt wird. Das macht mir in der Tat Sor-gen.Im öffentlichen Recht, um darauf zurückzukommen– darum geht es beim Investorenschutzabkommen –,handelt es sich eben um Streitigkeiten zwischen Unter-nehmen auf der einen und dem Staat auf der anderenSeite und nicht um Streitigkeiten zwischen Unterneh-men. Das ist der entscheidende Unterschied.Ich will Ihnen ein Beispiel bilden. Zwei konkurrie-rende Unternehmen produzieren in Deutschland ähnli-che Produkte mit ähnlichen Verfahren. Beide Unterneh-men bekommen von deutschen Behörden Auflagenerteilt, die sie für unberechtigt halten. Jetzt haben siebeide die Möglichkeit, den Rechtsweg zu den Verwal-tungsgerichten zu beschreiten und sich dagegen zu weh-ren. Warum aber sollte jetzt eines dieser Unternehmen,weil es vielleicht ein amerikanisches ist, einen parallelenRechtsweg zu einem anderen Gericht wählen können?
Wo ist denn da die Gleichheit vor dem Recht?
Die Verfechter von Schiedsgerichten unterstellen un-seren deutschen Verwaltungsrichtern latent, sie würdenstaatliche Eingriffe gegenüber einem ausländischen Un-ternehmen anders beurteilen als Eingriffe gegenüber ei-nem deutschen Unternehmen. Ich finde das ungeheuer-lich.
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7660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Katja Keul
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Eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dochdas Markenzeichen eines funktionierenden Rechtsstaatsund funktionierender Gewaltenteilung.
Nicht umsonst gab es zum Beispiel in der DDR keineVerwaltungsgerichte.Wir sind in Deutschland, wie ich finde, zu Recht stolzauf unser Rechtssystem. Wir werben international dafürmit unserer Initiative „Law – Made in Germany“. Wasmacht es für einen Sinn, völkerrechtlich Wege zu verein-baren, mit denen man dieses tolle System umgehenkann? Das verstehe, wer will – ich nicht.
In unserem Rechtssystem ist in jahrelanger Recht-sprechung ausdifferenziert worden, was eine Enteig-nung, ein enteignender Eingriff und ein enteignungsglei-cher Eingriff ist. Wozu brauchen wir dann jetzt nocheinen neuen Begriff der indirekten Enteignung, für denprivate Gerichte erst wieder eine neue Dogmatik entwi-ckeln müssen? Da helfen auch keine Berufungen, es seidenn, die Berufung ist beim zuständigen Oberverwal-tungsgericht einzulegen. Dann wäre ich damit einver-standen.
Fazit: Statt dem Big Business Paralleljustiz zu ermög-lichen, sollten wir unsere Justiz durch personelle und fi-nanzielle Ressourcen stärken.
So bieten wir für den Streitfall eines der weltweit bestenrechtsstaatlichen Verfahren zur Klärung von Streitigkei-ten. Davon können alle in der EU tätigen Unternehmen,unabhängig von ihrer Herkunft, profitieren. Da brauchtes keine Paralleljustiz.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Professor
Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Dröge, Sie hätten heute Morgen besser mitdem Kölsch angefangen. Dann wäre es lustiger losge-gangen. So kam die Stimmung erst etwas später auf.
Dann hätten Sie auch zu Recht sagen können, dassKölsch markenrechtlich geschützt ist und deshalb vonden jetzt diskutierten Abkommen überhaupt nicht be-rührt ist.
Als Erfolg des Abkommens werden am Ende 200 Mil-lionen Amerikaner nach Köln kommen wollen, umKölsch in Köln zu trinken.Die 150 000 Kritiker, die Sie eben im Zusammenhangmit der Bürgerbefragung angegeben haben, können dannnach Amerika reisen und herausfinden, ob es dort nichtvielleicht schlechteres Bier gibt, und sich ihr eigenes Ur-teil bilden.
– Frau Höhn, Sie müssen lauter sprechen oder nachvorne kommen; dann können wir im Duett singen. Aberdas wird der Herr Präsident nicht erlauben.
Sie haben gesagt, fast 150 000 Bürgerinnen und Bürgerhätten sich bei der Befragung negativ geäußert. Wasfolgt daraus? Stellen Sie sich vor, die europäischen unddeutschen Unternehmer hätten das gemacht, was sievielleicht hätten machen sollen, nämlich eine Reihe vonWerbeagenturen einzuschalten, ähnlich, wie Sie es ge-macht haben, viele Mails nach Brüssel zu schicken undLkw-weise zustimmende Postkarten zu TTIP und CETAabzuliefern und zu sagen: Das nutzt unserer Wirtschaft,unserem Wohlstand und unseren Arbeitsplätzen. – Dannwürden Sie jetzt schreien: „Betrug! Verrat! Die Zahlenspielen keine Rolle.“
Lassen Sie deshalb die Diskussion über die Zahlen.Sie spielen wirklich keine Rolle. Lassen Sie uns lieber– das ist richtig – über die Sachfrage reden.
Worum geht es bei diesen Investitionsschutzabkom-men? Es geht darum, dass Freihandelsabkommen ge-richtlich überwacht werden sollen. Diese Freihandelsab-kommen sind zwischenstaatliche und völkerrechtlicheVereinbarungen. Dabei ist es ein bisschen schwierig, dasAbkommen für den einen Vertragspartner auch mit Wir-kung für den anderen auszulegen. Denn dann würde einStaat über den anderen zu Gericht sitzen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7661
Dr. Heribert Hirte
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Frau Künast, die sich mehrfach dazu geäußert hat, istgerade nicht anwesend. Ich war mit ihr zusammen beimEuropäischen Gerichtshof. Wir haben über die Ausle-gung der Maßnahmen der Europäischen Zentralbanknachgedacht. Der Europäische Gerichtshof ist dabei, zudiesen Fragen Stellung zu nehmen. Wenn Ihre Argumen-tation richtig wäre, dann könnten wir es den griechi-schen Gerichten überlassen, diese Maßnahmen auszule-gen. Das wäre die Konsequenz.
Das können Sie dann den deutschen Bürgern verkaufen.Die Alternative wäre, den Griechen zu sagen: Abschlie-ßend entscheidet das Bundesverfassungsgericht, be-kanntlich das beste europäische Gericht. – Verkaufen Sieals Linke das einmal den Griechen! So wäre es, wennwir keine überstaatliche Streitschlichtungsinstitutionhätten. Das führt doch nicht weiter. Was wir brauchen,ist eine überstaatliche Institution, die die entsprechendenFragen klärt. Man kann darüber nachdenken, ob diesSchiedsgerichte tun sollen oder ob eine solche Gerichts-barkeit bei der WTO angesiedelt werden soll. Aber wirbrauchen eine zwischenstaatliche Institution, die eineentsprechende Auslegung betreibt.
Kollege Hirte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ulrich?
Gerne.
Vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen, Herr
Dr. Hirte. – Manchmal ist es wichtig, dass wir darlegen,
worüber wir eigentlich reden. Ich möchte Ihnen zwei,
drei Beispiele nennen. Dann beantworten Sie uns, ob die
CDU/CSU-Fraktion tatsächlich will, dass so etwas in
Zukunft überall möglich ist.
Wie Sie vielleicht wissen, gab es in der kanadischen
Provinz Quebec ein Moratorium gegen Fracking. Das
Unternehmen Lone Pine hat dagegen geklagt und fordert
250 Millionen Dollar Schadensersatz. In Luxemburg
wurde erfolgreich gegen ein südafrikanisches Programm
geklagt, das farbige Unternehmen begünstigt, um die
Ungerechtigkeiten des Apartheidregimes zu mildern.
Rumänien wurde 2006 zur Zahlung von rund 200 Mil-
lionen Euro Schadensersatz an einen schwedischen In-
vestor verurteilt, weil es EU-Recht im Steuerbereich um-
gesetzt hat. Der Investor musste dann mehr Steuern
zahlen als erwartet. Es gibt unzählige solcher Beispiele.
Ein letztes Beispiel. Ein französisches Unternehmen hat
den ägyptischen Staat verklagt, weil dort Mindestlöhne
eingeführt wurden und diese offensichtlich die Investi-
tionen beeinträchtigt haben.
Wollen Sie, dass das zukünftig der globalisierte Maß-
stab für die Verträge zwischen der EU, Kanada und
Amerika wird? Wenn das die Vorstellung von CDU/CSU
und SPD von Globalisierung ist, dann gute Nacht unse-
ren Standards.
Lieber Herr Ulrich, ich halte es für richtig, dass Inves-toren, die auf der Grundlage eines Abkommens in einemanderen Land investiert haben – wir reden hier in ersterLinie über deutsche Unternehmer, die in Kanada oderden USA investieren wollen –, eine Möglichkeit haben,gegen Diskriminierungen – auch in den USA und Ka-nada – vorzugehen.
Dass das Ergebnis eines Gerichtsverfahrens nicht immerallen gefällt, liegt in der Natur der Sache.
Damit kommen wir zu Ihrem entscheidenden Gegen-argument, zwischen funktionierenden Rechtsstaaten seiensolche Abkommen nicht erforderlich. Natürlich handeltes sich immer um funktionierende Rechtsstaaten. WennSie aber einen Norditaliener fragen, ob er mit Begeiste-rung einen Prozess in Süditalien führt, dann werden Siefeststellen, dass er das nicht gerne tut. Wenn Sie dieFälle analysieren, in denen der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte Deutschland wegen überlanger Ver-fahren verurteilt hat, dann stellen Sie fest, dass Ihnenausländische Investoren entgegenhalten, dass geradeWirtschaftsprozesse bei uns viel zu lange dauern. Erklä-ren Sie doch einmal einem deutschen Investor, warum ermit großer Begeisterung vor einzelstaatlichen Gerichtenoder Bundesgerichten in den USA die Pre-Trial Disco-very über sich ergehen lassen soll! Wenn so Ihre idealeWirtschaftsförderung aussieht, dann kann ich dazu nursagen: Danke, Deutschland!
Ihre pauschale Ablehnung von Investitionsschutzab-kommen hilft uns doch nicht weiter. Mir sagen viele eu-ropäische Länder, insbesondere kleine Staaten wie Lett-land und Estland: Wir brauchen solche Abkommen,damit auch bei uns investiert werden kann. Wir machendas gerne. – Wenn wir solche Abkommen ablehnten,wäre die Konsequenz, dass die 27 anderen EU-Staatendarüber nachdenken, wie sie ohne uns vorangehen kön-nen. Das wollen wir nicht.
Platte Ablehnung hilft uns nicht.
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7662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Dr. Heribert Hirte
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Lassen Sie uns doch über die Frage nachdenken, wiewir für Verbesserungen sorgen können. Das haben wirgetan. Wie wir hier in diesem Hause zu Verbesserungenkommen können, dazu mache ich Ihnen drei Vorschläge,die wir schon vorbesprochen haben. Wir sollten darübernachdenken, ob die Auswahl der Richter und die Beset-zung der Richterbänke bei den entsprechenden Schieds-gerichtsinstitutionen mit Zustimmung dieses Hauses ge-schehen sollten.Darüber können wir nachdenken, darüber sollten wirnachdenken. Dann ist Ihr Einwand vom Tisch, dass dortmöglicherweise keine unabhängigen Personen sitzen.Dann können wir hier darüber diskutieren, wer dafür ge-eignet ist und ob der oder die unabhängig ist. Wir solltenüber diese Frage nachdenken, und wir werden darübernachdenken. Wir werden dann genau denselben Schritttun, den wir vor einigen Jahren bei der Auswahl derRichter am Europäischen Gerichtshof gemacht haben.Die wurden nämlich anfangs auch alleine vom Bundes-wirtschaftsministerium ernannt, ohne Zustimmung desParlaments. Das war mein erster Punkt.
– Sie können gleich alle weiterreden. Sie kommen sicherin den nächsten Jahren noch zu Wort.Zweiter Punkt. Sie mahnen an, dass die nationalenVerfahren und die Schiedsverfahren nicht ausreichendmiteinander verzahnt sind. Ja, das stimmt. Die Wahl-möglichkeit wird mit den neuen Klauseln eingeschränkt.Man kann nicht mehr das eine und das andere machen,sondern man kann nur das eine oder das andere machen.
– Das ist doch altes Recht. Reden Sie doch nicht über dieVergangenheit, sondern über das, was wir in der Zukunftmachen wollen.
Es gibt einen Punkt, den wir hier autonom machenwollen und werden. Wir werden über die Frage nachden-ken, ob nicht der Bundesgerichtshof Anfragen vonSchiedsgerichten entgegennehmen kann. Das darf er bis-her nicht. Das Gleiche gilt für den Europäischen Ge-richtshof. Auch der darf Anfragen von Schiedsgerichtenbisher nicht entgegennehmen. Wir werden entspre-chende Initiativen ergreifen, um auf der Ebene der Kom-mission durchzusetzen, dass das in den entsprechendenRechtsakten geändert wird.
– Darüber reden wir jetzt. Sie haben den Antrag gestellt.Sie behaupten, wir würden nicht nachdenken. Natürlichdenken wir nach, und das ist die Antwort.
Damit komme ich zum dritten Punkt. Liebe FrauDröge, Sie haben immer wieder und auch eben daraufhingewiesen, dass das alles nur Großunternehmen die-nen würde und Schiedsverfahren für Großunternehmengedacht seien. Es mag sein, dass Schiedsverfahren rela-tiv gesehen teuer sind. Deshalb denken wir darüber nach,die Kosten für diese Schiedsverfahren für kleine undmittelständische Unternehmen, die aus unserer Sicht inKanada und in den USA investieren sollen, auf dasNiveau zu senken, das sie haben würden, wenn die Un-ternehmen vor nationalstaatlichen Gerichten klagenwürden. Das ist für uns eine Maßnahme der Außenwirt-schaftsförderung. Ich halte es für legitim, dass wir überdiese Frage nachdenken.Das bedeutet: Alle Argumente, die Sie hier bringen,rechtfertigen keine Ablehnung von Schiedsverfahren,rechtfertigen keine Ablehnung des Investorenschutzes.Wir brauchen das für deutsche Unternehmen, die jenseitsdes Atlantiks investieren wollen. Deshalb werden wir Ih-ren Antrag ablehnen.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Frau Parla-
mentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries.
B
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Antrag der Grünen bezieht sichin der Tat auf die Frage des Investitionsschutzes und derInvestor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit und greift damiteines der wirklich problematischen Themen bei diesenVerträgen auf. Darüber sind wir uns, glaube ich, alle ei-nig.
– Dass das ein wesentliches Thema bei diesen Verträgenist, ist unstreitig.Mir ist es wichtig, ganz kurz zu sagen, dass wir denZusammenhang nicht aus den Augen verlieren sollten.Wir als eine der größten Handelsnationen der Welt brau-chen einen freien Waren- und Dienstleistungsverkehr.Dafür braucht unsere Wirtschaft offene Märkte. Es hatkeinen Sinn, dass wir uns bei der Standardisierung undanderen Dingen selber Brücken bauen. Deshalb müssenwir solche Verhandlungen führen. Man spricht nicht um-sonst von den nichttarifären Handelshemmnissen.Weil es so ist, dass in der globalisierten Welt die28 Mitgliedsländer der EU alleine bei einer solchenStandardsetzung mit China, den USA und anderen garnichts mehr ausrichten können, ist es richtig, dass die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7663
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
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Kompetenz für diese internationalen Abkommen auf dieEU übergegangen ist. 2009 ist das mit dem Lissabon-Vertrag so geregelt worden. Wir alle haben das damalsfür richtig gehalten, weil wir sehen müssen, dass wir Eu-ropa in der Welt positionieren.
Insofern ist es wichtig, dass wir die Globalisierung ge-stalten – das haben Vorredner schon oft genug gesagt –und auch angemessene Spielregeln entwickeln.Wir reden hier über zwei verschiedene Abkommen.Klar ist: Unsere Beziehung zu Kanada wollen wir aus-bauen. Bei aller Kritik am Investor-Staat-Schiedsge-richtsverfahren, das in CETA geregelt ist, muss manauch eins einmal sehen – das müssten Sie von Bünd-nis 90/Die Grünen bitte auch zur Kenntnis nehmen; ichhabe es aus Ihrem Antrag nicht herauslesen können –:Kein anderes Freihandelsabkommen der EU sieht einederart weitgehende Öffnung der Märkte vor – unterWahrung der geltenden Schutzstandards für Verbrau-cher-, Umwelt- und Arbeitsschutz. Kein anderes Frei-handelsabkommen hat so weitreichende Bestimmungenzur Nachhaltigkeit.Auch beim Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahrenenthält CETA schon deutliche Verbesserungen. Sie kön-nen gar nicht in Abrede stellen, dass es insoweit auf alleFälle das beste Abkommen ist. Es ist inzwischen klar:Transparenz wird eingehalten; sämtliche Unterlagenwerden veröffentlicht. Alle Anhörungen sind öffentlich.Schon im jetzigen Entwurf von CETA steht das. Auf diegeplanten Veränderungen komme ich gleich noch zusprechen. Ich wiederhole: Alle Anhörungen sind öffent-lich. Interessierte Gruppierungen wie NGOs oder Ge-werkschaften können Anträge einreichen und Stellung-nahmen abgeben. Das ist etwas, was unser deutschesRecht gar nicht kennt. Die Unabhängigkeit der Schieds-richter wird garantiert;
die Schiedsrichter müssen unabhängig sein. Es gibt ei-nen eigenen Verhaltenskodex. Es wird eine Schiedsrich-terliste erstellt.Herr Kollege Hirte, ich kann nur sagen: Wir inDeutschland sind zwar ziemlich großartig, aber es ist einEU-Abkommen. Wir können nicht allein die Schieds-richter bestimmen. Das macht natürlich die EU.
Es ist vorgesehen, dass die EU fünf Schiedsrichter be-nennt. Also, das muss man einmal abwarten. Es gibt dasVerbot ungerechtfertigter Klagen usw. usf. Das heißt, esgibt eine Menge Verbesserungen. Auf diesen Verbesse-rungen wollen wir aufbauen, und wir wollen diese Ver-besserungen noch weiter verbessern.Ich komme zu TTIP und zu dem Ergebnis der Kon-sultationen, das Sie hier mehrfach angesprochen haben.Wir wissen, dass das Ergebnis, das die EU-Kommissionvorgestellt hat, Veränderungen noch in vier weiteren Be-reichen benennt: Das sind der Schutz des sogenanntenright to regulate, der Gestaltungsspielraum des demokra-tisch legitimierten Gesetzgebers, die Arbeitsweise unddie Zusammensetzung der Schiedsgerichte, Stichwort„Transparenz“, das Verhältnis ISDS zu nationalemRechtsweg und die Einführung eines Berufungsmecha-nismus.Diese Punkte hat die EU-Kommission identifiziert,und über diese Punkte werden wir in den nächsten zweibis drei Monaten Gespräche führen. Das EuropäischeParlament wird sich damit auseinandersetzen, die Mit-gliedstaaten werden sich damit auseinandersetzen – vor-hin wurde schon erwähnt, dass dieses Abkommen nichtnur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Mit-gliedstaaten kritisch diskutiert wird –, und natürlich wer-den sich auch die Zivilgesellschaft und andere Stakehol-der, die an diesem Prozess beteiligt sind, Stichwort„Gewerkschaften“, damit beschäftigen. Sie alle werdendarüber beraten, und dann wird man sehen, welche Ver-besserungen wir auf europäischer Ebene durchsetzenkönnen.Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir Deutschen mitden Möglichkeiten, die wir haben, und mit dem, was wiruns bei diesen Gesprächen zu flankieren vorgenommenhaben, erfolgreich sein werden. Wir, die deutsche Bun-desregierung, werden selber aktiv werden. Wir werdenGespräche mit anderen Ländern und selbstverständlichmit der Kommission suchen. Wir werden natürlich se-hen, dass wir all das, was wir für CETA schon erreichthaben, was wir bei TTIP noch besser machen wollen,was wir bei CETA auch wieder rückkoppeln können, zueiner Regelung zusammenführen, die insgesamt zu nochmehr Transparenz und Offenheit führt.Wenigstens für meine Begriffe ist von zentraler Be-deutung bei solchen Verfahren, sicherzustellen, dass esimmer ein faires Verfahren geben kann und dass mansich gegebenenfalls mit einem Rechtsmittel, in welcherArt auch immer, gegen Entscheidungen wehren kann.Dann kommen wir mit dieser Art von Regelung in die-sem Investitionsschutzverfahren schon ganz gut weiter.
In Vorbereitung auf diese Rede habe ich ein ganz gu-tes Gutachten vom Wissenschaftlichen Dienst des Bun-destages gelesen. Auf etwa acht Seiten setzt er sich sehrgut mit diesem Thema auseinander und stellt sehr gutdar, welche Verbesserungen tatsächlich schon erfolgtsind. Das sollte man sich gern einmal anschauen, wennman sich mit dem Ganzen noch inhaltlich auseinander-setzen will.Ich würde gern noch etwas zu dem Antrag der Linkensagen, der sich mit CETA ja gar nicht beschäftigt, son-dern nur mit einem bestimmten Gutachten. Ich würdeSie herzlich bitten, nicht Menschen zu diskreditieren, dieeinen Auftrag wahrgenommen haben, den das Haus, dasich hier heute vertrete, erteilt hat. Ich finde, Sie könnendas Wirtschaftsministerium angreifen, wenn Sie meinen,dass wir falsche Gutachter beauftragt haben. Aber einem
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7664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
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unabhängigen Professor zu unterstellen, schon in derÜberschrift, er würde ein Gefälligkeitsgutachten erstel-len, ist eine Unverschämtheit.
Da muss ich mich wirklich schützend vor die Personstellen.Noch einmal: Wenn Sie da Kritik haben, greifen Siedas Haus an! Wir werden uns zu wehren wissen, und wirkönnen Ihnen sehr gut erklären, worin der Unterschiedzwischen einem Schlichtungsverfahren und einemSchiedsverfahren besteht; der ist Ihnen offenbar entgan-gen, Herr Ernst. Er ist ein Schlichter und keineswegs einSchiedsrichter. Da gibt es wesentliche Unterschiede. Dereine macht ein Urteil, der andere macht einen Ver-gleichsvorschlag. Das kann man nicht über einen Kammscheren. Deshalb noch einmal die Bitte: Lassen Sie un-sere unbescholtenen Professoren in Deutschland unbe-scholten!
Die Kollegin Bärbel Höhn spricht jetzt für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal möchte ich auf die Kollegen Pfeiffer undHirte eingehen, die sich zu den Konsultationen geäußerthaben. Ich finde, es ist eine absolute Unverschämtheit,
wenn Sie 3 000 substanzielle Eingaben zu diesen Kon-sultationen – normalerweise sind es bei solchen Konsul-tationen 200; diesmal waren es 3 000 – und 145 000Menschen, die sich mit der Sache beschäftigt haben, dieam Ende ihre Unterschrift gegeben haben, hier so diskre-ditieren.
Das ist etwas, was die Politikunzufriedenheit wirklichschüren wird. Sie gehen da mit Bürgerinnen und Bürgernauf eine Art und Weise um, die ich nicht für möglich ge-halten hätte. Es wird am Ende auch die Demokratie be-schädigen, wie Sie mit solchen Konsultationsverfahrenund der Beteiligung der Bürger umgehen. So geht esnicht, liebe Kollegen von der CDU und CSU!
Zu dem Gutachten, das von Schill gemacht wordenist. Frau Zypries, ich glaube, da haben Sie genau recht.Man soll gar nicht das Gutachten an sich kritisieren. Ichkritisiere aber sehr wohl die Fragestellung des Wirt-schaftsministeriums; denn am Ende hat sich der Gutach-ter eigentlich fast nur mit Gesetzesvorhaben beschäftigtund kaum mit Verwaltungshandeln. Die Klagen werdensich aber wesentlich gegen Verwaltungshandeln richten.Deshalb wäre es notwendig gewesen, den Auftrag umgenau diese Frage zu erweitern. Deshalb richtet sich dieKritik in der Tat gegen das Wirtschaftsministerium undnicht unbedingt gegen den Gutachter.
Wir erleben, dass wir mittlerweile eine Klagewellehaben, was diese Schiedsverfahren angeht; das ist derPunkt. Da hat sich in den letzten Jahren viel verändert.Wir haben auf EU-Ebene vom Jahr 2012 zum Jahr 2013eine Verdoppelung der Zahl der Klagen. Die meisten da-von richten sich gegen Umweltregulierungen oder Res-sourcenschutz, auch gegen soziale Fragen, aber vor allenDingen gegen Industrieländer. Es ist gar nicht mehr sowie früher. Da kam es zu solchen Verfahren, weil viel-leicht kein sicheres Rechtssystem vorhanden war. Kla-gen richten sich jetzt zunehmend gegen Industrieländer.Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir mit einerDelegation des Umweltausschusses gewonnen haben,als wir uns in den USA mit diesen Fragen beschäftigt ha-ben, war, dass gerade Anwaltskanzleien in den USAdiese Schiedsverfahren zu ihrem Geschäftsmodell ge-macht haben. Die Frage ist doch, ob wir Handlanger fürRechtsanwaltskanzleien in den USA sein wollen, diesich mit diesem Geschäftsmodell mittlerweile eine gol-dene Nase verdienen. Das kann doch wohl nicht sein!
Wir erleben – ich will einen bestimmten Punkt nocheinmal aufgreifen, nämlich die Gentechnik –, dass wir inder Gentechnik ein sehr komplexes Problem haben. InNordamerika ist es so, dass der Gentechnikaspekt einerPflanze bei der Genehmigung gar nicht berücksichtigtwird; wenn sie wie ein Pestizid wirkt, wird sie sozusagenals Pestizid behandelt und zugelassen. Wenn da mehrereKompenenten vorhanden sind, gibt es in Zukunft teil-weise keine Zulassungsverfahren mehr. Die Wechselwir-kungen werden nicht beachtet. Es wird also zunehmendGentechnikpflanzen in Nordamerika geben, die nichteinmal ein Zulassungsverfahren hatten. Wenn wir die-sem Freihandelsabkommen zustimmen, zukünftig Gen-technikpflanzen hier aber verbieten, dann gibt es natür-lich Klagen von Monsanto & Co. Ich sage Ihnen: Wegender Schiedsverfahren werden wir diese Gentechnikpflan-zen hier in Europa und Deutschland nicht aufhalten kön-nen. Das ist ein ganz großer Kritikpunkt. Das ist ein Ver-lust an Verbraucherschutz, den hinzunehmen ich nichtbereit bin.
Das Freihandelsabkommen CETA – dazu haben wirja die Texte vorliegen – ist ein Einfallstor für die Gen-technik in Europa und Deutschland, und das wissen Sieauch. Ich erwarte deshalb gerade vom Wirtschaftsminis-ter, dass er sich für die Verbraucherinteressen, die wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7665
Bärbel Höhn
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hier in Deutschland haben, genauso einsetzt, wie er sichzum Beispiel für die Interessen von energieintensivenBetrieben eingesetzt hat, und ich erwarte von der Kanz-lerin, dass sie sich so einsetzt, wie sie sich für einen hö-heren zulässigen CO2-Ausstoß von großen Autos einge-setzt hat. Das höre ich vom Wirtschaftsminister nicht.Ich höre, dass er herumreist,
aber ich höre öffentlich nicht, dass er sich wirklich inten-siv für die Verbraucherschutzinteressen in diesem Han-delsabkommen einsetzt.
Das heißt, wir Grüne sind nicht gegen Handelsab-kommen, aber wir sind für faire Handelsabkommen. Nurfaire Handelsabkommen sind freie Handelsabkommen!
Deshalb sage ich: Wir müssen CETA aufschnüren, undwir müssen CETA verändern. Ansonsten wird es zuRecht Demonstrationen der Bevölkerung geben, diedann zu Recht für ihre Interessen kämpft. Da möchte ichSie einmal sehen. Sie werden sich da plötzlich wegdu-cken
und nicht mehr um das kümmern, was die Leute wirklichinteressiert.
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege
Jürgen Hardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-gen Ende der Debatte möchte ich nicht all das vortragen,was hier schon gesagt wurde,
sondern möchte auf die Argumente eingehen, die imEinzelnen hier vorgetragen wurden und vielleicht den ei-nen oder anderen neuen Gedanken zusätzlich hereinbrin-gen.Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Die Frage derHandelsabkommen mit Kanada und mit den USA ist fürdie wirtschaftliche Zukunft unseres Landes und derEuropäischen Union von essenzieller Bedeutung. Selbst-verständlich sind schlechte Handelsabkommen eineschlechte Hilfe hinsichtlich der zukünftigen wirtschaftli-chen Entwicklung und gute Abkommen eine gute Hilfe.Deswegen sollten wir über Parteigrenzen hinweg ge-meinsam daran arbeiten, dass wir gute und zuverlässigeHandelsabkommen bekommen, so wie Deutschlandauch jetzt schon viele Handelsabkommen hat, von denenes profitiert.Jenseits der Polemik der Debatte hier im Haus, aberüberwiegend außerhalb dieses Hauses habe ich doch dasGefühl – ich habe mit Frau Künast darüber beim Tages-spiegel diskutiert –: Die Grünen halten sich die Hinter-tür, dass sie vielleicht eines Tages doch für dieses Ab-kommen sein könnten, sperrangelweit offen. Ich finde,das ist ein positives Zeichen. Deswegen lohnt es sichauch, mit Ihnen zu reden. Auch das, was Frau Höhn ge-rade gesagt hat, war ja ein Schritt in diese Richtung.Warum sind Handelsabkommen wichtig für uns? Ichsage es einmal ganz konkret: Hinsichtlich der wirtschaft-lichen Wirkungen von Handelsabkommen, CETA mitKanada oder TTIP mit den USA, haben wir natürlich dieSituation, dass wir nur schwer einschätzen können, wieviel das konkret an mehr Arbeitsplätzen und in Eurobzw. Dollar ausmacht. Ich will mich auch nicht auf Pro-gnosen stützen. Da geht die eine in die eine Richtungund die andere in die andere Richtung. Ich bin aber festdavon überzeugt, dass die strategische Bedeutung dieserAbkommen nicht zu überschätzen ist.
Angesichts der Tatsache, dass in dieser Welt China,Indien, südamerikanische und afrikanische Staaten, In-donesien, Korea, auch Russland ganz stark darum buh-len, wer den Ton bei der Frage angibt, was fairer Welt-handel ist, haben wir hier die Chance, für 50 Prozent derWeltwertschöpfung, für 50 Prozent des Weltbruttosozial-produkts, nämlich Europäische Union plus Nordame-rika, unsere Vorstellungen von fairen Standards im Welt-handel und von fairen Bedingungen bei der Produktionvon Gütern und Dienstleistungen durchzusetzen. Wennuns das nicht gelingt, wenn wir uns auf dem Wege dahinverzetteln und scheitern, dann werden die anderen sa-gen: Ihr Europäer, ihr Amerikaner wollt uns sagen, wasfairer Welthandel ist? Ihr seid ja nicht einmal in derLage, Standards für euren relativ vergleichbaren Wirt-schaftsraum herzustellen. Jetzt geben wir den Ton anund sagen, wohin die Reise geht. – Dann müssen wir aufderen Zug mitfahren, und nicht umgekehrt.Umgekehrt ist es natürlich so, dass wir dann, wennwir für einen Wirtschaftsraum, der etwa 50 Prozent derWeltwertschöpfung ausmacht, Regeln setzen, zwar kei-nen in China oder Indien zwingen können, sich bei derProduktion an diese Regeln zu halten; aber wenn er inunseren Wirtschaftsraum hinein will, muss er sie erfül-len. Den Unternehmer in Fernost, der das ignorierenkann, der sozusagen 50 Prozent des Marktes einfach ver-nachlässigt, indem er sich nicht daran hält, möchte ichsehen. Das ist für mich eine riesige Herausforderung, dasbietet für mich eine riesige Chance, die wir unbedingtwahrnehmen sollten.
Da werden, wie ich finde, gewisse Polemiken undauch Übertreibungen dem Ernst der Sache nicht gerecht.
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7666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Jürgen Hardt
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Ich möchte auch den Kollegen Landwirtschaftsministerda noch ein bisschen in Schutz nehmen. Sie wissen ja,dass das Wiener Schnitzel bekanntermaßen nicht WienerSchnitzel heißt, weil es aus Wien kommt, sondern weiles aus Kalbsfleisch besteht. Warum ist es aus Kalb? Weiles ja eigentlich ein Cotoletta Milanese ist. – Ich will da-mit nur deutlich machen: Die Frage, wie die Bezeich-nungen nach regionaler Herkunft in der EuropäischenUnion geregelt sind, ist ja durchaus bedenkenswert.
Wenn wir auf dem Wege eines Handelsabkommens dazukommen, dass im Zuge einer entsprechenden Diskussiondafür gesorgt wird, dass der Verbraucher erkennen kann,ob in dem Parmesankäse holländische oder polnischeMilch drin ist oder ob die Milch tatsächlich aus Oberita-lien stammt, dann würde das einen Fortschritt darstellen.
In diesem Sinne habe ich unseren Landwirtschaftsminis-ter verstanden. Deswegen auch seine plakativen Bei-spiele.Frau Dröge, ganz kurz zum Thema Kölsch, weil esmir ein persönliches Anliegen ist. Kölsch wird an derStadtgrenze von Düsseldorf und in Bonn gebraut. Des-halb kann es nicht regional geschützt werden.
Daraufhin haben sich alle 22 Kölsch brauenden Braue-reien im Rheinland zusammengeschlossen und das Wort„Kölsch“ als Markennamen schützen lassen. Damit ha-ben sie das Problem, dass sie keine Bezeichnung nachregionaler Herkunft anwenden können, umgangen.
– Sie brauchen nicht mit dem Kopf zu schütteln. DerMann, der das gemacht hat, war vor 25 Jahren meinNachbar in Köln.
Ich möchte ganz konkret etwas zu dem Thema derSchiedsverfahren sagen. Den von der Staatssekretärinverwendeten Begriff „problematisch“ würde ich so nichtverwenden. Es ist aber eine der großen Herausforderun-gen im Rahmen dieser Abkommen, für diese Schieds-verfahren vernünftige Regeln zu entwickeln. Ich sage Ih-nen auch: Ich halte es für völlig unrealistisch, dass wirdie Kanadier davon überzeugen würden, dass sie daraufverzichten. Die Gespräche, die ich geführt habe, gebendazu keinen Anlass. Auch wenn Sie mit US-Amerika-nern darüber reden – ich habe mit einer Person, die daranmaßgeblich beteiligt ist, gesprochen –, halte ich es fürunrealistisch, dass es aufgegeben wird, nachdem verein-bart wurde, dass wir so etwas machen. Ich bin aber derMeinung, wir sollten die Chance wahrnehmen, darausSchiedsverfahren neuen Typs zu machen, und zwar kon-kret bei CETA, das dann ein Role Model, also ein Vor-bild, für TTIP sein kann, was wir mit den Amerikanernverhandeln. Ich finde ein paar Aspekte ganz entschei-dend bei dem CETA-Verfahren.Erstens. Transparenz. Das CETA-Verfahren wird sich,anders als bisherige Schiedsverfahren, nach diesenneuen UN-Transparenzrichtlinien richten. Wir habenbisher nur den vorläufigen englischen Text, 1 600 Sei-ten, des Handelsabkommens vorliegen. Wir werden dasalles sorgfältig auch in deutscher Sprache prüfen müs-sen. Ich habe den Eindruck, dass dies ein qualitativerSprung ist mit Blick auf die Transparenz dieses Verfah-rens.Zweitens. Ganz wichtig ist, dass derjenige, der nacheinem Schiedsverfahren in CETA ein Schiedsgericht an-ruft, ein relevantes Geschäft haben muss. Die Diskus-sion, dass man irgendwo eine Briefkastenfirma gründet,um in den Genuss der Vorteile eines Schiedsverfahrensim Handelsabkommen zu kommen, fällt nach CETAweg. Er wird konkret ausgeschlossen. Sie müssen sub-stanziell betroffen sein, und zwar schwerwiegend imSinne von Enteignung oder ähnlichen schwerwiegendenEingriffen, damit Sie überhaupt das Recht haben, einzu-schreiten. Und Sie müssen geltend machen, dass Sie alsTeilnehmer des jeweils anderen Teils des Handelsab-kommens – also als Amerikaner in Europa oder umge-kehrt – gegenüber denen diskriminiert sind, die aus demanderen Teil des Marktes kommen. Die Frage, ob dieVeränderung eines Umweltstandards in Deutschland zuSchiedsgerichtsverfahren führt, ist natürlich mit Nein zubeantworten. Das würde für ein deutsches Unternehmen,für ein italienisches Unternehmen, für ein englischesUnternehmen in Deutschland genauso wie für ein ameri-kanisches Unternehmen gelten. Somit wäre das gar keinGegenstand, wo die Diskriminierung des Teilnehmersaus dem jeweils anderen Wirtschaftsteil stattfindet. Indiesem Sinne möchte ich nur deutlich machen, dass eseine massive Weiterentwicklung der Schiedsverfahrengibt. Wir werden uns das genau ansehen. Wir werdenauch als Parlament Einfluss nehmen. Das Parlamentwird sowieso ein ganz entscheidendes Wort bei diesenHandelsabkommen sprechen. Wir werden sowohl beiCETA als auch bei TTIP darüber im Deutschen Bundes-tag abstimmen.
Die deutsche Bundesregierung wird, wenn sie im Ratihre Stimme abgibt, mit Sicherheit dem Deutschen Bun-destag Rechenschaft darüber ablegen, wie sie im Rat ab-zustimmen gedenkt. Sie kennen alle die Regeln, die wirhier im Deutschen Bundestag haben: Theoretisch könn-ten wir die Regierung förmlich binden in ihrem Abstim-mungsverhalten im Rat. Also die Vorstellung, dass etwasan den demokratisch gewählten Vertretern vorbeiläuft,ist unbegründet. Es hat, wie ich finde, massive Versäum-nisse in der Informationspolitik in den letzten Jahren ge-geben. Ich finde, sie sind im Jahr 2014 zu wesentlichenTeilen auch aufgelöst und aufgehoben worden. Die neueKommission – Juncker, Timmermans, als erster Vizeprä-sident dafür zuständig, und Frau Malmström, die neueHandelskommissarin – hat in der Öffentlichkeitsarbeiteinen gänzlich anderen Stil gewählt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7667
Jürgen Hardt
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Am 7. Januar ist ein ganzer Stapel von Dokumentenins Netz gestellt worden, mit denen wir uns auseinander-setzen können. Ich finde, dass der Bundeswirtschafts-minister, der es in dieser Frage mit seiner Doppelrollewirklich nicht einfach hat – das muss ich einmal sagen –,einen guten Job und eine gute Öffentlichkeitsarbeitmacht. Ich bitte nur ganz herzlich darum: Lassen Sie unsdas Thema mit dem notwendigen Ernst und in dem Be-wusstsein um das, was auf dem Spiel steht, sorgfältigund sauber beraten. Lassen wir uns von Menschen, dieaus anderen – bei dem einen oder anderen vielleicht auchdumpf antiamerikanistischen – Motivationen dagegenvorgehen, nicht beirren. Lassen Sie uns gemeinsam Un-klarheiten auflösen!Ich möchte, weil ich noch 50 Sekunden Redezeithabe, eine Unklarheit nennen. Dass die kommunaleSelbstverwaltung oder die Frage der kommunalen Da-seinsvorsorge betroffen ist, kann man weder bei CETAnoch bei TTIP sagen. In den Leitlinien für die Verhand-lungen über TTIP steht unter Ziffer 20: Das wird nichtangerührt. – Das steht außer Frage; es wird auch nichtbestritten. Dennoch beschließen jetzt die Räte im ganzenLand entsprechende Resolutionen auf der Basis vonTextentwürfen, die sie von einzelnen Fraktionen odervom Städtetag bekommen. Für mich hat das den Charak-ter der folgenden Entscheidung: Der Rat der Stadt Kölnbeschließt, der Kölner Dom soll nicht abgerissen wer-den. Dafür wird man im Rat der Stadt Köln immer eineMehrheit finden; nur hat keiner den Plan, den KölnerDom abzureißen. – Es hat auch keiner den Plan, diekommunale Daseinsvorsorge, so wie wir sie in der Euro-päischen Union und im Rahmen der WTO geschützt ha-ben, infrage zu stellen.Ich bin guten Mutes, dass wir die Zweifler, die Skep-tiker überzeugen werden. Ich bin guten Mutes, dass dieAntiamerikaner in Deutschland nicht so stark sind, dasssie uns da wirklich reingrätschen können. Ich möchte Sieermutigen, die heutige Debatte als Auftakt zu nehmen,zukünftig sehr sorgfältig und verantwortungsbewusstmit diesem Thema umzugehen, auf allen Seiten des Hau-ses.Danke schön.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Hardt, vielen Dank für diesen Beitrag. Ichglaube, er war am Ende wohltuend, weil er eines gezeigthat: Viele, die sich augenblicklich äußern, sind verunsi-chert; sie stellen Fragen. Die Mindestverpflichtung desParlaments der Bundesrepublik Deutschland ist die sach-liche Auseinandersetzung mit den Ängsten, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Da hilft es nicht, von einer „Empörungsindustrie“ zusprechen. Da hilft es aber auch nicht, Herr KollegeErnst, so zu tun, als ob der deutsche Rechtsstaat die Lö-sung wäre; denn wir sind schon viel weiter. Es gibt nichtnur den deutschen Rechtsstaat, und viele Probleme, diewir hier heute zu lösen haben, sind allein nationalstaat-lich nicht mehr in Gänze zu lösen. Auch das muss manden Menschen sagen.
Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen, dass wir beim in-ternationalen Klimaschutz das Spannungsfeld zwischennotwendigen internationalen Verträgen und deren Um-setzung hautnah erleben. Aber gleichzeitig erleben wirbeim Thema Grüne Gentechnik, dass wir es nicht einmalschaffen, auf europäischer Ebene eine gemeinsame Hal-tung zu erreichen, sodass es jetzt mit der Opt-out-Klau-sel eine – ich sage es mal so – Renaissance des national-staatlichen Handelns gibt.
Insofern müssen wir überlegen, wie es bei diesen sen-siblen Themen, bei CETA und bei TTIP, aussieht. Ichbin froh, dass wir mit Bernd Lange einen Sozialdemo-kraten haben, der als zuständiger Berichterstatter imEuropäischen Parlament genau die Fragen, die Sie vonden Grünen in Ihrem Antrag gestellt haben, gerade in Ih-rem Sinne klärt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Was mir aber zu kurz kommt – deswegen werde ichein bisschen hellhörig, wenn Sie eine sofortige Abstim-mung wollen –, ist die Tatsache, dass es um viel mehrgeht als nur Schiedsgerichte – ja oder nein –; es geht vorallen Dingen auch um die zugrundeliegenden An-spruchsgrundlagen. Da haben wir bei CETA beispiels-weise augenblicklich 500 Seiten englischsprachigenText vor uns liegen, mit einem Verweis auf ein Anlagen-konvolut von rund 1 000 Seiten. Ich weiß nicht, ob sichjemand in diesem Haus zutraut, auf alle Fragen zu ant-worten. Ich finde es jedenfalls legitim, dass sich Leutean uns wenden und sagen: Guckt da genau nach!
Ich möchte gerade als Umweltpolitiker ein Thema he-rauspicken, das mich ganz besonders berührt und beidem ich befürchte, dass wir in Verbindung mit der Kon-struktion der Schiedsgerichtsbarkeit ein ganz ungutesGebräu bekommen: Wir haben zwei unterschiedlichefundamentale Rechtsgrundsätze im europäischen bzw.im kanadischen und amerikanischen System: Wir habenin Europa den sogenannten Vorsorgegrundsatz. Den gibtes in Kanada und in den USA in dieser Form nicht. DieFrage ist, inwieweit wir in diesen Abkommen – zumin-
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Dr. Matthias Miersch
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dest bei CETA; darauf komme ich gleich noch zu spre-chen – die Unterminierung dieses Grundsatzes ermögli-chen. Ich finde, wir müssen dieser Fragestellung nichtnur in einer Debatte, wie wir sie heute führen, sondern ineiner Vielzahl von Unterredungen nachgehen.Die von mir angesprochenen 500 Seiten enthalteneine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, die der Aus-legung bedürfen. Aber wer hat die Hoheit der Ausle-gung?
Es ist heute in keiner Weise angesprochen worden, dassneben den Schiedsgerichten auch im CETA-Verfahrenandere Gremien geschaffen werden, sogenannte Regu-lierungsräte, die – soweit ich es verstehe – zumindestAuslegungskompetenzen erhalten können; ich sage dasganz vorsichtig. Ich finde, wir müssen uns mit dieserFrage beschäftigen.
Denn wenn intransparente Gremien, die nicht demokra-tisch legitimiert sind, die Auslegungshoheit bekommen,dann geben wir – und das sage ich auch mit Blick auf dieParlamentarier im Europäischen Parlament; das betrifftnicht nur die Parlamentarier der nationalen Parlamente –demokratische Legitimität ab. Das könnte ich nicht ver-antworten. Deswegen möchte ich um diese Frage ringen.
Wir müssen auf zahlreichen Seiten Fragezeichen ma-chen. Ich finde – da teile ich die Meinung der KolleginHöhn –, wir sollten den Bereich Grüne Gentechnik ruhigansprechen. CETA enthält ein Kapitel, das die Über-schrift „Dialog und bilaterale Zusammenarbeit“ trägt. Indiesem Kapitel geht es um den Informationsaustauschgerade im Bereich der GVO, also der gentechnisch ver-änderten Organismen.Es gibt eine gemeinsame Zielerklärung, in der esheißt – wenn meine Übersetzung stimmt –, dass das ge-meinsame Ziel die Förderung wissenschaftsbasierter Zu-lassungsprozesse sei. Genau das haben wir im Vorsorge-prinzip im europäischen Kontext eben nicht. Wir müssennicht beweisen, dass etwas gefährlich ist, sondern wirkönnen auch etwas verbieten, weil wir uns unsicher sind,ob es gefährlich ist. Das sind fundamentale Unter-schiede. Wenn diese durch die entsprechenden Klauselnunterminiert werden, dann stehen Rechtspositionen zurDisposition, die wir nicht aus der Hand geben dürfen.
Aus dieser Debatte ergeben sich fünf ganz konkreteForderungen. Erstens. Das Versäumnis, von Anfang anTransparenz herzustellen – das Sie, Herr Hardt, zu Rechtangesprochen haben –, können wir nur wettmachen, in-dem wir uns die Zeit nehmen, die wir für eine sorgfältigeBeratung brauchen.
Zweitens. Wir müssen überdenken, ob die Beratungs-formen, also wie wir hier im Parlament beraten, diesenAbkommen gerecht werden. Wir müssen überdenken, obwir nur im Wirtschaftsausschuss oder nur im Umwelt-ausschuss Anhörungen durchführen oder ob wir – derWirtschaftsausschuss hat das an der einen oder anderenStelle schon gemacht – uns hier öffnen, um die großenAbkommen interdisziplinär zu besprechen.Drittens. Die Anspruchsgrundlagen sind mindestensgenauso wichtig wie die Systematik der Schiedsgerichts-barkeiten oder der Regulierungsräte.Viertens. Wenn die Kommission aufgrund des Kon-sultationsverfahrens Änderungen bei TTIP anmahnt,dann muss das auch für CETA gelten; sonst geht dasnicht.
Fünftens. Wir sollten darüber nachdenken, ob dasSystem sogenannter Positivlisten dazu führen kann,Rechtsunsicherheiten in vielen Bereichen der Abkom-men zu beseitigen. Ich weiß, es ist ganz schwer, das jetztnoch bei CETA durchzusetzen. Viele Punkte offenzulas-sen, birgt die Gefahr, dass andere die Auslegung über-nehmen. Insofern wäre das Positivlistensystem – Sie ha-ben gerade die Daseinsvorsorge angesprochen – eineMöglichkeit, Rechtsunsicherheit zu beseitigen.Vor uns liegt viel Arbeit. Ich freue mich auf eine sach-liche Diskussion. Ich bin mir sicher, dass diese Themeneine Tragweite haben, die wir gar nicht hoch genug ein-schätzen können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Tagesordnungspunkt 19 a. Wir kommen zur Abstim-mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/3747. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. DieFraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überwei-sung, und zwar federführend an den Ausschuss für Wirt-schaft und Energie sowie mitberatend an den Ausschussfür Recht und Verbraucherschutz und an den Ausschussfür die Angelegenheiten der Europäischen Union.Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über denAntrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Die Ko-alition. Wer stimmt dagegen? – Die Opposition. Wer ent-hält sich? – Niemand. Dann ist die Überweisung mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-tion so beschlossen. Damit stimmen wir über den Antragauf Drucksache 18/3747 in der Sache nicht ab.Tagesordnungspunkt 19 b. Interfraktionell wird dieÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3729 an
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Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung auch so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem As-soziierungsabkommen vom 21. März 2014 undvom 27. Juni 2014 zwischen der EuropäischenUnion und der Europäischen Atomgemein-schaft und ihren Mitgliedstaaten einerseitsund der Ukraine andererseitsDrucksache 18/3693
Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem As-soziierungsabkommen vom 27. Juni 2014 zwi-schen der Europäischen Union und derEuropäischen Atomgemeinschaft und ihrenMitgliedstaaten einerseits und Georgien ande-rerseitsDrucksache 18/3694Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAssoziierungsabkommen vom 27. Juni 2014zwischen der Europäischen Union und derEuropäischen Atomgemeinschaft und ihrenMitgliedstaaten einerseits und der RepublikMoldau andererseitsDrucksache 18/3695Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Sitzplätzeeingenommen haben, können wir mit der Aussprachebeginnen. – Ich eröffne die Aussprache.Ich rufe zunächst den Staatsminister Michael Rothauf. Er hat das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und meine Herren! Die De-batte, die wir heute führen, findet in Zeiten einer schwe-ren Krise im Osten Europas statt. Wir alle, insbesonderedie Bundesregierung, bemühen uns seit vielen Monatenum die Abwendung dieser Krise, und wir arbeiten an ei-ner politischen Lösung. Wir alle wissen: Wir sind nochsehr weit davon entfernt.Russland hat mit der völkerrechtswidrigen Annexionder Krim und der Destabilisierung der Ostukraine dieFundamente der europäischen Friedensordnung infragegestellt. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangsdrohen neue Trennlinien auf unserem Kontinent. Vonneuen Mauern und neuer Entfremdung wären dieUkraine, die Republik Moldau und Georgien unmittelbarbetroffen, nicht nur wegen ihrer geografischen Lage. Inallen drei Ländern gibt es, wenn auch in ganz unter-schiedlicher Ausprägung, Bestrebungen in beide Rich-tungen: einerseits die traditionell engen Beziehungen zuRussland, andererseits den Wunsch nach einer stärkerenAnbindung an Europa. Angesichts der derzeitigen Kriseist es umso bemerkenswerter, dass diese drei Länder ge-rade jetzt die Zusammenarbeit mit der EU abermals ver-tiefen wollen. Der Abschluss der Assoziierungsabkom-men mit der EU am 27. Juni des vergangenen Jahres hatdies eindrucksvoll gezeigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Assoziie-rungsabkommen wollen wir die Ukraine, die RepublikMoldau und Georgien auf ihrem schwierigen Weg derReformen begleiten: mit Rat und mit Tat, aber eben auchmit finanzieller Unterstützung. Die Abkommen setzeneinen klaren, verbindlichen Rahmen für weitere tiefgrei-fende Reformen in diesen Ländern, die bitter nötig sind.Unsere östlichen Nachbarn modernisieren, öffnen unddemokratisieren Schritt für Schritt Politik, Wirtschaftund Gesellschaft. Ich freue mich über die bisherigen Er-folge und Fortschritte. Doch die eigentlichen Bewäh-rungsproben liegen noch vor uns. Denn nun gilt es, über1 000 Seiten Regelungswerk umzusetzen. Das wird einziemlicher Kraftakt, der die Länder grundlegend verän-dern dürfte. Ein solch radikaler Wandel vollzieht sichnicht ohne Spannungen. Er kennt eben nicht nur Gewin-ner, sondern er bringt, zumindest kurzfristig, immer auchVerlierer hervor.Die Regierungen unserer Partnerländer wissen, wasdie Menschen in der Ukraine, in der Republik Moldauund in Georgien jetzt von ihnen erwarten und einfordern:Rechtstaatlichkeit, Fortschritte bei der Bekämpfung derKorruption, eine leistungsfähige Justiz und Verwaltung.Wenn das gelingt, dann rückt das in greifbare Nähe, waswir uns alle im Interesse dieser Menschen wünschen:stabile Demokratien, in denen das Recht geachtet unddie Menschenrechte geschützt werden, erfolgreicheWirtschaften und ein starker Sozialstaat.Wir wissen aber eben auch: Die EU wird das Ziel ei-ner stabilen, demokratischen und wirtschaftlich gedei-henden Nachbarschaft nur dann erreichen, wenn dieseLänder auch gute Beziehungen zu ihrem großen Nach-barn im Osten pflegen. Es geht für die Ukraine, für dieRepublik Moldau und für Georgien eben nicht um eineEntweder-oder-Entscheidung; denn die Östliche Partner-schaft will unsere Partnerländer eben nicht vor die Wahlstellen, und schon gar nicht ist dieses Projekt gegenRussland gerichtet. Ich möchte aber auch sagen: Russ-land hat kein Recht, in der Ukraine territoriale Fakten zuschaffen oder die Staaten der Östlichen Partnerschaft mit
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Staatsminister Michael Roth
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Strafen zu belegen. Hier steht die Europäische Union ge-schlossen an der Seite unserer östlichen Nachbarländer,die auf unsere Solidarität zählen können.
Die Fähigkeit zur Selbstkritik wird von der Europäi-schen Union immer wieder eingefordert. Wir haben unsnatürlich auch gefragt: Was ist da möglicherweise falschgelaufen? Mit Blick auf die Östliche Partnerschaft hatRussland erst nach jahrelangen Assoziierungsverhand-lungen ernste Bedenken angemeldet, und leider hatRussland Mittel gewählt, die sich überhaupt nicht mitguter Nachbarschaft und internationalem Recht verein-baren lassen. Diese von Russland gewählten Mittel sindinakzeptabel.
Ich weiß aus sehr vielen persönlichen Gesprächen – dasdeckt sich sicherlich mit Ihren eigenen Erfahrungen,liebe Kolleginnen und Kollegen –: Keines der östlichenPartnerländer möchte seine jahrhundertealten Verbin-dungen zu Russland abbrechen. Auch die EuropäischeUnion misst den Beziehungen zu Russland weiterhineine ganz hohe strategische Bedeutung bei.Die Bundesregierung setzt sich nicht nur unermüdlichfür eine politische Lösung der Ukraine-Krise ein. Wirnehmen natürlich auch die Sorgen Russlands über dieAuswirkungen der Assoziierungsabkommen auf seineWirtschaft ernst. Wir haben auch Bereitschaft gezeigt,die vorläufige Anwendung des Freihandelsabkommensmit der Ukraine für 15 Monate auszusetzen, um zu über-prüfen, wo es möglicherweise Schwierigkeiten in derZusammenarbeit dieser Staaten mit Russland gibt. DieEuropäische Union ist also durchaus zu vernünftigenund praktikablen Lösungen bereit, die dem Frieden undder Sicherheit der ganzen Region dienen. Aber es isteben auch klar – das haben wir Russland immer wiederdeutlich gesagt –: Wenn die EU Verträge mit Drittstaatenschließt, dann gibt es für Russland kein Vetorecht.Am Anfang dieses Gesetzgebungsverfahrens möchteich einen kleinen Wunsch äußern, liebe Kolleginnen undKollegen: Im Mai dieses Jahres findet in Riga dasnächste Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft statt.Die große Mehrheit unserer Partner in der EuropäischenUnion wird bis dahin die Ratifizierung der drei Asso-ziierungsabkommen abgeschlossen haben. Ich fände esgroßartig, wenn auch wir, als Motor der europäischenNachbarschaftspolitik, unsere Ratifizierungsverfahrenbis dahin abgeschlossen hätten. Daher bitte ich Sie umeine intensive, aber auch um eine zügige Beratung. Wirstehen als Bundesregierung unterstützend bereit. – Ichdarf heute diese Abkommen für die Bundesregierunghier einbringen.Vielen Dank.
Als nächster Redner spricht Wolfgang Gehrcke, Die
Linke.
Genosse Wellmann! Wir wollen gleich zur richtigenAnrede übergehen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte, dass wir als Erstes darüber nachdenken, waswir den Menschen in Moldawien, in Georgien und in derUkraine wünschen sollten und was wir möglicherweisedazu beitragen können, ihre Wünsche zu erfüllen. Ichmöchte gern, dass die Menschen in der Ukraine, in Mol-dawien und in Georgien sozial wie auch von den demo-kratischen Rechten her etwas besser leben, als es heuteder Fall ist und in der Vergangenheit der Fall war. Das istmir ganz wichtig. Ich glaube, dass mit diesen Abkom-men – ich befürchte dies insbesondere für die Ukraine –griechische Verhältnisse einziehen werden
mit einer Zerstörung des Sozialstaates und mit weiterensozialen Verwerfungen. Ich möchte, dass das abgewehrtwird.
Ich will nicht, dass wir den Menschen solche Vorschrif-ten machen.
Ich möchte, dass für alle drei Länder Hilfsprogrammeaufgelegt werden, die die Macht der Oligarchen begren-zen.
Das eigentliche Problem dieser Länder sind die Oligar-chen, die diese Länder ausgeplündert haben und aus-plündern.
Ich finde, wir dürfen die Oligarchen nicht befördern, ih-nen nicht auch noch Geld zuspielen, sondern wir müssendas Geld der Oligarchen umverteilen.
Ich bin für eine Enteignung der Oligarchen in diesenLändern. Das werden aber die Menschen in der Ukraine,in Moldawien und in Georgien selber leisten.
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Wolfgang Gehrcke
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– Wenn stattdessen Sozialismus in Russland eine Rollespielen würde, wäre es mir nur recht, auch die Oligar-chen in Russland zu enteignen.
Das Zweite, das mich sehr bewegt, ist Folgendes: Wirreden über diese Abkommen ja nicht in normalen Zeiten.Normalerweise spielen solche Abkommen der Europäi-schen Union in der Öffentlichkeit nicht so eine großeRolle. Wir reden aber jetzt in Zeiten darüber, in denender Krieg als reale Gefahr in Europa auf der Tagesord-nung steht. Ich finde, wir haben auch eine Verantwor-tung, darüber nachzudenken, ob sich die Entscheidung,dass sich drei Länder an der Grenze Russlands in einwestliches System integrieren, positiv oder negativ aufdie Dämpfung der Kriegsgefahr auswirkt.
Ich zitiere wieder einmal Michail Gorbatschow, weilSie das besonders trifft. Ich denke, dass wir Gorbatschoweinen besonderen Verdienst und auch Verantwortung zu-rechnen können. Er warnte im Spiegel vor einem großenKrieg in Europa. Er wird im Spiegel zitiert:Ein solcher Krieg würde heute wohl unweigerlichin einen Atomkrieg münden. … Wenn angesichtsdieser angeheizten Stimmung einer die Nerven ver-liert, werden wir die nächsten Jahre nicht überle-ben.Das sagt Gorbatschow. Ich hoffe, dass er unrecht hat.Aber ich nehme seine Warnung sehr ernst und fragemich immer: Was können wir tun, auch speziell wir inDeutschland, damit es zu einer Dämpfung des Konflik-tes kommt?Gorbatschow sagt weiter in Bezug auf Deutschland –das muss doch jeden von uns tief treffen –:Das neue Deutschland will sich überall einmischen.… In Deutschland möchten anscheinend viele beider neuen Teilung Europas mitmachen. … Deutsch-land hat im Zweiten Weltkrieg schon einmal ver-sucht, seinen Machtbereich nach Osten zu erwei-tern. Welche Lektion braucht es noch?Welche Lektion braucht unser Land noch? Diese Fragelegt uns Gorbatschow vor. Unser Land muss eine Lek-tion lernen, nämlich dass wir bei allem die künftigenFolgen bedenken.
Ich glaube, es wäre im Moment klüger, mehr Druckzu entwickeln, dass besser verhandelt wird, dass Sank-tionen aufgehoben werden und dass dieses Abkommen,so wie es ist, nicht ratifiziert wird. Das wäre ein Beitragunseres Landes. Ich glaube, damit muss man sich ernst-haft auseinandersetzen.Ich habe die Befürchtung, dass das Abkommen Eu-ropa erneut spaltet, nicht zu guter Nachbarschaft mitRussland führt, nicht dazu führt, dass die eingefrorenenKonflikte, die nur mit Russland zusammen gelöst wer-den können, wirklich gelöst werden. Ich denke an Ab-chasien, Südossetien, Transnistrien, Berg-Karabach undviele andere Regionen. Diese Probleme kann man nurmit Russland zusammen lösen.Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich möchtegerne, dass wir darüber nachdenken, wie auch der70. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus,die ohne die damalige Sowjetunion – das ist mehr alsRussland; das sage ich gleich dazu –
nicht denkbar gewesen wäre, würdig begangen werdenkann. Ich finde, die Äußerung des ukrainischen Präsi-denten – sie wurde hier in Deutschland auch im Fernse-hen übertragen –
– des Ministerpräsidenten; Entschuldigung, ja; wo ihrrecht habt, habt ihr recht; wenn ihr mir auch in der Folgezustimmt, wäre ich euch dankbar –,
dass die Sowjetunion über die Ukraine nach Deutschlandeinmarschiert ist, ist so katastrophal, dass ich hoffe, erhat sich in der Wortwahl geirrt.
– Wenn es so ist, kann man das ja klarstellen.
Ich hoffe, dass hier klar ist: Deutschland und Europasind auch von der Sowjetunion vom Faschismus befreitworden. An dieser inhaltlichen Position sollten wir kei-nen Millimeter rütteln lassen.Besten Dank.
Der nächste Redner ist Manfred Grund, CDU/CSU.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Zuhörer, insbesondere auf der Tribüne!Wir beraten heute drei Gesetzentwürfe zu Assoziie-rungsabkommen der Europäischen Union: mit derUkraine, mit Georgien und mit der Republik Moldau. Essind umfassende Assoziierungsabkommen, und die Ab-kommen mit Moldawien und Georgien beinhalten auchein Freihandelsabkommen. Wir erhoffen uns von diesenAbkommen, dass dadurch die Wertevorstellungen der
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Manfred Grund
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Europäischen Union, also unsere Wertevorstellungen, inBezug auf Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat-lichkeit, Transparenz und eine offene und freie Gesell-schaft in diesen Ländern gefördert werden.Zum Ersten begründen diese Abkommen eine politi-sche und gesellschaftliche Verknüpfung mit der Europäi-schen Union. Die wichtigsten Aspekte sind die notwen-digen inneren Reformen, auf die sich diese Länder mitunserer Unterstützung verpflichten: Reform der Verwal-tung, funktionierende Institutionen, Bekämpfung derKorruption, Unterbindung oligarchischer Strukturen undEinflussnahmen, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. DieseAbkommen sind daher in erster Linie ambitionierte Re-formprojekte, die innerhalb dieser Länder umzusetzensind.Zum Zweiten begründen diese Abkommen eine ge-meinsame Freihandelszone, und zwar eine umfassendeund tiefgreifende. Dabei geht es um weit mehr als umden Abbau von Handelsbarrieren. Es geht um die schritt-weise Integration dieser Länder in den europäischenBinnenmarkt einschließlich der Übernahme europäi-scher Rechtsstandards. Dabei wird nicht nur der freieWarenverkehr eröffnet, sondern es werden vor allemauch die Investitionsbedingungen in den Ländern selbstentscheidend verbessert, um den Menschen dort einebessere wirtschaftliche Perspektive und eine lebenswerteZukunft zu ermöglichen.Die Assoziierungsabkommen und die Freihandelsab-kommen sind Modernisierungsabkommen. Wir könnenund wollen mithelfen, die Ukraine, Georgien und die Re-publik Moldau zu modernisieren: politisch, gesellschaft-lich und wirtschaftlich. Damit sind diese Abkommen dieeinzig richtige Antwort auf die systemischen Problemein diesen sogenannten Transformationsländern.Seit dem Ende der Sowjetunion befanden sich dieseLänder Osteuropas in einer Art Zwischeneuropa. Siegehörten nicht mehr zum direkten HerrschaftsbereichMoskaus, waren aber auch nicht Teil des europäischenEinigungsprojektes. Was dieses Zwischeneuropa kenn-zeichnete, waren ein Zustand äußerer und innerer Insta-bilität, der Mangel an Perspektive und Entwicklung so-wie – als Folge der Instabilitäten – innere und äußereKonflikte. Damit haben diese Länder mehr als zweiJahrzehnte Stagnation, Verfall, Oligarchenwirtschaft undErpressung erlebt.Deutlich wird dies auch an der unterschiedlichen Ent-wicklung der Lebensverhältnisse. Nach dem Zusammen-bruch der Sowjetunion vor 25 Jahren waren die Lebens-verhältnisse in der Ukraine, in Georgien und in Moldauähnlich denen im Baltikum oder in Polen. Während aberdie Länder des Baltikums und Polen der EuropäischenUnion beigetreten sind und einen beispiellosen wirt-schaftlichen, politischen und sozialen Aufschwung er-lebten – Polen ist eine Erfolgsgeschichte, ein Erfolgs-modell –, hat die Entwicklung in der Ukraine und inMoldau stagniert. Schlimmer noch: Diese Länder habenJahre und Teile ihrer Zukunft verloren. Junge, gut ausge-bildete Menschen, die sich mit Stagnation und Korrup-tion nicht abfinden wollten, sind in großer Zahl wegge-gangen.Es ist auch in unserem Interesse, dass diese Ländereine Entwicklungsperspektive, eine Modernisierungs-perspektive erhalten. Das wird aber nur gelingen, wennwir ihnen den Zugang zum europäischen Integrations-prozess eröffnen und das Selbstbestimmungsrecht derUkrainer, der Georgier und der Moldauer anerkennenund diese Länder nicht hegemonistischen Bestrebungenopfern.Damit bin ich bei Russland und dem unerklärtenKrieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Was hatRussland von einer modernisierten, reformierten und mitder EU assoziierten Ukraine zu befürchten, dass Putindie Ukraine fortgesetzt destabilisiert? Die Antwort liegtzum einen im hegemonistischen Denken Putins begrün-det, in seinem Bestreben, Russland zu alter Bedeutungund Größe zu erheben. In diesem Denken kommt dieUkraine als eigener souveräner Staat mit selbst entschei-dender Bevölkerung überhaupt nicht vor.
Die größte Provokation, die größte Herausforderungfür Putin wäre es wohl, wenn sich das europäische Er-folgsmodell wie in Polen auch in Moldau, Georgien undin der Ukraine und damit direkt vor seiner Haustürdurchsetzte. Es ist, Kollege Gehrcke, nicht die Angst vorder Europäischen Union und auch nicht die Angst vorder NATO, die Putin umhertreibt – es ist die Angst voreiner modernisierten, vor einer offenen Gesellschaft;denn Putins Weg für Russland ist ein ganz anderer: einWeg, der in das vergangene Jahrhundert zurückführt, derNachbarländer nur als Einflusszonen wahrnimmt undder vor Krieg und Gewalt nicht zurückschreckt.Weil wir zu den Konfrontationen des letzten Jahrhun-derts nicht zurückkehren wollen, weil wir aus Überzeu-gung für offene, moderne, freiheitliche, soziale Gesell-schaften eintreten, sind diese Abkommen für dieMenschen in der Ukraine, in Georgien und Moldau guteAbkommen, und es sind gute Abkommen für uns als be-kennende Demokraten, als helfende Nachbarn und alsüberzeugte Vertreter einer offenen Gesellschaft.Kollege Gehrcke, Sie haben darauf Bezug genom-men, was Jazenjuk hier gesagt hat. Er hat gesagt, dieSowjetunion sei in seiner Heimat einmarschiert. In die-sem Jahr vor 70 Jahren endete Gott sei Dank der ZweiteWeltkrieg. Vorbereitet wurde er mit einem Pakt, denStalin und Hitler zusammen vor 75 Jahren unterzeichnethaben
und in dem es um die Aufteilung Polens ging. Jazenjukist geboren in Czernowitz. Czernowitz war zu diesemZeitpunkt Teil von Polen; insoweit hat Jazenjuk mit sei-ner Äußerung recht, dass die Sowjetunion bei ihm zuHause einmarschiert sei. Das waren weiß Gott keine gu-ten Zeiten, nicht für die Ukraine, nicht für Polen.Wir sind froh und dankbar, dass wir einen Teil dessen,was durch den Zweiten Weltkrieg mit uns verbunden ist,wiedergutmachen können. Wir werden die Ukraine, Ge-
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Manfred Grund
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orgien und Moldau nicht Russland sozusagen vor dieHaustür werfen.
Als nächste Rednerin spricht Marieluise Beck vonden Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man in der Zeit zurückgeht und sich die Schluss-akte von Helsinki aus dem Jahr 1975 anschaut, dannkann man sehen, dass die europäische Friedensordnungdamals tatsächlich auf neue Füße, auf gemeinsame Füßegestellt worden ist. Sie ist dann noch einmal präzisiertworden durch die Charta von Paris von 1990, das Folge-treffen in Helsinki 1992 und den Gipfel in Lissabon1996. In all diesen Papieren wird noch einmal deutlichauf die Integrität der Grenzen und das Recht souveränerStaaten auf freie Bündniswahl hingewiesen. Das ist nichtnur 1975 von Breschnew unterschrieben worden, son-dern auch von Russland nach Ende des Kalten Krieges.An diese Zeiten, an dieses Versprechen sollten wir Russ-land erinnern. Diese Texte sind ein Bekenntnis zur De-mokratie, zur Wahrung von Frieden und Souveränität. Esist ein Drama, dass all das mit dem Krieg in der Ukraineund mit der Enteignung von Territorien in Georgien undMoldawien über den Haufen geworfen wurde.
Die heute zur Debatte stehenden Assoziierungsab-kommen sind sicherlich kein Gnadenakt der EU – natür-lich geht es auch um Interessen, um die Erweiterung vonHandelsräumen –; aber diese tausend Seiten sind gleich-zeitig auch ein Angebot, diesen Ländern bei ihrer inne-ren Transformation beizustehen. Das heißt: Demokratie,Rechtsstaatlichkeit, die Chance auf Befreiung von Kor-ruption. Selbst wenn die Bürgerinnen und Bürger, diesich auf dem Maidan versammelt haben, diese tausendSeiten nicht gelesen haben – sie haben sie mit Sicherheitnicht gelesen –, haben sie doch eines verstanden, undzwar die Botschaft dieses Abkommens. Diese ist: Wirhaben die Chance, uns endlich von Oligarchen und kor-rupten Beamten zu befreien, wir haben die Chance, ent-sprechende Institutionen aufzubauen.
Deswegen haben die Menschen auf dem Maidan gesagt:„Wir wollen nach Europa“, wozu sie ja geografisch ge-hören. Die Botschaft dahinter war: Wir wollen demokra-tische, rechtsstaatliche Länder werden mit allen entspre-chenden Freiheiten, befreit von der Last von Oligarchieund Korruption; das ist unsere Zukunft. – Das war dieBotschaft des Maidan.
Dass diese Länder mit den Assoziierungsabkommenmit der EU vor ein Entweder-oder gestellt worden seien,ist ein Mythos. Das ist einfach falsch. Diese Abkommen,die Freihandelsabkommen sind, haben es ermöglicht,weitere Freihandelsabkommen – auch die bestehendenmit Russland – weiter aufrechtzuerhalten. Umgekehrtwird ein Schuh daraus: Der Plan Putins, die Zollunion indie Eurasische Union zu verwandeln, ist eine protektio-nistische Idee. Länder wie Moldau und die Ukraine hät-ten neue Zölle einführen müssen. Sie hätten sich also ausdem Trend, Zölle abzubauen und damit einen großenHandelsraum zu schaffen, ausklinken müssen.Es ist einfach ein Drama, dass die Idee vonMedwedew, einen Handelsraum von Lissabon bis Wla-diwostok zu schaffen, mit dieser protektionistischenPolitik vonseiten des Kremls zerstört worden ist. Sie istnicht durch die EU-Assoziierungsabkommen zerstörtworden und wird auch nicht durch sie zerstört.
Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir diese Ländernicht nur mit Entschiedenheit auf dem schwierigen Wegbegleiten. Wir wissen durch Griechenland – und in Grie-chenland herrscht kein Krieg –, wie zäh und langwierigder Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen ist, wieschwierig es ist, eine vernünftige und belastbare Steuer-verwaltung sowie ein Gerichtswesen aufzubauen. Unddas ist ein EU-Staat! Insofern ist vollkommen klar, dasswir uns auch den Zeithorizont klarmachen sollten, wennwir derzeit danach fragen, wie weit die Ukrainer jetztsind. Der Weg ist sehr lang.Die Menschen dort sind bereit, diesen Weg zu gehen,weil sie – Kollege Grund hat das eben erwähnt – anPolen sehen, dass Demokratie und Prosperität tatsäch-lich zusammengehören. An Polen kann man sehen, dassgutes Leben für die Menschen entsteht, wenn es Demo-kratie gibt, und dass es nicht entsteht, wenn Oligarchenund korrupte Staatsinstitutionen die Bevölkerung aus-nehmen können. Insofern wissen die Menschen, dassschwierige Transformationszeiten vor ihnen liegen, abersie wollen sie.Die Oligarchen in der Ukraine werden derzeit vor al-len Dingen durch den Krieg geschützt. Der Krieg gibt ih-nen die Möglichkeit, ihre Macht aufrechtzuerhalten. Dassieht man in Dnipropetrowsk. Insofern führen die Ursa-chen für Transformationshindernisse derzeit zur aggres-siven Politik Russlands. Das sollten wir hier ganz deut-lich sagen. Es ist nicht ehrlich, wenn man nur beklagt,dass die Oligarchen nicht bereit sind, ihre Macht abzuge-ben, oder nicht ausreichend bekämpft würden.Die Teilung Europas durch die Konferenz von Jaltaist 1990 nicht endgültig überwunden worden, sondernnur in Teilen, und jetzt kommt der nächste Schritt. Dienächsten souveränen Staaten klopfen an die Tür der Eu-ropäischen Union. Wir sollten diese Tür weit offenhaltenund sie einladen, dazuzukommen, wenn die Vorausset-
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Marieluise Beck
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zungen erfüllt sind. Das ist noch ein langer Weg, und ichsage auch – das ist auch vom Staatsminister betont wor-den –: Wir wünschen uns, dass Russland auf diesemWeg dabei ist.Schönen Dank.
Wir kommen jetzt zum nächsten Redner, Karl-Georg
Wellmann von der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! GenosseGehrcke,
das Volk der Ukraine hat sich für den europäischen Wegentschieden, und zwar in zwei freien und unabhängigenWahlen. Die Menschen dort haben entschieden, dass sieTeil der europäischen Familie sein wollen. Sie habensich übrigens vorbildlich verhalten und den Radikalentrotz des Krieges und der Wirtschaftskrise keine Chancegelassen. Das hätte ich mir an der einen oder anderenStelle sowohl in den deutschen Bundesländern als auchin Frankreich gewünscht.
Die europäische Nachkriegsordnung unter Ein-schluss des gesamten europäischen Regelwerks gibt je-dem Staat das Recht, Herr Gehrcke, über sein Schicksalund seine Zugehörigkeit auch zu überstaatlichen Organi-sationen selbst zu entscheiden. Niemand – auch keinNachbarstaat; egal wie groß er ist –, hat ein Vetorecht,und das gilt auch für Russland. Russlands Denken inEinflusszonen lehnen wir ab.
Die Ukraine hat ein verbrieftes Recht auf Selbstbe-stimmung, und dieses Recht hat sie wahrgenommen, in-dem sie das Assoziierungsabkommen unterschriebenhat. Der Versuch der Einflussnahme Russlands auf denGang der Dinge, die militärische Aggression, werdenwir nicht akzeptieren. Solange diese militärische Aggres-sion fortdauert, gibt es auch keine Möglichkeit, dieSanktionen aufzuheben. Wenn wir diese völkerrechtli-chen Prinzipien ernst nehmen, dann müssen wir in derTat alles tun, um die Ukraine politisch und ökonomischzu stabilisieren. Das heißt, wir müssen dem Land aufdem Weg nach Europa intensiv helfen.Wir dürfen die alten Fehler nicht wiederholen. Sie ha-ben als Beispiel Polen angesprochen, Frau Beck. DieUkraine muss eine klare europäische Perspektive haben.Andreas Schockenhoff hat es an dieser Stelle gesagt:Wenn denn eines Tages, wann immer das sein wird, dieVoraussetzungen erfüllt sind, muss die Ukraine dieChance haben, Mitglied der Europäischen Union zu wer-den. Wir haben es bei Polen erlebt: Als es in den 90er-Jahren zum Abschluss eines Assoziierungsabkommenskam, haben wir uns geweigert, Polen eine europäischePerspektive zu geben. Polen ist dann Mitglied in der EUgeworden und ist geradezu ein Musterknabe unter denBeitrittsländern und eine große Bereicherung für Eu-ropa.
Die Ukraine hat übrigens – das müssen wir all denensagen, die Angst vor einem Fass ohne Boden haben – eingroßes Potenzial. Ukrainische Unternehmen und Inge-nieure können Dinge, die wir nicht können. Was ihnenfehlt, ist westliches Know-how und westliches Kapital.Aber wenn dies dazukommt, kann und wird die Ukraineein großer Gewinn für Europa sein. Wir müssen uns des-halb in der Ukraine nachhaltig engagieren. Wir dürfenden EU-Enthusiasmus der Maidan-Bewegung, der Zivil-gesellschaft, nicht enttäuschen.Wir müssen leider feststellen: Ein Jahr nach den Pro-testen auf dem Maidan geht es den Menschen dort nichtbesser, sondern schlechter. Sie stellen die Frage: Wanngeht es uns besser? Wir haben doch die Assoziierungs-verträge schon vor fast einem Jahr unterschrieben. –Wenn wir das Vertrauen der Menschen in der Ukrainenicht verspielen wollen, dann müssen wir schnell etwasmachen und müssen schnell zeigen, welche Vorteile Eu-ropa für sie hat.Wir dürfen, wenn wir das Vertrauen der Maidan-Be-wegung nicht enttäuschen wollen, keine Buchhalterdis-kussionen führen. Den Enthusiasmus der Menschen fürdie europäischen Werte dürfen wir nicht enttäuschen.Aber es muss ebenso klar gesagt werden, dass wir keineKompromisse machen, wenn es um die notwendigen Re-formen geht. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten:Rezession und Krieg im Osten des Landes. Wir müssenauch sagen, dass wir mit den bisherigen Reformen seitdem Amtsantritt der Übergangsregierung noch nicht zu-frieden sein können.Die Ukraine wird sich politisch und ökonomisch nurstabilisieren, wenn es zu einem umfassenden Wandelkommt. Die Ukraine braucht so etwas wie einen Mar-shallplan; das ist inzwischen eine Binsenweisheit. Aberdas setzt nicht mehr und nicht weniger als eine funda-mentale Neugestaltung des Verfassungssystems, der Jus-tiz und der Finanzverfassung voraus. Nur wenn sich dieUkraine zu einer rechtsstaatlichen Demokratie nach eu-ropäischem Vorbild transformiert, wird eine solche Hilfemöglich sein.Die westliche Staatengemeinschaft und vor allem wirDeutsche müssen sehr viel mehr Engagement und auchFantasie entwickeln, wie wir die Ukraine voranbringenkönnen. Dazu gehört eine sehr fundierte Beratung undUnterstützung bei den wichtigsten Themen: bei der Ver-fassungs- und Justizreform, der Finanz- und Steuer-verfassung, den nötigen Wirtschaftsreformen und den
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Karl-Georg Wellmann
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großen Reformen im Bereich von Polizei und Staatsan-waltschaft.Leider kann sich die Ukraine jetzt keinen mehrjähri-gen Verfassungsdiskurs leisten. Sie hat alles, aber keineZeit. Deshalb muss es schnell gehen. Wir alle sind auf-gefordert, möglichst viele pensionierte Landräte, Ober-stadtdirektoren, Bürgermeister, Gerichtspräsidenten undFinanzamtsvorsteher in unseren Wahlkreisen zu motivie-ren, für eine Weile in die Ukraine zu gehen und dortbeim Aufbau zu helfen.Wenn wir all das jetzt versäumen sollten, dann wer-den wir in Europa am Ende sehr viel mehr als nur dieUkraine verlieren.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner spricht Franz Thönnes, SPD.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Staatsminister Roth hat die Rahmenbedingungen, unter
denen wir heute die drei Assoziierungsabkommen bera-
ten, treffend und umfassend beschrieben. Man muss aber
auch sagen: Nicht zuletzt, weil auch die internationale
Lage so schwierig ist, verdienen die ständigen Bemü-
hungen von Außenminister Steinmeier und Bundeskanz-
lerin Merkel unsere vollste Unterstützung, damit es so
schnell wie möglich wieder zu einem Treffen kommt,
um einen erneuten Versuch zu unternehmen, Frieden in
diese Region zu bringen und den Konflikt friedlich zu
lösen.
Auch wenn die Rahmenbedingungen so sind, wie sie
von meinen Vorrednern beschrieben worden sind, ist
heute ein Tag der Freude; denn wir haben heute ein
wichtiges Etappenziel in der Östlichen Partnerschaft zu
beraten. Mit dem Abschluss der Assoziierungsabkom-
men vom 27. Juni 2014 mit der EU ist ein ganz wichti-
ger Schritt vollbracht worden, und heute wollen wir ei-
nen nächsten Schritt gehen.
Es war ein großer historischer Moment, als am
16. September 2014 das Europäische Parlament auf der
einen Seite und die Werchowna Rada auf der anderen
Seite in Kiew, per Video miteinander verbunden, zeit-
gleich dem Vertragswerk zugestimmt haben, einem Ver-
tragswerk, dem die zentrale Idee von Rechtsstaatlichkeit,
Wohlstand, dem Wegfall der Visapflicht, von Sicherheit,
Demokratie und der Mitgliedschaft im demokratischen
Haus zugrunde liegt. Deswegen freuen wir uns, dass wir
jetzt an diesem Punkt sind.
Aber gleichzeitig muss uns klar sein: Wir stehen vor
großen Herausforderungen, die teilweise schon skizziert
worden sind. Zum Vertragen gehört auch Verantwortung,
und zur Verantwortung gehört, auszusprechen, dass so-
wohl die EU als auch die Ukraine vor einem großen Auf-
gabenfeld stehen.
Wenn von sechs Ländern, mit denen man den Prozess
der Östlichen Partnerschaft begonnen hat, am Ende mit
dreien ein Assoziierungsabkommen geschlossen werden
kann, müssen wir uns auch selbstkritisch fragen, warum
das nicht mit allen gelungen ist. Wir kennen die Druck-
mechanismen, aber wir wissen auch um die Befindlich-
keiten in den Ländern. Letzten Endes gilt ihr Selbstbe-
stimmungsrecht.
Zudem darf man die Frage stellen, ob immer alles
richtig eingeschätzt und bewertet worden ist. Hat man
beispielsweise berücksichtigt, dass 36 Prozent der
Exporte der Ukraine in die Mitgliedstaaten der Zoll-
union, 24 Prozent nach Russland und 30 Prozent nach
Europa gehen?
Hat man berücksichtigt, dass ein Drittel der Exporte Ge-
orgiens nach Russland gehen? Hat man berücksichtigt,
dass 500 000 bis 700 000 Gastarbeiter aus Moldawien in
Russland sind? War es nicht doch ein Fehler – und ich
bleibe dabei, weil auch Bundeskanzlerin Merkel das
mittlerweile unterstützt –, dass EU-Kommissionspräsi-
dent Barroso gesagt hat: „Die Ukraine muss sich ent-
scheiden, entweder oder“?
Das war keine gute Situation.
Bei dem ausgesetzten Teil des Freihandelsabkom-
mens geht es jetzt darum, dass Russland liefern muss,
wenn es um die Kriterien geht und darum, welche Be-
schwernisse aus russischer Sicht bestehen, wenn es um-
gesetzt wird. Seit dem 12. September 2014 hat es leider
keine weiteren Zusammenkünfte gegeben.
Herr Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank. – Herr Kollege Thönnes, ich stimme Ih-nen zu, was den Eindruck betrifft, die Ukraine müssesich im Hinblick auf eine gute wirtschaftliche und politi-sche Zusammenarbeit, aber vor allem auch in der Han-delszusammenarbeit zwischen der Europäischen Unionund den Staaten der Zollunion, mit denen sie bilateraleFreihandelsabkommen hat, entscheiden. Ich lege aberWert darauf, dass nach meinem Verständnis HerrBarroso zwar damals gesagt hat, die Ukraine müsse sichentscheiden und wissen, dass sie für den Fall, dass sie
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Manuel Sarrazin
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der Zollunion beitritt, nicht mehr mit einem Freihandelmit der Europäischen Union rechnen könne, weil dieVorgaben der Zollunion weder WTO-tauglich sind nochmit den Freihandelsbestimmungen der EuropäischenUnion übereinstimmen, dass dies aber nach den Aussa-gen von Barroso nicht für den Status quo galt. Das heißt,dass die bisherigen Freihandelsabkommen der Ukrainemit den Staaten der Zollunion weiterhin in Kraft bleibenkönnen. Dieser Unterschied ist relativ wichtig. Denn nie-mand, weder in der Ukraine noch in der EuropäischenUnion, möchte diesen Pfad der Ukraine, die seit 1991 dieStrategie verfolgt hat, mit allen Nachbarn gute Handels-beziehungen zu haben, also mit Russland, Weißrussland,der Europäischen Union, aber auch mit Georgien undMoldau, die übrigens auch nicht gerade irrelevant sind,ändern. Stimmen Sie dem zu?
Herr Kollege Sarrazin, ich glaube, dass an dieser
Stelle dennoch der Eindruck vermittelt worden ist, als
müsste man sich langfristig für das eine oder das andere
entscheiden. Es wäre hilfreicher gewesen, gemeinsam
danach zu suchen, wie ein solcher Eindruck verhindert
werden kann, und im Hinblick auf eine ökonomische Tä-
tigkeit mit der Europäischen Union und der Eurasischen
Union auszuloten, inwieweit es Kooperationsmöglich-
keiten gibt. Das war zum damaligen Zeitpunkt nicht ge-
geben. Dass eine solche Situation entstanden ist, die uns
bis heute verfolgt, war nicht gut.
Sonst würde man jetzt nicht einen Teil des Abkommens
aussetzen. Das hätte man wesentlich früher anfangen
können. Dann hätten wir uns das jetzt sparen können.
Das ist sozusagen auch das Eingeständnis dafür.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die tiefe wirt-
schaftliche Kluft nicht so schnell überwunden sein wird
und dass, wie Kollege Wellmann schon gesagt hat, so et-
was wie ein Marshallplan notwendig ist. Der Chefana-
lyst für Osteuropa der Raiffeisen Bank International in
Wien schätzt den Bedarf an privatwirtschaftlichen und
öffentlichen Investitionen auf 200 Milliarden US-Dollar.
Ich glaube, er liegt mit seiner Expertise nicht daneben.
Das heißt, angesichts des Hintergrundes, vor dem die
politisch Verantwortlichen in Kiew nun arbeiten müssen,
wird es darauf ankommen – Staatsminister Roth hat da-
rauf hingewiesen, dass es auch Verlierer geben wird –,
bei diesem Prozess einen gesellschaftlichen Zusammen-
halt in der Ukraine zu organisieren. Als Ministerpräsi-
dent Jazenjuk in der letzten Woche über Reformen
sprach, sprach er auch vom Kampf gegen Korruption,
vom Abbau sozialer Leistungen, von Entlassungen im
öffentlichen Dienst beschäftigter Menschen sowie von
der Reduzierung von Einkommen und von Preiserhö-
hungen. Das alles sind keine guten Botschaften.
Es muss daher ein sozialer Dialog erfolgen, in den
Gewerkschaften, Unternehmen und die Zivilgesell-
schaft eingebunden sind, um die schwierigen Folgen der
Umgestaltung abzumildern und dazu beizutragen, dass
der Prozess in gute Bahnen mündet. Dabei könnten un-
sere Erfahrungen mit den Transformationsprozessen in
der Eisen- und Stahlindustrie, der Kohleindustrie und bei
der deutschen Einheit hilfreich sein. Der Prozess wird
nur dann gelingen, wenn auch der soziale Zusammenhalt
in der Ukraine gewahrt wird.
Ich will hinzufügen, dass es auch notwendig ist, offen
darüber zu reden, dass wahrscheinlich die aktuellen öko-
nomischen Machthabenden gar kein Interesse an einer
nachhaltigen Modernisierung des Landes haben, sondern
nur am Erhalt der eigenen Machtressourcen interessiert
sind. Deswegen wird es wichtig sein, das Oligarchentum
infrage zu stellen und die Verteilung wirtschaftlicher
Macht neu zu regeln. Es ist wichtig, an dem anzusetzen,
was sich auf dem Maidan entwickelt hat, also die NGOs
zu stärken und zu fördern sowie eine Verzahnung mit der
Zivilgesellschaft in Europa und insbesondere in der Bun-
desrepublik Deutschland zu organisieren. Schließlich
geht es darum, den Prozess, der nun stattfindet, in einem
Monitoring zu überwachen und zu begleiten.
Notwendig ist ebenfalls, Schluss mit der Verquickung
von wirtschaftlichen und politischen Eliten zu machen.
Die EU muss dabei helfen, dass die reformorientierten
Kräfte in der Ukraine lokal, regional und national an
neuer Stärke gewinnen. Schließlich geht es darum
– auch deswegen ist dieses Assoziierungsabkommen so
wichtig –, dass man sich kritisch mit den Menschen-
rechtsverletzungen durch die Freiwilligenbataillone aus-
einandersetzt. Insbesondere die Minderheitenrechte in
der Ukraine sind deutlich zu wahren, wenn es um Spra-
che und Kultur geht.
Ich will abschließend noch auf zwei, drei Punkte hin-
weisen.
Nein, Herr Kollege, ich muss Sie leider ermahnen,
zum Schluss zu kommen.
Dann komme ich zum Schluss.Wir haben bislang über die inneren Verhältnisse in derEU und der Ukraine geredet. Es wird notwendig sein,auch außenpolitisch ein Umfeld zu entwickeln, das einefriedliche Entwicklung in Europa gewährleistet; dennnur dann wird der Prozess der Transformation, der Asso-ziierung und des Weges nach Europa auch für dieUkraine friedlich verlaufen. Das bedeutet, die russischePerspektive zu berücksichtigen; denn die Landkarte istnun einmal so, wie sie ist. Frieden in Europa wird sichnur mit Russland und nicht gegen Russland organisierenlassen. Russland muss aber wissen: Frieden in Europaund seine eigene Sicherheit werden nur gemeinsam mitEuropa organisiert werden können. Dazu gehört neuesVertrauen, das durch nachweislich friedliches Handelnuntermauert werden muss.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7677
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Als letzter Redner in dieser Debatte hat Dr. Bernd
Fabritius von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle drei Abkommen formulieren dieselben Ziele. Durch
diese sollen Wertevorstellungen der Europäischen Union
in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Rechts-
staatlichkeit gefördert und Handelsbeziehungen liberali-
siert und ausgeweitet werden. Ja, so gesehen, Frau Kol-
legin Beck, ist das eine Ausweitung der Interessen- und
der Wertegemeinschaft. Diese Ziele liegen in unserem
Interesse und auch im Interesse der ukrainischen, der
moldauischen und der georgischen Bürgerinnen und
Bürger, Herr Kollege Gehrcke.
Bei den Wahlen im Oktober hat die ukrainische Be-
völkerung den proeuropäischen Kurs klar bestätigt. Bei
den Wahlen im November hat die moldauische Bevölke-
rung den proeuropäischen Kurs ebenfalls klar bestätigt.
Auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen im Sommer
in Georgien bestätigen diesen Kurs. Viel deutlicher geht
es nicht, Herr Kollege Gehrcke. Die Abkommen sind
seitens der EU die verbindliche Zusage, den europäi-
schen Weg dieser drei Länder gemeinsam mit ihnen zu
beschreiten und sich auch in Krisenzeiten solidarisch zu
zeigen. Vor diesem Hintergrund war die Bewilligung
weiterer EU-Kredite in der vergangenen Woche selbst-
verständlich richtig.
Die Assoziierungsabkommen beinhalten auch eine
verbindliche Zusage seitens der Ukraine, der Moldau
und Georgiens als Antwort auf eine ganz klare Hand-
lungsaufforderung. Mit den Unterschriften unter die Ab-
kommen erklärten die Unterzeichner ihre Absicht zu
mehr Rechtsstaatlichkeit, zur Korruptionsbekämpfung
und zu Reformen im Justiz- und Verwaltungssektor. Mit
den Abkommen geht auch die Aufforderung einher, die
Gesellschaften dieser Länder näher an die europäische
Wertegemeinschaft heranzuführen. Es wurde zutreffend
festgestellt – auch ich denke das –: Das macht Russland
Sorgen. Allerdings erst dann, wenn diese Annäherung
erfolgreich gelungen ist, können wir irgendwann auch
über einen Beitritt sprechen; einen Automatismus dafür
gibt es nicht.
Die Republik Moldau spricht schon von einem Bei-
trittsantrag noch vor Jahresende. Die Ukraine hat als Ziel
dafür das Jahr 2020 angegeben. Auch das halte ich für
viel zu früh. Aber wir kommen damit der Sache etwas
näher. Momentan gehen die Reformbemühungen in der
Ukraine und in der Republik Moldau viel zu zögerlich
voran. Es stimmt natürlich: Die Parlamentswahlen haben
in der Republik Moldau und in der Ukraine für eine
kurze Zeit des politischen Leerlaufs gesorgt. Das erklärt
aber mitnichten, wieso zum Beispiel in der Ukraine die
Schaffung einer Antikorruptionsbehörde seit Monaten
verschleppt wird. Die chronischen Probleme im Men-
schenrechtsschutz bestehen fort; auch darauf wurde hin-
gewiesen. Kinderobdachlosigkeit, Menschenhandel,
häusliche Gewalt, Homophobie und die Diskriminierung
von Roma gehören weiterhin zum Alltag. Das alles sind
natürlich Probleme, die man nicht über Nacht lösen
kann. Allein, ich sehe noch nicht einmal den Willen,
diese Probleme zügig anzupacken.
Ende November konnte ich mir von der Lage in der
Republik Moldau als Wahlbeobachter bei den Parla-
mentswahlen ein eigenes Bild machen. Der Ausschluss
einer chancenreichen Partei, unabhängig davon, wie man
zu deren Inhalten steht, nur zwei Tage vor den Wahlen,
sodass ein rechtsstaatliches Prüfungsverfahren dieses
Ausschlusses lächerlich schien, war sicherlich kein
Lehrstück demokratischen Verständnisses.
Einzig Georgien legt ein einigermaßen zufriedenstel-
lendes Reformtempo vor. Korruptionsvorwürfen wird
dort wirksam nachgegangen. Die OSZE bestätigt deutli-
che Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Las-
sen Sie mich Folgendes erwähnen: Wenn vor kurzem
Verteidigungs-, Außen- und Europaminister mit viel
Brimborium zurückgetreten sind, so liegt bei näherer
Betrachtung der Hintergründe darin keinesfalls ein
Rückschritt des Landes auf dem Weg in die richtige
Richtung.
Die beiden anderen Partner sollten sich daran ein Bei-
spiel nehmen. Der ukrainische Ministerpräsident warb in
der vergangenen Woche bei seinem Besuch hier in
Deutschland um mehr Investitionen in sein Land. Da
sich jedoch mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Korrup-
tion abschreckend auf Investoren auswirken, wird dieses
Werben vermutlich ungehört verhallen, und das ist sehr
bedauerlich. Ähnlich verhält es sich mit der Republik
Moldau, die bei ausländischen Direktinvestitionen tradi-
tionell Schlusslicht in Europa ist. Auch hier ist man-
gelnde Korruptionsbekämpfung mit schuld an diesem
Zustand.
Ich bin deutlich für diese Abkommen. Fest steht aber:
Unsere neuen Assoziierungspartner, besonders Kiew
und Chisinau, müssen jetzt liefern – in ihrem eigenen In-
teresse und im Interesse einer erfolgreichen Assoziie-
rung.
Danke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De-batte.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 18/3693 , 18/3694 und18/3695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor-
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Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 15. Mai 2014 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung der Republik Polen über dieZusammenarbeit der Polizei-, Grenz- undZollbehördenDrucksache 18/3696Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAuch hier sind nach einer interfraktionellen Vereinba-rung für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazugibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derParlamentarische Staatssekretär Dr. Günter Krings dasWort.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die heutige Debatte hat eine Vorgeschichte vonetwas über vier Jahren und ist dennoch, wie ich finde,hochaktuell. Im Oktober 2010 trafen sich Thomas deMaizière in seiner ersten Amtszeit als Bundesinnen-minister und sein damaliger polnischer AmtskollegeJerzy Miller an der deutsch-polnischen Grenze bei Gör-litz auf polnischer Seite. Sie vereinbarten, den derzeitgeltenden bilateralen Polizeivertrag aus dem Jahr 2002fortzuentwickeln.Am 15. Mai des letzten Jahres haben am selben OrtMinister de Maizière und sein nunmehriger polnischerAmtskollege Sienkiewicz den neuen deutsch-polnischenPolizeivertrag unterzeichnet. Es gab und gibt zwei we-sentliche Gründe für die Neuverhandlung des bilateralenPolizeivertrages:Zum einen gab es und gibt es eine rechtliche Notwen-digkeit. Polen ist seit dem 1. Mai 2004 Mitglied der Eu-ropäischen Union, und aufgrund der seit Dezember 2007geltenden Schengen-Regelungen war es erforderlich ge-worden, das Abkommen von 2002 an den für beide Län-der gleichermaßen geltenden europäischen Rechtsrah-men anzupassen.Zum anderen gab es den beiderseitigen Wunsch, diegrenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit auchjenseits rechtlich zwingender Notwendigkeiten in derSache weiter zu verbessern. Die Ziele waren also nichtnur die rechtlich notwendige Anpassung, sondern auchdie Schaffung erweiterter Handlungsmöglichkeiten fürdie Polizei und den Zoll, um die Bevölkerung besser vorgrenzüberschreitender Kriminalität zu schützen – wieich meine, ein sehr wichtiges und richtiges Ziel.
Wir können heute sagen: Das ist uns mit dem neuenAbkommen auch gelungen. So können in Zukunft ge-meinsame Streifen paritätisch im Format eins zu eins be-setzt werden. Dabei wird den Beamten aus Polen undDeutschland die Möglichkeit eingeräumt, in dem jeweilsanderen Land auch hoheitliche Aufgaben auszuüben –ein wichtiger Schritt. Die Beamten aus dem jeweiligenNachbarstaat unterstehen dabei immer der Leitung einesBeamten des Gebietsstaates.Ermöglicht wird ebenfalls die Unterstellung von Be-amten, das heißt die Aufnahme in einen Polizeiverbanddes Nachbarstaates. Auch das ist ein Vorgang, den wirheute vielleicht für selbstverständlich erachten, der abervor 10 oder 20 Jahren im Verhältnis zu fast allen Nach-barstaaten noch unerhört gewesen wäre. Dies ist insbe-sondere im Falle der Unterstützung bei Großereignissenrelevant.Zudem werden die Möglichkeiten der Zusammenar-beit auch zu präventiven Zwecken erweitert. So sindkünftig Grenzübertritte zur Abwehr einer gegenwärtigenGefahr für Leib oder Leben und grenzüberschreitendeObservationen auch zu präventiven Zwecken möglich.Schließlich wird der Zoll stärker als bisher in dasneue Abkommen einbezogen. Die Zollbehörden werdenzum Beispiel im Rahmen der Verfolgung von Zoll- undVerbrauchsteuerstraftaten zusammenarbeiten können,um insbesondere den leider sehr stark verbreiteten Ziga-rettenschmuggel besser bekämpfen zu können. Das istnatürlich nur ein Beispiel von vielen Anwendungsberei-chen auf dem Gebiet des Zolls.Meine Damen und Herren, die erweiterten Hand-lungsmöglichkeiten für Polizei und Zoll sind angesichtsder bestehenden Herausforderungen, insbesondere inden Grenzregionen, unbedingt erforderlich. Ein Blick indie Statistik zeigt zwar, dass der mit der Aufhebung derGrenzkontrollen im Dezember 2007 befürchtete Anstiegder Gesamtkriminalität weitgehend ausgeblieben ist; je-denfalls waren die Befürchtungen damals größer als dietatsächliche Entwicklung, was nicht heißen soll, dass dietatsächliche Entwicklung nicht schon besorgniserregendgenug ist. Polen ist inzwischen selbst eher zu einemTransitland für andere östliche Staaten und dorther rüh-rende Kriminalität.Dennoch: Die Kriminalität in der Grenzregion bleibteine große Herausforderung, der wir uns natürlich stel-len müssen. Vor allen Dingen die Kfz-Kriminalität,Wohnungseinbruchsdiebstähle sowie die Diebstähle aufBaustellen, etwa von höher- und hochwertigen Arbeits-mitteln, sind in der Grenzregion zu Polen in den letztenJahren problematisch gewesen.Fest steht, dass Wohnungseinbruchsdiebstähle inDeutschland insgesamt weiter zunehmen. 2008 habenwir 108 284 Fälle registriert, 2013 bereits 149 500. Na-türlich gibt es bei diesen Deliktzahlen teilweise erhebli-che regionale Unterschiede, gerade in Brandenburg undSachsen ist in den vergangenen fünf Jahren ein deutli-cher Anstieg zu beobachten. Grund hierfür ist auch eine
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Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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neue Art der Tatausführung durch inzwischen internatio-nal vernetzte und sehr mobile Intensivtäter.Wir wissen alle, dass wir hier nicht nur über die Pro-bleme des materiellen Verlusts sprechen. Wir haben andieser Stelle schon einige Debatten zum Thema Woh-nungseinbruchsdiebstähle geführt. Es ist für viele vor al-lem eine psychische Belastung, wenn sie erleben, dass inihre Privatsphäre im wahrsten Sinne des Wortes einge-drungen wird. Es ist deshalb ein Phänomenbereich, dervon uns wirklich sehr ernst genommen werden muss; dasgeht über den eigentlichen ökonomischen Schaden hi-naus, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Vor diesem Hintergrund hat die Frühjahrsinnenminis-terkonferenz 2014 verstärkte Maßnahmen zur Bekämp-fung des Wohnungseinbruchsdiebstahls beschlossen. Sowerden wir zum Beispiel den länder- und staatenüber-greifenden Informationsaustausch sowie die Lageerhe-bung und Analyse verstärken, um somit die Grundlagefür die Einrichtung grenzüberschreitender Ermittlungs-kommissionen zu schaffen.Eine weitere Herausforderung stellt die voranschrei-tende Ausbreitung von kristallinem Methamphetamin– umgangssprachlich auch Crystal oder Crystal Meth ge-nannt – dar. Mit 3 847 Sicherstellungsfällen – 10 Prozentmehr im Vergleich zum Vorjahr – und einer Gesamt-menge von 77 Kilogramm wurden 2013 bundesweit er-neut Höchstwerte bei Crystal Meth registriert. Beunruhi-gend bei den Sicherstellungen sind vor allen Dingen diehohen jährlichen Zuwachsraten.Es handelt sich zwar – das zu betonen, ist wichtig –nach wie vor hauptsächlich um ein Problem im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Als Grundstoff für die Her-stellung dient allerdings nahezu ausnahmslos das inPolen derzeit noch in frei verfügbaren Erkältungsmittelnenthaltene Pseudoephedrin. Wir hoffen darauf, dass inPolen bald die erforderliche Gesetzesänderung zur Be-schränkung der Abgabe ephedrinhaltiger Medikamentebeschlossen wird. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Be-kämpfung dieser furchtbaren Droge, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.
Mit den erweiterten Handlungsmöglichkeiten fürPolizei und Zoll, die Gegenstand des neuen Abkommenssind, werden wir mehr Sicherheit für die Bürger, insbe-sondere in den Grenzregionen, erreichen. Die Bekämp-fung der Kriminalität in den Grenzregionen – wie natür-lich die Kriminalitätsbekämpfung allgemein – liegt inDeutschland selbstverständlich grundsätzlich in der Zu-ständigkeit der Länder. Daher haben die Länder den Wegzu diesem neuen Abkommen nicht nur eng mitverfolgt,sondern aktiv und intensiv mitgestaltet. Es ist deshalbgerade auch den Ländern ein besonderes Anliegen, dassdas neue Abkommen möglichst zügig in Kraft tritt, unddies ist selbstverständlich auch im Interesse der Bundes-regierung.Auf polnischer Seite – insofern gibt es da jetzt einegewisse Anreizwirkung – hat das Parlament dem Ab-kommen bereits zugestimmt. Der polnische Präsidenthat am vorletzten Tag des letzten Jahres das Vertrags-werk bereits unterzeichnet. Aus Sicht der Bundesregie-rung wäre es wünschenswert, wenn auch in Deutschlanddas innerstaatliche Verfahren weiterhin so zügig voran-getrieben werden könnte.Meine Damen und Herren, die grenzüberschreitendeZusammenarbeit von Polizei und Sicherheitsbehördenist in unserer Zeit wichtiger und dringender denn je. Dasgilt für die eben genannten Deliktsbereiche, die wir zumTeil, wie ich finde, fast irreführend als Alltagskriminali-tät bezeichnen; das sollte eigentlich nicht alltäglich sein.Aber natürlich gilt das auch in besonderer Weise für dieBekämpfung schwerster Kriminalität und die Bekämp-fung des international agierenden Terrorismus.Nicht nur die furchtbaren Vorfälle in der vergangenenWoche in Paris, sondern auch der Anschlag in Brüsselim vergangenen Jahr haben gezeigt, dass Gefahrenab-wehr wie Tataufklärung nicht mehr rein national erfol-gen können. Auch wenn der deutsch-polnische Grenz-raum sicherlich nicht den Schwerpunkt von Aktivitätenterroristischer oder gar islamistischer Gruppen bildet, soschließen wir mit dem hier heute zu behandelnden Ver-trag doch ein weiteres wichtiges Glied in der Kette derpolizeilichen Zusammenarbeit in Europa. Aus diesemGrunde bitte ich Sie sehr herzlich, dafür zu sorgen, dasswir diesen Vertrag möglichst zügig in geltendes deut-sches Recht überführen können.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Ulla Jelpke
von der Linken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieLinke hat überhaupt nichts dagegen, die Sicherheit derBürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen zu verbes-sern. Das gibt das Bundesinnenministerium ja als Ziel desneuen deutsch-polnischen Polizeiabkommens an. Wir ha-ben auch nichts dagegen, wenn die Polizisten aus Frank-furt/Oder enger mit den Kollegen aus dem benachbartenSlubice zusammenarbeiten. Aber ich werde doch sehrstutzig, wenn ich im Vertragstext lese – Zitat –:Grenzgebiete im Sinne dieses Abkommens sind… die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und der Freistaat Sachsen.Herr Staatssekretär, haben Sie sich einmal die Landkarteangesehen? Schwerin, Potsdam, Leipzig sind ein ganzesStück von der polnischen Grenze entfernt, und einenpolnisch-berlinischen Grenzübergang gibt es nicht.Aber nicht nur in geografischer Hinsicht ist der Ver-trag aus Sicht der Linken viel zu weitgehend. Zum Um-fang der polizeilichen Zusammenarbeit gehört nach denPlänen der Bundesregierung – dazu haben Sie nichts
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7680 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Ulla Jelpke
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gesagt – auch die Abwehr von Flüchtlingen. Das klingtsehr nach Frontex, wenn es dort heißt – ich zitiere –:Informationen über die Routen und das Ausmaß il-legaler Migration sowie über Migrationsphäno-mene …sollen ausgetauscht werden. Im Vertragstext wird dieFlüchtlingsproblematik im Übrigen mit allen möglichenVerbrechen auf eine Ebene gestellt: Diebstahl, Waffen-schmuggel, um nur einige zu nennen. Doch Flüchtlingesind kein kriminalistisches und polizeiliches Problem;sie sind eine humanitäre Herausforderung für uns alle.Das sollten wir endlich einmal begreifen.
Der Vertrag erleichtert den Einsatz von Polizisten bei-der Länder bei Großereignissen im jeweiligen Nachbar-land. Nun mag es bei internationalen Fußballspielensinnvoll sein, ein paar sprachkundige Polizisten aus demNachbarland dabeizuhaben. Das gibt es aber auch längstohne dieses Abkommen, über das wir heute diskutieren.Hier werden jetzt vielmehr zusätzliche hoheitliche Be-fugnisse eingeräumt. Das heißt, ausländische Polizistenerhalten das gleiche Recht zum Beispiel zum Schlag-stockeinsatz wie die inländischen. Dafür sehen wir über-haupt keinen legitimen Bedarf. Wollen Sie polnischePolizisten zum Beispiel zum 1. Mai nach Berlin holen,wenn hier demonstriert wird? Warum Sie Berlin zu ei-nem Grenzgebiet von Polen erklärt haben, müssen Siewirklich einmal erklären. Wir brauchen diese Art vonVerstärkung nicht und wollen sie auch nicht.Ein weiterer, höchst kritischer Punkt ist die Einbezie-hung des polnischen Inlandsgeheimdienstes ABW. Derist wie sein deutsches Pendant demokratisch weitgehendunkontrollierbar und neigt zu Rechtsbrüchen. Im vergan-genen Sommer hat der ABW zum Beispiel die Redak-tion einer polnischen Zeitung gestürmt. Er wollte Datenüber Informanten beschlagnahmen, die heikle Gesprächezwischen polnischen Spitzenpolitikern öffentlich ge-macht hatten. Von Pressefreiheit scheint der ABW offen-bar nicht viel zu halten.Und dieser Geheimdienst soll nun per Vertrag dasRecht bekommen, verdeckte Ermittlungen auch inDeutschland durchzuführen?
Wir haben damit sehr schlechte Erfahrungen gemacht.Ich will hier nur an den Fall des britischen PolizistenMark Kennedy erinnern, der jahrelang in der linkenSzene gespitzelt hat. Sicher, es gibt andere Phänomenbe-reiche, bei denen im Einzelfall durchaus eine verdeckteErmittlung sinnvoll sein kann – aber durch die Polizeiund nicht durch die Geheimdienste. Wenn dieser Praxishier eine Blankovollmacht erteilt werden soll, lehnen wirdas strikt ab.
Wir sehen generell nicht ein, wieso unsere Polizeibe-hörden so eng mit dem polnischen Inlandsgeheimdienstkooperieren sollen. Die Linke plädiert dafür, auch in die-sem Vertrag das Gebot der Trennung von Polizei undGeheimdiensten auf jeden Fall zu berücksichtigen.Unterm Strich halten wir fest: Die Bundesregierunghat bislang nicht überzeugend klargemacht, warum die-ses Abkommen überhaupt notwendig ist. Wir können Sienur auffordern, mit der polnischen Seite nachzuverhan-deln. Legen Sie dann einen Vertrag vor, der tatsächlichden Interessen der Bevölkerungen beider Länder ent-spricht – ohne Geheimdienste und ohne Flüchtlings-abwehr.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Wolfgang
Gunkel von der SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Staats-sekretär Dr. Krings hat ja schon recht ausführlich da-rüber berichtet, welche inhaltlichen Veränderungendieser Gesetzentwurf, welcher jetzt in Form eines Ab-kommens zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund Polen in Kraft treten soll, beinhaltet.Ich will zunächst etwas weiter zurückschauen als aufdas Jahr 2010, als dieser Prozess begann. Ich will zu-rückblicken auf das Jahr 2004, und zwar deshalb, weilich vor meiner Zeit als Abgeordneter für die Polizei-direktion Görlitz Verantwortung getragen habe. Sie heißtheute Görlitz, damals hieß sie Oberlausitz-Niederschle-sien, und sie umfasst die gesamte polnische Grenze vonBad Muskau über Görlitz bis Zittau. Polen trat 2004 derEuropäischen Union bei. Gleichzeitig damit fielen auchdie Kontrollen des Zolls direkt an der Grenze weg, waszunächst einmal bedeutet hatte, dass eine Sicherheits-kraft bei der Ausübung der Überwachung der Grenzefehlte. Das ist dadurch kompensiert worden, dass dieZöllner bewegliche Überwachungseinheiten gebildetund innerhalb der 30-Kilometer-Zone Überprüfungenvorgenommen haben. Es hat sich aber gezeigt, dass diesdirekt an der Grenze auch zu einigen Überwachungsver-lusten geführt hat.Hinzu trat drei Jahre später die Übernahme desSchengener Vertragswerkes durch Polen, sodass dieKontrollen der Bundespolizei, die Hand-in-Hand-Kon-trollen, die direkt an der Grenze durchgeführt wordensind, wegfielen. Damit wurde das möglich, was wirheute praktizieren: Es wurde ein grenzkontrollfreierRaum innerhalb Europas geschaffen, in dem sich jederfrei bewegen kann. Jeder hat das begrüßt. Jeder hat ge-sagt: Das ist hervorragend für die freiheitliche Entwick-lung in unseren europäischen Ländern.
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Wolfgang Gunkel
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Das hat natürlich auch – Staatssekretär Krings hat esschon gesagt – zu einigen Nachteilen geführt. Die Kri-minalität – da muss ich Ihnen leider widersprechen –stieg zunächst an. Der Bundesgrenzschutz und die Bun-despolizei haben bei Grenzkontrollen, die auch nur ab-gesetzt stattfinden konnten, mehr oder weniger illegaleGrenzübertritte feststellen können. Das hat sich aber imLaufe der Zeit – da gebe ich Ihnen recht – normalisiertund ist unter den damaligen Erwartungen geblieben. Ichglaube schon, dass dies eine ganz wichtige Erkenntniswar, weil parallel dazu die übrige Kriminalität im Grenz-gebiet in erheblichem Maße anstieg, was überwiegenddie Länderpolizeien betraf, in diesem Fall das LandSachsen. In Brandenburg war es ähnlich, jedoch von un-terschiedlicher Ausprägung. In Sachsen war es jeden-falls so, dass in verstärktem Maße Wohnungseinbrücheund Diebstähle von Kfz zu verzeichnen waren.Man hat auch feststellen können, dass sich sehr vielekriminelle Gruppen gebildet haben, wobei nicht nur diePolen die Taten begangen haben, wie immer behauptetwird, sondern es waren zu über 60 Prozent Deutsche da-ran beteiligt, und sie haben die Straftaten gemeinsamverübt. Weil dadurch die Bevölkerung empfindlich in ih-rer Sicherheit gestört wurde, war es notwendig, zu ver-einbaren, dass man neben der Zusammenarbeit zwischenden deutschen Behörden, also Bundespolizei, Landes-polizei und Zoll, auch die polnischen Behörden verstärktmit einbinden muss. Man kann nicht sagen, dass wir dasfrüher nicht schon gemacht hätten. Sie haben darauf hin-gewiesen, dass es gemeinsame Streifen und andereDinge schon vorher gab. Das ist auch richtig. Nur hattenwir einige Hindernisse zu überwinden. Darauf möchteich jetzt noch einmal zu sprechen kommen, weil es zeigt,weshalb ich diesen Vertrag für so wichtig halte.Erstens durften die Streifen, die das jeweils andereLand entsandt hatte, keine Waffen und anderen Ausrüs-tungsgegenstände mitführen. Man muss sich das so vor-stellen: Der eine Polizist läuft voll ausgerüstet Streife,und der andere läuft daneben. Man hätte auch sagen kön-nen: eine Lachnummer. Ich will es einmal freundlichausdrücken: Die Bevölkerung hat uns gesagt: Ach so,das ist ein Auszubildender, der läuft mit. – Als mehr ister nicht eingeschätzt worden. Das war natürlich für ihnsehr unschön. Er hat sich nicht wohlgefühlt und wurdesowohl auf deutscher wie auf polnischer Seite nicht fürvoll genommen. Das ist natürlich bitter. Die Folge war,dass man dazu überging, dies etwas einzugrenzen.Über die Autobahnpolizei wurde dies dann als ge-meinsame Ermittlungsgruppe aufgewertet, die gemein-sam tätig geworden ist und damit auch das genutzt hat,was schon angesprochen worden ist: beispielsweise dieSprachkenntnisse, wobei die polnischen Polizisten sehrviel besser Deutsch sprechen als die Deutschen Polnisch.Diese Art der gemeinsamen Streife ist nun in demAbkommen fixiert. Jeweils das Land, das die Führungder gemeinsamen Streife stellt, ist für ihre Durchführungverantwortlich – das gilt auch für die rechtlichen Ver-hältnisse –, sodass nicht jeder Polizist in dem anderenLand machen kann, was er will, sondern er sich an dierechtlichen Vorschriften des Landes halten muss, in demer tätig ist.Die Begleitung von Großereignissen ist hinzugetre-ten. Da ist ganz klar der Fußball zu nennen, Ereignissewie die Weltmeisterschaft und die Europameisterschaftund Ähnliches. Da hat sich insbesondere 2006 beim Ein-satz niederländischer Beamter in Nordrhein-Westfalengezeigt, wie wichtig eine solche Zusammenarbeit seinkann. Diese Beamten können dann nicht einschreiten,wie sie wollen; derjenige, der den Einsatz führt, hat dieRechte festzulegen und zu entscheiden, ob Zwangsmitteloder irgendwelche Einsatzmittel angewendet werden.Das heißt, derjenige, der jeweils im Gastland tätig ist,handelt nicht auf eigene Rechnung, sondern nach demRecht des Gastlandes und nach der Weisung des Betref-fenden.
– So ist es. Ich komme nachher auf die verdeckten Er-mittlungen zu sprechen. Auch da ist das so. Da könnenGeheimdienste nicht irgendetwas machen, sondern esmuss vorher angemeldet werden, genehmigt werden,und dann wird es in gemeinsamer Arbeit mit dem betref-fenden Land abgewickelt.
– Wenn Sie Misstrauen hegen: bitte schön! Ich sage mal:Die Kontrolle ist gewährleistet. Ich sehe da keine Ge-fährdungen.
Auch Polizeibeamte nehmen verdeckte Ermittlungenvor. Sie sind schon bei uns sehr schwer durchzusetzen,weil es dort immer rechtliche Grenzen gibt. Aber wennman gemeinsam mit den polnischen Behörden hier inDeutschland unter deutscher Aufsicht agiert, sehe ichkeine Gefahr, dass da schwere rechtswidrige Taten be-gangen werden.Ein weiterer Punkt, der wichtig ist – das war für michimmer wieder bezeichnend –, ist die sogenannte polizei-liche Nacheile. Für Leute, die jetzt nicht wissen, was dasim Einzelnen heißt: Das ist die Strafverfolgung auf fri-scher Tat. Wenn die Verfolgung über die Grenze hinwegging, dann fielen bestimmte Rechte weg, die man sonstals Polizeibeamter hat, nämlich die der vorläufigen Fest-nahme und des Einsatzes anderer Zwangsmittel. Auchdas wird jetzt mit dem Abkommen geregelt, in dem ganzgenau festgelegt ist, dass derjenige, der sich auf einerVerfolgung befindet, nunmehr in das jeweilige Land hin-eindarf und die Maßnahmen alleine durchführen kann,es sei denn, dass durch die Information der zuständigenBehörde andere Beamte hinzutreten – dann muss mansich wieder an die Regeln des Gastlandes halten und ent-sprechend verfahren.Ich möchte hervorheben, dass das Abkommen im Zu-sammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung zu sehen
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Wolfgang Gunkel
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ist. Sie haben vorhin insbesondere die organisierte Kri-minalität angesprochen. An diesem Punkt erlangt dasAbkommen dadurch Bedeutung, dass man nun gemein-same operative Ermittlungsgruppen bilden kann. WennVerfahren parallel geführt werden, können die Ergeb-nisse jetzt zusammengeführt werden. Es kann sein, dassauf polnischer oder auf deutscher Seite bestimmte Er-mittlungsergebnisse vorliegen, die man vorher nicht ab-gleichen konnte. Jetzt kann man dies in gemeinsamenGruppen zusammen abarbeiten. Das finde ich hervorra-gend.Im Zusammenhang mit dem Informationsaustauschist jetzt hinzugekommen, dass eine ganze Palette von In-formationen der jeweils anderen Seite zugespielt wird.Dazu gehören Informationen zu Ordnungswidrigkeitenund anderen Strafsachen, die bisher nicht bekannt waren.Sie werden dann an die jeweils zuständigen Stellen über-mittelt.Ein wesentlicher Punkt ist das Gemeinsame Zentrum,das nun in der polnischen Stadt bei Frankfurt an derOder angesiedelt wird. Dort werden alle entsprechendenBehörden – Zollbehörden, Grenzbehörden und Polizei-behörden – zusammenarbeiten, um Informationen zusammeln und zu verteilen. In diesem Zusammenhang istnatürlich besonders wichtig, dass dies bei grenzüber-schreitender Kriminalität auch in Bezug auf Erkennt-nisse zum Terrorismus erfolgt. Das wird dann an die ein-zelnen Stellen weitergeleitet.Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt anspre-chen. Es ist natürlich so, dass man nur dann polizeilichzusammenarbeiten kann, wenn Polizeikräfte da sind. DerBürgermeister eines Grenzortes hat einmal gesagt: Wasnutzt uns dieses Abkommen, wenn keine Polizisten vor-handen sind? – Da muss man an die Länder appellieren,in diesem Bereich nicht zu viele Kräfte abzubauen. Aberauch der Bund sollte sich noch einmal überlegen, inwie-weit gerade in diesem Bereich die Bundespolizei kräfte-mäßig ausgedünnt werden soll.Es ist meine feste Überzeugung, dass wir mit diesemAbkommen eine gute Entwicklung in Gang setzen. DieZusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen wirdein Erfolg für die innere Sicherheit sein.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Als nächste Rednerin hat Irene
Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Europa ist nicht nur ein Wirtschafts-raum, sondern auch ein Raum der Sicherheit, des Rechtsund der Freiheit. Diese Freiheit zu bewahren, ist aucheine Aufgabe der Sicherheitsbehörden; denn natürlichkönnen Konflikte und Kriminalität Ländergrenzen aucheinmal überschreiten.Eine schnelle und effiziente Zusammenarbeit vonNachbarländern ist deswegen zum Schutz der Bürgerin-nen und Bürger vom Grundsatz her unerlässlich. Des-halb ist dieses Abkommen nicht nur ein wichtiger Bau-stein, sondern auch ein längst überfälliger Schritt.
Denn der bisherige Polizeivertrag zwischen Deutschlandund Polen stammt aus dem Jahr 2002. Er hat also einerdringenden Überarbeitung bedurft, weil er aus einer Zeitstammt, in der Polen weder Mitglied in der Europäi-schen Union war noch an den Schengen-Regelungenteilgenommen hat.Das gemeinsame Abkommen kann auf einer solidenBasis aufbauen. Seit 2007 existiert das GemeinsameZentrum der deutsch-polnischen Polizei- und Zollzu-sammenarbeit in Schwetig. Den Kolleginnen und Kolle-gen, die hier unermüdlich im Einsatz sind, möchte ich andieser Stelle ganz ausdrücklich für ihre Arbeit danken.
Das Zentrum hilft dabei, grenzüberschreitende Opera-tionen durchzuführen, Ressourcen zu bündeln, Sprach-barrieren zu überwinden sowie die Aufgabenerfüllunginsgesamt viel effektiver zu gestalten. Allein schon dasWissen um Ansprechpartner bei den Nachbarn erleich-tert Prozesse, die ansonsten sehr langwierig wären. Vorallem die gemeinsamen deutsch-polnischen Streifen-dienste – die bereits mehrfach angesprochen wurden –sind ein greifbares und sichtbares Symbol. Bei aller Ko-operation ist es aber unerlässlich, dass die Verfahrens-garantien für Verdächtige in beiden Ländern umfassendgewahrt bleiben.
Natürlich gibt es bei der Zusammenarbeit auch Pro-bleme: Wir haben es schließlich mit unterschiedlichenStrukturen im Staatsaufbau zu tun, mit verschiedenenSprachen und auch mit unabhängigen Rechtsordnungen.Während zum Beispiel das Fahren ohne Fahrerlaubnisbei uns eine Straftat ist, ist es in Polen nur eine Ord-nungswidrigkeit. Das nun auch bestimmte Ordnungs-widrigkeiten in dem neuen Polizeivertrag erfasst sind, istdeswegen auf jeden Fall positiv.Ich habe mich aber genauso wie Frau Jelpke darübergewundert, wie es sein kann, dass zum Grenzgebiet auf-seiten der Bundesrepublik Deutschland die Länder Ber-lin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sach-sen in ihrer Gänze gehören sollen. Das erscheint mirräumlich doch eine ziemliche Ausdehnung des Begriffs„Grenzgebiet“ zu sein.
Abkommen und institutionelle Zusammenarbeit blei-ben eine leblose Hülle, wenn man dabei die Bürgerinnenund Bürger nicht mitnimmt. Deswegen muss man sich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015 7683
Irene Mihalic
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der Polemik gegenüber vermeintlich massenhaft auftre-tenden Straftätern aus Polen ganz klar entgegenstellen;denn Kriminalität funktioniert nun einmal in beide Rich-tungen. Allein die Feststellung, dass es einen Anstieg anDiebstählen von Kraftfahrzeugen, Landmaschinen undFahrrädern im Grenzgebiet gibt, bedeutet doch nochlange nicht, dass alle Täter aus dem Nachbarland kom-men.
Im Übrigen kommt es auf polnischer Seite auch zu Straf-taten durch Deutsche. Kriminelle Täterbanden in der Re-gion setzen sich oft aus Deutschen, Polen und Litauernzusammen. Der klauende Pole ist und bleibt ein plattesKlischee.
Es ist wichtig, dass es bei dem Abkommen über diePolizeizusammenarbeit nicht nur bei guten Absichtenbleibt. Die deutsch-polnische Zusammenarbeit mussauch durch ausreichende Stellen und Mittel abgesichertwerden; denn schon jetzt gehen die Beamtinnen und Be-amten in diesem Gemeinsamen Zentrum an ihre Belas-tungsgrenzen. An technischer Ausstattung mangelt eszum Teil ebenfalls erheblich. Die Landespolizeibehör-den dürfen sich hier nicht aus ihrer Verantwortung steh-len, aber sie sind an den Grenzen nun einmal auf dieUnterstützung der Bundespolizei angewiesen. Anstattdie Bundespolizei also mit sachfremden Aufgaben wiemit der Bewachung der Goldreserven zu betrauen, soll-ten wir sie doch lieber in ihrem Kerngeschäft stärken.
Ein Punkt ist mir noch sehr wichtig. Polizeiliche Ein-sätze an den Grenzen dürfen nicht dazu führen, dass dieSchengen-Regeln ausgehebelt werden und dass ver-kappte Grenzkontrollen durch die Hintertür eingeführtwerden. Kontrolliert werden darf nur verdachtsabhängig.Alles andere bricht das Recht und den Geist Schengens.Es gibt in diesem Abkommen auch noch ein paar an-dere fragwürdige Vereinbarungen. Diese sind ja hierschon verschiedentlich angesprochen worden. Daherwäre es natürlich gut gewesen, wenn das Abkommennoch nicht unterzeichnet und wenn der Bundestag beider Erarbeitung irgendwie beteiligt worden wäre.In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-samkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Günter
Baumann von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen konn-ten wir den 25. Jahrestag der friedlichen Revolution inder ehemaligen DDR und des Falls der Mauer begehen.Dieses Ereignis war 1989 der Beginn für umfangreichepolitische Veränderungen in Europa. Damit war auch einschrittweiser Abbau von Grenzen verbunden. OffeneGrenzen zu Tschechien und Polen sind ein wichtigerSchritt der Aufarbeitung einer teilweise sehr leidvollenGeschichte der Völker. Offene Grenzen sind aber auchentscheidend für eine bessere Entwicklung auf den Ge-bieten von Wirtschaft und Tourismus.Meine Damen und Herren, der Zugewinn an Freiheitbrachte uns aber leider auch einen Anstieg an grenz-übergreifender Kriminalität, insbesondere organisierterKriminalität. Beispiele wurden hier bereits genannt:Wohnungseinbrüche, Autodiebstähle, Diebstähle vonBuntmetall und Traktoren, der Diebstahl einer ganzenTierherde, Diebstähle aus Unternehmen, die oft zu gro-ßen Verärgerungen führen. Von der Insel Usedom überFrankfurt/Oder bis in die Lausitz und ins Erzgebirge gibtes überall dieselben Probleme.Gestatten Sie mir, um die Dimension einmal deutlichzu machen, zwei Fälle aus den letzten Tagen aufzufüh-ren:Am letzten Sonntag wurden in der Nähe vonGreifswald aus einer Garage vier Traktoren, eine Stroh-ballenpresse und ein Güllewagen im Gesamtwert von560 000 Euro gestohlen. Das ist eine bemerkenswerteDimension. Die Fahrzeuge wurden am helllichten Sonn-tag über die Insel Usedom Richtung Polen gefahren. Dasfiel einem Bürger auf, der die Polizei benachrichtigt hat.Mithilfe der polnischen Kollegen konnten auf polni-schem Gebiet im Terminal des Hafens von Swinemündedie Traktoren gefunden und sichergestellt werden.Ein zweiter Fall hat sich am letzten Wochenende inDresden ereignet, wo Fahnder in einem Kleintransporterimmerhin 2 Kilogramm Crystal gefunden haben. Wert:100 000 Euro.Das ist organisierte, grenzübergreifende Kriminalität.Die Bürger in den Grenzregionen sind mit Recht besorgt,verärgert, verunsichert und verlangen natürlich, dass derStaat handelt. Der Staat muss handeln. Die Grenzen zuschließen, wie es manche Politiker fordern, oder Bürger-wehren, wie sie sich in manchen Orten gebildet haben,sind absolut keine Lösungen. Dem erteilen wir eine klareAbsage.
Der Staat, der das Gewaltmonopol in seinen Händenhat, muss es behalten und die Kriminalität mit allen Mit-teln bekämpfen. Dem Bürger ist es vollkommen egal,wer für Ordnung sorgt: ob die Landespolizei, die Bun-despolizei oder der Zoll. Er will einfach sicher leben. Eswurde bereits gesagt: Wir brauchen eine gut ausgestat-tete Polizei, wir brauchen eine zahlenmäßig starke Poli-zei, und wir brauchen – darüber reden wir heute – einePolizei, die über Ländergrenzen hinweg agieren kann.
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7684 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 80. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Januar 2015
Günter Baumann
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Deutschland hat mit allen Nachbarstaaten bilateraleAbkommen geschlossen. Heute debattieren wir in ersterLesung über ein Abkommen mit Polen. Wir haben be-reits einen Polizeivertrag, der auch funktioniert. Wolfgang,ich habe gestern mit deinem Nachfolger gesprochen,dem Polizeipräsidenten der Polizeidirektion Görlitz. Erhat erzählt, was bisher funktioniert. Aber man kommt angewisse Grenzen. Deshalb brauchen wir einen neuenVertrag, mit dem wir einen Schritt weitergehen.Der Staatssekretär sprach bereits die Gründe an, wa-rum ein neuer Vertrag erforderlich ist. Das hat zum einenmit veränderten europäischen Rahmenbedingungen zutun, die wir hier beachten müssen: der Öffnung der EU-Grenzen zu Polen, dem Beitritt zum Schengener Ab-kommen. Das Zweite ist: Wir wollen – das ist in demneuen Vertrag geregelt – einen größeren Handlungsspiel-raum. Es sind bereits Beispiele genannt worden. Ichmöchte Ihnen diese ersparen.Frau Jelpke, warum die Länder? Es sind eben dieBundes- und die Landespolizeien, die einbezogen sind.Im Freistaat Sachsen haben wir über 700 Kilometer Au-ßengrenzen, sodass die Landespolizei an allen Stellengefordert ist. Deswegen gilt der Vertrag für die Landes-polizeien, die Bundespolizei und den Zoll.Entscheidend ist, dass wir die Arbeitsbedingungenderjenigen, die für unsere Sicherheit zuständig sind, ver-bessern. Wir müssen ihnen mehr Spielraum geben unddafür sorgen, dass noch enger zusammengearbeitet wird.Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass die jeweils Ver-antwortlichen auf dem Nachbargebiet hoheitliche Auf-gaben verrichten können, was ganz entscheidend ist.Wir haben mit dem Vertrag mit Polen eine Regelunggeschaffen. Wichtig ist aber auch, dass wir in den nächs-ten Tagen, spätestens in den nächsten Wochen, über dengleichen Vertrag mit Tschechien verhandeln. Der hierbestehende Vertrag ist nämlich genauso alt und muss da-her auf den Prüfstrand. Da sich auch in Bezug auf Tsche-chien die Bedingungen verändert haben, brauchen wirauch hier andere Regelungen.Der Vertragsentwurf, den wir heute beraten, signali-siert unseren Bürgerinnen und Bürgern, dass wir fürmehr Sicherheit sorgen, und er ist eine ganz klareKampfansage an die großen und kleinen Ganoven aufbeiden Seiten der Grenze.Ich möchte die Gelegenheit nutzen und mich ganzherzlich bei den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamtenvon Bund und Ländern sowie bei den Zollbeamtinnenund Zollbeamten für ihren täglichen, engagierten, oftauch sehr gefährlichen Einsatz bedanken. Sie tun ihrenDienst für unsere Sicherheit. Dafür einen ganz herzli-chen Dank.
Da ich der letzte Redner in dieser Debatte sein darf,habe ich Ihnen allen ein Geschenk mitgebracht: Ichmöchte Ihnen zwei Minuten Zeit schenken.Danke.
Vielen Dank, für das Geschenk, Herr Kollege. An ei-
nem Freitagnachmittag ist das sehr willkommen.
Ich schließe die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3696 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Diana Golze, Jan Korte, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von
Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder
Drucksache 18/2884
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2884 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf Mittwoch, den 28. Januar 2015, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.