Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten, möchte ich zunächst dem Kol-
legen Roland Claus zu seinem heutigen 60. Geburtstag
gratulieren und ebenso der Kollegin Maria Michalk, die
am 6. Dezember ihren 65. Geburtstag gefeiert hat. Alle
guten Wünsche im Namen des ganzen Hauses!
Wir müssen noch eine Wahl von Vertretern der Bun-
desrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates durchführen. Die SPD-
Fraktion schlägt vor, für den Kollegen Dr. Karamba
Diaby den Kollegen Dr. Rolf Mützenich als persönli-
ches stellvertretendes Mitglied der Kollegin Doris
Barnett sowie den Kollegen Johann Saathoff als per-
sönliches stellvertretendes Mitglied der Kollegin Dr. Ute
Finckh-Krämer zu berufen. Darf ich hierzu Ihr Einver-
ständnis voraussetzen? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind der Kollege Dr. Mützenich und der Kollege
Saathoff als persönliche stellvertretende Mitglieder in
diese Parlamentarische Versammlung gewählt.
Wir müssen auch noch eine Schriftführerwahl
durchführen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den Kol-
legen Burkhard Blienert die Kollegin Gülistan Yüksel
als Schriftführerin zu wählen. Sind Sie auch damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Schließlich ist interfraktionell vereinbart worden, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Folter durch die USA und ihre Folgen für den
weltweiten Kampf um Menschenrechte
ZP 2 Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Finanzhilfen zugunsten Griechenlands; tech-
nische Verlängerung und Fortführung der
Stabilitätshilfe
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes auf Verlängerung
der bestehenden Finanzhilfefazilität sowie
nach § 4 Absatz 1 Nummer 1 des ESM-Finan-
zierungsgesetzes, der Hellenischen Republik
nach Artikel 13 Absatz 2 des ESM-Vertrages
grundsätzlich vorsorgliche Finanzhilfe zu ge-
währen
Drucksache 18/3532
ZP 3 Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Tierzucht- und Abstammungsbestimmun-
gen für den Handel mit Zuchttieren und de-
ren Zuchtmaterial in der Union sowie für die
Einfuhr derselben in die Union
KOM(2014) 5 endg.
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kennzeichnung von Zuchttieren und -mate-
rialien mit Klonabstammung im EU-Tier-
zuchtrecht verankern
Drucksache 18/3557
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Pe-
titionsausschusses
Sammelübersicht 134 zu Petitionen
Drucksache 18/3568
7194 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
Drucksache 18/3569
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 136 zu Petitionen
Drucksache 18/3570
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 137 zu Petitionen
Drucksache 18/3571
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
Drucksache 18/3572
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur breiten
Kritik unter anderem der EU-Kommission an
der Einführung einer Infrastrukturabgabe in
Deutschland
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan
2014
einschließlich einer
Zwischenbilanz des Afghanistan-Engagements
Drucksache 18/3270
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 4 – hier geht es um den
Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ – und 25 – Bau-
kulturbericht 2014/15 – werden abgesetzt.
Anstelle des Tagesordnungspunktes 4 soll der Antrag
des Bundesministeriums der Finanzen mit dem Titel „Fi-
nanzhilfen zugunsten Griechenlands; technische Verlän-
gerung und Fortführung der Stabilitätshilfe“ auf der
Drucksache 18/3532 mit einer Debattenzeit von 60 Mi-
nuten aufgerufen und über ihn abgestimmt werden.
Die Debattendauer der Tagesordnungspunkte 22 und 23
– das betrifft dann die morgige Tagesordnung – soll je-
weils 60 Minuten und die Beratungszeit der Tagesord-
nungspunkte 24 und 26 jeweils 25 Minuten betragen.
Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan-
den? – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Re-
gierungserklärung aufrufe, möchte ich Sie bitten, sich
von Ihren Plätzen zu erheben.
Wir trauern um unseren Kollegen Dr. Andreas
Schockenhoff, der am vergangenen Wochenende mitten
aus dem Leben gerissen worden ist. Sein plötzlicher Tod
hat uns alle erschüttert. Andreas Schockenhoff war
24 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages, ein
politischer Weggefährte und vielen ein persönlicher
Freund, auch über die eigene Fraktion hinaus.
Über sich selbst hat er einmal gesagt: „Politik klärt
nicht die letzten Fragen des Lebens. Sie darf Fehler ma-
chen, wenn sie zu Einsicht und Umkehr bereit ist. Mein
Glaube gibt mir Kraft und Orientierung.“ Vielleicht er-
klärt sich aus dieser Einstellung seine innere Kraft auch
in persönlichen Krisensituationen und der starke Rück-
halt, den ihm die Menschen aus seinem Wahlkreis Ra-
vensburg gaben, die ihn seit 1990 stets mit einem Direkt-
mandat in den Deutschen Bundestag gewählt haben. Seit
2005 war Andreas Schockenhoff stellvertretender Vor-
sitzender der CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause.
Andreas Schockenhoff war ein leidenschaftlicher Au-
ßenpolitiker, dessen Interessen sowohl den westlichen
wie den östlichen Partnern Deutschlands galten und der
nicht auf einem Auge blind war, wenn die Wirklichkeit
den eigenen Wunschvorstellungen nicht entsprach. Das
fand seinen Niederschlag insbesondere in seinem he-
rausragenden Engagement als Vorsitzender der deutsch-
französischen Parlamentariergruppe, die er 20 Jahre lang
geführt und geprägt hat. Ich habe in den letzten Tagen
sehr persönliche Briefe und Anrufe vom amtierenden
wie vom früheren Präsidenten der Assemblée nationale
erhalten, vom französischen Botschafter hier in Berlin,
von Weggefährten und Mitgliedern des französischen
Parlaments, die die große Wertschätzung zum Ausdruck
bringen, die er bei unseren französischen Freunden ge-
nossen hat, und die Betroffenheit deutlich machen, die
unsere französischen Kolleginnen und Kollegen mit uns
teilen. Ich möchte mich dafür herzlich bedanken.
Sein nüchterner Blick für Wünsche und Wirklichkei-
ten prägte auch die Art und Weise, wie er das Amt des
Beauftragten für die deutsch-russische zwischengesell-
schaftliche Zusammenarbeit ausübte. Seine frühen Hin-
weise auf demokratische und rechtsstaatliche Defizite in
Russland wurden weder hier noch dort überall gerne ge-
hört. Die Entwicklung Russlands zeigt leider, wie zutref-
fend seine Beobachtungen und wie berechtigt seine War-
nungen gewesen sind.
„Andreas Schockenhoff war ein Unbeugsamer und
dabei vielleicht verletzlicher, als ein Mensch des öffent-
lichen Lebens zugeben darf“, hat eine Kollegin, die ihn
gut kannte, in diesen Tagen in einem Nachruf geschrie-
ben. Ihm gebühren unser Respekt und unsere Dank-
barkeit für alles, was er in diesem Haus, für dieses
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7195
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Parlament, für die Demokratie und für die Völkerver-
ständigung über viele Jahre hinweg geleistet hat.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seinen Kindern und allen Angehörigen spreche ich
im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am vergangenen
Wochenende ist auch Ernst Albrecht gestorben. Er ge-
hörte über Jahrzehnte hinweg zu den herausragenden
Persönlichkeiten der bundesdeutschen Politik und war
ein leidenschaftlicher Demokrat. Als Ministerpräsident,
der länger als alle seine Vorgänger und Nachfolger Nie-
dersachsen regierte, hat er dieses Bundesland geprägt.
Dies fand Anerkennung weit über die Parteigrenzen hin-
weg. Ernst Albrecht war ein Landesvater im besten
Wortsinn. Er war grundsatzfest, zukunftsoffen, heimat-
verbunden und weltläufig zugleich. Seine Entscheidung,
vietnamesischen Bootsflüchtlingen in Niedersachsen
eine neue Zukunftsperspektive zu bieten, wird in beson-
derer Erinnerung bleiben. Sie war mehr als ein rhetori-
sches Signal der Humanität. Mit seinen Impulsen und
Entscheidungen hat er die Landes- wie die Bundespolitik
mitgestaltet.
Wir haben Ernst Albrecht viel zu verdanken. Er wird
unvergessen bleiben.
Seinen Kindern und allen Angehörigen sprechen wir
unsere Anteilnahme aus. Stellvertretend will ich das Ih-
nen gegenüber, liebe Frau von der Leyen, tun.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 18./19. Dezember
2014 in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das Jahr 2014 war ein Jahr
des Gedenkens an schreckliche und glückliche Momente
in der deutschen und europäischen Geschichte. Wir ha-
ben uns an den Ausbruch der beiden Weltkriege und ihre
furchtbaren Folgen erinnert, aber eben auch an den Fall
der Berliner Mauer vor 25 Jahren als Symbol für die
friedliche Überwindung der Teilung Deutschlands und
Europas. Jeder, der gesehen hat, wie am Abend die Bal-
lons entlang der früheren Berliner Grenze aufgestiegen
sind, wird diesen Moment so schnell nicht vergessen.
Welch großes Glück die europäische Einigung ist, das
dürfen wir vor dem Hintergrund der Geschichte Europas
wie auch vor dem Hintergrund aktueller Krisen und
Kriege niemals vergessen. Mir ist das gestern noch ein-
mal bewusst geworden, als ich in einer Videoschaltung
mit sechs Standorten verbunden war, an denen Soldatin-
nen und Soldaten der Bundeswehr sowie Polizistinnen
und Polizisten Dienst tun, überall auf der Welt. Dabei
war ganz offensichtlich, dass wir in Europa großes
Glück haben.
Frieden, Freiheit und Wohlstand sind alles andere als
selbstverständlich. Stets aufs Neue müssen wir für sie
eintreten. Wir müssen unsere Werte schützen und vertei-
digen. Deshalb werden wir auch beim letzten Europäi-
schen Rat in diesem Jahr wieder über die Lage in der
Ukraine sprechen.
Das Ende des Kalten Krieges hat es ja vor 25 Jahren
den Staaten Mittel- und Osteuropas ermöglicht, selbstbe-
stimmt ihren eigenen Weg zu gehen. Wenn wir heute zu-
ließen, dass diese Selbstbestimmung wieder aufgegeben
werden könnte, dann würde das nichts anderes bedeuten
als eine erneute Einteilung Europas in Einflusssphären,
ja, eine Spaltung Europas. Das wäre ein erheblicher
Rückschritt für die Ukraine, aber es wäre eben auch ein
erheblicher Rückschritt für die europäische Sicherheit
und für Europa insgesamt. Deshalb können wir das nicht
zulassen, und deshalb werden wir das auch nicht zulas-
sen.
Das Miteinander in Europa ist auf Partnerschaft, auf
Recht und auf Respekt gegründet, eben nicht auf Ein-
flusssphären. Die Prinzipien Partnerschaft, Recht und
Respekt wollen wir auch im Verhältnis zu Russland wah-
ren, und wir werden alles daransetzen, dass sie auch im
Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine zum Tra-
gen kommen; denn das Ziel unseres Handelns ist und
bleibt eine souveräne und territorial unversehrte
Ukraine, die über ihre eigene Zukunft selbst entscheiden
kann.
Wir haben in diesem Jahr erfahren, dass dies Geduld und
einen langen Atem braucht. Militärisch ist dieser Kon-
flikt nicht zu lösen.
Unser Handeln setzt deshalb erstens darauf, die
Ukraine weiter zu unterstützen, politisch wie wirtschaft-
lich. Dabei erwarten wir nach den Wahlen nun auch von
der Ukraine entschiedene Schritte zur Modernisierung
der Wirtschaft, zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und
zur Bekämpfung der Korruption.
Gerade jetzt im Winter geht es aber nicht zuletzt auch
darum, die humanitäre Hilfe zu verstärken. Der Ukraine
muss es ermöglicht werden, eigene Hilfslieferungen
ohne Gefahr auch in die von den Separatisten kontrol-
lierten Gebiete im Osten des Landes zu bringen.
7196 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
Zweitens suchen wir unverändert und unvermindert
den Dialog mit Russland. So haben der französische Prä-
sident François Hollande, der ukrainische Präsident
Petro Poroschenko, der russische Präsident Wladimir
Putin und ich vorgestern in einem gemeinsamen Telefo-
nat die Bedeutung eines umfassenden Waffenstillstands
noch einmal betont, eines Waffenstillstands, wie er ja be-
reits im Minsker Abkommen vom September vorgese-
hen ist. Um hierbei endlich Fortschritte zu erzielen, set-
zen wir jetzt auf ein rasches Treffen der Kontaktgruppe
aus Russland, der Ukraine sowie der OSZE.
Das Ziel unseres Handelns ist und bleibt die Durch-
setzung der Stärke des Rechts gegen das vermeintliche
Recht eines Stärkeren. Das Ziel ist und bleibt: europäische
Sicherheit gemeinsam mit Russland, nicht gegen Russ-
land. Wir wollen die Kontakte zwischen unseren Gesell-
schaften weiter vertiefen. Gerade Andreas Schockenhoff,
um den wir heute trauern, hat dies immer wieder getan
und versucht. Wir wollen uns gemeinsam den Herausfor-
derungen für die internationale Sicherheit stellen, von
denen es wahrlich genug gibt. Doch allein können wir
diesen Weg nicht beschreiten. Es kommt auf Russland
an, darauf, ob es unser Angebot des Dialogs auf der
Grundlage der Werte der europäischen Friedensordnung
aufgreift.
Solange wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben,
bleibt drittens, dass auch Sanktionen weiterhin unver-
meidlich sind. Ich will jedoch noch einmal betonen:
Selbstzweck waren sie nicht und sind sie nicht.
Meine Damen und Herren, das Jahr 2014 war auch
das Jahr der Europawahlen, die im Mai stattfanden. Sie
haben eins gezeigt, nämlich dass die Menschen von der
Europäischen Union nicht erwarten, dass sich die Euro-
päische Union für alles zuständig fühlt. Vielmehr haben
sie ein klares Signal gegeben, dass sich die Europäische
Union auf das Wesentliche, auf die großen Zukunftsfra-
gen konzentrieren möge, die ein Land allein in dieser
globalen Vernetzung nicht mehr bewältigen kann. Des-
halb ist es von so großer Bedeutung, dass der Europäi-
sche Rat im Juni erstmals eine strategische Agenda für
die nächsten fünf Jahre beschlossen hat – gemeinsam mit
der Kommission, in großer Übereinstimmung mit dem
Europäischen Parlament. Diese strategische Agenda
setzt genau dieses Signal. Die große Herausforderung
der kommenden Monate und Jahre bleibt, Europa zu
neuer und vor allem auch wirtschaftlicher Stärke zu füh-
ren. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und
die europäischen Institutionen werden dies nur gemein-
sam, also mit vereinter Kraft, erreichen.
Vor sechs Jahren nahm die weltweite Finanzkrise in
den USA ihren Anfang. Ihr folgte kurz darauf mit der
europäischen Staatsschuldenkrise die schwerste Krise
Europas in unserer Generation. Wir haben diese Krise im
Griff, aber wir haben sie eben nicht endgültig überwun-
den. Es ist so, wie ich es wieder und wieder gesagt habe:
Es gibt keine schnellen und es gibt keine einfachen Lö-
sungen. Es gibt auch nicht den einen Paukenschlag, der
all diese Probleme über Nacht und auf Dauer aus der
Welt schaffen würde. Die Überwindung dieser Krise
geht nur Schritt für Schritt. Vor allem gelingt dies nur
dadurch, dass wir die Ursachen bekämpfen. Man kann
sagen, dass wir auf diesem Weg schon viel geschafft ha-
ben.
Wir haben einen dauerhaften Krisenbewältigungsme-
chanismus eingerichtet, mit dem wir Gefahren für die
ganze Euro-Zone künftig viel besser abwenden können.
Es gilt dabei die Regel, die ich für absolut richtig halte:
keine Leistung ohne Gegenleistung. Anders gesagt: Wer
die gemeinsam verabredeten Reformschritte umsetzt,
kann in Europa, jedenfalls im Euro-Raum, auf die Soli-
darität aller bauen. Damit helfen wir den von der Krise
betroffenen Mitgliedstaaten, und wir helfen uns selber,
nämlich der Euro-Zone als Ganzes.
Wir haben die wirtschafts- und haushaltspolitische
Überwachung einschließlich des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts gestärkt – im Übrigen in langen und vielen
Diskussion. Wir haben den Fiskalvertrag beschlossen,
um die Grundlage für dauerhaftes Vertrauen in die Euro-
Zone wiederherzustellen. Wir haben seit November in
Europa eine gemeinsame Bankenaufsicht. Wir haben die
Situation, dass zum Jahresanfang 2015 die gemeinsame
Bankenabwicklungsbehörde ihre Arbeit aufnimmt. Der
gemeinsame Abwicklungsfonds wird ab nächstem Jahr
schrittweise errichtet. Wir können Bankenkrisen besser
vorbeugen, und wir können den Menschen vor allen
Dingen sagen: Nicht der Steuerzahler wird zuerst zur
Kasse gebeten. Darauf mussten wir hinarbeiten. Das wa-
ren wir den Menschen nach der Finanzkrise schuldig,
meine Damen und Herren.
Wir können außerdem feststellen, dass in den von der
Krise besonders betroffenen Ländern die Wettbewerbs-
fähigkeit steigt, die Leistungsbilanzdefizite sinken,
Haushaltsdefizite abgebaut werden. Mit Irland, Portugal
und Spanien haben drei von fünf Ländern ihre Hilfspro-
gramme erfolgreich abgeschlossen. Auch wenn noch
viel zu tun bleibt, sind auch in Griechenland die Aus-
sichten wesentlich besser als vor zwei Jahren.
Dies alles wäre nicht möglich gewesen ohne ent-
schlossenes Handeln der einzelnen Länder und ohne ent-
schlossenes und solidarisches gemeinsames Handeln auf
europäischer Ebene. Aber wir sind noch nicht am Ziel;
denn die wirtschaftliche Erholung bleibt fragil. Vor al-
lem die Arbeitslosigkeit, allen voran die der jungen
Menschen, ist in Teilen Europas immer noch viel zu
hoch, und die Architektur der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion hat nach wie vor Schwachstellen. Aber ich
bin mir sicher: Wenn wir weiter entschlossen handeln,
dann werden wir am Ende feststellen können, dass Eu-
ropa aus dieser Krise stärker hervorgegangen sein wird,
als es in sie hineingegangen ist. Dies ist und bleibt auch
der Anspruch der Bundesregierung.
Dazu genügt es nicht, die immer noch in vielen Län-
dern spürbaren Folgen der Krise zu bekämpfen. Viel-
mehr müssen wir, um zukünftige Krisen zu verhindern,
vor allem auch die Krisenursachen beseitigen. Deshalb
braucht es einen umfassenden Ansatz für diese Krisen-
bewältigung und eine Krisenvorsorge. Diesen Ansatz ha-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7197
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
ben wir von Anfang an konsequent verfolgt, aber er
muss jetzt fortgesetzt werden. Dabei bleiben drei Bau-
steine gleichermaßen wichtig.
Erstens. Die wachstumsfreundliche Konsolidierung
muss fortgesetzt werden. Dass 2013 das durchschnittli-
che Haushaltsdefizit im Euro-Raum mit 2,9 Prozent erst-
mals seit 2008 wieder unter der Maastricht-Grenze gele-
gen hat, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, ich will in diesen Tagen,
wo die Zinsen besonders niedrig sind, noch einmal daran
erinnern, welche Sorgen wir hatten, als in vielen Län-
dern der Euro-Zone die Zinsen mehr als doppelt und
dreifach so hoch waren, wie sie heute sind. Es ist des-
halb entscheidend, dass wir auch die Regeln des gestärk-
ten Stabilitäts- und Wachstumspaktes glaubwürdig an-
wenden; denn nur so kann der Pakt seine Funktion
erfüllen. Seine Funktion war ja nicht nur, die Regelun-
gen umzusetzen, die damit getroffen wurden, sondern
vor allem auch Vertrauen aufzubauen, um zu zeigen,
dass wir verantwortlich handeln. Wir werden die Kom-
mission auch in Zukunft in der Wahrnehmung dieser
Verantwortung für die Einhaltung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes unterstützen.
Zweitens. Wir brauchen Strukturreformen für Wettbe-
werbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Gut
funktionierende Arbeitsmärkte, wettbewerbsfähige Pro-
duktmärkte und eine effiziente öffentliche Verwaltung
sind für uns alle eine Daueraufgabe. Nur so können wir
im globalen Wettbewerb mithalten; denn – das spürt man
immer wieder – die Welt wartet nicht auf Europa. Wenn
wir unser europäisches Modell, ein Modell, das wirt-
schaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung in beson-
derer Weise verbindet, auch im 21. Jahrhundert zu dau-
erhaftem Erfolg führen wollen, dann müssen wir uns
weiter und zum Teil auch mehr anstrengen, jeden Tag
aufs Neue. Wir sehen Dynamik in vielen Wirtschaftsräu-
men der Welt. Deshalb sind wir gefordert. Dass die Wirt-
schaft eines Landes, wie zum Beispiel in Irland, das die-
sen Weg der Reformen in den letzten Jahren sehr
konsequent gegangen ist, heute kräftig wächst, dass die
Investitionen anziehen und die Arbeitslosigkeit Schritt
für Schritt zurückgeht, zeigt, was entschlossenes Han-
deln bewirken kann.
Drittens: die Förderung von Wachstum, Beschäfti-
gung und Investitionen. Wir tun dies auf nationaler
Ebene, und wir investieren damit nicht nur in eine gute
Zukunft Deutschlands, sondern wir leisten damit natür-
lich auch einen Beitrag zu einer guten Zukunft Europas.
Denn jeder Mitgliedstaat der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion – das ist ja die Lehre aus der Krise – trägt
Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern gleich-
zeitig auch immer für die gesamte Euro-Zone und für die
Europäische Union als Ganze. Deshalb müssen wir un-
serer Gesamtverantwortung gemeinsam gerecht werden,
indem wir die nationalen Anstrengungen für mehr Wett-
bewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung von eu-
ropäischer Seite so gut wie möglich unterstützen.
Dafür müssen wir zum einen die bestehenden Instru-
mente nutzen, die wir auf europäischer Ebene bereits be-
schlossen haben: Wir haben seit 2012, ausgehend vom
Pakt für Wachstum und Beschäftigung, eine Vielzahl
von Maßnahmen und Elementen auf den Weg gebracht;
das zeigt sich auch in der neuen mittelfristigen Finan-
ziellen Vorausschau.
Aber wir prüfen eben auch, was darüber hinaus jetzt
noch getan werden muss. Genau das wird im Mittel-
punkt des heute und morgen stattfindenden Europäi-
schen Rates stehen. Dafür brauchen wir, zusammen mit
den anderen Bausteinen,
eben auch Maßnahmen für Investitionen; wir brauchen
Maßnahmen zum Abbau von Bürokratie. Beides wird
auf der Tagesordnung stehen. Aus all diesen drei Bau-
steinen entsteht dann unsere Gesamtstrategie.
Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
hat Ende November seinen Investitionsplan für Europa
vorgestellt, mit dem in den nächsten Jahren erhebliche
zusätzliche Investitionen mobilisiert werden sollen.
Es gibt eine gemeinsame Taskforce von Kommission,
Europäischer Investitionsbank und Experten der Mit-
gliedstaaten. Sie hat sich die Investitionsentwicklung in
Europa sehr genau angeschaut. Sie hat Investitions-
hemmnisse und mögliche Lösungsansätze aufgezeigt
und hat begonnen, sich auch mit einzelnen Projekten der
Mitgliedstaaten zu befassen.
Wirtschaftsminister Gabriel und Finanzminister Schäuble
haben vor zwei Wochen zusammen mit ihren französi-
schen Kollegen eine Reihe von Vorschlägen gemacht.
Auch ich werde noch einmal mit dem französischen Prä-
sidenten darüber sprechen, was wir – gerade Deutsch-
land und Frankreich gemeinsam – zu diesen Investitions-
projekten beitragen können. Denn wir wissen: Wenn
Deutschland und Frankreich gemeinsam klare Vorstel-
lungen haben,
dann ist das gut für Europa.
Wir haben jetzt eine gute Grundlage für die heute be-
ginnenden Beratungen. Aber für mich sind folgende
Punkte entscheidend: Es sind und bleiben die Unterneh-
men, die Arbeitsplätze und Innovationen schaffen.
Es muss also vor allem um die Mobilisierung privater
Investitionen gehen. Ich begrüße deshalb ausdrücklich,
dass dies auch die zentrale Stoßrichtung der Vorschläge
von Jean-Claude Juncker ist.
Es muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass
zusätzlich mobilisierte Mittel sinnvoll und effektiv ein-
gesetzt werden.
7198 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
Wir müssen in Zukunftsbereiche investieren. Es müssen
Zukunftsbereiche sein, die der strategischen Agenda, die
wir im Juni beschlossen haben, entsprechen. Dazu gehö-
ren zum Beispiel die digitale Wirtschaft, kleine und mitt-
lere Unternehmen, der Energiebereich, gegebenenfalls
die Elektromobilität,
also Dinge, mit denen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit
verbessern, meine Damen und Herren. Wir müssen in
Zukunftsprojekte investieren, also in Projekte, die wirt-
schaftlich sinnvoll sind und die nachhaltiges Wachstum
fördern.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind.
Ich unterstütze die Idee, die Europäische Investitions-
bank zu nutzen, um Projekte auszuwählen, die genau
diese Kriterien erfüllen.
Es ist nämlich wichtig, den Weg über die Europäische
Investitionsbank zu gehen, weil nur so sichtbar wird, wo
es rentable Projekte gibt, bei denen auch privates Kapital
mit einsteigt. Die Politik kann diese Auswahl nicht tref-
fen,
obwohl Sie ja offensichtlich Interesse daran haben.
Wir in der Bundesregierung stellen uns vor, dass die
ausgewählten Projekte so rasch wie möglich in einem
Projektbuch sichtbar werden,
damit nachverfolgt werden kann: Was wird jetzt wirklich
umgesetzt? Was ist der Mehrwert eines solchen Investi-
tionsprogramms? – Ich erinnere uns einmal an die Ver-
kehrsprojekte „Deutsche Einheit“, bei denen sehr schön
sichtbar gemacht wurde: Wie kommen wir voran? – Da
konnte man das jederzeit nachvollziehen.
Nicht zuletzt bleibt die Stärkung der Rahmenbedin-
gungen für Investitionen und Wachstum, national wie
europäisch, ein entscheidender Faktor.
Das bedeutet Strukturreformen in den Mitgliedstaaten.
Aber es bedeutet eben auch, dass wir uns auf europäi-
scher Ebene überlegen: Was sind die wichtigen Rechts-
setzungsvorhaben? Ich bin sehr froh, dass sich die Kom-
mission in einem ersten Anlauf an die 70 Projekte
vorgenommen hat und gefragt hat: Brauchen wir sie
noch – wir verhandeln darüber seit Jahren, und es gibt
immer noch Widerstände –, oder können wir sie nicht
von der Tagesordnung nehmen und durch andere Pro-
jekte ersetzen? Ich begrüße das außerordentlich.
Ein wichtiger Rahmen, um immer wieder zu prüfen,
ob die Mitgliedstaaten die notwendigen Strukturreformen
durchführen, ist das sogenannte Europäische Semester.
Auch Deutschland bekommt hier länderspezifische Vor-
gaben.
Wir werden uns weiter damit befassen, wie wir diese
bestmöglich umsetzen können. Es geht natürlich auch
um wichtige europäische Rechtssetzungsakte.
Ich will es wiederholen: Gerade bei der Digitalen
Agenda werden die notwendigen Investitionen in die
Breitbandstruktur allein nicht reichen, wenn nicht der
richtige rechtliche Rahmen gesetzt ist. Dazu gehören das
Telekommunikationspaket und die Datenschutz-Grund-
verordnung, über die intensiv verhandelt werden muss.
Wir werden darum ringen müssen, den persönlichen Da-
tenschutz in eine vernünftige Balance mit der Investi-
tionsmöglichkeit in der digitalen Wirtschaft zu bringen.
Das wird uns noch viel Kraft kosten.
Dazu gehört genauso die Energieunion, die eine der
strategischen Prioritäten der neuen Kommission ist. Wir
brauchen mehr Verbindungen zwischen den europäi-
schen Mitgliedstaaten, insbesondere einen Anschluss
der iberischen Halbinsel an das kontinentaleuropäische
Stromnetz. Aber auch für Deutschland können die Inter-
konnektoren noch besser ausgebaut werden.
Dazu gehört natürlich auch eine Entlastung kleiner
und mittlerer Unternehmen von unnötiger europäischer
Bürokratie. Dies sollte auch Maßstab bei neuen EU-Re-
gelungen sein. Wir hier in Deutschland, wie einige an-
dere Mitgliedstaaten auch, sind mit dem Normenkon-
trollrat sehr gut aufgestellt, weil wir eine Vorstellung
davon bekommen, was Bürokratie verursacht. Aber in
Europa insgesamt sind wir noch nicht ganz so weit.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7199
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
Dazu gehören übrigens auch – der nächste Punkt wird
Sie noch mehr erfreuen – die laufenden Verhandlungen
über die Freihandelsabkommen.
Gerade Deutschland als Exportnation muss für den Welt-
handel offen bleiben. Ich bin überzeugt, dass die Chan-
cen für Wachstum und Beschäftigung die Risiken der
Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von
Amerika und mit Kanada bei weitem übersteigen.
Ich habe neulich schon darüber berichtet, dass in an-
deren Teilen der Welt sehr viele Freihandelsabkommen
abgeschlossen werden. Wir sollten die Chance nutzen
– ich wiederhole es –, sie in unserem Sinne mitzugestal-
ten und dafür zu sorgen, dass hohe Standards, wie wir sie
in Europa etwa beim Verbraucherschutz und beim Um-
weltschutz haben, auch international festgeschrieben
werden. Das ist im Sinne der Verbraucherinnen und Ver-
braucher in Europa.
Der Investitionsplan der neuen Kommission benennt
wichtige Handlungsfelder für die Schaffung eines inves-
titionsfreundlichen Umfelds. Ich werde mich dafür ein-
setzen, dass wir einen vernünftigen zeitlichen Fahrplan
haben und die Investitionen überprüfbar jetzt auf den
Weg bringen.
Meine Damen und Herren, wir müssen weiterhin da-
ran arbeiten, die Architektur der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion dauerhaft krisenfest zu machen. Ich bin un-
verändert der Überzeugung, dass wir eine engere und
verbindlichere wirtschaftspolitische Koordinierung brau-
chen. Sie muss enger und verbindlicher sein, als sie es
heute ist; zumindest im Euro-Raum. Aufgabe der nächs-
ten Wochen und Monate wird es sein, dafür eine gemein-
same Grundlage zu schaffen.
Der letzte Europäische Rat im Gedenkjahr 2014 ist
der erste, der von dem neuen Präsidenten Donald Tusk
geleitet wird. Wir haben die Personalien nach der Euro-
pawahl neu geordnet. Dass 25 Jahre nach der friedlichen
Revolution in Mittel- und Osteuropa ein ehemaliger pol-
nischer Ministerpräsident an der Spitze des Europäi-
schen Rates steht, hat eine hohe Symbolkraft, nicht nur
für unsere polnischen Nachbarn; denn das Freiheitsstre-
ben, gerade der Polen, hat die Überwindung der Teilung
Europas und Deutschlands erst möglich gemacht.
Ich habe mit Donald Tusk als polnischem Minister-
präsidenten intensiv, vertrauensvoll und freundschaftlich
zusammengearbeitet. Ich habe ihn als leidenschaftlichen,
überzeugten und überzeugenden Europäer kennenge-
lernt. Ich freue mich darauf, heute Nachmittag gemein-
sam mit ihm und meinen Kolleginnen und Kollegen an
die Arbeit zu gehen.
Es geht jetzt darum, entschlossen das umzusetzen,
was wir uns in unserer strategischen Agenda vorgenom-
men haben – für ein Europa, das auch in Zukunft sein
Versprechen des Friedens, der Freiheit und des Wohl-
stands für seine Bürgerinnen und Bürger einlösen kann.
Dabei zähle ich auf Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-
deskanzlerin! Die Ängste in unserer Bevölkerung neh-
men dramatisch zu. Sie artikulieren sich immer stärker
rechts. Ich erinnere an Dresden und PEGIDA, an Köln
und HoGeSa. Ich weiß sehr wohl, dass Rechtsextremis-
ten und Rechtspopulisten diese Ängste ausnutzen.
Ich meine allerdings, dass diejenigen, die dort mitlau-
fen, durchaus wissen, wem sie hinterherlaufen.
Deshalb müssen wir uns ernsthaft mit ihnen auseinan-
dersetzen. Das heißt aber nicht, dass wir diese Bürgerin-
nen und Bürger aufgeben dürfen. Ich meine allerdings
nicht die Funktionäre der rechtsextremistischen und
rechtspopulistischen Parteien; die sind für mich erledigt.
Ich meine die anderen Bürger, die dort mitlaufen.
Aber wie können wir sie erreichen? Wie können wir
die Leute aus der Mitte der Gesellschaft wieder in die
demokratischen Strukturen zurückholen? Ich sage es
hier ganz offen, Herr Kauder, Herr Hofreiter, Frau
Göring-Eckardt und Herr Oppermann: Wir alle haben
versagt. Alle Abgeordneten, mich eingeschlossen, haben
versagt. Wir haben nicht genügend für die Aufklärung
getan. Wir denken immer, dass unsere Überlegungen
auch die Überlegungen der Bevölkerung sind. Wir haben
nicht genügend dafür getan, dass die Menschen wirklich
wissen und fühlen, dass die überwiegende Mehrheit der
Menschen islamischen Glaubens völlig friedlich und ge-
waltfrei ist. Es gibt nur einen furchtbaren, schrecklichen
Teil, der die Ausnahme darstellt. Diese Unterscheidung
müssen wir in den Medien, in der Kultur und in der Poli-
tik endlich deutlich machen, um die Leute aufzuklären.
7200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Natürlich ist der „Islamische Staat“ furchtbar. Die Ta-
liban sind furchtbar. Der Tod von über 130 Kindern hat
mich extrem schockiert. Das ist durch nichts, aber auch
wirklich gar nichts zu rechtfertigen. Die Verurteilung
dieser Tat ist einhellig. Aber was tun wir nun dagegen?
Ich schlage Folgendes vor: Wir Fraktionsvorsitzen-
den, die Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten des
Bundestages und der Bundestagspräsident müssen uns
zusammensetzen und überlegen, wie wir eine Aufklä-
rungs- und Verhinderungsstrategie entwickeln können,
und zwar unter Einschluss des Bundesrates, der Bundes-
regierung, der Länderparlamente, der Landesregierun-
gen, der Kommunalparlamente, der Bürgermeisterinnen
und Bürgermeister, aller demokratischen Parteien im
Bundestag, aber auch der Gewerkschaften, der Kirchen,
der Religionsgemeinschaften, der Wissenschaft, der
Kunst, der Kultur und des Sports. Wenn wir nicht ge-
meinsam ein Zeichen setzen – wir müssen erstens sagen,
wie wir die Aufklärung leisten und finanzieren wollen,
und zweitens deutlich machen, dass wir eine Tabugrenze
ziehen –, dann versagen wir in dieser Gesellschaft, und
dazu haben wir nicht das Recht.
Aber wodurch entstehen diese Ängste? Wir müssen
das analysieren. Es gibt eine Weltfinanzwirtschaft, die
sehr viel Macht ausübt, die viel mächtiger ist als die
Weltpolitik, die auch überhaupt nicht strukturiert ist.
Überall nehmen die Kriege zu. Staaten wurden zerstört
oder haben sich zerstört. Mit wachsenden Ängsten sehen
die Menschen in beide sudanesische Staaten, nach So-
malia, nach Libyen, nach Syrien, in den Irak und auch in
die Ukraine. Sie sehen keine Struktur der Verantwortli-
chen, kein Bemühen, diese Fragen wirklich zu lösen. Ich
habe es schon einmal gesagt: Im Kalten Krieg hatten wir
eine Struktur. Wir können froh sein, sie losgeworden zu
sein. Aber es ist keine neue geschaffen worden. Das ist
das Problem.
Mit Sorge sehen die Menschen auch das völlig ge-
störte Verhältnis der USA, der NATO und der EU zu
Russland. Wohin soll das Ganze führen? Viele Autoren,
darunter ein früherer Bundespräsident und ein früherer
Bundeskanzler, warnen uns vor einem neuen Krieg in
Europa.
Ich muss immer daran denken, dass wir fünf ständige
Mitglieder des Sicherheitsrates haben. Diese Staaten,
USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich,
sind einzigartig privilegiert. Im höchsten Organ, das sich
die Menschheit geschaffen hat, im Sicherheitsrat der Or-
ganisation der Vereinten Nationen, hat jede einzelne die-
ser Regierungen das Recht, jeden Beschluss zu verhin-
dern. Ich finde, wir erinnern diese fünf Regierungen viel
zu wenig daran, dass damit auch eine besondere Verant-
wortung verbunden ist, der sie bisher nicht gerecht wer-
den.
Nicht Deutschland ist für all das verantwortlich, sondern
diese fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Ich
finde, das müssen wir täglich erklären und daran erin-
nern.
Nun hören die Menschen vom „Islamischen Staat“
und von den Taliban und können sich die Nachrichten
darüber gar nicht erklären. Wie ist es so gekommen?
Darf ich versuchen, es Ihnen anhand des „Islamischen
Staats“ kurz zu erklären? Der „Islamische Staat“ ist aus
al-Qaida entstanden. Wer hat al-Qaida gegründet? Die
USA damals in Afghanistan im Kampf gegen die So-
wjetunion.
– Damals! Dass es jetzt nichts mehr damit zu tun hat,
weiß ich doch selbst. Frau Göring-Eckardt, Sie sind
nicht so viel schlauer. Hören Sie mir einmal zu! Ich
werde Ihnen sagen, was das Problem ist. Diese Geheim-
dienste und diese Regierungen halten sich immer für
oberschlau, gründen etwas und wissen nicht, was letzt-
lich dabei herauskommt. Es war übrigens der israelische
Geheimdienst, der als Konkurrenz zur PLO die Hamas
gegründet hat. Das war sehr klug, da haben sie voll in
den Glückstopf gegriffen, kann ich nur sagen. Dasselbe
gilt für al-Qaida. Wir müssen mit diesen Spielereien in
der Welt aufhören. Es wird höchste Zeit.
Jetzt komme ich auf etwas anderes zu sprechen. Frau
Bundeskanzlerin, Sie haben sich zu den Berichten über
die Folter der CIA in Gefängnissen überhaupt nicht ge-
äußert.
Warum nicht? Es ist ein schrecklicher Bericht, es ist ein
furchtbarer Bericht. Es ist entsetzlich, was Menschen
Menschen antun können, und Sie äußern sich nicht dazu.
Geht dieses Duckmäusertum schon wieder los?
Was hätten Sie denn gesagt, wenn es einen solchen Be-
richt über Russland gegeben hätte? Was hätten Sie ge-
sagt, wenn es einen solchen Bericht über einen afrikani-
schen Staat gegeben hätte? Sie hätten nach Sanktionen,
nach allem Möglichen gerufen. Aber bei den USA
schweigen Sie nur. Geben Sie Ihr Duckmäusertum auf.
Wir müssen uns immer gegen Folter stellen, auch in den
USA.
Ich sage Ihnen: Der Höhepunkt ist, dass die USA so-
gar die Anti-Folter-Konvention unterschrieben haben
und glauben, sich danach nicht richten zu müssen. Ich
sage auch ganz klar: Die USA haben deutlich gemacht,
dass es keine justizielle Verantwortung geben wird. Ich
hoffe, dass unser Generalbundesanwalt die notwendigen
Ermittlungen durchführt. Das kann dann auch Ergeb-
nisse zeigen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7201
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Wissen Sie, das ist dasselbe wie bei der NSA. Die
NSA spioniert uns vollständig aus und betreibt auch
Wirtschaftsspionage. Was machen Sie dagegen? Nichts.
Ich sage Ihnen: Dieses Duckmäusertum gegenüber den
USA ist nicht länger erträglich und stört immer mehr
Menschen in Deutschland.
Nun zu CETA und TTIP. Sie sind ja so dafür, Frau
Bundeskanzlerin. Erklären Sie doch einmal den Leuten,
was es bedeutet, wenn wir ein Verbot von Investitions-
hemmnissen haben. Es bedeutet, dass man für einen
amerikanischen Konzern keine Steuern erhöhen darf und
dass man nicht mehr Mitbestimmung einführen darf. Sie
machen Politik unmöglich. Erklären Sie doch einmal
auch der mittelständischen Wirtschaft folgenden Unter-
schied: Wir haben eine vorsorgende Prüfung, wenn neue
Lebensmittel oder anderes auf den Markt kommen. Man
muss erst beweisen, dass das neue Produkt nicht schäd-
lich ist. Das kennen die USA gar nicht. Sie kennen es
nur so, dass es Schadenersatz gibt, wenn sich später he-
rausstellt, dass etwas nicht gesund war. Das Ergebnis ist,
dass sie acht Jahre früher auf den Markt gehen können
als unsere Unternehmen. Wollen sie unsere Unterneh-
men derart benachteiligen?
Der absolute Höhepunkt sind für mich die Schiedsge-
richte. Sie schließen die Rechtsordnung und die ordentli-
chen Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland
– auch in Frankreich und in anderen Ländern – aus. Das
ist ein völlig falscher Weg.
Wenn Sie meinen, dass es das schon einmal gab, dann
sollten Sie diesen Schritt nicht wiederholen, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Union. Wirklich
nicht!
Ich sage: Das geht überhaupt nicht.
Nun komme ich zum nächsten Punkt. Die Menschen,
über die ich gesprochen habe – ich meine die, die auf die
Straße gehen –, sind tief verunsichert. Es kommen noch
weitere Unsicherheiten hinzu. Sie wissen nicht: Sind
ihre Jobs noch sicher? Sie wissen nicht: Kommen sie aus
der prekären Beschäftigung heraus? Sie wissen nicht:
Können sie ihre Stromrechnung noch lange begleichen?
Diese Unsicherheiten, diese abstrakten Ängste führen zu
dem, was wir jetzt erleben. Ich sage es noch einmal: Wir
müssen jetzt alle aktiv werden.
Frau Bundeskanzlerin, was ich nicht verstehe: Sie
wirkten am Beginn der Auseinandersetzung mit Russ-
land in Bezug auf die Ukraine ja eher besonnen, eher als
eine, die mäßigend wirkt. Jetzt sind Sie zur Scharfma-
cherin geworden. Warum eigentlich?
Glauben Sie denn ernsthaft – auch Sie von der SPD –,
dass es Frieden und Sicherheit in Europa ohne und gegen
Russland gibt? Das ist eine naive Vorstellung. Da war
die SPD unter Brandt schon mal sehr viel weiter. Sehr
viel weiter!
Was wollen Sie erreichen? Ich sage Ihnen, was der
große Vorteil der Europäischen Union ist.
Der große Vorteil der Europäischen Union ist, dass die
Staaten politisch, ökonomisch und zivilgesellschaftlich
so sehr miteinander verflochten sind, dass ein Krieg zwi-
schen ihnen, zumindest rational, gar nicht mehr vorstell-
bar ist. Wir brauchen auch deshalb gute Beziehungen zu
Russland, um jede kriegerische Variante im Verhältnis
zwischen Europa und Russland für immer auszuschlie-
ßen und auf die Entwicklung Russlands Einfluss zu ha-
ben. Ich finde den Weg, den Sie mit den Sanktionen ge-
hen, völlig falsch.
Das Nächste ist, dass nicht nur ich, sondern auch an-
dere der Meinung sind, dass die EU noch nie so gefähr-
det war wie heute. Sehen Sie mal: Kern der EU sind die
Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Ich
war gerade in Frankreich. Ich habe eine solche Ableh-
nung der Bundesregierung wie gegenwärtig in Frank-
reich früher niemals gespürt.
Die dortige Sozialistische Partei ist in den Umfragen so-
wieso schon so gut wie am Ende. Die sagen mir: Sozial
haben wir Frankreich schon geschliffen. Die deutsche
Kanzlerin und die Bundesregierung wollen aber, dass
wir den Sozialstaat abschaffen. – Das aber geht nicht.
Schon bei Gründung der Fünften Republik Frankreichs
gehörte der Sozialstaat dazu. Es ist nicht unsere Auf-
gabe, die Franzosen zu drängeln, diesen kaputtzumachen –
ganz im Gegenteil.
7202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Nehmen Sie Südeuropa. Die Arbeitslosigkeit unter
Jugendlichen liegt dort zwischen 50 und 60 Prozent. Was
soll eigentlich aus diesen Jugendlichen werden? Was
glauben Sie, was die mir erzählen, wenn ich sie nach Eu-
ropa befrage? Ich kann mir schon vorstellen, in welche
Richtung das geht. Merken Sie denn nicht, dass wir das
ganz anders gestalten müssen? Aus friedenspolitischen
und historischen Gründen können wir uns überhaupt
nicht erlauben, die EU kaputtzumachen.
Das sind wir unserer Bevölkerung schuldig. Ich sage Ih-
nen aber auch – auch wenn es Ihnen nicht passt –: Das
sind wir auch den diesbezüglichen – ich betone: den
diesbezüglichen – Leistungen von Adenauer, Erhard,
Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder schul-
dig. Wir dürfen die EU nicht kaputtmachen – ganz im
Gegenteil.
Nun hat Herr Juncker – an der Spitze der EU – ent-
schieden, dass man private Investitionen fördern soll.
Jetzt muss ich der Bevölkerung einmal erklären, wie das
aussieht.
Sie müssen sich dabei ein bisschen beeilen, Herr
Gysi. Eigentlich besteht dafür nämlich gar keine Zeit
mehr.
Schön, dann komme ich zum Schluss, Herr Bundes-
tagspräsident.
Immer wenn hier Interessantes angesprochen wird, bre-
chen Sie ab. Das tut mir wirklich leid.
Herr Kollege Gysi, Sie könnten ja mit dem Interes-
santen anfangen. Dann hätten Sie die nötige Zeit.
Ich weiß gar nicht, Herr Bundestagspräsident, ob Ih-
nen eine solche Bewertung zusteht; aber ich nehme sie
einfach mal hin. Ich fand es übrigens auch bis dahin
schon ziemlich interessant.
Eines sage ich Ihnen – hören Sie zu –: Sie wirken in
der gesamten Situation überfordert.
– Ja. – Was nicht geht, ist, dass ein Konzern nur eine
kleine Gebühr bzw. einen geringen Betrag bezahlt, sich
die Europäische Investitionsbank dann Riesensummen
von den Privatbanken holt – dies natürlich garantiert –,
und wenn der Konzern das Geld zurückzahlt, ist es gut,
und wenn nicht, bezahlen wieder einmal alle Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler. Damit muss endlich Schluss
sein, in Europa und in Deutschland.
Wir brauchen Frieden, wir brauchen die EU, und wir
brauchen endlich den sozialen Ausgleich, und zwar so-
wohl in Europa als auch in Deutschland.
Sorgen Sie dafür, Herr Kauder, und quatschen Sie nicht
einfach dummes Zeug, um auch das einmal klar zu sa-
gen.
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute be-
ginnt die letzte Tagung des Europäischen Rats im Jahr
2014. Ich finde, am Ende eines so krisengeschüttelten
Jahres ist es richtig, einmal an den Anfang der Europäi-
schen Union zu erinnern.
Die Europäische Union ist die Antwort auf ein Jahr-
hundert der Kriege zwischen den Nationen in Europa.
Seit Jahrzehnten ist die Europäische Union die Friedens-
macht Europas. Viele hatten das schon vergessen. Mit
dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine kehrt
diese Bedeutung jetzt in unser Bewusstsein zurück. Vor
allem junge Menschen merken zum ersten Mal, dass
Frieden in Europa nicht von selbst kommt und dass die
europäische Friedensordnung zerbrechen kann. Deshalb
war es so wichtig, dass die Bundesregierung und die Eu-
ropäische Union in diesem Jahr gemeinsam gehandelt
haben, dass wir zusammengeblieben sind und dass wir
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7203
Thomas Oppermann
(C)
(B)
alle Chancen für die Deeskalation der Konflikte genutzt
haben.
Bei all dem Leid und den Sorgen, die der Konflikt
zwischen Russland und der Ukraine mit sich gebracht
hat, ist das aber auch eine Chance für die Europäische
Union. Es ist die Chance, die Einigung Europas weiter-
zuentwickeln, es ist die Chance, die tiefe Kluft, die die
Finanz- und Euro-Krise in Europa gerissen hat, wieder
zu schließen, und es ist vor allem die Chance, den Euro-
pafeinden in der AfD, der UKIP und des Front National
etwas entgegenzusetzen, indem wir durch sichtbare Ta-
ten einen gemeinsamen Aufbruch in Europa wagen.
Einen Aufbruch brauchen wir vor allem im Kampf
um Wohlstand und Wachstum. Solide Finanzen sind die
Voraussetzung für nachhaltige Politik. Durch Sparen al-
lein gelingt aber noch keine Wende hin zu mehr Wachs-
tum, und auch die Entscheidungen der EZB erzeugen
noch kein Wachstum. Die EZB hat in den letzten drei
Jahren durch ihre Maßnahmen dafür gesorgt, dass die
Anleihemärkte stabil geblieben sind und das Zinsniveau
niedrig gehalten wurde. Die Bundeskanzlerin hat zu
Recht auf die Vorteile niedriger Zinsen hingewiesen.
Diese Strategie hat aber auch Risiken und Nebenwir-
kungen, und diese Nebenwirkungen belasten vor allem
die kleinen Sparer und Anleger. Sie müssen am Ende des
Jahres feststellen, dass ihre kleinen Sparvermögen weni-
ger wert sind als am Anfang des Jahres. Ich finde, in die-
ser Situation dürfen wir die EZB nicht alleinlassen. Wir
brauchen jetzt klare Impulse dafür, dass neben den
Strukturreformen auch das Wachstum in Europa in An-
griff genommen wird.
Eines ist klar: Es ist auf die Dauer schwer für die De-
mokratie in Europa, wenn 25 Millionen Menschen auf
unserem Kontinent keine Arbeit und kein Einkommen
haben. Europa hat nur dann eine Perspektive, wenn es
gelingt, diese Menschen wieder in Arbeit und Brot zu
bringen.
Neue Arbeitsplätze entstehen durch Innovationen und
Investitionen. Deshalb ist das von der EU-Kommission
jetzt vorgeschlagene Investitionspaket auch ein ganz
wichtiger Beitrag dafür, die Reformen in einigen Län-
dern zu unterstützen. Insbesondere die Regierungen in
Italien und Frankreich zeigen derzeit, dass sie genau die-
sen Reformwillen haben. Matteo Renzi hat seine Ar-
beitsmarktreform gerade gegen heftige Widerstände
durch das italienische Parlament gebracht. Frankreich
hat einen großen Schritt auf dem Weg hin zu einer
schlankeren Verwaltung geschafft. Es nutzt aber nichts,
wenn diese Reformen am Ende durch Proteste auf der
Straße untergehen, nur weil wir nicht in der Lage sind,
durch massive Investitionen diesen Prozess zu unterstüt-
zen.
Wir sollten in Deutschland wieder mehr investieren,
um unseren Beitrag zur Gesundung Europas zu leisten.
Investitionen sind nicht nur eine Bedingung für das
Wachstum in der Zukunft, sondern sie haben auch einen
symbolischen Wert. Ich bin deshalb froh, dass die Wirt-
schafts- und Finanzminister von Deutschland und Frank-
reich in der vergangenen Woche gemeinsame Pläne be-
schlossen haben, wie Europa wieder neue Arbeitsplätze
schaffen kann.
Es wird immer auch Meinungsverschiedenheiten mit
unserem Nachbarn geben. Wir dürfen es aber nicht zu-
lassen, dass Europa gespalten wird und dass die deutsch-
französische Achse zerbricht.
Wenn wir von Strukturreformen reden, dann verste-
hen manche darunter immer nur Belastungen für die
kleinen Leute. Das kann aber nicht das Ziel sein, meine
Damen und Herren. Bei Strukturreformen geht es um die
Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit. Dazu gehört vor
allem die Bekämpfung von Korruption, die Schaffung
von Rechtssicherheit für Investitionen und die Reduzie-
rung überflüssiger Bürokratie. Letztlich gehört dazu
auch eine gerechte Besteuerung.
Was mich ärgert, ist, dass offenbar immer noch viele
Millionäre in Griechenland nicht besteuert werden,
meine Damen und Herren.
Was mich ärgert, ist, dass offenbar einzelne Länder in
Europa ein florierendes Geschäftsmodell mit Steuerer-
leichterungen für internationale Konzerne betreiben.
Es kann nicht sein, dass die einfachen Leute extreme
Einbußen erleiden, während die Reichen geschont wer-
den. Es kann auch nicht sein, dass die ehrlichen Mittel-
ständler brav ihre Steuern zahlen, während die großen
Konzerne ihre Gewinne exklusiv dort versteuern, wo sie
vorher Sonderkonditionen ausgehandelt haben. Das
muss die Kommission jetzt angehen.
Auch bei der europäischen Transaktionsteuer müssen
wir endlich vorankommen, damit die Verursacher der Fi-
nanzkrise angemessen an den Kosten beteiligt werden.
Die Finanztransaktionsteuer darf nicht auf eine reine
Steuer auf Aktien reduziert werden, die dann die norma-
len kleinen Anleger zahlen. Wir wollen, dass auch Deri-
vate besteuert werden; denn mit einer Schmalspurlösung
ist niemandem gedient. Herr Schäuble, deshalb kann ich
Sie nur bitten, in Europa weiterhin für eine Steuer mit ei-
ner breiten Bemessungsgrundlage einzutreten.
7204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Thomas Oppermann
(C)
(B)
Ich bin absolut sicher, dass die einschneidenden Re-
formen, die wir in Europa brauchen, nur dann in den ein-
zelnen Ländern akzeptiert werden, wenn die Menschen
ganz klar sehen, dass die Lasten, die sich aus diesen Ver-
änderungen ergeben, fair auf alle Teile der Gesellschaft
umgelegt werden.
Solidarität brauchen wir auch im Umgang mit Flücht-
lingen.
Was wir da zurzeit erleben, das ist kein Ruhmesblatt für
Europa. 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der
Flucht, so viele wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. Nur ganz wenige von ihnen schaffen es nach
Europa. Diese Menschen müssen dann auch noch fest-
stellen, dass nur einige Länder überhaupt bereit sind,
Flüchtlinge aufzunehmen. So darf das nicht weitergehen.
Europa darf nicht wegschauen, wenn Menschen vor
Krieg und Terror flüchten.
Wir treten dafür ein, dass sich alle EU-Länder nach ei-
nem fairen Schlüssel an der Aufnahme von Flüchtlingen
beteiligen.
Den Menschen, die in Dresden und anderswo demon-
strieren, müssen wir erklären, dass wir Deutschen eine
humanitäre Verpflichtung gegenüber Menschen haben,
die mit knapper Not ihr Leben und das Leben ihrer Kin-
der gerettet haben.
Und wir müssen klarmachen, dass wir Deutschen wie
kaum ein anderes Land auf dieser Welt ein ganz handfes-
tes ökonomisches Interesse an der Einwanderung haben.
Ohne die Arbeitnehmer, die in den letzten drei Jahren
aus EU-Ländern zu uns gekommen sind, hätten wir
keine Überschüsse in den Sozialkassen. Ohne qualifi-
zierte Arbeitnehmer laufen wir in ein wirtschaftliches
Desaster. Manche von denen, die in Dresden und an-
derswo demonstrieren, sind möglicherweise die Ersten,
die ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn wir die
Einwanderung von heute auf morgen stoppen.
Aber ich kann auch nachvollziehen, dass viele Men-
schen frustriert sind, sich abwenden und nicht verstehen,
was die Politik von ihnen will. Zu lange wurde ihnen
gesagt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Ich
finde, die Menschen haben ein Recht darauf, dass wir ih-
nen das erklären. Wir brauchen gut ausgebildete Ein-
wanderer. Wir brauchen klare Regeln für Einwanderung,
und wir brauchen eine Willkommenskultur in Deutsch-
land.
Das zu erklären – in diesem Punkt möchte ich Ihnen
ausdrücklich recht geben, Gregor Gysi; das war der
nachdenkliche Teil Ihrer Rede –, ist nicht die Aufgabe
einzelner Minister oder einzelner Fraktionen; das ist die
Aufgabe der gesamten Bundesregierung und des gesam-
ten Bundestages.
Wir müssen argumentieren, differenzieren, informie-
ren und aufklären. So können wir den Menschen die
Ängste nehmen und den Organisatoren von PEGIDA
das Wasser abgraben. Wir dürfen nicht zulassen, dass
PEGIDA das Feindbild des „Islamischen Staates“ auf
die Flüchtlinge überträgt, die als Opfer dieser Terroristen
bei uns Schutz suchen, meine Damen und Herren.
Wenn es darum geht, Leben zu retten, dann darf die
Religion keine Rolle spielen. Dann darf es keinen Unter-
schied machen, ob jemand Christ, Muslim, Schiit, Sunnit
oder Jeside ist. Dann sind alle bei uns willkommen, die
Schutz suchen und Schutz brauchen.
Bei PEGIDA würde ich dafür plädieren, dass wir zwi-
schen den Drahtziehern und den Mitläufern unterschei-
den. Die Drahtzieher von PEGIDA sind keine Patrioten.
Das sind Nationalisten und Rassisten, die Ängste der
Menschen schüren und die Gesellschaft spalten wollen.
Die Drahtzieher müssen wir bekämpfen. Mit den Mitläu-
fern müssen wir reden. Aber die, die mitlaufen, müssen
auch wissen, wem sie hinterherlaufen und von wem sie
instrumentalisiert werden.
Wenn es heute für manche kein Problem mehr ist, ge-
meinsam mit Rechtsextremen und Neonazis zu demon-
strieren, dann müssen wir klarmachen: Das ist ein Pro-
blem.
PEGIDA genießt in diesen Tagen viel Aufmerksam-
keit in den Medien.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7205
Thomas Oppermann
(C)
(B)
– Deshalb ist es umso wichtiger, lieber Volker, dass wir
dafür sorgen, dass auch die anderen sichtbar sind, näm-
lich diejenigen, die sich für die Flüchtlinge engagieren.
Ich bin der Integrationsbeauftragten Aydan Özoğuz
dankbar, dass sie heute, am Internationalen Tag der Mi-
granten, Menschen aus dem ganzen Land ins Auswärtige
Amt eingeladen hat, um diejenigen zu würdigen, die sich
aus christlichen, humanitären oder aus politischen Moti-
ven heraus engagieren, sich um Flüchtlinge kümmern
und ihnen dabei helfen, in Deutschland zurechtzukom-
men.
Das sind übrigens nicht selten Menschen, die sich da-
ran erinnern, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Millio-
nen Flüchtlinge aus dem Osten in Deutschland eine
Zukunft gefunden haben und dass nach der Wende Mil-
lionen Aussiedler aus Osteuropa nach Deutschland ge-
kommen sind und hier freundlich aufgenommen worden
sind. Nicht wer am lautesten schreit, ist im Recht,
sondern diejenigen, die helfen, mit anpacken und solida-
risch sind. Das ist die demokratische Mitte der Gesell-
schaft, und die müssen wir stützen.
Weil das die letzte Sitzung in diesem Jahr ist, möchte
ich daran erinnern: Heute vor einem Jahr haben wir den
Koalitionsvertrag unterzeichnet. Das war keine Liebes-
heirat und auch keine Wunschkoalition, sondern ein
nüchternes Zweckbündnis auf Zeit. Aber ich finde, dass
sich die Bilanz nach einem Jahr harter Arbeit sehen las-
sen kann. Wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn.
Wir haben eine Rentenreform, eine Pflegereform, eine
BAföG-Reform und eine EEG-Reform durchgesetzt.
Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt im Jahr 2015.
Wir haben das Elterngeld Plus beschlossen. Wir haben
uns auf den Doppelpass verständigt. Wir beginnen im
nächsten Jahr mit der weiteren Entlastung der Kommu-
nen. Am Ende haben wir uns bei allen Schwierigkeiten,
die damit verbunden waren, auf die Frauenquote ver-
ständigt. Ich finde, wir haben in kurzer Zeit viel bewegt.
Deutschland ist wirtschaftlich stark geblieben und sozial
gerechter geworden.
Ich möchte mich bei allen bedanken, bei der Bundes-
kanzlerin und beim Vizekanzler, bei allen Ministerinnen
und Ministern sowie bei allen Kollegen in diesem
Hause, die daran mitgewirkt haben. Ich glaube, 2016
wird ein Jahr großer politischer Herausforderungen.
Wir werden unsere ganze Kraft brauchen, um diese
Herausforderungen zu meistern. Darauf sollten wir uns
konzentrieren.
Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachtsferien. Vielen
Dank.
Ich mache vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass
wir auch morgen noch eine Plenarsitzung des Deutschen
Bundestages haben;
nicht dass sich jemand unverzüglich zum Aufbruch in
die Weihnachtsferien aufgefordert fühlt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-
Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Thomas Oppermann, ich weiß nicht, was Sie
nächstes Jahr vorhaben, wir jedenfalls denken, dass wir
auch das Jahr 2015 im Parlament gemeinsam verbringen
werden. Was mich, ehrlich gesagt, am meisten erschüt-
tert, ist das, was ich sehe, wenn ich mir Ihre Koalition
am heutigen Tag anschaue. 80 Prozent haben Sie angeb-
lich geschafft. Ich kann nur sagen: Was wir heute gese-
hen haben, bedeutet, dass Sie zu 100 Prozent fertig sind.
Sie sind fertig miteinander.
– Sorry, aber wenn man sich anschaut, wer für wen
klatscht, dann kann man nur feststellen: Noch nicht ein-
mal die erste Reihe in der SPD-Fraktion klatscht, wenn
die Bundeskanzlerin etwas sagt. Noch nicht einmal die
erste Reihe in der Unionsfraktion klatscht, wenn Herr
Oppermann etwas sagt, außer wenn er etwas sagt, bei
dem fast alle klatschen können.
Diese Koalition hat offensichtlich nichts mehr vor.
Was Sie abgearbeitet haben, ist auf Ihrem Konto. Aber
was Sie nicht gemacht haben, ist, sich auf irgendeine
Weise mit der Zukunft zu beschäftigen; das haben Sie
heute Morgen erneut gezeigt. Draußen regt sich eine au-
ßerparlamentarische Opposition aus Rechtspopulisten,
verunsicherten Modernisierungsverlierern und denen,
die sich eingerichtet haben und keine Veränderung wol-
len; diesen reden Sie nach dem Mund.
Ihre Politik der asymmetrischen Demobilisierung hat
ihr erstes Opfer gefunden, nämlich die Demokratie.
7206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Eine Demokratie, in der nicht mehr um politische Alter-
nativen gestritten wird, verliert an Sauerstoff. Sie ver-
schweigen PEGIDA seit Monaten. Sie versuchen, die
AfD zu verschweigen.
Sie verschweigen Thilo Sarrazin. Sie verschweigen Pro
NRW.
Hier geht es aber nicht um Verschweigen, Frau Merkel,
hier geht es um Haltung, und hier geht es um Klarheit.
Ich sage Ihnen, Herr Oppermann, eines klar: Ich habe
kein Verständnis für Mitläufer.
Wer sich hinter solche Plakate stellt, der weiß ganz ge-
nau, was er tut. Dem sagen wir eindeutig: Nein, das ist
nicht unsere Vorstellung von demokratischer Kultur, das
ist nicht unsere Vorstellung vom Umgang in diesem
Land.
Ja, ich nehme die Sorgen der Menschen ernst. Aber
ehrlich gesagt: So viele Sorgen der Menschen, die hier in
dieser Woche ernst genommen worden sind! Ich sage Ih-
nen mal, an wen ich denke, wenn ich Sorgen ernst
nehme. Dann denke ich nicht an die Leute, die in Dres-
den im Pelzmantel auf die Straße gegangen sind. Ich
denke an diejenigen, die in Syrien mit ein paar letzten
Kleidern versucht haben, ihr Leben zu retten und sich
und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
An einer Stelle will ich Herrn Oppermann recht ge-
ben: Ja, die Union hat sich jahrelang der Erkenntnis ver-
weigert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Dann hat sie angefangen, sich widerstrebend dieser Tat-
sache zu stellen. Aber was wir nicht tun, ist, dass wir tat-
sächlich über Zuwanderung reden, dass wir über diese
Gesellschaft als ein gemeinsames Land reden, dessen
Zuwanderungskonzept auf dem Tisch liegt.
Sie wissen doch ganz genau, wie die Situation in Sy-
rien, im Irak und in dem gesamten Krisengebiet ist. Na-
türlich werden diese Menschen hierbleiben. Womöglich
wird der eine Friedensnobelpreisträger oder Literaturno-
belpreisträger, und vielleicht wird der andere irgend-
wann einmal als Ingenieur unsere Flughäfen bauen. Das
kann alles sein. Diese Menschen gehören hierher. Sie
werden hierbleiben, und deswegen müssen wir jetzt da-
rüber reden, wie wir in diesem Land zusammenleben
wollen.
Herr Gysi, das Weltbild, das Sie heute hier an diesem
Pult zutage gefördert haben, ist wirklich nichts anderes
mehr als eine ganz große Weltverschwörung. Glauben
Sie eigentlich, dass Sie damit irgendeinen der Verunsi-
cherten, von denen Sie geredet haben, hinter dem Ofen
hervorlocken? Glauben Sie, dass Sie damit irgendjeman-
den beruhigen? Sie blinken auf der einen Seite nach ganz
links, Sie blinken auf der anderen Seite nach ganz rechts.
Die Leute, die Mitläufer sind, geben ganz locker Russia
Today ein Interview. Nein, der Demokratie nutzt man
auch mit der großen Weltverschwörung nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU-Kommis-
sion ist gerade erst gestartet. Als Grüne sage ich: Sie hat
in der Umweltpolitik ein veritables Rollback hingelegt.
Frau Merkel, Sie loben sie noch dafür, dass die Kreis-
laufwirtschaftspakete gestoppt werden, dass das Pro-
gramm „Saubere Luft für Europa“ gestoppt wird. Das ist
eine Bankrotterklärung für die Umweltpolitik in Europa.
Ich finde, wir hätten in Deutschland eine andere Auf-
gabe.
Aber einmal unabhängig davon: Gleichzeitig setzt der
Kommissionspräsident mit dem Investitionspaket ein
wichtiges Zeichen für die Länder Europas. Er sagt: Wir
wollen es gemeinsam tun. – Auch unabhängig davon,
wie man das Investitionspaket im Detail findet: Jean-
Claude Juncker ist damit ein neues und gar nicht so un-
wichtiges Signal gelungen. Er zeigt nämlich: Es soll eine
Vision für ein gemeinsames Europa geben. Davon war
heute Morgen in Ihrer Rede, Frau Merkel, nichts zu spü-
ren.
Deswegen sage ich Ihnen: Sie haben sich jahrelang
dagegen gewehrt, dass es Zinsgarantien für unsere euro-
päischen Nachbarn gibt, nach dem Motto: Selber schuld,
wer nicht auf die Füße kommt. – De facto sind wir in
Deutschland auch deswegen Exportweltmeister, weil der
Süden Europas keine Kredite mehr erhält. Sie können
auf dem europäischen Gipfel mit einem Schlag dafür
sorgen, dass die griechischen Windkraftbetreiber endlich
investieren können, und zwar ohne dass es uns wirklich
etwas kostet. Nach welchem Prinzip sollte es denn lo-
gisch sein, dass die Griechen zu hohen Preisen dreckige
Kohle importieren müssen, während es Sonne und Wind
umsonst gibt?
Europa hat sich im Lissabon-Vertrag das Versprechen
gegeben, zur dynamischsten Region zu werden. Im Mo-
ment sind wir die ängstlichste Region der Welt. Frau
Merkel, Sie bewundern doch Länder wie Neuseeland
und Kanada, in denen Zukunftsoptimismus und Einwan-
derung zur wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik im
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7207
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Rahmen der Wertegemeinschaft führen. Wieso werben
Sie dann nicht hierzulande für eine solche Gesellschaft?
Das Investitionspaket ist ein zaghafter Schritt heraus aus
der Agonie.
Ich habe Herrn Oppermann zugehört, der die Investi-
tionen hier wie verrückt gelobt hat. Was ich von der
Bundesregierung, insbesondere von Herrn Gabriel, sehe,
ist das Gegenteil: Erst hat Herr Gabriel breitbeinig er-
klärt, das sei quasi sein Investitionsprogramm, und dann
duckte man sich weg, weil man irgendwie in Kauf
nimmt, dass die spanischen und die griechischen Mittel-
ständler für die Konsolidierung des Haushalts in Deutsch-
land verantwortlich sein müssen. Nein, das ist kein Kol-
lateralschaden; das ist falsche Politik.
Was ich nicht verstehe: Sie feiern sich hier monate-
lang für eine Haushaltspolitik, und gleichzeitig stellen
Sie alle Investitionen in diesem Land auf Sparflamme.
Bröckelnde Brücken und schleichende Züge, das ist das
Bild von Deutschland im Jahr 2014.
Das ist doch verrückt. Was machen Sie dann? Sie schi-
cken eine Wunschliste nach Brüssel, eine Wunschliste,
die 90 Milliarden Euro schwer ist, nach dem Motto: Wir
geben zwar nichts, aber was man hat, das hat man. Ihre
Wunschliste ist in diesem Haus niemals diskutiert wor-
den. Ja, wo sind wir denn eigentlich?
Sie schicken Wünsche nach Brüssel, und das Parlament
wird nicht beteiligt, so nach dem Motto: 80 Prozent der
Wählerstimmen – Arroganz der Macht –, wir brauchen
das ja nicht mehr.
Sie haben die Wirtschaftslobbyisten einbezogen, aber
nicht das Parlament. Auf der Liste, die Sie nach Brüssel
geschickt haben, stehen keine Zukunftsinvestitionen. Da
stehen die alten deutschen Darlings der falschen Investi-
tionen. Darauf stehen Mittel zur Erneuerung alter Auto-
bahnen. Da steht nichts von Klimaschutz, da steht nichts
von Energiewende; da kann Frau Hendricks in Lima so
viel Ringelpiez mit Anfassen machen, wie sie will. Ich
sage Ihnen: Wenn man tatsächlich investieren will, dann
nimmt man hier 12 Milliarden Euro in die Hand und in-
vestiert in die richtigen Projekte, und zwar in die ge-
meinsamen europäischen; um die geht es nämlich.
Frau Merkel, liebe Große Koalition, sagen Sie end-
lich, worum es in den nächsten Jahren gehen soll. Dass
Herr Oppermann das nächste Jahr schon verschluckt, das
spricht ja Bände. Werben Sie für ein Europa, das ein Zu-
hause ist, in dem man gern lebt, egal wo man geboren
ist, egal ob man arm ist oder reich, egal woher man
kommt und woher man geflohen ist. Nein, PEGIDA ist
nicht Deutschland. Ich jedenfalls will nicht in einem
Land leben ohne Ekin Deligöz, ohne Navid Kermani und
auch nicht ohne Jérôme Boateng, obwohl er für mich als
Schalke-Fan wirklich im falschen Klub spielt.
Vielen Dank.
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Bundeskanzlerin hat hier einen Bericht über die
Schwerpunkte des bevorstehenden Europäischen Rates
abgegeben. Sie hat mit Recht über das gesprochen, was
die größte Herausforderung und die größte Sorge ist: die
Friedensordnung in diesem Europa und mit den angren-
zenden Nachbarn zu erhalten. Das ist der entscheidende
Punkt. Wie kann dies erreicht werden? Was wir in Eu-
ropa erreicht haben, das darf jetzt nicht gefährdet wer-
den.
Europa ist bisher keinen einfachen Weg gegangen.
Gerade am heutigen Tag ist es völlig richtig und loh-
nenswert, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der
Friedensprozess in Europa über die deutsch-französische
Freundschaft in Gang gekommen ist. Deswegen habe ich
Andreas Schockenhoff immer bewundert und unter-
stützt, der die deutsch-französische Freundschaft als ei-
nen entscheidenden Motor gesehen hat und der bei man-
cher Schwierigkeit immer dafür geworben hat, dass wir
das Feuer der Freundschaft zwischen den Deutschen und
den Franzosen aufrechterhalten. Ich möchte Andreas
Schockenhoff auch an dieser Stelle einen herzlichen
Dank dafür sagen.
Natürlich kann man in einer Demokratie über die
Wege, wie man diesen Frieden sichern will und soll, re-
den. Aber ich bin dankbar dafür, dass wir in Europa zu
einer gemeinsamen und übereinstimmenden Haltung ge-
kommen sind, wie wir weiter vorgehen wollen. Das um-
fasst zwei Elemente.
Das eine Element heißt Dialog: miteinander reden,
auch wenn es nicht einfach ist. Wenn man Berichte hört,
wie Gespräche mit Präsident Putin aussehen, muss man
sagen: Man muss sich wirklich zusammennehmen, um
immer wieder einen neuen Anfang bei solchen Gesprä-
chen zu machen. Ich bin allen Mitgliedern der Bundesre-
7208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Volker Kauder
(C)
(B)
gierung dankbar, die das immer wieder versuchen – wis-
send, wie schwer es ist, zu Ergebnissen zu kommen.
Natürlich gehört zu diesem Dialog auch, zu zeigen,
dass man bereit ist, für seine Werte und Positionen ein-
zustehen. Wir haben in der Geschichte oft genug erlebt,
was daraus wird, wenn man nicht für seine Positionen
einsteht, wenn man nicht deutlich macht, dass man sich
nicht einfach alles gefallen lässt; denn es gibt immer
wieder einige, die meinen, sie könnten ihre Kraft und
Macht ausnutzen, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen.
Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen.
Deshalb waren die Sanktionen notwendig und richtig.
Wir dürfen gerade in diesem Jahr 2014 die Erkenntnisse,
die wir aus unserer eigenen Geschichte gewonnen ha-
ben, nicht einfach aus unserem Handlungskatalog strei-
chen. Die zentrale Antwort auf die Frage „Wie sind der
Erste und der Zweite Weltkrieg entstanden?“ war doch:
Weil irgendeiner – wir Deutsche waren immer dabei –
die Integrität anderer Länder nicht akzeptiert hat. – Es
darf nicht zugelassen werden, dass Grenzen in Europa
und darüber hinaus mit Gewalt, mit Macht und mit Mili-
tär verändert werden sollen. Das dürfen wir nicht zulas-
sen.
Und das ist auch die Botschaft an Präsident Putin.
In diesem Zusammenhang muss ich schon einmal
ausdrücklich sagen: Ich habe für die allermeisten außen-
politischen Positionen der Linken ohnehin wenig Ver-
ständnis, aber so zu tun, als ob Putin der Friedensengel
und die anderen die Aggressoren seien, ist schon eine
Verdrehung der Geschichte, Herr Gysi.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
wird auf diesem Gipfel in Europa auch darüber gespro-
chen, wie wir weiterkommen bei der Bekämpfung des
islamistischen Terrors, der jetzt von al-Qaida in Pakistan
schrecklich und brutal, gemein und hinterhältig an Kin-
dern ausgeübt worden ist. Wir müssen darüber nachden-
ken, was wir tun können, um den Terror, der vom IS, von
Boko Haram und anderen Gruppierungen ausgeht, ein-
zudämmen; das ist das eine.
Das andere ist, dass wir in Europa sicher auch darüber
reden müssen, wie wir die Menschen, die zu uns kom-
men, die ihre nackte Existenz und die ihrer Kinder und
Angehörigen retten und verteidigen wollen, in diesem
Europa unterbringen. Ich will zunächst einmal einen
Hinweis für das gesamte Europa geben: Ich schaue re-
gelmäßig auf die Situation in Kurdistan; Kolleginnen
und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
sind dort gewesen. Ich kann nur sagen: 5 Millionen Kur-
den sind in der Lage, 1,4 Millionen Flüchtlinge in ihrem
kleinen Land aufzunehmen.
Angesichts dieser Zahlen werden wir in Deutschland es
ja wohl schaffen, 200 000 Flüchtlinge und ein paar mehr
in unserem Land aufzunehmen.
Jetzt, finde ich, müssen wir auch darüber reden, wie
die Menschen in unserem Land das sehen. Ich teile die
Auffassung, dass diejenigen, die jeden Montag demon-
strieren – die dazu übrigens ein Recht haben in unserem
Lande –, sich ganz genau überlegen müssen, hinter wel-
chen Parolen und welchen Plakaten sie diese Demonstra-
tionen mitmachen. Aber bevor wir über die Tausende,
über Zehntausend reden, sollten wir einmal über die Mil-
lionen in unserem Land reden, die bereit sind, sich mit
ganzer Kraft ehrenamtlich für Flüchtlinge einzusetzen.
Das ist ein Punkt, den ich am heutigen Tag etwas ver-
misse. Es muss von diesem Parlament aus auch immer
wieder eine Bestärkung der Gutwilligen in diesem Land
ausgehen,
statt dass immer nur über die geredet wird, hinter denen
wir nicht stehen.
Dazu will ich einmal eine ermutigende Zahl nennen.
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat in diesen
Tagen eine Umfrage zur Einstellung der Menschen zu
Flüchtlingen veröffentlicht. Frau Köcher macht dies
schon seit vielen Jahren; meistens wird es gar nicht rich-
tig beachtet. Diese Umfrage zeigt, dass die überwie-
gende Zahl der Menschen in unserem Land sagt: Wir
wollen, dass für diese Flüchtlinge in unserem Land eine
gute Unterbringung und gute Lebensbedingungen ge-
schaffen werden.
Da hat sich einiges verändert. Es gibt eine breite
Mehrheit, weit über 80 Prozent, die sagt: Ja, die Men-
schen, die aus dem Irak und aus Syrien kommen, die so
brutal bedrängt sind, sind bei uns willkommen. Und es
gibt eine breite Mehrheit, die sagt: Ja, diejenigen, die aus
Afrika kommen, deren Leben und Existenz bedroht sind,
sind willkommen. Dann gibt es natürlich auch den Hin-
weis, dass man es nicht akzeptieren will und nicht ver-
stehen kann, dass Menschen hierherkommen, obwohl ihr
Leben nicht bedroht ist, um Sozialhilfe zu bekommen.
Sie sagen: Dass Menschen lediglich aus diesem Grund
kommen, das lehnen wir ab. Ich finde, man sollte klar
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7209
Volker Kauder
(C)
(B)
sagen: Wer zu uns kommen will und seine Chance nut-
zen will, ist herzlich willkommen. Aber wer zu uns kom-
men will, um nicht zu arbeiten und nur Sozialleistungen
zu beziehen, der ist in diesem Land nicht so richtig will-
kommen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
– Ich höre jetzt das Gemurre, aber ich sage Ihnen: Das
gehört alles zusammen. Es muss differenziert gesehen
werden. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger
in unserem Land – dafür sage ich ihnen einen herzlichen
Dank; das hören sie viel zu selten – ist bereit, für Flücht-
linge sehr viel zu tun und sie aufzunehmen.
Natürlich müssen wir auch darüber reden, wie wir die
Flüchtlinge in ganz Europa aufnehmen. Aber da werden
wir nicht zu schnellen Lösungen kommen. Solange wir
in der Flüchtlingspolitik und in der Sozialpolitik unter-
schiedliche Positionen haben, wird es gar nicht so ein-
fach sein, darüber zu entscheiden, wie wir die Flücht-
linge verteilen sollen. Wer nach Deutschland kommt,
muss in Deutschland Aufnahme finden und entspre-
chend untergebracht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir darüber
reden, was in Europa wichtig ist, dann wird zu Recht da-
rauf hingewiesen, dass wir natürlich in Europa Lebens-
chancen schaffen müssen, und das gelingt nur durch
Wachstum. Das ist völlig richtig. Aber ich bin doch im-
mer wieder einigermaßen überrascht, wie wir über
Wachstum reden: als wenn das eine schnell wachsende
Pflanze wäre, der man am Morgen richtig viel Wasser
gibt und aus der am Abend ein großer Baum geworden
ist. Das sollten wir den Menschen nicht weismachen
wollen. Wachstum ist eine Aufgabe, die längerfristig an-
gelegt sein muss. Wir alle wissen, dass durch Hinein-
schütten von Milliarden Euro an Steuergeldern, womög-
lich noch auf Pump finanziert, wirklich nachhaltiges
Wachstum nicht entsteht, nicht in unserem Land und
nicht in Europa.
Was bringt Wachstum? Der größte Wachstumstreiber
– das hat Thomas Oppermann angesprochen – ist Bil-
dung. Was man mit Investitionen anschiebt, um Bildung,
Innovation und Forschung voranzubringen, das schafft
Wachstum.
Jetzt muss ich einmal sagen, wo wir angefangen ha-
ben. Wir haben angefangen 2005 mit jährlich 7 Milliar-
den Euro für Forschung, Innovation und Bildung. Jetzt
sind wir bei 14 Milliarden Euro jährlich in diesem Be-
reich.
Wer meint, Frau Göring-Eckardt, Investitionen seien nur
solche in Straßen und ähnliche Dinge, der hat die Bedeu-
tung von Wissenschaft, Forschung und Innovation als
Investitionstreiber nicht richtig verstanden, um das ein-
mal klar zu sagen.
Ein Jahr nach Bildung der Großen Koalition können
wir klar und deutlich sagen: Wir haben in dem wichtigen
Bereich von Investitionen in Wachstum einiges getan.
Ja, wir wissen, dass wir im Straßenbau, beim schnellen
Internet und in manch anderem Bereich noch etwas tun
müssen.
Herr Kollege Kauder – –
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Sie als Grüne haben überhaupt keinen Grund, so zu tun,
als ob Sie schon immer die größten Investoren in Stra-
ßenbau gewesen wären.
Das muss ich mir von Ihnen wahrhaftig nicht vorwerfen
lassen. Also, so was! Ich habe erlebt, wie grüne Umwelt-
minister Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur über-
all verhindert, und nicht, dass sie sie unterstützt haben.
Deswegen brauchen wir von dieser Seite keine Beleh-
rungen.
Wir wollen da einiges voranbringen. Wenn wir ein
großes Programm für Investitionen bringen, bin ich ein-
mal gespannt, auf welcher Seite der Bürgerinitiative die
Kolleginnen und Kollegen der Grünen dann stehen.
Da haben wir miteinander noch einiges vor uns.
Wir werden auch ins schnelle Internet investieren.
Wir haben vorgesehen, mit Investitionsmitteln in diesem
Bereich etwas zu tun. Der entscheidende Treiber für
Wachstum ist, wie gesagt, Bildung und Forschung.
7210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Volker Kauder
(C)
(B)
Die Bundeskanzlerin hat es angesprochen: Vor allem
findet Wachstum – damit gibt es Chancen für Arbeits-
plätze auch für die junge Generation – in unserer Wirt-
schaft statt, in Deutschland vor allem in einer durch den
Mittelstand geprägten Wirtschaft. Deswegen ist es not-
wendig und richtig, dass wir alles tun, um den mittel-
ständischen Betrieben unserer Wirtschaft die Luft zum
Atmen und zum Investieren zu lassen. Herr Wirtschafts-
minister Gabriel, ich bin dankbar, dass man jetzt ein Pro-
gramm zur Entlastung von Bürokratie auf den Weg ge-
bracht hat – zunächst einmal ein Programm. Dann haben
wir gemeinsam noch die schöne Aufgabe vor uns – ich
bin überzeugt, dass wir die stemmen werden –, die sehr
guten einzelnen Punkte auch in Gesetze zu bringen, Herr
Minister. Da wird es in beiden Fraktionen sicher noch
die eine oder andere Diskussion geben. Aber Sie sind ja
führungsstark genug, um mitzuhelfen, dass wir das
durchbringen. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten,
dass wir für die deutsche Wirtschaft zu einer Entlastung
von Bürokratie kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dazu gehört
auch, dass es dabei bleibt – die Zusage habe ich an die-
sem Platz schon mehrfach gemacht –: keine Steuererhö-
hungen. Die deutsche Wirtschaft hat einen enormen
Investitionsaufwand, gerade wegen Industrie 4.0. Ich
glaube, dass ich auch im Namen der SPD-Fraktion, im
Namen unseres Koalitionspartners sagen kann: Wir wer-
den die Möglichkeiten und die Spielräume, die das Bun-
desverfassungsgericht jetzt dargestellt hat, nutzen, um
unserer mittelständischen Wirtschaft bei der Erbschaft-
steuer auch in Zukunft keine Steine in den Weg zu legen,
sondern ihr Investitionsmöglichkeiten zu erhalten.
Ich bin Wolfgang Schäuble dankbar dafür, dass er gesagt
hat: Das werden wir gleich zu Beginn des nächsten Jah-
res anpacken. – Somit gibt es erst gar keine Verunsiche-
rung. Die Wirtschaft kann sich darauf verlassen: Was wir
tun können, um ihr zu helfen, werden wir tun.
Deshalb bin ich insgesamt der Überzeugung, dass wir
in diesem ersten Jahr in dieser Koalition eine gute Arbeit
geleistet haben. Frau Göring-Eckardt, Sie brauchen sich
keine Sorgen zu machen: Wir kommen ganz gut mit-
einander aus.
Natürlich gibt es mal die eine oder andere Diskussion.
Die gibt es überall. Ich muss Ihnen aber sagen: Ich habe
von vielen Grünen gehört, wie das während Ihrer Regie-
rungszeit mit der SPD war und wie es gekracht und ge-
knallt hat.
Viele von Ihnen haben darunter gelitten. Wir leiden in
der Große Koalition nicht.
Wir machen unsere Arbeit, und wir werden den Men-
schen in diesem Land auch im nächsten Jahr eine gute
Regierung stellen. Sie sagen, bei uns knirscht es manch-
mal. Ich lese nur die Zeitungen, aber ich kriege auch so
vieles darüber mit, wie es bei Ihnen knirscht. Dazu kann
ich nur sagen: Ich wünsche Ihnen mehr Frieden. Uns al-
len wünsche ich für das kommende Jahr alles Gute.
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Sarrazin
das Wort.
Herr Kollege Kauder, Sie haben den Grünen vorge-
halten, sie seien die einzige Partei, die es schafft, Auto-
bahnen zu bauen.
– Herr Kauder, wir sind sehr gut darin, Autobahnen zu
verhindern. Das dürfen Sie gern unterschreiben.
Ich möchte jedoch eines sagen: Sie haben als europäi-
sche Volkspartei einen Spitzenkandidaten gewählt. Die-
ser Spitzenkandidat hat irgendwann dann auch die
Unterstützung Ihrer Parteivorsitzenden und Kanzlerin
gehabt. Dieser Spitzenkandidat ist mit dem Versprechen
angetreten, Signale zu setzen, dass es in Europa wieder
vorangeht, dass Investitionen getätigt werden und dass
Hoffnung gegeben wird. Er hat ein Konzept vorgelegt.
Und was machen Sie? Sie zerreißen dieses Konzept von
Herrn Juncker, als sei es ein Konzept, nur um Straßen zu
bauen. Die Fakten sind: Sie haben eine wirklich bemer-
kenswerte Liste eingereicht, die Sie im geheimen Stüb-
lein zusammen mit Lobbyisten in Berlin abgestimmt ha-
ben und die Sie nicht dem deutschen Parlament gegeben
haben. In dieser Liste stehen vor allem alte Straßenbau-
dönekens.
Herr Kauder, ich bin Historiker. Ich habe mich gefragt,
ob Sie mich vielleicht brauchen, damit ich für Sie die
Archive durchsuche, damit Sie die Projekte aus den
60er-Jahren auch noch in die Liste schreiben können.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7211
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
Ich möchte Ihnen eine Wette anbieten. Herr Kauder,
ich wette mit Ihnen um eine gute Flasche griechischen
Wein, dass drei der Projekte, die in dieser Liste stehen,
die von Ihnen in Brüssel eingereicht wurde, nicht von
der EIB finanziert werden, nämlich: der dritte Terminal
des Flughafens Frankfurt, die Elbvertiefung und die We-
servertiefung. Sind Sie bereit, diese Wette anzunehmen?
Darüber hinaus sage ich Ihnen: 7,5 Milliarden Euro
für Autobahnprojekte vorzusehen, haben sich nicht die
Grünen ausgedacht, sondern das haben Sie sich ausge-
dacht.
Daher bitte ich Sie, dies anzuerkennen. Unterstützen Sie
Herrn Juncker, statt ihm Betonprojekte aufzuschreiben
und uns vorzuwerfen, wir wären für Beton.
Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht
heute die Debatte über den Europäischen Rat. Reden wir
also auch über die Parlamentarisierung in Europa.
Erstens. Es ist uns 2014 gegen den ursprünglichen
Willen des Europäischen Rates gelungen, dass auf Vor-
schlag der Christdemokraten, der Liberalen, der Grünen,
der Sozialdemokraten und der Linken das Europäische
Parlament den Kommissionspräsidenten wählt und nie-
mand anderes. Das haben wir geschafft, und das sollten
wir uns alle gemeinsam als Erfolg zuschreiben.
Zweitens ist die Konsequenz daraus, dass das Investi-
tionsprogramm, das als Entwurf von Jean-Claude
Juncker jetzt vorliegt, eine parlamentarische Aufgabe
sein muss. Das ist keine Angelegenheit von zwischen-
staatlichen Vereinbarungen oder Entscheidungen im Rat,
die wir mit Ja oder Nein begleiten. Vielmehr muss es
eine Debatte in allen nationalen Parlamenten und die ge-
setzgeberische Entscheidung im Europäischen Parla-
ment sein. Deshalb sind alle Fraktionen in diesem Parla-
ment gefordert – mit Vorschlägen, Vorstellungen, auch
Kritik. Es sollte das Parlament entscheiden und nicht die
Staats- und Regierungschefs.
Drittens. Ich fand es – bezogen auf Europa – 2014 für
den Deutschen Bundestag den wichtigsten Erfolg, dass
wir alle – ich fange einmal anders herum an: Linkspartei,
SPD, Grüne und CDU/CSU – gesagt haben: Wir stehen
für Verständigung, auch für Solidarität zwischen den
Völkern in Europa. Wir wollen keine militärische Lö-
sung irgendeines Konfliktes, auch nicht bei der Frage
Ukraine/Russland. – Das sollte uns zusammenhalten,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sollte uns in den
verschiedenen Funktionen, die wir haben, ermöglichen,
gemeinsam Gutes zu bewirken. Das ist wichtig und
keine Selbstverständlichkeit. Denkt einmal zurück, wie
hier vor zehn Jahren diskutiert worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist der
18. Dezember, der Geburtstag von Willy Brandt. Als er
Kanzler wurde, gab es auch einen Europäischen Rat; das
war im Dezember 1969. Die erste Initiative betraf die
Vertiefung und die Fortsetzung des Erweiterungsprozes-
ses mit Großbritannien, Dänemark, Irland, Norwegen.
Mit Norwegen hat es leider nicht funktioniert. Wir So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen be-
wusst in dieser Tradition, gerade am heutigen Tag und
gerade bei einer Debatte über einen Europäischen Rat.
Wir müssen diese Gemeinschaft weiter vertiefen, und
wir müssen auch die Erweiterungsmöglichkeiten nutzen.
Das wird nur gehen, wenn wir mit der Kommission in al-
len Fragen, natürlich auch bei TTIP, eine offene, transpa-
rente Debatte führen und die Bürgerinnen und Bürger
einladen, sich zu beteiligen und mitzumachen bei der
Lösung von Problemen. Wir dürfen nicht den Eindruck
vermitteln, wir wüssten alles besser und Bürger brauch-
ten nicht mitzumachen. Dieses Mitmachen in Europa ist
zentral. Das sollten wir uns auch 2015 in allen Fraktio-
nen vornehmen; denn Europa gelingt nur gemeinsam.
Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
25 Jahre nach dem Mauerfall erleben wir nun, dass an
der Spitze des Europäischen Rates ein ehemaliger polni-
scher Ministerpräsident steht. Ich finde, das kann uns gar
nicht oft genug gesagt und bewusst gemacht werden.
Wer hätte das vor 25 Jahren gedacht? Gerade an diesem
Moment wird deutlich, wozu diese europäische Frie-
densordnung in der Lage ist, welche Kraft sie entfaltet
hat und entfalten kann.
Es stimmt, was einige von Ihnen gesagt haben, dass wir
nach wie vor große ökonomische, aber auch politische
Herausforderungen in Europa haben. Die Staatsschulden-
krise ist noch nicht voll bewältigt. Aber es stimmt auch,
dass wir auf dem Weg zur Bewältigung dieser Krise Er-
folge erzielt haben: Spanien, Portugal und Irland haben
7212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Gerda Hasselfeldt
(B)
den Rettungsschirm verlassen. Selbst Griechenland und
Zypern sind auf einem guten Weg. Meine Damen und
Herren, auch das sollten wir nicht einfach zur Seite le-
gen. Denn es ist das Ergebnis einer richtigen Politik, ei-
ner richtigen Weichenstellung in Europa insgesamt, aber
auch richtiger Weichenstellungen in den Ländern. Bei-
des gehört zusammen: die Entscheidungen auf europäi-
scher Ebene, beispielsweise zum Europäischen Stabili-
tätsmechanismus, zur Bankenregulierung oder zum
Fiskalpakt, genauso wie die Entscheidungen der nationa-
len Gremien in den Nationalstaaten, beispielsweise für
Strukturreformen und solide Haushalte.
Nun stehen wir vor der Herausforderung, neben der
Stabilisierung der öffentlichen Haushalte, neben den not-
wendigen Strukturreformen auch dafür zu sorgen, dass
mehr investiert wird, dass Wachstum entsteht, dass die
Arbeitslosen weniger werden, dass die Jugendlichen in
den Problemländern Arbeit bekommen, in den Arbeits-
prozess hineinwachsen, dass die Unternehmer dort in-
vestieren können, wo es notwendig ist. Dazu brauchen
wir keine schuldenfinanzierten konjunkturpolitischen
Strohfeuerprogramme. Wir brauchen auch keine Pro-
gramme, die über den ESM finanziert werden. Dazu ist
der Europäische Stabilitätsmechanismus nicht da.
Das 315-Milliarden-Euro-Programm, das jetzt vom
Kommissionspräsidenten vorgelegt wurde, ist eben kein
Strohfeuerprogramm, kein Konjunkturprogramm,
sondern ein Investitionsprogramm, bei dem private In-
vestitionen und privates Kapital im Mittelpunkt und im
Vordergrund stehen. Das ist das Entscheidende.
Natürlich steht und fällt der Erfolg mit der Auswahl
der entsprechenden Projekte.
– Natürlich ist das ganz wesentlich.
– Ich sage immer: Gott sei Dank müssen wir uns nicht
mit Ihnen über die Auswahl der Projekte streiten; denn
dann käme nichts Gescheites heraus.
Ich bin sehr froh – es ist völlig richtig –, dass die Aus-
wahl der Projekte und ihre Abwicklung von den Exper-
ten der Europäischen Investitionsbank vorgenommen
werden. Denn entscheidend ist, dass es Wachstumspro-
jekte sind, dass es Projekte sind, mit denen keine Mit-
nahmeeffekte verbunden sind, dass es Projekte sind, die
in der Tat wirtschaftlich tragfähig sind und nicht nur Ri-
siken mit sich bringen, dass es Projekte sind, die dort
realisiert werden, wo sie tatsächlich notwendig sind; das
müssen die Kriterien für die Auswahl der Projekte sein.
Nun wissen wir auch, dass Geld zwar ein wichtiger,
aber nicht der einzige Anreiz ist. Gerade für Investitio-
nen aus privater Hand ist es sehr entscheidend, ob die
Bedingungen auch stimmen, die Investitionsbedingun-
gen, die Rahmenbedingungen; Volker Kauder hat vorhin
einige angesprochen. Ganz wesentlich ist dabei der
große bürokratische Aufwand, der uns allen miteinander
– nicht nur in anderen europäischen Ländern, sondern
auch bei uns – gelegentlich das Leben schwerer macht,
als es sein müsste. Deshalb begrüße auch ich die Vor-
schläge zum Abbau von Bürokratie, die der Wirtschafts-
minister auf den Tisch gelegt hat. Ich appelliere aber an
uns alle, ohne Scheuklappen auch einmal an das heran-
zugehen, was sonst noch alles abgebaut werden könnte,
nämlich an das, was wir – manchmal oder sogar meis-
tens mit gutem Willen, weil wir Deutsche alles ganz be-
sonders akkurat machen wollen – uns zusätzlich aufbür-
den, vorschreiben und kontrollieren usw. Da müssen wir
alle uns selbst zur Brust nehmen und sagen: Das alles
müssen wir einmal überprüfen.
Dies gilt auch für das, worüber wir aktuell entscheiden.
Das schreiben uns investitionsbereite Unternehmer fast
tagtäglich ins Stammbuch. Dazu gehört natürlich auch,
dass weiterhin alle Länder ihre Hausaufgaben machen.
An den notwendigen Strukturreformen und an der not-
wendigen Haushaltskonsolidierung darf weiterhin kein
Weg vorbeiführen.
Wir in Deutschland haben eine Vorreiterrolle und
auch eine Vorbildfunktion. Bei allen Gesprächen, die wir
mit unseren Kollegen in Frankreich und Italien führen,
müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass ein so-
lider Haushalt und die notwendigen Strukturreformen
die Bedingungen dafür sind, dass die Unternehmer Ver-
trauen in die Politik haben, und nur dann, wenn Ver-
trauen da ist, auch investiert wird. Das ist eine wesentli-
che Grundlage.
Europa ist aber nicht nur eine wirtschaftliche Koope-
ration, fast eine wirtschaftliche Abhängigkeit voneinan-
der. Dieses Europa hat auch eine gemeinsame außenpoli-
tische Stimme und eine gemeinsame außenpolitische
Verantwortung; gerade durch das, was sich in der
Ukraine abgespielt hat, ist das besonders deutlich gewor-
den. Das, was wir dort beklagen müssen, bedeutet aus
meiner Sicht fast eine Erschütterung unserer lange er-
kämpften und hart erarbeiteten Nachkriegsordnung.
Diese Nachkriegsordnung hat zwei wesentliche Ele-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7213
Gerda Hasselfeldt
(C)
(B)
mente, nämlich die territoriale Integrität der Staaten und
das Selbstbestimmungsrecht der Staaten.
Diese beiden wesentlichen Elemente werden und wur-
den durch das Verhalten Russlands beschädigt. Jeder, der
Völkerrechtsverletzungen schönredet und sie als nicht so
wichtig abtut, hat aus der Geschichte offensichtlich
nichts gelernt.
Jetzt geht es darum, den Menschen in der Ukraine und
ihrem Land politisch, wirtschaftlich und humanitär zu
helfen. Es geht natürlich auch darum, den Gesprächsfa-
den mit Russland nicht abreißen zu lassen. Deshalb
danke ich der Bundeskanzlerin, dem Außenminister und
auch dem Entwicklungshilfeminister für all das, was sie
für Deutschland auf diesem Weg geleistet haben, aber
auch für die gemeinsame europäische Reaktion auf diese
Situation; denn das war nicht selbstverständlich. Das ist
nach wie vor harte Arbeit; meine hohe Anerkennung und
mein großer Dank dafür.
Die Krisenherde in der Welt erschüttern uns alle, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und das nicht erst seit weni-
gen Tagen. Der Terror des ISIS in Syrien und im Irak de-
stabilisiert eine ganze Region. Viele Menschen flüchten
vor diesem Terror, um Leib und Leben zu retten. Vor
diesem Hintergrund sind wir alle miteinander gefor-
dert, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass möglichst
viele Menschen dort bleiben können. Wir tun das durch
humanitäre Hilfe, durch Hilfe im Bereich Ausrüstung
und Waffen und künftig wohl auch durch Hilfe im Be-
reich Ausbildung. Trotzdem können nicht alle dort blei-
ben, viele müssen ihre Heimat verlassen.
Die Menschen aus Syrien, aus dem Irak und anderen
Krisengebieten kommen nicht zu uns, weil sie gerne rei-
sen, sondern sie kommen zu uns, um ihr Leben zu retten,
um in Sicherheit leben zu können und um nicht weiter
verfolgt zu werden. Das muss uns allen bewusst sein.
Natürlich muss uns auch bewusst sein, dass wir uns da-
bei nicht überfordern dürfen.
Ich möchte auch meinerseits all jenen einen herzli-
chen Dank aussprechen, die sich in unseren Städten und
Gemeinden als Kommunalpolitiker oder ehrenamtliche
Helfer dafür einsetzen, dass diese Menschen hier gut
versorgt werden, dass sie aufgenommen werden, dass sie
Menschlichkeit spüren und nicht nur jetzt, vor Weih-
nachten, sondern auch darüber hinaus das Gefühl haben:
Ja, es gibt noch so etwas wie Menschlichkeit auf der
Welt.
Wir alle müssen versuchen, das gerecht zu gestalten
und natürlich auch in Europa für eine gerechte Vertei-
lung zu sorgen. Ich teile all das, was in Bezug auf die
Menschen, die auf die Straße gehen und demonstrieren,
gesagt wurde. Das ist eine Aufgabe von uns allen, von
jedem und jeder in diesem Parlament, aber auch von je-
dem und jeder in der Gesellschaft: Wir müssen aufklä-
ren, reden, diskutieren. Wir haben so ein großes Glück,
in einem freien Land und einem freien Europa zu leben
und unser Leben selbst gestalten zu können. Dafür soll-
ten wir nicht nur dankbar sein, sondern wir sollten aus
dieser Freiheit auch Verantwortung ableiten.
Gerade jetzt, zu Beginn einer neuen Epoche in Eu-
ropa, jetzt, da die neue Kommission, der Europäische
Rat unter einem neuen Ratspräsidenten und das Europäi-
sche Parlament die Arbeit so richtig beginnen, wird
uns deutlich: Wir haben in diesem Europa mit seinen
28 ganz unterschiedlichen Ländern schon so viel ge-
schafft. Wenn wir unsere Herausforderungen gemeinsam
annehmen und dieses Europa gemeinsam weitergestal-
ten, dann werden wir die Probleme, die vor uns liegen,
so erfolgreich lösen, wie dies in der Vergangenheit der
Fall war.
Ich wünsche der Kanzlerin bei den Verhandlungen
und Gesprächen weiterhin die glückliche Hand, die sie
in der Vergangenheit hatte.
Das Wort hat nun der Kollege Manuel Sarrazin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Geehrte Frau Hasselfeldt! Ich ver-
traue darauf, dass Ihre Liste die EIB aussieben wird. Ich
halte Ihre Liste, in gewisser Hinsicht vielleicht auch Ihre
Koalition, für, technisch gesprochen, nicht förderfähig.
Aber dass Sie jetzt so tun, als wäre es Ihr Verdienst,
wenn Ihre Liste mit nichtförderfähigen Projekten von
Experten ausgesiebt wird, das ist schon ein starkes
Stück.
Ich bin der Meinung, dass das Beste, was Sie und die
Kanzlerin hier gesagt haben, ist, dass die Experten das
entscheiden sollen. Denn Experten sind Sie nicht; das ist
schon einmal klar. Von daher sind auch wir dafür.
Sie haben über Jahre hinweg gesagt, die anderen Län-
der in der EU hätten keine Projekte. Jetzt reichen alle
Länder Projekte ein, und es ist reines Glück, dass
7214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Manuel Sarrazin
(C)
Deutschland noch irgendeine Liste zustande bekommen
hat. Sonst wäre gar keine Liste vorgelegt worden. Sie ha-
ben keine wachstumsfördernden und nachhaltigen Inves-
titionsprojekte, aber die anderen haben sie.
Das Faszinierende ist, Herr Kauder, dass Sie trotzdem
hier schreien. Sie sprachen von der angeblichen Beteili-
gung von 90 Milliarden Euro. In Echt ist es doch so: Als
wirtschaftlich stärkstes Land in Europa halten Sie die
Hand auf, wollen aber selber nichts geben. Anstatt jetzt
ein Zeichen zu setzen, anstatt den ersten Schritt zu ge-
hen, anstatt solidarisch für gemeinsame europäische Pro-
jekte einzutreten, die nicht nationale Selbstbedienung
sind – auch nicht in Frankreich und Portugal –, über die
Experten entscheiden und die europäisch ausgerichtet
sind, anstatt zu sagen: „Wir sind bereit, uns zu beteili-
gen“, sagen Sie: Wir wollen Geld für die Elbvertiefung,
aber „mir gäbet nix“. – Das ist uneuropäisch; das muss
ich wirklich sagen.
Ich habe mir jahrelang von der SPD angehört: Wir
brauchen Investitionsprogramme und einen Marshall-
plan. Sie haben mir wirklich die Ohren abgekaut.
Aber das Erste, was Herr Gabriel jetzt macht, ist, seinem
Spitzenkandidaten, Herrn Schulz, in den Rücken zu fal-
len und zu sagen: Nein, Geld haben wir nicht.
Wir sagen: 12 Milliarden Euro über drei Jahre in den
Juncker-Plan einzuzahlen, kann Deutschland leisten. Da-
mit würden Sie den Diskurs ändern. Sie würden diesem
„Madame No“, das Frau Merkel immer zugeschrieben
wird, den Boden entziehen. Sie würden zeigen: Deutsch-
land sagt Ja. Wir sind bereit, uns zu engagieren, gemein-
sam europäisch voranzugehen. Wir sind die Ersten, die
Ja und nicht Nein sagen.
Was aber kommt von Ihnen? Wir reden über PEGIDA
und sonst etwas. Zeigen Sie doch einmal etwas.
Wissen Sie, die Lage ist ziemlich schwierig, nicht nur
ökonomisch. Wir sind seit Jahren in der Situation, dass
die Debatten auf den Europäischen Räten mehr und
mehr nationalisiert werden. Plötzlich entstehen wieder
Gewinner und Verlierer. Die Magie der Europäischen
Union – ich zitiere den spanischen Botschafter, Herr
Grosse-Brömer –, Gewinner und Gewinner zu schaffen,
die einmal mehr, einmal weniger gewinnen, aber keine
Gewinner und Verlierer, droht verloren zu gehen über ei-
nen Debattenstil, bei dem jeder nur an sich selber denkt,
von nationalen Interessen getrieben auf den Gipfel geht,
dort verhandelt und dann zu Hause erklärt, warum
Deutschland oder Frankreich oder Griechenland gewon-
nen haben.
Die möglichen Neuwahlen in Griechenland werden
genau in diesem Ton stattfinden. In diese Sentiments, in
diesen Ton hinein hätte Deutschland die Gelegenheit, zu
sagen: Wir unterstützen den EVP-Spitzenkandidaten bei
der Umsetzung dessen, was der SPD-Spitzenkandidat
Herr Schulz immer gefordert hat: Es soll im Sinne von
gemeinsamen europäischen Projekten ausgestaltet und
von europäischen Experten entschieden werden. Es soll
einen europäischen Mehrwert haben und am besten noch
einen klaren grünen Oberpunkt, nämlich nachhaltige
ökologische Projekte im Bereich erneuerbarer Energien
und im Bereich Breitbandausbau, die grenzüberschrei-
tend sind. Das ist eine europäische Vision.
Man muss natürlich genau auf die Kriterien schauen,
man muss genau auf die Struktur schauen. Was ich heute
hier gespürt habe, ist reiner Antagonismus.
Das Wort, das hier am häufigsten und besonders antago-
nistisch vorgetragen wird, ist Entschlossenheit. Wissen
Sie, es reicht nicht aus, wenn Sie hier sagen: „Lassen Sie
uns entschlossen in die Zukunft schauen“, und dann,
wenn Herr Juncker ein Projekt vorlegt, einfach zu ant-
worten: Ach nein – aber Geld wollen wir trotzdem.
Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege Sarrazin. – Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen, liebe Gäste! –
Nächster Redner in der Debatte ist Bernd Westphal für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am Ende des erfolgreichen Jahres 2014 geht
es um die richtige Weichenstellung für Europa. Es geht
um die Schaffung von Perspektiven und Vertrauen für
das vereinte Europa. Ebenso müssen Zuversicht und der
feste Wille, die Zukunft Europas zu gestalten, signali-
siert werden. Die Europäische Kommission – sie ist neu
im Amt – muss gemeinsam mit dem Europäischen Parla-
ment und natürlich auch dem Europäischen Rat für eine
fortschrittliche Politik in Europa sorgen.
Wirtschaftspolitisch stehen Investitionen im Fokus. In
der EU ist das Investitionsniveau seit 2007 um etwa
15 Prozent gesunken. Wir brauchen mehr wirtschaftli-
ches Vertrauen, politische Strategien und einen verlässli-
chen rechtlichen Rahmen sowie eine effiziente Verwen-
dung öffentlicher Mittel. Dabei kommt es darauf an, dass
große Unternehmen nicht unsere Strukturen des Ge-
meinwohls in Anspruch nehmen können und sich dann,
wenn es um Steuerzahlungen geht, einen schlanken Fuß
machen. Das müssen wir zukünftig verhindern.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7215
Bernd Westphal
(C)
(B)
Mit dem Investitionsprogramm der EU sollen in den
nächsten drei Jahren zusätzlich 315 Milliarden Euro re-
alisiert werden. Das ist ein politisch ambitionierter Plan,
der aber dafür sorgt, den Investitionsrückgang umzukeh-
ren, Arbeitsplätze zu schaffen, Jugendarbeitslosigkeit zu
bekämpfen und für wirtschaftliche Erholung zu sorgen.
Wir müssen bei den gesamten Investitionsprojekten auch
dafür sorgen, dass der Aspekt der Nachhaltigkeit mit
einfließt. Wir müssen neben den Impulsen für eine An-
kurbelung der Wirtschaft die sozialen und ökologischen
Aspekte mit betrachten.
Ganz wichtig ist dabei auch, dass wir bei der Ent-
wicklung die Arbeitsbedingungen im Auge behalten und
sicherstellen, dass Arbeit zufrieden und nicht krank
macht. Wir müssen für gute tarifliche Bezahlung sorgen,
für Mitbestimmung am Arbeitsplatz, und wir müssen für
ein investitionsfreundliches Umfeld sorgen, in dem
Innovationen überhaupt entstehen können. Hier bin ich
unserer Arbeitsministerin für ihr Engagement sehr dank-
bar.
Es ist viel über Energiepolitik gesprochen worden.
Auch hier ist die Kooperation in Europa auszubauen. Es
ist vor allen Dingen Sigmar Gabriel zu danken, der die
Kooperation mit den Nachbarländern forciert.
Zum Thema Freihandelsabkommen will ich nur sa-
gen: Wir fangen hier doch nicht bei null an. Deutschland
hat schon 131 Freihandelsabkommen mit Investitions-
schutz abgeschlossen. Wir als Politik müssen die Sorgen,
die da draußen in der Gesellschaft formuliert werden,
natürlich ernst nehmen. Aber ich denke, es ist, was den
Investitionsschutz und andere Aspekte angeht, verant-
wortungslos und überzogen, so zu tun, als sei das eine
Bedrohung für die Menschen. Bisher haben wir durch
die Freihandelsabkommen für unser Exportland gute
Perspektiven geschaffen. Deshalb werden wir uns an die
Formulierungen im Koalitionsvertrag halten und nicht
das Tor für Dumping und Missbrauch öffnen.
Deutschland braucht ein starkes Europa. Es war fast
70 Jahre ein Garant für Frieden und Freiheit. Die ökono-
mische Stärke muss zu sozialem und ökologischem Fort-
schritt führen. Ich wünsche der Bundeskanzlerin bei ih-
ren Verhandlungen viel Erfolg. Wir müssen aus dem
Krisenbewältigungsmodus in den Modus der Gestaltung
der Zukunft übergehen. Dafür wünsche ich uns gemein-
sam viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege Westphal. – Nächster Redner in
der Debatte: Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Sarrazin, eines muss richtiggestellt werden: Die Liste,
von der Sie die ganze Zeit gesprochen haben, ist eine
Liste, die von den Finanzministern angefordert wurde
mit dem Ziel, baureife Projekte, obendrein auch noch
möglichst im Rahmen von PPP, also mit privaten Inves-
titionen, so schnell wie möglich umzusetzen. Das haben
Sie in Ihren Ausführungen vielleicht vergessen. Es geht
also darum, mit diesen Projekten so schnell wie möglich
voranzukommen. Dass dies Projekte sind, die es schon
länger gibt – sonst könnten sie nicht baureif sein –, liegt
natürlich auf der Hand.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist und war in
den vergangenen Jahren der Stabilitätsanker in der Euro-
päischen Union. Wir sind das einzige Land, das es fertig-
gebracht hat, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Und: Wir haben das Vertrauen in die Euro-Zone gestärkt.
Gott sei Dank ist uns das gelungen. Da bedanke ich mich
vor allen Dingen bei der Bundeskanzlerin und beim
Bundesfinanzminister. Denn sie sind diejenigen gewe-
sen, die dafür gesorgt haben, dass dieses Vertrauen wie-
der da ist.
Dass sich das gelohnt hat, sieht man daran – die Bun-
deskanzlerin hat es eben erwähnt –, dass Portugal, Irland
und Spanien aus der Krise raus sind und aus den Ret-
tungsprogrammen ausgestiegen sind; genau das war un-
ser Ziel. Dass Griechenland in diesem Jahr voraussicht-
lich sogar einen Primärüberschuss erzielt, kann man ja
wohl wirklich nur als Erfolg dieser Politik bezeichnen.
Darauf sollten wir stolz sein.
Aber es liegen nach wie vor zahlreiche Herausforde-
rungen vor uns, die noch nicht bewältigt sind. Wenn man
sich das schwache Wachstum in Europa vor Augen führt
– die EZB hat verkündet, dass es etwa 1 Prozent betra-
gen wird – und es in Relation zum Wachstum in den
USA setzt – dort wird es 3 Prozent Wachstum geben –,
dann wird deutlich, dass wir noch ein gutes Stück zu ge-
hen haben.
Die Bundeskanzlerin nennt immer drei Zahlen, näm-
lich: In Europa leben ungefähr 7 Prozent der Weltbevöl-
kerung, wir haben einen Anteil am Weltinlandsprodukt
von etwa 25 Prozent, und 50 Prozent der weltweiten
Sozialausgaben werden in Europa getätigt. Dass wir uns
dies à la longue ohne Wachstum leisten können, wage
ich zu bezweifeln. Deswegen muss es unsere Aufgabe
sein, für ein vernünftiges Wachstum zu sorgen.
7216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
Das gilt mit Sicherheit auch im Hinblick auf das 315-
Milliarden-Euro-Programm, das Jean-Claude Juncker
aufgelegt hat. Damit wird das Ziel verfolgt, Investitionen
zu fördern, die sinnvoll sind, und nicht irgendwelche
Projekte durchzuführen, die kein Mensch braucht.
Das gilt auch im Hinblick auf die Billionen Euro von
Herrn Draghi. Hier habe ich allerdings Bedenken, wenn
ich an die „Dicke Bertha“ und an „Bazooka“ denke, in
deren Rahmen mittlerweile 3 Billionen Euro für den
Aufkauf von Anleihen – im Wesentlichen von Staatsan-
leihen; denn so viele Unternehmensanleihen gibt es auf
dem europäischen Anleihemarkt überhaupt nicht – auf-
gewendet wurden. Das zeigt mir, dass da irgendetwas in
die falsche Richtung läuft. Hier sollten wir sehr gut auf-
passen.
Entscheidend ist aber, dass wir in Europa eine Struk-
turreform hinbekommen, die den Wettbewerbsvorteil
Europas ausweitet bzw. die Wettbewerbsfähigkeit Euro-
pas steigert. Es gibt eine Reihe von Programmen und
Dingen, die dafür sorgen, dass wir in Europa weiterkom-
men, und dafür müssen wir uns einsetzen.
An allererster Stelle sei hier eine nachhaltige Stabili-
tätspolitik genannt. An zweiter Stelle muss es auch eine
europäische Energiekostenregelung geben. Wir müssen
in Energiefragen in Europa gemeinsam und über die
Grenzen hinaus handeln, wir müssen uns auch mit der
demografischen Entwicklung nicht nur in Deutschland,
sondern in ganz Europa beschäftigen, wir brauchen eine
leistungsstarke, moderne Infrastruktur inklusive des
Ausbaus von Breitbandnetzen nicht nur in Deutschland,
sondern über alle Grenzen hinaus; und last, but not least
brauchen wir einen freien Außenhandel.
TTIP ist einer der wesentlichen Faktoren, mit dem wir
den freien Außenhandel verstärken können.
Wir müssen begreifen, dass wir jetzt weltweite Stan-
dards setzen können. Indem wir als Erste ein Abkommen
mit den Amerikanern schließen, setzen wir Standards
und Normen auf europäischem Niveau.
Nebenbei bemerkt: In vielen Bereichen sind die Stan-
dards in den USA deutlich höher als bei uns. Fragen Sie
doch einmal in der pharmazeutischen Industrie nach, wie
hoch die Zulassungsschranken für Arzneimittel in den
USA im Vergleich zu uns sind. Bei uns sind sie wesent-
lich niedriger als in den USA.
Das zeigt, dass auf beiden Seiten zum Teil Standards
gesetzt wurden, die so hoch sind, dass sie kaum einer er-
füllen kann.
Wir sollten es gemeinsam so schnell wie möglich hinbe-
kommen, vernünftige Standards mit den beiden großen
Blöcken zu vereinbaren.
Wenn die Kaufkraft in einem Bereich 800 Millionen
Euro beträgt, wird das auch auf andere Bereiche über-
schwappen. Sie wissen, dass die Doha-Runde vor Jahren
zu einem Stillstand gekommen ist. Auf diese Art könn-
ten wir das gesamte Welthandelssystem wiederbeleben.
Deswegen muss es unser vorrangiges Ziel sein – hier
sind wir alle in diesem Hohen Hause gefordert –, so
schnell wie möglich auf den Pfad der Tugend zurückzu-
kehren und dafür zu sorgen, dass TTIP unterzeichnet
wird.
– Ein vor allen Dingen bei Ihnen vorhandener latenter
Antiamerikanismus darf hier nicht ausgelebt werden. So
wollen wir uns das nicht kaputtmachen lassen.
Ein Punkt sollte noch angesprochen werden, der uns
intensiv beschäftigen muss, nämlich der demografische
Wandel, der in Deutschland zu heftigen Folgen führt. Im
letzten Jahr sind in Deutschland 33 500 Ausbildungsstel-
len nicht besetzt worden. In diesem Jahr werden es
wahrscheinlich noch weit mehr sein. Das zeigt, wie
schwierig die Situation in Deutschland ist.
Schauen Sie sich einmal die Altersstruktur der unter-
schiedlichen Länder an. Mit im Durchschnitt 46,1 Jahren
haben wir zusammen mit Japan die älteste Bevölkerung.
In Frankreich beträgt das durchschnittliche Alter
40,9 Jahre, in den USA 37,6 Jahre, in China 36,7 Jahre,
in Brasilien 30,7 Jahre und in Indien gar nur 27 Jahre.
Das zeigt, dass sich hier etwas gewaltig verändert und
dass sich bei uns etwas verändern muss.
Deswegen finde ich das, was Thomas Oppermann
eben gesagt hat, richtig: Wir brauchen auch ein vernünf-
tiges Einwanderungsmodell bezogen auf Länder außer-
halb Europas. Das halte ich für notwendig, und ich
glaube, wir können das auch schaffen. Vielleicht denken
wir einmal über das kanadische Modell nach, was si-
cherlich ein Hinweisgeber sein kann.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Vor
kurzem wurde der ifo-Wirtschaftsklimaindex veröffent-
licht. Er ist zum zweiten Mal hintereinander positiv. Das
zeigt: Auch in der Wirtschaft erwartet man, dass die Si-
tuation im nächsten Jahr besser wird. Das ist eine frohe
Botschaft kurz vor Weihnachten.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7217
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
Vielen Dank, Michael Fuchs. Ich wünsche Ihnen auch
ein schönes Weihnachtsfest. – Der nächste Redner ist
Christian Petry für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Regierungserklärungen zum Europäischen Rat ha-
ben als Schwerpunkt oftmals natürlich auch die Reform-
programme des Europäischen Semesters, die hier schon
genannt worden sind. In diesem Zusammenhang wird
auch über das Investitionsprogramm diskutiert.
Herr Sarrazin, Sie bauen hier einen Pappkameraden
auf und machen ihn dann auch noch selber kaputt. Wir
können gerne über parlamentarische Beteiligungen und
darüber diskutieren, wie diese Investitionslisten zu-
stande kommen. Hier bin ich auch für Kritik offen. Wir
sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass wesentlich
mehr Mittel für den Bereich der Digitalen Agenda und
für den Bereich der Energiewende angemeldet wurden
als für den Autobahnbau. Das sollte man fairerweise zur
Kenntnis nehmen.
Außerdem sollte man zur Kenntnis nehmen, dass wir
mitten in einem Diskussionsprozess sind. Die Situation
so darzustellen, als wäre dieser Prozess schon abge-
schlossen, als könnte hier nichts mehr passieren, ist
gänzlich falsch.
Wir sind gerne bereit, darüber zu reden, inwieweit
eine finanzielle Flankierung der Maßnahmen durch
Deutschland, etwa über die KfW, möglich ist. Warum
denn nicht? Wir sind doch mitten in einem Diskussions-
prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.
Daher war das ein Pappkamerad, der aufgestellt und
anschließend niedergeschmettert wurde. Das hat mit der
Realität in diesem Fall aber nichts zu tun.
Wir müssen beim Europäischen Semester natürlich
auch aufpassen; denn seine Leitlinien stammen noch aus
der alten Ära. Juncker hat etwas Neues angestoßen. Er
hat als Erster gesagt, dass wir mehr Investitionen brau-
chen. Die Austeritätspolitik ist damit etwas zurückge-
gangen. Wir müssen Investitionsanreize in Europa schaf-
fen. Angesichts 25 Millionen Arbeitsloser und davon
5 Millionen arbeitsloser Jugendlicher wird deutlich, wie
wichtig diese Kehrtwende in der europäischen Politik
ist.
Mit diesem Investitionsvorstoß hat sich die wirt-
schaftspolitische Debatte grundlegend geändert. Nicht
nur wir reden von Investitionen, sondern auch Frau
Merkel und Herr Schäuble. Das ist insgesamt gut für die
Große Koalition. Ich glaube, mit dieser europäischen
Initiative, die wir positiv begleiten sollten, sind wir auf
einem guten Weg.
Trotz vieler Kritikpunkte, trotz vieler offener Fragen,
wie was zustande kommt, wie geprüft wird und was am
Ende gefördert wird, sollten wir die Erreichung des Ziels
unterstützen, weg von den fehlenden Investitionen und
hin zur Schaffung von mehr Wirtschaftskraft und zur
Schaffung von Nachfrage und damit auch zur Schaffung
von mehr Arbeitsplätzen in Europa. Das ist ein positiver
Ansatz. Insoweit unterstützen wir diese Initiative.
Europäischer Mehrwert und schnelle Umsetzbarkeit,
das sind die Maßstäbe, die hier gesetzt werden. Ebenfalls
vorgegeben ist, dass es keine regionale oder sektorale
Gewichtung gibt. Die Strukturreformen, die durch das
Europäische Semester vorgegeben sind, sind nicht der
Maßstab des Investitionsprogramms. Das halte ich auch
für gut so.
Ich halte es auch für gut, dass eine unabhängige Ex-
pertengruppe diese 900 gemeldeten Projekte prüft, damit
wir im Laufe des Jahres 2015 zu einem umsetzungsfähi-
gen Konzept kommen. Jetzt haben wir noch ein halbes
Jahr lang Zeit, dies seitens des Deutschen Bundestags
bzw. der Bundesrepublik Deutschland mit Mitteln zu
flankieren, die wir in den Bereichen einsetzen, in denen
das sinnvoll ist. Wir sind gerne bereit, diese Debatte zu
eröffnen.
Ich glaube, die im Rahmen des Europäischen Rats ge-
fassten Beschlüsse sind gut für Europa. Insofern ist der
heutige Tag ein guter Tag. Wir sollten unsere Bundesre-
gierung unterstützen, diesen Weg weiter zu gehen, dies
auch in der vorweihnachtlichen Zeit.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine schöne
vorweihnachtliche Zeit und frohe Weihnachten. Glück
auf!
Auch Ihnen wünschen wir schöne Weihnachten, lie-
ber Christian Petry. – Der letzte Redner in dieser Debatte
ist Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Rat hat eine sehr umfangreiche Tagesordnung. Es
stehen Themen zur Debatte wie das Juncker-Paket, über
das wir heute Morgen schon viel gehört haben, aber auch
das besorgniserregende Thema Ebola, wie natürlich auch
die Ukraine und möglicherweise auch am Rande – aber
nicht zu unterschätzen – das Thema Griechenland.
7218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Gunther Krichbaum
(C)
(B)
Vor die Klammer gezogen könnte man sagen: Allen
Themen ist eines gemeinsam: Wir müssen uns um mehr
Stabilität bemühen. Im Falle des Juncker-Paketes geht es
um Wachstum und damit um die Schaffung wirtschaftli-
cher Stabilität. Bei Ebola geht es um gesundheitliche,
vielleicht sogar um humanitäre Stabilität. Im Fall der
Ukraine geht es mindestens um geopolitische Stabilität.
Im Falle von Griechenland geht es mit Sicherheit um die
politische Stabilität. Dieser Eindruck entsteht zumindest
angesichts der aktuellen Wahlen. Insoweit ist es kein ein-
facher Gipfel, der jetzt bevorsteht.
Ich möchte mich auf das Thema Ukraine konzentrie-
ren. Wer hätte noch vor gut einem Jahr gedacht, dass das
Jahr 2014 so verlaufen wird? 100 Jahre Ausbruch des
Ersten Weltkrieges, 75 Jahre Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges: Das sollte im Zentrum des Gedenkens ste-
hen, ebenso wie 25 Jahre Fall der Berliner Mauer und
damit auch der Fall des Eisernen Vorhangs, gewisserma-
ßen als ein Zeichen des vereinigten Europas, geeint in
die Zukunft zu gehen.
Vor gut einem Jahr flammten die Proteste auf dem
Maidan oder, wie er später genannt wurde, Euromaidan
auf, und zwar nur deshalb, weil der damalige Präsident
Janukowitsch sich weigerte, das sogenannte Assoziie-
rungsabkommen zu unterzeichnen. Er reiste gerade von
Moskau zurück. Das Assoziierungsabkommen hat zum
Inhalt, dass das Land sich den europäischen Standards
wie Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie annä-
hern kann. Genau das gefiel Russland nicht. Fortan ging
es Russland, namentlich Herrn Putin, nur darum, die
Ukraine zu destabilisieren, ja zu demontieren.
In diesem Jahr wurde die Krim annektiert. Es erfolgte
eine subtile Invasion in den Osten der Ukraine. Seither
sind über 4 500 Tote zu verzeichnen. Es ist der heftigste
Krieg in Europa seit den Balkankriegen. 10 000 russi-
sche Soldaten befinden sich in der Ukraine. Es gibt
530 000 Binnenflüchtlinge: Flüchtlinge, die aus dem
umkämpften Ostteil der Ukraine in andere Gebiete der
Ukraine flüchten mussten.
Dies beim Namen zu nennen, sind wir alleine schon
den Opfern in der Ukraine schuldig und auch ein klein
wenig Andreas Schockenhoff, der sich in der Vergangen-
heit nie davor gescheut hat, diese Fakten beim Namen zu
nennen.
Wir erleben jeden Tag den evidenten Bruch von Völ-
kerrecht. Wie Sie als Linksfraktion für die Rücknahme
der Sanktionen gegen Russland werben können, ist mir
deshalb, gelinde gesagt, schleierhaft.
Die Sanktionen zu verhängen, war richtig und wichtig.
Es ist das einzige ernsthafte Druckmittel, das wir in un-
seren Händen halten und auch in unseren Händen halten
müssen. Die Sanktionen wirken auch. Sie wirken unmit-
telbar, und sie wirken mittelbar. Denn der Abzug der
ausländischen Direktinvestitionen hat dazu geführt, dass
auch Vertrauen in Russland verloren gegangen ist. Der
Rubel verfällt. Der Leitzins steht mittlerweile bei 17 Pro-
zent. Fallende Rohölpreise tun ihr Übriges dazu.
Deswegen geht es darum, den Druck auf Russland
aufrechtzuerhalten. Wir wollen die Sanktionen nicht. Aber
wenn sie das einzige Mittel sind, um Russland zum Ein-
lenken zu bewegen, dann sind sie notwendig und erfor-
derlich, und das auch in der Zukunft.
Ich darf an dieser Stelle auch Bundeskanzlerin Merkel
herzlich danken, weil sie sich unermüdlich dafür ein-
setzt, dass wir im Wege eines Dialoges zu einer Lösung
kommen. Mein Dank gilt auch Frank-Walter Steinmeier.
Auch die Telefonkonferenz am vorgestrigen Tage mit
dem französischen Präsidenten François Hollande hat
gezeigt, dass wir als deutsch-französisches Tandem in
Europa weiter der Motor sein müssen, auch wenn es um
die Lösung von Konflikten in Europa geht.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -be-
merkung von Dr. Diether Dehm?
Bitte sehr.
Kollege Krichbaum, es geht nicht nur um die Linke.
Würden Sie mit ähnlichem Unverständnis beiseitewi-
schen, dass auch in dem Aufruf der Zeit sehr viele Men-
schen, darunter zwei frühere Bundeskanzler – man hört
separat auch Ähnliches von Ihrem früheren Bundeskanz-
ler Kohl, aber zu den Unterzeichnern zählt sein Berater
Teltschik –, ähnliche Positionen vertreten wie die Linke?
Übrigens sprechen sich auch viele mittelständische
Großunternehmer dafür aus, die Sanktionen zumindest
nicht weiter zu verschärfen oder möglicherweise sogar
zurückzunehmen. Ist die Forderung nach Beendigung
der Sanktionen nur ein Spleen der Linken, oder könnte
sie auch auf wirtschaftlicher Vernunft gegründet sein?
Meine Antwort ist völlig klar: Die Aggression und
der Angriff Russlands auf die Ukraine waren nicht nur
eine Aggression und ein Angriff auf ein anderes Land.
Vielmehr handelt es sich auch um einen Angriff auf un-
sere Werte in der Europäischen Union wie Frieden, Frei-
heit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Wir müssen Russland hier entschlossen entgegentreten;
darum geht es.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7219
Gunther Krichbaum
(C)
(B)
Es gibt nicht die Option einer militärischen Reaktion,
wohl aber die Option einer wirtschaftlichen Reaktion.
Sollen wir denn ein Jahr nach den Maidan-Demonstratio-
nen die Menschen alleinlassen, die keinen sehnlicheren
Wunsch haben als den,
die Werte, die wir seit Jahrzehnten in Europa als selbst-
verständlich auffassen, mit uns zu teilen? Genau deswe-
gen gilt unsere Solidarität den Menschen in der Ukraine.
Das Ziel bleibt. Wir müssen als Erstes eine sicher-
heitspolitische Stabilisierung der Ukraine herbeiführen.
Deswegen ist es wichtig, die Kontaktgruppe aus Vertre-
tern der Ukraine, Russlands und der OSZE alsbald zu
etablieren. Prozesse wie der Genfer Prozess sind hilf-
reich und gut – in diesem Fall unter Beteiligung der
USA –, genauso wie der runde Tisch, der von Wolfgang
Ischinger mit initiiert und geleitet wurde. Wir brauchen
solche Formate des gegenseitigen Kontakts und des ge-
genseitigen Gesprächs. Beide Seiten müssen die Verein-
barung von Minsk zügig umsetzen. Das gilt nicht nur,
aber ganz besonders für die russische Seite. Aber wir
müssen auch die ukrainische Seite dazu bewegen, die
Reformen alsbald umzusetzen. Das ist wichtig, weil wir
als EU und im engen Schulterschluss mit dem IWF hel-
fen wollen.
Die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens in
den europäischen Parlamenten schreitet voran und wird
in der ersten Hälfte des neuen Jahres auch im Deutschen
Bundestag ihren Abschluss finden. Das ist wichtig; denn
das sind wahre Signale. Manche tun so, als wäre die
Ukraine gespalten und als lebten im Ostteil der Ukraine
nur diejenigen, die sich eine zügige Annäherung an
Russland wünschen. Das ist und bleibt eine Mär. Die de-
mokratischen Wahlen haben eine demokratische Legi-
mitation für den Präsidenten und das Parlament in der
Ukraine geschaffen. Alle Resultate haben gezeigt, dass
die proeuropäischen Kräfte auch im Ostteil der Ukraine
klar die Mehrheit bilden.
Letzte Anmerkung. Das zweite Ziel muss die wirt-
schaftliche Stabilisierung der Ukraine sein. Das Brutto-
inlandsprodukt der Ukraine ist seit Jahresbeginn um
8 Prozent gefallen. Wenn wir eine politische Stabilisie-
rung erreicht haben und eine wirtschaftliche Stabilisie-
rung langfristig wollen, dann braucht auch die Ukraine
eine Art Marshallplan; ohne das wird es nicht gehen. Wir
werden uns in diesem Hohen Hause mit der Ukraine ver-
mutlich wesentlich länger befassen, als wir uns das heute
wünschen oder vorstellen können.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Krichbaum. – Zu einer Kurzin-
tervention hat das Wort Marieluise Beck.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die
Weihnachtspause gehen, möchte ich Ihnen noch zwei,
drei Sätze sagen. Ich habe in den letzten zwei Tagen mit
sehr vielen Vertretern von Bürgerinitiativen sowohl aus
Russland als auch aus der Ukraine – das ist wichtig – zu-
sammengesessen, die im Donbass aktiv sind.
Die Situation ist so katastrophal, wie man es sich mit-
ten in Europa kaum vorstellen kann. Wir alle sind tief
beeindruckt von der überdimensionalen Krise, die durch
ISIS in Syrien mit Millionen von Flüchtlingen hervorge-
rufen worden ist.
In der Ukraine sind infolge dieses Krieges 1 Million
Menschen geflohen. Ich habe manchmal das Gefühl,
dass uns das nicht ganz klar und nicht bewusst genug ist,
dass wir diese Information nicht in unsere Wahlkreise
tragen und die Menschen nicht genug bitten, diesen
Flüchtlingen zu helfen. Der Winter wird katastrophal.
Die Söldner, die den Donbass erobert haben, haben
ihn zwar erobert, aber sie sind nicht in der Lage, die
Menschen zu versorgen. Die Bergwerke stehen unter
Wasser, es gibt keinen Strom, die Rentner sind in einer
katastrophalen Lage. Es werden dort Menschen erfrieren
und verhungern. Ich möchte deswegen ganz stark darum
bitten, dass wir alles, was nur irgend möglich ist, tun, um
dieser humanitären Katastrophe, die vor unserer Haustür
stattfindet, entgegenzuwirken, so gut wir können.
Vielen Dank, Kollegin Beck. – Herr Krichbaum,
wenn Sie mögen?
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/3559. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die
Linke, dagegen gestimmt haben die CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Finanzhilfen zugunsten Griechenlands; tech-
nische Verlängerung und Fortführung der
Stabilitätshilfe
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes auf Verlängerung
der bestehenden Finanzhilfefazilität sowie
nach § 4 Absatz 1 Nummer 1 des ESM-Finan-
7220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
zierungsgesetzes, der Hellenischen Republik
nach Artikel 13 Absatz 2 des ESM-Vertrages
grundsätzlich vorsorgliche Finanzhilfe zu ge-
währen
Drucksache 18/3532
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind 60 Minuten
für die Aussprache vorgesehen. – Ich höre und sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort Dr. Wolfgang Schäuble für die
Bundesregierung.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grie-
chenland hat einen schwierigen Weg hinter sich, und die-
ser Weg ist noch nicht zu Ende. Deswegen hat das Land
am 9. Dezember zwei Anträge gestellt, erstens einen
Antrag auf eine technische Verlängerung der laufenden
Finanzhilfevereinbarung, also des laufenden Hilfspro-
gramms, das ohne diese Verlängerung Ende Dezember
ausläuft, und zweitens einen Antrag für die Zeit nach
ordnungsgemäßer Beendigung dieses Programms zur
Bereitstellung einer Stabilitätshilfe in Form einer vor-
sorglichen Kreditlinie.
Wir haben in der Euro-Gruppe in der vergangenen
Woche diese Anträge grundsätzlich begrüßt. Wir haben
in der Stabilisierung der Euro-Zone in den letzten Jahren
– das ist gerade von der Bundeskanzlerin in Erinnerung
gerufen worden – mehr erreicht, als viele es vor ein paar
Jahren zu hoffen gewagt haben. Gerade die Länder unter
den Hilfsprogrammen haben große Fortschritte gemacht.
Diese fünf Länder führen die Länder im OECD-Ranking
an, die strukturelle Reformen durchgeführt haben.
Auch Griechenland ist auf einem guten Weg. Das
Land ist in einer besseren Verfassung, als die meisten
vor einigen Jahren für möglich gehalten haben. Kein
Land in der Europäischen Union hatte vergleichbare
Probleme. Ich habe mir die Zahlen mitgebracht. Grie-
chenland hatte im Jahre 2009 einen Primärsaldo von mi-
nus 10,5 Prozent oder 24 Milliarden Euro, also ohne Be-
rücksichtigung von Zinsausgaben. Griechenland hatte
ein Haushaltsdefizit von 15,7 Prozent des Bruttoinlands-
produkts im Jahr 2009.
2012 hat Griechenland noch ein Defizit von 8,6 Pro-
zent gehabt und einen Primärsaldo von minus 3,6 Pro-
zent. Inzwischen hat es einen positiven Primärsaldo er-
reicht. 1,6 Prozent werden für dieses Jahr erwartet.
Das Wachstum in Griechenland, das 2012 bei minus
7 Prozent lag, wird in diesem Jahr bei 0,6 Prozent erwar-
tet. In den letzten drei Quartalen ist die griechische Wirt-
schaft insgesamt stärker gewachsen als die des Euro-
Raums im Durchschnitt. Wenn also die begonnenen Re-
formen in Griechenland konsequent fortgesetzt werden,
dann kann Griechenland auf diesem Weg weitere Er-
folge haben. Die Troika erwartet für das nächste Jahr ein
Wachstum von 3 Prozent.
Die Anstrengungen waren in Griechenland schwieri-
ger als in jedem anderen Land; das muss man immer
wieder sagen. Diese Anstrengungen beginnen sich für die
Menschen in Griechenland auszuzahlen. Arbeitsmarktre-
formen haben das Land wieder wettbewerbsfähig ge-
macht. Die Lohnstückkosten sind zurückgegangen. Die
Arbeitslosigkeit beginnt zu sinken. Griechenland wird in
diesem Jahr zum ersten Mal das Maastricht-Kriterium
der 3-Prozent-Defizitgrenze unterschreiten. Die Troika
prognostiziert, dass die Quote der Gesamtverschuldung,
die, solange man Defizite und kein Wachstum hatte, na-
türlich anstieg, ab 2015 deutlich sinken wird.
So sind in allen Ländern unter Hilfsprogrammen und
auch in Griechenland Strukturreformen und Haushalts-
sanierungen Hand in Hand gegangen. Es gibt den Ge-
gensatz zwischen Strukturreformen und finanzieller
Konsolidierung nicht; dies zeigen die Programmländer
und auch Griechenland. Wenn beides konsequent ge-
macht wird, kommt ein Land voran. Daraus sollten alle
in Europa ihre Schlüsse ziehen.
Die erreichten Erfolge Griechenlands verdanken sich
einer großen Kraftanstrengung seiner Bürgerinnen und
Bürger; auch das muss man immer wieder sagen. Des-
wegen ist es wichtig, dass das Hilfsprogramm jetzt zu ei-
nem guten Abschluss gebracht wird. Denn trotz aller
Fortschritte konnte die fünfte und letzte Programmüber-
prüfung nicht in allen Fragen bis zum Jahresende abge-
schlossen werden. Dieser Abschluss ist aber die Voraus-
setzung für die Auszahlung der letzten Tranche von noch
ausstehenden 1,8 Milliarden Euro. Deshalb ist eine tech-
nische Verlängerung dieses Programms notwendig; und
eine Verlängerung um zwei Monate ist vertretbar. Es ist
ein gutes Zeichen, dass die Verlängerung um nur zwei
Monate erfolgen soll. Ein gutes Ende ist in überschauba-
rer Zeit möglich. Auch das zeigt, wie das Land vorange-
kommen ist.
Aber Griechenland muss natürlich, wie verabredet,
weitere Reformen umsetzen und weitere Sanierungs-
schritte gehen. Man kann das gar nicht oft genug beto-
nen: Das ist zum eigenen Vorteil. Die verabredeten Re-
formen müssen konsequent implementiert werden, und
das entspricht dem Eigeninteresse Griechenlands, im
Übrigen auch seiner europäischen Verantwortung; denn
auch Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit.
Es geht immer um nachhaltiges Wachstum und Beschäf-
tigung und um nachhaltig tragfähige Staatsfinanzen.
Es ist Griechenland in diesem Jahr zwar eine Teil-
rückkehr an die Finanzmärkte gelungen, aber die Unsi-
cherheiten auf den Finanzmärkten bestehen auch angesichts
anhaltender innenpolitischer Unsicherheiten natürlich
fort. Man kann das gut verfolgen. Deswegen muss eine
glaubhafte Fortsetzung des Reformkurses abgesichert
werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7221
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(C)
(B)
Dazu ist eine vorsorgliche Kreditlinie das richtige In-
strument; denn damit können wir die allmähliche Rück-
kehr Griechenlands an die Finanzmärkte absichern. Wir
müssen dazu keine neuen Mittel bereitstellen. Bis zu
10,9 Milliarden Euro im auslaufenden Programm, die
für Bankenrekapitalisierung vorgesehen waren, werden
nicht verwendet. Diese Mittel können wir dafür bereit-
stellen. Sie müssen nicht ausgegeben werden, aber selbst
wenn sie in Anspruch genommen würden – was man ja
bei einer vorsorglichen Kreditlinie zwar nicht beabsich-
tigt, aber auch nicht ausschließen kann –, würde sich die
Gesamtsumme der an Griechenland ausgereichten Dar-
lehen nicht erhöhen.
Für diese vorsorgliche Kreditlinie ist nach unserem
ESM-Finanzierungsgesetz ein zweistufiges parlamenta-
risches Verfahren vorgesehen: Der Deutsche Bundestag
muss dem zweimal in Plenarsitzungen zustimmen. Das
ist unter den parlamentarischen Beteiligungsrechten in
Europa einzigartig; ich will es nur erwähnt haben.
Ich will auch daran erinnern – schließlich ist auch da-
rüber diskutiert worden –: Wir fällen zunächst eine Ent-
scheidung im Grundsatz, mit dem Ziel, überhaupt ein
Verhandlungsmandat über ein solches Finanzierungsin-
strument zu erteilen. Erst später wird dann gegebenen-
falls über die konkrete Vereinbarung noch einmal im
Bundestag abgestimmt. In dem Antrag des Bundes-
finanzministeriums geht es unter Ziffer 2 – darüber ha-
ben wir gestern schon im Finanzausschuss und in ande-
ren Ausschüssen diskutiert – um die erste Stufe, also um
die Entscheidung im Grundsatz. Das entspricht übrigens
der Anforderung des ESM-Finanzierungsgesetzes. Dort
heißt es nämlich in § 7, dass der Bundestag zum frühest-
möglichen Zeitpunkt zu unterrichten ist und ihm Gele-
genheit zur Stellungnahme gegeben werden soll. Da wir
in der letzten Woche darüber geredet haben, weiß ich
schon, welchen Brief ich vom Bundestagspräsidenten
bekommen hätte, wenn wir diesen Antrag in dieser Wo-
che nicht vorlegt hätten. Jetzt bekomme ich einen ande-
ren Brief; aber damit muss man leben.
– Wir können aber heute entscheiden.
– Wir können heute entscheiden; denn wir haben Ihnen
die Dokumente, die uns vorliegen, vorgelegt.
– Nein, überhaupt nicht. Ich bin doch gerade bereit, Ih-
nen das zu erklären; aber dass Sie vorher schon wider-
sprechen, zeigt ja, dass Sie nicht informiert werden wol-
len, sondern hier nur eine billige Polemik machen
wollen.
Dafür ist die Sache aber zu ernsthaft und zu wichtig.
Wenn Sie einmal nachlesen, was in der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu zu
finden ist,
dann werden Sie feststellen,
dass das Bundesverfassungsgericht sagt: Die Bundes-
regierung soll möglichst wenig vollendete Tatsachen
schaffen. – Insofern: Wenn wir in der Euro-Gruppe sa-
gen: „Ja, gegebenenfalls sind wir bereit“, dann stellen
wir diesen Antrag ja nur unter der Voraussetzung, dass
erstens das Programm ordnungsgemäß abgeschlossen
wird und dass zweitens die entsprechenden Anlagen vor-
liegen, über die wir selbstverständlich den Bundestag
und die zuständigen Ausschüsse immer zeitnah unter-
richten werden, damit wir dann darüber verhandeln kön-
nen. Denn im Grundsatz haben wir ja schon gesagt: Wir
als Regierungen würden unseren Parlamenten empfeh-
len, im Zweifel einem solchen Antrag zuzustimmen.
Herr Schäuble, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Manuel Sarrazin?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Bitte, gerne.
Herr Schäuble, Sie wissen ja, dass wir Grüne und
auch ich persönlich beim Thema Griechenland immer
sehr konstruktiv waren und es auch weiterhin sein wer-
den und dass wir bei diesem Thema nie formale Ausre-
den gesucht haben. Das weiß ich auch von Ihnen. Den-
noch möchte ich Sie hier fragen: Stimmt es, dass der
Gouverneursrat die Entscheidung der ersten Stufe über
die Aufnahme von Verhandlungen zur Ausverhandlung
eines Memorandum of Understanding erst Mitte bis
Ende Januar treffen wird und dass der Gouverneursrat
diese Entscheidung auch nur nach Vorliegen aller not-
wendigen Dokumente, also auch der Dokumente, die im
Benehmen von Kommission und EZB angefertigt wer-
den müssen, treffen wird? Warum sollen wir als Deut-
scher Bundestag bereits heute entscheiden und nicht in
einer Sitzungswoche im Januar oder in einer Sondersit-
zung im Januar, also direkt davor, wenn auch uns alle
Dokumente vorliegen, bzw. warum sollen wir Ihnen die
Aufgabe, die Dokumente zu bewerten und mit der vor-
läufigen Beurteilung der Kommission zu vergleichen,
überlassen, wenn es eigentlich eine Aufgabe des Parla-
ments wäre, Ihnen diese Arbeit abzunehmen?
7222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Herr Kollege Sarrazin, die Rechtslage nach dem
ESM-Finanzierungsgesetz ist ein Stück weit anders. Ich
widerspreche Ihnen nicht, dass es auch noch reichen
könnte, wenn der Bundestag in der ersten Sitzungswo-
che im Januar darüber abstimmt. Aber es geht nicht nur
um die Frage, ob der Bundestag entscheiden muss, son-
dern auch um die Frage, ob die Bundesregierung diesen
Antrag jetzt stellen kann. Es ist klar, dass die Bundesre-
gierung den Antrag zum frühestmöglichen Zeitpunkt
stellen muss und dass dafür übrigens die notwendigen
Unterlagen, nämlich die jetzt verfügbaren, einschließlich
einer vorläufigen Einschätzung der Kommission, die
auch dem Bundestag mit dem Antrag zur Verfügung ge-
stellt worden ist, vorliegen müssen. Diese Unterlagen
werden, wenn die Arbeiten fortgesetzt werden, natürlich
ergänzt. Wann der ESM-Gouverneursrat letztendlich
entscheiden wird, weiß ich nicht. Aber die Systematik
unseres Parlamentsbeteiligungsgesetzes sieht vor, dass
wir bereits vor der Aufnahme von Verhandlungen den
Bundestag um Zustimmung bitten, ob wir das machen
dürfen oder nicht. Das müssen wir jetzt machen, heute.
Wir müssen den Antrag heute stellen. Der Bundestag ist
natürlich souverän, zu entscheiden, wie er will. Ich emp-
fehle Ihnen aber und bitte darum, dass Sie heute zustim-
men.
Für den Fall, dass der Bundestag zustimmt, wird der
Vertreter der Bundesregierung dann gegebenenfalls ei-
nem Beschlussvorschlag zustimmen können, mit dem
die Kommission beauftragt wird, im Benehmen mit der
EZB und möglichst auch dem IWF die Einzelheiten ei-
nes solchen Vertrags überhaupt erst auszuhandeln, der
dann wiederum dem Bundestag vorgelegt werden wird.
Die Kommission hat, Herr Kollege Sarrazin, ausdrück-
lich bestätigt, dass die Zugangskriterien für eine vor-
sorgliche Kreditlinie vorliegen. Das ist eine vorläufige
Einschätzung der Kommission; die kennen Sie, die ha-
ben wir Ihnen vorgelegt. Deswegen beantragen wir die
Zustimmung des Bundestages unter der Maßgabe, dass
sich diese vorläufige Einschätzung der Kommission be-
stätigt.
Es wird dem Bundestag also überhaupt nichts wegge-
nommen, sondern es wird dem Ansinnen einer möglichst
frühen Beteiligung nachgekommen. Ich bitte, das nicht
falsch darzustellen, gerade da Sie sagen, Sie seien sonst
immer sehr konstruktiv. Natürlich werden wir die end-
gültigen Dokumente, sobald sie vorliegen, dem Bundes-
tag unverzüglich zusenden. Dann werden wir dem
Bundestag eine Einschätzung der Bundesregierung ge-
ben, inwieweit die Voraussetzungen eines etwaigen
Maßgabebeschlusses, wenn Sie ihn denn heute treffen,
erfüllt sind.
Noch einmal: Wir haben dieses Vorgehen gewählt
– es war die Abwägung: Sollen wir es erst später machen
oder schon heute? –, weil es dem Grundsatz der frühest-
möglichen Einbindung entspricht.
Wir sind aber auch aus einem zweiten Grund so vor-
gegangen; ich bitte Sie, auch diesen zu bedenken, Herr
Kollege Sarrazin. Es gibt nach wie vor eine Unsicherheit
in den Finanzmärkten, die durch die innenpolitische Si-
tuation in Griechenland ein Stück weit genährt wird. Wir
haben in den letzten Wochen beobachten können, dass
sich diese Unsicherheit in den Finanzmärkten verstärkt.
Deswegen wäre es ein stabilisierend wirkendes Signal
für alle, für Griechenland, für die Märkte, für die Euro-
Zone als Ganzes, wenn klar wird: Ja, wenn Griechenland
seine Verpflichtungen erfüllt, wird das Programm inner-
halb von zwei Monaten zum Abschluss gebracht, und
dann kann auch unter der Voraussetzung einer entspre-
chenden Vereinbarung mit der entsprechenden Konditio-
nalität anschließend eine Absicherung mit einem vorläu-
figen Beistandskredit beschlossen werden. Deswegen ist
es neben der Erfüllung unserer parlamentarischen Ver-
pflichtungen auch richtig, in dieser kritischen Phase
möglichst viele stabilisierende Signale zu setzen.
In diesen Tagen finden in Griechenland, wie Sie wis-
sen, Präsidentschaftswahlen statt. Spätestens am 29. De-
zember werden wir Klarheit über den Ausgang dieser
Wahlen haben. Vorausgesetzt, wir haben eine handlungs-
fähige Regierung in Griechenland, wird die Troika An-
fang Januar nach Athen zurückkehren können und über
die notwendigen Voraussetzungen für einen erfolgrei-
chen Abschluss des Hilfsprogramms verhandeln können.
Griechenland hat durch eigene Anstrengungen und
mit unserer Solidarität viel erreicht. Es hat gute Chan-
cen, das Hilfsprogramm innerhalb der nächsten zwei
Monate abzuschließen. Wenn wir dann die vollständige
Rückkehr des Landes an die Finanzmärkte mit diesem
Beistandskredit weiter absichern, dann gibt es eine gute
Chance, dass dieser Weg fortgesetzt werden kann.
Deswegen bitte ich Sie, einer Verlängerung der lau-
fenden Finanzhilfevereinbarung für Griechenland bis
Ende Februar und grundsätzlich dem Beginn von Ver-
handlungen über eine vorsorgliche Kreditlinie als Si-
cherheitsnetz für Griechenland zuzustimmen. Leisten
wir weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben auf dem
Weg, die Währungsunion zu stärken, in den zurücklie-
genden Jahren mehr erreicht, als uns die meisten zuge-
traut haben. Wir sollten diesen Weg gerade angesichts
eines schwierigen und volatilen Umfelds, politisch wie
ökonomisch, entschlossen und geschlossen weiter fort-
setzen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Dr. Schäuble. – Nächster Redner
in der Debatte ist Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schäuble, Sie haben recht: Es geht um eine technische
Verlängerung und um eine vorsorgliche Entscheidung.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7223
Dr. Dietmar Bartsch
(C)
(B)
Dies ist wirklich nur ein Mosaiksteinchen in einem
Grundproblem, in der Grundstrategie, die Sie fahren. Ich
will für die Linke klar sagen: Wir wollen uns in diese
Strategie nicht einbinden lassen. Das ist nicht unsere
Politik.
Wir haben die ganz kuriose Situation, dass wir hier im
Deutschen Bundestag in diesem Verfahren mehr Mit-
spracherecht haben als das griechische Parlament. Das
sagt eine ganze Menge über die Demokratie. Die Troika
kontrolliert den griechischen Staatshaushalt. Ich emp-
finde das wirklich als ein großes Problem.
Sie haben hier als Mitglied der Bundesregierung Ih-
ren Antrag auch damit begründet, dass Griechenland
Fortschritte macht. Ich will dazu einige Beispiele nen-
nen:
Auf der Website des Finanzministeriums wird die
Rentenreform in Griechenland sehr gelobt, nämlich „als
eine der bedeutendsten Leistungen des ersten Pro-
gramms“. Weiter heißt es da:
Die in diesem Kontext getroffenen Maßnahmen
haben die Lohnersatzquote gesenkt und führen zu
einer Senkung des versicherungsmathematischen
Defizits um 10 Prozentpunkte des BIP bis 2060.
Die Übersetzung dieser Einschätzung heißt nichts an-
deres, als dass Sie mit der Anhebung des Renteneintritts-
alters und vielen anderen Maßnahmen dafür gesorgt ha-
ben, dass die Renten in Griechenland real um 40 Prozent
gesenkt worden sind.
Ein zweites Beispiel. Sie sagen – wiederum auf Ihrer
Website –:
Im Gesundheitswesen wurden die öffentlichen Aus-
gaben für Arzneimittel durch entsprechende Refor-
men von 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf rund
2,5 Milliarden Euro im Jahr 2013 gesenkt.
Auch diese Botschaft will ich hier übersetzen: Wer
heute in Griechenland länger als zwei Jahre arbeitslos
ist, verliert seine Krankenversicherung. Inzwischen sind
rund 3 Millionen Griechinnen und Griechen, 30 Prozent
der Griechinnen und Griechen, ohne Krankenversiche-
rung, meine Damen und Herren. Chronisch Kranke sind
am meisten betroffen.
Es gab neulich in der ZDF-Sendung Frontal21 ein
Beispiel. Es wurde über das Schicksal von Marina
Antoniou, einer Dolmetscherin, berichtet, die an Krebs
erkrankt ist und in der Krise mehr oder weniger alle ihre
Aufträge verloren hat. Sie ist jetzt auch nicht mehr kran-
kenversichert. Nun muss sie jeden Tag entscheiden, ob
sie a) ihre Mietrückstände zahlt, damit sie nicht auch
noch ihre Wohnung verliert, oder b) ihre Krebstherapie
fortsetzt. – Meine Damen und Herren, das ist kein Ein-
zelschicksal in Griechenland. Gerade in der jetzigen Zeit
sollten wir darüber wirklich einmal nachdenken.
In Griechenland ist die Schwangerschaftsvorsorge
nicht mehr kostenlos. In den meisten Entwicklungslän-
dern ist das anders. Griechenland ist ein Land der EU.
Das haben wir mit dahin gebracht. Meine Damen und
Herren, das ist so nicht akzeptabel.
Die Ergebnisse der Umsetzung der unsozialen und
ungerechten Forderungen und der Politik der Troika
sind: Arbeitslosenquote bei 26,2 Prozent, Jugendarbeits-
losigkeit bei 52 Prozent, Mindestlohn abgesenkt, Mehr-
wertsteuer auf 23 Prozent erhöht, Arbeitslosengeld ge-
senkt und auf ein Jahr begrenzt und, und, und. Da sagen
Sie: „Griechenland macht Fortschritte“? Sie haben ge-
sagt: „Diese Anstrengungen beginnen sich für die Men-
schen in Griechenland auszuzahlen.“ Herr Schäuble, für
die Menschen ist diese Politik in Griechenland, die Sie
mit vertreten, eine Katastrophe.
Was ist denn der Maßstab für Fortschritt? Der
Maßstab kann doch nicht die Haushaltspolitik sein; der
Maßstab muss sein, wie es den Menschen in diesem
Land geht. In Griechenland ist die Selbstmordrate in den
letzten Jahren um 45 Prozent gestiegen. Da ist der Satz
„Diese Anstrengungen beginnen sich für die Menschen
in Griechenland auszuzahlen“ wirklich zynisch, Herr
Schäuble.
Dann haben Sie hier umfangreich über das Wirt-
schaftswachstum gesprochen: 0,6 Prozent in diesem
Jahr. Ich will Ihnen einmal die folgenden Zahlen sagen:
2010: minus 4,9 Prozent. 2011: minus 7,1 Prozent. 2012:
minus 6,4 Prozent. 2013: minus 3,9 Prozent. – Als wir in
Deutschland in einem Jahr minus 5,6 Prozent hatten, ha-
ben wir schon fast von einer Katastrophe geredet. Da
haben wir ein Investprogramm aufgelegt. Da haben wir
Kurzarbeitergeld gehabt. Da haben wir die Abwrack-
prämie gemacht.
In Griechenland machen wir genau das Gegenteil, und
das ist natürlich die völlig falsche Politik.
Sie schreiben selbst: „Die Exportentwicklung in Grie-
chenland bleibt … schwach.“
Die andere Seite ist: In Griechenland stieg der Anteil
des Vermögens der 2 000 reichsten Familien am Ge-
samtvermögen des Landes von 75 Prozent auf 80 Pro-
zent. Das ist wirklich unfassbar. Wann werden denn die
endlich zur Kasse gebeten? Es sind immer nur die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Rentne-
rinnen und Rentner!
7224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Dietmar Bartsch
(C)
(B)
Griechenland ist für die deutschen Rüstungskonzerne
einer der wichtigsten Kunden. 15 Prozent der deutschen
Rüstungsexporte gehen nach Griechenland. Griechen-
land hat mehr Leopard-Panzer als die Bundeswehr. Das
ist doch nicht normal, meine Damen und Herren. Da
muss man doch vielleicht etwas verändern.
Dieser gesamte Kurs und dieses Diktat, das hier be-
schrieben wird, sind für dieses Land nicht gut. Dieser
Kurs ist falsch, weil er auch die Gastfreundschaft der
griechischen Menschen gegenüber den Deutschen beein-
trächtigt; das können wir alle nicht wollen.
Dieser Kurs ist auch deshalb falsch, weil er ein Nähr-
boden für Ressentiments ist und Ausländerfeindlichkeit
der Griechen befördert.
Wir lehnen ihn ab, weil er im Kern ein Weihnachts-
geld für die Spekulanten ist. Dass wir dabei mitmachen,
werden Sie niemals erleben.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Dietmar Bartsch. – Nächster Redner in
der Debatte: Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind fast am Ende des Hilfsprogramms für Grie-
chenland angelangt. Herr Kollege Bartsch, Sie haben
versucht, Bilanz zu ziehen. Ich will dies auch tun und es
mit der Empfehlung der SPD-Fraktion für die spätere
Abstimmung verbinden.
Herr Kollege Bartsch, Sie haben die sozialen Ein-
schnitte in Griechenland beschrieben. Dies ist berechtigt.
Ich glaube, niemand stellt dies infrage. Die Bedingun-
gen, die mit den gewährten Krediten in Höhe von
240 Milliarden Euro verknüpft waren, haben diese vor-
gesehen. In Ihrer Rede haben mir allerdings die Alterna-
tiven gefehlt. Was wäre die Alternative zu der Gewäh-
rung von Krediten unter Auflagen gewesen?
Die einzige Antwort, die ich kenne, lautet: Die Alter-
native wäre ein direkter Transfer von Mitteln aus
Deutschland, aus der Slowakei und aus den anderen eu-
ropäischen Ländern in Form eines Zuschusses gewesen.
Das wäre die einzige Alternative gewesen.
Sie haben auch zu Recht über die Souveränität des
Parlaments in Griechenland gesprochen, die jetzt einge-
schränkt ist. Ja, wir haben es immer wieder gesagt, dass
dies eine schwierige Situation für die Demokratie ist.
Wir als deutsches Parlament haben jedoch Entscheidun-
gen bezogen auf die Legitimation zu treffen, die wir von
unseren Wählern bekommen haben. In dem Wahl-
programm der SPD aus dem Jahr 2009 stand nicht, dass
wir direkte Transfers, also Überweisungen und Zu-
schüsse an die jeweiligen anderen nationalen Parla-
mente, leisten. Ich glaube, in den Wahlprogrammen der
Linken und der Grünen stand dies auch nicht.
Von daher gibt es in der Entwicklung Griechenlands
Licht und Schatten. Es waren jahrzehntelang demokra-
tisch getroffene Entscheidungen in Griechenland, die
dazu führten, dass Leopard-Panzer angeschafft wurden,
dass über Jahrzehnte auf Pump gelebt wurde, dass es
keine ordentliche Steuerverwaltung gab und ein Unmaß
an Korruption herrschte.
– Ich glaube, Ihre waren nicht besser. – Diese von den
damaligen konservativen oder sozialdemokratischen
Parteien demokratisch getroffenen Entscheidungen ha-
ben dazu geführt, dass Griechenland in die Situation
kam, uns und die anderen europäischen Länder um Hilfe
zu bitten.
Wir haben diese Hilfe gewährt.
Wir haben uns als Sozialdemokraten bei der Abstim-
mung über das erste Hilfspaket enthalten, und zwar aus
einem Grund, der auch heute wieder ein Thema ist: Die
Gesamtschuldenlast Griechenlands ist extrem groß.
Schon 2010 im Rahmen der ersten Debatte, in der ich
auch gesprochen habe, waren wir der Auffassung, dass
wir einen Schuldenschnitt brauchen, und zwar insbeson-
dere für die privaten Gläubiger. Dieser ist erst viel später
gekommen, und er hat uns knapp 100 Milliarden Euro
gekostet, als wir es als Staaten zu 100 Prozent übernom-
men haben, private Gläubiger auszuzahlen. Das war ein
Fehler, den die damalige Bundesregierung gemacht hat.
Das können wir nicht mehr ändern. Wir müssen mit der
Situation leben, wie sie ist.
Ich sehe bei den Schatten, die es gibt, auch Licht. Sie
haben die sicherlich unterdurchschnittlichen Wachs-
tumsraten erwähnt, die es gegeben hat. Es gibt aber
Licht; denn es gibt in diesem und im nächsten Jahr posi-
tive Wachstumszahlen. In Deutschland träumen wir von
den in Griechenland prognostizierten 3 Prozent. Daher
glaube ich, es ist richtig, die griechische Regierung jetzt
zu unterstützen, wenn sie uns bittet, das Programm mit
den bereits zugesagten Hilfskrediten nicht zum 31. De-
zember enden zu lassen, sondern es um zwei Monate zu
verlängern. Dem stimmen wir als Sozialdemokraten zu.
Es ist für uns eine wichtige Bedingung, dass Wirtschafts-
wachstum zustande kommt.
Wichtig ist auch die Frage, die Sie, Herr Bartsch, be-
rechtigterweise gestellt haben, nämlich ob eigentlich
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7225
Carsten Schneider
(C)
(B)
alle, die es können, tatsächlich ihre Steuern bezahlen.
Ich halte es für ganz zentral, dass die Reichsten in
Griechenland tatsächlich ihre Steuern zahlen. Jede Un-
terstützung, die wir in Deutschland auch bei der Bera-
tung der Verwaltung leisten können, von der Berichte sa-
gen, sie sei unterdurchschnittlich, wollen wir geben.
Es gibt auch an anderer Stelle Licht: Griechenland hat
immer Chancen gehabt, europäische Investitionsmittel
aus den sogenannten Strukturfonds zu bekommen. Im
Jahr 2010 sind gerade einmal 20 Prozent der bereitge-
stellten Mittel abgeflossen. Im Jahr 2014 sind es über
80 Prozent. Es geht also voran. Wir sollten das grie-
chische Parlament und die Regierung sowie die Be-
völkerung, die in den vergangenen Jahren wirklich
sehr gelitten hat, dabei unterstützen, dass aus diesem
Lichtschimmer am Horizont tatsächlich die Sonne wird,
auch wenn sie dort mehr scheint als bei uns in Deutsch-
land, was die Temperaturen angeht.
Zur vorsorglichen Kreditlinie: Die Kollegen der Grü-
nen haben hier und auch im Ausschuss die Frage ge-
stellt, ob wir heute dem Finanzminister das Mandat er-
teilen dürfen, können oder wollen, über die vorsorgliche
Kreditlinie im Rahmen des Finanzrahmens, den wir be-
reits verabredet haben, zu verhandeln.
Es gibt hier ein zweistufiges Verfahren: Zunächst wird
das Mandat erteilt, dass er darüber verhandeln darf, und
ganz am Schluss entscheiden wir, ob es auch so gemacht
wird.
Jetzt stellt sich die Kernfrage: Liegen alle Unterlagen da-
für vor?
Ich habe mir gerade noch einmal die Unterlagen des
Wissenschaftlichen Dienstes und auch die Vorabberichte
der Troika angesehen. Im Antrag der Bundesregierung
steht unter Punkt III – Maßgaben – vollkommen zu
Recht – ich zitiere –:
Die für eine Beschlussfassung … erforderlichen
Dokumente … der Leitlinie für vorsorgliche Fi-
nanzhilfen liegen derzeit noch nicht vor. Die Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages wird daher
unter der Maßgabe beantragt, dass die endgültigen
Dokumente der EU-Kommission im Benehmen mit
der EZB die diesem Antrag beigefügte vorläufige
Einschätzung der EU-Kommission bestätigen.
Unter dieser Maßgabe beschließen wir,
und nur dann wird die Bundesregierung darüber be-
schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie der Auf-
fassung sind, dass die Unterlagen in ihrer Endfassung
nicht dem entsprechen, was uns jetzt vorläufig vorliegt,
dann haben wir im Bundestag die Chance – das sage ich
Ihnen zu –, es noch einmal zu beschließen. Nur sollten
wir heute nicht wegen solcher Kleinigkeiten – es sind
wirklich Kleinigkeiten – die gesamte Beschlussfassung
zurückstellen.
Das wäre ein falsches Signal; denn die Lage ist fragil.
Der Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen. Es
stehen Wahlen in Griechenland an. Ich weiß nicht, ob es
am 29. Dezember eine Mehrheit für einen Staatspräsi-
denten gibt. Das ist die souveräne Entscheidung des
griechischen Parlaments. Klar ist aber: Wenn es sie nicht
gibt, wird es Neuwahlen geben. Ich sage allen Kollegen
hier im Bundestag, aber auch den Kollegen im griechi-
schen Parlament: Es wird bei den Konditionen und der
Frage eines Schuldenschnitts mit einem Regierungs-
wechsel keine Veränderungen geben. Eine Regierung
und ein Parlament stehen auch in der Nachfolge zu den
Entscheidungen, die vorher getroffen wurden. Das ist
auch richtig so;
denn man muss sich auf die Entscheidungen verlassen
können.
– Es gibt eine Frage des Kollegen Willsch, die ich gerne
zulassen möchte.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
der CDU?
Sehr gerne.
Er hat sich schon vorab hingestellt.
Er hatte ja schon gesagt, dass er die Frage zulassen
möchte.
Ja, aber er hat es nicht zu entscheiden.
Dumm gelaufen.
Ich füge mich vollständig den Regeln. – Lieber Kol-
lege Carsten Schneider, wir haben in der vergangenen
Legislaturperiode im Haushaltsausschuss intensiv das
7226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Klaus-Peter Willsch
(C)
(B)
Zustandekommen der diversen Rettungsinstrumente dis-
kutiert. Mich überrascht es nicht, dass am Ende das Geld
– 240 Milliarden Euro – alle ist, die Frist verlängert wer-
den muss, die Zinsen gesenkt werden müssen oder was
auch immer noch aufgerufen werden wird.
Erstens. Wir haben beim ESM das Instrumentarium
der vorsorglichen Kreditlinie eingeführt, um prinzipiell
solventen und soliden Staaten, die vielleicht in eine
kurzfristige Finanzierungsschwierigkeit geraten, Wasser
unter den Kiel zu geben. Das praktische Beispiel war da-
mals Spanien. Spanien wollte kein Programm. Deshalb
hat man Spanien mit der vorsorglichen Kreditlinie ver-
sorgt, um die Banken zu rekapitalisieren.
Für den Fall, über den wir hier diskutieren – ein nicht so-
lides Land, ein Land am Rande des Kollapses –, war die-
ses Instrument nie gedacht. Oder täusche ich mich da?
Zweitens. Ich überlege mir, was der haushaltspoliti-
sche Sprecher der SPD in der Opposition zu der Grob-
einschätzung gesagt hätte, die uns die Kommission
vorgelegt hat. Da heißt es: Der Finanzierungsbedarf
Griechenlands im nächsten Jahr kann zwischen 6 und
12 Milliarden Euro liegen. – Wenn man das auf unsere
Volkswirtschaft umbräche, hieße das, ein deutscher Fi-
nanzminister würde dem Haushaltsausschuss bzw. dem
Parlament einen Etat vorlegen – wir haben jetzt Dezem-
ber 2014 und reden über den Finanzbedarf in 2015 – und
sagen: Ich weiß nicht genau, ob ich 100 Milliarden oder
200 Milliarden Euro finanzieren muss. – Um es klarzu-
machen: Das ist die Größenordnung. Was hätte denn der
haushaltspolitische Sprecher in der Oppositionsfraktion
dazu gesagt?
Danke, Herr Willsch. – Herr Kollege Schneider.
Ich beginne mit der letzten Frage. Die Tatsache, dass
der Finanzierungsbedarf zwischen 6 und 12 Milliarden
Euro liegt, resultiert daraus, dass es keine Einigkeit zwi-
schen der EU-Kommission, dem IWF und dem griechi-
schen Staat darüber gibt, welche Wachstumszahlen für
das nächste Jahr zu prognostizieren sind; die Griechen
sagen, es sei ein bisschen mehr, die Kommission sagt, es
sei ein bisschen weniger. In den vergangenen Jahren wa-
ren die griechischen Zahlen, zumindest was die Wachs-
tumsprognose betraf, solide. Über diese Zahlen werden
sie sich einigen. Davon hängt dann auch ab – das wissen
Sie, Herr Kollege –, wie sich die Steuereinnahmen, die
Arbeitslosigkeit und die Sozialversicherungen entwi-
ckeln. Dementsprechend gibt es einen Überschuss – ei-
nen Primärüberschuss haben sie eh – oder ein zusätzli-
ches Defizit, das sie im Zweifel decken müssen.
Genau darum geht es auch bei der vorsorglichen Kre-
ditlinie; damit bin ich bei Ihrem ersten Punkt. Wir nutzen
hier die ECCL; das ist quasi ein Dispokredit, ein Konto-
korrentkredit. Er wird zur Verfügung gestellt, ist aber an
Konditionen gebunden. So muss Griechenland weiterhin
der Troika Bericht erstatten. Ich halte das auch für not-
wendig; denn ich glaube, dass es richtig ist, den Druck
auf das griechische Parlament aufrechtzuerhalten, damit
es die strukturellen Reformen vorantreibt. Das erscheint
mir auch vor dem Hintergrund notwendig, dass der grie-
chische Präsident schon Mitte des Sommers gesagt hat,
Griechenland steige aus dem ganzen Programm aus. Ich
habe das für eine Illusion gehalten.
Es ist das erste Mal, dass dieses Instrument, die vor-
sorgliche Kreditlinie, genutzt wird. Wir haben dem spa-
nischen Staat im Rahmen des ESM einen Kredit zur
Verfügung gestellt, der auf die Bankenrekapitalisierung
konditioniert war. Dieses Instrument gab es damals
schon; es ist genutzt worden. Die vorsorgliche Kreditli-
nie, die quasi ein Sicherheitsnetz ist, gab es noch nicht.
Wir werden sie aber brauchen. – Damit ist die Beantwor-
tung der Frage beendet.
Ich möchte auf die Unsicherheit an den Finanzmärk-
ten eingehen. Wir führen gerade eine Diskussion da-
rüber, ob die Europäische Zentralbank stärker am Anlei-
hemarkt investieren soll. Sie tut es bereits, weil wir eine
schwierige ökonomische Situation haben. Ich glaube,
dass wir bei den Zinsspreads, also bei den Zinsaufschlä-
gen für einige Länder wie Italien und Spanien, die sehr
gering geworden sind, eine unnatürliche Situation haben,
was viel mit der Liquidität der EZB zu tun hat. Es hat
den Ländern in den vergangenen Jahren viel Entlastung
gebracht, dass sie nicht die höheren Zinsen zahlen müs-
sen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass jede Ver-
unsicherung in einem der Euro-Länder sofort einen Do-
minoeffekt auf alle anderen hätte. Aus diesem Grund ist
es extrem wichtig, dass wir Griechenland nicht am
31. Dezember 2014 mit einem Schlag dem Kapitalmarkt
überlassen. Griechenland müsste sich dann nämlich zu
Zinsen von 12 oder 13 Prozent refinanzieren, die es nicht
zahlen könnte; das sind in etwa die Aufschläge bei einer
zehnjährigen Anleihe. Aus diesem Grund ist es unser ur-
eigenes und richtiges Interesse, zu sagen: Innerhalb des
bereits vom Bundestag genehmigten Finanzvolumens
stellen wir einen Dispokredit zur Verfügung, damit sich
Griechenland, wenn es notwendig ist, darüber zusätzlich
refinanzieren kann. Das erscheint mir nicht nur notwen-
dig, sondern auch zwingend. Es wäre auch ein Zeichen
an das griechische Parlament, dass wir weiterhin zu un-
serer Solidarität stehen, die wir zugesagt haben.
Uns Sozialdemokraten ist auch wichtig, dass wir den
Fokus noch viel stärker auf das Wachstum richten. Das
ist sowohl bei den Strukturreformen und den angebots-
seitigen Reformen als auch bei der Frage der Investitio-
nen zentral. Darum geht es 2015. Ein erster kleinerer
Schritt ist das Juncker-Programm. Wir werden hier in
Deutschland und in Europa weitere Schritte brauchen,
um dauerhaft leistungsfähig zu bleiben und wieder zu
Wachstum zu kommen.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7227
(C)
(B)
Vielen Dank, Kollege Schneider. – Nächster Redner
in der Debatte ist Sven-Christian Kindler für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist richtig: In den letzten Jahren sind in
Griechenland zahlreiche strukturelle Reformen angegan-
gen worden. Die Regierung hat jetzt einen Primärüber-
schuss im Haushalt erzielt. Diese Errungenschaften erken-
nen wir Grüne ausdrücklich an. Entgegen der Meinung
mancher Boulevardzeitung muss man das in Deutsch-
land zur Kenntnis nehmen. Das darf man nicht kleinre-
den.
Wir Grüne haben im Bundestag von Anfang an der
Gewährung von Hilfskrediten für Griechenland gerade
wegen der katastrophalen Marktfinanzierung mit horren-
den Zinssätzen zugestimmt. Wir wollten auch nicht, dass
die Euro-Zone auseinanderbricht. Deswegen werden wir
heute der Verlängerung des Programms um zwei Monate
zustimmen.
Wir haben aber immer den einseitigen Kurs der Kri-
senbewältigung in Griechenland kritisiert. Die Armut
und die Arbeitslosigkeit sind immer noch extrem groß,
besonders unter den Jugendlichen. Die Wirtschaft ist in
den letzten Jahren massiv eingebrochen. Und ja, natür-
lich war das auf der einen Seite eine Konsequenz aus
jahrzehntelanger Misswirtschaft durch die Verantwortli-
chen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Griechen-
land selbst. Auf der anderen Seite war das aber auch eine
Konsequenz der harten Sparmaßnahmen und der fal-
schen Anpassungspolitik der Euro-Gruppe, der Bundes-
regierung und der Troika. Das haben wir Grüne immer
kritisiert. Deshalb fordern wir Änderungen bei den An-
passungsprogrammen.
Wir Grüne sagen klar: Bei der notwendigen Verlänge-
rung des Kreditprogramms und bei der Gewährung einer
vorsorglichen Kreditlinie muss sehr genau auf die wirt-
schaftliche Erholung in Griechenland, gerade im Touris-
musbereich, geachtet werden. Es muss auch auf die Fi-
nanzierung von Zukunftsinvestitionen geachtet werden.
Wir müssen auf soziale Ausgewogenheit achten, indem
die großen Vermögen beteiligt werden. Wir sagen klar:
Wir brauchen mehr Gerechtigkeit in Griechenland.
Die Schuldenstandsquote mit über 170 Prozent des
BIP ist nicht nachhaltig, sie ist immer noch viel zu hoch.
Wenn man ein nachhaltiges Niveau erreichen will, dann
muss man hier im Bundestag auch so ehrlich sein und
zugeben, dass das nicht nur durch Anpassungspro-
gramme funktionieren wird. Man muss sagen, dass man
einen Schuldenschnitt will. Wir Grüne fordern schon
lange einen konditionierten Schuldenschnitt. Das heißt,
man muss sich auf entsprechende Konditionen einigen,
zum Beispiel auf eine Strukturreform in der Steuerver-
waltung, damit es mehr Einnahmen gibt, aber auch auf
soziale Konditionen, damit die soziale Spaltung verrin-
gert wird. Auch Investitionen in die Zukunft müssen fi-
nanziert werden. Wir wollen durch einen konditionierten
Schuldenschnitt Schritt für Schritt für spürbare Erleich-
terung sorgen. Dafür muss sich die Bundesregierung ein-
setzen.
Das Instrument einer vorsorglichen Kreditlinie – mo-
mentan liegen die Zinsen bei über 9 Prozent – kann
grundsätzlich sinnvoll sein, damit Griechenland die an-
gefangenen Reformen weiterhin umsetzen und die Fi-
nanzierungsbasis sichern kann. Das ist sehr wichtig. Wir
würden dem heute vorliegenden Antrag in diesem Punkt
auch zustimmen, wenn die Entscheidung für eine vor-
sorgliche Kreditlinie nicht mit der Einschränkung von
Parlamentsrechten verknüpft wäre. Der vorliegende An-
trag enthält eine inakzeptable und unnötige Beschnei-
dung von Parlamentsrechten, und der stimmen wir nicht
zu.
Man muss sich die Situation einmal genau anschauen.
Im ESM-Finanzierungsgesetz, Herr Schäuble, steht völ-
lig zu Recht: frühestmögliche Unterrichtung des Parla-
ments. Aber dort steht nicht, dass das Parlament über
alle Zwischenstände abstimmen soll. Es ist doch so:
Wenn die Dokumente endgültig vorliegen – derzeit lie-
gen sie nicht endgültig vor –, dann soll die Bundesregie-
rung eine Einschätzung vornehmen, ob die vorläufigen
Dokumente der EU-Kommission mit den endgültigen
Dokumenten der EU-Kommission im Benehmen mit der
EZB übereinstimmen. Aber diese Einschätzungshoheit,
die die Entscheidungshoheit des Parlaments ist, kann der
Bundestag nicht an die Bundesregierung delegieren. Das
geht gar nicht!
Im Übrigen: Nach dem ESM-Vertrag müssen auch Sie
alle endgültigen Dokumente haben, um der ersten Stufe
der Kreditlinie zustimmen zu können. Sie müssen das
nachher bewerten und können das nicht vorher entschei-
den. Das Gleiche gilt für den Bundestag; denn das Bun-
desverfassungsgericht hat klar gesagt: Der Bundestag
darf nicht in eine Situation des reinen Nachvollzugs von
Entscheidungen der Bundesregierung kommen. – Aber
genau diese Gefahr besteht, wenn man sich heute ent-
sprechend entscheidet.
Die Frage ist vor allen Dingen: Warum gibt es diesen
Zeitdruck? Es besteht doch keine Not. Sie haben selber
gesagt, dass der ESM-Gouverneursrat wahrscheinlich
erst dann entscheiden wird, wenn in Griechenland die
Verlängerung des Programms mit der Troika geklärt ist.
Das heißt, inhaltlich sind die beiden Entscheidungen,
über die wir heute befinden, getrennt zu sehen. Die Ent-
scheidung zur vorsorglichen Kreditlinie könnte man
7228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Sven-Christian Kindler
(C)
(B)
durchaus auf die erste Sitzungswoche des Bundestages
im Januar vertagen.
Unsere große Sorge ist, dass Sie mit diesem Trick, da-
durch, dass Sie das heute ohne Not durch den Bundestag
peitschen, einen gefährlichen Präzedenzfall für andere
Entscheidungen schaffen. So beschneiden Sie das Parla-
mentsrecht. Wir sagen klar: Es geht hier nicht um for-
male Fragen, sondern um Parlamentsrechte, und das sind
keine Formalitäten, sondern zentrale Aspekte der Demo-
kratie.
Vielen Dank.
Danke, Kollege Kindler. – Nächster Redner in der
Debatte: Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme für
mich in Anspruch, dass ich noch lernfähig bin. Lieber
Herr Kollege Kindler, angesichts Ihres Alters müsste
man eigentlich davon ausgehen können, dass auch Sie
noch lernfähig sind. Der Herr Finanzminister hat es Ih-
nen erklärt, und auch der Kollege Carsten Schneider hat
es Ihnen erklärt:
Es gibt nirgendwo eine Einschränkung von Parlaments-
rechten. Ich erkläre es Ihnen auch noch einmal: Wir
stimmen heute zunächst einmal über eine technische
Frage ab, über die Verlängerung der Bereitstellungsfrist
für das laufende Programm um zwei Monate. Damit wa-
ren Sie einverstanden. Zweitens stimmen wir darüber ab
– das entspricht dem ESM-Finanzierungsgesetz –, die
Bundesregierung zu berechtigen, im ESM-Direktorium
über eine vorsorgliche Kreditlinie zu verhandeln. Nach
Abschluss dieser Verhandlungen legt die Bundesregie-
rung das Verhandlungsergebnis diesem Parlament vor,
und dann können wir darüber abstimmen, ob diese Kre-
ditlinie zustande kommen soll.
Das entspricht dem Parlamentsbeteiligungsrecht und
dem ESM-Vertrag. Vielleicht lernen Sie das auch noch.
Dass Griechenland ein Sonderfall ist, wissen wir alle.
Das wurde schon hinlänglich gesagt. Griechenland ist
nicht vergleichbar mit den ehemaligen Programmländern
Portugal, Spanien und Irland, die den Rettungsschirm be-
reits verlassen haben. Griechenland hat besondere Be-
dingungen, die mit der Vorgeschichte zusammenhängen
– sie wurden schon angesprochen –: Ich halte es für
einen ausschlaggebenden Punkt, dass der griechische
Staatsapparat bisher nicht in der Lage war, von allen sei-
nen Bürgerinnen und Bürgern auf gerechter Basis Steu-
ern einzuziehen. Der griechische Staatsapparat war auf-
grund von Korruption – „Vetterleswirtschaft“ sagt man
auf Schwäbisch – nicht in der Lage, eine prosperierende
Wirtschaft auf die Beine zu stellen. Darin liegt das
Hauptproblem.
Wenn man sich den jetzigen Stand der Dinge an-
schaut, muss man doch feststellen: Griechenland ist auf
dem richtigen Weg; es geht vorwärts. Die wichtigsten
Kenndaten wurden schon genannt: Seit 2013 erwirt-
schaftet Griechenland einen Primärüberschuss. Lieber
Klaus-Peter Willsch, niemand will die Situation in Grie-
chenland schönreden; aber man muss doch zur Kenntnis
nehmen, dass es vorangeht, dass die Rahmenbedingun-
gen heute deutlich besser aussehen. Der Arbeitsmarkt
wurde flexibilisiert, die Überstundenvergütung wurde
um 20 Prozent reduziert, der Mindestlohn wurde deut-
lich abgesenkt, und das effektive Renteneintrittsalter
wurde um zwei Jahre auf 65 Jahre angehoben. Diese An-
hebung des Renteneintrittsalters ist im europäischen Ver-
gleich nicht übertrieben, sondern angemessen. Man muss
nachweisen, dass man 40 Jahre Rentenversicherungsbei-
träge geleistet hat, um Anspruch auf die volle Rente zu
haben. Bei uns sind das 45 Jahre. Angesichts dessen ist
diese Anhebung doch nicht mehr als angemessen. Das
müsst auch ihr einmal zur Kenntnis nehmen.
Außerdem hat sich die Wettbewerbsfähigkeit des
Landes deutlich verbessert. Ich mache das immer an ei-
ner Kennzahl fest, die für jeden relativ leicht nachzuvoll-
ziehen ist. Ich zeige dazu heute einmal ein Schaubild,
was ich sonst nie mache. – Sie sehen hier die Entwick-
lung der Lohnstückkosten; das sind die Lohnkosten in
Relation zum Bruttoinlandsprodukt.
Auf diesem Schaubild ist das vereinfacht dargestellt:
Hier war die Einführung des Euro, hier war die Krise
und der Beginn der Rettungsprogramme. Gelb unterlegt
ist der Anstieg der Lohnstückkosten in Griechenland.
Aufgrund der Konditionalität und nach den Struktur-
reformen gingen die Lohnstückkosten in Griechenland
rapide nach unten. Die untere Linie, die stabil bleibt,
zeigt übrigens die Entwicklung in Deutschland.
(C)
(B)
Ich kann Ihnen an diesem Schaubild gerne auch noch die
Entwicklung der Lohnstückkosten in Frankreich und Ita-
lien verdeutlichen, wo die Lohnstückkosten immer noch
steigen.
Wir hier oben dürfen es nachher auch sehen, ja?
Das lassen wir jetzt einmal außen vor. Allein die Ent-
wicklung der Lohnstückkosten – das bestätigen Ihnen
alle Volkswirte – sagt sehr viel aus über die Wettbe-
werbsfähigkeit eines Landes. Dieser Blick auf die Lohn-
stückkosten zeigt – das sage ich auch an die Linken ge-
wandt –: Griechenland hat vor der Krise über seine
Verhältnisse gelebt, und das gilt für alle, nicht nur für die
Reichen. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Das gehört zur Wahrheit dazu.
Die Probleme, die wir zu bewältigen haben, liegen nicht
am Euro, sondern in aller Regel an einem Mangel an Re-
formbereitschaft in den betroffenen Ländern.
Heute, an einem Tag, an dem wir an Andreas
Schockenhoff denken, der ein in hohem Maße franko-
philer Kollege, ein Freund Frankreichs war – wir alle
sind Freunde Frankreichs –, möchte ich darauf hinwei-
sen, dass es uns Sorge macht, dass es auch dort mit der
Wettbewerbsfähigkeit, mit der wirtschaftlichen Entwick-
lung nicht richtig vorangeht. Deshalb erlaube ich mir an
dieser Stelle die klare Aussage: Es liegt nicht an uns, es
liegt nicht an Deutschland, sondern an Frankreich selbst.
Frankreich muss die entsprechenden Entscheidungen
treffen. Dann geht es auch dort wieder voran. Frankreich
verbittet sich immer jede Einflussnahme von außen. Das
respektieren wir. Genauso nehmen wir aber für uns in
Anspruch, dass wir unsere Investitionsentscheidungen
selbst treffen.
Der Blick auf die bisherigen Programmländer, auch
der Blick auf Griechenland zeigt uns klar und eindeutig:
Der bisherige Weg, nämlich Solidarität für Solidität zur
Verfügung zu stellen, war der richtige, ist der richtige
und bleibt der richtige. Dort, wo sich Länder um solides
Wirtschaften und Haushalten bemühen, herrscht auch
europäische Solidarität. Deshalb bin ich überzeugt: Wir
werden jetzt zunächst einmal abwarten, bis Griechen-
land das laufende Programm ordentlich beendet. Wenn
es ordentlich beendet wird, gibt es grünes Licht für ein
Anschlussprogramm, also für eine vorsorgliche Kredit-
linie.
Damit keine Irrtümer entstehen: Auch diese vorsorgli-
che Kreditlinie mit erweiterten Bedingungen – oder En-
hanced Conditions Credit Line – hat wieder Bedingun-
gen. Es sind Bedingungen zu erfüllen. Dies wird von der
Europäischen Kommission, von der Europäischen Zen-
tralbank und – das ist uns wichtig – auch vom Internatio-
nalen Währungsfonds überprüft werden. Deshalb ist das
aus unserer Sicht tragbar. Über die weiteren Einzelheiten
werden wir ja noch rechtzeitig informiert werden.
Ganz wichtig ist mir noch, darauf hinzuweisen, dass
sich auch dann, wenn diese erweiterte Kreditlinie gezo-
gen werden sollte, das bisherige Risikopotenzial für
Deutschland nicht erhöht. Das ist, glaube ich, eine we-
sentliche und wichtige Aussage. Das ist bereits in den
bisherigen Programmen abgebildet. Der Kollege Carsten
Schneider hat darauf hingewiesen, der Finanzminister
hat darauf hingewiesen. Ich will es noch einmal betonen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stimmen Sie diesem
Antrag frohen Herzens zu! Denn dieser Antrag ist nicht
nur gut für Griechenland, sondern auch gut für Europa
und damit auch gut für uns.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Barthle. Jetzt haben wir Ihr
Bild gar nicht gesehen. Nächstes Mal zeigen Sie es uns
bitte auch. Wir hier oben sind nämlich auch neugierig.
– Persönlicher Termin, gut. Das kommentiere ich jetzt
nicht weiter.
Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Diether Dehm
für die Linke.
Verehrte Frau Präsidentin! Ich ergänze die grobe Bi-
lanz meines Kollegen Bartsch zur Rettungspolitik von
Frau Merkel, Herrn Schäuble und Herrn Draghi seit
Beginn der Krise 2008: Die Arbeitslosenquote ist von
7,7 Prozent auf 27,3 Prozent gestiegen. 60 Prozent der
jungen Griechen sind ohne Arbeit und Lebensperspek-
tive. Die Armutsquote ist bis 2012 von 20,1 Prozent auf
35,8 Prozent gestiegen, Tendenz weiter steigend. Zu den
Schulden: 2007 lagen sie noch bei 239 Milliarden Euro;
das entsprach 107 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Nachdem die Troika ihren Kampf gegen die Schulden
aufgenommen hatte, stiegen die Schulden auf 318 Mil-
liarden Euro bzw. 175 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Alles, was den Menschen in Griechenland wichtig und
für sie lebensnotwendig ist, steht mittlerweile zum Aus-
verkauf: die Wasserversorgung, die Gasversorgung, die
Eisenbahn, Häfen und Flughäfen. Ich sage Ihnen: Das ist
wirklich ein Skandal für Demokratie und Volkswirt-
schaft.
Ergebnis der krankhaften Gesundheitsreform, die Kol-
lege Bartsch vorhin benannt hat, ist eine Steigerung der
HIV-Infektionen um das 32-Fache, die Rückkehr von
Malaria, ein Anstieg der Totgeburten um 21 Prozent und
7230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Diether Dehm
(C)
(B)
der Kindersterblichkeit um 43 Prozent sowie eine Stei-
gerung der Suizidrate um 45 Prozent. 800 000 Griechen
sind arbeitslos und erhalten weder Arbeitslosenunterstüt-
zung noch verfügen sie über eine Krankenversicherung.
Es herrscht massenhafte Obdachlosigkeit in den Städten.
Daran wird deutlich: Die Troika-Kredite sind nicht an
die Griechinnen und Griechen geflossen, sondern an die
Großbanken, die sich gerne „Finanzmärkte“ nennen, an
die kriminelle Deutsche Bank und an die Spekulanten.
Die Linke möchte, dass Direktkredite gegeben werden,
und zwar für Arbeitsplätze und für neue ökologische, so-
ziale und wirtschaftlich tragfähige unternehmerische
Ideen. Das ist es, was wir wollen; das sage ich, weil Sie
nach Alternativen gefragt haben.
Solidarität mit Griechenland heißt Mut zu einer radi-
kaldemokratischen Regierung des Neuaufbruchs. Ich kenne
viele mittelständische Unternehmer, die in Griechenland
investieren wollen, wenn dort endlich nicht mehr das neo-
liberale Zepter von Troika, Spekulanten und Deutscher
Bank geschwungen wird.
Sie wollen keine Spekulation betreiben, sondern in neue
Ideen, in Beschäftigung und nachhaltige Innovationen
investieren.
Kollege Dehm, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Herrn Petry, SPD?
Ja.
Herr Kollege Dehm, Ihren Ausführungen zufolge ist
in Griechenland ein strukturelles Problem zu erkennen.
Deswegen möchte ich Sie fragen – bei aller Polarisie-
rung, die wir hier im Parlament gerne betreiben –: Stim-
men Sie mit mir überein, dass wir alle gemeinsam wol-
len, dass es in Griechenland zu einem gerechteren
Steuervollzug kommt, damit das griechische Volk, das
bisher den Löwenanteil all der Sanierungsmaßnahmen
getragen hat, nicht alleine dasteht, sondern auch die Ver-
mögenden entsprechend beteiligt werden? Stimmen Sie
mit mir darin überein, dass dies unser gemeinsames Ziel
sein muss?
Kollege Petry, ich danke Ihnen sehr für Ihre Zwi-
schenfrage. Sie zeigt, dass es Sozialdemokraten gibt, die
diesen Namen verdienen.
Ihre Frage weist auf Gemeinsamkeiten zwischen Sozial-
demokraten und Linken hin.
Ich möchte ergänzen – weil vorhin nach Alternativen
gefragt wurde –: An erster Stelle steht der Kampf gegen
die Steueroasen und gegen diejenigen, die sich berei-
chert haben. Es ist ja nicht so – wie es der Kollege
Barthle eben gesagt hat –, dass Griechenland über seine
Verhältnisse gelebt hat, sondern die Superreichen, die
Steuerbegünstigten haben über ihre Verhältnisse gelebt.
Der Kampf gegen die Steueroasen ist das Erste, was die
neue griechische Regierung gemeinsam mit einer dann
hoffentlich auch anders zusammengesetzten EU angehen
muss. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir müssen diejenigen zur Kasse bitten, die in der Ver-
gangenheit von staatlichen Leistungen profitiert haben,
und an die fließen ja 90 Prozent der Griechenlandhilfe.
Das ist die gemeinsame Überzeugung von Linken und
Sozialdemokraten, jedenfalls von solchen, die diesen
Namen verdienen. Ich danke Ihnen nochmals herzlich
für Ihre Frage und hoffe, dass ich sie mit einem klaren Ja
beantwortet habe.
Ich habe meinem Freund Alexis Tsipras, dem vermut-
lich künftigen griechischen Ministerpräsidenten, gera-
ten, eine Schadensersatzklage gegen Goldman Sachs
wegen wissentlich betrügerischer Falschberatung bei der
Einführung des Euro zu erheben. Es muss aufhören, dass
die Menschen in den Schuldnerländern für das Versagen
der Spekulanten zahlen müssen; das gilt übrigens auch
im Hinblick auf die beiden Schwesterparteien von SPD
und Union, die sich in Griechenland lange am Staatsap-
parat bereichert haben. Jede neue Regierung wird einen
schweren Gang ins Freie vor sich haben. Ich denke,
Griechenland wird sich mit Alexis Tsipras und der
SYRIZA gegen die Finanzoligarchen, die man bei uns
„Finanzmärkte“ nennt, erheben.
Alle anständigen Menschen sollten Griechenland dabei
solidarisch unterstützen.
Nächster Redner in der Debatte: Ewald Schurer für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte ruft in Erinnerung, was wir in den Jahren
2008, 2009 und 2010 in Bezug auf Griechenland in Eu-
ropa erlebt haben. Griechenland stand Mitte 2009 und
im Jahr 2010 vor einem, so kann man sagen, Staatsinsol-
venzverfahren. Griechenland war nicht mehr in der Lage,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7231
Ewald Schurer
(C)
(B)
sich selbst zu refinanzieren. Das war die Ausgangssitua-
tion.
Wie auch immer man die makroökonomische Situa-
tion bewerten mag: Griechenland brauchte dringend eu-
ropäische Solidarität. Im Gegensatz zu dem, was die
Linken hier erzählen, ist sie damals auch erbracht wor-
den, auch von Grünen und Sozialdemokraten, sowohl in
der Regierung als auch in der Opposition, weil man ge-
sehen hat: Wir können nicht anders, als für Griechenland
entsprechende Finanzkonstrukte zu schaffen. Zunächst
einmal gab es, im Februar und März 2010 ausgehandelt,
bilaterale Verträge zwischen verschiedenen Staaten und
Griechenland, dann, unterstützt vom IWF, eine 80-Mil-
liarden-Euro-Linie, von der 73 Milliarden Euro ausge-
zahlt worden sind, und später die Fazilitäten: EFSF,
EFSM und ESM-Vertrag.
Man muss an dieser Stelle auch sagen, dass Griechen-
land ohne diese strukturellen Hilfen nicht hätte überle-
ben können. Dann hätte man nicht mehr über die
schmerzhaften – das gebe ich zu – Sozialkürzungen
reden müssen. Griechenland wäre weder in der Lage ge-
wesen, einen Cent an Rente auszuzahlen, noch sein
Gesundheitssystem auch nur im Ansatz aufrechtzuerhal-
ten. Griechenland hätte einen Kollaps aller staatlichen,
öffentlichen Systeme erlebt.
Das, was wir erlebt haben – das gebe ich zu –, wurde
von den Sozialdemokraten im Europaparlament und
auch in unserer Bundestagsfraktion mit großer Besorgnis
gesehen, weil wir der Meinung waren und auch heute
noch sind – trotzdem glauben wir, wir kommen an der
heutigen Lösung nicht vorbei –, dass diese Sparpro-
gramme, diese Auflagen, diese Konditionalitäten, in so
kurzer Zeit eine so große Sparleistung zu erbringen,
Griechenland binnenwirtschaftlich nicht geholfen, son-
dern teilweise geschadet haben. Dennoch muss man ehr-
lich sein: Ohne Auflagen gibt es nirgends in dieser Welt
Geld.
Ich darf vielleicht einmal die Historie bemühen: Nir-
gendwo gab es jemals in der Weltgeschichte so brutale
Auflagen. Ausgenommen davon – das ist mir spontan
eingefallen – sind nur die Sanktionen des Regimes der
ehemaligen Sowjetunion gegen die COMECON-Staaten.
Damals wurden sämtliche Formen von Ressourcenliefe-
rungen und Hilfen so brutal sanktioniert wie niemals
sonst in diesem Weltgeschehen. – Das sei noch ins linke
Stammbuch geschrieben.
Ich komme auf die Situation in Griechenland zurück:
Die Sozialdemokraten haben den Prozess kritisch beglei-
tet. Wir waren ganz klar der Meinung, dass diese Pro-
gramme binnenwirtschaftlich nur zum Teil helfen. Teil-
weise kam es dann zu den Senkungsprozessen, deren
Brutalität auch von uns nicht beschönigt werden kann.
In der Conclusio, Herr Minister, werte Kolleginnen
und Kollegen, sehe ich, dass wir heute das Richtige tun.
Wir sind vorinformiert worden. Wir haben in den ver-
gangenen Jahren in diesem Hohen Hause gemeinsam mit
allen Fraktionen in einer großen Breite und Tiefe über
das StabMechGesetz, also das Gesetz über den europäi-
schen Stabilitätsmechanismus, und über das ESM-Finan-
zierungsgesetz gesprochen, und wir haben uns, wie ver-
mutlich nur wenige Parlamente im europäischen Raum,
die Mühe gemacht, die Partizipation des Parlaments in
den Mittelpunkt aller europäischen Prozesse zu stellen,
weil wir uns ja schließlich national und in Europa letzt-
endlich in hohem Umfang an diesem Prozess der Schul-
denbekämpfung beteiligen mussten.
Der Herr Minister und der Kollege Schneider haben
es bereits angeführt – auch ich sehe es so –, dass wir die
angesprochenen zwei Dinge tun müssen und auch tun
werden:
Die Prolongation des bestehenden EFSF-Programms
bis zum 28. Februar 2015 ist notwendig. Wir haben
hierüber eine Vorinformation, auch wenn das nur Zwi-
schendokumente sind. Diese sind im Übrigen im Parla-
ment und bei der Regierung vorhanden. Das heißt, wir
haben kein Informationsdefizit. Wir müssen aber, liebe
Freundinnen und Freunde der Grünen, auf die endgülti-
gen Dokumente zugegebenermaßen noch etwas warten;
Carsten Schneider hat dies bereits beschrieben. Ich finde
es haushalts- und finanztechnisch auch gut, dass wir eine
vorsorgliche Finanzhilfe für Griechenland leisten. Die
entsprechende Kreditlinie wird in maximal zwölf Mona-
ten 10,9 Milliarden Euro umfassen. Das alles trägt in der
fragilen Situation, in der sich Griechenland immer noch
befindet, zu einer gewissen Form von Sicherheit bei.
Gestern ist in Griechenland der erste Versuch, einen
Präsidenten zu wählen, gescheitert. Es gibt zwei weitere
Termine: den 23. und den 29. Dezember 2014. Nur dann,
wenn es an diesen Terminen nicht gelingen würde, einen
Präsidenten zu wählen, würden die Träume der Linken
vielleicht wahr werden. Ich glaube es aber nicht. Herr
Bartsch, wenn das der Fall wäre, dann müsste ihr Kandi-
dat schon am ersten Tag alle Versprechungen, die er jetzt
macht, zurücknehmen.
Wenn alle internationalen Verpflichtungen aufgekündigt
würden, dann würde Griechenland das erleben, was
2009 schon einmal drohend im Raum stand, nämlich ei-
nen Konkurs des gesamten Landes.
Insofern sind die großen, wohlfeilen Versprechungen der
jetzigen griechischen Opposition wirklich nur Schall und
Rauch. Sie könnte ökonomisch keine ihrer Versprechun-
gen erfüllen, wenn sie in diese Situation kommen würde,
was – so ist meine große Hoffnung – nicht der Fall sein
wird.
Für mich ist die letzte wichtige Aussage, dass Grie-
chenland jetzt natürlich in die Phase des Wachstums
kommen muss. Der Minister, Carsten Schneider und an-
dere haben es schon angesprochen: Griechenland hat ein
zartes Wachstum; es ist noch nicht bestätigt.
Es gab einen Traum: Im April dieses Jahres hat man
eine fünfjährige Staatsanleihe für 4,75 Prozent ausbrin-
gen können, und schon hatte Griechenland gedacht, man
wäre in der Lage, sich von den Märkten, den Auflagen
7232 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Ewald Schurer
(C)
(B)
und den Konditionalitäten zu lösen. Dieser Traum hat
sich leider nicht erfüllt. Wir alle wären begeistert gewe-
sen, wenn sich Griechenland ab dem Sommer wieder
selbstständig und ohne Auflagen hätte refinanzieren
können. Das hat sich – ich sage es noch einmal – leider
nicht erfüllt. Deswegen ist Griechenland dringend auf
eine Fortführung der Solidarität durch die Europäische
Union angewiesen.
Bei aller Kritik der Grünen, die ich sehr ernst nehme:
Es gibt dazu keine wirkliche Alternative.
Griechenland muss versuchen, diesen zarten Erho-
lungskurs fortzusetzen hin zu wirtschaftlichem Wachs-
tum, hin zu mehr Beschäftigung und hin wieder zu einer
Krankenversicherung für alle Menschen – auch für
schwangere Frauen –, die diesen Namen verdient. Die-
sen Weg muss Griechenland gehen.
Ohne weitere Hilfen seitens der Europäischen Union
mit Zustimmung des Deutschen Bundestages wird es
nicht gehen. So kurz vor Weihnachten will ich hier
nichts von einer heilen Welt erzählen. Vielmehr will ich
sagen, dass wir nach einer sehr schwierigen Phase der
Restrukturierung, in der auch handwerkliche Fehler be-
gangen wurden, versuchen müssen, Griechenland inner-
halb der Europäischen Union wieder nach vorne zu ent-
wickeln, und zwar ökonomisch über mehr Investitionen
und durch das Widererstarken sozialer Leistungen.
Ganz herzlichen Dank.
Danke, Kollege Schurer. – Nächster Redner in der
Debatte ist Manuel Sarrazin für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Man kann Griechenland als ein Land beschreiben,
in dem abwechselnd monogame absolute Mehrheiten
von zwei relativ mit Korruption verbandelten Großpar-
teien – wir haben das Glück, dass die griechischen Grü-
nen nicht so relevant sind, als dass man hier jemandem
etwas vorwerfen kann –, die mit der EVP oder der euro-
päischen Sozialdemokratie zusammenhängen, herr-
schen und immer abwechselnd das Land relativ stark in
Klientelwirtschaft aufgeteilt haben. Das ist im Zuge der
Finanzkrise hochgegangen. Das wäre früher oder später
sowieso hochgegangen. Daher ist die Troika zumindest
daran nicht schuld.
Jetzt hofft die Linkspartei, dass Herr Tsipras das
Ruder übernimmt. Ich wünsche mir, dass dieser endlich
klar sagt: „Wir wollen, dass Griechenland im Euro
bleibt“, und er auch persönlich bereit ist, alles dafür zu
tun.
– Das sagt er so nicht.
Er sagt immer: Es ist nicht meine Priorität, aus dem Euro
auszuscheiden. – Das ist ein feiner Unterschied, Diether.
Außerdem wünschen wir uns, dass sich nicht heraus-
stellt, dass eure Partnerpartei, die SYRIZA, auch so et-
was ist, nämlich eine alte Strukturen bewahrende Klien-
telpartei. Wir wünschen uns, dass herauskommt, dass
das nicht so ist.
Sie wissen, dass in Griechenland viele jetzt schon sa-
gen, dass Tsipras der neue alte Papandreou ist. Ich wün-
sche mir, dass dein Freund nicht zu so etwas wird. Viel-
leicht wäre ein bisschen mehr Ramelow besser für
Griechenland als ein bisschen mehr Tsipras, aber egal.
Die Lage in Griechenland wurde schon beschrieben.
Die wichtigste Herausforderung ist jetzt, dass die zarten
Pflänzchen der Erholung – man kann darüber streiten,
wie groß sie sind – nicht wieder durch politische Instabi-
lität kaputt gemacht werden. Wir sind bereit, unseren
Beitrag dazu zu leisten. Darum werden wir der Verlänge-
rung des Programms zustimmen.
Wir sind auch bereit, einer vorsorglichen Kreditlinie
zuzustimmen, aber nicht heute. Das liegt an folgendem
Problem. Das liegt nicht daran, dass man nicht auch ein-
mal etwas entscheiden könnte. Das Problem ist die Maß-
gabe, die Sie hineingeschreiben haben, dass die Beurtei-
lung, ob die vorläufigen Berichte der Kommission mit
den abschließenden Berichten übereinstimmen, von uns
an die Bundesregierung abgegeben wird. Ich glaube,
dass das nicht geht. Das geht nicht, weil wir nicht in eine
Situation des reinen Nachvollzugs kommen können, die
das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die zweite
Entscheidung so stark thematisiert. Das geht auch des-
halb nicht, weil bei uns im Deutschen Bundestag das
Prinzip der Integrationsverantwortung gilt. Es gilt, über
die Zugangsvoraussetzung zu entscheiden, damit über
die Ob-Frage nicht erst am Ende entschieden wird. Über
die Ob-Frage können wir jetzt noch nicht ausreichend
entscheiden.
Man kann sagen – da stimme ich Ihnen zu, Herr
Schäuble –, dass wir Griechenland auch im Deutschen
Bundestag sehr stark beobachten, dass wir einschätzen
können, ob die vorläufige Einschätzung der Kommission
totaler Quatsch oder nicht. Da würde ich Ihnen noch zu-
stimmen. Ich glaube, dass diese relativ realistisch ist.
Ich kann Ihnen aber keine Maßgabe geben, dass Sie
mir diese Entscheidung abnehmen. Das passt nicht mit
meinem Selbstverständnis als Parlamentarier zusammen.
Weil Kollege Willsch dort hinten sitzt und Kollege
Gauweiler nicht dort hinten sitzt, muss ich sagen: Wir
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7233
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
werden dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist, einen
Antrag einbringen, dem Sie dann zustimmen müssen,
damit Herr Gauweiler dank uns in Karlsruhe gegen Sie
wieder einmal nicht gewinnt. So konstruktiv sind wir
dann doch noch.
Aber den Quatsch heute machen wir nicht mit.
Danke.
Danke, Kollege Sarrazin. – Der letzte Redner in die-
ser Debatte ist Alois Karl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen
Bundestages! Wenn man viel Zeit hat, den Vorrednern
zuzuhören, dann fällt einem manches auf. Besonders
Ihre Ausführungen, Herr Dehm, können nicht ganz un-
widersprochen bleiben. Sie gerieren sich manchmal wie
ein Arzt. Sie zeigen allerdings nur die Symptome auf,
also das, was in Griechenland zurzeit zu sehen ist und
wie es sich in den letzten zwei, drei oder vier Jahren ent-
wickelt hat. Aber Sie bleiben bei der Beschreibung der
Symptome stehen. Sie gehen nicht auf die Ursachen ein,
woher das Ganze resultiert. Dass das Jahre und Jahr-
zehnte zurückliegt und die heutigen Symptome schon
vor vielen Jahren begründet worden sind, hast du schon
ausgeführt, lieber Norbert Barthle.
Wir – auch Sie, Herr Bartsch – sind heute angehalten,
über die Symptome hinauszuschauen und – wie das im
Leben so ist – Medikamente zu verschreiben, die zwar
manchmal bitter sind, aber dann auch wirken müssen.
Wer bei den Symptomen stehen bleibt, lieber Herr
Sarrazin, der ist eher Scharlatan als Arzt. Ich bitte Sie,
diesen Weg in Zukunft nicht weiter zu beschreiten.
Ich habe gestern mit einem Freund in meinem Wahl-
kreis telefoniert. Er hat gefragt, zu welchem Thema ich
heute rede. Als ich ihm sagte, zur Griechenland-Hilfe,
hat er gefragt: „Ist das mit Griechenland denn immer
noch nicht zu Ende?“ Das ist die Stimmung. Ich habe da-
rauf geantwortet: Es ist in der Tat gut so, dass es mit
Griechenland nicht zu Ende ist.
Wir haben in den letzten Jahren außerordentlich viel
Arbeit mit Griechenland gehabt und unendlich große
Rettungsschirme gespannt.
Wir sehen heute einen Schimmer des Lichts am Ende
des Tunnels und glauben, dass sich die Dinge in Grie-
chenland gut entwickeln werden und dass sich unsere
Aktionen bzw. unsere unendlich großen Rettungs-
schirme in den letzten Jahren sehr erfolgreich gestaltet
haben.
Was wäre denn gewesen, wenn wir das nicht gemacht
hätten? Es wäre doch geradezu in epidemischer Wirkung
auf italienische und französische Banken übergegangen,
und der Euro selber wäre attackiert worden. Wenn ich
die Äußerung von Bundeskanzlerin Merkel aufgreife,
dass es ohne Euro auch keine funktionierende Europäi-
sche Union gäbe, dann bedeutet das, dass die gesamte
Europäische Union betroffen gewesen wäre. Darum war
es richtig, dass wir so gehandelt haben, und darum ist es
auch richtig, dass wir heute die beiden Beschlüsse
fassen.
Meine Damen und Herren, wir gehen auch ein hohes
Risiko ein. Das ist gar keine Frage. Die Rettungsschirme
des ersten Griechenland-Programms mit 110 Milliarden
Euro und des zweiten mit 164 Milliarden Euro sind
schon angesprochen worden. Unser eigenes Risiko dabei
ist mit 76,6 Milliarden Euro nicht gering. Aber all das
machen wir sehenden Auges, weil wir wissen, dass das
notwendig ist, um Griechenland wieder auf eine gute
Strecke zu bringen.
Nach dem Stabilisierungsmechanismusgesetz sind
wir als Deutscher Bundestag gehalten, mitzuwirken, und
zwar in doppelter Ausfertigung. Darum sind Ihre Aus-
führungen, Herr Sarrazin, dass schon alles vorgelegt
werden muss, nur am Rande richtig. Wir müssen uns
noch einmal mit diesem Thema befassen und entspre-
chende Beschlüsse fassen. Erst dann kommt die vorsorg-
liche und grundsätzliche Griechenland-Hilfe insgesamt
auf den Weg.
Wir müssen jetzt 1,8 Milliarden Euro zwei Monate
länger vorhalten. Das halte ich für richtig. Die Prüfungen
müssen ordnungsgemäß erfolgen. Sie sind unseres
Wissens noch nicht vollständig abgeschlossen. Bei den
großen Zahlen, die gerade genannt worden sind, könnte
man vielleicht meinen, dass 1,8 Milliarden Euro zu ver-
nachlässigen sind, aber das trifft nicht zu. Es ist viel
Geld, insbesondere dann, wenn es einem nicht gehört
bzw. wenn wir mit dem Geld anderer umgehen. Dabei ist
es wichtig, notwendig und richtig, dass wir auch diese
1,8 Milliarden Euro unter den Vorbehalt der Prüfung
stellen.
Unser zweites Vorhaben, den Griechen vorsorglich
ein Programm zur Verfügung zu stellen und grundsätz-
lich Finanzhilfe in Höhe von 10,9 Milliarden Euro zu ge-
währen, ist durchaus komplizierter. Herr Bundesfinanz-
minister, Sie haben dazu sehr ausführlich und intensiv
vorgetragen. Diese Maßnahme soll auf ein Jahr befristet
sein. Wir sind sehr zuversichtlich, dass sich Griechen-
land im nächsten Jahr aufgrund der guten Zahlen, die wir
vernommen haben, positiv entwickeln wird. Griechen-
land hat zwar im letzten Sommer eigene Kredite zu ei-
nem Zinssatz von ungefähr 4,5 Prozent aufnehmen kön-
nen. Aber nun ist der Zinssatz auf das Doppelte
gestiegen, auch wegen der Unsicherheiten, von denen
7234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Alois Karl
(C)
(B)
wir gehört haben. Fast alle anderen Indizes der griechi-
schen Wirtschaft sind positiv; das hat uns sehr gefreut.
Das verschafft uns eine gewisse Sicherheit bei der nun
anstehenden Maßnahme.
Die Kernfrage all unserer Entscheidungen lautet: Er-
höht sich unser Risiko, bleibt unser Risiko gleich, oder
vermindert sich unser Risiko? Wenn ich sehe, dass sich
die griechische Wirtschaft in vielen Punkten verbessert
hat, dass wir auch bei der Arbeitslosigkeit in Griechen-
land auf einem positiven Weg sind, auch wenn sie noch
nicht so niedrig ist, wie wir uns das wünschen – das ist
nicht so gravierend wie die Entwicklung beim Primär-
saldo, beim Bruttoinlandsprodukt oder bei der Wirt-
schaftsleistung –, dass sich Griechenland in den letzten
Jahren durchaus positiv entwickelt hat und dass es sich
bei den 10 Milliarden Euro, um die es nun geht, nicht um
neues Geld, sondern um umgeswitchtes Geld vom Ret-
tungsschirm EFSF hin zum ESM handelt, dann bin ich
sehr zuversichtlich, dass sich unser Risiko nicht erhöht.
Wenn sich das Risiko nicht erhöht – wir aber unseren
griechischen Freunden damit einen Schub zur Verbesse-
rung ihrer Situation geben können –, dann sollten wir
das durchaus machen.
Aus diesem Grunde werden wir als CDU/CSU, Herr
Bundesfinanzminister, dem Antrag zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Karl. – Damit schließe ich die
Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
des Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache
18/3532 mit dem Titel „Finanzhilfen zugunsten Grie-
chenlands; technische Verlängerung und Fortführung der
Stabilitätshilfe, Einholung eines zustimmenden Be-
schlusses des Deutschen Bundestages“. Mir liegt eine
persönliche Erklärung zur Abstimmung vor.1)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
über Ziffer 1 des Antrags einerseits und über Ziffer 2 des
Antrags andererseits getrennt abzustimmen. Wir stim-
men daher zunächst über Ziffer 1 des Antrags ab. Hier
geht es um die Verlängerung der Bereitstellungsfrist für
die EFSF um zwei Monate im Rahmen der bestehenden
Hauptfinanzhilfevereinbarung. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Ziffer 1 des Antrags
ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung von Links-
fraktion und dem Kollegen Willsch von der CDU/CSU-
Fraktion. Es gab keine Enthaltung.
Wir stimmen nun über Ziffer 2 des Antrags ab. Da
geht es um eine Grundsatzentscheidung über eine vor-
sorgliche Kreditlinie des ESM. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Ziffer 2 des An-
trags ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD gegen Stimmen von Linksfraktion und Herrn
1) Anlage 3
Willsch sowie bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Damit ist der Antrag insgesamt angenommen. – Vie-
len Dank, liebe Kollegen. Vielleicht können wir einen
relativ flotten Platzwechsel vornehmen, weil wir zeitlich
hinterherhinken.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Katja Dörner, Volker Beck
, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Gleich-
stellung verheirateter, verpartnerter und auf
Dauer in einer Lebensgemeinschaft lebender
Paare bei der Kostenübernahme der gesetzli-
chen Krankenversicherung für Maßnahmen
der künstlichen Befruchtung
Drucksache 18/3279
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ich bitte diejenigen, die sich nicht an der Debatte be-
teiligen wollen, sei es auf der Regierungsbank oder im
Plenum, die Gespräche einzustellen oder woanders zu
führen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort Katja
Dörner für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Zurzeit übernehmen Krankenkassen ei-
nen Kostenanteil bei einer künstlichen Befruchtung nur
für verheiratete Paare. Wir halten das für überholt und
nicht mehr zeitgemäß. Deshalb haben wir heute einen
Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Kostenübernahme
auf nichtverheiratete Paare und auf eingetragene Le-
benspartnerschaften ausgeweitet wird.
Damit orientieren wir uns an der Vielfalt der Fami-
lien, wie sie heute in Deutschland gelebt wird, und wir
schließen auch eine Gerechtigkeitslücke. Es ist aus unse-
rer Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar, am Trau-
schein als Voraussetzung für die Kostenübernahme bei
künstlichen Befruchtungen festzuhalten.
Viele Menschen wünschen sich ein Leben mit Kin-
dern. Elternschaft gehört für viele zu einem glücklichen
Leben. Selbstverständlich gibt es kein Recht auf Eltern-
schaft, es gibt kein Recht auf ein Kind oder auf Kinder,
aber aus unserer Sicht gibt es ein Recht, dass niemand
bei der Chance auf Elternschaft benachteiligt wird. Das
ist aber leider derzeit der Fall. Künstliche Befruchtungen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7235
Katja Dörner
(C)
(B)
sind teuer. Häufig klappt es nicht beim ersten Versuch.
Da macht es natürlich einen erheblichen Unterschied, ob
die Krankenkasse einen Teil der Kosten übernimmt oder
nicht. Wir wollen, dass unverheiratete Paare und Le-
benspartnerschaften nicht länger benachteiligt werden,
sondern endlich die gleiche Chance auf Elternschaft ha-
ben wie Verheiratete.
Das Thema „Kostenübernahme bei künstlichen
Befruchtungen“ ist im Sommer wieder in den Fokus ge-
rückt, und zwar durch das Urteil des Landessozialge-
richts Berlin-Brandenburg. Das Gericht hat festgestellt,
dass eine gesetzliche Krankenkasse die Kosten bei nicht-
verheirateten Paaren nicht einmal auf freiwilliger Basis
übernehmen darf. Hintergrund ist, dass die Leistungen
einer gesetzlichen Krankenkasse nur im Rahmen von
§ 27 a SGB V erweitert werden dürfen. Es besteht also
ganz klar gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Das ist
der Hintergrund, warum wir diesen Gesetzentwurf heute
eingebracht haben.
Wir sehen, dass Ministerin Schwesig, die leider heute
nicht da ist, unsere Einschätzung inhaltlich teilt. Im Zu-
sammenhang mit dem erwähnten Urteil sagte sie im Juni
gegenüber dem Tagesspiegel, sie sei der Meinung, dass
auch unverheiratete Paare Zuschüsse zur künstlichen
Befruchtung erhalten sollten. Im Spiegel ließ sich die
Familienministerin mit dem richtigen Satz zitieren, es
sei eben nicht mehr zeitgemäß, unverheiratete Paare an-
ders zu behandeln als verheiratete.
Es reicht aber nicht, schöne Reden zu schwingen,
schöne Worte zu finden und die Meinung zu vertreten,
„dass …“. Wir sagen: Es muss jetzt Butter bei die Fische
geben. Wenn man erkannt hat, dass etwas nicht mehr
zeitgemäß ist, dann muss man auch den Mumm haben,
es zu ändern. Das wollen wir als Grüne tun.
Ich erwarte aber auch von Ihnen, der Union, dass Sie
unser Anliegen positiv aufgreifen. Ich habe noch einmal
in Ihr Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahl ge-
schaut. Da heißt es explizit, dass die Diskriminierung
unverheirateter Paare und auch gleichgeschlechtlicher
Lebenspartnerschaften abgelehnt wird. Das steht aus-
drücklich drin. Ich erwarte eben auch hier, dass das nicht
nur schöne Worte bleiben, sondern dass Sie das auch
ernst meinen. Wenn Sie das nämlich ernst nehmen, dann
können Sie unserem kleinen schlanken Gesetzentwurf
eigentlich gar nichts Negatives entgegenbringen; denn
wir wollen gar nichts anderes, als eine Ungleichbehand-
lung, eine Diskriminierung von nichtverheirateten Paa-
ren und Lebenspartnerschaften zu beenden.
Warum ist es nicht mehr zeitgemäß, die Kostenüber-
nahme bei künstlichen Befruchtungen am Trauschein
festzumachen? Die Annahme, nur die Ehe würde auf-
grund ihrer Dauerhaftigkeit und Stabilität dem Kindes-
wohl entsprechen, ist unbelegt und angesichts sehr hoher
Scheidungsraten mehr als fragwürdig. Im vergangenen
Jahr wurden rund 170 000 Ehen geschieden. Fast die
Hälfte der geschiedenen Paare hatte Kinder unter 18 Jah-
ren. Gleichzeitig hat sich die Anzahl nichtverheirateter
Eltern zwischen 1996 und 2012 verdoppelt.
Ich will trotzdem noch ein paar weitere Zahlen nen-
nen, auch wenn Zahlen vielleicht nicht immer so span-
nend sind: 2012 kamen im Westen knapp 40 Prozent der
erstgeborenen Kinder nichtehelich zur Welt; im Osten
sind es sogar 74 Prozent gewesen. Das zeigt, das Famili-
enleben in Deutschland ist bunt. Das Familienleben mit
Trauschein ist weder besser noch schlechter als ohne
Trauschein. Regenbogenfamilien sind nicht besser und
nicht schlechter als die klassischen Familien. Wir wol-
len, dass sich diese Vielfalt, diese Lebensrealität, die in
Deutschland einfach vorhanden ist, endlich auch in
unseren Gesetzen wiederfindet. Die Frage der Kosten-
übernahme bei künstlichen Befruchtungen ist da ein
Baustein.
Ich freue mich auf die Beratungen und bin sehr ge-
spannt, wie wir mit diesem Anliegen gemeinsam umge-
hen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächster Redner in der
Debatte ist Hubert Hüppe für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für das
letzte Jahr meldete das Deutsche IVF-Register 84 051
erfasste Behandlungszyklen, davon 80 955, so heißt es,
plausible Behandlungszyklen. Das ist neuer Rekord.
15 Jahre früher, 1998, gab es gerade einmal 45 459 Be-
handlungszyklen. Das war zu einer Zeit, als die künstli-
che Befruchtung noch voll finanziert wurde, vier statt
drei Zyklen bezahlt wurden und es noch keine Alters-
beschränkungen gab. Einschränkungen sind erst 2003
beschlossen worden, übrigens unter einer rot-grünen
Bundesregierung. Hier muss man auch einmal erwäh-
nen, dass diese Einschränkungen nicht von uns stam-
men.
Berücksichtigt man, dass seit 1998 die Zahl der
Frauen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren drastisch zu-
rückgegangen ist und dass sich die Zahl der künstlichen
Befruchtungen fast verdoppelt hat, dann stellt man fest:
Heute werden pro Frau rund 2,6-mal so viel IVF-
Behandlungen durchgeführt. Wenn man die Zahlen des
IVF-Registers auswertet, kommt man 2013 bei über
80 000 Behandlungszyklen gerade einmal auf rund
10 000 Geburten. Das heißt, die Geburt eines Kindes
nach einem IVF-Zyklus ist nicht die Regel, sondern eher
die Ausnahme.
Das ist der Hintergrund, vor dem wir heute den Vor-
schlag der Grünen diskutieren, die die IVF als Kassen-
7236 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Hubert Hüppe
(B)
leistung ausweiten wollen. Es geht also nicht darum
– das muss man einmal sagen –, ob etwas verboten oder
erlaubt ist, sondern es geht darum, ob wir etwas für so
förderungswürdig halten, dass es unbedingt von den
Kassenmitgliedern bezahlt werden soll.
Ausgangspunkt des grünen Gesetzentwurfes ist, dass
durch die derzeitige Regelung manche Personen „bei der
Chance auf Elternschaft“, so heißt es in Ihrem Gesetz-
entwurf – Sie haben es auch gerade gesagt –, benachtei-
ligt werden, weil nur Verheiratete für eine homologe
künstliche Befruchtung Kassenleistungen bekommen.
Allerdings, auch das darf man sagen, hat bereits 2007
das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das mit
dem Grundgesetz sehr wohl vereinbar ist und es eben
kein Verstoß, wie es gerade dargestellt worden ist, gegen
den allgemeinen Gleichheitssatz ist. Ein solcher Verstoß
würde nur dann vorliegen, so sagt das Bundesverfas-
sungsgericht, wenn es um die Beseitigung einer Krank-
heit ginge.
Aber die künstliche Befruchtung ist eben keine
Krankheitsbehandlung. Das Bundesverfassungsgericht
hat auch Gründe genannt, warum diese Regelung ein-
sichtig ist: Das Bürgerliche Gesetzbuch sieht die Ehe als
auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft an. Die Eheleute
sind gesetzlich – das ist der wichtige Punkt: gesetzlich –
angehalten, füreinander Verantwortung zu tragen. In der
nichtehelichen Lebensgemeinschaft, so das Bundesver-
fassungsgericht, kann die Verantwortung nur freiwillig
wahrgenommen werden, und sie kann auch jederzeit be-
endet werden.
Ich frage mich wirklich, warum ein Paar, das einen so
extremen Kinderwunsch hat, nicht auch heiraten will
und damit auch die soziale Absicherung des zukünftigen
Kindes haben möchte? Das ist doch die Frage.
Oder will man die Ehe grundsätzlich infrage stellen?
Sie sagen, es muss eine auf Dauer angelegte Partner-
schaft sein. – Herr Beck wollte etwas fragen.
Herr Kollege Hüppe, ich bin gerade dabei, Ihre Uhr
anzuhalten und Sie zu fragen, ob Sie eine Bemerkung
oder Frage des Kollegen Beck zulassen?
Gerne.
Bitte, Kollege Beck.
Herr Hüppe, ich nehme Ihr Argument einmal ernst:
Verstehe ich es richtig, dass Sie dafür plädieren, die
lesbischen Lebenspartnerinnen in das Gesetz einzubezie-
hen, aber bei den nichtehelichen darauf zu warten, dass
diese sich unterhaltsrechtlich lebenslang verpflichten?
Ist das richtig so, oder haben Sie noch einen weiteren
Diskriminierungsgrund?
Es geht doch gar nicht um Diskriminierung. Es wird
ausdrücklich gesagt, dass das keine Diskriminierung ist.
Das ist ja nicht nur meine Meinung, sondern das hat
auch unser Bundesverfassungsgericht gesagt. Ich
komme gleich noch zu diesem Thema. Das ist wirklich
ein Randthema, Herr Beck, nicht für Sie, aber was die
Zahlen angeht.
– Ich weiß, dass das für Sie ideologisch ein ganz wichti-
ges Thema ist; das verstehe ich auch. – Ich halte einmal
fest: Die Anzahl derer, die das betreffen würde, ist so ge-
ring, dass das eigentlich nicht der wichtigste Punkt des
Antrages ist. Aber ich komme gleich noch einmal dazu.
– Entschuldigung, ich darf fortfahren.
Sie schreiben in Ihrem Antrag auch nicht, dass jedem
oder jeder eine künstliche Befruchtung zusteht, sondern,
man müsse, so heißt es, in einer auf Dauer angelegten
Partnerschaft leben. Jetzt frage ich Sie einmal: Wie wol-
len Sie das eigentlich belegen? Was heißt denn „auf
Dauer angelegt“? Wie viele Jahre sollen es denn sein: bis
das Kind in die Schule kommt oder länger? Was heißt
für Sie „auf Dauer angelegte Partnerschaften“?
Die nächste Frage, die sich mir stellt, ist: Wer prüft
das denn? Wer soll das denn prüfen? Prüft das die Kasse,
ob die Partnerschaft auf Dauer angelegt ist? Prüft das der
Arzt, oder prüft das das Standesamt? Muss man eine
Bescheinigung haben? Meine Damen und Herren, ich
glaube, Sie haben das nicht richtig durchdacht. Aber
vielleicht bekomme ich ja noch eine Antwort auf meine
Fragen.
Wohlgemerkt: Die Einschränkungen – das darf ich
hier noch einmal sagen – geschahen unter einer Koali-
tion, an der die Grünen beteiligt waren. Ich darf die ehe-
malige gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen,
Birgitt Bender, zitieren – da sieht man einmal, wie die
Grünen in ihrer Meinung hin und her schwanken –, die
2008 zu Protokoll gab: „Wir stehen … zu den Grund-
zügen des damals gefundenen Kompromisses“. Gleich-
zeitig haben die Grünen sich bei der Abstimmung über
einen Antrag der Linken, der vorsah, das auch nichtver-
heirateten Paaren zu genehmigen, enthalten. Sie wollten
es also einmal, jetzt wollen Sie es nicht. Jetzt will ich Ih-
nen auch einmal die Begründung der Grünen nennen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7237
Hubert Hüppe
(C)
(B)
– Hören Sie doch einmal zu! Es ist doch auch für Sie ein
Informationsgewinn. – Im Ausschussbericht steht dann,
dass die Grünen es deswegen ablehnen, weil es sich um
eine Ausweitung versicherungsfremder Leistungen
handeln würde und sie es angesichts der mit der IVF ver-
bundenen Belastungen für die Frau und einer „Erfolgs-
quote von lediglich 15 von 100 behandelten Frauen, die
in der Folge tatsächlich ein Kind hätten“, als sehr be-
denklich ansehen würden. Was ist denn jetzt noch wahr?
Heute wollen die Grünen auch verpartnerten Perso-
nen die künstliche Befruchtung finanzieren; das ist rich-
tig. Aber auch da soll es so sein, dass man verpartnert ist
und dass es eine medizinische Notwendigkeit gibt. Das
heißt: Da Sie die Eizellenspende im Gegensatz zur Sa-
menspende ablehnen, kämen ja dann nur lesbische Paare
infrage, die medizinische Gründe hätten. Da stellt sich in
der Tat die Frage, Herr Beck, wie viele lesbische Paare
im Alter von 25 bis 40 Jahren es gibt, die ein Kind haben
wollen und von denen beide infertil sind.
Das ist, glaube ich, eine nicht einmal dreistellige Anzahl.
Meine Damen und Herren, der viel problematischere
Punkt ist aber, dass man auch die generelle Finanzierung
der künstlichen Befruchtung mit Fremdsamenspende
möchte. Das hätte natürlich wesentlich größere finan-
zielle Auswirkungen: IVF mit Samenspende als Kassen-
leistung für alle!
Was mich dabei am meisten überrascht, ist, dass die-
selben Grünen, die traditionell skeptisch gegenüber der
Technisierung der Fortpflanzung sind, die traditionell
die medizinischen Risiken hervorheben und die dafür
sind, die Folgen der IVF für Frauen und Kinder zu erfor-
schen, alle Bedenken zurückstellen, wenn es um IVF für
nichtkonventionelle Partnerschaften geht.
Im April haben wir im Gesundheitsausschuss – einige
von Ihnen waren ja dabei; Herr Terpe, Frau Scharfenberg
und andere –, übrigens auch von Ihrer Seite sehr kritisch,
den Technikfolgenabschätzungsbericht beraten, der den
Titel trägt: „Fortpflanzungsmedizin – Rahmenbedingun-
gen, wissenschaftlich-technische Entwicklungen und
Folgen“.
Dieser Bericht basierte auf einem Vorschlag der Grü-
nen, weil – so sagte damals auch Biggi Bender – man
eher eine kritische Sicht auf IVF und ICSI habe. Diese
Zeiten sind vorbei.
Biggi Bender gab damals zu Protokoll – ich zitiere –:
Ein grünes Anliegen dabei ist, dass die gesundheit-
lichen und psychischen Folgen für Frauen und Kin-
der, zum Beispiel Recht des Kindes
– jetzt wird es wichtig –
auf Wissen der Abstammung, Mehrlingsschwan-
gerschaften, ebenso wie die sozialwissenschaftliche
Forschung über die Auswirkungen der künstlichen
Befruchtung Berücksichtigung finden.
Sie sagt dann:
Ich rate der Linken, ständige, sich auch noch
widersprechende Vorstöße zur Finanzierung der
künstlichen Befruchtung zu unterlassen und eine
ernsthafte Diskussion zu beginnen, wenn der TAB-
Bericht vorliegt.
Nun liegt dieser Bericht vor. Er besagt unter anderem
– ich zitiere –:
Die Adoptionsforschung und die Forschung mit
identifizierbaren Gametenspendern
– also Fremdsamenspendern –
verweisen auf die Bedeutung des Wissens um die
biologischen Wurzeln. Nach jetzigem Forschungs-
stand ist eine anonyme Gametenspende aus psycho-
logischer Sicht daher eher abzulehnen bzw. es sollte
die Forschung in diesem Bereich zumindest intensi-
viert werden. Kinder, die im Rahmen einer Game-
tenspende oder Leihmutterschaft im Ausland ge-
zeugt wurden, haben in der Regel nicht die
Möglichkeit, ihre biologischen Wurzeln kennenzu-
lernen.
Hier wäre zu erforschen, was dies langfristig für die
Kinder und deren Familien bedeutet.
Soweit der auf einem Vorschlag der Grünen basierende
TAB-Bericht.
Was machen hingegen die Grünen? Führen sie eine
ernsthafte Diskussion? Nein, sie unternehmen einen Vor-
stoß zur GKV-Finanzierung der künstlichen Befruchtung
auch bei Verwendung von Spendersamen.
Die Hauptwirkung des heute vorliegenden Gesetzent-
wurfs wird die neue GKV-Leistung „IVF bzw. ICSI mit
Spendersamen“ für heterosexuelle Paare sein, eben nicht
für homosexuelle Paare, also sozusagen ein Konjunktur-
programm für kommerzielle Samenbanken, die mit dem
Hinweis auf schnell verdientes Geldes um Spender wer-
ben.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
selbst diese großen Bedenken haben – inzwischen gibt es
sogar Selbsthilfegruppen von Kindern, die mithilfe von
Fremdsamenspende gezeugt worden sind –, dann sollten
wir doch wirklich erst einmal darüber reden, welche fa-
milienrechtlichen Dinge wir klären müssen, bevor wir in
7238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Hubert Hüppe
(C)
(B)
die Finanzierung gehen. Das haben Sie nicht getan, das
haben Sie versäumt.
Letzter Punkt: Aus meiner Sicht, aus unserer Sicht
darf ein Kind nicht zu einem bestellten und hergestellten
Produkt gemacht werden, sondern wir müssen dabei
auch daran denken, was hinterher mit diesen Kindern ge-
schieht und wie ihre soziale Absicherung ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe mich
gerade bei der Rede des Kollegen Hüppe ehrlich gefragt:
Worüber reden wir hier überhaupt? Einen ganz großen
Aufschlag zur Reproduktionsmedizin sehe ich gar nicht
auf dem Tisch.
Was ich sehe, ist ein sehr schlanker Gesetzentwurf der
Grünen; über ihn möchte ich gern sprechen.
Unerfüllter Kinderwunsch kann für Paare eine ziemli-
che Belastung sein, und für viele bedeutet tatsächlich
dann irgendwann die künstliche Befruchtung zumindest
einen Hauch von Hoffnung. Deswegen hat der Gesetzge-
ber im Sozialgesetzbuch V festgelegt, unter welchen
Bedingungen die gesetzlichen Krankenkassen die künst-
liche Befruchtung finanzieren müssen. Eine dieser Be-
dingungen sind zum Beispiel bestimmte Altersgrenzen,
eine andere, die Erfolgsaussicht des Versuchs; eine wei-
tere Bedingung ist, dass beide Elternteile leben. Die ein-
zige Bedingung, über die wir hier heute kritisch diskutie-
ren – ich glaube, wir diskutieren zu Recht kritisch
darüber –, ist die Bedingung des Trauscheins. Und die
ist, wie ich finde, tatsächlich etwas aus der Zeit gefallen.
Am 13. Juni dieses Jahres hat das Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg entschieden, dass die Kranken-
kassen auch nicht freiwillig für Paare zahlen dürfen, die
nicht verheiratet sind. Der grüne Gesetzentwurf will
diese Diskriminierung beenden. Ich bedanke mich aus-
drücklich bei den Kolleginnen und Kollegen, dass sie
ihn hier vorgelegt haben.
Wir wissen doch inzwischen alle: Kindern geht es in
ihren Familien gut oder schlecht; aber das ist völlig un-
abhängig davon, was das für Familien sind, ob die Eltern
verheiratet sind oder nicht oder ob es Regenbogenfami-
lien sind. Die Union vertritt hier offensichtlich noch ein
etwas steinzeitliches Familienbild; das konnten wir ja
auch der Rede des Kollegen entnehmen.
Anderswo aber – darauf möchte ich Sie noch einmal
hinweisen, Herr Kollege Hüppe – fällt Ihnen die Gleich-
stellung unverheirateter Paare plötzlich ganz leicht.
Gehen wir doch einmal in ein anderes Buch des Sozial-
gesetzbuchs, ins Sozialgesetzbuch II!
Da gibt es das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaften. Da
werden Menschen füreinander in Haftung genommen
und müssen füreinander einstehen, wenn sie auf Dauer
zusammenleben. Da ist es völlig egal, ob sie einen Trau-
schein haben oder nicht, ob sie homo- oder heterosexuell
sind.
Wir als Linke sagen aber: Gleiche Pflichten muss
auch heißen gleiche Rechte. Das ist doch ganz einfach.
Deswegen unterstützen wir den Vorstoß der Grünen an
dieser Stelle, auch für unverheiratete und verpartnerte
Paare die Regelleistung vorzusehen.
Wir würden sogar einen Schritt weiter gehen; denn
wir finden, dass auch die Zuzahlung von 50 Prozent eine
Form der Diskriminierung ist. Da muss ich Sie tatsäch-
lich daran erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen: Das haben Sie 2003 zusammen mit der SPD
mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz eingeführt.
Seither müssen die Kassen nur 50 Prozent zahlen.
Diverse Kassen zahlen ja freiwillig mehr; das ist eine
sogenannte Satzungsleistung. Ehrlich gesagt, ich finde
es irre, dass Leute, die ohnehin schon gestresst sind, weil
sie vergeblich versuchen, Kinder zu bekommen, auch
noch gucken müssen, welche Kasse ihnen da mehr zahlt,
als gesetzlich vorgeschrieben ist.
Die Linke ist der Auffassung: Die gesetzliche Kran-
kenversicherung soll das Sachleistungsprinzip haben.
Sie soll alle notwendigen Behandlungskosten überneh-
men. Das entspricht auch dem Prinzip der Solidarität in
unserer gesetzlichen Krankenversicherung. Das wäre
auch ein Beitrag zur Vermeidung sozialer Diskriminie-
rung. Wenn eine Familie etwa 1 000 Euro Eigenanteil
pro Behandlungszyklus übernehmen muss, dann über-
fordert das Menschen mit geringem Einkommen.
Deswegen appelliere ich an Sie, die familienbezogene
Diskriminierung und die soziale Diskriminierung abzu-
schaffen.
Jetzt werden die Kollegen von der Regierungsbank
natürlich wieder sagen: Ach, die Linke schüttet hier wie-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7239
Kathrin Vogler
(C)
(B)
der das Füllhorn aus; das sind Wünsche, die man gar
nicht finanzieren kann.
Das ist aber nicht der Fall. Sehr wohl haben wir schon in
unserem Wahlprogramm mit dem Konzept einer solida-
rischen Gesundheitsversicherung vorgerechnet, wie man
bei Senkung der Beiträge für die allermeisten Menschen
die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
wieder erhöhen und alle Zuzahlungen abschaffen kann.
Wenn wir sagen: „alle Zuzahlungen“, dann meinen wir
auch alle Zuzahlungen.
Außerdem bräuchte man gar nicht so weit zu gucken.
Wenn man denn sagt: „Das ist eine versicherungsfremde
Leistung; das gehört eigentlich in den Bereich Familien-
politik und müsste aus Steuermitteln bezahlt werden“, ist
das auch gut. Der Finanzminister bedient sich für seine
schwarze Null in diesem Jahr und im nächsten Jahr mit
8,5 Milliarden Euro aus dem Gesundheitsfonds. Dieses
Geld könnte man doch zum Beispiel nehmen, um diese
Diskriminierung abzubauen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Gesundheits-
ausschuss und sage noch einmal: Die Linke steht für
Diskriminierung abbauen, Solidarität stärken, Menschen
helfen, die sich für Kinder entscheiden.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne und
vor den Fernsehern! Gesetzliche Krankenkassen dürfen
den Kreis der Berechtigten für die Kostenübernahme bei
einer künstlichen Befruchtung nicht eigenmächtig erwei-
tern; das ist Aufgabe des Gesetzgebers, also unsere. Be-
rechtigte auf teilweise Übernahme der Kosten einer
künstlichen Befruchtung sind derzeit ausschließlich
Ehepaare in einer bestimmten Altersspanne – und das
auch nur bei einer homologen Insemination, also einer
Befruchtung mit Samen- und Eizelle dieser Ehepartner.
Seit Jahren diskutieren wir über die Erweiterung des
§ 27 a SGB V „Künstliche Befruchtung“ und der dort
festgelegten Bestimmungen. Ich mache es mir einfach
und verweise Sie alle auf meine Website und hier auf die
Stichworte „künstliche Befruchtung“, „Fortbildungs-
medizin“ und Ähnliches.
– Ja, wir kommen noch darauf. – Insbesondere lade ich
Herrn Hüppe ein, sich einmal auf meiner Website umzu-
sehen;
denn dann wird er feststellen, dass wir dieses Thema
schon in der letzten Großen Koalition intensiv behandelt
haben. Man kann also nicht sagen: „Das ist ein rot-
grünes Projekt; Schwarz hat damit nichts zu tun“, oder
so ähnlich. Wir alle waren in den unterschiedlichsten
politischen Konstellationen auf Länderebene und auf
Bundesebene beteiligt, in welcher Form auch immer.
Liebe Katja Dörner, gerade angesichts der Historie
bin ich ob des vorgelegten Gesetzentwurfes enttäuscht.
Er greift inhaltlich wesentlich zu kurz.
Ich teile Ihr Ansinnen auf eine solidarische Finanzie-
rung vonseiten der gesetzlichen Krankenkasse und/oder
aus dem Bundeshaushalt. Ich finde es aber unlauter, dass
Sie sich vor einer Bezifferung der Größenordnung in
Euro drücken.
Wer eine solidarische Finanzierung will, muss hier
Transparenz vorlegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns der
gesellschaftlichen Herausforderung, die ich pointiert be-
schreiben möchte mit „Kinderwunsch trifft Politik“. Da-
bei gilt: Ein Kinderwunsch ist weder an Geschlecht noch
an Trauschein noch an sexuelle Identität noch an Ein-
kommen, Bildungsabschluss oder sonst was gebunden.
Alle diese Kriterien spielen aber eine Rolle, wenn es um
die Chancen der tatsächlichen Realisierung geht. Dafür,
dass es gerecht zugeht, sind wiederum wir hier verant-
wortlich.
Der Deutsche Ethikrat hat sich auf seiner diesjährigen
Jahrestagung intensiv mit der Fortpflanzungsmedizin in
Deutschland auseinandergesetzt. Er hat individuelle Le-
bensentwürfe und auch Familienbilder debattiert. Ein
Blick auf die entsprechende Website lohnt ebenfalls.
Zu den verschiedenen Formen assistierter Reproduk-
tionstechniken wurden medizinische, rechtliche, soziale
und ethische Fragen diskutiert. Es ging auch um die
grundlegende Frage: „Welchen Stellenwert hat der Kin-
derwunsch in unserer Gesellschaft?“, bzw.: „Welchen
Stellenwert sollte er haben?“ Es ist gut, dass der Deut-
sche Ethikrat diese Fragen immer wieder automatisch
7240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Mechthild Rawert
(C)
(B)
mit dem Aspekt der solidarischen Finanzierung in Ver-
bindung setzt.
„Kinderwunsch trifft Politik“ heißt, sich in einem
breiten gesellschaftlichen Spannungsfeld zu bewegen.
Fakt ist, dass sich die rechtlichen Grundlagen in
Deutschland in den letzten 20 Jahren kaum geändert ha-
ben. Dagegen haben aber spürbar die gesellschaftlichen
Erwartungen einen Wandel vollzogen, und zwar hin-
sichtlich der Frage, ob und wie Fortpflanzungstechnolo-
gien angewendet werden dürfen. Diesen gesellschaftli-
chen Wandel machte zuletzt auch die Debatte zum
Social Freezing deutlich.
Nicht thematisiert wurden in dieser Debatte allerdings
wichtige Aspekte, so ging es nämlich nicht um die jun-
gen Männer und Frauen, die in jungen Jahren an Krebs
erkranken und denen mitgeteilt wird, dass sie nach einer
Chemotherapie keine Kinder mehr bekommen können.
Sie können heute schon ihre Eizellen oder ihren Samen
einfrieren lassen, müssen dies aber privat bezahlen. In
einem mir bekannten Fall musste frau 2 500 Euro dafür
aufbringen. Und das kann nicht jede, schon gar nicht in
einer solchen Situation von heute auf morgen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wis-
sen um die Notwendigkeit der Klärung einer Vielzahl
von abstammungsrechtlichen Folgefragen der verschie-
denen Methoden assistierter Fortpflanzung. Zu klären
sind sowohl die Beziehungen der bei den Reproduk-
tionstechnologien beteiligten Erwachsenen ebenso wie
die im Sinne des Kindeswohls zu klärenden Rechte des
Kindes. Ich begrüße es daher sehr, dass unter der Ägide
von Heiko Maas ab Februar 2015 der Arbeitskreis Ab-
stammung tagen wird.
Die Bundesregierung hat am 2. Dezember – ich
dachte, darauf würde hingewiesen – die Kleine Anfrage
der Fraktion Die Linke zum breiten Feld „Sexuelle und
reproduktive Rechte und Gesundheit“ beantwortet. Ich
finde, insbesondere die Antworten auf die Fragen 49 bis
51 können noch nicht das Ende der politischen Fahnen-
stange dieser Legislaturperiode sein.
So wird erstens festgestellt, eine Erweiterung der Zu-
schüsse zur künstlichen Befruchtung auf unverheiratete
Paare sei im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Aller-
dings prüfe das Bundesfamilienministerium derzeit eine
Öffnung der 2012 geschaffenen Förderrichtlinie für die
ergänzende finanzielle Unterstützung auch für nichtver-
heiratete Paare. Hier bitte ich natürlich um baldige Auf-
klärung, wie es mit dieser Förderrichtlinie weitergeht.
Zweitens wird festgestellt, eine Erweiterung des
§ 27 a SGB V auf eingetragene Lebenspartnerschaften
sei „derzeit nicht beabsichtigt“. Werte Kollegen und
Kolleginnen, ich bin dankbar für das Wörtchen „der-
zeit“, meint es doch sicherlich wohl Stand 2014.
In dem auch von der Union unterzeichneten Koalitions-
vertrag steht ausdrücklich – ich zitiere –:
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden
wir beseitigen.
Unterschriften: Die Koalitionspartner.
Selbst wenn wir als Gesetzgeber dabei bleiben würden,
nur verheiratete Paare zu unterstützen, müssen wir zu-
mindest verpartnerte lesbische Paare wegen der Gleich-
behandlung ebenso unterstützen.
Das gebieten mehrere Urteile des Bundesverfassungsge-
richts. Wo gleiche Pflichten, da auch gleiche Rechte.
Ich finde es außerdem unsäglich, dass ein lesbisches
Paar, welches durch ärztliche Unterstützung ein Kind
bekommt, vor und nach der Geburt keine Sorgeerklä-
rung abgeben kann. Sollte der gebärenden Frau – was
niemand wünscht – bei oder nach der Geburt etwas
Schreckliches zustoßen, stünde das Kind alleine da und
das, obwohl es doch – ich zitiere Jens Spahn – in eine
„gefestigte Beziehung“ von zwei Frauen hineingeboren
wird. Das widerspricht dem Kindeswohl.
Ich komme zum Schluss: Es besteht enormer politi-
scher Handlungsbedarf, um den Einsatz der Fortpflan-
zungsmedizin in Deutschland für die Zukunft verantwor-
tungsvoll zu gestalten. Ich habe nicht alle Beispiele
angeführt, weil ich dachte, dass drei Mitglieder meiner
Fraktion zu diesem Thema sprechen würden. Ich emp-
fehle deshalb die Durchsicht der Fragen 49 bis 54. Dort
steht zum Beispiel, dass wir klären wollen – übrigens in
dieser Legislaturperiode! –, das Recht des Kindes auf
Kenntnis seiner Herkunft gesetzlich zu regeln, das durch
eine Samenspende gezeugt wird. Diese Aufgabe ist auch
noch einmal schriftlich fixiert worden bei der Beantwor-
tung dieser Fragen.
Mir ist bewusst, dass die Betonung einer selbstbe-
stimmten Fortpflanzung traditionelle Werte und Vorstel-
lungen über die Gestaltung und Bedeutung von Familie
herausfordert. Aber Familie findet in Deutschland längst
in bunter Vielfalt statt; und das ist auch gut so.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns al-
len nach diesem arbeitsreichen Jahr ein frohes Weih-
nachtsfest, einen guten Rutsch und erholsame Urlaubs-
tage. Bleiben Sie gesund! Ich freue mich schon auf die
Fortsetzung dieser sicherlich spannenden Debatte.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Katja Leikert für die
CDU/CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7241
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen
Gesetzentwurf der Grünen, der weder Hand noch Fuß
hat und finanzielle Forderungen an die gesetzliche Kran-
kenversicherung stellt, die die Grünen einfach nicht
ernst meinen können. Sicherlich haben sie auch im posi-
tiven Sinne wichtige gesellschaftliche Debatten in den
letzten Jahren angeregt. Mit diesem Gesetzentwurf je-
doch schießen sie aus meiner Sicht eindeutig über jedes
Ziel hinaus. Beim Lesen des Gesetzentwurfes habe ich
mich gefragt, wann sie die Eizellspende und Leihmutter-
schaft auf Kassenschein einfordern.
Man muss schon unterscheiden können, was die Mensch-
heit wirklich nach vorne bringt und wann ein größerer
Schaden als Nutzen entsteht.
Dabei sprechen wir heute über ein Thema, das einen
sehr ernsthaften Hintergrund hat. Der Wunsch nach Kin-
dern ist einer der tiefsten Sehnsüchte der meisten Men-
schen. Erfüllt sich der Kinderwunsch nicht, sind oft
Trauer und Schmerz bestimmend für die Paare. Kinder-
losigkeit wird so auch oft zu einer harten Belastungs-
probe für eine Partnerschaft. Diejenigen Paare, die sich
für eine künstliche Befruchtung entscheiden, haben oft
einen sehr langen Weg mit viel persönlichem Leid hinter
sich gebracht.
Der Schritt der künstlichen Befruchtung bleibt als letzte
Möglichkeit, ein eigenes Kind – im biologischen Sinn –
zu bekommen.
Die Behandlung selbst ist für die Frauen sehr for-
dernd und von hoher Unsicherheit geprägt. Nur knapp
ein Fünftel der Behandlungen führt zu einer Lebendge-
burt. Insofern hat die moderne Reproduktionsmedizin
zwar Fortschritte gebracht; aber das Thema ist mit der
nötigen Seriosität und Sensibilität zu behandeln, wenn
wir uns mit der Frage beschäftigen wollen, die gesetzli-
chen Ansprüche auszuweiten. Eine Ausweitung der
GKV-Leistungen, die zur Vermehrung zerstörter Hoff-
nungen führt, lehne ich persönlich ab.
Worum es geht, wurde von den Vorrednern ja schon
ausgiebig erläutert: Der Gesetzentwurf sieht eine Aus-
weitung des Personenkreises vor, der die Maßnahmen
der künstlichen Befruchtung von der Versichertenge-
meinschaft der GKV erstattet bekommen soll.
Es wurde ja bereits erwähnt, dass die entsprechenden
GKV-Leistungen unter Rot-Grün eingeschränkt wurden.
Seitdem übernimmt die GKV nur noch 50 Prozent der
Kosten der ersten drei Versuche der künstlichen Be-
fruchtung.
Jetzt kommen Sie so kurz vor Weihnachten mit einem
großen Wunschzettel an und wollen den Rechtsanspruch
ausweiten. So ganz nebenbei wollen Sie sich mit Ihrem
Gesetzentwurf zu der gesellschaftspolitisch fortschrittli-
chen Stimme in diesem Land aufschwingen.
– Schreien Sie doch hier nicht so rein!
Ich persönlich bin meilenweit davon entfernt, darüber
zu urteilen, in welcher Lebensform Kinder am besten ge-
deihen oder am glücklichsten aufwachsen.
– Das tue ich nicht. – Jeder von uns weiß, wie vielfältig
das Leben ist; jeder von uns kennt gute Ehen und weni-
ger gute Ehen, glückliche und unglückliche unverheira-
tete Paare oder auch verpartnerte Lebensgemeinschaf-
ten, die Höhen und Tiefen erleben. Und in all diesen
Paarkonstellationen wachsen in diesem Land Kinder auf.
In unserer offenen, pluralistischen, demokratischen Ge-
sellschaft ist zum Glück vieles möglich und ein hohes
Maß an Toleranz gegenüber den vielfältigen Lebensent-
würfen vorhanden.
Dennoch gilt es, politische Entscheidungen zu treffen,
vor allem darüber, was in dieser Gesellschaft wie finan-
ziert wird. Und diese Frage stellt sich auch bei der Kin-
derwunschbehandlung. Die IVF ist keine Behandlung
– das hat Herr Hüppe schon deutlich gemacht –, die hei-
len kann. Die Behandlung wirft viele moralisch-ethische
Fragen auf – das können auch Sie nicht verneinen; wenn
Sie darüber nachdenken, wird es Ihnen bewusst –
– so trivial ist das alles nicht –,
etwa im Hinblick auf die Selektion von befruchteten Ei-
zellen oder den Umgang mit tiefgefrorenen Eizellen.
Und es sind nicht wenige Frauen, die diese Behandlung
– das sollten Sie auch ernst nehmen – als eine erniedri-
gende Erfahrung beschreiben. Reden Sie mal mit den
Frauen!
7242 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Katja Leikert
(C)
(B)
Hier sind Leitplanken gefragt, die Anhaltspunkte geben,
wie mit den Mitteln der modernen Reproduktionsmedi-
zin umgegangen werden soll.
– Ganz ruhig! Hören Sie doch noch eine Minute zu!
Ich bin schon der Meinung, dass der Gesetzgeber eine
Lebensform besonders herausstellen darf,
und zwar die, die höchste Stabilität aufweist. Sie mögen
das jetzt vielleicht nicht hören wollen, aber die Statistik
besagt auch, liebe Frau Dörner: 65 Prozent aller Ehen
halten länger als 25 Jahre, und selbst, wenn Ehen ge-
schieden werden, haben sie im Durchschnitt länger als
14 Jahre gehalten.
– Nichts „Na und?“! – Ehen sind also auch im 21. Jahr-
hundert durch eine hohe Belastbarkeit geprägt, durch
Verantwortungsübernahme, und das auch im finanziellen
Sinne. Wenn die GKV die Ehe als Kriterium definiert,
um den Finanzierungsrahmen festzulegen, dann gibt es
dafür also plausible Gründe.
Mit der Frage der künstlichen Befruchtung befassen
sich aber nicht nur die Gesundheitspolitiker, sondern
auch die Familienpolitiker. Die ehemalige Familienmi-
nisterin Kristina Schröder hat sich engagiert des Themas
angenommen und erreicht, dass in der letzten Legislatur
zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt für Maßnah-
men der assistierten Reproduktion bereitgestellt wurden
– übrigens unter der Voraussetzung, dass sich die jewei-
ligen Bundesländer an den Kosten beteiligen. Ich habe
jetzt gehört, dass Familienministerin Manuela Schwesig
die Förderung auf nichtverheiratete Paare ausweiten
möchte. Sie hat auch in den letzten Jahren immer wieder
betont, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist,
Paare in ihrem Kinderwunsch zu unterstützen. Insofern
bestehen sicherlich Chancen, dass das Familienministe-
rium in Zukunft noch einmal zusätzliche Mittel bereit-
stellen wird.
Der eigentliche Hammer in Ihrem Gesetzentwurf ist
aber Ihre Forderung nach der Finanzierung im Fall von
Befruchtung durch Samenspenden von Dritten, der soge-
nannten heterologen Befruchtung, also nicht durch den
Ehemann. Die CDU/CSU – das können wir ganz klar sa-
gen – lehnt diese Forderung ab.
Ich bin mir gar nicht so sicher – Sie brauchen nicht
polemisch zu werden –, ob Sie die Tragweite dessen,
was Sie da fordern, verstehen.
Es geht hier nicht um eine medizinische Fachfrage, son-
dern um eine Grundfrage des Menschen: Wer ist der bio-
logische Vater? Das sind tiefgehende emotionale Fragen;
das können Sie nicht verneinen.
Sie wissen genau, dass im Bereich der Samenspenden
von Dritten viele Fragen noch ungeklärt sind, was bei-
spielsweise das Erbschaftsrecht betrifft oder auch die
Feststellung der Vaterschaft, woraus sich beispielsweise
Unterhaltszahlungen im Nachhinein ergeben könnten.
Mit Ihrem Gesetzentwurf setzten Sie einfach einen
Schritt vor den anderen. Der gesellschaftlichen Debatte
und der juristischen Fragestellung stellen Sie sich nicht.
Jetzt komme ich auf ein Thema zu sprechen, das vor-
hin am meisten für Aufregung gesorgt hat. Sie fordern
darüber hinaus, dass in eingetragenen Partnerschaften le-
bende lesbische Frauen eine heterologe Insemination auf
Krankenschein erstattet bekommen sollen. Ich möchte
Sie gerne fragen: Bei wie vielen Paaren in der Bundesre-
publik kommt es vor, dass beide Frauen unfruchtbar sind
und eine medizinische Indikation vorliegt?
– Wieso eine?
An Ihren Einwürfen sieht man schon, wie problematisch
Ihr Gesetzentwurf ist.
Wir haben den Verdacht, dass Sie aus der Opposi-
tionsrolle heraus Klientelpolitik betreiben und Forderun-
gen stellen, die man in der Opposition leicht stellen
kann. Im Falle eines Regierungseintritts könnte man sie
aber nicht aufrechterhalten.
Das wissen die Kolleginnen und Kollegen der Grünen
auch. Ich möchte Sie fragen: Sind Sie sich sicher, dass
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7243
Dr. Katja Leikert
(C)
(B)
Sie den lesbischen Paaren einen Gefallen tun, wenn Sie
die medizinische Schiene wählen?
Ich komme zum Schluss. Ich bleibe dabei: Nicht al-
les, was medizinisch machbar ist, muss unhinterfragt
von der Versichertengemeinschaft der GKV mitgetragen
werden. Wir müssen uns schon den ethisch-moralischen
Fragen stellen, die mit dem Thema künstliche Befruch-
tung verbunden sind. Nach dem Motto „Ihr Kinderlein
kommet“ – so funktioniert das nicht. Das Thema ist viel
zu sensibel, um damit auf diese Art und Weise Opposi-
tionspolitik zu betreiben.
Vielen Dank.
Der Kollege Harald Petzold hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte auf den eigentlichen Punkt, um den
es geht, zurückkommen. Das Wunschkind meiner beiden
besten lesbischen verpartnerten Freundinnen ist inzwi-
schen ein selbstbewusstes Schulkind. Immer, wenn wir
zusammensitzen und uns an die Zeit erinnern, als wir
überlegen mussten, wie der gemeinsame Kinderwunsch
umgesetzt werden kann, fällt uns auf, welches Neuland
wir damals betreten hatten. Viele Sachen haben wir uns
viel leichter vorgestellt.
Letzten Endes hatte meine beste Freundin einen fünf-
stelligen Geldbetrag zu zahlen, um den gemeinsamen
Kinderwunsch tatsächlich umsetzen zu können. Die
Krankenkasse hat diese Kosten noch nicht einmal antei-
lig übernommen – das ist der Punkt, um den es geht –:
weder für die Behandlung im Zusammenhang mit der
künstlichen Befruchtung noch für die Versuche, die nö-
tig waren, um eine Eizelle zu befruchten. Wir reden hier
nicht über Aufwendungen für Grippostad oder ein ande-
res Erkältungsmedikament, sondern über fünfstellige
Geldsummen.
Ich bin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – da
schließe ich mich dem Dank meiner Kollegin Vogler
an – für die Gesetzesinitiative ausdrücklich dankbar.
Wir müssten diese Debatte hier und heute nicht führen,
wenn sich der Gesetzgeber endlich entschließen würde,
die Ehe für Lesben, Schwule, Transsexuelle oder Inter-
sexuelle zu öffnen oder wenigstens die eingetragenen
Lebenspartnerschaften mit der Ehe gleichzustellen. Ich
habe dazu vor knapp einem Jahr meine erste Rede hier
im Deutschen Bundestag gehalten. Die Beratung des Ge-
setzentwurfs der Linken steht immer noch aus.
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Sie wer-
den es nicht verbergen können, dass Sie sich eigentlich
nach wie vor der Einsicht, was Gleichstellung und
Gleichbehandlung angeht, entziehen und Widerstand
leisten wollen. Sonst kann es für Sie doch gar nicht ge-
nug Kinder in der Gesellschaft geben.
Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU sind dieje-
nigen in meinem Wahlkreis, die am lautesten jammern
über den demografischen Wandel, dem unsere Gesell-
schaft ausgesetzt ist. Deswegen sage ich: Das ist eine
verfassungswidrige Benachteiligung,
die Sie durch Ihre Argumentationsartistik im Parlament
aufrechterhalten wollen. Dadurch sorgen Sie nach wie
vor für eine Ungleichbehandlung.
Die Linke will hier Abhilfe schaffen. Deswegen wer-
den wir den Gesetzentwurf der Grünen unterstützen,
auch wenn wir in einigen Punkten – Frau Vogler hat sie
genannt – durchaus Nachbesserungsbedarf sehen.
Ich sage auch – diesbezüglich stimme ich der Kolle-
gin Rawert zu –: Es kann nicht das Ende der politischen
Fahnenstange sein, bloß weil eine einzelgesetzliche Re-
gelung im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen ist. Wir
müssen hier endlich zu Potte kommen. Wir brauchen
endlich die Gleichstellung. Wir Oppositionsfraktionen
möchten Frau Schwesig gerne dabei unterstützen. Ich
kann Ihnen von der SPD nur raten: Geben Sie die Ab-
stimmung frei. Wir haben hier im Parlament nach wie
vor eine rechnerische Mehrheit für die Gleichstellung
von eingetragenen Lebenspartnerschaften. Wenn wir
diese Mehrheit nutzen würden, könnten wir vieles vom
Tisch räumen und viele Ungleichbehandlungen beenden.
Meine Fraktion wird, wie gesagt, dem Gesetzentwurf
der Grünen zustimmen. Meine Stimme haben Sie auf je-
den Fall.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dirk Heidenblut hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
7244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dirk Heidenblut
(C)
(B)
Hüppe, zunächst einmal zu Ihnen: Ich möchte vermei-
den, dass Sie den Anteil der CDU/CSU an Gesetzesvor-
haben zu klein reden. Sicher, Sie haben recht: Das Ge-
setz ist damals unter Rot-Grün verabschiedet worden.
Aber was Sie ein wenig verschwiegen haben, ist, dass
das Gesetzesvorhaben in enger Zusammenarbeit mit
dem Bundesrat und insbesondere in sehr enger Zusam-
menarbeit mit der CDU/CSU behandelt wurde.
Insofern ist Ihr Anteil daran nicht ganz unerheblich. Das
verringert den Anteil der Grünen nicht, wir wollen den
Anteil der CDU aber auch nicht zu klein reden.
Die bisherigen Debattenbeiträge haben mich verblüfft
– das gilt auch für den vorangegangenen Redebeitrag –:
Dies ist keine Debatte über grundsätzliche Fragen der
Gleichstellung. Herr Petzold, diese Debatte hätte auch
Ihrer Freundin nicht geholfen. Frauen in gleicher Situa-
tion würde nur geholfen werden, wenn sie aufgrund me-
dizinischer Notwendigkeiten Unterstützung benötigen
würden. Übrigens wird an dieser Stelle auch Ehepaaren
ohne medizinische Notwendigkeit nicht geholfen. Da
gibt es also durchaus eine Gleichstellung; das ist unstrit-
tig. Wir können uns jetzt darüber streiten, ob diese
Gleichstellung gut oder schlecht ist. Das wäre aber eine
gesellschaftspolitische Frage, weil es dabei darum geht,
wie wir dem Kinderwunsch nachkommen.
Wir reden heute auch nicht über die Frage, was gute
und was schlechte Eltern sind; wobei zu fragen ist, ob
eine solche Frage überhaupt sinnvoll ist. Für unsere
Fraktion ist völlig klar: Es gibt heutzutage sehr unter-
schiedliche Formen von Lebensgemeinschaften, und
überall gibt es gute und schlechte Eltern. In jedem Fall
müssen wir uns über Kinderrechte und das Kindeswohl
unterhalten. Aber auch das ist heute nicht die Frage.
Heute lautet die Frage: Was soll die Krankenkasse,
was soll die Gemeinschaft der Versicherten zahlen und
für wen soll die Behandlung bezahlt werden? Diesbe-
züglich hat der Gesetzgeber eine Einschränkung vorge-
nommen und gesagt: Wir wollen, dass zunächst einmal
nur im Fall einer Ehe gezahlt wird. – Diese Einschrän-
kung ist keine Diskriminierung, sondern sie ergibt sich
aus ganz vielen Gründen, die damals eine Rolle gespielt
haben.
Auch wenn ich dafür stehe und sehr deutlich sage:
„Wir finden es gut und richtig, dass es ganz viele unter-
schiedliche Formen von Lebensgemeinschaften gibt“,
muss ich als jemand, der seit 21 Jahren sehr glücklich in
einer Beziehung mit Trauschein lebt, einem Einwand
entgegentreten: Ich halte Trauscheine nicht für nicht
mehr zeitgemäß. Ich glaube, sie sind das durchaus noch.
Ich halte allerdings alle anderen Formen auch für zeitge-
mäß.
– Ich habe nur gesagt, dass ich mich dagegen wehre,
dass eine Form nicht mehr zeitgemäß ist. Alle anderen
sind selbstverständlich auch zeitgemäß.
Kollege Heidenblut, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Vogler?
Selbstverständlich.
Bitte.
Herr Kollege Heidenblut, weil Sie mich so schreck-
lich missverstanden haben, möchte ich bemerken, dass
ich überhaupt nicht gesagt habe, dass der Trauschein an
sich unzeitgemäß ist. Meinetwegen sollen alle, die das
gerne wollen, heiraten. Ich bin selbst seit 20 Jahren
glücklich verheiratet.
Aber angesichts der Vielfalt von Familienformen in die-
sem Land ist es einfach unzeitgemäß, diese Bescheini-
gung einer Behörde zur Grundlage von Familienpolitik
zu machen.
Deswegen habe ich mich bei den Grünen für den Gesetz-
entwurf bedankt. Ich möchte einfach nur, dass Sie das
zur Kenntnis nehmen.
Ich nehme das gerne zur Kenntnis und bedanke mich
für die Klarstellung. Wir sind ja zumindest, was die
Frage der Zeitgemäßheit eines Trauscheins angeht, of-
fensichtlich völlig auf einer Linie. Zu dem Rest komme
ich noch. Danke schön.
Kommen wir zurück zu den Problemen, mit denen
wir uns heute eigentlich beschäftigen. Sie werfen in Ih-
rem Gesetzentwurf – ich muss sagen: ganz so klein ist er
nicht – zwei ganz wesentliche Fragen auf. Die eine
Frage – auch Kollege Hüppe hat sie schon angespro-
chen – lautet: Was ist eine auf Dauer angelegte Lebens-
gemeinschaft? Ja, ich gebe zu, dass wir diese Frage bei
den Bedarfsgemeinschaften in einem anderen Sozialge-
setzbuch schon einmal angepackt haben; aber wir alle
wissen, dass das nicht einfach zu entscheiden ist und
dass es ein Problem ist, wie man das am Ende feststellen
kann. Über diese Frage muss man sicherlich nachden-
ken.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7245
Dirk Heidenblut
(C)
(B)
Die andere Frage betrifft das Problem, dass für die
Lebenspartnerschaft ein weiterer Teil geändert werden
muss; sonst bringt das gar nichts. Denn wenn wir die
verschiedenen Formen der Lebenspartnerschaften zwar
einschließen, aber bei der homologen Insemination – ich
musste den Begriff auch erst lernen – bleiben, dann wird
das nichts bringen. Das heißt, wir müssen auch eine an-
dere Form der Insemination einschließen, die im Übri-
gen im Moment für niemanden bezahlt wird; das möchte
ich deutlich sagen. Dabei stellen sich dann aber auch ein
paar rechtliche Fragen, die die Rechte der Kinder und
derjenigen betreffen, die in dem Fall als Dritte zwingend
beteiligt sind, also die leiblichen Väter. Das hat deutlich
gravierendere Auswirkungen, als es in dem Gesetzent-
wurf, den Sie uns hier vorlegen, deutlich wird.
Ich will ausdrücklich sagen: Wir sind dafür, dass an
dieser Stelle darüber geredet wird. Wir werden versu-
chen, offen und vernünftig darüber zu diskutieren und es
miteinander zu besprechen. Aber ob der Gesetzentwurf,
so wie Sie ihn vorlegen, am Ende wirklich zielführend
ist, muss sich in der Diskussion erst noch zeigen. Das
wird sich zeigen, wenn wir die Fragen angehen, die mit
dem Gesetzentwurf aufgeworfen werden.
Ich will zumindest noch auf einen Punkt zu sprechen
kommen, der durchaus eine Rolle spielt. Es geht um die
Frage – Sie haben das selbst mit der Verschärfung des
Begriffs „medizinisch“ deutlich gemacht –: Für was soll
eigentlich die Versichertengemeinschaft zahlen? Wir re-
den hier über die Übernahme der Kosten durch die Kran-
kenkassen, also die Versichertengemeinschaft, für be-
stimmte Leistungen. Auch das müssen wir uns an der
Stelle durchaus noch einmal anschauen.
Das hat natürlich auch mit der Frage, wie es funktio-
niert und welche Erfolgsaussichten es gibt, zu tun. Da
komme ich noch einmal auf das zurück, was Herr Hüppe
zum Schluss gesagt hat. Diese Diskussion ist tatsächlich
nicht neu. Sie wurde schon mehrfach geführt, und zwar
mit dem Hinweis darauf, dass eine Abwägung der Er-
folgsaussichten – auch das habe ich jetzt lernen müssen;
der Begriff dafür ist Baby-take-home-Rate – und der
gleichzeitig vorhandenen Risiken, die eine solche Be-
handlung mit sich bringt – das kann man nicht wegdis-
kutieren –, erfolgen muss, um zu entscheiden, ob es
wirklich sinnvoll ist, den Kreis auszuweiten.
Wir werden das betrachten. Wir freuen uns auf die
Diskussionen im Ausschuss und auf die sicherlich anste-
henden Anhörungen. Für uns ist völlig klar, dass wir
dem grundsätzlichen Ziel, keine Diskriminierung von
gewählten Lebensgemeinschaften, Lebenspartnerschaf-
ten näher kommen müssen. Ob dieser Gesetzentwurf der
richtige Ansatz ist, bleibt durchaus fraglich.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin!
Im Grunde genommen, Kollege Heidenblut, bin ich sehr
zuversichtlich. Wir stehen am Anfang der parlamentari-
schen Debatte. Es ist immer so, dass Gesetzentwürfe
weiterentwickelt werden. Auch Mechthild Rawert hat
gesagt, dass sich die SPD an der Weiterentwicklung die-
ses Gesetzentwurfes beteiligen wird.
Ich bin, ehrlich gesagt, in die Diskussion gegangen,
um – so mache ich das sehr häufig – Überzeugungsarbeit
zu leisten, in diesem Fall natürlich bei der Union. Ich
dachte, ich müsste manche nur davon überzeugen, sich
mit einem etwas engen Familienbild der Vergangenheit
auseinanderzusetzen. Aber es kommt hinzu, dass ich
schon jetzt auch dahin gehend Überzeugungsarbeit leis-
ten muss, dass es heute nicht um die Diskussion über
Chancen und Risiken der IVF und auch nicht darum
geht, dass diese Behandlungsform für Frauen sehr beein-
trächtigend ist – von dieser Überlegung wurden wir ja
auch, als es um die Kostenübernahme für Verheiratete
ging, nicht in erster Linie geleitet –, sondern dass es
heute um die Frage „Diskriminierung: ja oder nein?“
bzw. „Gleichbehandlung: ja oder nein?“ geht.
Ich muss mich gegen noch etwas verwahren: Es geht
heute auch nicht um Leihmutterschaft, Eizellspende und
Eizellen-Freezing. Davon steht nichts im Gesetzentwurf.
Es gibt auch keine Gesetzesinitiative, die von den Grü-
nen in diese Richtung gestartet werden würde.
– Es geht auch nicht um Fremdsamenspende,
obwohl die Bemerkung über Abstammung natürlich eine
richtige Diskussion, die wir führen müssen, anstößt.
Schon heute gibt es, trotz aller offenen Fragen, die he-
terologe Insemination. Auch hier geht es nur um die
Frage der Diskriminierung von Frauen, die Schwierig-
keiten haben, auf natürliche Art und Weise schwanger zu
werden. Es geht nicht um die Bezahlung der heterologen
Insemination. Die Bezahlung richtet sich nach Art der
IVF, der künstlichen Befruchtung.
Kollege Terpe, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Röspel?
Ja, gern.
7246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Vielen Dank, lieber Harald. Es tut mir leid, dass ich
dich unterbrechen muss, weil ich dich sonst sehr schätze.
Die Entscheidung im Jahr 2003 – tatsächlich unter
einer rot-grünen Bundesregierung –, die Zahl der Zyklen
auf drei zu beschränken und das Alter auf 25 bis
40 Jahre festzusetzen,
hatte im Wesentlichen etwas mit der Reproduktions-
medizin zu tun; ich finde, das spielt auch heute eine
Rolle.
– Ja, aber es geht um einen wesentlichen Bestandteil die-
ser Diskussion, der bisher eine viel zu geringe Rolle ge-
spielt hat.
Es hat damals eine Enquete-Kommission gegeben,
die sich sehr intensiv mit der Reproduktionsmedizin
befasst hat. Sie hat sich – unter Beteiligung von Christa
Nickels von den Grünen, Professor Fink und Ilja Seifert
von den Linken und vielen anderen – mit der zentralen
Frage befasst: Helfen wir den Frauen, die einen sehnli-
chen Kinderwunsch haben, eigentlich damit, wenn wir
auch noch den sechsten Zyklus finanzieren?
Wir haben darüber unter dem Stichwort Baby-take-
home-Rate – der Kollege Heidenblut hat es gerade ge-
nannt – diskutiert. Es ist nämlich so: Wenn man gut
rechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass 15 Prozent
aller Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung un-
terziehen, mit einem Kind nach Hause gehen. Das heißt,
von sieben Frauen, die das tun, gehen sechs ohne Kind
nach Hause. Das ist eine Maschinerie, in die man hinein-
geraten kann.
Darüber haben wir damals sehr intensiv diskutiert. Da
wir gesehen haben, dass mit Ausnahme von Fällen, bei
denen eine medizinische Indikation vorlag, eine gleich
hohe Erfolgsrate nach biopsychosozialer Beratung zu
verzeichnen war, hat es damals die Empfehlung an den
Gesetzgeber gegeben, den Kreis der Anspruchsberech-
tigten zu beschränken – auf verheiratete 25- bis 40-Jäh-
rige mit medizinischer Indikation – und nur drei Zyklen
zu bezahlen. Damals kam man zu dem Ergebnis: Wir
helfen nicht, indem wir den Kreis der Anspruchsberech-
tigten ausweiten. Ich finde, auch dieser Punkt muss in
dieser Diskussion eine Rolle spielen, weil die betroffe-
nen Frauen im Zentrum stehen sollten.
Das gibt mir die Möglichkeit, außerhalb meiner Rede-
zeit zu antworten. Dafür bin ich sehr dankbar.
Im weiteren Verlauf meiner Rede hätte ich auch noch
gesagt, dass es heute auch nicht um die Erhöhung der
Zahl der Zyklen auf mehr als drei geht. Das war damals
eine verantwortungsvolle Entscheidung, natürlich eine
Kompromissentscheidung. Was aber an der damaligen
Entscheidung, auch aus heutiger Sicht, nicht richtig war,
ist die Begrenzung auf verheiratete Paare.
Man hat damals nicht akzeptiert, dass es auch andere
Lebensformen mit Verantwortungsübernahme gibt.
Paare, die sich bewusst für eine künstliche Befruchtung
entscheiden, sind nämlich Paare, die eine Heirat als
zweitrangig, die Übernahme von Verantwortung für Kin-
der aber als erstrangig betrachten.
Ich möchte das an meinem eigenen Beispiel deutlich
machen: Ich bin zehn Jahre lang mit drei Kindern unver-
heiratet gewesen. Die Übernahme der Verantwortung
– jedenfalls für Kinder – ist nicht an eine Heirat gebun-
den.
Bei diesem Gesetzentwurf geht es nicht um die vielen
Punkte, die aufgezählt wurden, sondern es geht für uns
um die Frage: Diskriminierung oder Gleichbehandlung.
Ich bin sogar froh, wenn uns jemand sagt, dass es dabei
um unsere Klientel geht. Wir wollen keine Diskriminie-
rung, sondern eine Gleichbehandlung.
Kollege Terpe, ich habe die Uhr wieder angehalten,
weil es den Wunsch des Kollegen Henke gibt, eine Frage
zu stellen oder eine Bemerkung zu machen.
Ja.
– Ich bin darin fachlich ja nicht so gut wie Herr Henke.
Vielen Dank, Harald Terpe, für die Möglichkeit, eine
Frage zu stellen. – Zunächst einmal kann man natürlich
darüber nachdenken, was Gleichbehandlung bedeutet:
Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln.
Man kann aus der Ungleichheit ja nicht ableiten, dass es
der Imperativ ist, die Ungleichheit gesetzgeberisch zu
beseitigen.
Aber wir konzentrieren uns hier auf die heterologe In-
semination. Anders geht es bei einem lesbischen Paar ja
nicht. Kann es denn wirklich das Ziel sein, dass man,
bevor man die personenstandsrechtlichen und erbrecht-
lichen Fragen beantwortet, die Ansprüche des Kindes
darauf, seinen biologischen Vater kennenzulernen, ge-
prüft und die Frage beantwortet hat, welche Haftung – –
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7247
Rudolf Henke
(C)
(B)
– Ich bin gerne bereit, eine Zwischenfrage von Herr Kol-
legen Beck zu meiner Zwischenfrage zu beantworten,
wenn er sie beantragt.
Das funktioniert nicht. – Ich wollte auch gerade an-
merken: Zurzeit hat der Kollege Henke überwiegend das
Wort.
Vielen herzlichen Dank. – Ich komme zu meiner
Frage zurück und nehme meinen Gedanken wieder auf:
Natürlich kommt es aufgrund des Haftungsrechts für ei-
nen Arzt, der einen Spender dazu veranlasst, eine hetero-
loge Insemination durch seine Spende zu ermöglichen,
zu entsprechenden Folgen, wenn er es einem Kind nicht
ermöglicht, zu erfahren, wer sein Vater ist, wenn es das
will. Das ist übrigens auch die Antwort auf die von
Herrn Beck in seiner denkbaren Zwischenfrage an mich
gestellten Frage, wie das denn in der Praxis bei den heu-
tigen heterologen Inseminationen aussieht. Sie sind
nämlich auch problematisch.
Meine Frage ist daher: Müsste man nicht eher eine
komplett andere Reihenfolge, was die Klärung der auf-
geworfenen Fragen angeht, wählen, als jetzt diesen Ge-
setzentwurf einzubringen?
Im zweiten Teil der Frage wurde die Problematik an-
gesprochen. Wir beide wissen sehr gut, dass gerade die
Ethikkommission und die Ärztekammern immer um Rat
gefragt werden, wenn es um die heterologe Insemina-
tion, wie sie heute möglich ist, geht. Es wird dann ge-
sagt: Die heterologe Insemination ist heute trotz all der
Schwierigkeiten möglich.
An dieser Einschätzung ändert auch dieser Gesetzent-
wurf nichts. Aber wir konzentrieren uns auf die Frage:
Was passiert, wenn die Frau nicht auf natürliche Weise
schwanger werden kann,
sie also eine künstliche Befruchtung durch den Samen
ihres Partners, also eine In-vitro-Fertilisation, braucht?
Diese homologe und nicht die heterologe Insemination
soll bezahlt werden.
Ich komme noch einmal auf den Gesetzentwurf zu-
rück, weil als Kronzeugin auch unsere geschätzte Kolle-
gin Biggi Bender mehrfach genannt worden ist.
Wenn ich jetzt länger Zeit hätte, um Überzeugungsarbeit
zu leisten, dann würde ich sogar nachweisen können,
dass das nicht im Widerspruch steht; denn das Problem
„Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen“
wurde damals in einer Zeit diskutiert, in der fast alle ak-
zeptiert hatten, dass der steuerliche Anteil bei der Finan-
zierung der Krankenkassen fehlt, den wir heute ja zu
Recht einfordern, indem wir sagen: Es gibt versiche-
rungsfremde Leistungen.
Heute ist allgemein akzeptiert, dass wir diesen steuer-
lichen Anteil regelmäßig erhöhen wollen. Ich weiß, dass
die Koalition das etwas reduziert hat. In Zukunft soll das
aber wieder in die umgekehrte Richtung gehen. Aus die-
sen Teilen ist die Finanzierung einer versicherungsfrem-
den Leistung möglich.
Insofern könnte man sogar meine geschätzte Kollegin
Biggi Bender aus der Kritik raushauen.
Ich bleibe dabei: Ich will Sie davon überzeugen, Ihr
Augenmerk auf nichteheliche Lebenspartnerschaften
bzw. Lebensgemeinschaften zu legen. Insofern sollte die
Union ihr Familienbild überdenken. Ich bin gespannt,
wie die SPD unseren Gesetzentwurf noch weiter verbes-
sert, damit wir diesem dann mit großer Mehrheit zustim-
men können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Terpe, die Zwischenfrage des Kolle-
gen Röspel hat es noch einmal deutlich gemacht. Sie ha-
ben versucht, Ihren Gesetzentwurf etwas zu relativieren.
Dieser sei quasi wie eine kleine Fußnote, und in den
parlamentarischen Beratungen könne man das eine oder
andere vielleicht doch noch verändern.
Sie merken, es geht um mehrere Grundsatzfragen: Es
geht um die Frage der Gesundheit, um die Frage der Be-
wertung von Familienleitbildern und um die Frage der
Diskriminierung. Außerdem geht es um die Frage, was
der Staat leisten kann und leisten soll, wenn es darum
geht, diejenigen zu unterstützen, die sich Kinder wün-
schen, denen dieser Wunsch aus gesundheitlichen Grün-
den aber nicht erfüllt werden kann.
Frau Dörner, noch einmal zu Ihrer Bewertung der
Vielfalt von Familienbildern. Da sind wir gar nicht aus-
einander.
7248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Marcus Weinberg
(C)
(B)
Die Frage der Übernahme von Verantwortung stellt sich
in Ehen und in Nichtehen. Man merkt, dass die Lebens-
formen von Kolleginnen und Kollegen der einzelnen
Fraktionen sehr stark differieren. Das alles hat sich in
den vergangenen Jahren verändert. Wir als Union sind
der Auffassung, dass der Staat darauf reagieren muss. Er
muss den verschiedenen Familienleitbildern gerecht
werden.
Ich finde es gut, dass Sie den Fokus auf das Thema
Verantwortung setzen. Insofern werden Sie im Zuge Ih-
rer Reformbestrebungen sicherlich zu der Erkenntnis ge-
langen, dass das Ehegattensplitting richtig ist.
Es gibt nur eine Form von Gemeinschaft, in der Ver-
antwortung nicht nur freiwillig übernommen wird, son-
dern in der es eine gesetzliche Verpflichtung mit allen
daraus erwachsenden Folgewirkungen gibt, und das ist
die Ehe. Diese wird zu Recht durch das Grundgesetz be-
sonders geschützt. Die Ehe ist mit besonderen Rechten
und Pflichten versehen. Die Ehe hat gesetzlich eine Ver-
antwortungsübernahme zur Folge.
Das heißt, die Ehe ist die einzige Form, die Paaren ei-
nen Anspruch gibt auf gegenseitigen Unterhalt, auf
Versorgungsausgleich und auf Erbschaft. Diese ökono-
mische Sichtweise ist übrigens gar nicht so uninteres-
sant, weil es auch um die Kinder geht. Wenn es eine öko-
nomische Sicherheit für beide Partner gibt, dann gibt es
sie mittelbar auch für die Kinder. Das Kindeswohl steht
für uns im Zentrum.
Anders als bei Unverheirateten gibt es bei verheirate-
ten Paaren gesetzliche Hürden bei Auflösung der Ge-
meinschaft. Nun können Sie sagen: Es verändert sich ja
alles. – Sie haben in diesem Zusammenhang die Schei-
dungsraten angesprochen. Frau Dr. Leikert hat vorhin
klargestellt, dass es empirisch nachgewiesene Unter-
schiede gibt zwischen Ehen und Nichtehen.
Politik kann sich aber nicht und sollte sich auch nicht
nach irgendwelchen Raten und Quoten richten und da-
nach aktuelle ethisch-moralische Grundsätze formulie-
ren. Wir sollten nicht dem Zeitgeist hinterherlaufen, son-
dern wir sollten den Wert verbindlicher Verantwortung
stärken. Das ist bei der Ehe gegeben. Deswegen ist das
ein Leitmotiv unserer Politik.
Frau Dörner, Sie haben unser Regierungsprogramm
sicherlich mit großer Freude gelesen.
Ich werde Sie einmal als potenzielle Wählerin in Be-
tracht ziehen. Dabei sind Sie sicherlich auf die Formulie-
rung mit dem Diskriminierungsverbot gestoßen. Unser
Programm steht im Einklang mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 und dem
jüngsten Urteil des Landessozialgerichts.
Die Beschränkung der Kofinanzierung bei künstlicher
Befruchtung auf verheiratete Paare ist verfassungs-
gemäß. Das ist nicht diskriminierend. Das hat das Lan-
dessozialgericht bestätigt. Wir begrüßen das ausdrück-
lich.
Vielleicht sollte man noch einmal deutlich machen,
worüber man eigentlich redet. Es geht nicht um die
Frage des Verbots oder des Nichtverbots. Es geht nicht
um die Frage: Ja oder Nein! Es geht bei der Frage der
Unterstützung der künstlichen Befruchtung darum, was
der Staat zusätzlich leisten sollte. Es geht also um die
Beiträge des Staates und nicht um die Frage, ob wir ein
Verbot aufrechterhalten. Dieses Verbot gibt es nicht.
Was das Ziel des Ganzen angeht, muss es doch im In-
teresse der Kinder sein, in einer stabilen Partnerschaft
aufzuwachsen. Sie ist zwar auch möglich, wenn man
nicht verheiratet ist, und möglicherweise gibt es auch
Ehen, die diese nicht garantieren. Aber in der Frage, wie
Kinder aufwachsen, muss der Staat doch danach streben,
das höchste Maß an Stabilität zu erreichen. Aufgrund
dieses auch verfassungsrechtlich garantierten Schutzge-
dankens sind die besonderen Privilegien, die Verheirate-
ten zugestanden werden, gerechtfertigt. Hierzu gehört
die Begrenzung auf Eheleute nicht nur beim gesetzlichen
Anspruch auf künstliche Befruchtung, sondern auch
beim gesetzlichen Anspruch beispielsweise auf Fami-
lienversicherung.
Wir alle wissen, dass der Leidensdruck derjenigen,
die einen unerfüllten Kinderwunsch haben, groß ist.
Weil wir das wissen, halten wir es für angemessen, dass
nach der bestehenden Rechtslage Anteile der Kosten für
die assistierte Reproduktion durch die gesetzliche Kran-
kenversicherung übernommen werden. Es wurde schon
angesprochen, dass die ehemalige Ministerin Schröder
die Förderung ausgeweitet hat, nämlich auf 25 Prozent
des Eigenanteils, unter der Voraussetzung, dass sich das
jeweilige Bundesland beteiligt. Über diese Frage kann
man diskutieren. Einige Bundesländer machen das; an-
dere machen es nicht.
– Ich weiß nicht, ob Baden-Württemberg es zurzeit
macht.
Das ist aber eine interessante Frage des Kollegen Hüppe.
– Aber wenn man darüber diskutiert, dies noch weiter
auszuweiten, dann muss geklärt werden – das wurde be-
reits angesprochen –, aus welchem Etat das zu finanzie-
ren ist. Wenn man dafür andere gesetzliche Leistungen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7249
Marcus Weinberg
(C)
(B)
oder Familienleistungen kürzen will, dann wäre das si-
cherlich ein Problem.
Frau Dörner hat darauf hingewiesen, dass nicht jeder
die Kosten selber tragen kann, auch weil es beim ersten
Versuch häufig nicht klappt und deshalb weitere Versu-
che notwendig sind. Damit komme ich zu dem Kollegen
Röspel, der noch einmal sehr deutlich skizziert hat, wo-
rum es bei der Frage der Finanzierung auch geht. Es geht
nämlich auch darum, welche Erfolgsaussichten beste-
hen. Denn wir reden über eine Behandlung, die mit Risi-
ken und gesundheitlichen Problemen verbunden ist.
Ich glaube, Frau Dörner möchte eine Zwischenfrage
stellen.
Ich habe die Uhr angehalten. – Die Kollegin Dörner
hat das Wort zu einer Bemerkung oder Zwischenfrage.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,
Herr Kollege. – Nachdem Ihnen von den Kollegen der
unterschiedlichsten Fraktionen schon mehrfach erklärt
worden ist, was in unserem Gesetzentwurf steht, wun-
dere ich mich, warum Sie weiter so reden, als hätten Sie
die Informationen weder vorher gehabt noch der Debatte
entnehmen können.
Mir ist es wichtig, festzuhalten: Die Frage, wie häufig
eine künstliche Befruchtung finanziert wird, oder auch
der Umfang der Finanzierung haben mit unserem Ge-
setzentwurf nichts zu tun. Wir haben insofern keine Än-
derung vorgeschlagen und haben das auch nicht vor,
sondern es geht uns ausdrücklich und ganz konkret da-
rum, eine Gleichstellung zwischen verheirateten Paaren,
unverheirateten Paaren und eingetragenen Lebenspart-
nerschaften zu erreichen. Das ist das Einzige, was unser
Gesetzentwurf vorsieht. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis
zu nehmen und zum Text unseres Gesetzentwurfs und
zum Kern der Debatte zu sprechen, statt immer weiter so
zu tun, als hätten wir etwas vorgeschlagen, was aber gar
nicht im Gesetzentwurf enthalten ist, und so dazu beizu-
tragen, dass diese Debatte immer unsachlicher wird.
Vielen Dank für Ihre Erklärung und die damit verbun-
dene Bitte. Wenn Sie die ersten 4 Minuten und 22 Se-
kunden zugehört hätten, wüssten Sie, dass der Schwer-
punkt meiner Argumentation auf der Ausweitung auf
nichteheliche Partner lag. Sie haben eine Grundsatzde-
batte entfacht,
und dann sollten wir auch grundsätzlich darüber disku-
tieren – das war auch der Punkt, den Kollege Röspel an-
gesprochen hat –, welche Auswirkungen das hat.
Sie können nicht einfach eine kleine Fußnote skizzie-
ren. Wenn Sie Wind säen, werden Sie Sturm ernten. Also
müssen Sie auch eine Debatte aushalten, die grundsätz-
lich die Frage aufwirft, worum es eigentlich geht, Frau
Dörner.
– Sie müssen mir nicht zuhören. Sie können auch paral-
lel dazu unser Regierungsprogramm lesen. Das haben
Sie schon einmal gemacht, und das ist nicht schlecht.
Ich will noch einmal darauf verweisen, dass die Baby-
take-Home-Rate – allein das Wort ist schrecklich – bei
17,7 Prozent liegt und welche Folgewirkungen das hat.
Das heißt, über 80 Prozent der Versuche bleiben erfolg-
los. Dabei ist die künstliche Befruchtung mit Risiken
verbunden, sowohl gesundheitlicher als auch emotiona-
ler Art. Die Folgewirkungen – das zeigt sich auch im
persönlichen Umfeld, wenn man Personen kennt, die
keinen Erfolg hatten – sind teilweise verheerend.
Das ist ein weiterer Punkt, der in dieser Debatte eine
Rolle spielt, Frau Dörner, auch wenn er im engeren Sinn
nicht im Gesetzentwurf formuliert ist.
Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum von 2011
über die Aufklärung bei Verfahren der künstlichen Be-
fruchtung hat ergeben, dass viele Paare nicht angemes-
sen beraten werden bzw. sich nicht angemessen beraten
fühlen. Wenn Sie eine Ausweitung der Kostenüber-
nahme vornehmen, dann erzeugen Sie eine gewisse Er-
wartungshaltung bei den Menschen.
Dies ist nicht ungefährlich und passt nicht zu diesem
Thema.
Frau Dörner, im Zusammenhang mit der von Ihnen
angestrebten Ausweitung ist auch anzusprechen, dass
mit den Methoden der künstlichen Befruchtung in die-
sem Land viel Geld verdient wird. Eine Behandlung kos-
tet durchschnittlich 3 000 Euro. Bei über 80 000 Be-
handlungen, die es im Jahr 2013 gab, kommt man auf
einen Gesamtbetrag in Höhe von rund 250 Millionen
Euro.
– Herr Terpe, bei allem Verständnis, ich lasse keine Zwi-
schenfrage mehr zu. – Angesichts dieser Zahlen ist es
nicht weltfremd, anzunehmen, dass die Zahl der künstli-
chen Befruchtungen durch eine Ausweitung der Kosten-
übernahme zunehmen wird.
Zu dem, was die ehemalige Kollegin Bender von den
Grünen gesagt hat, wurde schon viel gesagt. Auch ich
wollte sie, ähnlich wie Hubert Hüppe es getan hat, zitie-
ren.
Wir sollten jedenfalls nicht vergessen, dass Kinder
das Recht haben, zu erfahren, woher sie kommen. Aus
der Adoptionsforschung wissen wir, dass sehr viele Kin-
der darunter leiden, dass sie nicht wissen, woher sie
7250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Marcus Weinberg
(C)
(B)
kommen. Dieser Aspekt sollte in den Diskussionen in
den nächsten Wochen und Monaten sowohl in der Fami-
lienpolitik als auch in der Gesundheitspolitik berück-
sichtigt werden. Insofern bedarf Ihr Gesetzentwurf einer
ausführlicheren Diskussion, als Sie eigentlich wollten.
Kollege Weinberg, da Sie die letzte Zwischenfrage
nicht zugelassen haben, haben Sie nun Ihre Redezeit
überschritten.
Das macht nichts. Es ist alles gesagt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3279 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf – es handelt sich um
eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne
Debatte –:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Tierzucht- und Abstammungsbestimmun-
gen für den Handel mit Zuchttieren und de-
ren Zuchtmaterial in der Union sowie für die
Einfuhr derselben in die Union
KOM(2014) 5 endg.
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kennzeichnung von Zuchttieren und -mate-
rialien mit Klonabstammung im EU-Tier-
zuchtrecht verankern
Drucksache 18/3557
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 j sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu der Entscheidung der
Konferenz von Doha vom 8. Dezember 2012
zur Änderung des Protokolls von Kyoto vom
11. Dezember 1997 zum Rahmenübereinkom-
men der Vereinten Nationen über Klimaände-
Drucksache 18/3123
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit
Drucksache 18/3582
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3582, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/3123 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
vom 10. März 2009 zwischen den Mitglied-
staaten der Europäischen Union über die zen-
trale Zollabwicklung hinsichtlich der Auftei-
lung der nationalen Erhebungskosten, die bei
der Bereitstellung der traditionellen Eigen-
mittel für den Haushalt der Europäischen
Union einbehalten werden
Drucksache 18/3125
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/3594
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/3594, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3125 an-
zunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrs-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7251
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
abkommen vom 10. Juni 2013 zwischen der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaa-
ten einerseits und der Regierung des Staates
Drucksache 18/3255
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/3534
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/3534, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/3255 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke.
Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann,
Artur Auernhammer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Wolfgang Tiefensee, Sabine Poschmann,
Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Der deutsche Meisterbrief – Erfolgreiche Un-
ternehmerqualifizierung, Basis für handwerk-
liche Qualität und besondere Bedeutung für
die duale Ausbildung
Drucksachen 18/3317, 18/3587
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3587, den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
18/3317 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 27 e
bis 27 j sowie zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Es han-
delt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses.
Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
Drucksache 18/3428
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 128 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
Drucksache 18/3429
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 129 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
Drucksache 18/3430
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 130 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 131 zu Petitionen
Drucksache 18/3431
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 131 ist einstimmig an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 132 zu Petitionen
Drucksache 18/3432
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 132 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 133 zu Petitionen
Drucksache 18/3433
7252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 133 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 134 zu Petitionen
Drucksache 18/3568
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 134 ist einstimmig an-
genommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
Drucksache 18/3569
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 135 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 136 zu Petitionen
Drucksache 18/3570
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Sammelübersicht 136 ist einstimmig
angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 137 zu Petitionen
Drucksache 18/3571
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 137 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
Drucksache 18/3572
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Sammelübersicht 138 ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur breiten
Kritik unter anderem der EU-Kommission an
der Einführung einer Infrastrukturabgabe in
Deutschland
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
uns jetzt leider verlassen müssen, dies so zu tun, dass wir
die notwendige Aufmerksamkeit für die Debatte zügig
herstellen können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt in der Verkehrs- und Mobilitätspolitik unglaub-
lich viele Herausforderungen. Aber leider muss man
feststellen: Nach einem Jahr Große Koalition haben Sie
nicht einmal angefangen, sich diesen Herausforderungen
zu widmen. Stattdessen beschäftigen Sie, der Minister,
das Ministerium, die gesamte Bundesregierung, sich mit
einer Ausländermaut, die Besucher aus dem Ausland
diskriminiert, die europarechtswidrig ist, die verfas-
sungsrechtlich fragwürdig ist, die keine ökologische
Lenkungswirkung hat, die ein Bürokratiemonster irrsin-
nigen Ausmaßes ist und die auch noch riesige Daten-
schutzprobleme aufwirft. Meine Damen und Herren, das
ist die Fortsetzung des Betreuungsgeldes in der Ver-
kehrspolitik. Das ist Verkehrspolitik absurd. Eine Große
Koalition sollte sich schämen, hier so etwas vorzulegen.
Ich kann Ihnen hier eines sagen: Wenn man bisher
draußen im Lande unterwegs war, dann hatte man bei
manchem Christdemokraten – ich sehe Herrn Kollegen
Wittke da sitzen – und manchem Sozialdemokraten den
Eindruck, dass sie mit dieser Ausländermaut gar nichts
zu tun haben, dass das irgendein Projekt von irgend-
welchen Bierzeltjunkies der CSU à la Seehofer und
Dobrindt ist. Aber jetzt, seit gestern, haben wir eine neue
Qualität: Das ist die Ausländermaut der Sozialdemo-
kraten, und das ist das Bürokratiemonster der Christ-
demokraten. Das werden wir ihnen überall aufs Butter-
brot schmieren, wo das zutage tritt, wo die Menschen
sich dagegen wehren.
Ich kann Ihnen hier eines sagen: In einer Koalition
muss man – das ist richtig – Kompromisse machen; das
ist okay. Aber Kompromisse machen heißt nicht, dass
man Schwachsinn beschließen muss.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7253
Oliver Krischer
(C)
(B)
Ich appelliere hier an alle Abgeordneten der Großen Ko-
alition: Versenken Sie diesen Unsinn! Lassen Sie diese
Ausländermaut!
Außerdem machen Sie noch etwas anderes – das hat
ja gestern noch einmal eine ganz neue Qualität bekom-
men –: Sie schwören Stein und Bein, dass deutsche
Autofahrerinnen und Autofahrer nicht belastet werden
sollen. Meine Damen und Herren der Großen Koalition,
warum schreiben Sie das dann nicht in die Gesetze, die
Sie hier vorlegen? Warum verstecken Sie das in einer
Protokollnotiz zur Kabinettssitzung, die Sie noch nicht
einmal dem Deutschen Bundestag zur Verfügung stel-
len? Ich kann Ihnen sagen, warum: Wenn Sie das in ein
Gesetz schreiben würden, wäre es europarechtlich nicht
konform. Das heißt aber: Sie belügen die deutsche Öf-
fentlichkeit. Am Ende sollen die deutschen Autofahrer
zahlen. Das wird das Ergebnis Ihrer Ausländermaut sein.
Ich sage Ihnen: Deutsche Autofahrerinnen und deut-
sche Autofahrer werden sowieso zahlen, weil die Nie-
derlande, Dänemark und Belgien, wo es bisher keine
Maut gibt, schon angekündigt haben, dass sie auf die
deutsche Ausländermaut reagieren werden. Dann wer-
den deutsche Autofahrer, die in den Niederlanden, zum
Beispiel in Zeeland oder in Zuid-Holland, Urlaub ma-
chen – das ist ja wahrlich nicht der Jetset in
Deutschland –, für Ihre Politik bezahlen müssen. Genau
das wird das Ergebnis sein.
Dass Sie sich diesem ganzen Zinnober widmen,
könnte ich ja noch verstehen, wenn da Milliarden erlöst
würden. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Die Be-
rechnungen, die uns vorliegen, gehen davon aus, dass es
ein Nullsummenspiel wird und am Ende der Aufwand
genauso hoch wie der Ertrag dieser Maut sein wird. Und
da wird es unglaublich: Seit Monaten erzählt Herr
Dobrindt von Hunderten von Millionen Euro, die angeb-
lich an Nettoeinnahmen übrig bleiben sollen. Wir haben
Dutzende von Fragen nach der Berechnungsgrundlage
für diese Zahlen gestellt.
Diese ist uns bis heute nicht vorgelegt worden,
und wer diese Berechnungsgrundlage nicht vorlegt, der
sagt nicht die Wahrheit. Die Zahlen sind vom Minister
frei erfunden, um hier eine Akzeptanz für das absurde
CSU-Projekt, das jetzt ein Projekt der Großen Koalition
ist, zu schaffen. Das werden wir nicht hinnehmen.
Was wir tatsächlich brauchen, ist eine Ausweitung der
Lkw-Maut. Das wäre verursachergerecht.
Über 90 Prozent der Schäden an Brücken und Straßen
werden von Lkw verursacht. Das steht selbst in Ihrem ei-
genen Wegekostengutachten.
Deshalb wäre es richtig und verursachergerecht, die
Lkw-Maut auf alle Straßen und alle Lkw auszuweiten,
statt den Lkw-Verkehr über Steuern und eine absurde
Ausländermaut zu subventionieren. Das würde 4 Mil-
liarden Euro bringen. Das wäre die richtige Antwort auf
die Frage, wie wir die Verkehrsinfrastruktur erhalten.
Dazu kommt von Ihnen aber nichts. Im Gegenteil: Sie
haben in diesem Sommer die Lkw-Maut noch abgesenkt.
Das ist Verkehrspolitik pervers.
Wenn es am Ende so sein sollte, dass die Restvernunft
der Großen Koalition in der Verkehrspolitik nicht aus-
reicht, dann setze ich auf die Europäische Kommission,
auf andere Länder wie die Niederlande, die gegen diese
Politik klagen werden. Wir werden diese mit allen
Mitteln unterstützen, damit dieses Unsinnsprojekt
Ausländermaut beerdigt wird, in den Papierkorb kommt,
dahin, wo es von Anfang an hätte bleiben sollen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr und di-
gitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir vollziehen einen echten Systemwechsel in der Fi-
nanzierung unserer Infrastruktur von einer vorwiegen-
den Steuerfinanzierung der Infrastruktur hin zu einer
Nutzerfinanzierung der Infrastruktur.
Dadurch stärken wir das Verursacherprinzip. Das ist eine
Gerechtigkeitsfrage in der Finanzierung der Infrastruk-
tur, meine Damen und Herren.
Das schafft Gerechtigkeit in der Finanzierung, und es
schafft zusätzliche Investitionsmöglichkeiten: 2 Milliar-
den Euro mehr an Investitionen in die Infrastruktur
7254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Bundesminister Alexander Dobrindt
(C)
(B)
in einer Wahlperiode. Das ist die Wahrheit, und das ist
richtig.
– Ich kann mir ja vorstellen, dass Ihnen das nicht gefällt.
Ich habe festgestellt, dass es Ihnen irgendwie keine
Freude macht, wenn wir in Straßen investieren. Das
kann man ja vielleicht verstehen, wenn man wie Sie
ideologisch ein Problem damit hat, dass Verkehre auf
den Straßen stattfinden. Deswegen tragen Sie immer mal
wieder hier krude Ideen vor, was denn eigentlich alles
zur Verhinderung von Infrastruktur und Mobilität umge-
setzt werden könnte.
Sie sagen zum Beispiel, Sie seien für die Ausweitung
der Lkw-Maut. Ja, wir setzen das um. Wir haben bereits
beschlossen,
dass wir die Lkw-Maut im nächsten Jahr auf die vierspu-
rigen Bundesstraßen erweitern und auf 7,5- bis 12-Ton-
nen-Lkw ausweiten. Wir machen das, weil wir das für
richtig halten. Wir werden im Jahr 2018 die Lkw-Maut
auf alle Bundesstraßen ausweiten.
Wir machen das, weil das richtig ist.
Sie haben weiterhin in Ihren durchaus eindrucksvol-
len Beiträgen vorgeschlagen, die Sie gerade auch wieder
geleistet und in der Vergangenheit geleistet haben, dass
man sich doch, wenn man sich schon mit Maut beschäf-
tigt, dann vielleicht mit einer Art intelligenten Maut
beschäftigen soll, einer Maut, die unterschiedlich be-
preist, wenn jemand zu unterschiedlichen Tageszeiten
auf unterschiedlichen Strecken unterwegs ist. Sie haben
die Citymaut ins Gespräch gebracht, die den einzelnen
Kilometer auf der Strecke ebenfalls unterschiedlich be-
preisen soll.
Einer Ihrer Vorzeigeverkehrspolitiker, Winni
Hermann, hat dies zum Beispiel sehr deutlich in einem
Interview im Südkurier dargelegt. Er hat gesagt, das sei
ein richtiger Weg; man könnte per GPS verfolgen, also
per Satellit, wo der Autofahrer sich bewegt, und dies un-
terschiedlich bepreisen. Sie haben gesagt, es sei denkbar,
je nach Tageszeit die befahrbare Strecke dann auch mit
einem besonderen Preis zu bewerten. Jetzt hier am
Rednerpult reden Sie von Datenschutz. Eine größere
Heuchelei als das, was Sie hier abliefern, ist nicht mög-
lich.
Sie schaffen mit Ihren Ideen den gläsernen Autofahrer
und stellen sich hierhin und reden im Zusammenhang
mit dem, was wir hinsichtlich der Maut machen, über
Datenschutz. Ich kann nur sagen, lieber Herr Krischer:
Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, dass die Menschen
nicht merken, was Sie hier an dieser Stelle versuchen.
Wir machen genau das, was gefordert ist, wenn es
darum geht, zukünftig mehr Investitionen in die Infra-
struktur zu erzeugen.
Wir haben auch da die EU auf unserer Seite.
Vielleicht könnten Sie mal in das Weißbuch der Europäi-
schen Union von 2011 schauen und nachlesen, was darin
steht.
Im Weißbuch der EU-Kommission steht, europäische
Verkehrspolitik sollte zukünftig verkehrsbezogene Ent-
gelte und Steuern umgestalten und sich eher dem Prinzip
der Kostentragung durch Verursacher und Nutzer annä-
hern und einen Prozess- und Systemwechsel einläuten.
Genau das machen wir hier. Wir gehen diesen
Systemwechsel von der Steuerfinanzierung hin zu einer
vorwiegenden Nutzerfinanzierung an, und es ist richtig,
dass wir einen solchen Weg gehen.
Schauen Sie, wir bewegen 3,7 Milliarden Euro vom
Haushalt des Finanzministeriums
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7255
Bundesminister Alexander Dobrindt
(C)
(B)
in den Haushalt des Verkehrsministeriums, offensicht-
lich etwas, was Ihnen zu Ihrer Zeit nie gelungen ist, und
wir haben eine Infrastrukturabgabe, die von Haltern von
in Deutschland zugelassenen Pkw wie von Haltern von
im Ausland zugelassenen Kraftfahrzeugen gleicherma-
ßen zu entrichten ist. Wir haben sehr deutlich dargestellt
und es auch mit einem großen Gutachten untermauert:
Das ist europarechtskonform. Das ist genau das, was Eu-
ropa auch will. Wir wollen die Gleichbehandlung von
Fahrzeugen auf unseren Straßen. Wir wollen, dass zu-
künftig jeder seinen gerechten Anteil an der Finanzie-
rung der Straßen, die er nutzt, trägt, und das geht mit der
Nutzerfinanzierung, wie wir sie mit der Infrastrukturab-
gabe vorgeschlagen haben.
Ja,
wir haben im Bundeskabinett gleichzeitig beschlossen,
dass wir eine Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
vornehmen. Wir nehmen Steuerentlastungsbeträge auf.
Es geht natürlich auch darum, Doppelbelastungen zu
vermeiden, wenn man einen Systemwechsel vornimmt.
Das tun wir, und deswegen wird es keine Mehrbelastung
von Haltern von in Deutschland zugelassenen Pkw ge-
ben.
Das alles ist von uns mit Ihnen und mit den Politikern
im Haushalts- und im Verkehrsausschuss bereits genau-
estens so diskutiert.
Sie haben ihre Bedenken klargemacht.
Ich kann dem nur widersprechen. Bei dem, was Sie hier
heute abgeliefert haben, war kein einziges neues Argu-
ment zu hören.
Deswegen: Wir bleiben dabei: Die Infrastrukturabgabe
ist sinnvoll, fair und gerecht.
Sie ist sinnvoll, weil jeder Euro, den wir einnehmen, in
die deutsche Infrastruktur investiert wird; sie ist fair,
weil sie in vielen unserer Nachbarländer genauso prakti-
ziert wird; und sie ist gerecht,
weil sie alle diejenigen, die bisher kostenlos die Straßen
in Deutschland nutzen, angemessen an deren Finanzie-
rung, am Unterhalt beteiligt. Das ist die Wahrheit.
Warum können Sie einfach nicht verstehen,
dass es in Europa drei Säulen der Finanzierung der Infra-
struktur gibt, nämlich Mineralölsteuer, Kfz-Steuer und
unterschiedliche Mautsysteme? Wir haben in Deutsch-
land bisher zwei Säulen. Wir habe eine Säule „Mineral-
ölsteuer“, wir haben eine Säule „Kfz-Steuer“, und wir
werden zukünftig eine Säule „Infrastrukturabgabe/Maut“
dazubekommen.
Wir machen das, was viele andere unserer europäischen
Nachbarn schon lange vollzogen haben.
Sie sollten diesen Weg mitgehen, wenn Sie an Europa
glauben. Das, was andere seit vielen Jahren richtig ma-
chen, findet jetzt auch bei uns statt, meine Damen und
Herren.
Weil ich in den letzten Tagen eine ganze Reihe von
Kommentaren von Ihnen und Ihren Kollegen gehört
habe, will ich Ihnen einfach einmal sagen: Manches ist
gar nicht so schwer verständlich. Sie kritisieren, dass das
Verhältnis beim Preis der Kurzzeitvignetten zum Preis
der Langzeitvignette nicht stimmt. Die eine Kurzzeitvig-
nette kostet 10 Euro für zehn Tage, und die andere Kurz-
zeitvignette kostet 22 Euro für zwei Monate. Daneben
gibt es eine nach ökologischen Grundsätzen – Hubraum
und Umweltschonung des Kraftfahrzeugs – preislich ge-
staffelte Jahresvignette,
die maximal 130 Euro kostet. Das ist ein gesundes Ver-
hältnis. Zu dem Ergebnis kommt man, wenn man sich
die Situation in unseren europäischen Nachbarländern
anschaut, zum Beispiel in Österreich: 10-Tage-Vignette:
8,50 Euro – bei uns zukünftig 10 Euro –, 2-Monats-Vig-
nette: 24,80 Euro; bei uns zukünftig 22 Euro.
7256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Bundesminister Alexander Dobrindt
(C)
(B)
Daran sieht man doch, dass wir uns im Rahmen dessen
bewegen, was in Europa üblich ist – und das bei einem
deutlich größeren Netz.
In Wahrheit sind wir auf Dauer günstiger, als dies alle
anderen sein werden. Daraus abzuleiten, dass hier etwas
nach europäischem Recht schwierig sei, ist vollkommen
abwegig.
Herr Minister Dobrindt, achten Sie bitte auf die Zeit.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Das Einzige, was man überlegen könnte, wäre doch:
Hindern 10 oder 22 Euro jemanden, nach Deutschland
hineinzufahren und die Autobahn zu benutzen? Das
kann man klar beantworten: Nein, sie hindern ihn nicht –
und im europäischen Vergleich schon gleich gar nicht.
Stellen Sie sich den Realitäten in Europa, und Sie
werden sehen: Das, was wir hier verkünden, ist fair, es
ist gerecht, es ist sinnvoll, und es bleibt dabei.
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was eben vom Bundesverkehrsminister vorgeführt
worden ist, ist der Sache noch immer nicht angemessen.
Mit einer Marketingargumentation wird dargestellt, was
die Autobahnmaut hier in Deutschland bewirken soll.
Die Ausländermaut wird zur Infrastrukturabgabe umge-
widmet, und es wird mit Begriffen wie „sinnvoll“, „fair“
und „gerecht“ umgegangen, ohne dass nachgewiesen
werden kann: An welcher Stelle ist sie denn sinnvoll, an
welcher Stelle ist sie denn gerecht? Das sind Behauptun-
gen, die Sie von sich geben.
Gestern haben Sie im Ausschuss vorgestellt, was Sie
mit Ihrem Gesetz vorhaben. Sie haben uns mit dem Mar-
ketingsprech nicht nachweisen und erklären können, wa-
rum dieses Gesetz nun einen Zwischenstand erreicht hat.
Das wird nicht das endgültige Gesetz sein; das wurde
schon angekündigt. Insbesondere die Kolleginnen und
Kollegen von der SPD reklamieren das für sich: Wir ha-
ben noch ganz viel Nachbesserungsbedarf.
Ich bin gespannt, was daraus wird.
Wir sind der Meinung, dass der Gesetzentwurf in den
vergangenen zwölf Monaten vieles ausgelöst hat. Über
keinen Gesetzentwurf wurde öffentlich so ausführlich
diskutiert wie über diesen. Die Anzahl der Presseartikel
darüber lag über der Anzahl der Presseartikel über die
Fußballweltmeisterschaft. Dadurch wird deutlich, mit
welcher Aufmerksamkeit diese Frage in der Öffentlich-
keit wahrgenommen wird.
Sie haben nicht nachweisen können, warum die Argu-
mente der Opposition falsch sind. Sie haben nicht nach-
weisen können, warum die Maut europakonform sein
soll. Sie haben mit einem Gutachten, das sie vorgestellt
haben, das Sie jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt
veröffentlicht haben, versucht, das österreichische Gut-
achten auszuhebeln und Gründe dafür zu benennen, wa-
rum die Ausländermaut europarechtskonform sein soll.
Sie haben nicht nachweisen können, dass dies der große
Wurf ist. Wir haben festzustellen: Das ist der große
Reinfall. – Darin liegt auch der Grund für die große öf-
fentliche Aufmerksamkeit bei diesem Gesetzentwurf.
Der Gesetzentwurf hätte schon vor Monaten aus dem
Verkehr gezogen werden sollen. Er hätte im Papierkorb
verschwinden sollen.
Sie argumentieren, dieses Gesetz soll sinnvoll, fair
und gerecht werden. Dem kann ich aufgrund der Diskus-
sion, die wir bislang geführt haben, nur entgegensetzen:
Die Maut, das, was Sie dort zusammengeschrieben ha-
ben, ist peinlich, unvertretbar und – wie wir gesehen ha-
ben – letztlich unbeherrschbar.
Sie haben geschrieben: Wir wollen mehr Geld für die
Infrastruktur. – Was kommt dabei heraus? Sie erheben
3,7 Milliarden Euro, und am Ende kommen 500 Millio-
nen Euro heraus, die für die Verkehrsinfrastruktur einge-
setzt werden können.
Was ist das für ein Verhältnis? Sie setzen 3,7 Milliarden
Euro um, um am Ende 500 Millionen Euro zu erhalten.
Wenn dies in einem Unternehmen von einem Geschäfts-
führer vorgetragen worden wäre, dann hätte dies sofort
dazu geführt, dass der Vorstandsvorsitzende diesen Ge-
schäftsführer rausgeschmissen hätte. Ich glaube, das wäre
auch das Beste für die Große Koalition.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7257
Herbert Behrens
(C)
(B)
Dieser Gesetzentwurf ist untauglich, eine verkehrspoliti-
sche Wirkung zu erzielen.
Wenn wir ein Europa ohne Grenzen, ohne Ausgren-
zung und ohne Wegelagerei wollen, dann dürfen wir
nicht diese ausländerfeindliche Maut erheben. Wir müs-
sen vielmehr zu einer vernünftigen Verkehrspolitik und
vor allem zu einer vernünftigen Finanzierung der Ver-
kehrspolitik kommen. Das muss eine steuerfinanzierte
Verkehrsinfrastrukturpolitik sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
haben eine große Verantwortung. Sie sind ein Stück weit
dafür verantwortlich, dass dieses Thema überhaupt in
den Koalitionsvertrag eingehen konnte. Diese ressenti-
mentgeladene Geschichte aus dem Hause Seehofer hat
zu dieser Situation geführt, mit der wir uns nun aus-
einandersetzen müssen. Daher müssen wir sehen, dass
wir die Tür, von der Sie zugelassen haben, dass sie ge-
öffnet wurde, wieder schließen können; denn die Gefahr
ist groß – der Kollege Krischer hat es bereits deutlich ge-
macht –: Mit dieser geöffneten Tür haben wir die Maut
für alle im Haus. Herr Dobrindt, Sie haben nicht nach-
weisen können, dass das nicht passieren wird. Sie haben
von einem Strukturwandel und von einem Systemwech-
sel gesprochen. In der Tat, dies ist offenkundig, und in
Ihrem Entwurf ist deutlich sichtbar, dass dies dazu füh-
ren wird, dass die Maut auf allen Straßen erhoben wird.
Das ist mehr als in anderen Ländern Europas, in denen
sie nur auf der Autobahn erhoben wird, und zwar für alle
und nicht nur für ausländische Autofahrer. Von daher:
Wir wollen nicht, dass die Verkehrspolitik so aussieht,
wie Sie sie jetzt gemacht haben – mit einer Privatisie-
rung der gesamten Infrastruktur. Es müssen jetzt ganz
schnell beide Gesetze zurückgezogen werden: das Ge-
setz aus Ihrem Hause und das aus dem Hause des Fi-
nanzministers.
Wir stehen für ein Europa ohne Maut, Schlagbäume
und Wegelagerei. Deswegen haben wir seit dem gestri-
gen Tage die Runde eingeläutet, um die Maut zu versen-
ken und aus dem Verkehr zu ziehen. Unterhalb dessen
werden wir aus der Auseinandersetzung nicht herausge-
hen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen
Dingen liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, den Linken und den Grünen! Sie sind heute sehr
hoch auf den Baum geklettert.
Das hat unter dem Strich mehr Nachteile als Vorteile.
Zum einen ist oben das Geäst sehr dünn. Es besteht
Bruch- und Absturzgefahr.
Wie wir hören konnten, muss man zum anderen, wenn
man oben steht, Herr Krischer, sehr laut schreien, damit
man Sie unten auch versteht.
Wer am lautesten schreit, hat selten recht.
Sie haben uns nicht nur heute, sondern auch im letz-
ten Bundestagswahlkampf überrascht, als Sie wenige
Wochen vor der Wahl die grüne umfassende Pkw-Maut
für alle gefordert haben, die satellitengestützt erhoben
werden soll, mit folgendem feinen Unterschied: Sie hät-
ten, im Gegensatz zu den Vorschlägen, die wir jetzt im
Koalitionsvertrag haben, alle Autofahrer sozial unge-
recht belastet. Das ist Fakt, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Grünen.
Wenn man das macht – was man tun kann –, dann gibt
es die einen, die für die Steuerfinanzierung der Verkehrs-
infrastruktur sind, und die anderen, die für die vollstän-
dige Nutzerfinanzierung sind. Dann kann man sich aber
nicht zum Retter der deutschen Autofahrerinnen und Au-
tofahrer aufschwingen und hier etwas vormachen. So
funktioniert das nicht. Man wird an Worten und Taten
gemessen.
– Ja, natürlich. Warten Sie doch einmal ab.
– Wissen Sie schon, was ich sagen werde?
– Das weiß ich sehr genau, lieber Herr Hofreiter. Ich
habe mich doch vorbereitet. Warten Sie einmal ab.
Anlass der heutigen Aktuellen Stunde ist die Haltung
der EU-Kommission zu den Vorschlägen einer Infra-
strukturabgabe in Deutschland. Das ist der Punkt, den
Sie heute zum Anlass genommen haben. Ich möchte
aber an den Ausgangspunkt zurückgehen. Wir beraten
heute ein Gesetzesvorhaben, das nach einem langen Pro-
7258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Sebastian Hartmann
(C)
(B)
zess gestern und vorgestern durch den Kabinettsbe-
schluss zu dem Entwurf geführt hat, den wir jetzt beraten
können. Wir stehen gar nicht am Ende dieses Prozesses.
Ihre Aufregung ist dementsprechend unangemessen.
Wir stehen am Anfang eines parlamentarischen Bera-
tungsverfahrens. Das werden wir auch nutzen, meine
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir als SPD haben es doch auch formuliert: Wir haben
Fragen und offene Punkte. Die werden wir in diesem
Verfahren entsprechend klären.
Wir brauchen auch nicht drum herumzureden: Die
Pkw-Maut war kein Herzensanliegen der SPD. Das ha-
ben wir nicht in den Mittelpunkt unserer Koalitionsver-
handlungen gestellt. Bei uns waren es Punkte wie gute
Arbeit, Mindestlohn, soziale Sicherung, Rente mit 63,
Mietpreisbremse zum Schutz der Mieterinnen und Mie-
ter, Gleichstellung von Mann und Frau. Das alles sind
Punkte, die wir in den Koalitionsvertrag hineinverhan-
delt haben.
Bei der Pkw-Maut haben wir klare Bedingungen for-
muliert. Wir haben auch klare Konditionen formuliert,
die man sehr gut als Leitplanken benutzen kann, um in
diesem Prozess weiter voranzukommen.
– Jetzt hören Sie doch einmal zu. – Wir sind am Anfang
des Verfahrens. Wir werden noch eine Menge zu disku-
tieren haben. Sie haben schon einmal eine Aktuelle
Stunde beantragt – sie fand am 6. November statt –, ohne
dass es einen konkreten Gesetzesvorschlag gab, ohne
dass ein Konzept vorgelegt worden ist. Das war im luft-
leeren Raum. Dementsprechend muss man jetzt ein we-
nig abrüsten und sich an den konkreten Vorschlägen ab-
arbeiten – nicht mehr und nicht weniger.
Die Europarechtskonformität, die Sie zum Hebel ma-
chen, ist nur ein einziges Kriterium. Jedes Gesetz muss
mit dem geltenden Recht und der Verfassung konform
sein – auch mit dem EU-Recht. Das ist doch nichts
Neues hier im Haus; das kennen Sie doch.
Wir haben andere Punkte formuliert, die weitergehen
als das, was die Grünen verlangt haben. Wir werden ver-
hindern, dass ein deutscher Autofahrer oder eine deut-
sche Autofahrerin überhaupt stärker belastet wird; das
steht im Koalitionsvertrag.
Und: Die Maut muss auch vernünftig sein.
Sie muss tatsächlich einen Beitrag zur Finanzierung der
deutschen Verkehrsinfrastruktur leisten.
– Wenn Sie es nicht glauben, dann lesen Sie doch den
Koalitionsvertrag. Da haben wir es hineingeschrieben.
Das sind die Kriterien, nach denen die SPD diesen Pro-
zess in den nächsten Monaten organisieren wird.
Ich wünsche uns allen eine gute Beratung. Ich freue
mich auf die Sachverständigenanhörung.
Ich freue mich auf die guten Beratungen im Ausschuss.
Ich habe mich gestern schon auf die Ausschusssitzung
gefreut. Leider haben Sie von den Grünen keine Fragen
gestellt, sondern eine ganz kurze Runde gemacht. Das ist
für Sie nicht so top gelaufen. Also: Vorsicht an der
Bahnsteigkante!
Insofern sage ich noch etwas: Wir werden am Ende
des Prozesses sehen, wo wir stehen.
Kollege Hartmann.
Ich weiß, die Zeit läuft ab.
Ich möchte mir nicht nehmen lassen, Ihnen eine frohe
und besinnliche Weihnachtszeit und ein gutes neues Jahr
zu wünschen.
Vielen Dank.
Der Kollege Steffen Bilger hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7259
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Zunächst einmal vielen Dank, dass wir einmal mehr
die Gelegenheit haben, über die Pkw-Maut, die Infra-
strukturabgabe zu diskutieren und einige Dinge klarzu-
stellen, was unser Konzept für die Finanzierung der
Infrastruktur in unserem Land anbelangt.
Worum geht es uns bei der Einführung einer Pkw-
Maut in Deutschland? Zum einen ganz zentral um die
Finanzierung unserer Infrastruktur. 500 Millionen Euro
zusätzlich, die nur von ausländischen Autofahrern getra-
gen werden, sind ein wesentlicher Beitrag zu einer bes-
seren Finanzierung der Infrastruktur in unserem Land.
Meine Damen und Herren, ich denke, so weit sind wir
uns wenigstens einig: Wir brauchen mehr Geld für die
Infrastruktur in Deutschland.
Herr Krischer, ich finde es bedauerlich, dass Sie bei
der Lkw-Maut – entweder aus Unkenntnis oder, um
etwas Falsches vorzuspiegeln – immer wieder einen
falschen Eindruck erwecken. Sie wissen, dass wir auf-
grund eines Wegekostengutachtens verpflichtet waren,
die Maut für Lkw abzusenken.
Wir haben jetzt aber mit der SPD die Ausweitung der
Lkw-Maut auf den Weg gebracht, sodass wir massive
Mehreinnahmen aus der Lkw-Maut haben werden. Auch
das ist ein wichtiger Schritt, der uns weiterbringen wird.
Es geht bei der Pkw-Maut aber auch darum, dass end-
lich mit der Benachteiligung der deutschen Autofahrer
Schluss gemacht wird. Lange genug haben wir im Ur-
laub oder auf anderen Fahrten in fast allen anderen euro-
päischen Ländern bezahlt.
– Sehr wohl! Es sind die wenigsten Länder in Europa,
die bisher überhaupt keine Mautsysteme haben. Da soll-
ten Sie den Blick vielleicht eher gen Süden und Westen
richten. Es ist eine Tatsache, dass fast alle europäischen
Länder bereits ein Mautsystem eingeführt haben. – Un-
sere Straßen konnten bislang kostenlos genutzt werden.
Wenn wir uns die Situation in den EU-Mitgliedstaaten
anschauen, dann stellen wir fest: Die unterschiedlichen
Staaten haben ganz unterschiedliche Infrastrukturfinan-
zierungssysteme. Wie ist die Lage bei uns bisher? Bei
uns zahlt man bislang relativ viel Steuern, aber eben
keine Maut. In Österreich zahlen beispielsweise alle die
Maut.
Über diesen Weg ist mehr Geld für die Infrastruktur vor-
handen, das nicht über Steuereinnahmen bereitgestellt
werden muss.
Mit unserem Mautkonzept machen wir jetzt dasselbe:
Alle zahlen die Maut; dafür muss weniger Geld aus
Steuereinnahmen zur Verfügung gestellt werden.
Deswegen ist es eben keine Diskriminierung von EU-
Ausländern, sondern die Beseitigung eines Nachteils,
den die Deutschen bisher zu tragen hatten.
Der offizielle Aufhänger der Grünen für diese Debatte
ist – einmal abgesehen von der immer wieder festzustel-
lenden grundsätzlichen Begeisterung für die Beschäfti-
gung mit diesem Vorhaben der Großen Koalition im Ple-
num – ein Brief aus Brüssel, der uns am Montag erreicht
hat. Ich habe den Eindruck, dass dieser Brief der EU-
Verkehrskommissarin bei den Grünen kurzzeitig so viel
Freude ausgelöst hat wie der Brief, den der damalige
EU-Verkehrskommissar mitten in unseren Koalitions-
verhandlungen geschrieben hat; er hatte mitgeteilt, dass
unser Konzept sehr wohl mit dem Europarecht vereinbar
sein kann.
Ich gebe gerne zu: Auch ich habe mich über das
Schreiben der Verkehrskommissarin gewundert.
Schließlich war erst wenige Tage zuvor bei der Ratsta-
gung Verkehr am 3. Dezember festgehalten worden, dass
die EU für mehr Nutzerfinanzierung in den Mitgliedstaa-
ten ist. Genau diesen Systemwechsel wollen wir – der
Minister hat es gesagt –: weg von der Steuer hin zu mehr
Nutzerfinanzierung in der Verkehrsinfrastruktur.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die
Kommissarin nicht so intensiv mit den beiden Gesetz-
entwürfen befasst hat,
was ja in Ordnung ist; denn zunächst werden die natio-
nalen Gesetze von den nationalen Parlamenten in den
Mitgliedstaaten beschlossen, und erst dann kann die EU
mit ihrer Prüfung beginnen.
Wenn schon so sehr mit dem Finger auf Deutschland
gezeigt wird, dann sollte sich die EU die Mautsysteme in
einigen anderen Mitgliedstaaten genauer anschauen;
7260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Steffen Bilger
(C)
(B)
denn dort wurde von der EU-Kommission – jeweils in
engen Grenzen – sehr wohl eine gewisse Benachteili-
gung von ausländischen Autofahrern akzeptiert. Um nur
ein Beispiel zu nennen: Die Briten haben erst in diesem
Jahr eine Lkw-Maut eingeführt und dabei – man höre! –
gleichzeitig die Kraftfahrzeugsteuer für Lkw gesenkt.
Ein Schelm, wer darin keine Parallelen zu unserer Maut
erkennt.
Sollten die Bedenken der Kommissarin auch nach
ihrer intensiveren Beschäftigung mit den konkreten Ge-
setzestexten weiterhin bestehen, müsste sie sich konse-
quenterweise mit einem ähnlichen Brief, wie wir ihn be-
kommen haben, an einige andere Verkehrsminister in der
EU wenden.
Wahrscheinlich liegt nahe, was der grüne Europa-
abgeordnete Michael Cramer gemutmaßt hat. Er hat an-
gesichts der kontroversen Diskussionslage im Europäi-
schen Parlament die Motivationslage so beschrieben
– ich zitiere –:
Wenn sie
– also die Verkehrskommissarin –
die Maut durchwinken würde, hätte sie in Brüssel
fünf Jahre lang nichts mehr zu sagen.
Die Einschätzung des grünen Abgeordneten deutet da-
rauf hin: Diese ganze Debatte ist einmal mehr ein Sturm
im Wasserglas.
Noch einmal: Unsere Mautinitiative stützt ein wichti-
ges Vorhaben der EU-Kommission, nämlich die Nutzer
an der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung zu beteiligen.
Allein schon deshalb sollte sich die EU-Kommission die
beiden Gesetzentwürfe in aller Ruhe anschauen und
dann aufgrund inhaltlicher intensiver Durchsicht zu ei-
ner abgewogenen und positiven Meinung kommen.
Wir jedenfalls sind überzeugt: Das Vorhaben ist mit
EU-Recht vereinbar. Das hat auch die Prüfung durch die
beteiligten Bundesministerien ergeben.
Als Deutscher Bundestag beginnen wir nun mit der par-
lamentarischen Beratung der Gesetzentwürfe, und ich
freue mich auf viele weitere muntere Debatten rund um
die Pkw-Maut.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak-
tion Die Linke.
Danke, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und
Kollegen! Nach den vielen Debatten, die wir zu diesem
Thema geführt haben, und angesichts der großen Kritik,
die es in der Öffentlichkeit an der Ausländermaut gibt,
frage ich mich, was in Wirklichkeit dahintersteckt. Ist es
diese gigantische gesellschaftliche Auseinandersetzung
eigentlich wert, wenn am Ende – im besten Falle! –
500 Millionen Euro dabei herauskommen?
Warum fährt der Minister einen solchen Konfrontations-
kurs und legt sich mit allen an? Es kann doch nicht sein,
dass es nur um diese Minimaut geht!
Um die Verkehrsinfrastruktur wirklich in Schuss zu brin-
gen, wären ganz andere Dinge notwendig.
Und ich möchte über andere Dinge reden. Ich möchte
zum Beispiel darüber reden – ich versuche herauszufin-
den, welchen Sinn die ganze Angelegenheit hat –, dass
in einer Studie des Umweltbundesamtes, über die in der
letzten Woche in der Welt berichtet wurde, nachgewiesen
wird, dass die klimaschädlichen Subventionen, die jedes
Jahr von der Bundesrepublik Deutschland gezahlt
werden, vor allen Dingen im Verkehrsbereich dauernd
steigen. Die klimaschädlichen Subventionen liegen in-
zwischen bei über 50 Milliarden Euro, etwa 20 Milliar-
den Euro davon entfallen auf den Verkehrsbereich. Wenn
Sie wirklich Geld zur Verbesserung und zur Reparatur
der Infrastruktur brauchen, dann müssten Sie dort den
Hebel ansetzen.
Offensichtlich ist das aber nicht gewollt. Offensicht-
lich will man den Flugverkehr weiter fördern. Offen-
sichtlich will man weiter Diesel subventionieren. Das
scheint also nicht der Punkt zu sein. Man will auch nicht
wirklich eine ordentliche Infrastruktur hinterlassen.
Ein zweiter Aspekt in dieser Debatte, der mich sehr
hellhörig werden lässt, ist, dass die öffentlich-privaten
Partnerschaften in Ihrem Konzept des Systemwechsels,
von dem Sie dauernd sprechen, offensichtlich eine zen-
trale Rolle spielen. Dieses Konzept wird gestützt von
Wirtschaftsminister Gabriel, der einen Infrastruktur-
fonds auflegt und den Banken und Versicherungskonzer-
nen sozusagen anbietet, mit öffentlich garantierten
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7261
Sabine Leidig
(C)
(B)
Zinsen im Bereich der Infrastruktur Gewinne zu ma-
chen, vor allem im Bereich der Verkehrsinfrastruktur.
Was heißt das? Das heißt, dass Sie mit der sogenann-
ten Ausländermaut tatsächlich die Tür für eine allge-
meine Infrastrukturabgabe aufstoßen, die dazu führt,
dass die privaten Straßen- und Autobahnbetreiber die
Fahrerinnen und Fahrer, also die Nutzerinnen und Nut-
zer dieser Infrastruktur, abkassieren können.
Das ist die einzige Erklärung, die ich für diesen gi-
gantischen Popanz habe. Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie
können mit schärfstem Widerstand rechnen, und zwar
nicht nur von der Linken.
Der Bundesrechnungshof hat mit Fug und Recht massive
Kritik an dieser Art der Verschleuderung öffentlicher
Güter, an dieser Art der Verschleuderung von Steuergel-
dern geäußert.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie die Klimaschutz-
debatte auch nur mit einem Funken Ernsthaftigkeit be-
treiben, sollten Sie damit anfangen, die klimaschädli-
chen Subventionen zu streichen. Dann haben Sie Geld
genug, um die Verkehrsinfrastruktur in den besten
Zustand zu versetzen. Aber lassen Sie die Finger von
diesem Quatsch!
Das Wort hat der Kollege Christian Petry für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Pkw-Maut ist – das wurde mehrfach
gesagt – kein Lieblingsprojekt der SPD. Wir haben mit
dem Mindestlohn, der Rentenpolitik, der Energiewende,
dem Doppelpass, der Frauenquote und der Mietpreis-
bremse andere Projekte, die uns näher sind und auf die
wir sehr stolz sind. Wegen dieser Projekte können wir
sagen: Das war wirklich ein sehr gutes Jahr.
– Herr Krischer, Sie freut das auch; das weiß ich. – Das
war ein sehr gutes Jahr, und deshalb kann man am Ende
dieses Jahres sagen: Diese Koalition hat in diesem Jahr
Gutes geleistet.
Sie wissen, dass im Koalitionsvertrag die Grundlage
für die Maut gelegt wurde – das wurde alles hier schon
gesagt –, und an diesen Koalitionsvertrag werden wir
uns halten; in dem Punkt sind wir vertragstreu.
– „Ressentimentgeladen“? Herr Behrens, Sie haben eben
gesagt, dass die Maut 3,7 Milliarden Euro Einnahmen
bringen soll und am Ende ein Gewinn von nur 500 Mil-
liarden steht.
13,5 Prozent Gewinn vor Steuern sind für ein Unterneh-
men sehr viel. Insofern ist Ihre Argumentation schwer
nachvollziehbar. Gleichwohl habe ich durchaus Sympa-
thie für Ihr Argument, dass man nichts machen sollte,
was am Ende nicht viel bringt. Von daher werden wir in
diesem Prozess selbstverständlich darauf achten müssen,
dass es ein gutes Verhältnis ist.
Ein Koalitionsvertrag ist immer ein Kompromisstext;
das ist eigentlich ein Problem. Wir werden uns aber an
diesen Koalitionsvertrag halten. Die Vorgaben sind klar
definiert.
Einen Aspekt möchte ich besonders hervorheben: das
geltende EU-Recht, die geltenden EU-Verträge. Ich
denke hier insbesondere an die geplanten Entlastungen
der Halter von in Deutschland zugelassenen Pkws von
der Kfz-Steuer. Die hier vorgeschlagenen Indikatoren
korrespondieren auch textlich direkt mit der Bemes-
sungsgrundlage der Pkw-Maut. Das sehe ich sehr kri-
tisch. Ich denke, das muss in den Verhandlungen in den
parlamentarischen Gremien beraten werden; denn dieser
unmittelbare Zusammenhang könnte den Antidiskrimi-
nierungsgrundsatz der EU verletzen.
Das ist nicht Basis unserer Vereinbarung. Hierzu müssen
wir noch Formulierungen finden – ich denke, wir wer-
den diese Formulierungen finden –, die diese Vereinbar-
keit herstellen. Dies muss geklärt werden. Ich denke, das
ist ein sehr wichtiger Aspekt in der Diskussion.
Klar ist, dass die Maut für den deutschen Autofahrer
unterm Strich nicht zu Mehrbelastungen führen darf.
Auch das wurde im Koalitionsvertrag vereinbart. Auch
diesbezüglich verhalten wir uns koalitionstreu.
Das ist eine klare Sache; das ist hier schon gesagt wor-
den. Wir werden darauf achten müssen, dass es kein
Hintertürchen gibt.
7262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Christian Petry
(C)
(B)
Es darf nicht sein, dass nach Einführung der Maut die
Kommission oder ein anderer EU-Mitgliedstaat die ent-
sprechenden Regelungen kippt. Das heißt, es muss ab-
schließend geklärt sein, dass die Konformität gegeben
ist, damit wir dieses Projekt so verabschieden können,
wie es im Koalitionsvertrag beschrieben ist.
Denn ein Schwarzer-Peter-Spiel in Richtung Brüssel
können wir als Europapolitiker natürlich nicht akzeptie-
ren. Das wäre zu einfach.
Sie sehen: Es gibt hier noch sehr viele offene Fragen,
die in den Beratungen zu klären sind. Ich bin sicher, dass
wir sie klären können. Am Ende des Prozesses – Kollege
Hartmann hat es gesagt; wir stehen im Prozess – werden
wir sehen, ob dies alles erfüllt ist und ob dem dann so
zugestimmt werden kann. Denn es ist wichtig, dass in
2014, in dem Jahr, in dem viele Europaskeptiker in vie-
len Ländern die Oberhand gewonnen haben, dieses Pro-
jekt nicht europakritisch wirkt. Dieses Projekt darf kein
Verschiebebahnhof nach Brüssel sein, sondern muss ins-
gesamt in das europäische Recht eingebettet sein.
In Zusammenhang mit der Pkw-Maut steht die Wah-
rung der EU-Verträge im Vordergrund. Ich glaube, auch
das ist klar und auch Basis des Koalitionsvertrages.
Die kommenden parlamentarischen Beratungen wer-
den Klarheit über die von mir angeschnittenen Fragen
bringen. Die SPD wird stets auf die Einhaltung der im
Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorgaben für die
Pkw-Maut achten. Die Europarechtskonformität der Vor-
schläge wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Sie kön-
nen sich sicher sein, dass die Regierungsfraktionen zu
den geltenden EU-Verträgen stehen und diese auch ein-
halten werden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, frohe Weihnachten. Glück auf!
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Dr. Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich,
worüber wir hier reden.
Seit über einem Jahr beschäftigt uns dieses Ungetüm
CSU-Maut. Die Frage ist: Wozu eigentlich? Diese Frage
ist nach wie vor nicht beantwortet. Es fehlt bis jetzt der
Nachweis, Herr Minister, dass Ihre CSU-Maut tatsäch-
lich etwas einbringt.
Wir haben das Verkehrsministerium häufig gefragt: Was
kommt eigentlich dabei heraus? Sie haben ein riesiges
Staatsgeheimnis daraus gemacht. Ihr Ministerium kann
uns trotz mehrfacher Anfragen nicht sagen, wie es auf
Einnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro kommt.
Sie können die simpelste Frage nicht beantworten. Sie
können nicht sagen, ob das Gesetz etwas nützen wird.
Herr Minister, das ist eine unfassbare Unverfrorenheit.
Aber das ist längst nicht alles. Es war ja schon eine
absurde Idee, die CSU-Maut in den Koalitionsvertrag zu
schreiben.
Alle Abgeordneten der Koalition sollten sich noch ein-
mal genau ansehen, was da steht, insbesondere auch
Herr Kollege Petry, den ich im Verkehrsausschuss noch
nicht gesehen habe. Aber ich habe ja festgestellt, dass
Sie das über die Finanzschiene machen.
– Und Europa, ja. – Lassen Sie mich aus dem Koali-
tionsvertrag zitieren:
Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des
Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen
angemessenen Beitrag der Halter von nicht in
Deutschland zugelassenen PKW erheben … mit der
Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland
stärker belastet wird als heute. Die Ausgestaltung
wird EU-rechtskonform erfolgen.
Kollege Petry und alle anderen Kollegen, jetzt können
Sie sich fragen, ob Sie das wirklich bekommen haben.
Erstens. Zusätzliche Finanzierung. Sie ist mehr als
fragwürdig. Wir wissen überhaupt nicht, ob es tatsäch-
lich zusätzliche Einnahmen geben wird. Diese Geheim-
niskrämerei, Herr Minister, konnten Sie auch nicht durch
einen launigen Medienauftritt gestern in der Bundespres-
sekonferenz ersetzen. Die Journalisten konnten sich, wie
mir berichtet wurde, vor Lachen kaum halten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7263
Dr. Valerie Wilms
(C)
(B)
Das ist absolut abenteuerlich und hat mit kluger Staats-
kunst nun rein gar nichts mehr zu tun. Da half auch der
halbstündige Auftritt danach im Verkehrsausschuss nicht
mehr.
Zweitens: EU-rechtskonforme Ausgestaltung. Das Ver-
kehrsministerium hat fast alles versucht, um die Quadra-
tur des Kreises hinzubekommen. Es war aber immer
klar, dass Ihnen das nicht gelingt. Denn die gesamte Idee
verstößt gegen europäische Grundsätze. Wer eine Maut
nur für Ausländer will, benachteiligt sie – Punkt. Das ist
vollkommen klar.
Es gibt einfach keine diskriminierungsfreie Diskriminie-
rung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Darauf hat Sie die Kommissarin auch in einem Schrei-
ben sehr deutlich hingewiesen, Herr Minister. Wenn Sie
das ignorieren, dann landet der Fall vor dem Europäi-
schen Gerichtshof.
Die Frage ist doch: Was passiert dann? Entweder fällt
die Kompensation über die Kfz-Steuer weg – dann gibt
es die Maut für alle, eingeführt vom CSU-Maut-Minister
Dobrindt –,
oder die Maut wird gekippt; dann fehlen 3,7 Milliarden
Euro im Verkehrsetat. Behaupten Sie bitte nicht, Herr
Minister, dass so etwas nicht passieren kann. Wir haben
das bei der Einführung der Lkw-Maut schon einmal er-
lebt. Es ist mir schleierhaft, wie sich die Koalition auf so
einen Ritt auf der Rasierklinge einlassen kann. Das ist
absolut unverantwortlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU,
die Minister haben in einer Protokollerklärung im Kabi-
nett deutlich erklärt, dass niemals ein deutscher Autofah-
rer mehr belastet werden darf. Wenn Sie das wirklich
ernst meinen, dann müssen Sie in der parlamentarischen
Beratung eine Selbstzerstörungsklausel in beide Gesetz-
entwürfe einbauen;
das habe ich auch gestern schon im Ausschuss gesagt.
Denn nur dann kann der Trick von Herrn Dobrindt, eine
Pkw-Maut für alle einzuführen, verhindert werden. Ich
möchte nicht erleben, dass dies dann wieder Europa in
die Schuhe geschoben wird; damit ist die CSU ja manch-
mal sehr schnell. Schon allein deswegen darf die CSU-
Maut hier nicht durchgewunken werden.
Aber es gibt noch einen anderen entscheidenden
Punkt, der den ganzen Aberwitz dieses CSU-Vorhabens
deutlich macht. Wir haben bei der Kraftfahrzeugsteuer
bisher ein sehr klares Prinzip: Wer einen schweren Wa-
gen mit hohem Schadstoffausstoß fährt, bezahlt mehr.
Die Stinker blechen. Das ist absolut vernünftig, und da-
rüber gibt es eigentlich Konsens. Aber diese CSU-Maut
stellt dieses Prinzip auf den Kopf; denn der größte Stin-
ker bekommt jetzt die größte Entlastung.
Es lohnt sich wieder, besonders umweltschädlich zu fah-
ren. Das schreiben Sie als neues Prinzip in Ihren Gesetz-
entwurf. Was für ein Irrsinn!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt schlägt die
Stunde des Parlaments; Kollege Hartmann, da haben Sie
absolut recht. Bei der gestrigen halbstündigen kleinen
Showeinlage des Herrn Ministers im Verkehrsausschuss
hatten wir ja gerade noch zehn Minuten Zeit für eine
erste Runde, in der wir sicherlich nicht alle Fragen stel-
len konnten. Jeder einzelne Abgeordnete der Großen
Koalition sollte genau prüfen, ob er diese Gesetzent-
würfe wirklich will. Denn die Einnahmen sind unsicher,
sie widersprechen der Grundidee eines vereinten Euro-
pas, und sie bevorzugen umweltschädliche Autos. Was
in den Gesetzentwürfen steht, ist absolut inakzeptabel.
Lassen Sie sich das als frei gewählte deutsche Abgeord-
nete nicht bieten.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachtstage und einen gu-
ten Rutsch ins neue Jahr! Denken Sie einmal darüber
nach. Vielleicht kommen wir am Schluss zu einer passa-
blen, brauchbaren Lösung.
Danke.
Als nächster Redner hat der Kollege Ulrich Lange das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wird Weihnachten, und die Pkw-Maut liegt auf dem
Gabentisch.
Respekt, Herr Minister! Wir haben den Kabinettsbe-
schluss. Das ist ein Meilenstein im Gesetzgebungsvorha-
ben zur Infrastrukturabgabe. Jetzt kann es Weihnachten
werden.
Lieber Kollege Krischer,
zu Ihrer frustrierten Bilanz:
7264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Ulrich Lange
(C)
(B)
LuFV II, WSV, 5 Milliarden Euro mehr, Investitions-
hochlauf,
Ausweitung und Vertiefung der Lkw-Maut und die Wei-
chenstellung für die Lkw-Maut auf allen Bundesstraßen
2018. Verkaufen Sie die Menschen mit Ihrer Theorie der
Absenkung hier nicht für dumm!
Sie wussten und Sie wissen, dass wir aufgrund des We-
gekostengutachtens absenken mussten.
Sie verhalten sich hier wie Pinocchio und belügen das
deutsche Volk.
Lieber Kollege Behrens, dass die Linken mit Geld
nicht umgehen und nicht rechnen können,
haben Sie wieder einmal bewiesen. Die Gesamteinnah-
men betragen pro Jahr 3,7 Milliarden Euro: 3 Milliarden
Euro von den Inländern, 700 Millionen Euro von den
ausländischen Kfz-Fahrern. Nach Abzug der Systemkos-
ten bleiben 500 Millionen Euro übrig.
Das sind also 500 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich für
die Verkehrsinfrastruktur. Das ist ein Wort!
Das Ganze ist natürlich mit der Grundidee Europas in
Einklang zu bringen.
Es ist geradezu europäisch, dass wir, wenn in 22 Mit-
gliedstaaten eine Infrastrukturabgabe erhoben wird, dies
auch tun, weil die EU für eine solche Nutzerfinanzierung
steht. Deswegen kann ein Gesetz, das auf dem Verursa-
cherprinzip beruht, weder direkt noch indirekt diskrimi-
nierend sein. Wer nutzt, der zahlt in ganz Europa! Das ist
ganz europäisch.
Dass wir zwei getrennte Gesetzentwürfe in das Kabi-
nett eingebracht haben und bald beraten werden, ist gut
und richtig. Der Kollege Bilger hat ja schon aufgezeigt,
dass man in Großbritannien auch einen solchen Weg
gegangen ist. Wir stellen vom Steuersystem auf das
System der Nutzerfinanzierung um, also auf die Finan-
zierung durch diejenigen, die auf unseren Straßen unter-
wegs sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutschen Preise
sind ausgesprochen niedrig. Wenn man sich die Größe
des Straßennetzes und die Zeiträume anschaut, dann
sieht man: Wir brauchen uns in Europa nicht zu verste-
cken. Nein, im Gegenteil: Wir sind im europäischen Ver-
gleich ganz vorne. Auch hier gilt: Wir sind europäisch.
Die E-Vignette ist und bleibt die intelligente Form der
Umsetzung der Infrastrukturabgabe.
– Lieber Kollege Krischer, das, was der Kollege
Hartmann Ihnen vorhin vorgelegt hat, war schon entlar-
vend. Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Sie betrei-
ben hier in dieser Stunde die größte Heuchelei im ganzen
Parlament.
Datenschutz: gewährleistet! EU-Rechtskonformität:
gewährleistet! Keine Mehrbelastung: gewährleistet! Zu-
sätzliche Einnahmen: gewährleistet!
Wir freuen uns auf die parlamentarische Beratung und
am Ende auf die parlamentarische Verabschiedung die-
ser Infrastrukturabgabe – sinnvoll, fair, gerecht. Das
wird 2015 von uns hier im Parlament umgesetzt werden.
Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächster Kollege hat der Kollege
Andreas Schwarz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine verehrten Damen und Herren! Der frü-
here Toll-Collect-Chef hat 2005 vor dem Verkehrsaus-
schuss des Deutschen Bundestages gesagt – ich zitiere –:
Wenn mir jetzt jemand den Auftrag für eine Pkw-
Maut anböte, dann würde ich mich erschießen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7265
Andreas Schwarz
(C)
(B)
Tote gibt es wegen der Maut bisher noch keine, aber
heute zumindest eine äußerst emotionale Debatte dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Hektik besteht
heute doch noch überhaupt kein Anlass;
denn der Gesetzentwurf wird jetzt erst einmal in die rich-
tige Richtung weitergeleitet.
Gestern hat das Kabinett die Einführung beschlossen.
Das ist sicherlich kein Thema – das wurde auch schon
angedeutet –, das in den Olymp der sozialdemokrati-
schen Politik oder Ideen gehört, aber das ist ein Herzens-
wunsch unseres Koalitionspartners CSU, und zu einer
Koalition gehört es eben auch, Kompromisse einzuge-
hen.
Über eines sind wir uns in dieser Koalition einig: Der
Erhalt und der Ausbau der Infrastruktur in diesem Land
duldet keinen Aufschub und genießt absolute Priorität.
Das haben wir im Koalitionsvertrag so festgehalten.
Über die Ausgestaltung dieser Aufgabe werden wir wei-
ter diskutieren. Da kann die Infrastrukturabgabe nicht
das letzte Wort gewesen sein. Die Maut ist mit Sicher-
heit noch nicht über den Berg.
Der Prozess beginnt jetzt. Außerdem gilt die Struck’sche
Regel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kompromisse
können letztendlich auch Fortschritt bedeuten.
Das zeigen wir in der Großen Koalition in unserer tägli-
chen Regierungsarbeit das eine um das andere Mal.
Wir werden das bevorstehende parlamentarische Ver-
fahren sicherlich dazu nutzen, den Gesetzentwurf auf
Herz und Nieren zu prüfen und im Hinblick auf seine
Alltagstauglichkeit abzuklopfen. Der bisherige Verlauf
der Pkw-Maut-Debatte hat gezeigt, dass Herr Minister
Dobrindt allen Unkenrufen zum Trotz guten Argumen-
ten durchaus zugänglich ist.
Die Infrastrukturabgabe soll beispielsweise nur noch
für die Nutzung von Bundesfernstraßen erhoben werden.
Der ursprüngliche Plan, sämtliche Straßen in das Maut-
konzept einzubeziehen, hat sich als nicht durchführbar
erwiesen. Wir haben in vielen Veranstaltungen bundes-
weit die Sorgen der Bewohnerinnen und Bewohner
grenznaher Gebiete über befürchtete Umsatzeinbußen zu
hören bekommen.
Selbst der bayerische Innenminister Joachim
Herrmann hat die zu erwartenden Belastungen für die
Grenzregionen kritisiert, wurde dann aber etwas unsanft
von seinem Ministerpräsidenten zurückgepfiffen.
Diesen Anliegen konnte und durfte sich die Politik
nicht verschließen. Der Bundesverkehrsminister hat sei-
nen Entwurf entsprechend geändert. Folglich werden die
befürchteten negativen Effekte für den Einzelhandel und
für den Einkaufstourismus in Grenzregionen nicht ein-
treten. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedingungen
des Koalitionsvertrages zur Einführung einer Infrastruk-
turabgabe auf deutschen Straßen hat mein Fraktionskol-
lege Sebastian Hartmann bereits skizziert. Obwohl Än-
derungen an einem Gesetzentwurf immer möglich sind,
wird es in diesem Gesetzgebungsverfahren zumindest an
einem Punkt von sozialdemokratischer Seite aus defini-
tiv keine Bewegung geben: Kein Fahrzeughalter, dessen
Pkw in Deutschland zugelassen ist, darf durch diese In-
frastrukturabgabe höher belastet werden. – Dies gilt
ohne Wenn und Aber.
Wir waren auch etwas erstaunt, als im Referentenent-
wurf der Passus zu lesen war, künftige Änderungen der
Infrastrukturabgabe sollten losgelöst von der Kfz-Steuer
erfolgen. Mit dieser Formulierung wäre einer möglichen
höheren Belastung der inländischen Autofahrerinnen
und Autofahrer Tür und Tor geöffnet gewesen. Deshalb
hat die SPD sehr klar und deutlich auf einer Klarstellung
bestanden, die auch umgehend erfolgt ist. Ich meine, das
war ein guter Auftakt für das Gesetzgebungsverfahren.
In diesem Verfahren werden wir als SPD sehr genau
auf die Einhaltung des Versprechens achten, dass die
Pkw-Maut nicht zu höheren Belastungen der inländi-
schen Bürgerinnen und Bürger führt und zudem europa-
rechtskonform ausgestaltet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese
Rede gerne mit einem Zitat von Albert Einstein beenden.
Herr Minister Dobrindt, verehrte Anwesende, für uns
alle im Hohen Hause gilt bei allen Höhen und Tiefen, die
wir sicherlich in einem Jahr durchleben und durchleiden
– ich zitiere Herrn Einstein –:
Wenns alte Jahr erfolgreich war, dann freue dich
aufs neue. Und war es schlecht, ja dann erst recht.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Fami-
lien eine gesegnete Weihnacht und alles Gute für 2015.
7266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Ganz herzlichen Dank auch für die guten Wünsche
für das kommende Jahr. – Als nächster Redner hat der
Kollege Karl Holmeier das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es ist zwar schon alles gesagt, aber – –
Das Bundeskabinett hat gestern den von unserem
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt vorgeleg-
ten Gesetzentwurf zur Einführung einer Infrastrukturab-
gabe für die Benutzung von Fernstraßen beschlossen.
Damit setzen wir das um, was bereits Bestandteil unse-
res Wahlprogramms 2013 war. Auch dafür haben uns die
Menschen in Deutschland gewählt und uns das Ver-
trauen ausgesprochen.
Die Einführung der Pkw-Maut ist neben vielen ande-
ren guten Dingen auch Bestandteil des Koalitionsvertra-
ges zwischen CDU, CSU und SPD. Die Pkw-Maut war
eine gute Idee, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Diese Agenda, den Koalitionsvertrag, arbeiten wir nun
Schritt für Schritt ab, und die Infrastrukturabgabe gehört
dazu.
Verkehrsminister Dobrindt hat mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf eine wichtige und richtige Investitionsof-
fensive zur Modernisierung unserer Verkehrsinfrastruk-
tur eingeleitet. Jeder Euro, der in Deutschland zusätzlich
eingenommen wird und unmittelbar in die Stärkung un-
serer Verkehrsinfrastruktur fließt, ist ein guter Euro.
Wir machen seit einem Jahr in der Großen Koalition
erfolgreiche Politik für unser Land und damit für unsere
Mitbürgerinnen und Mitbürger. Unser erklärtes Ziel ist
es, den hohen Standard in der deutschen Infrastruktur zu
erhalten und weiter auszubauen. Nur so können wir den
Verkehrszuwachs im Personen- und Güterkraftverkehr
bewältigen.
Wie der Herr Minister bereits angesprochen hat, lei-
ten wir den von der Europäischen Union gewollten Sys-
temwechsel von einer reinen Steuerfinanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur hin zu einer teilweisen Nutzerfi-
nanzierung ein. Mit der kontinuierlichen Ausweitung der
Nutzerfinanzierung erreichen wir zudem eine größere
Unabhängigkeit vom Bundeshaushalt.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf erzielen wir
in einer vierjährigen Wahlperiode Mehreinnahmen in
Höhe von 2 Milliarden Euro netto für unsere Infrastruk-
tur.
– Errechnet, nicht erfunden, Herr Krischer.
Das sind zusätzliche und wichtige 2 Milliarden Euro für
unsere Infrastruktur.
Das kann sich sehen lassen, und es ist gleichzeitig auch
eine Frage der Gerechtigkeit, dies umzusetzen.
Der Gesetzentwurf erfüllt alle Vorgaben des Koali-
tionsvertrages: Es wird keine Mehrbelastung für Halter
von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen geben,
und der Gesetzentwurf ist europarechtskonform.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Pkw-Maut wird
kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche.
Für die Grünen ist der gestrige Kabinettsbeschluss zur
Einführung der Infrastrukturabgabe ein schönes Weih-
nachtsgeschenk.
Wir sehen und hören, wie sehr Sie sich darüber freuen.
Seit Wochen und Monaten skandalisieren Sie alles,
was mit der Infrastrukturabgabe zu tun hat. Gestern
Mittag hat uns Minister Dobrindt unmittelbar nach dem
Kabinettsbeschluss im Verkehrsausschuss Rede und
Antwort gestanden. Dafür einen herzlichen Dank, Herr
Minister.
Frau Wilms, Sie haben den Entwurf gestern wie auch
heute wieder als europarechtswidrig bezeichnet. Damit
offenbaren Sie, dass Sie keine Kenntnis von dem
Rechtsgutachten haben, das erstellt wurde. Nach Profes-
sor Hillgruber ist die Einführung der Infrastrukturabgabe
mit europäischem Recht vereinbar.
Das Gutachten ist – das wurde schon angesprochen – auf
der Internetseite des Verkehrsministeriums einsehbar.
Die Infrastrukturabgabe für die Nutzung des deut-
schen Bundesfernstraßennetzes stellt auch in der Kombi-
nation mit entsprechenden Freigrenzen bei der Kfz-
Steuer keine Diskriminierung von Unionsbürgern dar.
Wir stellen damit Gerechtigkeit auf deutschen Autobah-
nen her. Aber alles Reden und Aufklären hilft nichts. Sie
wollen es nicht kapieren.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7267
Karl Holmeier
(C)
(B)
Die Grünen haben mit der Beantragung dieser Ak-
tuellen Stunde wieder viel heiße Luft um die Infrastruk-
turabgabe erzeugt. Meine Damen und Herren, ich freue
mich daher auf die inhaltliche und sachliche Beratung
dieses wichtigen Gesetzentwurfes im kommenden Jahr.
Den Grünen wünsche ich mit dem Rechtsgutachten und
dem Gesetzentwurf eine schöne und spannende Weih-
nachtslektüre.
Ihnen allen schöne Weihnachten und ein gutes neues
Jahr!
Vielen Dank.
Jetzt spricht die Kollegin Daniela Ludwig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man möchte fast sagen: Und täglich grüßt die Maut.
Gott sei Dank! Ich freue mich darüber. Es ist nicht nur
ein Weihnachtsgeschenk – dieser Vergleich ist heute
schon bemüht worden –, sondern es zeigt, glaube ich,
gerade auch Ihnen: Man kann noch so sehr das Scheitern
herbeireden, wenn wir etwas wollen, dann machen wir
es richtig gut, und wir ziehen es auch durch.
Da kann uns auch ein Brieflein aus Brüssel nicht
schrecken, erst recht nicht, wenn es auf Annahmen ba-
siert, die letztlich mit den beiden Gesetzentwürfen, um
die es gestern im Kabinett ging, nicht allzu viel zu tun
haben. Warum? Ich erwarte von einer Kommissarin, die
die beiden Gesetzentwürfe offenbar nicht kennt
– schade! –, zum einen, dass sie sie möglichst zügig
liest, und zum anderen, dass sie, wenn sie unser Maut-
system als nicht europarechtskonform geißelt, ihre Stan-
dards, die sie an unser geplantes Mautsystem anlegt,
auch an die anderen 22 Mautsysteme in Europa anlegt.
Das sehe ich bislang noch nicht.
Warum? Die Kommissarin kritisiert unsere Monats- und
Tagessätze als unverhältnismäßig hoch im Vergleich
zum Jahressatz. Obwohl schon darauf hingewiesen
wurde, sage ich es erneut: Schauen Sie nach Österreich,
das uns als Vorbild dienen soll. Österreich verlangt für
eine Zehntagesvignette 8,70 Euro. Wir verlangen
10 Euro für ein Straßennetz, das doppelt so groß ist wie
das österreichische. Im nächsten Jahr kann man in Öster-
reich eine Zweimonatsvignette für 25,30 Euro erwerben.
Bei uns wird sie 22 Euro kosten, wie gesagt, für ein dop-
pelt so großes Straßennetz. Während bei uns die Jahres-
vignette durchschnittlich 74 Euro kosten wird, kostet sie
in Österreich rund 85 Euro.
Wenn es um die vermeintliche Diskriminierung von
In- und Ausländern geht, lohnt ein Blick auf die Gebüh-
rentabelle des Felbertauerntunnels; das ist an dieser
Stelle nicht ganz unspannend. Danach beträgt der Nor-
maltarif für Pkws und Wohnmobile 10 Euro. Der Anrai-
nertarif für diejenigen, die in den Bundesländern Tirol,
Kärnten und Salzburg wohnen, liegt bei 8 Euro. Für Ge-
meindebürger beläuft sich der Tarif auf 4 Euro. So viel
zu diesem Thema. Liebe Frau Kommissarin, bevor Sie
sich mit unserem Mautsystem, das im Werden begriffen
ist, auseinandersetzen, schauen Sie sich die bestehenden
Systeme an. Sie werden feststellen: Für alle muss das
Gleiche gelten. Wir sagen: Unser Mautsystem ist richtig,
gerecht und vor dem eben geschilderten Hintergrund erst
recht europarechtskonform.
Ich glaube daher nicht, dass unsere Kollegen in den
Nachbarstaaten, die nun aufschreien und mit Klagen
drohen, gut beraten wären, tatsächlich Klage zu erheben.
Dann muss jeder in seine eigenen Gesetzesbücher
schauen und die Gestaltung der Nutzerfinanzierung
überprüfen.
Jedes Mitgliedsland kann eine Infrastrukturabgabe
einführen und eine entsprechende Nutzerfinanzierung
vorsehen. 22 Mitgliedstaaten haben das bereits getan.
Wir tun es jetzt auch, weil wir uns dazu bekennen, dass
wir mehr Mittel für die Verkehrsinfrastruktur brauchen.
Weil wir diese Mittel nicht einseitig durch die deutschen
Steuerzahler erzielen wollen, wollen wir diejenigen be-
teiligen, die bisher kostenlos fahren, obwohl sie unser
Straßennetz genauso nutzen. Es ist richtig, alle zu betei-
ligen.
Ein weiteres Petitum, das für uns ganz besonders
wichtig ist, ist: Akzeptanz für die Maut gewinnt man
nur, wenn die Einnahmen zweckgebunden sind, das
heißt, wenn die Einnahmen tatsächlich dem Haushalt zu-
gutekommen, der sie am dringendsten braucht, also dem
Haushalt des Verkehrsministers. Dann sehen die Men-
schen: Die Maut, die ich zahle, kommt eins zu eins den
deutschen Straßen zugute und führt zu besserem Asphalt
sowie mehr Lärmschutz und Sicherheit. Deshalb kann
ich Ihnen schlicht und ergreifend nur sagen: Das Kon-
zept ist richtig, europarechtskonform und gerecht.
Es stellt keine Mehrbelastung für deutsche Autofahrer
dar, weil alle zahlen. So machen wir das. Ich freue mich
auf die Beratungen.
Vielen herzlichen Dank.
Jetzt erhält der Kollege Michael Donth als letzter
Redner in dieser Debatte das Wort.
7268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum zweiten Mal
in diesem Jahr gibt es heute im Parlament auf Verlangen
der Grünen eine Aktuelle Stunde zur Infrastruktur-
abgabe. Es handelt sich um eine Debatte, die auf Ge-
rüchten, Mutmaßungen und Zeitungsartikeln, aber nicht
auf Vorlagen oder Fakten beruht. Da wir nur wenige
Tage vom Weihnachtsfest entfernt sind, scheinen sich
die Kolleginnen und Kollegen der Grünen so zu verhal-
ten wie meine kleinen Kinder zu Hause, die den Heiligen
Abend nicht erwarten können und ständig versuchen,
durch Quengeln etwas herauszulocken. Wahrscheinlich
fehlt Ihnen dazu noch, nachdem Stuttgart 21 jetzt erfolg-
reich gebaut wird, ein neues Thema.
Jetzt warten Sie doch einfach den Gang des parlamen-
tarischen Verfahrens ab. Das wäre für alle hier im Hause
viel effizienter.
Gestern wurde das Gesetzespaket im Kabinett verab-
schiedet. In den kommenden Beratungen können Sie
Ihre Argumente zur Sache einbringen, sofern Sie an ei-
ner sachlichen Diskussion und nicht nur an Effektha-
scherei Interesse haben sollten.
Ein Beleg dafür, weshalb man aufgrund von Sachbei-
trägen, von Drucksachen und Vorlagen diskutieren und
sich nicht auf Grundlage von Zeitungsartikeln austau-
schen sollte, ist die schon mehrfach angeführte sloweni-
sche EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc. Ihr wird die
Aussage zugeschrieben – ich habe den Brief nicht gele-
sen –, die Kurzzeitvignetten für Ausländer mit 22 Euro
für zwei Monate und 10 Euro für zehn Tage seien zu
teuer. Was für ein Quatsch. Im Heimatland der Kommis-
sarin, Slowenien, zahlt man für eine Wochenvignette
15 Euro. Das sind also rund 2 Euro pro Tag, und das ist
damit doppelt so viel, wie bei uns mit der Zehntages-
vignette geplant ist.
Offensichtlich ist das in Slowenien EU-rechtskon-
form. Kein Mensch beschwert sich und hält es für EU-
rechtswidrig, wenn ich mit einem kleinen Wagen in
Frankreich für zwei Tage 76 Euro Maut bezahle. Das ist
mir bei einem Kurzbesuch in der früheren Partnerge-
meinde im Val d’Oise bei Paris passiert. Da bin ich über
Straßburg nach Paris und am nächsten Tag mit dem Auto
wieder zurückgefahren. 76 Euro Maut. Im Jahr 2016
würde dagegen der französische Bürgermeisterkollege,
wenn er mit dem Auto zu uns kommt, für die Strecke
Straßburg–Stuttgart und zurück lediglich 10 Euro bezah-
len, aber keine 76 Euro.
Unsere Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ist un-
terfinanziert. Da gibt es, so wie ich das sehe und es jetzt
auch in der Debatte gehört habe, über alle Fraktionen
hinweg großen Konsens. Das sieht auch die EU-Kom-
mission so. Wenn wir heute schon über Zeitungsmeldun-
gen diskutieren, möchte ich auch eine anführen. Ich zi-
tiere:
Die Europäische Kommission begrüßt deshalb die
Einführung oder Ausweitung von Mautsystemen in
einer zunehmenden Zahl von Mitgliedstaaten, da-
runter auch Deutschland.
So der damalige EU-Kommissar Kallas im Interview mit
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am
29. Juni dieses Jahres.
Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat ein schlüs-
siges Paket vorgelegt, wie er mit zusätzlichen Haushalts-
mitteln, mit der schrittweisen Ausweitung der Lkw-Maut
auf alle Bundesstraßen, mit der Ausweitung auf weitere
Lkw-Klassen und zu guter Letzt auch mit der Pkw-Maut
zusätzliche Finanzmittel für die Straßeninfrastruktur ge-
neriert. Damit wird der Bund zum Ende dieser Legisla-
turperiode rund 4 Milliarden Euro pro Jahr mehr für die
Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung haben als zu Be-
ginn und damit präterpropter die Empfehlungen der
Bodewig- oder Daehre-Kommissionen hinsichtlich der
notwendigen Mittel für die finanzielle Ausstattung der
Bundesverkehrswege erreicht haben.
Notwendig ist dann aber, dass die Mittel, die wir hier
bereitstellen, in den Ländern auch verbaut werden, im
Interesse unserer Infrastruktur und im Interesse unserer
Bürgerinnen und Bürger. Daher ist es ein Unding, wenn
der heute schon erwähnte grüne Verkehrsminister
Hermann in meinem Heimatland Baden-Württemberg,
wie 2013 geschehen, bis zu 100 Millionen Euro Bundes-
mittel nicht abruft. Das ist dann im landläufigen Sinn
eine schöne Bescherung.
Vielen Dank und ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/3547
Bevor wir zur Wahl kommen, möchte ich noch darauf
hinweisen, dass wir heute zu den nachfolgenden bei-
den Tagesordnungspunkten sowie zu Tagesordnungs-
punkt 12 mehrere namentliche Abstimmungen durch-
führen werden. Ich bitte Sie, sich darauf einzustellen.
Jetzt kommen wir zur Wahl des Wehrbeauftragten.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD haben auf
Drucksache 18/3547 den Abgeordneten Dr. Hans-Peter
Bartels vorgeschlagen.
Ich möchte Sie jetzt um Ihre Aufmerksamkeit für ei-
nige Hinweise zum Wahlverfahren bitten:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7269
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(B)
Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
sind zur Wahl die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder
des Deutschen Bundestages, das heißt mindestens
315 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauftragte wird
mit verdeckten Stimmkarten, also geheim, gewählt. Sie
benötigen für die Wahl Ihren blauen Wahlausweis, den
Sie, soweit das noch nicht geschehen ist, Ihrem Stimm-
kartenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie,
ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl
gültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag
erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern an den Ausgabetischen hier oben neben den Wahl-
kabinen.
Nachdem Sie die Stimmkarte in einer der Wahlkabi-
nen gekennzeichnet und in den Wahlumschlag gelegt ha-
ben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen hier vor dem
Rednerpult.
Sie dürfen Ihre Stimmkarte – beachten Sie dies bitte;
dies ist wichtig – nur in der Wahlkabine ankreuzen, also
nicht an den Tischen, und Sie müssen ebenfalls noch in
der Wahlkabine die Stimmkarte in den Umschlag legen.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind verpflich-
tet, jeden, der seine Stimmkarte außerhalb der Wahlka-
bine kennzeichnet oder in den Umschlag legt, zurückzu-
weisen. Die Stimmabgabe kann in diesem Fall jedoch
vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei
„Ja“, „Nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind Stim-
men auf nichtamtlichen Stimmkarten sowie Stimmkar-
ten, die mehr als ein Kreuz, kein Kreuz, andere Namen
oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer-
fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der
Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an der
Wahlurne. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.
Ich möchte jetzt die Schriftführerinnen und Schrift-
führer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Das ist, soweit ich das sehen kann, geschehen. Ich er-
öffne die Wahl und bitte, zum Empfang der Stimmkarten
zu den Ausgabetischen zu gehen.
Nur ein kleiner Hinweis: Wir haben zwei Wahlurnen,
die Sie benutzen können. Das beschleunigt das Verfah-
ren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben alle Mitglie-
der des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? – Das ist
offenbar der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die
Sitzung für die Auszählung jetzt für circa 15 Minuten
unterbrechen; ich hoffe, es werden nur 10 Minuten.
Sobald das Auszählungsergebnis vorliegt, wird die un-
terbrochene Sitzung wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der Wahl bekannt:1) abge-
gebene Stimmen 598, ungültig waren keine. Mit Ja ha-
ben 532 gestimmt,
mit Nein haben 38 gestimmt, Enthaltungen gab es 28.
Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages – das
sind 315 Stimmen – auf sich vereinigt. Ich stelle fest,
dass der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels mit der er-
forderlichen Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des
Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.
Ich frage Sie jetzt, Herr Abgeordneter Bartels:
Nehmen Sie die Wahl an?
Jawohl, ich nehme die Wahl an.
Herr Bartels nimmt die Wahl an. – Herr Bartels, ich
möchte Ihnen persönlich, aber auch im Namen des gan-
zen Hauses herzlich gratulieren. Herzlichen Glück-
wunsch und viel Glück für Ihre verantwortungsvolle
Aufgabe!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Ver-
ständnis dafür, dass wir, da wir den ursprünglichen Zeit-
plan schon sehr weit überschritten haben, in der Tages-
ordnung fortfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatz-
punkt 6 auf:
7 – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Entsendung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte am NATO-geführten Einsatz Reso-
lute Support Mission für die Ausbildung,
Beratung und Unterstützung der afghani-
schen nationalen Sicherheitskräfte in Af-
ghanistan
Drucksachen 18/3246, 18/3583
Drucksache 18/3592
1) Anlage 2
7270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan
2014
einschließlich einer
Zwischenbilanz des Afghanistan-Engage-
ments
Drucksache 18/3270
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zu der Beschlussempfehlung, über die wir später
namentlich abstimmen werden, liegt je ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Debatte hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen das Wort. – Frau von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2015
bringt große Veränderungen für Afghanistan, aber auch
für unsere Soldatinnen und Soldaten.
In diesem Sommer hat es zum ersten Mal in der Ge-
schichte des Landes Afghanistan einen Machtwechsel
gegeben, der demokratisch und friedlich war. Es macht
Mut, zu sehen, mit welcher Entschlossenheit, aber offen-
sichtlich auch Geschlossenheit sich jetzt die neue Regie-
rung ans Werk macht. Ich habe am letzten Wochenende
Gelegenheit gehabt, Präsident Ghani zu sprechen. Er hat
mir in unserem Gespräch in Kabul in eindrucksvoller
Weise gezeigt, wie klar er den Weg vor sich sieht, wie ei-
nen Dreiklang: Das Wichtigste für ihn ist die politische
Versöhnung, sowohl nach innen, also innerhalb der Be-
völkerung, als auch nach außen, insbesondere mit Pakis-
tan. Er hat sehr klar gesagt, wie wichtig ihm eine starke
wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist, wissend,
dass Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung eng
miteinander verflochten sind. Außerdem sieht er seine
Aufgabe darin, für eine akzeptable Sicherheitslage zu
sorgen. – Damit stehen Präsident Ghani und das Land
Afghanistan vor einer großen Aufgabe. Sie haben aber
auch die ganz große Chance, die Geschicke dieses Lan-
des in die richtige Richtung zu lenken, und dabei brau-
chen sie unsere volle Unterstützung.
Mit der neuen Resolute Support Mission wird sich
unser Auftrag wesentlich ändern. Es ist kein Kampfein-
satz mehr. Es geht künftig um gezielte Beratung. Wir
sind jetzt dort, wo wir effektiv ausbilden, wo wir klug
beraten, wo wir angemessen unterstützen können. Wir
sind dort, wo wir gebraucht werden, und wir werden ge-
braucht. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben bei
den Wahlen bewiesen, dass sie in der Lage sind, für eine
Sicherheitslage zu sorgen, die Wahlen zulässt. Das heißt,
die Grundfertigkeiten sind da, aber jetzt kommt es da-
rauf an, dass dies zu einem Ganzen geformt wird und
dass die Fähigkeiten dauerhaft verfestigt und vor allem
verfeinert werden.
Ich war im Camp Shaheen, das viele von Ihnen ken-
nen. Dort habe ich General Wesa gesprochen. Er hat
– typisch für Afghanistan – das, was vor uns liegt, die
gemeinsame Aufgabe, mit einem Bild umschrieben: Wir
haben gemeinsam einen Baum gepflanzt, ihn gepflegt
und gehegt, und jetzt ist er groß genug, die ersten
Früchte zu tragen. Aber dieser Baum braucht weiter die
gemeinsame Pflege. – Wenn ich in diesem Bild bleiben
darf: Wir treten bei der Pflege dieses Baumes jetzt ge-
wissermaßen in die zweite Reihe, und die Afghanen sind
in der ersten Reihe.
Sie sagten mir auch, dass schon die bloße Anwesen-
heit unserer Polizistinnen und Polizisten, der Soldatin-
nen und Soldaten wiederum den afghanischen Polizis-
ten, den afghanischen Sicherheitskräften, aber auch der
Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit gibt. Das heißt,
die Afghanen verlassen sich auf uns. Wir haben einen
Ruf zu verteidigen, nämlich den Ruf des zuverlässigen
Partners, und auch den Ruf, dass wir das sorgsam zu
Ende bringen, was wir angefangen haben.
Wo stehen wir nach 13 Jahren ISAF und jetzt im
Übergang? Die Sicherheitslage ist heute wesentlich bes-
ser als noch zu Beginn der Mission, aber sie ist ohne
Zweifel immer noch fragil. Im Augenblick häufen sich
die Anschläge in Kabul. Die Taliban konzentrieren sich
vor allem auf die Hauptstadt. Es geht ihnen darum,
Angst zu schüren und das Vertrauen der Bevölkerung in
die junge Regierung zu desavouieren. Vor wenigen Ta-
gen ist ein deutscher Entwicklungshelfer bei einem per-
fiden Selbstmordattentat in Kabul ermordet worden. Ja,
das ist zweifelsohne die eine Realität dieses Landes.
Aber es gibt eben auch die andere Realität, die ganz
viele hier im Raum kennen: junge motivierte Menschen,
die bereit sind, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen und
ihr Land mit nach vorne zu bringen. Ich hatte die Freude,
zehn junge afghanische Frauen, alle um die 20, kennen-
zulernen, die Rechtswissenschaften in Balkh studieren
und fest entschlossen sind, sich auch in Zukunft für die
Rechte der Frauen und ihres Landes einzusetzen. Es be-
rührt einen, zu sehen, mit welcher Zukunftsfreude und
Entschlossenheit diese jungen Frauen auftreten.
Afghanistan hat die Chance auf eine gute Zukunft,
wenn die politisch Verantwortlichen an einem Strang
ziehen – im Augenblick sind das maßgeblich Abdullah
Abdullah und Ghani –, wenn die Staaten der Region, vor
allem Pakistan, einen Versöhnungsprozess mit Afghani-
stan wagen und wenn wir, die internationale Gemein-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7271
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(C)
(B)
schaft, genügend Ausdauer beweisen, um uns weiter für
dieses Land zu engagieren.
Wir als Bundesregierung sind bereit, in der Diploma-
tie und in der Entwicklungszusammenarbeit unsere Bei-
träge zu leisten. Das gilt für die Polizei, und das gilt auch
für die Bundeswehr. Wir wollen uns in Resolute Support
Mission künftig mit 850 Soldatinnen und Soldaten in
Afghanistan engagieren. Wir werden wie bisher im Nor-
den die Verantwortung übernehmen, und zwar gemein-
sam mit 20 weiteren Nationen. Das Ganze findet grund-
sätzlich „inside the wire“, also in geschützten Anlagen,
statt. Wir werden vor allem für die Speiche Masar-i-
Scharif verantwortlich sein, aber eben auch für Kabul.
Dort werden wir uns im Verteidigungsministerium enga-
gieren. Damit zeigt sich, dass Resolute Support Mission
einen völlig anderen Charakter als ISAF hat. Wir bean-
tragen das Mandat heute für ein Jahr. Dieses Jahr wollen
wir maximal ausnutzen. Das heißt, es geht uns jetzt vor
allem darum, diese Mission breit mit Leben zu füllen.
ISAF war das umfänglichste Engagement des deut-
schen Militärs in der Geschichte der Bundesrepublik.
135 000 Soldatinnen und Soldaten haben in Afghanistan
ihren Einsatz geleistet. 55 Soldaten haben in diesem
Kampfeinsatz ihr Leben verloren, 35 davon sind gefal-
len, und Hunderte sind verwundet an Leib und Seele zu-
rückgekehrt. All denen, die an diesem Engagement be-
teiligt waren, gilt unser ganz hoher Respekt und vor
allem unsere besondere Dankbarkeit.
Auch angesichts dieser Opfer sollte es uns Verpflich-
tung sein, die Mission behutsam und verantwortungsvoll
zu Ende zu bringen. Dafür bitte ich Sie um Unterstüt-
zung.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält Jan van
Aken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rund
um Afghanistan ist hier im Bundestag in den letzten
13 Jahren schon so viel gelogen worden, dass ich es echt
leid bin, und Sie haben genau da weitergemacht, Frau
von der Leyen.
Ich bitte, eine solche Unterstellung zu unterlassen.
Das entspricht nicht dem parlamentarischen Gebrauch.
Frau Präsidentin, ob man die Wahrheit sagt oder
nicht, ist eine faktische Frage.
Ich kann das Faktum, dass sie die Unwahrheit gesagt hat,
hier belegen. Danach würde ich Sie gerne bitten, noch
einmal zu überlegen, ob dieser Einwurf von Ihnen eben
richtig war oder nicht.
Lassen Sie mir jetzt kurz Zeit, die Aussage bezüglich der
Unwahrheit zu belegen. Dann können wir darüber reden,
ob das nun stimmt oder nicht.
Frau von der Leyen hat eben wörtlich gesagt – ich zi-
tiere –: „Es ist kein Kampfeinsatz mehr.“ Genau dieser
Satz entspricht nicht der Wahrheit.
Frau von der Leyen weiß es, und Sie wissen es: In dem
Mandat, über das Sie gleich abstimmen werden,
steht ausdrücklich drin, dass auch Spezialkräfte einge-
setzt werden.
Es steht ausdrücklich drin, dass die deutsche Bundes-
wehr auch in den nächsten Jahren in Afghanistan für
Kämpfe eingesetzt wird, nämlich dann, wenn es um den
Schutz und die Sicherheit anderer Soldaten geht, auch
anderer NATO-Soldaten, auch US-amerikanischer Sol-
daten.
Sie, Frau von der Leyen, und Sie alle hier wissen – auch
ich weiß es –, dass die 9 000 US-amerikanischen Solda-
ten, die weiterhin in Afghanistan bleiben, auch einen
Kampfauftrag haben.
Auf Deutsch heißt das: Wenn NATO-Soldaten oder Bun-
deswehrsoldaten in Kämpfe verwickelt werden, dann
7272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Jan van Aken
(C)
(B)
kann, darf und wird die Bundeswehr eingreifen, zur
Hilfe schreiten und auch in Kämpfe verwickelt werden.
Damit ist das Mandat, das Sie vorgelegt haben, auch ein
Mandat, zu kämpfen. Da waren Sie eben unehrlich, auch
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten.
Herr van Aken, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja.
Bitte.
Generell wäre zunächst einmal meine Bitte im Hin-
blick auf den Begriff „Wahrheit“, die Reden, die Sie in
den letzten Jahren über Afghanistan gehalten haben, mit
der Wirklichkeit zu vergleichen.
Ich finde aber: Noch schlimmer, als die Unwahrheit
zu sagen, ist es, Halbwahrheiten zu verbreiten.
Genau.
Exakt dies haben Sie gerade getan.
Das, was Sie gesagt haben, ist eine Halbwahrheit. In die-
sem Mandat ist von einer Möglichkeit die Rede, die
dann eine Rolle spielt, wenn Menschen in extremer Si-
tuation in Bedrängnis geraten; ich sage das jetzt in mei-
nen Worten und verwende nicht den englischen Begriff.
– Er hat gesagt: Wenn Afghanen kämpfen, dann geht
man einfach raus, um denen zu helfen. – Dann müssten
wir jeden Tag rausgehen, um zu helfen, weil die Afgha-
nen jeden Tag kämpfen.
Dies gibt dieses Mandat, Herr van Aken, aber definitiv
nicht her.
Es geht darum: Kommen zum Beispiel Entwicklungs-
helfer in Bedrängnis, muss man ihnen auch mit Waffen-
gewalt beistehen, damit sie nicht umgebracht werden.
Wir haben letzte Woche in Kabul erlebt, dass 16-jährige
Jugendliche als Selbstmordattentäter missbraucht und
deutsche Entwicklungshelfer, die im dortigen französi-
schen Kulturzentrum Gutes leisten wollten, in die Luft
gejagt wurden. In solchen Situationen sollen die kleinen
Fähigkeiten – es sind ja gar nicht viele Fähigkeiten – im
Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen.
Meine Frage: Wenn eine solche Situation entsteht und
die Bundeswehr mit einer Fähigkeit dort ist – es sind
nicht viele; aber sie hat eine gewisse Fähigkeit –, soll die
Bundeswehr und sollen wir als Politiker dann sagen:
„Nein, wir helfen euch nicht, weil wir das nicht manda-
tiert haben“?
Sind Sie nicht vielmehr der Meinung, dass es klug ist,
für solche Extremsituationen im Interesse der Soldaten
und der Menschen in Bedrängnis auch rechtlich Vor-
sorge zu treffen? Sind Sie nicht der Auffassung, das ist
besser?
Herr Arnold, wenn Sie mich zitieren, dann zitieren
Sie mich bitte richtig.
Ich habe eben auf gar keinen Fall gesagt, dass die Bun-
deswehr irgendwelchen Afghaninnen und Afghanen zu
Hilfe kommt; denn das steht gar nicht im Mandat. In
dem Mandat steht ausschließlich, dass sie anderen Bun-
deswehrsoldaten und anderen internationalen Soldaten
der Resolute Support Mission zu Hilfe kommen wird,
und genau das habe ich auch gesagt. – Das erst einmal zu
den Fakten. Das steht da drin!
Herr Arnold, stellen Sie sich jetzt doch bitte einmal
Folgendes vor: Die Amerikaner, die dort einen Kampf-
auftrag haben und in Kämpfe verwickelt sind, rufen um
Hilfe, und deutsche Spezialkräfte, die Sie gleich manda-
tieren wollen, sind vor Ort. – Sie werden dann natürlich
einschreiten. Sie sagen ja selbst, dass das passieren soll.
Das ist dann auch ein Kampfeinsatz. Es ist einfach falsch
und unwahr, wenn die Ministerin hier sagt, es ist kein
Kampfeinsatz mehr.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7273
Jan van Aken
(C)
(B)
Das ist doch der ganz entscheidende Punkt. Machen Sie
sich doch endlich einmal ehrlich!
Seit 13 Jahren wird über Afghanistan gelogen. Das
fing an mit einem Gerhard Schröder, der hier stand und
sagte: sechs Monate und nur in Kabul. – Wo sind denn
die 55 Soldaten der Bundeswehr gestorben? Wo wurde
gekämpft? In Masar-i-Scharif, in Kunduz und überall.
Nichts davon war wahr – von der ersten Minute bis
heute nicht.
Ich finde es einfach unerträglich, dass, wenn jetzt
Bundeswehrsoldaten zuhören – möglicherweise Bundes-
wehrsoldaten, die in einem Monat dorthin geschickt
werden –, sie von der Ministerin hören, das ist kein
Kampfeinsatz mehr, aber die Wahrheit ist das Gegenteil.
Das geht so nicht!
Von der ersten Stunde vor 13 Jahren an ging es hier
immer so weiter. Sie haben hier die ganze Zeit immer
wieder über Brunnenbau, über Aufbau und über Mäd-
chenschulen geredet, aber keiner hat hier ein Wort über
Krieg, über die ganzen Toten und über das Leid verloren.
Das kam niemals von jemandem von Ihnen.
Ich bin seit fünf Jahren im Bundestag. Seit vier Jahren
höre ich in diesem Hause bei jeder Afghanistan-Debatte:
Ende 2014 wird die Bundeswehr abgezogen, Ende 2014
wird der letzte Bundeswehrsoldat Afghanistan verlassen
haben. – Und was werden Sie in wenigen Minuten ma-
chen? Sie werden weitere 850 deutsche Bundeswehrsol-
datinnen und -soldaten für weitere ein bis zwei Jahre
nach Afghanistan schicken. Das ist einfach das Gegen-
teil von einem Abzug.
Es ist vorprogrammiert, dass dort im nächsten Jahr
auch deutsche Bundeswehrsoldaten in Kämpfe verwi-
ckelt werden. Dazu müssen Sie endlich stehen. Nennen
Sie einen Krieg einen Krieg, und ziehen Sie endlich die
deutschen Soldaten aus diesem Krieg ab!
An einem Punkt finde ich Ihre Unehrlichkeit richtig
beschämend.
Sie haben all den Afghaninnen und Afghanen, die in den
letzten 13 Jahren für Deutschland, für die Bundeswehr,
für die NATO, für die ISAF und für deutsche Entwick-
lungshilfeorganisationen tätig waren, zugesagt, dass sie
hier nach Deutschland in Sicherheit kommen können;
denn sie werden in Afghanistan als Kollaborateure mit
dem Feind – mit der ISAF, mit der NATO, mit Deutsch-
land – bedroht. Sie haben ihnen zugesagt, sie könnten
herkommen. Was müssen wir jetzt erfahren? Ein paar
dürfen kommen, viele andere lehnen Sie aber einfach ab.
Es gibt Menschen in Afghanistan, die für die Bundes-
wehr gearbeitet haben und jetzt mit dem Leben bedroht
werden, und Sie lassen sie hier nicht herein. Wenn Sie
wirklich ehrlich sind, dann lassen Sie alle, die in den
letzten 13 Jahren für Sie gearbeitet haben, hier herein.
Alles andere ist auch eine Unehrlichkeit.
Zur Unehrlichkeit gehört auch, dass fast alle von Ih-
nen die afghanischen Opfer dieses Krieges schlichtweg
ignorieren.
In der letzten Debatte dazu in der letzten Sitzungswoche
haben Sie alle hier der gefallenen deutschen Soldaten ge-
dacht. Frau von der Leyen hat das eben auch getan. Aber
genauso wenig wie Sie alle hier am rechten Rand des
Hauses in der letzten Sitzungswoche
hat auch Frau von der Leyen nicht ein einziges Wort –
nicht ein einziges Wort! – über die afghanischen Opfer
verloren.
Zehntausende Afghaninnen und Afghanen und Tau-
sende internationale Soldaten und Entwicklungshelfer
sind dort gestorben, und ich finde, wir sollten uns aus
diesem Anlass jetzt einen kleinen Moment des Innehal-
tens gönnen
– Sie rufen hier herein: „Das ist unglaublich!“ Wissen
Sie, was ich unglaublich finde? Ich finde es unglaublich,
dass keiner von Ihnen, keiner aus der SPD-Fraktion, kei-
ner aus der CDU/CSU-Fraktion und auch Frau von der
Leyen nicht, es für nötig befindet, auch nur ein einziges
Wort des Gedenkens über die afghanischen Opfer zu sa-
gen.
7274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Jan van Aken
(C)
(B)
Dort sind sehr viele Menschen gestorben, und Sie gehen
einfach darüber hinweg. Das geht überhaupt nicht. Ich
finde das beschämend für dieses Haus.
– Ich habe alle Protokolle gelesen, Herr Arnold.
Herr Arnold, Sie haben der deutschen Soldaten ge-
dacht. Das finde ich richtig. Das tun wir auch.
Herr van Aken, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage
zu?
Ja. – Herr Arnold, ich erwarte von Ihnen, dass Sie
dann auch der Opfer der deutschen Soldaten gedenken,
nicht nur der Opfer unter den deutschen Soldaten.
Die Zwischenfrage lasse ich zu.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Herr van Aken, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass
der internationale Einsatz auf Bitten der afghanischen
Regierung stattgefunden hat?
Ja. Das nehme ich zur Kenntnis. Ich nehme auch zur
Kenntnis, dass der internationale Einsatz damit angefan-
gen hat, dass, bevor der Bundeswehr- und der ISAF-Ein-
satz angefangen haben, die US-Armee einen völker-
rechtswidrigen Krieg in Afghanistan geführt hat. So fing
das Ganze an.
Dann wurde Ende 2001 zur Unterstützung von Kabul die
internationale Mission zum Aufbau beschlossen. Aber
einen internationalen Beschluss zum Kriegführen gegen
die Afghaninnen und Afghanen hat es nie gegeben. Da
haben Sie sich mitschuldig gemacht, auch Sie, Herr Otte.
Ich kann ja verstehen, dass Sie das nicht hören wol-
len. Ich kann ja verstehen, dass Sie sich aufregen; denn
Sie alle haben in den letzten 13 Jahren den Arm geho-
ben. Sie alle haben zugestimmt, dass die NATO dort
Krieg führt gegen die Menschen in Afghanistan.
Auch Sie haben zugestimmt, Herr Omnipour.
Auch Sie sind mit daran schuld, wenn in diesen Tagen
immer wieder junge Menschen den Terroristen in die
Hände getrieben werden.
Herr van Aken, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sie haben die Zeit weit überschritten.
Wurde die Uhr angehalten?
Das habe ich schon dazugelegt.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte.
Waffenexporte finden wir als Linke genauso falsch wie
den Krieg in Afghanistan. Wir werden genauso weiter
dagegen kämpfen wie gegen Ihren Krieg in Afghanistan.
Herr Sarrazin, wünschen Sie eine Kurzintervention?
Verehrter Herr Kollege van Aken, ich schätze Sie per-
sönlich sehr.
– Im persönlichen Umgang ist er eigentlich ein sehr Net-
ter.
Wir haben in der letzten Sitzungswoche eine Debatte
geführt, in der Sie den Herrn Außenminister beschuldigt
haben – ich gebe das wieder –, er sei mitschuldig an den
Toten im Mittelmeer.
Jetzt sagen Sie: Alle, die in den letzten 13 Jahren im
Bundestag gesessen haben, seien mitschuldig an den To-
ten in Afghanistan.
Ich möchte feststellen, dass es auch Abgeordnete im
Deutschen Bundestag gibt, die das immer abgelehnt ha-
ben. Vielleicht sind sie aus Ihrer Sicht auch mitschuldig
an den Toten in Afghanistan. Ich möchte für mich und
für alle meine Kollegen zurückweisen, dass uns persön-
liche Schuld trifft. Außerdem bitte ich Sie, nicht in jeder
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7275
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
Sitzungswoche irgendwelche persönlichen Schuldzu-
weisungen zu machen. Ich kann das nicht mehr ertragen.
Danke.
Ich würde einem Christian Ströbele nie vorwerfen,
dass er persönlich mitschuldig an Toten in Afghanistan
ist. Ich habe das eben auch nicht gesagt.
Ich habe in der vergangenen Woche auch nicht zu Herrn
Steinmeier gesagt, er sei schuld an Toten in Afghanistan.
Ich habe wörtlich gesagt – lesen Sie es nach –: Sie haben
eine Mitschuld. – Auch das habe ich damals begründet.
Ich habe „Mitschuld“ gesagt. Das ist ein ganz großer
Unterschied. Schuld ist etwas anderes. Mitschuld haben
Sie in dem Moment, in dem Sie bestimmte Hilfeleistun-
gen verweigern. Wenn jemand ertrinkt, dann hat derje-
nige, der eine Hilfeleistung verweigert, Mitschuld. Das
ist erst einmal ein Faktum, noch gar kein Vorwurf.
Genauso ist es ein Faktum, dass all diejenigen, die
hier im Bundestag für den Einsatz der Bundeswehr in
Afghanistan gestimmt haben, natürlich auch eine Mit-
schuld an der Verlängerung des Krieges dort haben, ja,
dazu stehe ich, aber natürlich nicht die, die dagegen ge-
stimmt haben: Herr Ströbele nicht, Herr Gysi nicht, ich
persönlich auch nicht. Nein, das weise ich von mir.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es nicht parla-
mentarischem Gebrauch, aber auch nicht der Sache ent-
spricht, wenn hier Kolleginnen und Kollegen, egal ob sie
der Bundesregierung oder dem Parlament angehören, die
Schuld oder Mitschuld am Tod anderer Menschen vorge-
worfen wird.
Das überschreitet die Grenzen der politischen Auseinan-
dersetzung. Ich bitte wirklich darum, dass wir in der
politischen Auseinandersetzung sehr sorgfältig abwägen,
welche Begriffe und welche Worte auch in schwierigen
politischen Debatten benutzt werden. Das sind wir uns
und dem Ansehen des Parlaments schuldig. Das sind wir
aber auch den Menschen in Afghanistan schuldig.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Niels Annen das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch für diese, wie ich
finde, zutreffenden und richtigen Worte. Nach dem Ver-
lauf einer solchen Debatte ist man ein wenig ratlos, wie
es gelingen soll, die Diskussion wieder auf die Men-
schen zu richten, um die es geht, nämlich um die Men-
schen in Afghanistan.
Ich glaube, eines kann man Ihnen zugestehen, Herr
van Aken: Ihnen und Ihrer Fraktion gelingt es seit
13 Jahren, mit gezielten Provokationen eine sachliche
Debatte über die differenzierte Lage in Afghanistan zu
verhindern.
Deswegen kann ich jetzt meine Redezeit darauf verwen-
den, darauf hinzuweisen – das will ich auch gerne tun –,
dass der Krieg, den nicht nur die Amerikaner, sondern
auch wir und eine internationale Gemeinschaft, die
ISAF, geführt haben, auf der Grundlage einer UN-Reso-
lution geführt worden ist und damit keineswegs völker-
rechtswidrig gewesen ist. Das ist übrigens genau das,
was Ihre Fraktion immer einfordert, nämlich internatio-
nales Recht nicht nur einzuhalten, sondern auch durch-
zusetzen.
Trotzdem will ich mich nicht von Ihnen davon abhal-
ten lassen, heute über Afghanistan zu reden. Es ist näm-
lich eine wichtige Debatte, und es ist auch eine Zäsur.
Denn es geht eine Epoche zu Ende. ISAF endet am
31. Dezember dieses Jahres. Es war in der Tat – ich
glaube, das zeigen auch die Debatten, die wir in diesem
Hause geführt haben – ein schwerer Einsatz. Niemand
hier – keine Fraktion und kein Abgeordneter, den ich
kenne – hat es sich über diese Jahre leicht gemacht, we-
der mit der Zustimmung noch, wenn es denn der Fall
war, mit einer Ablehnung oder einer Enthaltung. Es war
niemals eine einfache Entscheidung. Ich glaube, das ist
auch der Grund, weswegen gerade die Menschen in Af-
ghanistan bis heute ein großes Interesse an diesem Ein-
satz haben und ihn unterstützen.
Ich möchte mich dem Dank der Ministerin an die Sol-
datinnen und Soldaten, die Diplomatinnen und Diploma-
ten und die Entwicklungshelferinnen und Entwicklungs-
helfer ausdrücklich anschließen, und ich will auch die
Angehörigen in diesen Dank miteinbeziehen. Denn auch
sie haben einen großen Beitrag zu diesem Einsatz geleis-
tet, und wir müssen an dieser Stelle auch an sie denken.
7276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Niels Annen
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir blicken zurück
auf einen Einsatz, in dem nicht alles gut war und in dem
wir auch Fehler gemacht haben. In vielerlei Hinsicht war
unser Land auf diesen Einsatz nicht vorbereitet. Aber
deswegen ISAF und den Einsatz der internationalen Ge-
meinschaft als komplett gescheitert zu bezeichnen, ist,
glaube ich, der Sache nicht angemessen.
Letzten Endes kann man die Lage in Afghanistan
nicht in Schwarz oder Weiß zeichnen. Das wird keinem
Land gerecht, und gerade dem Land, über das wir reden,
nicht. Wir haben in den letzten Wochen wirkliche Fort-
schritte erlebt. Afghanistan hat den ersten demokrati-
schen Regierungswechsel in der Geschichte des Landes
erlebt. Ist er ohne Makel gewesen? Nein, selbstverständ-
lich nicht. Aber es hat – darauf muss man hinweisen –
einen Regierungswechsel gegeben, bei dem der Präsi-
dent, der amtierende Machthaber, nicht nur die Macht
abgegeben hat, sondern auch im Land geblieben ist, und
zwar unversehrt und bei bester Gesundheit. Das klingt
für uns ganz normal. Aber es ist für Afghanistan eine
einmalige Situation gewesen, und wir haben dazu bei-
getragen. Darauf können wir stolz sein.
Wir können vor allem darauf stolz sein, dass es die af-
ghanischen Sicherheitskräfte waren, die mit unserer Un-
terstützung diesen Wahlgang möglich gemacht und dazu
beigetragen haben, einen Teil einer demokratischen Kul-
tur zu etablieren. Das kann man an dieser Stelle auch
einmal sagen, Herr van Aken. Ich glaube, dabei fällt Ih-
nen kein Zacken aus der Krone.
Ja, es ist richtig: Die Sicherheitslage ist nicht zufrieden-
stellend. Und ja, es ist richtig: Es wird in Afghanistan
gekämpft, fast jeden Tag. Es gibt weiterhin Anschläge,
Unsicherheit und Terrorismus, die das Land nicht zur
Ruhe kommen lassen.
Dennoch halten wir Wort, meine sehr verehrten Da-
men und Herren: Der Kampfeinsatz am Hindukusch en-
det. Für mich ist das eine Gelegenheit, ein wenig Bilanz
zu ziehen.
Es ist doch so, dass der eine oder andere diesen Einsatz
mit der Jahreszahl 2014 schon fast ein wenig abgehakt
hat, nach dem Motto „Afghanistan 2014: ISAF endet –
Endlich sind wir dieses Problem los“.
Ich glaube, das wäre der falsche Ansatz. Wir sollten
nicht den Fehler machen, die Bedeutung Afghanistans
für die Region, aber auch für den Weltfrieden insgesamt
zu unterschätzen. Wir haben in diesem Hause in den
letzten Wochen und Monaten häufig über die Entwick-
lung im Nahen Osten und insbesondere über ISIS disku-
tiert. Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
überall, beispielsweise in Nordafrika und in der Region,
über die wir heute diskutieren, ISIS-Zellen Stück für
Stück Al-Qaida-Zellen übernommen haben und in Pakis-
tan aktiv rekrutieren.
Wenn die internationale Gemeinschaft den Fehler
wiederholen sollte, den sie schon einmal nach dem Ab-
zug der Sowjets gemacht hat, nämlich sich von Afgha-
nistan abzuwenden, dann sage ich Ihnen voraus, Herr
van Aken, dass wir hier noch viel häufiger über Afgha-
nistan diskutieren werden, als Ihnen und uns das recht
sein kann. Mit der Tatsache, dass wir heute über ein
Nachfolgemandat diskutieren und es auf den Weg brin-
gen, senden wir zugleich die Botschaft an die Menschen
in Afghanistan: Wir jedenfalls werden diesen Fehler
nicht wiederholen. Wir lassen euch bei eurer Entwick-
lung nicht alleine.
Es stimmt, die Ziele in Afghanistan waren hochge-
steckt. Vermutlich waren sie zu hoch angesetzt. Ich habe
bereits darauf hingewiesen: Die Sicherheitslage ist ins-
gesamt gesehen weiterhin nicht gut. Es gibt genügend
Konflikte, mit denen wir uns weiterhin auseinanderset-
zen müssen. Afghanistan ist weiterhin eines der ärmsten
Länder der Welt. Es gibt Korruption. Der Drogenanbau
ist nicht eingedämmt. Gewalt gegen Frauen gehört wei-
terhin zum Alltag. Ja, all das ist Realität. Aber wir leug-
nen diese Realität nicht. Ich frage mich manchmal, wo
Sie eigentlich die letzten Jahre gewesen sind, meine
Damen und Herren von der Linken, als hier über Afgha-
nistan diskutiert wurde.
Bedauerlicherweise ist es immer nur der negative Teil
der Bilanz, den Sie heranziehen. Ich finde es wirklich
bedauerlich, dass Afghanistan in unserer Debatte eigent-
lich zu einer Art Projektionsfläche für eine innenpoliti-
sche Diskussion über Pazifismus, Militarismus und vie-
les mehr, über das man legitimerweise diskutieren kann,
geworden ist. Lassen Sie uns darüber diskutieren, aber
deswegen nicht die Augen vor der Wirklichkeit in Af-
ghanistan verschließen! Das wäre der falsche Weg. Wir
brauchen eine realistische Debatte. Diese können wir
auch heute führen.
Zur Realität gehört auch: Die afghanische Gesell-
schaft ist heute eine andere. Sie ist freier, pluraler und
gebildeter. Es gibt eine lebendige Zivilgesellschaft in
Afghanistan, die sich zu Wort meldet. Wollen wir alle
diese Menschen alleinelassen? Das kann ich mir nicht
vorstellen. Es gibt in Afghanistan eine Medienland-
schaft, die ihresgleichen in der Region sucht; darüber ha-
ben wir schon gesprochen. 40 Prozent der Kinder, die in
Afghanistan zur Schule gehen, sind Mädchen. Das hat
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7277
Niels Annen
(C)
(B)
auch etwas mit der Arbeit von ISAF in den letzten Jah-
ren zu tun. Das wird von einem Teil der Opposition auch
anerkannt; darüber freue ich mich. Ich habe das in Ihrem
Entschließungsantrag gelesen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen. Ich bin aber ent-
täuscht darüber, dass die Mehrheit Ihrer Fraktion, wie zu
hören ist, heute gegen dieses Mandat stimmen wird. Wir
sind diesen Weg gemeinsam gegangen, als es schwie-
rigste Entscheidungen zu treffen galt. Dass es ausgerech-
net jetzt, wo es um eine Ausbildungsmission geht, mit
dieser Gemeinsamkeit vorbei sein soll, bedauere ich au-
ßerordentlich.
ISAF war eine außergewöhnliche Mission, die auch
Todesopfer gefordert hat. Die Zusammenstellung, die
Dauer und die Truppenstärke, all das war kompliziert.
Diese Mission hat zu wichtigen Ergebnissen geführt,
aber auch zu Problemen. Das Verhältnis von ISAF zu
OEF war mehr durch ein Gegeneinander als durch ein
Miteinander geprägt. Meine Fraktion hat großen Wert
darauf gelegt, dass die zweite Mission, in deren Rahmen
der Antiterrorkrieg geführt wurde, beendet wurde. In
diesem Zusammenhang möchte ich an die gestrige Dis-
kussion über den Bericht des Kongresses zu den Folter-
methoden erinnern, die auch in Afghanistan angewendet
wurden. Das hat auch unserem Ansehen großen Schaden
zugefügt. Wir haben also genügend Gründe, kritisch und
selbstkritisch auf diese Jahre zurückzublicken. Ich
glaube, dass wir das immer getan haben.
Es war aus meiner Sicht ebenfalls ein Fehler, dass wir
es nicht vermocht haben, zu Beginn des Prozesses alle
Konfliktparteien und Akteure an einen Tisch zu bekom-
men. Es hat Jahre gedauert, bis sich die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass man auch mit den Taliban wird
verhandeln müssen. Es hat zu lange gedauert, bis sich
die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man die regionalen
Mächte an einen Tisch bekommen muss, nicht nur
Pakistan, sondern auch den Iran. Das ist leider immer
wieder – auch am Widerstand der Vereinigten Staaten
von Amerika – gescheitert. Daran müssen wir jetzt wei-
ter politisch arbeiten. Ich glaube, man kann heute sagen:
Deutschland wird sich weiter seiner Verantwortung für
eine gute Entwicklung in Afghanistan stellen.
Es gibt auch einige Lehren, die wir miteinander zie-
hen müssen. Wir reden über die Frage, ob Afghanistan
eine Chance hat. Eine Garantie gibt es dafür nicht. Aber
die neue afghanische Regierung bemüht sich zumindest,
die Fehler, die zum Beispiel Herr al-Maliki im Irak ge-
macht hat, nicht zu wiederholen, und versucht, alle ge-
sellschaftlichen Gruppierungen mit einzubeziehen. Wir
unterstützen sie dabei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das kann man
an dieser Stelle einmal sagen: Es gibt eine Sicherheits-
ratsresolution, die die Resolute Support Mission unter-
stützt. Ich bin unserem Außenminister sehr dankbar da-
für, dass er sich wiederholt und unermüdlich dafür
eingesetzt hat, dass es diese Sicherheitsratsresolution
gibt und dass wir auf dieser Grundlage hier heute ent-
scheiden können.
Ich glaube, man kann auf eines doch einmal hinwei-
sen: Afghanistan – man mag es kaum glauben – war
einst ein friedliches und ein lebenswertes Land. Bis
heute erinnern sich viele Afghanen an diese Zeit, eine
Zeit, in der Afghanistan freundschaftliche Beziehungen
zu Deutschland unterhalten hat. Ich finde, auch wir soll-
ten uns an diese Zeit erinnern.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Tom Koenigs
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich kann bei Herrn Annen gleich anknüpfen: Ja,
wir brauchen einen langen Atem, und wir brauchen ei-
nen kühlen Kopf; denn Afghanistan braucht uns noch
viele Jahre, braucht unsere Unterstützung. Wir haben
Unterstützung in Höhe von 430 Millionen Euro für die
nächsten Jahre zugesagt. Ich würde mir wünschen: auch
darüber hinaus. Ich würde mir auch wünschen, wir könn-
ten die 280 Millionen Euro, die die Resolute Support
Mission kostet, auch für zivile Projekte verwenden.
Denn wir haben die Verantwortung für die Sicherheit
an die afghanischen Sicherheitskräfte abgegeben. Die
nehmen diese Verantwortung jetzt wahr. Und da, wo wir
jetzt mit zivilen Projekten arbeiten, wird sie auch nur
von denen garantiert und nicht von Kräften der Resolute
Support Mission.
Die Afghanen brauchen unsere Unterstützung und un-
sere Projekte, aber als Softpower, nicht als militärische
Kraft, nicht mehr als militärische Kraft. ISAF ist zu
Ende. Dieses ist kein Fortsetzungsmandat, sondern die-
ses ist ein neues Mandat, ein neues Mandat ohne abseh-
bares Ende. Man weiß nicht, wo das hingeht. Das erin-
nert uns an die Jahre 2002/2003. Da war das auch kein
Kampfmandat, kein Kriegsmandat. Wo geht das hin?
Der letzten Mission, ISAF, haben viele von unserer
Fraktion zugestimmt, weil es das Exitmandat war, es
eine Exitstrategie gab. Die gibt es hier leider nicht. Hier
gibt es keine Beschränkung.
7278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Tom Koenigs
(C)
(B)
Jetzt heißt es immer, das sei aber ein Ausbildungs-
mandat, als ob man dann auch schnell weg könnte. Die
Ausbildung ist aber der allerkleinste Teil. Es werden
– wenn man genau hinsieht, stellt man das fest – nur
100 Leute zur Ausbildung verwendet, davon 40 zur Aus-
bildung der Polizei. Jeder weiß, dass die Polizei besser
durch die Polizei ausgebildet wird.
Dafür haben wir EUPOL, für die wir dringend Leute
brauchen. Dafür haben wir das deutsche Polizeiprojekt
GPPT, das auch zusätzliche Leute brauchen könnte. Für
die 50 Militärausbilder, die wir dann vielleicht noch
brauchen, könnte man ein ganz anderes Mandat konzi-
pieren. Wir werden im Januar über so ein Mandat, ein
kleines Ausbildungsmandat, für die Peschmerga disku-
tieren.
In Wirklichkeit geht es um etwas anderes – das steht
auch in dem Mandat –, nämlich um die Aufrechterhal-
tung des Camp Marmal, des Riesenmilitärstützpunktes
im Norden Afghanistans. Nun haben die Vereinigten
Staaten ein Konzept der Stützpunkte, die sie aus geopoli-
tischen Gründen dort brauchen. Wir brauchen die nicht.
Wir sind auch nicht Teil dieser geopolitischen Strate-
gie. Aber in dem Mandat steht, dass wir das durch den
Betrieb des Flughafens unterstützen. Was? Special Ope-
rations, die wir nicht wünschen. Drohnen? Vielleicht
auch. Capture-and-kill-Aktionen? Es steht in der Verein-
barung sowohl der Amerikaner als auch der NATO mit
den Afghanen, dass das nicht passiert. Passiert aber
doch. Stand immer drin – passiert aber doch, wird auch
weiter passieren. Und natürlich CIA. Wollen wir da mit-
helfen? Wenn die Amerikaner das unbedingt brauchen,
warum betreiben sie dann diesen Stützpunkt nicht zu-
sammen mit den Afghanen? Warum müssen wir da noch
der Pudel sein, der das macht?
Ich möchte einen letzten Punkt anführen. Im Jahre
2007, als sich der Konflikt verschärfte und wir zu Recht
von Krieg gesprochen haben, haben wir uns – „wir“ war
damals auch ich in der zivilen Mission der Vereinten
Nationen UNAMA – darum gekümmert, dass etwas ge-
gen die Kollateralschäden, gegen die zivilen Opfer von
kriegerischen Auseinandersetzungen, gemacht wird,
dass darauf geachtet wird, dass darüber berichtet wird,
dass daran zusammen gearbeitet wird.
Das ist dann natürlich in das Mandat von UNAMA
eingeflossen, aber auch in das Mandat von ISAF. In dem
Mandat für die Resolute Support Mission vom UN-
Sicherheitsrat findet sich davon nichts mehr. Darin gibt
es keine Zusammenarbeit mit der zivilen Mission der
Vereinten Nationen und auch keinen Fokus auf das, wo-
rüber wir doch so viel geredet haben, Stichwort „Kolla-
teralschäden“. Den ganzen Kunduz-Untersuchungsaus-
schuss befasste das; immer wieder haben wir uns darum
gekümmert. Es gab sogar einen General der ISAF,
McChrystal, der das für kurze Zeit ganz ins Zentrum
gerückt hat. Das ist eine politisch immens wichtige Ge-
schichte, die wir nicht einfach außen vor lassen wollen.
Aus diesem und aus vielen anderen Gründen hat sich
die Mehrheit unserer Fraktion entschlossen, diesem
Mandat nicht zuzustimmen. Es gibt Einzelne, die aus
Gewissensgründen sagen: Wir stimmen dennoch zu. –
Ich respektiere das sehr, weil ich lange Zeit in der Posi-
tion war, nur mit umgekehrter Konnotation.
Letzten Endes glaube ich, dass diese Mission zur Si-
cherheit in Afghanistan nichts beitragen wird,
dass sie für die symbolische Präsenz die falschen Signale
gibt. Ich möchte, dass wir als Softpower in Afghanistan
engagiert bleiben, mit 430 Millionen Euro und am bes-
ten auch den 280 Millionen Euro jährlich, die Sie für das
Militär brauchen, für ziviles Engagement.
Danke sehr.
Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast auf den Tag genau 13 Jahre nach dem Petersberger
Abkommen geht die Entwicklung Afghanistans in eine
entscheidende neue Phase. Im Rahmen der beendeten
ISAF-Mission war die Bundeswehr mit insgesamt
135 000 Einsätzen in Afghanistan beteiligt, darunter
auch das Lazarettregiment 21 aus Rennerod in meinem
Wahlkreis. Unser Dank gilt deshalb zuerst allen Solda-
tinnen und Soldaten der Bundeswehr, den Mitgliedern
der Bundespolizei, den zivilen Mitarbeitern und ihren
Angehörigen; denn ohne sie und ihr unermüdliches En-
gagement stünde Afghanistan heute nicht dort, wo es ist.
Natürlich denken wir dabei besonders an die 55 Solda-
ten, die in diesem Einsatz ihr Leben verloren haben.
Nach 13 Jahren bleibt festzuhalten: Wir haben dieses
Land und seine Menschen weder dem Chaos noch der
Schreckensherrschaft der Taliban überlassen. Wenn die
Linke in ihrem Entschließungsantrag heute so tut, als sei
der ISAF-Einsatz die Ursache aller Probleme in Afgha-
nistan, dann zeigt das nicht nur einmal mehr ihre Wirk-
lichkeitsverweigerung und ideologische Verblendung,
sondern es ist auch eine unerträgliche Herabsetzung un-
serer Soldaten.
Wir schulden allen, die sich für das Land engagiert
und eingesetzt haben, dass Afghanistan mit dem Ende
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7279
Dr. Andreas Nick
(C)
(B)
von ISAF nicht erneut ins Chaos zurückfällt. Die Ent-
wicklung im Irak hat uns doch gerade gezeigt, welche
Folgen ein allzu übereilter Abzug aus der Verantwortung
haben kann.
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Erstmals hat
in diesem Jahr eine demokratisch gewählte Regierung in
Kabul die Verantwortung für das Land – bei allen damit
verbundenen Schwierigkeiten – an eine ebenfalls demo-
kratisch gewählte Nachfolgeregierung übergeben. 2015
beginnt eine neue Dekade der Transformation in Afgha-
nistan mit dem eindeutigen Schwerpunkt auf zivilen und
entwicklungspolitischen Zielen. Das heißt auch: Die
afghanischen Sicherheitskräfte müssen die Verantwor-
tung für die Sicherheit im Land künftig selbst überneh-
men. Dabei werden wir sie aber auch in Zukunft unter-
stützen. Die militärische Nachfolgemission Resolute
Support ist deshalb auch kein Kampfeinsatz mehr, son-
dern im Kern eine unterstützende Ausbildungs- und
Trainingsmission.
Aber täuschen wir uns nicht: Wir werden in Afghanis-
tan einen langen Atem brauchen, damit dort der Über-
gang hin zu einem langfristig stabilisierten Staat gelin-
gen kann. Dazu gehört auch verstärktes wirtschaftliches
Engagement für dieses Land. 65 Prozent der Bevölke-
rung in Afghanistan sind unter 25 Jahre alt. Diese jungen
Menschen brauchen für ihr Leben auch eine persönliche
und berufliche Perspektive in ihrer Heimat. Wahr ist
auch, dass 80 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes
heute noch von der internationalen Gemeinschaft finan-
ziert werden, ein dauerhaft nicht haltbarer Zustand.
Unser Engagement in Afghanistan hat aber auch Be-
deutung über das Land hinaus; denn eine erneute Desta-
bilisierung hätte unmittelbare Konsequenzen für die ge-
samte Region, vor allem für das Nachbarland Pakistan.
Der Bürgerkrieg in Syrien hat uns doch gezeigt, wie illu-
sorisch die Vorstellung ist, solche Konflikte auf ein Land
begrenzen und in ihren Auswirkungen isolieren zu kön-
nen. Der am Dienstag verübte menschenverachtende
Anschlag auf eine pakistanische Schule in Peschawar
zeigt im Übrigen eindringlich, wie akut die Bedrohungs-
lage in der gesamten Region weiterhin ist.
Auch für uns in Deutschland gilt: Die Erfahrungen in
Afghanistan haben unsere Sichtweise auf militärische
Auslandseinsätze nachhaltig verändert. Es ist richtig:
Militäreinsätze allein beseitigen keine Konflikte, aber
der militärische Beitrag ist dort zentral, wo es zunächst
einmal darum geht, Sicherheit wiederherzustellen oder
zu gewährleisten sowie lokale Sicherheitskräfte auszu-
bilden. Aber dauerhaft werden sich Konfliktursachen
nur mit einem breiten Ansatz von nachhaltiger Entwick-
lung, vernetzter Sicherheit und ziviler Krisenprävention
erfolgreich beseitigen lassen.
Zur politischen Bewertung gehört daher auch eine
kritische Überprüfung, was die verschiedenen Einsätze
gebracht haben und was man für die Zukunft daraus ler-
nen kann – bei der Zieldefinition ebenso wie bei der Ge-
wichtung der eingesetzten Instrumente. Damit schaffen
wir auch die notwendige Grundlage für eine ausreichende
strategische Tiefe bei möglichen künftigen Einsätzen. Nur
so werden wir es auch erreichen, die strategischen Erfor-
dernisse künftiger Missionen unseren Bürgerinnen und
Bürgern plausibel zu vermitteln. Bei diesen Aufgaben
kann und muss der Prozess zur Erstellung eines neuen
Weißbuchs einen wichtigen Beitrag leisten.
Gestatten Sie mir ein persönliches Wort zum Schluss.
Ursprünglich war ich heute nicht als Redner in dieser
Debatte vorgesehen;
denn eigentlich hätte für meine Fraktion unser geschätz-
ter Freund und Kollege Andreas Schockenhoff hier ste-
hen sollen. Auch in den Fragen unseres Engagements in
und für Afghanistan hat er die außenpolitische Debatte
in Deutschland maßgeblich mitgeprägt. Seinem enga-
gierten Wirken in dieser Frage bleiben wir auch mit un-
serer heutigen Entscheidung verpflichtet.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Lieber Andreas! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! So kurz vor Weihnachten fällt
leider der Rückblick auf das Jahr 2014, zumindest au-
ßen- und sicherheitspolitisch, nicht so aus, wie wir uns
das am Anfang des Jahres vorgestellt bzw. gewünscht
haben. Das nun fast vergangene Jahr ist gekennzeichnet
von einer deutliche Zunahme internationaler Konflikte,
dem reihenweisen Zerfall von staatlichen Strukturen, is-
lamistischem Terror und unvorstellbaren Flüchtlings-
strömen.
Neben der besorgniserregenden Krise mit der Russi-
schen Föderation und dem anhaltenden Bürgerkrieg in
Syrien verbreitet vor allem die Terrororganisation „Isla-
mischer Staat“ Gewalt und Schrecken in barbarischem
Ausmaß. Die vielerorts enttäuschten Hoffnungen des
Arabischen Frühlings, vor allem die verheerende Lage in
Libyen und in der Sahelzone, zeigen uns, welche großen
Gefahren das Versinken ganzer Regionen in Chaos und
Anarchie auch für uns in Deutschland und in Europa mit
sich bringt.
Angesichts dieser Entwicklungen, die uns in vielerlei
Hinsicht auch direkt betreffen, ist es heute gar keine
Frage mehr, ob wir mehr Verantwortung in der Welt
übernehmen sollen und wollen. Wir müssen es, und wir
tun es bereits. Gemeinsam mit unseren Partnern ist deut-
sche Diplomatie, deutsche humanitäre Hilfe und Ent-
wicklungshilfe sowie der Einsatz deutscher Sicherheits-
kräfte notwendiger denn je. Deutschland geht dabei
besonnen und konsequent mit diesen vielen Herausfor-
7280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Florian Hahn
(C)
(B)
derungen um. Das ist Bundeskanzlerin Merkel und ihren
Ministern Ursula von der Leyen, Gerd Müller und
Frank-Walter Steinmeier zu verdanken. Dafür möchte
ich ihnen an dieser Stelle ausdrücklich danken.
Mittlerweile gibt es allerdings so viele Konfliktherde,
dass unser größter Einsatz in den letzten Monaten in der
Öffentlichkeit fast in Vergessenheit geraten ist: Das ist
unser Einsatz in Afghanistan. Hier übernehmen wir be-
reits seit 13 Jahren Verantwortung in großem Umfang.
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben einen außeror-
dentlichen Beitrag für das afghanische Volk geleistet und
sich für die Stabilisierung dieses Landes eingesetzt, da-
mit eben Unterdrückung aufhört, damit das Sterben auf-
hört. Das ist auch Ziel unseres Einsatzes.
Wir haben dabei 55 Soldaten verloren. Viele sind
traumatisiert aus dem Einsatz zurückgekehrt. Längst ist
klar, dass es sich in Afghanistan keineswegs um eine un-
gefährliche Mission handelte. Ich möchte unseren Solda-
tinnen und Soldaten und auch allen zivilen Helferinnen
und Helfern deshalb an dieser Stelle für ihren Einsatz
noch einmal ausdrücklich danken.
Der Einsatz war bisher nicht umsonst. Heute konnte
beispielsweise durch die afghanischen Sicherheitskräfte,
die wir ja ausgebildet haben, ein 13-jähriger Selbstmord-
attentäter gestellt und verhindert werden, dass er den
Selbstmord vollzieht und die Bombe zündet – dank un-
serer Ausbildung! Mehr Menschen als jemals zuvor ha-
ben heute Zugang zu Wasser und zu Strom, zu ärztlicher
Versorgung und zu Bildung. Diese Erfolge wollen und
dürfen wir nicht einfach vom Tisch wischen.
Zu einer ehrlichen Bilanz gehört es auch, sich einzu-
gestehen, dass nicht alles optimal war. Natürlich haben
wir auch Fehler gemacht. Aus diesen Fehlern haben wir
bereits gelernt. Mittlerweile haben wir beispielsweise
den Grundsatz, immer erst die Ordnungskräfte vor Ort
oder die Partnerländer in den Problemregionen der Welt
zu ertüchtigen. Wichtig ist nun, dass wir unsere Verant-
wortung, die wir 13 Jahre lang in Afghanistan übernom-
men haben, nicht abrupt beenden.
Wenn unser Einsatz für die genannten Errungenschaf-
ten nicht umsonst sein soll, müssen wir den endgültigen
Abzug den Bedingungen und Entwicklungen im Land
anpassen. Es muss klar sein, dass wir die afghanische
Armee in der immer noch gefährlichen Sicherheitslage
nicht alleinlassen. Wir sehen in Mali und wohl am ein-
drucksvollsten im Irak, was dies bedeuten kann. Es wäre
fatal, Afghanistan nun einfach sich selbst zu überlassen.
Wir dürfen den Einsatz nicht vorschnell beenden, und
auch die Entwicklungshilfe muss weiterlaufen. Auch der
Weg der Aussöhnung mit Pakistan, den der neue Präsi-
dent Ashraf Ghani beschreitet, muss unterstützt werden.
All das ist der großen Mehrheit in diesem Hause zum
Glück bewusst. Aber bei den Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen – das betrübt mich schon nach den vie-
len Jahren – herrscht jetzt große Verwirrung: Ja – Nein –
Enthaltung. Das ist kein sehr souveräner Auftritt und
zeichnet kein sehr souveränes Bild bei einer solch wich-
tigen Frage. Ein großer Teil von Ihnen möchte offen-
sichtlich so schnell wie möglich raus aus Afghanistan,
koste es, was es wolle.
Was ein überstürzter Totalabzug aber kosten würde, ist
klar: Ein zweiter Irak wäre möglicherweise die Folge.
Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen auf: Stehlen Sie sich nicht aus der Verantwor-
tung für Afghanistan! Hören Sie lieber auf Ihren Partei-
chef Özdemir, der in der taz mit folgenden Worten zitiert
wird:
„Es gibt nicht nur eine Verantwortung, wenn man
reingeht, sondern auch beim Rausgehen.“ Und: Af-
ghanistan dürfe nicht „zum neuen Irak werden.“
Recht hat er an dieser Stelle.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 18/3583 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Betei-
ligung am NATO-geführten Einsatz Resolute Support
Mission für die Ausbildung, Beratung und Unterstüt-
zung der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte in
Afghanistan.
Mir liegen eine Reihe von Erklärungen zur Abstim-
mung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Ent-
sprechend unseren Regeln nehmen wir diese zu Proto-
koll.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache
18/3246 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Be-
schlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte alle Kolle-
ginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe sorgfältig
darauf zu achten, dass die Stimmkarte, die Sie verwen-
den, Ihren Namen trägt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Es fehlen noch
Schriftführerinnen und Schriftführer, sowohl aus den
Reihen der Opposition wie aus den Koalitionsfraktionen.
Ich bitte um ein Zeichen, wenn alle Schriftführerinnen
und Schriftführer ihren Platz gefunden haben.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung.
1) Anlagen 4 bis 6
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7281
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)
Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit wir die folgen-
den Abstimmungen durchführen und vor allen Dingen
die Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei feststellen kön-
nen.
Meine Bitte, die Plätze einzunehmen, richtet sich so-
wohl an die Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen
als auch an die Mitglieder der Bundesregierung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3589. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3590. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 18/3270 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall, dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich bitte jetzt all die Kolleginnen und Kollegen, die
unseren Beratungen leider nicht weiter folgen können
oder wollen, aber noch in lockeren Gesprächsgruppen
im Plenarsaal verteilt sind, ihre Gespräche nach draußen
zu verlagern. Diese Bitte richtet sich wiederum an alle
Fraktionen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführ-
ten Operation ACTIVE ENDEAVOUR im
Mittelmeer
Drucksachen 18/3247, 18/3584
Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3593
1) Ergebnis Seite 7282 C
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
Werte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men! Meine sehr verehrten Herren! Als am 12. Septem-
ber 2001 Bundeskanzler Gerhard Schröder von genau
dieser Stelle aus die uneingeschränkte Solidarität der
Bundesrepublik Deutschland den Vereinigten Staaten
von Amerika versicherte, war dies, sicherheitspolitisch
gesehen, ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste
Moment der letzten 65 Jahre, in dem sich unser Land,
Deutschland, klar und unmissverständlich zu seinen
Bündnispartnern, zu seinen internationalen Verpflichtun-
gen bekannte. Es war das richtige Signal am Tag danach,
als wir, das gesamte Nordatlantische Bündnis, ja die
ganze Welt, den Atem unter dem Schock der Bilder aus
New York und Washington anhielten: ein Terroran-
schlag, dessen Ausmaß und Folgen auch heute noch
nachhallen.
Eine dieser Folgen, meine Damen und Herren, ist die
Operation Active Endeavour im Mittelmeer, geführt von
der NATO. Seit nunmehr 13 Jahren leisten die Soldatin-
nen und Soldaten ihren Beitrag zur Terrorismusabwehr
auf See; ein präventiver Ordnungsfaktor, der die Sicher-
heit im Mittelmeerraum verbessert und uns jederzeit ein
zuverlässiges Lagebild liefert.
Doch 9/11 darf nicht auf ewig als Begründung für die-
sen Einsatz gelten: nicht mehr als Bündnisfall nach Arti-
kel 5 des Nordatlantikvertrages und demnach nicht mehr
als Recht zur kollektiven Selbstverteidigung im Sinne
des Artikels 24 Absatz 2 des Grundgesetzes. Wir Sozial-
demokraten sagen dies schon lange. Jedoch so wie Gerd
Schröder 2001 die heute so oft beschworene Rolle
Deutschlands in der Welt über- und auch auf sich nahm,
wie er Solidarität mit dem amerikanischen Volk übte, so
liegt es auch heute wieder in unserem Auftrag, in unserer
Verantwortung, über die Zukunft dieser Mission nachzu-
denken – in Verantwortung gegenüber unseren Partnern,
noch mehr in Verantwortung gegenüber unseren Solda-
tinnen und unseren Soldaten.
Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist müßig, da-
rüber zu diskutieren, ob die bis letztes Jahr 30 Soldatin-
nen und Soldaten im Einsatz oder die theoretisch mög-
lichen 500 in einer konkreten oder abstrakten
Bedrohungssituation sind. Fakt ist: Ihnen allen gegen-
über haben wir die Verpflichtung, klar und deutlich in
diesem Haus zu sagen, für welche Art des Einsatzes wir
sie ins Mittelmeer entsenden. Und, meine Damen und
7282 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Karl-Heinz Brunner
(C)
(B)
Herren, um keine Missverständnisse aufkommen zu las-
sen: Artikel 5 und die kollektive Selbstverteidigung zie-
hen bei genauer Betrachtung nicht mehr. Daraus jedoch
den Schluss zu ziehen, den manche ziehen, indem sie
„Aus! Schluss! Vorbei!“ folgern, wäre falsch. Schließ-
lich wollen wir Sicherheitspolitik gestalten.
Zu glaubhafter Sicherheitspolitik gehört auch, den
einmal ausgelösten Bündnisfall nach Artikel 5 auch wie-
der ruhen lassen zu können. Diese aktive Rolle nimmt
Deutschland wahr, nach innen und gegenüber unseren
Partnern, wenn sich unser Außenminister Frank-Walter
Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen für die längst überfällige Entkoppelung von Ac-
tive Endeavour und Artikel 5 einsetzen.
Dass dies nicht von heute auf morgen geht, ist selbst-
verständlich. Einen Konsens bei vielen Mitgliedstaaten
herbeizuführen, wird immer intensive diplomatische An-
strengungen erfordern. Deshalb freue ich mich, zu hö-
ren, dass sich sowohl Frankreich als auch die USA in
diesem Punkt bewegen. Auch die Fortschritte beim
NATO-Summit im September in Wales belegen, dass di-
plomatische Bemühungen Deutschlands um eine Ent-
koppelung nicht ergebnislos verhallen; denn der Einsatz
selbst ist mit der richtigen Begründung und Rechtslage
– Routineaufgaben der Luftüberwachung und Aufklä-
rung – durchaus zu begrüßen. Er ist wichtiger Teil euro-
päischer, ja transatlantischer Sicherheitspolitik.
Meine Damen, meine Herren, gerade die schwierige
Situation der Mittelmeeranrainer unterstreicht, dass wir
Lage und potenzielle Gefahr nicht unterschätzen sollten.
Der Nahe Osten spricht soeben seine eigene Sprache.
Deshalb wünsche ich – vielleicht begünstigt durch den
Advent, die Vorweihnachtszeit und das neue Jahr –
Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen viel
Glück und Erfolg im Werben um ein neues juristisch
sauberes Fundament für diese Mission der Sicherheit.
Ich möchte an die Adresse von Frank-Walter Steinmeier
und Ursula von der Leyen auch sagen: Halten Sie diesen
Druck aufrecht mit dem Rückenwind und der Unterstüt-
zung aus diesem Hohen Haus. Die Unterstützung der
SPD haben Sie.
Wir haben als Bundesrepublik Deutschland die Ope-
ration Active Endeavour vor 13 Jahren gemeinsam mit
unseren Partnern begonnen, und wir werden sie nicht
ohne unsere Partner beenden. Dies ist Ausdruck von
Verlässlichkeit, dies ist das Signal, das wir aussenden,
wenn wir heute einer – hoffentlich letzten – Verlänge-
rung von Active Endeavour im Kleide des alten Mandats
zustimmen. Hierfür hat die Bundesregierung meine Un-
terstützung und die der SPD.
Herzlichen Dank.
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-
telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung be-
kannt: abgegebene Stimmen 593. Mit Ja haben 473 Kol-
leginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 102; 18
haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist da-
mit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 592;
davon
ja: 472
nein: 102
enthalten: 18
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7283
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
7284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck
Dieter Janecek
Nicole Maisch
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Manuel Sarrazin
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Norbert Schindler
SPD
Klaus Barthel
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
Markus Paschke
Dr. Wilhelm Priesmeier
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck
Agnieszka Brugger
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Christian Kühn
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Lisa Paus
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Enthalten
SPD
Swen Schulz
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Oliver Krischer
Renate Künast
Dr. Tobias Lindner
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Tabea Rößner
Elisabeth Scharfenberg
Kordula Schulz-Asche
Markus Tressel
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7285
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Nun hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Hoffentlich ist es das letzte Mal, hat Herr Brunner ge-
sagt. Schauen wir elf Monate zurück, da haben wir hier
so etwas Ähnliches schon einmal gehört. Wir tauschen
jetzt wieder die gleichen Argumente aus, wie wir sie vor
elf Monaten schon einmal ausgetauscht haben – leider,
muss ich sagen.
Wir hielten den Einsatz – anders als Herr Brunner, die
CDU/CSU, die FDP, die Grünen und die SPD – von An-
fang an für falsch, weil es im Mittelmeer keine Terrorge-
fahr gab und gibt. Aber nach der Debatte, die wir vor elf
Monaten geführt haben, hatte ich die Hoffnung, dass das
die letzte Abstimmung darüber gewesen ist.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier selbst hat
uns da Hoffnung gemacht. Er hat vor elf Monaten –
durchaus folgerichtig, weil er früher als Oppositionsfüh-
rer zusammen mit den Grünen und unserer Fraktion be-
reits gegen das Mandat, über das wir hier reden, ge-
stimmt hatte – gesagt:
Der Bündnisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre
nach 9/11, nicht mehr dauerhaft tragfähige Rechts-
grundlage sein …
Da hat er recht.
Niels Annen, der hier vor elf Monaten für die SPD-
Fraktion gesprochen hat, hat sehr deutlich gesagt:
Wir stimmen … in der Erwartung zu, dass die Bot-
schaft, die wir ausgesandt haben, aufgegriffen wird,
dass die doch relativ kurze Zeit der Mandatierung
– elf Monate – dafür genutzt wird, in der NATO da-
für zu sorgen, dass dieser neue politische Konsens
Gestalt annimmt, und dass wir gemeinsam mit un-
seren Bündnispartnern ein neues Mandat ohne den
Bezug auf Art. 5 erreichen können.
Auch der Kollege Beyer von der CDU/CSU-Fraktion
hat vor elf Monaten in diese Richtung argumentiert. Er
hat darauf hingewiesen, dass die NATO im vergangenen
Jahr auf deutsche Initiative hin
eine Option eröffnet hat, OAE perspektivisch in
eine nicht durch Artikel 5 gestützte Operation zu
überführen.
Weiter sagte er vor elf Monaten:
Die aktuelle Verlängerung des Mandats unter den
geänderten Bedingungen stellt damit eine Über-
gangslösung dar. Sie ist ein wichtiger Schritt in dem
Prozess zur Weiterentwicklung der Operation Ac-
tive Endeavour.
„Übergang“? „Weiterentwicklung“? – Heute soll der
Bundestag exakt das Gleiche beschließen, was er vor elf
Monaten beschlossen hat. Das ist doch absurd.
Das Stichwort, das Sie hier geben, Herr Brunner, lau-
tet „Bündnistreue“. Sie sagen, deshalb könne man nicht
einfach aus der Mission aussteigen. Ich möchte Sie da-
ran erinnern, dass die ebenfalls im Jahr 2001 mit Bezug
auf den Terroranschlag gestartete Operation Enduring
Freedom die gleichen Terroristen im gleichen Bündnis
bekämpfen sollte. Nachdem SPD, Linke und Grüne es
verlangt haben, hat die Bundesregierung die deutsche
Beteiligung daran im Jahr 2010 beendet. Wer A sagt, der
muss auch B sagen. Also beenden Sie heute diesen über-
flüssigen Auslandseinsatz!
Ich will es ganz klar sagen: Es geht uns nicht einfach
um ein Entkoppeln. Wir möchten, dass der Kampf gegen
die imaginären Terroristen beendet wird. Sie wissen sel-
ber, dass es absurd ist. Wir haben am Mittwoch im Aus-
wärtigen Ausschuss darüber gesprochen. Der Außen-
minister hat es auch zugegeben. Geben Sie sich einen
Ruck! Stimmen Sie heute dem Antrag von Bündnis/Die
Grünen zur Beendigung des Mandats zu! Wir werden es
tun, weil es das einzig Sinnvolle ist.
Wenn Sie gern im Mittelmeer etwas tun wollen, hätte
ich einen Vorschlag für Sie. Anders als imaginäre Terro-
risten gibt es dort nämlich ein reales Problem, das Sie
anpacken können. Statt mit der britischen Royal Navy
Übungen abzuhalten, retten Sie doch lieber die Leben
der Tausende an Flüchtlingen, die täglich versuchen, das
Mittelmeer zu überqueren!
Gehen Sie ein neues Bündnis ein, mit Italien und weite-
ren EU-Staaten, nutzen Sie die Mittel aus dem überflüs-
sigen Bundeswehreinsatz und beginnen Sie eine wirklich
wichtige Mission! Ob Sie die Operation dann „Mare
Nostrum“ oder „Operation Enduring Life“ nennen, über-
lassen wir Ihnen.
Vielen Dank.
Der Kollege Philipp Mißfelder hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Liebich hat schon recht, wenn er sagt
– bitte nicht zu früh freuen –, dass es sich um eine Über-
gangszeit handelt. Auch der Kollegen Beyer hat das in
seiner Rede im vergangenen Jahr deutlich gemacht. Wir
hätten gerne heute hier den Vollzug unserer Bemühun-
7286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Philipp Mißfelder
(C)
(B)
gen gemeldet, aber im Bündnis ist das nicht so einfach.
Ich kann Ihnen aber schon heute sagen, dass die Signale,
die die Amerikaner innerhalb des Bündnisses ausgesen-
det haben, uns Grund zu der Annahme geben, dass wir
eine neue Rechtsgrundlage für das Mandat bekommen;
darauf hat der Kollege Brunner eben hingewiesen.
Nach Abwägung des Schadens, den man durch eine
Verlängerung der Übergangsfrist möglicherweise verur-
sacht, stelle ist fest, dass wir beruhigt empfehlen können,
dem Mandat zuzustimmen. Ich sehe das nicht als großen
Schaden an, wenn wir die derzeit geltende Begründung
weiterhin als Grundlage heranziehen, wissend, dass wir
das, was wir inhaltlich tun, für richtig halten, und wis-
send, dass wir bei der rechtlichen Absicherung schon
jetzt Fortschritte gemacht haben. Hoffentlich können wir
im nächsten Jahr im Deutschen Bundestag entspre-
chende Änderungen beschließen.
Was die Inhalte von Active Endeavour angeht, Herr
Liebich: Ich finde es relativ wohlfeil, die Problematik
der Flüchtlinge mit diesem Thema zu vermengen; denn
die Dinge gehören einfach nicht zusammen. Ich bin mir
ganz sicher: Wenn wir hier einen Militäreinsatz beschlie-
ßen würden, bei dem es um die Aufnahme von Flüchtlin-
gen oder die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer-
raum – wie auch immer Sie das dann titulieren würden –
ginge, dann würde die Linkspartei dem Bundeswehrein-
satz auch nicht zustimmen.
Wie bei jedem Mandat verfallen Sie in eine radikalpazi-
fistische Haltung, die an dieser Stelle definitiv nicht
angebracht ist, weil die Risiken, die wir mit diesem
Mandat eingehen, minimal sind. Ich glaube, dass gerade
der abschreckende Charakter – das ist schon angespro-
chen worden – bei diesem Einsatz nach wie vor im Mit-
telpunkt stehen wird.
Was den Ausgangspunkt dieses Mandats angeht
– Herr Brunner hat 9/11 angesprochen –: Die Abwehr ei-
ner terroristischen Gefahr schien sich zwischendurch in
der Prioritätenliste der außenpolitischen Agenda ver-
schoben zu haben. Davon kann heute allerdings nicht
mehr die Rede sein. Die Gruppierung al-Qaida hat zwar
an Einfluss verloren, aber sie ist gerade dabei, sich mit
anderen Gruppierungen neu zu formieren und sich even-
tuell sogar mit ihnen zusammenzuschließen. Aufgrund
der Entwicklung hinsichtlich al-Nusra, ISIS und auch
der Überbleibsel von al-Qaida muss ich sagen, dass es
wahrscheinlicher ist, dass wir uns mit dem Thema Terro-
rismusbekämpfung weiter beschäftigen müssen, als dass
wir das Mandat sang- und klanglos auslaufen lassen. Es
ist falsch, zu glauben, dass sich das Thema nicht mehr
aufdrängt. Es ist wahrscheinlicher, dass wir uns gerade
in der Region des Mittelmeeres insgesamt wieder mehr
mit der Terrorismusbekämpfung beschäftigen müssen.
Erlauben Sie mir eine inhaltliche Bemerkung zu die-
sem Mandat. Ich hielte es für unverantwortlich – es wäre
das falsche Signal –, einen Antiterroreinsatz zu beenden,
nur weil man von der abschreckenden Wirkung sowieso
überzeugt ist. Der Auftrag bleibt. Ich befürchte, wir wer-
den bei weiteren Mandaten über neue Rechtsgrundlagen,
aber auch über neue inhaltliche Punkte diskutieren müs-
sen, wenn es um die heraufziehenden Gefahren neuer
Terrororganisationen, die sich bilden, geht. Deshalb
werbe ich dafür, dieses Mandat nicht leichtfertig aufzu-
geben.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Tobias Lindner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brunner,
die Botschaft höre ich wohl – ich habe sie bereits vor ei-
nem Jahr gehört –, nämlich die jährlich wiederkehrende
Hoffnung, dass dies hoffentlich das letzte Mandat sei,
das auf Artikel 5 Nordatlantikvertrag fußt. Aber nein:
Sie beantragen heute ein weiteres Mal ein hoffentlich
letztes Mandat, das auf Artikel 5 Nordatlantikvertrag
fußt. Sie schreiben – diesmal selbst; ich zitiere aus dem
Antrag der Bundesregierung –:
Da nach Auffassung der Bundesregierung die ur-
sprüngliche Ausrichtung von OAE der Einsatzreali-
tät nicht mehr gerecht wird, setzt sich die Bundes-
regierung bereits seit 2012 im Bündnis für die
Weiterentwicklung des Einsatzprofils von OAE ein.
Ziel ist es, eine zeitgemäße Ausgestaltung des Auf-
trags herbeizuführen und den Einsatz von Artikel 5
des Nordatlantikvertrags zu entkoppeln.
Kollege Liebich hat bereits den Bundesaußenminister
zitiert. Wenn Frank-Walter Steinmeier sagt, dass der
Bündnisfall heute, 13 Jahre nach dem 11. September
2001, nicht mehr als Rechtsgrundlage für einen solchen
Einsatz herhalten kann, muss ich sagen: Recht hat der
Außenminister damit. Aber dann dürfen Sie uns heute
ein solches Mandat nicht vorlegen, erst recht nicht mit
einer solchen Begründung.
Dieses Mandat wird dadurch nicht klarer, und die Legiti-
mationsbasis wird dadurch nicht breiter. Nein, dieses
Mandat wird dadurch absurder. Gleichzeitig beschädi-
gen Sie an zwei Stellen, wie ich finde, wichtige Grund-
pfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
Sie beschädigen das Parlamentsbeteiligungsrecht, und
Sie missachten die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts, nach der Deutschland sich nur dann an in-
ternationalen Einsätzen beteiligen darf, wenn diese in
ein System kollektiver Sicherheit eingebettet sind. Man
kann nicht einfach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages in
die Mandatsbegründung schreiben – Herr Mißfelder hat
ja ausgeführt, dass dieser Artikel als Begründung herhal-
ten muss –, nur damit man eine Begründung hat. Damit
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7287
Dr. Tobias Lindner
(C)
(B)
untergräbt man auch unsere eigenen Beteiligungsrechte
als Deutscher Bundestag.
Außerdem beschädigen Sie damit den Nordatlantik-
vertrag. Um es deutlich und klar zu sagen – ich habe das
schon im letzten Jahr von dieser Stelle aus gesagt –: Ich
persönlich konnte nachvollziehen, dass die Mitgliedstaa-
ten der NATO einen Tag nach dem 11. September 2001
den Bündnisfall festgestellt haben. Das mag aus heutiger
Sicht vielleicht mancher anders sehen. Man mag sich
fragen, ob das vernünftig war oder nicht. Ich persönlich
konnte es nachvollziehen. Uns ist es gerade jetzt in einer
Zeit, in der wir es mit einem Konflikt in der Ukraine zu
tun haben, wichtig, zu versichern, dass Artikel 5 des
Nordatlantikvertrages gilt; denn das ist einer der Stabi-
litätspfeiler unserer Sicherheitsarchitektur in Europa.
Wenn Sie aber Artikel 5 des Nordatlantikvertrages
leichtfertig benutzen, um eine Mission, die sich vielfach
mit Routineaufgaben im Mittelmeer beschäftigt, zu
rechtfertigen, dann unterminieren Sie damit den Nordat-
lantikvertrag. Damit werden Sie unserer Verantwortung
nicht gerecht.
Ich frage mich jedes Mal, ob man in der SPD-Frak-
tion Stöckchen zieht, um zu bestimmen, wer die Rede zu
OAE halten muss. Sie waren schon mal ein ganzes Stück
weiter, haben das ähnlich gesehen wie die Linke und wir.
Jetzt befinden Sie sich in einer Regierungskoalition, und
es musste ein Kompromiss her. In der Antragsbegrün-
dung wird ausgeführt – das haben auch die Redner hier
gesagt –, dass sich die Bundesregierung bemüht hat, eine
Entkopplung der Operation von Artikel 5 des Nordatlan-
tikvertrages hinzubekommen. Zur Formulierung „haben
sich stets bemüht“ will ich eines sagen: Oftmals ist es im
Leben so, dass die Arbeit, auch wenn man sich stets be-
müht, nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Das ist leider
auch an dieser Stelle der Fall.
Mir ist bewusst, dass die Entkopplung des Einsatzes
von Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, also vom kon-
kreten Bündnisfall, Einstimmigkeit in der NATO erfor-
dert. Wenn Sie das schon nicht hinbekommen, dann soll-
ten Sie wenigstens sehen, dass Artikel 5 nicht zu einem
Handlungsautomatismus führen muss und Deutschland
nicht gezwungen ist, sich in einem solchen Fall an der
Mission zu beteiligen.
Weil der Antrag für das Mandat, der uns heute zur
Abstimmung vorliegt, zwar von redlichen Bemühungen
gekennzeichnet ist, aber nicht von Erfolg, was Artikel 5
als Begründung betrifft, und weil ich befürchte, dass wir
unter Umständen auch im kommenden Jahr über ein ent-
sprechendes Mandat diskutieren werden – dann werden
wir wieder hören: das ist das letzte Mandat, das auf
dieser Begründung fußt –, entspricht das Abstimmungs-
verhalten meiner Fraktion in diesem Jahr dem Abstim-
mungsverhalten im vergangenen Jahr: Wir werden die-
ses Mandat ablehnen.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Vöpel das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über die Historie des Mandats haben sich
meine Vorredner schon in aller Breite ausgelassen; das
möchte ich mit Blick auf die Uhr nicht alles wiederho-
len. Ich möchte auch die Frage, wer bei uns in der Frak-
tion Stöckchen zieht, nicht beantworten, Herr Lindner.
Darüber sprechen wir vielleicht an anderer Stelle.
Ich möchte zu dem Mandat zurückkommen. 13 Jahre
sind bereits vergangen; das ist angesprochen worden.
Die Grundlage, Artikel 5 des NATO-Vertrages, und
ebenso der 11. September sind angesprochen worden. In
den letzten 13 Jahren hat sich nicht nur die Welt verän-
dert, sondern auch das Einsatzprofil. Auch das ist zum
Teil von meinen Vorrednern angesprochen worden. Ganz
zu Anfang ging es um die aktive Beteiligung bei der
Abschreckung und Abwehr terroristischer Gefahren im
östlichen Mittelmeer. Seit langem bilden jedoch infor-
mationsgewinnende und -verabeitende Tätigkeiten wie
die kontinuierliche Lagebilderstellung und Seeraum-
überwachung im gesamten Mittelmeer den eigentlichen
Schwerpunkt der Operation. Mehr Passive als Active
Endeavour, wenn man so sagen will.
Wir stehen deshalb vor der etwas paradoxen Situa-
tion, dass Endeavour gerade aufgrund dieser veränderten
Einsatzrealität in der Sache nach wie vor gut begründet
werden kann, die rechtliche Fundierung mit Artikel 5
aber nicht mehr aktuell und zeitgemäß ist.
Es sind im Wesentlichen drei Gründe, warum ich eine
Fortsetzung der Operation für sinnvoll und zweckmäßig
halte.
Erstens. Rund um die östlichen und südlichen Ufer
des Mittelmeers zieht sich heute ein fast lückenloser
Feuerring von Kriegen, Krisen und Konflikten. Die un-
geheuren Spannungen in dieser politischen Erdbeben-
zone können jederzeit zu neuen Verwerfungen mit unab-
sehbaren Folgen für die Sicherheitslage im Mittelmeer
führen. Hier wachsam zu bleiben, Augen und Ohren
offenzuhalten und als eine Art Seismometer die wech-
selnden Lagen möglichst lückenlos zu erfassen, halte ich
für ein Gebot sicherheitspolitischer Vernunft.
Zweitens. Active Endeavour wird von vielen Anrai-
nern und der Handelsschifffahrt mittlerweile als schwer
zu ersetzender Baustein der maritimen Sicherheitsarchi-
tektur im Mittelmeer angesehen. Allein durch ihre
Präsenz trägt die NATO zur Erhöhung des subjektiven
Sicherheitsgefühls in der Region bei.
Drittens. Die Mission hat sich schließlich auch zu ei-
nem erfolgreichen internationalen Kooperationsprojekt
7288 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dirk Vöpel
(C)
(B)
entwickelt, zu einer Kooperationsplattform mit vielen
Mittelmeeranrainern, die wir uns erhalten sollten.
Die Entkopplung der Operation Active Endeavour
von Artikel 5 konnte im laufenden Jahr nicht erreicht
werden; meine Vorredner haben das, glaube ich, in aller
Breite gewürdigt. Ich sehe aber – im Ausschuss habe ich
das Gleiche gesagt – die Bemühungen; hiermit meine ich
nicht, man habe sich redlich bemüht, wie Sie es gerade
intoniert haben. Ich sehe vielmehr, dass es im letzten
Jahr erhebliche Fortschritte gemessen an dem, was vor-
her in die Richtung unternommen wurde, gegeben hat.
Von daher denke ich, dass elf Monate zwar eine lange
Zeit sind, es aber gemessen an dem gesamten Mandat
ein überschaubarer Zeitraum ist. Ich sehe jedenfalls, dass
substanzielle Fortschritte erreicht wurden. Das gibt mir
Hoffnung, dass wir 2015 zu der von uns seit langem ge-
forderten Entkopplung von Artikel 5 kommen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Logik lehrt,
dass man auch auf der Grundlage falscher Voraussetzun-
gen zu richtigen Schlussfolgerungen gelangen kann. Wir
sollten uns trotz der Mängel der Mandatierungsgrund-
lage nicht davon abhalten lassen, weiterhin das Richtige
und Sinnvolle zu tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bündnistreue ist ein ganz hohes Gut. Keiner, der hier für
diesen Einsatz spricht, benutzt leichtfertig den Artikel 5
des Nordatlantikvertrages, um diesen Einsatz zu recht-
fertigen.
Was ich aber leichtfertig finde, ist die Argumentation
der Linken im Zusammenhang mit diesem Einsatz. Ich
habe mir dazu die Rede von Alexander Neu vom letzten
Mal angesehen. Ich will Ihnen vortragen, mit welcher
Polemik er über diesen Einsatz spricht. Er sprach von ei-
nem – ich zitiere – „lächerlichen Dauereinsatz“, vom
„Irrsinn“ der Sicherheitspolitik, von einer „Legende der
Selbstverteidigung“, von „Heuchelei“ und
von „im imperialen Sinne des antiken Roms“; er sprach
weiterhin von einem „Verdummungsversuch“ und sagte,
es würden „Steuergelder verbraten“ und alles sei „recht-
lich absurd“.
Meine Damen und Herren, abgesehen davon, dass
dies ein Stresstest für die Leidensfähigkeit verantwor-
tungsbewusster Abgeordneter ist, muss ich hier ganz
klar sagen: So geht man nicht mit einem Bündnis um.
Auf dieses Bündnis sind wir selber angewiesen, mal
mehr und mal weniger. Aber ich kann nur sehr davor
warnen, es leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Natürlich ist die Begründung für diesen Einsatz 2014
eine andere als 2001.
Die Bedrohung durch maritimen Terrorismus ist eine ab-
strakte Bedrohung; da sind wir uns einig. Das kann aber
schon morgen anders sein. Wir haben es ja eben gehört:
Natürlich ist es möglich, dass der Terrorismus, der sich
im Augenblick in schlimmer Weise ausbreitet, auch in
den Mittelmeerraum Einzug hält. Aber der Einsatz soll
ja von Artikel 5 des Nordatlantikvertrages entkoppelt
werden. Die Bemühungen sind fast abgeschlossen.
Deshalb kann man unserer Verteidigungsministerin und
dem Außenminister nur dafür danken, dass sie diesen
Prozess aktiv begleiten.
Im Augenblick gibt es faktisch eine Seeraumüberwa-
chung und einen Lagebildaustausch. Diese Operation hat
sich zu einem präventiven Ordnungsfaktor entwickelt,
dient also zur Vorbeugung im Bereich der maritimen
Sicherheit, und ist eine Aufklärungs- und Beobachtungs-
mission.
Das ist nicht nichts; das ist nur etwas anderes. Dafür
muss eine neue Begründung gefunden werden. In Wales
hat man den Artikel 5 des Nordatlantikvertrages ja gar
nicht mehr herangezogen. Es ist eben nicht so einfach,
mit 28 NATO-Staaten Einigkeit zu erzielen. Mit Ihrer
Polemik werden Sie das ganz sicher nicht schaffen. Inso-
fern kann man nur froh sein, dass Sie keine Verantwor-
tung tragen.
Herr Liebich, wenn Sie sagen, dass diese Mission von
Anfang an falsch war, und von imaginärem Terrorismus
sprechen, dann sage ich Ihnen ganz deutlich: In diesen
krisenhaften Zeiten von einem imaginären Terrorismus
zu sprechen, ist schon bemerkenswert abwegig. Deshalb
kann man das nur ablehnen.
– Sie lehnen das Mandat ab. Wir lehnen es nicht ab. Wir
wollen es weiterführen, und zwar so lange, wie es vom
Bündnis verantwortet und gewünscht wird. Wir wollen
eine neue rechtliche Grundlage schaffen.
Abschließend danke ich den Soldaten, die dort ihren
Dienst tun, und wünsche Ihnen allen ein frohes Weih-
nachtsfest.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7289
Elisabeth Motschmann
(C)
(B)
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Julia Bartz für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit 2001 ist die Bundeswehr an der Operation Active
Endeavour beteiligt, und sie hat sich im Bündnis mit
unseren NATO-Partnern bewährt. Ursprünglich war die
Operation als Antiterrormaßnahme konzipiert. Ihr
Schwerpunkt hat sich mittlerweile gewandelt; er liegt
nunmehr bei der Seeraumüberwachung und dem Lage-
bildaustausch. OAE versorgt uns und unsere Verbünde-
ten laufend mit einem aktuellen Lagebild und leistet
damit einen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit
im Mittelmeer.
Das europäische Mittelmeer ist für uns mehr als eines
der sieben Weltmeere. Jahr für Jahr genießen viele deut-
sche Urlauber die schöne Ferienregion.
Zudem ist das Mittelmeer eine Hauptschlagader des
weltweiten Handels und von entscheidender Bedeutung
für Deutschland und Europa. 220 000 Handelsschiffe
durchkreuzen jedes Jahr das Mittelmeer. Die Sicherheit
im Mittelmeer ist uns allen ein wichtiges Anliegen.
Wie konkret die abstrakte Bedrohung, von der im
Antrag der Bundesregierung die Rede ist, werden kann,
zeigt ein aktueller Vorfall: Erst kürzlich wurde ein
ägyptisches Marineschiff rund 40 Seemeilen vor der
Küste angegriffen – mutmaßlich von Terroristen. Dieser
Vorfall, bei dem fünf ägyptische Soldaten verletzt und
weitere acht als vermisst gemeldet wurden, macht deut-
lich: Es sind eine erhöhte Aufmerksamkeit und Wach-
samkeit der Weltgemeinschaft notwendig – gerade auch
angesichts der angespannten Lage im Nahen Osten, in
Nordafrika und an den Grenzen zu Russland.
Dementsprechend ist unsere Präsenz im Mittelmeer
notwendig und sinnvoll.
Das empfinden übrigens auch die an OAE beteiligten
Soldatinnen und Soldaten so. Zumindest haben mir die
Kameradinnen und Kameraden, mit denen ich darüber
gesprochen habe, so berichtet. Mein Eindruck aus diesen
Gesprächen war: Die Außerdienststellung der Fregatte
„Niedersachsen“ nach 32 Jahren und über 760 000 See-
meilen scheint die Gemüter mehr zu bewegen als die
konkrete Einsatzbelastung durch OAE. Der Alltag im
OAE-Einsatz wird größtenteils als normale Seefahrt,
ähnlich einer Übung, empfunden.
Aufgrund dieser Einsatzrealität wollen wir eine Ent-
kopplung der Mission von Artikel 5 des Nordatlantik-
vertrags. Dies strebt die Bundesregierung bereits seit
2012 an. Die diplomatischen Verhandlungen dazu sind
auf einem sehr guten Weg. Wie Sie wissen, brauchen wir
dazu das Einverständnis aller 28 NATO-Staaten. Die
mehrheitliche Zustimmung unserer Partner haben wir
bereits erreicht. So konnten wir mittlerweile auch die
USA und Frankreich überzeugen. Derzeit wird ein ent-
sprechendes Kompromisspapier erarbeitet, und wir kön-
nen durchaus zuversichtlich sein, dass eine Entkopplung
von Artikel 5 noch im ersten Halbjahr 2015 erreicht wer-
den kann.
Ein überhasteter Ausstieg aus OAE jetzt, wie ihn die
Opposition fordert, ist also unnötig.
Das wäre zudem das falsche Signal – gerade in diesen
geopolitisch brisanten Zeiten. Angesichts des aggressi-
ven Verhaltens Russlands müssen wir insbesondere un-
seren Bündnispartnern in Osteuropa ein klares Zeichen
der Verlässlichkeit senden. Deutschland steht zu seiner
Verantwortung. Wir sind ein treuer Bündnispartner.
Die Sicherheit im Mittelmeer, der Fortschritt bei der
Überführung in eine nicht durch Artikel 5 gestützte Mis-
sion und unsere Bündnistreue sind drei gute Gründe für
die Fortführung der Operation Active Endeavour. Des-
halb bitte ich Sie heute um Ihre Zustimmung zu diesem
Übergangsmandat für diese Operation – natürlich
verbunden mit dem erklärten Ziel, in den kommenden
Monaten eine Entkopplung von Artikel 5 des Nordatlan-
tikvertrags zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten
Sie mir angesichts der bevorstehenden Feiertage noch ei-
nige Worte des Dankes an unsere Truppe. Gemeinsam
mit meiner Kollegin Gisela Manderla bin ich vorgestern
nach Beelitz gefahren, um die Soldatinnen und Soldaten
des Logistikbataillons 172 in die Auslandseinsätze nach
Afghanistan, ins Kosovo, nach Mali und in die Türkei zu
verabschieden. Ihnen und allen anderen Soldatinnen und
Soldaten, den zivilen Angehörigen der Bundeswehr und
den Entwicklungsexpertinnen und -experten, die sich im
Ausland und zu Hause für unsere Sicherheit einsetzen,
gelten mein Respekt und mein herzlicher Dank.
Kurz vor Weihnachten gelten meine ganz besonderen
Grüße und Gedanken vor allem auch den Familien und
Angehörigen der Soldaten, die ebenfalls einen erhebli-
chen Teil der Einsatzlast tragen. Die Mitglieder der
CDU/CSU-Fraktion danken Ihnen ganz herzlich und
wünschen Ihnen trotz aller Entbehrungen ein gesegnetes
Weihnachtsfest.
Vielen Dank.
7290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active
Endeavour im Mittelmeer.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3584, den Antrag der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/3247 anzunehmen. Wir
stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze be-
setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgeben hat? – Ich bitte, sich vor der Ab-
stimmung zu vergewissern, dass der Name, der auf der
Karte steht, auch Ihr Name ist. – Ich sehe jetzt keinen
Kollegen und keine Kollegin mehr, der oder die an der
Stimmabgabe gehindert ist.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Damit wir zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/3591 kommen können, bitte ich, die Ge-
sprächsgruppen auf der Regierungsbank entweder nach
draußen zu verlagern oder sich am Geschehen zu beteili-
gen. Aber auch die Kolleginnen und Kollegen der Koali-
tionsfraktionen, die noch etwas zu erledigen haben, bitte
ich, das dort zu tun, wo es uns nicht bei der Feststellung
des Abstimmungsergebnisses behindert.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3591. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden
Oppositionsfraktionen abgelehnt.2)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
20-Jahres-Bilanz der Bahnreform von 1994
bis 2014
Drucksachen 18/1500, 18/3266
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
1) Ergebnis Seite 7291 D
2) Anlage 7
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke.
Danke, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und
Kollegen! Millionen Menschen hierzulande sind täglich
mit der Bahn unterwegs, und die Bilanzen von Herrn
Grube sehen immer glänzend aus. Aber in Wirklichkeit
– das wissen Sie alle – läuft längst nicht alles rund. Man
braucht nur an die vielen unwirtlichen Bahnhöfe in der
Provinz oder an die Rekordzahlen bei den Verspätungs-
minuten der Bahn zu denken.
Wir sind der Meinung, dass 20 Jahre nach der Bahn-
reform gründlich nachjustiert werden muss.
Es ist beileibe nicht alles schlecht. Mit den Regionalisie-
rungsmitteln zum Beispiel ist eine solide Finanzierung
geschaffen worden. Etliche Landesbahnen haben mit gu-
ten Konzepten viele Fahrgäste gewonnen. Aber insge-
samt ist der Anteil der Bahn am wachsenden Verkehr
eben nicht gestiegen, und das ist das Problem.
Weil der Bund selber gar nicht auf die Idee gekom-
men ist, nach zwei Jahrzehnten Bilanz zu ziehen, um zu
erfahren, was aus der Deutschen Bahn AG geworden ist,
haben wir im Sommer 136 Fragen erarbeitet. Nun liegen
die Antworten vor. Auf drei dieser Antworten will ich
hier kritisch eingehen.
Zuerst zum sogenannten Brot-und-Butter-Geschäft,
wie Herr Grube zu sagen pflegt. Die Bundesregierung
muss zugeben, dass seit Gründung der Deutschen Bahn
AG fast 100 Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern ih-
ren Anschluss an den Schienenfernverkehr verloren ha-
ben. Ich könnte hier über Halle, Magdeburg oder Pots-
dam sprechen. Aber ich nenne als Beispiel Siegen, eine
junge Universitätsstadt, Zentrum für Wirtschaft und Kul-
tur im südlichen Westfalen. Über 100 000 Menschen le-
ben hier. In den 1990er-Jahren konnten junge Familien
noch mit dem Fernreisezug nach Oberstdorf in den Ur-
laub fahren, oder Geschäftsreisende konnten in den
D-Zug steigen und waren in weniger als drei Stunden in
Dortmund oder Frankfurt. Alles weg! Keine Fernbahnen
mehr für das Herz des Siegerlandes! Dabei sehen wir
sehr wohl, dass dort, wo die Bahn attraktive Angebote
macht, deutlich mehr Leute einsteigen, aktuell in den
neuen, preiswerten Interregio-Express zwischen Berlin
und Hamburg. Aber so etwas darf keine Eintagsfliege
bleiben. Der Bund hat dafür zu sorgen, dass es solche
Anbindungen überall im Land gibt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7291
Sabine Leidig
(C)
(B)
Ich komme zweitens zur Entwicklung der Arbeits-
plätze. Auf unsere Fragen dazu schreibt die Bundesre-
gierung – Zitat –:
Seit der Bahnreform besteht eine Beschäftigungssi-
cherung, die auch in Zukunft weiter gilt. So können
die verbliebenen und neu geschaffenen Arbeits-
plätze dauerhaft gesichert werden.
Aha. Auf mich, so muss ich sagen, wirkt das ein biss-
chen zynisch; denn tatsächlich ist die Zahl der Beschäf-
tigten seit Januar 1994 halbiert worden, und zwar von
damals 365 000 auf weniger als 180 000 im gesamten
Schienenbereich. Unter diesem dramatischen Stellenab-
bau leiden die Wartung der Anlagen, der Service für die
Fahrgäste und vor allen Dingen die Beschäftigten, die
viel mehr und oft viel weniger zufrieden arbeiten müs-
sen. Bei der DB hat sich ein Überstundenberg von 8 Mil-
lionen Stunden aufgetürmt. Das ist aus meiner Sicht völ-
lig inakzeptabel.
Aber die Regierung sieht die DB AG als ein – ich zi-
tiere – „wirtschaftlich erfolgreiches und international tä-
tiges Unternehmen“.
Damit bin ich bei meinem dritten Punkt. Was heißt
das denn konkret? 1994 gab es 15 ausländische Tochter-
gesellschaften der Deutschen Bahn. Heute sind es 542.
Ich frage: Wozu? Von so einem Global Player, der
Schiffsbeteiligungen hält und an Flughafendienstleistun-
gen beteiligt ist, war nie die Rede, als die Bahnreform
beschlossen wurde. Wir lesen, dass zum Stichtag 31. De-
zember 2013 die Deutsche Bahn AG Kredite in Höhe
von mehr als 14 Milliarden Euro an die eigenen Tochter-
gesellschaften ausgereicht hat, davon 7 Milliarden Euro
allein an DB Netz. Die DB bekommt das Geld zu sehr
günstigen Zinsen auf den Kapitalmärkten, weil sie ein
bundeseigenes Unternehmen ist und Deutschland ein
Topranking hat. Aber im eigenen Unternehmen wird
– Zitat – „zu tagesaktuellen, marktüblichen Kondi-
tionen“, also mit Zinsaufschlag, verliehen. Die tages-
üblichen Konditionen sind deutlich schlechter. Die
Differenz, die die Tochtergesellschaften an den Mutter-
konzern zahlen müssen, beläuft sich sicherlich auf meh-
rere 100 Millionen Euro. Diese Summe müssen unter an-
derem die Fahrgäste aufbringen. Den Sondergewinn kann
der Konzernchef einsetzen, um mit Busverkehren in an-
deren Ländern der Schiene dort Konkurrenz zu machen.
Das alles wollen wir überhaupt nicht, und das will
auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht.
Wir wollen eine andere Bahn. Die DB soll nicht an be-
triebswirtschaftlichen Kennzahlen ausgerichtet sein,
sondern am volkswirtschaftlichen Nutzen; das ist oft ein
gewaltiger Unterschied. Der Börsengang muss endgültig
abgesagt werden.
Wir schlagen eine Kommission vor, an der auch die
Fahrgastverbände, die Umweltverbände und die Be-
schäftigten beteiligt sind, damit alternative Organisa-
tionsmodelle erarbeitet werden und damit vor allen Din-
gen der Auftrag der Deutschen Bahn neu definiert wird,
am Allgemeinwohl sowie an sozialen und ökologischen
Zielen ausgerichtet. Das ist es, was notwendig ist.
Diese zweite Bahnreform, die wir brauchen, muss in
eine Verkehrsmarktreform eingebettet sein; denn es ist
unsinnig, dass 100 Prozent des europäischen Schienen-
netzes mit Trassengebühren, also mit einer Maut, belegt
sind, während nur 1 Prozent der Straßen in Europa be-
mautet ist. Wir brauchen eine Entlastung der Bahn. Es ist
unsinnig, dass der Staat bei Zugfahrten Mehrwertsteuer
und Mineralölsteuer kassiert, aber bei Flugreisen nicht.
Es ist unsinnig, dass die Steuerzahler in Europa jähr-
lich 30 Milliarden Euro in den Flugverkehr stecken, aber
trotzdem 17 von den 23 internationalen Flughäfen in
Deutschland defizitär sind. Bei der Bahn aber muss der
Fernverkehr ein Geschäft machen, sonst wird er einge-
stellt. Das ist unfair, das ist auch unsozial, und wir fin-
den, das muss dringend geändert werden.
Bevor wir die Debatte fortsetzen, gebe ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten
Operation Active Endeavour im Mittelmeer bekannt: ab-
gegebene Stimmen 586. Mit Ja haben 461 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt, mit Nein 122, und 3 Kollegin-
nen und Kollegen haben sich enthalten.
7292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 586;
davon
ja: 461
nein: 122
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7293
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir
Markus Paschke
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Dr. Alexander S. Neu
Nein
SPD
Klaus Barthel
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Michael Groß
Gabriele Hiller-Ohm
Ralf Kapschack
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
René Röspel
Swen Schulz
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
7294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Christian Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Petra Hinz
Jeannine Pflugradt
Ewald Schurer
Wir kommen zur Debatte über die Antwort auf die
Große Anfrage zur Bilanz der Bahnreform zurück. Das
Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Enak
Ferlemann.
E
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 20 Jahre
Bahnreform sind eine Erfolgsgeschichte. Man kann sa-
gen: viel erreicht, noch viel zu tun.
1993 haben die Kolleginnen und Kollegen im Deut-
schen Bundestag über die Bahnreform entschieden. Man
kann im Nachgang sagen: Sie haben sehr weise, sehr
klug und sehr weit vorausschauend entschieden. Man
kann den Kolleginnen und Kollegen, die damals mit sehr
großer Mehrheit der Bahnreform zugestimmt haben, nur
sehr dankbar sein. Das haben die richtig gut gemacht.
Wir hätten das heute nicht besser machen können.
Damals gab es die Deutsche Bundesbahn und die
Deutsche Reichsbahn. Man musste nach der Wende die
Bahnen irgendwie zusammenführen. Die Verschuldung
war damals bei sagenhaften 70 Milliarden D-Mark ange-
kommen. Wenn die Bahnreform nicht so gut gelaufen
wäre, wie sie gelaufen ist, dann wäre die Verschuldung
im Jahre 2003 auf rund 380 Milliarden D-Mark angestie-
gen. Wenn Sie den Euro-Betrag wissen wollen, müssen
Sie diese Summe durch zwei teilen.
Die Verkehrsleistung sank, die Aufwendungen stie-
gen massiv und die Verschuldung auch. Das konnte nicht
so bleiben. Deswegen hat man eine neue Struktur gefun-
den, eine privatrechtliche. Es ist sehr klug gewesen, dass
man die DB AG in der Rechtsform einer Aktiengesell-
schaft gegründet hat. Man hat Infrastrukturgesellschaften
gebildet, die staatlich bestimmt sind, und Verkehrsge-
sellschaften, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten
arbeiten. Dabei hat man den Nahverkehr in die Hand der
Länder – das war eine Art Bestellsituation – gebracht,
den Fernverkehr eigenwirtschaftlich gelassen und den
Güterverkehr auch der DB AG überlassen.
Verglichen mit dem Jahr 1994 hatten wir im Nahver-
kehr im Jahre 2012/2013 eine sagenhafte Steigerung von
68 Prozent, im Fernverkehr von nur 7 Prozent, aber im
Güterfernverkehr von 59 Prozent. Das sind beeindru-
ckende Zahlen, die zeigen, dass die Leistungsfähigkeit
deutlich angestiegen ist. Man hat es auch im Wettbewerb
geschafft. Heute fahren viele Privatbahnen auf dem Netz
der DB Netz, und das ist gut so. So beträgt deren Anteil
im Nahverkehr mittlerweile 26,4 Prozent und im Güter-
verkehr 33,2 Prozent nach Tonnenkilometern.
Die Umsatzerlöse sind deutlich gestiegen, die Pro-
duktivität ist deutlich gestiegen, die Jahresergebnisse
sind deutlich besser, und die DB AG ist ein internationa-
les Unternehmen geworden, einer der größten Logistik-
konzerne weltweit. Das ist gut so, und das ist richtig so.
Es freut den Eigentümer, dass wir ein so erfolgreiches
Unternehmen haben, und wir vertreten den Eigentümer.
– Dass wir hier im Parlament ein paar Linke haben, die
das anders sehen, muss man ertragen. In der Demokratie
muss man einiges ertragen; das gehört dazu.
Trotzdem kann man feststellen, dass wir als Eigentü-
mer mit dem, was die Bahn macht, sehr einverstanden
und sehr zufrieden sind.
Gleichwohl bleiben einige Aufgaben zu erledigen,
Aufgaben, die noch nicht so erfüllt sind, wie wir es alle
miteinander wünschen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7295
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
(C)
(B)
– Frau Kollegin, Sie können gerne eine Zwischenfrage
stellen. Ich bin bereit, über alles, was die Bahn betrifft,
Ihnen ausreichend Auskunft zu geben.
Sie haben ja gesehen, dass die Große Anfrage der Frak-
tion Die Linke in einer hohen Qualität beantwortet wor-
den ist. Bis zum letzten Schienenkilometer haben wir
Ihnen alles aufgelistet. Ich glaube, wir haben eine her-
vorragende Arbeit abgeliefert.
Kollege Ferlemann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Haßelmann?
E
Mit besonderer Freude; denn das verlängert meine
Redezeit.
Herr Ferlemann, ich weiß nicht, ob die Freude gleich
noch so groß ist. Sie sind ja nicht Mitglied des Ältesten-
rates und auch kein Minister, sondern Parlamentarischer
Staatssekretär. Ich habe heute nämlich dem Minister und
auch dem Bundestagspräsidenten eine Beschwerde der
Grünenfraktion übergeben. Von daher stellen Sie sich
hier bitte nicht so großherzig dar, indem Sie behaupten,
Sie beantworteten alle Fragen. Es gibt kein anderes
Ministerium, das die geltende Rechtslage hinsichtlich
des Umgangs mit dem Parlament, die Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages, so missachtet wie das Ver-
kehrsministerium.
Bevor Sie das weglächeln: Befassen Sie sich einmal mit
den Fakten!
Wir haben heute Ihrem Minister und auch dem Bun-
destagspräsidenten eine Beschwerde überreicht; denn
das Verhalten Ihres Ministeriums grenzt an Arbeitsver-
weigerung und Ignoranz. Bei 13 Kleinen Anfragen unse-
rer Fraktion wurde von Ihrem Haus keine Fristverlänge-
rung beantragt, aber jedes Mal die Frist nicht
eingehalten, zum Teil um sechs Tage, zum Teil um acht
Tage. Es wurde sogar um zwölf Tage überzogen, und
zwar eigenmächtig, also ohne Einwilligung des Frage-
stellers. Deshalb, finde ich, sollte Ihr Haus ein bisschen
mehr Bescheidenheit gegenüber dem Parlament
an den Tag legen. Vor allen Dingen sollten Sie endlich
Ihrer Verpflichtung nachkommen: dass Sie hier zu lie-
fern haben.
Vielen Dank.
E
Sehr geehrte Frau Kollegin, natürlich nehmen wir das
Parlament sehr ernst. – Sie dürfen stehen bleiben. Ich
muss doch Ihre Frage beantworten.
– Sie müssen doch eine Frage stellen.
Wenn Sie den Wunsch nach einer Zwischenfrage äußern,
dann müssen Sie auch eine Frage stellen, und die muss
ich auch beantworten können. So sind die parlamentari-
schen Spielregeln.
Zur Klarstellung – die Uhr ist immer noch angehal-
ten; also geht Ihnen keine Sekunde Ihrer Redezeit verlo-
ren –: Ich habe Sie eben gefragt, ob Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Haßelmann zulassen. Sie ha-
ben das zugelassen. Die Kollegin Haßelmann hat eine
Bemerkung gemacht. Das ist nach der Geschäftsordnung
möglich. Wenn sie darauf keine Antwort erwartet, brau-
chen Sie ihr auch nicht zu antworten. Ich würde mit dem
ersten Wort, mit dem Sie gleich in Ihrem Redebeitrag
fortfahren, die Uhr wieder einschalten.
E
Trotzdem muss ich ja die Möglichkeit haben, auf die
Anwürfe der Kollegin zu antworten. Von daher gesehen
hat sie schon eine Frage gestellt: ob ich das, was sie dar-
gestellt hat, vertreten kann. Ich kann Ihnen sagen: Die
Große Anfrage ist umfangreich, umfänglich und in einer
sehr hohen Qualität beantwortet worden. Auch die ande-
ren Anfragen von Ihnen werden, sobald wir die Daten
haben, pünktlich und sehr umfassend beantwortet. Häu-
fig sind wir allerdings auf Daten Dritter angewiesen; das
wissen Sie auch. Diese Daten können in der vorhande-
nen Zeit nicht immer so pünktlich geliefert werden, wie
Sie es wünschen. Trotzdem sind wir sehr bemüht; das
wissen Sie auch. Deswegen habe ich kein Verständnis
für Ihre parlamentarische Initiative.
Es bleibt noch eine Reihe von Aufgaben in der Bahn-
reform zu erledigen. Den Schwerpunkt „Erhalt des Be-
standsnetzes“ kennen Sie. Wir haben gestern mit der Be-
schlussfassung des Haushaltsausschusses wohl die
größte Investition in das Bestandsnetz beschlossen, die
7296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
(C)
(B)
es je gegeben hat. Investiert werden soll die Rekord-
summe von 28 Milliarden Euro in fünf Jahren. Ich
glaube, damit können wir uns sehr gut sehen lassen.
Wir wollen den Aus- und Neubau des Bestandsnetzes
mit rund 1,5 Milliarden Euro jährlich voranbringen. Wir
werden sicherstellen, dass im Nahverkehr ausreichende
Regionalisierungsmittel zur Verfügung stehen. Wir müs-
sen uns bemühen, dass das GVFG weiterhin Geltung hat,
weil auch das der Bahn zugutekommt. Wir müssen die
Eisenbahnregulierung neu aufstellen.
Wir setzen auf Qualität. Wir setzen auf Kundenfreund-
lichkeit und auf Kundenorientierung der Bahn. Die Bahn
soll pünktlicher, verlässlicher, sicher, sauber und schnell
sein. Wir wollen möglichst schnell barrierefreie Bahn-
höfe und Stationen erstellen.
Und das Wichtigste ist: Wir müssen das Problem des
Schienenlärms lösen. Wir wollen bis 2020 den Schienen-
lärm um 50 Prozent senken. Dazu haben wir die Richtli-
nie Schall 03 auf den Weg gebracht. Wir haben lärmab-
hängige Trassenpreise. Wir haben ein freiwilliges
Lärmschutzprogramm. Von den dort ausgewiesenen
rund 3 600 Kilometern sind schon knapp 60 Prozent ab-
gearbeitet. Auch das ist eine sehr erfolgreiche Bilanz.
Abschließend bleibt zu bilanzieren: Die Bahnreform
ist nach 20 Jahren eine große Erfolgsgeschichte. Es ist
viel erreicht, aber es bleibt noch viel zu tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Das aus unserer Sicht zentralste aller
Ziele, die mit der Bahnreform verbunden gewesen sind,
war und ist bis heute, verlorengegangene Verkehrsan-
teile sowohl im Güterverkehr als auch im Personenver-
kehr wieder für das System Schiene zurückzugewinnen.
Was dieses Ziel betrifft, sieht die Bilanz leider nicht
durchweg gut aus. Wir haben im Bereich Güterverkehr
eine Stagnation des Verkehrsanteils zu verzeichnen. Das
ist fatal: Das ist fatal für den Klimaschutzbeitrag des
Verkehrssektors, und es ist fatal für die Straßen, die ver-
stopft und einem immer höheren Verschleiß durch
schwere Lkws ausgesetzt sind.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Grund ist bei-
spielsweise darin zu suchen, dass es viel zu viele Eng-
pässe im Schienennetz gibt, sodass die Leistungsfähig-
keit, die eigentlich notwendig wäre, gar nicht vorhanden
ist. Aber auch für die Zukunft wurden falsche Entschei-
dungen getroffen. Ich erinnere hier beispielsweise an die
EEG-Umlage, die das System Schiene bzw. die Schie-
nenbahnen sehr einseitig belastet und im Wettbewerb ge-
genüber dem Lkw schwächt. Was im Bereich des Güter-
verkehrs funktioniert, ist der Wettbewerb. Das ist
erfreulich. Ich möchte an dieser Stelle noch den Neben-
satz einfügen: Wir als Grüne stehen zum Wettbewerb auf
der Schiene. Das ist ein gewisser Unterschied zu den
Linken, die diese Große Anfrage, die wir heute diskutie-
ren, gestellt haben.
Ähnlich wie beim Güterverkehr sieht es leider auch
beim Personenfernverkehr aus. Auch hier stagniert der
Verkehrsanteil. Das ist deswegen besonders fatal, weil in
den letzten 20 Jahren etwa 100 Milliarden Euro in das
Schienennetz, vor allem in die Hochgeschwindigkeits-
strecken, investiert wurden. Aber ganz offensichtlich
wurden damit nicht die tatsächlichen Bedürfnisse der
Fahrgäste erfüllt, weil die Zahl derer, die dem System
Schiene treu geblieben sind, eben nicht im gleichen
Maße wie der Verkehr insgesamt zugenommen hat.
Ein weiterer Grund sind die anhaltenden Verspätun-
gen im Schienenverkehr. Seit ich im Bundestag bin,
führe ich ein Bahntagebuch, in dem ich jede Fernver-
kehrsfahrt protokolliere. Bis jetzt waren es über 100 an
der Zahl, etwa ein Drittel davon mit Verspätungen von
durchschnittlich 20 Minuten. Wenn man zusätzliche
Fahrgäste gewinnen möchte, dann muss man den Fahr-
gästen mehr Verlässlichkeit bieten, damit das Umsteigen
funktioniert und die Leute pünktlich an ihrem Ziel an-
kommen.
Wichtig ist aber auch, Wettbewerbsverzerrungen, die
es derzeit gibt, abzubauen. Ich erinnere hier beispiels-
weise an die Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent auf
Tickets im grenzüberschreitenden Bahnverkehr. Wer die
gleiche Strecke mit dem Flugzeug zurücklegt, zahlt
0 Prozent. Das ist eine Ungerechtigkeit zulasten der
Schiene. Das muss geändert werden.
Das Positivste der Bahnreform ist die Regionalisie-
rung gewesen. Hier funktioniert der Wettbewerb. Hier
haben wir deutliche und kontinuierliche Zuwächse an
Fahrgastzahlen zu verzeichnen. Allerdings brauchen wir
Klarheit bei den Regionalisierungsmitteln und beim Ge-
meindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Die Bundesregie-
rung ist hier drauf und dran, die Erfolge der Bahnreform
durch die Regionalisierung zu verspielen. Schaffen Sie
endlich Klarheit für die Länder und Kommunen, damit
diese planen und investieren können.
Wir müssen auch sehen, dass mit 20 Jahren Bahnre-
form ein Abbau von Verkehrsinfrastruktur verbunden ist.
Weniger Städte als damals sind an den Fernverkehr an-
gebunden. Wir haben einen Abbau von Überholspuren
und von Weichen, also einen Leistungsrückbau, zu be-
klagen. Bedroht sind auch die Nachtzüge. Wir haben in
unserer Studie nachgewiesen, dass mit guten Ideen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7297
Matthias Gastel
(C)
(B)
Nachtzüge durchaus wirtschaftlich betrieben werden
können, wenn die DB es möchte. Wenn die Bundesregie-
rung endlich für einen fairen Wettbewerb sorgt, dann ha-
ben auch die Nachtzüge wieder eine Chance.
Wie steht es um die Infrastruktur? Wir haben im Zu-
sammenhang mit unseren Kleinen Anfragen zum Thema
Eisenbahnbrücken feststellen müssen: Über 1 000 Brü-
cken sind in einem so schlechten Zustand, dass sie nicht
mehr wirtschaftlich saniert werden können. Vor diesem
Hintergrund müssen wir kritisch anmerken: In der
LuFV II, der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
ist leider nicht so konkret, wie wir uns das erwartet ha-
ben, vorgegeben, wofür die zusätzlichen Mittel, die wir
sehr begrüßen, ausgegeben werden dürfen bzw. müssen
und wie die Nachweise über die korrekte Ausgabe vor-
gelegt werden müssen. Das ist eine Schwäche dieses
Vertrages. Es ist aber richtig, dass mehr Geld in das Sys-
tem Schiene fließt; das brauchen wir dringend. Es hätte
aber in einer anderen Form passieren müssen.
Fazit: 20 Jahre Bahnreform – kein Grund zur Selbst-
zufriedenheit. Gescheitert ist die Reform aber nicht. Wir
müssen jetzt dort, wo es notwendig ist, handeln, um die
Lücken im Netz zu schließen und die Infrastruktur zu er-
halten. Wir brauchen tragfähige Trassenpreise und faire
Wettbewerbsbedingungen für die Schiene.
Herr Ferlemann, da Sie vorhin gesagt haben, es gebe
noch viel zu tun: Legen Sie mal los in diese Richtung.
Dann hat das System Schiene auch eine Zukunft.
Das Wort hat der Kollege Martin Burkert für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu
Beginn meiner Rede noch einmal folgende Worte von
Altbundeskanzler Helmut Schmidt in Erinnerung rufen:
Die Bundesrepublik Deutschland kann sich immer
nur eines von beidem leisten, entweder eine Bun-
deswehr oder eine Bundesbahn.
Er hat damals den Grundstein für eine Bahnreform
gelegt, die am 1. Januar 1994 begonnen wurde. Und,
liebe Kolleginnen und Kollegen, der Altbundeskanzler
hat die Weichen richtig gestellt; auch das kann man nach
20 Jahren sagen. Die Verschuldung in Höhe von 70 Mil-
liarden D-Mark, Kollege Ferlemann, war sicherlich da-
mals ein Grund für eine Reform; das ist sicher.
Misst man das Ganze auf einer Waagschale, so kann
man heute sagen: Die Bahnreform ist insgesamt – nach
20 Jahren – ein Erfolg. Es lohnt sich, heute eine Stand-
ortbestimmung vorzunehmen: Wo steht die Bahn mit ih-
rer großen Strukturreform? Eines ist sicher: dass in den
letzten 20 Jahren im Schienenbereich viel geleistet wor-
den ist.
Ich möchte mich heute bei allen Eisenbahnerinnen
und Eisenbahnern, ausdrücklich auch bei den Beamten,
die bei der Deutschen Bahn AG arbeiten, bedanken.
Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner haben mit einer
200-prozentigen Produktivitätssteigerung diese Reform
zum Erfolg gebracht.
Ich bedanke mich auch bei der Gewerkschaft der Ei-
senbahner Deutschlands und bei der Gewerkschaft Deut-
scher Bundesbahnbeamter, die mit vielen Tarifverträgen
auch ihren Beitrag zum Erfolg geleistet haben. Beson-
ders ist hierbei das bahninterne Arbeitsamt DB JobSer-
vice zu nennen.
Die Bahnreform war 1994 mit drei maßgeblichen
Hauptzielen auf den Weg gebracht worden: mehr Ver-
kehr auf die Schiene zu bringen, die Leistungsfähigkeit
der Bahn zu erhöhen und den Bundeshaushalt zu entlas-
ten. An diesen Punkten kann man die Reform der Bahn
also messen, und wir können klar feststellen: Hier wurde
viel erreicht. Wir haben heute – erstens – mehr Verkehr
und Wettbewerb auf der Schiene. Wir haben – zweitens –
ein leistungs- und wettbewerbsfähiges, gut geführtes
Unternehmen, und – drittens – sind die Belastungen des
Bundeshaushalts heute niedriger als damals. Ganz im
Gegenteil: Heute bekommen wir eine Dividende von der
Deutschen Bahn.
Die Deutsche Bahn steht also gut da und ist auch im
europäischen Vergleich mit Netz und Betrieb ein wettbe-
werbsfähiges Unternehmen. Über 370 Schienenver-
kehrsunternehmen nutzen das deutsche Eisenbahnnetz.
Mehr Verkehr auf der Schiene entlastet unsere Stra-
ßen, ist umweltfreundlich und damit ein wichtiger Bei-
trag für eine sinnvolle und gute Mobilitätsstruktur und
vor allem für unser Klima, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen. Besonders der Zuwachs im Schienenpersonennah-
verkehr ist mehr als erfreulich. Hierbei muss die Bahn
aber selbstverständlich auch weiterhin ihre Anstrengun-
gen bezüglich Pünktlichkeit, Service und Verlässlichkeit
– das Brot-und-Butter-Geschäft – verstärken.
Daneben konnten auch im Schienengüterverkehr
Fortschritte erreicht werden. Frau Leidig, ich möchte Ih-
nen Folgendes sagen: Von 1994 bis Ende 2013 hat das
Gütervolumen der Deutschen Bahn auf der Schiene in
der Tat um circa 59 Prozent zugenommen. Insofern
stimmt hier Ihre Aussage nicht. Ich sage ferner: Die
Deutsche Bahn konnte ihren Güterverkehr auch durch
Verlängerung der Güterzüge auf 850 Meter ausbauen.
Aber ich sage auch: Das große Ziel – mein geschätzter
7298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Martin Burkert
(C)
(B)
Kollege Dirk Fischer als einer der Väter der Reform
spricht gleich noch –
bleibt, mehr Güter auf die Schiene zu bringen. 17 Pro-
zent der Güter sind heute auf der Schiene. Da sage ich:
Das ist noch zu wenig.
Kollege Burkert, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Leidig?
Immer.
Das ist ein großes Versprechen, Kollege Burkert, aber
ich werde es nicht missbrauchen. – Ich möchte zwei Fra-
gen miteinander verbinden. Eine Frage haben Sie gerade
im Grunde schon selber beantwortet. Der Anteil der Gü-
ter, die auf der Schiene transportiert werden, ist über-
haupt nicht gewachsen. Das ist dramatisch, weil sich ge-
rade der Güterverkehr so rasant entwickelt und immer
mehr Lkw auf deutschen Straßen Probleme verursachen.
Da ist natürlich der zentrale Punkt: Wie kommt die Bahn
da wieder in die Vorhand?
Ich möchte Sie als Fachmann an dieser Stelle fragen,
wie Sie es einschätzen, dass die Deutsche Bahn AG in
dieser Zeit, in den letzten 20 Jahren, 80 Prozent der An-
schlüsse, die Industrieunternehmen angebunden haben
– damit besteht die Möglichkeit, direkt von der Firma
auf die Schiene zu gehen –, gekappt hat? Ich kenne eine
ganze Reihe von Unternehmen in meiner Region, die das
sehr bedauern, die gern wieder auf die Schiene gehen
würden oder überhaupt auf die Schiene gehen würden.
Dazu würde ich schon gern noch etwas hören und wis-
sen, warum Sie das als Erfolg betrachten.
Frau Leidig, es ist in der Tat so: Wir würden uns noch
mehr Güter auf der Schiene wünschen; das steht außer
Frage. Ich darf Ihnen aber auch sagen, dass die Deutsche
Bahn AG mit 20 Prozent ihrer Kunden 80 Prozent des
Entgelts im Güterverkehr einfährt. Fast das Volumen des
Autoverkehrs haben wir auf der Schiene. Im Übrigen
fährt alles im Zusammenhang mit Brauereien mittler-
weile auf der Schiene. Der Einzelwagenverkehr, für den
ich mich seit Jahr und Tag einsetze, muss erhalten blei-
ben, obwohl er nicht nur schwarze Zahlen schreibt.
Wenn wir den Einzelwagenverkehr nicht mehr hätten,
hätten wir am Tag noch einmal 100 000 Lkw mehr auf
unseren Straßen. Das ist nicht betriebswirtschaftlich,
aber volkswirtschaftlich und verkehrspolitisch wichtig.
Deswegen achten wir auch darauf, im Aufsichtsrat und
in den verkehrspolitischen Gremien. Ich sage Ihnen: Wir
werden alle Anstrengungen dazu unternehmen.
Ich darf fortfahren. – 5 Milliarden Euro mehr für die
Elektromobilität sind gut, was den Pkw-Verkehr angeht;
das steht außer Frage. Ich würde mir aber wünschen,
dass wir auch Gelder für eine rollende Landstraße oder
den CargoBeamer einsetzen. Mit 35 CargoBeamer-Zü-
gen würden wir die gleiche Menge an CO2-Emissionen
einsparen wie mit 1 Million Elektroautos; ich will das
nur mal sagen. Da müssen wir alle Anstrengungen unter-
nehmen.
Wir haben große Herausforderungen in puncto Barri-
erefreiheit, in puncto Lärmschutz und in puncto Service-
qualität. Da müssen konsequent neue Anstrengungen auf
den Weg gebracht werden.
Wir müssen gerade im Bund ein besonderes Augen-
merk auf die Qualität unserer Schienennetze legen; denn
sie sind die maßgebliche Voraussetzung für einen star-
ken Schienensektor im Fern-, Güter- und öffentlichen
Nahverkehr.
Vor allem die 25 000 Brücken, von denen 9 000 älter
als 100 Jahre sind, brauchen unser besonderes Augen-
merk. Ich bin sehr froh, dass wir es geschafft haben, mit
der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung II des
Problems Herr zu werden. Brückensanierungen sind
jetzt explizit vorgeschrieben. Es ist also nicht so, wie Sie
sagen, Herr Gastel. Wir haben da, wo es notwendig war,
der Deutschen Bahn AG gesagt, wo investiert werden
muss. Wir werden hier stehen und über die Kontrolle der
LuFV II reden.
Um dies allerdings auch langfristig erreichen zu kön-
nen, muss die Personalsituation bei der Deutschen Bahn
entsprechend angepasst werden. Ich sage ganz deutlich:
Hier hat auch der Bahnvorstand Fehler begangen. Am
Personal zu sparen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
falsch.
Ich begrüße es ausdrücklich – Herrn Gruber und Herrn
Weber gratuliere ich dazu –, dass die Bahn in den nächs-
ten Jahren 80 000 Menschen einstellt. Nach einem Stopp
1974 wird wieder mehr eingestellt.
Dann werden wir auch immer wieder darüber reden
müssen, wo Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen
Verkehrsträgern bestehen. Ich erwähne die Mehrwert-
steuer, das EEG, die Mineralölsteuer; es gibt da viel zu
sagen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Mit der
Bahnreform konnten wichtige Impulse gesetzt werden,
die zu positiven Entwicklungen im Schienenverkehr bei-
getragen haben. Wir sollten heute, an diesem Tag, nach
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7299
Martin Burkert
(C)
(B)
20 Jahren Bahnreform, die in diesem Jahr zu Ende ge-
hen, mit Ruhe, aber auch mit Stolz sagen, dass wir in
Deutschland das beste Eisenbahnsystem der Welt haben.
Auch das kann man an so einem Tag sagen.
Ich sage: Wir müssen sorgsam damit umgehen, denn die
Menschen in unserem Land brauchen unsere Bahn.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Als der Deutsche Bundestag am 2. Dezember 1993
die Bahnreform – an die Formulierer der Großen An-
frage: unter Verkehrsminister Matthias Wissmann; denn
er war bereits seit Mai 1993 Minister; es war nicht
Günther Krause, wie es dort heißt – mit 558 Jastimmen
bei nur 13 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen und sogar
einer Jastimme der Kollegin der Fraktion PDS/LL ver-
abschiedet hatte, habe ich damals zu Beginn meiner
Rede im Plenum gesagt:
Künftige Generationen werden hoffentlich nur noch
in Büchern nachlesen können, daß es einmal eine
Bahnbehörde nach öffentlichem Dienst- und Haus-
haltsrecht mit einer ausgeprägten Organisations-
und Behördenkultur ohne jegliche Wettbewerbs-
chance auf dem Verkehrsmarkt mit Milliardendefi-
ziten gegeben hat. Ich hoffe, daß wir diese dann
sehr bald auch aus der Wirklichkeit verabschieden
können.
Von diesen Ausführungen habe ich kein Wort zurückzu-
nehmen.
Heute ist die Behördenbahn in der Tat längst Ge-
schichte. Die Entscheidung, die Bahn als Wirtschaftsun-
ternehmen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft zu
führen, war und bleibt richtig. Dies hat aber auch klare
rechtliche Konsequenzen. Ich würde einem Juristen wie
dem Fraktionsvorsitzenden Dr. Gysi empfehlen, im Ak-
tiengesetz nachzulesen, bevor er Anträge unterschreibt,
und dort nicht Dinge hineinzuschreiben, durch die ein
Vorstand dann, wenn er sie täte, gegen das Aktienrecht
verstoßen würde.
Der Bundestag sollte unter keinen Umständen einen ver-
antwortlichen Unternehmensführer zu Gesetzesverlet-
zungen auffordern. Daher kann man das, was dort vorge-
legt worden ist, nur ablehnen.
Die Bahn ist kein Sozialamt des Verkehrs mehr, in das
jeder hineingreifen und sich bedienen kann mit der Folge
permanent steigender Verlustzahlen der Bundesbahn.
Ich zitiere aus der Rede von Bahnchef Dr. Rüdiger
Grube beim Festakt „20 Jahre Bahnreform“ im Januar
dieses Jahres: Die Bundesbahn und Reichsbahn hatten
im Jahr vor der Bahnreform – also 1993 – 8 Milliarden
Euro Verlust erwirtschaftet und mehr als 34 Milliarden
Euro Schulden aufgehäuft. – Der Parlamentarische
Staatssekretär hat eben den DM-Betrag genannt.
Dr. Grube hatte den Betrag bereits in Euro umgerechnet.
Es wurden also mehr als 34 Milliarden Euro Schulden
aufgehäuft. Die Personalaufwendungen waren 1993 hö-
her als die gesamten Umsatzerlöse.
Stellen Sie sich diese Ausgangssituation vor, stellen
Sie sich dann vor, zu dieser Ausgangssituation zurückzu-
kehren. Dies wäre nach meiner Auffassung unverant-
wortlich. Eine AG heißt aber auch das Führen eines ver-
selbstständigten Kapitals in eigener Verantwortung
durch den Vorstand. Die Vorteile daraus sind, dass sich
der Vorstand um die Kunden kümmern muss, also eine
Kundenorientierung. Weitere Punkte sind eine Markt-
orientierung, eine Wettbewerbsorientierung, eine Pro-
duktivitätsorientierung und damit letztlich auch die Ge-
winnorientierung. Das ist Aufgabe und Pflicht des
Vorstands nach dem Aktiengesetz. Es gibt auch eine
klare Dividendenerwartung des Alleinaktionärs Bund,
der zum Auf- und Ausbau des Systems erhebliche Bun-
desschulden auf sich genommen hat, die berechtigt wa-
ren, bzw. jetzt im Finanzierungskreislauf Schiene für
Reinvestitionen in die staatliche Infrastruktur gesorgt
hat. Dies war ein positiver und für den Haushalt sehr gu-
ter Schritt.
Kollege Fischer, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Leidig?
Gerne.
Herr Kollege Fischer, meine Frage bezieht sich noch
einmal auf den Schuldenstand. Ich muss gestehen, dass
es mir nicht hundertprozentig klar ist, wie es sich tat-
sächlich verhält. Ich sage Ihnen einmal meine Informa-
tionen. Der Bund zahlt wie zu Beginn der Bahnreform
nach wie vor 17 Milliarden Euro pro Jahr plus 2,5 Mil-
liarden Euro Schuldendienst für die Altschulden der
Bundesbahn. Dazu kommen aus meiner Perspektive die
19,3 Milliarden Euro, die die Deutsche Bahn AG an
Finanzschulden ausweist; denn diese 19,3 Milliarden
Euro Schulden sind die Schulden eines bundeseigenen
Unternehmens. Eigentlich muss man die Zahlen zusam-
menrechnen. Ich sehe einfach nicht, woher die giganti-
sche Entlastung kommt. Wenn ich also die beiden Zah-
len zusammenzähle, dann hat sich gar nichts geändert.
7300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Der Unterschied ist, dass damals ungeplante, den
Haushalt belastende Jahresverluste entstanden sind, die
erst am Ende eines Wirtschaftsjahres klar wurden. Mal
waren es 3 Milliarden, mal 5 Milliarden Euro. Dafür war
der Bund unmittelbar verantwortlich. Jetzt haben wir
eine Aktiengesellschaft, die natürlich für Investitionen
auch den Kapitalmarkt in Anspruch nimmt und diese
aufgenommenen Kredite verzinst und tilgt. Sie hat auf
der anderen Seite aber auch ein gewaltiges Anlagever-
mögen, das sich bilanziell niederschlägt.
Das ist der gewaltige Unterschied. Die damalige unmit-
telbare Haushaltsverantwortung ist heute in dieser Weise
nicht vorhanden.
Ich fahre fort und sage: Die Lage vor der Bahnreform
war dramatisch: rückläufige Marktanteile der Schiene im
Güter- und Personenverkehr, der schon erwähnte stei-
gende Schuldenstand, der besonders hohe Verschleiß
und die Altlasten der ehemaligen DDR-Reichsbahn. Das
Holdingmodell, bei dem wir nach der Zusammenfüh-
rung gelandet sind, hat sich meiner Überzeugung nach
bewährt. Der Bund ist und bleibt zu 100 Prozent Allein-
aktionär der DB AG Holding, und ebenfalls zu 100 Pro-
zent verbleiben im Alleineigentum des Aktionärs die In-
frastrukturgesellschaften, die für eine Öffnung zum
privaten Kapitalmarkt nicht infrage kommen. Das sind
das Netz, die Stationen und die Energieversorgung. Bun-
desfernstraßen, Bundeswasserstraßen, Bundesschienen-
wege sind staatliche Infrastruktur. Dort muss ein gleich-
berechtigter Wettbewerb möglich sein.
Kollege Fischer, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Burkert?
Gerne, ja, aber mit der Bitte, dass mir die Zeit nicht
angerechnet wird.
Das ist schon längst geschehen.
Die Zeit ist angehalten. – Werter Kollege Fischer, ich
habe die Rede von damals nachgelesen. Ich will nur fra-
gen, weil Sie bei der ersten Stunde dabei waren: Können
Sie aus Ihrer Erfahrung kurz schildern, wie damals die
Zusammenarbeit mit dem geschätzten sozialdemokrati-
schen Kollegen Klaus Daubertshäuser und dem Zusam-
menwirken von Bundesrat und Bundestag mit einem sol-
chen Erlebnis war? Nach 20 Jahren Bahnreform kann
man das hier auch einmal machen.
Das ist ganz schnell gesagt. Wir haben eine Kommis-
sion eingerichtet, die wegweisende Vorschläge gemacht
hat. Im Ministerium ist dann ein Gesetzentwurf gemacht
worden. Wir haben damals parlamentarisch mit den So-
zialdemokraten, die in der Opposition waren, und dem
Koalitionspartner FDP, auch im Dialog mit den Grünen,
diese Dinge bearbeitet. Dabei war ganz entscheidend,
dass auch die Länder zustimmen mussten: bei der Über-
nahme des Schienenpersonennahverkehrs gegen Regio-
nalisierungsmittel. Es gab mehrere Änderungen des
Grundgesetzes, sechs neue Gesetze. Dann hat sich
Minister Wissmann – das war auch sinnvoll – zu einer
längeren Klausur mit den Vertretern der Länder an den
Tegernsee begeben und die Einigung mit den Ländern
herbeigeführt.
Schließlich haben wir auf der breiten Basis von Regie-
rungskoalition und Opposition – ich habe die Zahlen ge-
nannt – die Beschlussfassung durchgeführt. Ich glaube
also, es war damals ein segensreiches und positives Zu-
sammenwirken.
Ich will im Übrigen fortfahren und sagen: Demgegen-
über sind natürlich die Betriebsgesellschaften des Unter-
nehmens prinzipiell für den Kapitalmarkt offen. Deswe-
gen ist im Rahmen des Holdingmodells seinerzeit eine
Zwischenholding, die DB ML, gebildet worden. Der
Weg an den Kapitalmarkt ist aus unserer Sicht nur dann
ein Thema, wenn es wegen der Situation am Kapital-
markt oder wegen eines interessanten, in strategischer
Hinsicht sinnvollen Investors sinnvoll und möglich er-
scheint, was gegenwärtig nicht der Fall ist.
Faktisch ist im Unternehmen unter dem Dach und in
der Gesamtverantwortung der Holding eine interne
Trennung von Netz und Betrieb vorgenommen worden.
Das ist erfreulich; denn der Finanzierungskreislauf
Schiene garantiert jetzt – das war uns ein wichtiges An-
liegen –, dass Gewinne von den staatlich bezuschussten
Infrastrukturgesellschaften in die Infrastruktur reinves-
tiert werden und nicht etwa über die Kasse der Holding
in die Erweiterungen der Betriebsgesellschaften transfe-
riert werden dürfen. Das ist uns sehr wichtig.
Das Holdingmodell steht aber auch im völligen Ein-
klang mit der europäischen Eisenbahnpolitik. Denn das
Holdingmodell ist unter jedwedem Aspekt mit dem in
der Beratung befindlichen vierten Eisenbahnpaket der
EU vereinbar – sowohl, was die technische Säule anbe-
langt, als auch, was die ordnungspolitische Säule anbe-
langt.
Die Ziele der Bahnreform sind nach meiner Überzeu-
gung erreicht worden. Der Bundeshaushalt wurde ins-
besondere von unkalkulierbaren Risiken entlastet. Die
EU-Konformität der deutschen Eisenbahnpolitik wurde
erreicht. Die Wettbewerbsorientierung wurde gestärkt,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7301
Dirk Fischer
(C)
(B)
Leistung und Produktivität wurden damit gesteigert. Der
Kundennutzen wurde gemehrt. Die Modernisierung,
sowohl technisch als auch betrieblich, ist entscheidend
vorangebracht worden.
Herr Kollege Fischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Die Bahnreform hat die Grundlage dafür geschaffen,
dass der Schienenverkehr in Deutschland nach Jahren
des Niedergangs einen neuen Aufschwung erlebt hat und
heute im europäischen Vergleich erfolgreich dasteht. Der
Staatssekretär hat die Zahlen genannt, wobei man beim
Fernverkehr darauf hinweisen muss: In der Zwischenzeit
ist der eigenwirtschaftliche Interregio in den bezuschuss-
ten Nahverkehr transferiert worden.
Die Bahnreform ist natürlich – da stimme ich allen zu –
kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess, der noch
nicht beendet ist. Aber ich denke, zum Beispiel bei der
Diskussion über den Schienengüterverkehr – –
Kollege Fischer, Sie können gern weiterreden. Aber
ich mache Sie darauf aufmerksam: Das geht auf Kosten
der Redezeit Ihres Kollegen Lange.
Ich denke, dass der Schienengüterverkehr heute na-
türlich darunter leidet, dass wir eine Universalbahn ha-
ben.
– Ich habe den Eindruck, die Zeit für die Beantwortung
der Zwischenfragen ist nicht ganz ausgeglichen worden.
Aber egal!
Ich komme gerne zum Schluss. Wir wollen in dieser
Legislatur zum Beispiel das Eisenbahnregulierungsge-
setz verabschieden. Es geht darum, den fairen Wett-
bewerb auf der Schiene weiter zu stärken. Wir wollen
die Bahn weiter modernisieren. Politik und Unterneh-
men sind gemeinsam in der Verantwortung. Es ist also
auch künftig unsere gemeinsame Aufgabe, die Bahn-
reform erfolgreich fortzusetzen und sie von der nationa-
len hin zur europäischen Dimension weiterzuentwickeln.
Das werden Sie gleich innerfraktionell klären, nehme
ich an. – Erst einmal hat die Kollegin Kirsten Lühmann
für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sehr geehrte Zuhörende! Französische
Freunde haben berufsbedingt in unserem Ort gewohnt.
Sie wollten ihren Sohn mit der Bahn von Hannover über
Köln zur Großmutter nach Frankreich schicken. Sie ka-
men völlig entgeistert vom Bahnhof zurück. Denn sie
hatten den Jungen in den falschen Zug geschickt. Als wir
fragten, warum, haben sie gesagt: Wir haben uns gewun-
dert; zehn Minuten vorher kam ein Zug, und wir sind es
aus Frankreich gewohnt, dass an einem Gleis alle 30 Mi-
nuten ein Zug kommt. Als der Zug kam, dachten wir
also, das wäre unserer. – Als wir ihnen dann erklärt ha-
ben, dass in Deutschland in 30 Minuten drei Züge an ei-
nem Gleis abfahren, waren sie hochbegeistert und hatten
Hochachtung vor der Deutschen Bahn.
Unseren Kindern sagen wir natürlich: Man soll sich
nicht am Schlechtesten orientieren, sondern immer ver-
suchen, besser zu werden. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, die Feststellung in Ihrem Ent-
schließungsantrag, die Bahnreform sei gescheitert, ist
doch nun wirklich an den Haaren herbeigezogen.
Ich nenne hier nur mal ein Beispiel: Ja, seit 2004 sind
die Verspätungsminuten im Fernverkehr gestiegen. Das
kann weder uns noch die Deutsche Bahn zufriedenstel-
len. Aber Sie verschweigen, dass die Verspätungsminu-
ten im Nahverkehr um 20 Prozent zurückgegangen sind.
Auch beim Fernverkehr gibt es zum Beispiel Effekte wie
das Hochwasser, die über uns hereingebrochen wären,
ob wir nun eine Deutsche Bahn AG, eine Reichsbahn
oder eine Bundesbahn gehabt hätten.
Wir sollten die Situation von 1994 näher betrachten.
Wir hatten – das wurde erwähnt – eine Bundesbahn und
eine Reichsbahn, das heißt, wir mussten zwei verschie-
dene Systeme integrieren. Guckt man sich an, wie hoch
damals der Marktanteil war, stellt man fest: Die Deut-
sche Bundesbahn hatte von 1950 bis 1990 den Marktan-
teil im Personenverkehr dramatisch reduziert: von
37 Prozent 1950 auf 6 Prozent 1990.
Bei der Reichsbahn war der Rückgang noch eklatan-
ter: In den fünf Jahren von 1985 bis 1990 hat sie 27 Pro-
zent Marktanteil verloren; im Güterverkehr war es ähn-
lich. Wir mussten also dringend etwas tun, und das
haben wir, und zwar mit dem bestehenden Personal, ge-
tan. Das war damals eine große Herausforderung. Ich
möchte dem Personal, das die Herausforderung damals
bewältigt hat, hier und heute dafür sehr herzlich danken.
Unsere Ziele waren: mehr Verkehre durch mehr Kom-
fort, mehr Güterverkehre durch mehr Flexibilität. Nun
7302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Kirsten Lühmann
(C)
(B)
kann man darüber spekulieren, ob wir dieselben Ziele
auch mit einer Bundesbahnstruktur erreicht hätten. Aber
ich glaube, diese Spekulation ist müßig. Wir können hier
und heute feststellen: Die Reform durch die Bildung ei-
ner Holding war erfolgreich.
Ich möchte hier nichts beschönigen. Es wurde schon
erwähnt: Es gibt einige Dinge, die wir noch regeln müs-
sen, zum Beispiel die Situation im Fernverkehr. Unser
Ausschuss hat für das neue Jahr die entsprechenden Ver-
antwortlichen geladen, um mit ihnen über dieses Thema
zu diskutieren.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, einzelne Handlungsfelder zu einem Systemver-
sagen hochstilisieren wollen, dann machen wir das nicht
mit.
Sie beklagen in Ihrer Großen Anfrage und in Ihrem Ent-
schließungsantrag Streckenstilllegungen und Personal-
abbau; die gibt es, das ist richtig. Aber richtig ist auch:
Streckenabbau gibt es seit 1912, Personalabbau gibt es
kontinuierlich seit 1960. Das hat nichts mit der Rechts-
form der Bahn zu tun. Daran würde sich auch nichts
ändern, wenn wir noch die Bundesbahn oder die Reichs-
bahn hätten. Aber was sich geändert hat, das ist die Aus-
richtung, die sich jetzt an den Bedürfnissen der Men-
schen orientiert.
Sie haben es erwähnt: Die Regionalisierungsmittel
haben im Nahverkehr riesige Fortschritte gebracht. Sie
sind eine Erfolgsstory; denn der Nahverkehr ist damit
näher an den Menschen und flexibler. In den Verhand-
lungen, die wir zurzeit führen, passen wir dieses System
nun an die veränderten Rahmenbedingungen an. Mit
dem neuen Modell der Bahn ist das auch möglich. Frau
Leidig, wenn Sie zukünftig von Siegen nach Frankfurt
fahren wollen, dann empfiehlt Ihnen der Kollege Bartol
die Hessische Landesbahn, die diese Strecke sogar
schneller bewältigt als vor der Reform.
Ähnliches gilt für das Netz. Vor 1994 gab es bei der
Eisenbahn nur Streckenstilllegungen – natürlich gab es
auch nach 1994 Streckenstilllegungen –, aber heute gibt
es, auch aufgrund der neuen Rechtsform, wieder Stre-
ckenaktivierungen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nen-
nen. Das ist in meinem Bundesland Niedersachsen der
„Haller Willem“, der von Osnabrück über Dissen nach
Bielefeld fährt. Über zehn Jahre gab es auf dieser Stre-
cke keinen Personenverkehr. 2005 ist die Strecke reakti-
viert worden. Das zweite Beispiel ist die Niedersächsi-
sche Landesregierung, die ein Projekt aufgelegt hat, mit
dem sie neue Strecken reaktiviert. In einem transparen-
ten Prozess sind von 28 gemeldeten Strecken die fünf
sinnvollsten herausgearbeitet worden. Das sind die Er-
folge des neuen Systems, und die darf man nicht klein-
reden, auch wenn wir nicht alles erreicht haben; Herr
Ferlemann hat darauf hingewiesen, dass wir das Thema
Barrierefreiheit noch in dieser Legislaturperiode ange-
hen werden.
Zum Abschluss: Wir wollen die Bahn nicht glorifizie-
ren, wir wollen sie aber auch nicht verteufeln. Ich stelle
fest: Eisenbahn in Deutschland 2014 ist näher an den
Menschen und näher an der Wirtschaft. Wir arbeiten in
dieser Bundesregierung daran, das noch weiter zu ver-
bessern. Es wäre schön, wenn wir das in diesem Hause
gemeinsam gestalten könnten wie damals die Bundes-
bahnreform.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Ulrich Lange hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem Dirk Fischer, ein Mitglied des Deutschen
Bundestages, das vieles live erlebt hat, uns auf einen
Ausflug in die Historie mitgenommen hat und unser
Ausschussvorsitzender auf die Eisenbahngewerkschaft
hingewiesen hat, kann ich mich auf ein paar wesentliche
Punkte konzentrieren: Ja, vor 20 Jahren hat ein neues Ei-
senbahnzeitalter begonnen, ja, es war richtig, dass wir
aus der Spirale rückläufiger Zugverkehre bei gleichzeitig
ansteigendem Schuldenstand herausgekommen sind,
und es war richtig, Schluss zu machen mit dieser Behör-
denbahn und zu sagen: Auch die Bahn muss sich als
Wirtschaftsunternehmen aufstellen.
Trotzdem haben wir die staatliche Verantwortung für
die Infrastruktur und den öffentlichen Personennah-
verkehr nicht aufgegeben. Mit den Regionalisierungs-
mitteln, die mehrfach angesprochen worden sind, schrei-
ben wir wirklich Erfolgsgeschichte. Das wissen all
diejenigen, die sich erinnern können, wie in den 80er-
Jahren eine Strecke nach der anderen stillgelegt wurde.
Wir finanzieren auch die NE-Bahnen; auch das
möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Die
NE-Bahnen sind Teil dieser Erfolgsgeschichte.
Dass wir in den letzten Jahren wieder einen Zuwachs
beim Personen- und beim Güterverkehr haben, ist bereits
ausgeführt worden. Das zeigt, dass die Grundentschei-
dung mit Sicherheit richtig war.
Liebe Kollegin Leidig, Ihre Zwischenfragen führen
zu Verspätungen. Da ich öfter fliege, muss ich sagen: Es
regt sich kaum einer darüber auf, dass kaum ein Flieger
keine Verspätung hat. Dagegen sind die Verspätungen
bei der Bahn doch relativ gering.
Wer sind die Gewinner der Bahnreform? Gewinner
sind die Kunden. Ich sage nur: Inzwischen haben fast
5 Millionen Menschen eine Bahncard. Das sind 5 Mil-
lionen Menschen, die sich ganz aktiv zu der Bahn als
Verkehrsmittel bekennen.
Wir stehen vor Herausforderungen; das ist richtig.
Eine große Herausforderung sind wir angegangen – am
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7303
Ulrich Lange
(C)
(B)
3. Dezember 2014 im Verkehrsausschuss und gestern im
Haushaltsausschuss –, die LuFV II. Wir wollen – das ist
ein Riesenschritt – in den nächsten fünf Jahren insge-
samt 28 Milliarden Euro für den Bereich Schiene ausge-
ben, insbesondere zur Qualitätssicherung und für die
Brücken. So gesehen können wir mit dieser Reform sehr
zufrieden sein.
Liebe Kollegin Leidig, zu dem Antrag der Linken
sage ich an dieser Stelle ganz bewusst: Für uns scheidet
ein Zurück zur alten Staatsbahn oder DDR-Reichsbahn
einfach aus.
Das war kein Erfolgsmodell. Wir wollen den Weg der
modernen Bahn weitergehen.
Wir wollen mehr Wettbewerb im Güterverkehr und noch
mehr Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr.
Auch im Fernverkehr könnte – ich sage das ganz offen;
denn diesbezüglich sind wir noch nicht ganz zufrieden –
durch Wettbewerb vielleicht das eine oder andere zusätz-
lich erreicht werden.
Deswegen werden wir in dieser Legislaturperiode das
Eisenbahnregulierungsgesetz noch einmal in Angriff
nehmen.
Wir werden die Bahn weiter modernisieren. Wir wollen
im Interesse der Berufspendler WLAN in den Zügen.
Wir wollen eine moderne Gesellschaft – mit der Bahn.
Die Bahnreform ist eine Erfolgsgeschichte. Wir wol-
len sie fortsetzen. In diesem Sinne wünsche ich eine gute
Heimreise mit der Bahn und frohe Weihnachten.
Ich danke für die Minimierung der Verspätung, Kol-
lege Lange, und schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3560.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abge-
lehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu der Unterrichtung durch die
Deutsche Welle
Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2014
bis 2017
Drucksachen 18/2536, 18/3056, 18/3216 Nr. 3,
18/3595
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie an der
Debatte jetzt nicht teilnehmen können oder wollen, bitte
ich Sie, trotzdem dafür zu sorgen, dass diejenigen, die
sich hier beteiligen wollen, auch der Debatte folgen kön-
nen. – Es schmerzt mich immer besonders, wenn meine
eigene Fraktion mich ignoriert.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staats-
ministerin Professor Monika Grütters.
M
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Den Wert einer Sache lernt
man bekanntlich oft erst durch ihren Verlust zu schätzen.
Das gilt natürlich auch und ganz besonders für den Wert
eines unabhängigen und freien Journalismus. Es ist da-
her sicher kein Zufall, dass die Nachfrage nach der Be-
richterstattung der Deutschen Welle gerade in Krisenge-
bieten wie der Ukraine zurzeit sehr groß ist. Die
Deutsche Welle steht für Meinungsfreiheit, für Presse-
freiheit, für Menschenrechte, für Demokratie und soziale
Marktwirtschaft. Sie ist damit natürlich gerade in Kri-
senregionen für viele Menschen die einzige oder zumin-
dest eine sehr wesentliche Verbindung in die freie Welt.
Obwohl sie inzwischen mit 26 internationalen Sen-
dern konkurriert, ist es der Deutschen Welle in den ver-
gangenen Jahren gelungen, die Nutzung ihres Angebots
um – ich sage es einmal so – satte 17 Prozent auf immer-
hin 101 Millionen Nutzer pro Woche zu steigern. Das ist
ein Zeichen für ihre hohe Glaubwürdigkeit.
Wenn wir heute die Stellungnahme der Bundesregie-
rung zum Entwurf der Aufgabenplanung der Deutschen
Welle bis 2017 beraten, geht es zum einen darum, was
uns eben genau dieser Auslandsrundfunk als – so nennen
wir es ja immer – Leuchtturm unseres demokratischen
Rechtsstaates im Ausland tatsächlich wert ist, zum ande-
ren müssen wir uns aber auch gelegentlich die Frage
stellen, welche Signale dieser Leuchtturm zurzeit sendet
und ob er überall die richtigen Signale aussendet. Diese
Fragen hängen – das ist offensichtlich – miteinander zu-
sammen.
Insofern war es – das möchte ich hier offen sagen –
nicht hilfreich, dass die Deutsche Welle mit dem Aus-
7304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Staatsministerin Monika Grütters
(C)
(B)
scheiden ihres Intendanten aus dem Kuratorium von Re-
porter ohne Grenzen wegen ihrer China-Strategie in die
Schlagzeilen gekommen ist,
ganz unabhängig davon, wer den Anlass gegeben hat
und dass Reporter ohne Grenzen offensichtlich mit zwei-
erlei Maß misst: Das ZDF bleibt drin, die Deutsche
Welle geht raus. Warum und wie auch immer, ich finde
es bedauerlich. Das richtige Signal war das jedenfalls
nicht. Das ist ausnahmsweise eines, das mir nicht gefällt,
bei allem Verständnis dafür, dass die Deutsche Welle
ihre Präsenz in China verbessern will. Ich finde, dass
man, gerade wenn man in solch schwierigen Ländern
vertreten sein will, auch senden können muss. Deshalb
wäre es ja gerade richtig, dass sie in China präsent ist.
Der Empfang der Deutschen Welle wird im Gegensatz
zu anderen Sendern in China geblockt. Die Internetange-
bote sind seit 2008 gesperrt. Das zeigt, dass die Deutsche
Welle – zumindest in China – alles andere als ein re-
gimefreundlicher Sender ist. Auch das muss man in die-
sem Kontext sagen.
Über den richtigen Weg zum Ziel, also zur Stärkung
der Deutschen Welle – das wollen wir hier alle –, lässt
sich also trefflich streiten. Fest steht: Wir können es uns
angesichts der aktuellen internationalen Entwicklungen
als größtes Land der EU nicht leisten, unseren Auslands-
sender zu vernachlässigen, im Gegenteil.
Die politischen Krisen, die in vielen Teilen der Welt
mit Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit
einhergehen, machen es geradezu erforderlich, die Deut-
sche Welle als Leuchtturm demokratischer Werte zur
Orientierung gerade in Krisenregionen zu stärken. Die-
sem Ziel trägt die Finanzplanung für den Zeitraum der
Aufgabenplanung durchaus Rechnung. Nach Jahren der
Stagnation haben wir den Bundeszuschuss an die Deut-
sche Welle nämlich substanziell erhöht. Im Ergebnis ste-
hen der Deutschen Welle gegenüber der Haushaltssitua-
tion 2013 im Jahr 2014 rund 10 Millionen Euro mehr zu,
und 2015 sind es sogar 13,5 Millionen Euro, wenn auch
ganz überwiegend zweckgebunden.
Anders als andere vom Bund finanzierte Einrichtun-
gen hat die Deutsche Welle – das muss man hier, finde
ich, offen ansprechen; denn diese Wünsche sind und
bleiben erst einmal offen; es sind nicht nur Wünsche des
Senders, sondern auch unsere; wir machen sie uns also
zu eigen – wegen ihres eigenen Haustarifvertrages – ihn
hat sie wegen der Rundfunkfreiheit – seit 1998 anders
als die im Rahmen des TVöD berücksichtigten Einrich-
tungen keinen Ausgleich für Tarifsteigerungen bekom-
men.
Vergütungserhöhungen belasten deshalb seit vielen Jah-
ren ihren Haushalt, weshalb hierüber sicherlich nicht nur
zu reden sein wird. Darin waren wir uns in der Haus-
haltsdebatte vor drei Wochen übrigens alle einig.
Nun zum Inhalt bzw. zum Programm. Aus der Aufga-
benplanung geht hervor, dass die Deutsche Welle ihre
Position im internationalen Vergleich hinsichtlich der
Akzeptanz und Reichweite deutlich ausbauen will. Ich
finde das spannend und hoffe, dass es ihr gelingt, was
angesichts der Konkurrenz von oft propagandistischen
Sendern – es geht ja um Konfliktgebiete – in unser aller
Sinne ist. Dazu sollte das Programm aktueller sein. Wir
brauchen eine stärkere Ausrichtung auf Nachrichten, ha-
ben Sie gesagt. Aus unserer Sicht gehören Dokumenta-
tionen, Magazine, auch zu Themen aus Politik, Kultur,
Wirtschaft und Gesellschaft, sehr wohl dazu; sie dürfen
nicht zu kurz kommen. Ein reiner Nachrichtenkanal darf
die Deutsche Welle nicht werden.
Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom
Juni 2013 über eine viel engere Kooperation zwischen
Deutscher Welle und ARD, ZDF und Deutschlandradio
trägt dazu bei, dass ein abwechslungsreiches Programm
gemacht wird. Außerdem kann die Deutsche Welle auf
ein dichtes Korrespondentennetz zurückgreifen. Natür-
lich ist auch das Thema „Deutsche Stimme“ wichtig. Als
Auslandssender und als deutsche Stimme in der Welt
muss sie natürlich auch weiterhin deutschsprachig prä-
sent sein.
Dies kann gerade durch die Kooperation mit ARD und
ZDF gewährleistet werden. Es darf nicht der Eindruck
entstehen – das ist in den vergangenen Tagen doch pas-
siert –, Etatsteigerungen könnten mit der Drohung
durchgesetzt werden, das deutschsprachige Programm
zu reduzieren, also ausgerechnet bei der Kernaufgabe zu
lahmen. Das geht nicht. Diese Wahl hat man gar nicht.
Schon das Deutsche-Welle-Gesetz steht dem entgegen.
Ein letzter Satz. Ich bin sehr froh, dass wir uns über
die zunehmend wichtiger werdende Rolle der Deutschen
Welle als Botschafterin unseres Landes weitgehend einig
sind. Vor diesem Hintergrund appelliere ich an Sie alle,
die geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Relevanz
und der Breitenwirkung ihres Angebots mit zu unterstüt-
zen, wie es auch der Verwaltungsrat und der Rund-
funkrat getan haben. Die Deutsche Welle soll auch in
Zukunft eine Stimme der Freiheit sein, gerade dort, wo
unabhängige Stimmen durch Propaganda und Zensur
zum Verstummen gebracht werden.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Der nächste
Redner ist Harald Petzold, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7305
Harald Petzold
(C)
(B)
Deutsche Welle, über deren Aufgabenplanung bis 2017
wir heute hier diskutieren, ist international sehr geachtet;
Frau Staatsministerin Grütters hat die Zahlen dazu ge-
nannt. Ich finde, dafür gibt es gute Gründe, unter ande-
rem das vielfältige und qualitativ hochwertige journalis-
tische Angebot.
Ich denke, darüber hinaus verdankt die Deutsche
Welle ihre Anerkennung auch einer Mitarbeiterschaft,
die trotz des jahrelangen Verzichts auf Tariferhöhungen
eine wunderbare Arbeit geleistet hat. Allerdings müssen
wir feststellen, dass inzwischen nur noch circa 1 500 die-
ser Mitarbeiter fest angestellte Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sind, während gleichzeitig circa 4 000 Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter freie oder sogenannte feste
freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind. Gäbe es
diese freien Mitarbeiter nicht, würde der Sendebetrieb
gar nicht mehr aufrechterhalten werden können. Deshalb
möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Deutschen Welle an dieser Stelle ausdrücklich für ihre
Arbeit, durch die der Sender eine internationale Aner-
kennung erhalten hat, trotz der widrigen Umstände dan-
ken. Gleichzeitig möchte ich dafür werben, dass es für
die freien und die sogenannten festen freien Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter endlich auch angemessene Mit-
bestimmungsrechte gibt.
Bislang werden sie beispielsweise nicht beteiligt, wenn
es um die Gestaltung ihrer Arbeitsplätze oder um eine
Umqualifizierung geht. Das kann in Zukunft nicht so
bleiben.
Ich denke, die Deutsche Welle verdankt ihre Beliebt-
heit darüber hinaus der hochwertigen journalistischen
Arbeit und ihrer Sprachenvielfalt. Als Abgeordneter war
ich inzwischen mehrfach in El Salvador zur internationa-
len Wahlbeobachtung, und ich hatte dort Kontakt zu vie-
len jungen Leuten, die sich entweder als Studierende, in
ihren Quartieren oder in den NGOs politisch engagieren.
In den Gesprächen fiel immer wieder der Name „Deut-
sche Welle“.
Das ist nicht verwunderlich. El Salvador ist ein Land,
das viele Jahre lang einen mörderischen Bürgerkrieg
über sich ergehen lassen musste. Meinungs- und Presse-
freiheit weiß das Land sehr wohl zu schätzen, weil sich
führende Leitmedien des Landes in Händen von Unter-
nehmen oder, wie wir sagen würden, Oligarchen befin-
den. An dieser Stelle kommt die Deutsche Welle ins
Spiel, weil sie einen Kontrast zu diesen Medien in die-
sem Land setzt und die Pressefreiheit deutlich erlebbar
macht.
Darüber hinaus bietet sie eine Möglichkeit, die deut-
sche Sprache zu erlernen. Einige dieser Studierenden
sind inzwischen beispielsweise an der Fachhochschule
in Wildau. Sie studieren in Deutschland und wissen die-
ses Sprachenangebot deswegen sehr zu schätzen. Andere
arbeiten beispielsweise bei DHL in San Salvador oder
bei Bombardier in Mexiko. Damit hat die Deutsche
Welle ihre Wirkungsziele, wie das auch im Evaluations-
bericht steht, meines Erachtens sehr gut erreicht.
Gemessen an den Zielen, die der neue Intendant hat,
sind das natürlich möglicherweise nur bescheidene Er-
folge. Vor allen Dingen sind das möglicherweise auch
nicht die Erfolge, die der Intendant hauptsächlich im
Auge hat, wenn er davon spricht, dass es darum geht,
dass man mit der Deutschen Welle, wenn man schon
nicht die erste oder zweite Geige im Orchester der welt-
weit agierenden Medienanbieter spielen kann, wenigs-
tens binnen weniger Jahre die dritte Geige hinter CNN
und der britischen BBC spielen möchte. Ich frage mich
dann: Wieso eigentlich? Auf welche Mission soll die
Deutsche Welle hier plötzlich geschickt werden?
Frau Professor Grütters, Sie loben hier die Programm-
vielfalt. Ich frage mich natürlich: Warum werben Sie
dann für eine derartige strategische Neuausrichtung?
Das ist für mich nicht nachvollziehbar.
Die Aufgabenplanung klingt so:
Es ist ein Ziel der Deutschen Welle, künftig stärker
als bisher die internationale Medienagenda zu prä-
gen und das Wirkpotenzial ihrer Angebote zu stär-
ken.
Das ist natürlich ein luftiger Satz. Wer heute früh die
Debatte über Finanzhilfen für Griechenland verfolgt hat,
der hat möglicherweise auch eine Vorstellung davon, in
welche Richtung das gehen soll: Der Sender soll nicht
mehr die Lebensvielfalt in Deutschland widerspiegeln,
sondern zu einem Sprachrohr für das Auswärtige Amt
umgestaltet werden. Dem können wir uns überhaupt
nicht anschließen.
Ich komme zu den deutschen Perspektiven in Bezug
auf Europa und die Welt. Die Deutsche Welle soll nach
und nach zu einem Baustein weltweiter deutscher Inte-
ressenpolitik werden. Hier werden wir als Linke nicht
mitmachen.
Das widerspricht unseres Erachtens auch der Aufga-
benstellung im Deutsche-Welle-Gesetz. Die Neuausrich-
tung des Senders ist der Grund für die zum Teil gravie-
renden Struktur- und Personalveränderungen. Diese sind
wiederum der Grund für die große Unsicherheit unter
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den bereits
eingeleiteten Personalabbau. Das ist auch der Hinter-
grund, weshalb wir in unserem Entschließungsantrag
den Erhalt der sprachlichen Vielfalt und der deutschen
Sprache stark betonen, auf die Interessen der Beschäftig-
ten und die Fürsorgepflicht des Senders für seine auslän-
dischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinweisen und
natürlich eine auskömmliche Finanzierung fordern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und möchte
noch einmal kurz auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter zu sprechen kommen; Frau Präsidentin, Sie werden
es mir gestatten, dies zum Schluss zu sagen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben einen of-
fenen Brief an die Politik gesendet, der inzwischen von
über 130 Künstlerinnen und Künstlern, Kulturschaffen-
den und Wissenschaftlern unterstützt wird. Ab heute
7306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Harald Petzold
(C)
(B)
Abend werden auch die 64 Abgeordneten der Linken zu
den Unterstützern dieser Forderungen gehören.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Martin Dörmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In allzu vielen Ländern erleben wir derzeit gewaltsame
Krisen, demokratiefeindliche Bestrebungen oder den
Versuch, freie Kommunikation zu unterdrücken. Gerade
vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung unseres Aus-
landssenders Deutsche Welle noch einmal deutlich ge-
stiegen. Die Deutsche Welle ist eine wichtige Botschaf-
terin für unser Land, aber auch für unsere Werte. Für
viele Menschen vor Ort ist sie eine Stimme der Freiheit,
der sie vertrauen.
Auf allen Kontinenten kann man DW-Programme
abrufen, sei es über TV, Radio oder online, und zwar in
insgesamt 30 unterschiedlichen Sprachen. Die Sprachen-
vielfalt und die hohe journalistische Qualität und Glaub-
würdigkeit der Deutschen Welle genießen weltweit hohe
Anerkennung.
Dennoch gibt es immer wieder Möglichkeiten und
Herausforderungen, um die eigene Arbeit zu optimieren.
Der Sender steht in einem immer stärker werdenden in-
ternationalen Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit
der informationssuchenden Menschen. Selbst Russen
und Chinesen drängen mit englischsprachigen Program-
men nach vorne, die im Übrigen überdimensioniert
finanziert werden.
Die vorgelegte Aufgabenplanung der Deutschen
Welle zielt darauf ab, die Relevanz der Deutschen Welle
als globaler Informationssender mit hoher Regionalkom-
petenz zu stärken. Erfolgreiche regionalsprachige Ange-
bote werden aufrechterhalten, aber eben auch neue
Schwerpunkte gesetzt, um eine größere Nutzerreich-
weite zu erreichen.
Weltweit ist dabei der englischsprachige TV-Kanal
der Deutschen Welle besonders erfolgreich mit 30 Mil-
lionen Nutzerkontakten pro Woche. Das Angebot soll
noch attraktiver und aktueller gestaltet werden. Wenn
heute – im wahrsten Sinne des Wortes – Weltbewegen-
des passiert, ist die Deutsche Welle mit ihren
Arbeitsstrukturen oft nicht in der Lage, ihr weltweites
Programm in unterschiedlichen Zeitzonen aktuell zu un-
terbrechen, um dann sogenannte Breaking News zu ma-
chen.
Ich gebe Ihnen hierzu einmal ein plastisches Beispiel,
um zu zeigen, worum es dabei geht. Raten Sie einmal,
was bei der Deutschen Welle am 11. September 2001
– also beim Terroranschlag auf das World Trade Center –
gesendet wurde. Das war ein Bericht über Saunen unter
dem Titel „Das türkische Bad in Duisburg“. Die Deut-
sche Welle war nicht in der Lage, kurzfristig auf live
umzuschalten, sondern musste sehr lange Zeit nur mit ei-
nem Laufband unter den Bildern operieren. Sie können
sich vorstellen, dass man so auf Dauer nicht konkurrenz-
fähig sein kann in einem sich weiterentwickelnden glo-
balen Markt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit ihrem Ent-
schließungsantrag unterstützen die Koalitionsfraktionen
die von der Deutschen Welle selbst vorgelegte Aufga-
benplanung. Diese zielt darauf ab, die Aktualität, Rele-
vanz und Reichweite der Welle zu stärken. Gleichzeitig
– das ist schon angeklungen, und ich bin dankbar, dass
Frau Staatsministerin Grütters darauf eingegangen ist –
wollen wir eine nachhaltige Finanzierung sicherstellen.
Der Finanzrahmen unseres Auslandssenders wird
durch den Bundeshaushalt bestimmt. Deshalb haben sich
Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag darauf ver-
ständigt, die Deutsche Welle dauerhaft und spürbar zu
stärken. Für die Jahre 2014 und 2015 wurden bereits
zweistellige Millionensummen zusätzlich für die Deut-
sche Welle zur Verfügung gestellt.
Nun haben wir uns vorgenommen und dies im Ent-
schließungsantrag ausdrücklich erwähnt, endlich auch
das grundlegende strukturelle Finanzierungsproblem bei
der Deutschen Welle zu beseitigen, nämlich die fehlen-
den Personalkostensteigerungen seit den 90er-Jahren.
Das wollen wir beenden, und das wird ein echter Para-
digmenwechsel werden.
Wenn es uns gelingt, das im Haushalt abzubilden,
dann wird die Aufgabenplanung der Deutschen Welle in
vollem Umfang umgesetzt werden können. Dann hätten
sich manche Einsparüberlegungen, die derzeit beispiels-
weise der Intendant der Deutschen Welle vorbringt, er-
ledigt. Dieser sagt: Wenn wir die strukturellen Finanz-
probleme nicht lösen, dann steht einiges an. – Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind deshalb derzeit zu
Recht sehr verunsichert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es deutlich
sagen: Das Sparszenario, dass die linearen TV-Pro-
gramme in den Sprachen Deutsch, Arabisch und Spa-
nisch eingestellt werden, weil deren Finanzierung nicht
gesichert ist, darf nicht eintreten. Das müssen wir ver-
hindern. Solche Kürzungen sind im Übrigen nicht Be-
standteil der Aufgabenplanung, über die wir heute be-
schließen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dafür
sorgen, dass die Deutsche Welle auf eine stabile finan-
zielle Grundlage gestellt wird und auch weiterhin ihre
Kernkompetenzen in vollem Umfang zur Geltung brin-
gen kann, nämlich Regionalität, Sprachenvielfalt und
nicht zuletzt professionellen Journalismus.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7307
Martin Dörmann
(C)
(B)
Ich möchte mit einem ausdrücklichen Dank an die
festen und an die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Deutschen Welle schließen. Mit ihrem besonderen
Einsatz und ihrem Engagement leisten sie einen unver-
zichtbaren Beitrag sowohl für eine freie und demokratie-
orientierte Berichterstattung – global, in vielen Ländern
dieser Erde – als auch für das positive Bild, das dadurch
ein Großteil dieser Welt von Deutschland hat.
Die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition insge-
samt stehen jedenfalls dafür ein, dass auch in Zukunft
die Rahmenbedingungen im Deutschen Bundestag so
gesetzt werden, dass die Deutsche Welle erfolgreich sein
kann.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Dörmann. – Nächste Red-
nerin für Bündnis 90/Die Grünen ist Tabea Rößner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Deutschen Welle rumort es gewaltig. Die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter sind verunsichert und bangen um ih-
ren Job. Am Montag gingen 600 von ihnen auf die
Straße. Seit Monaten sorgen die Umstrukturierungen in
der Deutschen Welle für Kritik, und wir finden, völlig zu
Recht.
Der Plan, aus der Deutschen Welle vor allem einen
Breaking-News-fähigen englischsprachigen Fernseh-
Nachrichtenkanal zu machen, entspricht eher 1990 als
2014, und er holt schon gar nicht das Beste aus der Deut-
schen Welle heraus. Ein englischer Nachrichtensender
als Flaggschiff wendet sich gegen alles, was die Deut-
sche Welle im internationalen Medienmarkt einzigartig,
konkurrenzfähig und schlagfertig macht, nämlich ihre
regionalen Kompetenzen, ihre Glaubwürdigkeit als In-
formationsanbieter gerade in unfreien Medienmärkten,
ihre fundierten Hintergrundberichte und vor allen Din-
gen ihre Vielsprachigkeit. Das alles sind Pfunde, mit de-
nen die Deutsche Welle wuchern kann. Dem Gespenst
der inhaltsleeren Umstrukturierung müssen wir daher
Einhalt gebieten.
Ich erkläre Ihnen auch, warum die Pläne inhaltsleer
sind. Es geht nämlich nicht darum, das bestmögliche
Programm zu machen. Es geht einzig und allein um
Reichweite, die heilige Kuh der Fernsehreligion. Damit
habe ich ein Problem. Sie tun so, als bedeute Englisch
automatisch mehr Reichweite. Das ist aber nur theore-
tisch so. In der Theorie ist es auch so, dass Sie, Herr
Dörmann oder Herr Wanderwitz, noch eine Karriere als
Diskuswerfer vor sich haben.
In der Praxis haben Sie aber vielleicht andere Stärken.
Mit der Deutschen Welle verhält es sich genauso: Sie ist
personell, journalistisch und strukturell nicht dafür aus-
gestattet, ein englisches Flaggschiff zu werden. Und sie
hat mit der BBC einen übermächtigen Tanker vor sich,
der überall schon da ist, wo die Deutsche Welle erst noch
hinwill.
Frau Kollegin Rößner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder Zwischenbemerkung des Kollegen Dörmann?
Aber gerne. Ich bin gespannt, was er dazu sagt.
Bitte schön.
Vielen Dank, liebe Tabea Rößner. Sie haben gerade
die Reichweite angesprochen. Ich habe vorhin schon da-
rauf hingewiesen, dass, wenn die Deutsche Welle ihren
gesetzlichen Auftrag erfüllen soll, unsere Werte in die
Welt zu bringen, natürlich auch die Reichweite eine
Rolle spielt, übrigens auch dadurch, dass man mit ande-
ren Sendern konkurriert, auf knappen Plätzen Fuß zu
fassen, beispielsweise bei TV-Kabelkanälen.
Aber ich habe auch Ihren Antrag sehr sorgfältig gele-
sen. In Ihrem Antrag kritisieren Sie ausdrücklich den
– wie Sie meinen – aussichtslosen Konkurrenzkampf ge-
genüber der BBC. Sie haben das gerade angesprochen.
Ich frage mich, ob Sie nicht etwas zu wenig optimistisch
darin sind, den Mitarbeitern etwas zuzutrauen, die doch
sehr erfolgreich sind. Vor allem aber verwickeln Sie sich
in Ihrem eigenen Antrag in einen Widerspruch. Denn Sie
fordern in Ihrem Antrag, dass § 4 des Deutsche-Welle-
Gesetzes geändert werden soll, und darin soll festge-
schrieben werden – ich zitiere –:
Es muss das Ziel der Deutschen Welle sein, die
Nummer eins der unabhängigen Informationsanbie-
ter in unfreien Medienmärkten zu werden.
Weil Sie gerade die Reichweite nicht als Messlatte
gelten lassen wollten, stellt sich die Frage, ob das nicht
ein Widerspruch ist und ob die BBC beispielsweise für
Sie jetzt zu den unfreien Sendern gehört. Auch das wäre
interessant.
Sie haben gesagt, dass es zu einer gesetzlichen Ver-
pflichtung werden muss, die Nummer eins zu werden.
Woran messen Sie das? Wenn das konsequent weiterge-
dacht wird, dann müssten wir auf die Programme setzen,
die eine besonders hohe Reichweite haben. Wie bereits
angedeutet, ist das erfolgreichste Programm das engli-
sche mit 30 Millionen Nutzerkontakten pro Woche, wäh-
rend das deutsche Programm gerade einmal 250 000 hat.
7308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Herr Kollege Dörmann, das sollte keine zweite Rede
werden.
Ich will ausdrücklich das deutsche Programm hoch-
halten. Aber sehen Sie die Widersprüche in Ihrem Ent-
schließungsantrag genauso?
So kann man seine Redezeit natürlich deutlich verlän-
gern, wenn man das nicht sagen konnte, was man eigent-
lich sagen wollte. Aber die Reichweite ist in der Tat ein
wichtiger Faktor. Ich glaube, dass die Reichweite auf
den Regionalmärkten relevant ist. Schwierig zu messen
ist sie überall. Ich weiß nicht genau, wie sie weltweit
gemessen werden soll. Aber die Reichweite auf den Re-
gionalmärkten ist der relevante Faktor. Nach meiner Ein-
schätzung ist es daher wichtig, hier Platz eins zu belegen,
allerdings nicht unbedingt in Konkurrenz zur BBC. – Vie-
len Dank für Ihre Zwischenfrage, Herr Dörmann.
Wenn es um ein internationales Kräftemessen geht,
wie die Befürworter des Umbaus ständig behaupten:
Warum suchen Sie sich dann nicht eine Disziplin, in der
Sie stärker sind als die Konkurrenz? Noch eine Frage
stellt sich mir: Wie bitte soll die Deutsche Welle mehr
Reichweite erzielen, wenn gleichzeitig große Teile des
Programms eingestellt werden? Das ist doch unlogisch.
Wir sind unbedingt für eine Modernisierung der Deut-
schen Welle. Aber hierfür müsste man ihre Alleinstel-
lungsmerkmale stärken und dürfte nicht bestehende Mo-
delle kopieren, die wenig mit den Kernkompetenzen der
Deutschen Welle zu tun haben. „Englisch ist die Sprache
der globalen Entscheider“, sagt der Intendant. Damit
seien aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft gemeint.
Ich verstehe unter Entscheidern Leute, die in Positionen
sind, die es ihnen ermöglichen, zu entscheiden. Wenn
aber Vertreter der Zivilgesellschaft erreicht werden sol-
len, dann ist die Ausrichtung auf Englisch falsch; denn
deren Muttersprachen sind Deutsch, Rumänisch, Farsi,
Hausa, Amharisch, Kisuaheli und viele mehr. Wieso sol-
len ausgerechnet diese Sprachen keine Reichweite ha-
ben?
Die Androhung der Intendanz, bis auf den englisch-
sprachigen alle Fernsehkanäle zu kürzen und zehn Spra-
chen zu streichen, ist aus vielen Gründen schlimm. Vor
allem aber empört sie mich als Mitglied dieses Hauses;
denn wir sollen damit erpresst werden. Die Geiseln die-
ser Erpressung sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter. Auf deren Rücken wird dieser Konflikt ausgetragen.
Das ist unanständig.
Die Demonstrationen, die Eintritte bei Reporter ohne
Grenzen, die offenen Briefe im Fahrstuhl der Deutschen
Welle, sie alle zeigen: Die Mitarbeiter lassen sich die
Drohungen nicht länger bieten. Wir sollten uns das auch
nicht bieten lassen.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben in unserem
Entschließungsantrag Vorschläge für eine zukunftsge-
richtete Deutsche Welle gemacht. Wir setzen uns für die
Stärkung der Vielsprachigkeit ein, weil genau dies das
Alleinstellungsmerkmal der Deutschen Welle ist und da-
mit die Konkurrenzfähigkeit im Vergleich zur BBC ver-
bessert wird. Wir fordern, dass die Deutsche Welle refor-
miert wird, damit der Sender für die Zukunft einen
klaren Auftrag bekommt, aus dem hervorgeht, was er
machen soll und was er nicht machen soll. Wir sind da-
für, den Etat zu erhöhen. Wir wollen, dass die Deutsche
Welle für Demokratieförderung in der Welt steht und
sich weltweit für Presse- und Informationsfreiheit ein-
setzt.
Zur Aufgabenplanung gehören auch eine transparente
Personal- und Finanzplanung. Wir fordern, dass die vie-
len festen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
einen Großteil der Beschäftigten ausmachen, Festange-
stellten gleichgestellt werden, damit auch ihre Rechte im
Personalrat vertreten werden.
Zu China und der Kooperation mit dem Staatssender
CCTV habe ich noch gar nichts gesagt. Da meine Rede-
zeit abgelaufen ist, nur noch einen Satz dazu: Es sollte
selbstverständlich sein, dass über Kooperationen im
Rundfunkrat diskutiert und entschieden wird; denn mit
einem Staatssender in einem Land zu kooperieren, das
die Medienfreiheit nicht achtet, kann die Glaubwürdig-
keit der Deutschen Welle massiv beschädigen.
Surfer träumen ihr Leben lang von der perfekten
Welle. Wir haben hier sicherlich kein Leben lang Zeit
zum Träumen, und perfekt muss die Deutsche Welle
auch nicht sein. Aber sie hat eine echte Chance verdient,
eine gute, neue Deutsche Welle zu sein.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die Bundesregierung erhält jetzt
das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
Silberhorn.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7309
(B)
Th
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Deutsche Welle ist ein Schaufenster unseres Landes
in der Welt. Sie ist eine Stimme für freie Medien, die in
29 Fremdsprachen einschließlich Amharisch und auch in
Deutsch verbreitet wird.
Meinungsfreiheit und ein ungehinderter Zugang zu
Information sind nicht nur ein Grundpfeiler einer funk-
tionierenden demokratischen Ordnung, sondern sind
auch spürbarer Ausdruck von guter Regierungsführung
und damit ein Fundament für nachhaltige Entwicklung.
Dort, wo man sich frei äußern kann und wo man ohne
Angst ungehindert Zugang zu Information bekommen
kann, herrscht ein Mindestmaß an Transparenz, ein Min-
destmaß an Offenheit und Teilhabe in einer Gesellschaft,
die notwendig sind, damit öffentliche Gewalt – Politik,
Verwaltung und Justiz – ihr Handeln am Gemeinwohl
der Bürger ausrichtet.
Wir sehen im Entwicklungsministerium täglich, vor
welch großen Herausforderungen die Länder stehen, in
denen die Medien an die Leine gelegt werden. Deswe-
gen fördert unsere Entwicklungszusammenarbeit ganz
gezielt Maßnahmen, die Meinungs- und Pressefreiheit in
unseren Kooperationsländern stärken und die die Arbeit
von freien Medien erleichtern.
Die Deutsche Welle hat mit ihrer Akademie einen
kompetenten Partner, der international hohe Anerken-
nung genießt. Wir freuen uns, dass wir mit der Deut-
schen Welle Akademie als unserer zentralen Durch-
führungsorganisation für ungehinderten Zugang zu
Information und zur Stärkung der Meinungsfreiheit zu-
sammenarbeiten können.
Wir bilden seit vielen Jahren über die Deutsche Welle
Akademie Journalisten aus Entwicklungs- und Schwel-
lenländern aus. Die Deutsche Welle Akademie führt un-
sere Projekte zu Meinungsfreiheit und Medienentwick-
lung durch, und sie unterstützt Partner in unseren
Kooperationsländern dabei, ihre eigenen Programme zu
entwickeln und auch zu senden, damit ihre Stimmen ge-
hört werden können. Ein Beispiel: Es wurden afrikani-
sche Fernsehjournalisten und Kameraleute geschult. Das
Ergebnis sind eigenständige, kritische Beiträge, die ganz
unterschiedliche Einblicke in den afrikanischen Alltag
ermöglichen und die das Potenzial aufzeigen, das unser
afrikanischer Nachbarkontinent birgt.
Aus entwicklungspolitischer Sicht kann ich nur sa-
gen: Wir begrüßen, dass die Deutsche Welle in ihrer
Aufgabenplanung die Bedeutung der Eigenständigkeit
der überwiegend vom Entwicklungsministerium finan-
zierten Projektarbeit der Deutschen Welle Akademie so
klar herausstellt. Wir begrüßen auch, dass bei der weite-
ren Programmentwicklung der Deutschen Welle die
Frage nach der Nutzung der Angebote explizit gestellt
wird. Wie groß ist die Wirkung? Wen erreichen wir? Wie
viel können die relevanten Zielgruppen mit den Sendun-
gen anfangen? Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Wir hatten eine Bereinigungssitzung unseres Haus-
haltsausschusses im November, in der deutlich gewor-
den ist, dass es fraktionsübergreifend eine große Unter-
stützung und ein starkes Interesse daran gibt, dass die
Deutsche Welle gut ausgestattet wird. Auch dem Ent-
wicklungsministerium ist daran gelegen. Deshalb haben
wir für diese Legislaturperiode zugesagt, Programme der
Deutschen Welle, die einen klaren entwicklungspoliti-
schen Mehrwert aufweisen, zu fördern.
An oberster Stelle steht für das Entwicklungsministe-
rium aber natürlich nach wie vor die Zusammenarbeit
mit der Deutschen Welle Akademie.
Wir setzen uns darüber hinaus für Meinungsfreiheit
und Medienentwicklung ein. Wir freuen uns darüber,
dass wir einen neuen Haushaltstitel mit der Bezeichnung
„Förderung von Medien, Zugang zu Information und
Meinungsfreiheit in Kooperationsländern“ haben. Das
ermöglicht uns neue Flexibilität. Wir können mit bis zu
10 Prozent dieses Titelansatzes auch Nichtregierungsor-
ganisationen unterstützen.
Die Deutsche Welle ist für die kommenden Jahre gut
aufgestellt, auch aus entwicklungspolitischer Sicht. Ich
freue mich, dass wir mit der Deutschen Welle Akademie
einen starken Partner haben, mit dem wir Meinungsfrei-
heit und den Zugang zu Information weltweit fördern
können.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dagmar Freitag,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Deutsche Welle ist der Auslandssender Deutsch-
lands und hat unter anderem – wir haben es schon mehr-
fach gehört –, die Aufgabe, unser Land der Welt als frei-
heitlichen, weltoffenen und demokratischen Rechtsstaat
näherzubringen. Sie zeigt, selbstverständlich journalis-
tisch unabhängig, Ereignisse und Entwicklungen in der
ganzen Welt auf und richtet sich natürlich vor allem an
Menschen, die sich für internationale Zusammenhänge
und die Sichtweise von außen auf Entwicklungen im ei-
genen Land interessieren.
Sie fördert damit auch den Austausch unterschied-
lichster Kulturen und – angesichts der derzeitigen Dis-
kussion um die geplante Neuausrichtung des Senders
nicht zu vergessen – die deutsche Sprache. Damit unter-
7310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dagmar Freitag
(C)
(B)
stützt sie seit Jahrzehnten auch entsprechende Maßnah-
men und Programme der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik unseres Landes. Das zeigt: Die Anforde-
rungen an die Deutsche Welle sind vielfältig und vor al-
len Dingen hoch. Der Sender ist nicht nur, aber ganz si-
cher auch eine Visitenkarte unseres Landes in der Welt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir blicken 2014
auf ein Jahr mit zahlreichen internationalen und europäi-
schen Konflikten und Krisen zurück, auf Entwicklungen,
die unzähligen Menschen die Zukunftsperspektiven, die
Heimat und im schlimmsten Fall das Leben genommen
haben. Gerade in solchen Zeiten wird wieder klar, wie
unverzichtbar unabhängige Medien sind, Medien, die In-
formationen auch dorthin liefern, wo eine freie Bericht-
erstattung eben gänzlich unbekannt ist.
Die Deutsche Welle berichtet in 30 Sprachen per TV,
Hörfunk und Internet aus unterschiedlichen Ländern und
über Regionen, in denen Inlandsmedien eben nicht frei
und unabhängig berichten können. Hier, an dieser Stelle,
ist die Deutsche Welle Garant dafür, dass die Menschen
dennoch auf eine unabhängige und vor allen Dingen
auch qualitativ hochwertige Berichterstattung zurück-
greifen können.
In der Russland-Ukraine-Krise konnten beispiels-
weise mit Mitteln des Auswärtigen Amts, Frau Staatsmi-
nisterin, zusätzliche Onlineangebote in Russisch und
Ukrainisch umgesetzt werden. Das war unverzichtbar,
liebe Kolleginnen und Kollegen, denn in einigen Län-
dern sprechen nur die Eliten Englisch; die restliche Be-
völkerung erreicht man eben nur in den Landessprachen.
Oder: Als die Ebolaepidemie ausbrach, hat die Deut-
sche Welle online und auch per Radio ein Aufklärungs-
programm in Englisch, Französisch, Portugiesisch,
H
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ein weiterer unver-
zichtbarer Bestandteil der Arbeit der Deutschen Welle ist
die der Akademie, die sich seit 1965 in immerhin
25 Ländern die Stärkung und den Aufbau von unabhän-
gigen Medien und die Ausbildung von guten Journalis-
ten zur Aufgabe gemacht hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur gute, motivierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit ihrem
Auftrag auch identifizieren können, liefern auch gute
und professionelle Arbeitsergebnisse. Die Frage der Fi-
nanzierung der Deutschen Welle, natürlich verbunden
mit den vielfältigen Diskussionen um eine Neuausrich-
tung des Senders, hat zu nachvollziehbarer Unruhe im
Hause geführt.
An dieser Stelle sind mir zwei Feststellungen wirklich
wichtig:
Wir haben uns im Koalitionsvertrag verständigt
– auch das ist mehrfach angesprochen worden –, die
Deutsche Welle finanziell angemessen auszustatten. Wir
müssen mit den Versäumnissen der Vergangenheit end-
lich brechen und ab 2016 vor allem eine dauerhafte Lö-
sung im Bereich der Personalkosten finden.
Wer diesen Sender im internationalen Wettbewerb expo-
niert positionieren will, muss auch bei den Haushaltsbe-
ratungen die notwendigen Schritte gehen. Frau Staatsmi-
nisterin Grütters, Sie haben es gesagt: Man darf nicht nur
darüber reden. – Gemeinsam, da bin ich sicher, schaffen
wir das dann auch.
Wer den Sender international stärker positionieren
will, muss natürlich auch über Veränderungen nachden-
ken dürfen. Mit der vorliegenden Aufgabenplanung sind
dazu entsprechende Vorstellungen präsentiert worden.
Bei allen erkannten Notwendigkeiten für Veränderun-
gen darf allerdings aus unserer Sicht die journalistische
Qualität ebenso wenig wie die inhaltliche und sprachli-
che Vielfalt zur Disposition stehen. Das gilt insbeson-
dere auch für das deutschsprachige Programm.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die derzeitige Dis-
kussion um die Zukunft der Deutschen Welle zeigt
ebenso wie unsere heutige Debatte: Die Deutsche Welle
verdient unsere konstruktiv-kritische Begleitung, aber
auch unsere Unterstützung über diesen Tag hinaus.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Marco Wanderwitz, CDU/
CSU-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Als letzter Redner hat man ja immer das Privileg,
die Dinge wiederholen zu dürfen, die alle anderen schon
gesagt haben. Ich werde mich bemühen, das nicht zu tun.
Ich möchte gerne zwei Bemerkungen voranschicken.
Erste Bemerkung: Wir haben schon gestern im Aus-
schuss diese Diskussion geführt. Sie verlief ähnlich wie
heute hier. Jetzt, liebe Tabea, schaue ich natürlich zu dir.
Irgendwie bist du bei diesem Thema anders als sonst, zu-
mindest ist das mein Eindruck.
Wir führen hier eine, meine ich, sehr seriöse Debatte,
und du hast bei diesem Thema irgendwie ein bisschen
Schaum vor dem Mund. Ich finde, das wird dem Thema
nicht gerecht. Es wäre aus meiner Sicht schön, etwas ab-
zurüsten.
Meine zweite Bemerkung möchte ich zu dem Thema,
das die Staatsministerin angesprochen hat – die Deut-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7311
Marco Wanderwitz
(C)
(B)
sche Welle und China, die Deutsche Welle und Reporter
ohne Grenzen – machen: Ich halte die Kritik von Repor-
ter ohne Grenzen an der Deutsche Welle wirklich für
problematisch. Ich glaube, sie ist nicht sachgerecht. Es
gibt keine erkennbaren Kriterien, nach denen sie erfolgt
ist. Die Deutsche Welle geht minimale Kooperationen
ein. Dafür derartig angegriffen zu werden, ist, glaube
ich, nicht sachgerecht. Darüber sollte Reporter ohne
Grenzen noch einmal nachdenken.
Ich möchte mich stellvertretend für die Unionsfrak-
tion dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Deutschen Welle für das anschließen, was die letzten
Jahre und Jahrzehnte die Deutsche Welle ausgemacht
hat. Sie war und ist die Stimme der Freiheit, der Men-
schenrechte und der Demokratie.
– Tabea, ich habe dich gesehen. Wenn du möchtest und
die Präsidentin es erlaubt, kannst du von mir aus gerne
fragen.
Aber nur, wenn ich das erlaube. – Frau Rößner, bitte
schön.
Ich bin jetzt doch etwas nachdenklich geworden. Du
hast eben vom „Schaum vor dem Mund“ gesprochen.
Ich verstehe das nicht ganz. Wenn ich von einer Sache
überzeugt bin und eine leidenschaftliche Debatte führe
– ich glaube, wir haben schon eine sehr sachliche De-
batte geführt –, dann kann man mir das doch nicht vor-
werfen. Ich wünsche mir bei manchen Themen eine viel
leidenschaftlichere Debatte.
Worum geht es denn? Es geht darum, dass wir ein gu-
tes, unabhängiges Programm haben wollen, dass wir mo-
tivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wollen,
dass wir eine Deutsche Welle haben, auf die wir alle
stolz sein können, die auch in unfreien Märkten eine
Stimme in der Welt ist und die viel zur Demokratieförde-
rung beiträgt. Das ist für mich eine Grundvoraussetzung,
weil unsere Gesellschaft davon abhängt. Es ist es doch
wichtig, dass wir dort, wo Menschen auf der Flucht sind,
weil sie fürchten müssen, ihre Meinung frei zu äußern,
mit starker Stimme sprechen. Insofern verstehe ich nicht,
warum es einem zum Vorwurf gemacht wird, wenn eine
Debatte so leidenschaftlich geführt wird. Vielleicht
kannst du das noch einmal erklären.
Ich unterschreibe all das, was du gerade vorgetragen
hast. Ich glaube, das eint uns. Gerade in deiner Rede war
es anders. Insofern: Schau es dir einfach einmal an, dann
erkennst du vielleicht, was ich meine.
Ich teile aber auch die Ansicht, die beispielsweise
Martin Dörmann vorhin zu seiner Zwischenfrage ge-
bracht hat: Es geht mir nicht um die Art und Weise des
engagierten Vortrages, sondern darum, dass immer mal
wieder die eine oder andere kleine Spitze bzw. die eine
oder andere kleine Halbwahrheit in die Diskussion
hineingepackt wird.
So kann man der Seriosität des Themas einfach nicht ge-
recht werden.
Das können wir beispielsweise bei TTIP weiterhin mitei-
nander betreiben, aber nicht bei der Deutschen Welle.
Wir kommen zum Thema Geld. Auch wir als Union
bekennen uns, so wie es die Staatsministerin schon getan
hat, so wie es der Parlamentarische Staatssekretär schon
getan hat, dazu, dass wir in den nächsten Jahren, begin-
nend mit dem Jahr 2016, strukturell etwas dafür tun wol-
len, damit die Deutsche Welle von der schiefen Ebene,
auf der sie jetzt ist, herunterkommt. Dass sie sich auf
dieser Ebene bewegt hat, hat zum einen mit den größer
werdenden Herausforderungen in der Welt und zum an-
deren mit den steigenden Personalkosten, die Martin
Dörmann bereits ansprach, zu tun.
Das hat natürlich auch etwas damit zu tun – das ge-
hört bei einer Debatte, bei der man in die Vergangenheit
schaut, dazu –, dass die Deutsche Welle nicht unerhebli-
che Etatkürzungen erfahren hat. Denen laufen wir ein
Stück weit hinterher.
Aber wir sind uns alle einig, dass wir die Situation ge-
meinsam verbessern wollen.
Auch die Digitalisierung, das sich wandelnde Me-
diennutzungsverhalten und die Reaktionen, die die Sen-
der darauf zeigen müssen, führen dazu, dass Reform-
druck entsteht und auch genau geschaut werden muss,
wofür wir das Geld ausgeben.
Nun habe ich in den letzten Tagen hier und da gehört
und gelesen, dass die Intendanz der Deutschen Welle uns
als Politik zu erpressen, zu bedrohen versuche. Vorhin
kam ja die Thematik mit der Geiselhaft der Angestellten.
Ich sehe mich nicht erpresst und bedroht, sondern finde,
dass es die Aufgabe eines Intendanten ist – Peter Lim-
bourg ist heute bei uns; herzlich willkommen –, uns zu
sagen, was passiert, wenn wir nichts tun. Nichts anderes
hat die Intendanz getan. Das tut sie in den Gremien
schon seit geraumer Zeit. Ich halte es für ein seriöses
7312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Marco Wanderwitz
(C)
(B)
Vorgehen, auch zu sagen, was passiert, wenn nichts pas-
siert. Nun ist es an uns, damit umzugehen.
Das Thema Sprachenvielfalt ist bereits intensiv be-
sprochen worden. Auch wir bekennen uns dazu: Wir hal-
ten die Orientierung auf die Verstärkung des Englischen
für richtig. Wir wollen das Deutsche gleichermaßen be-
halten, und wir wollen so viel als möglich regionale
Sprachenkompetenz behalten. Wichtig ist aber vor allen
Dingen eines: Deutsch soll die Hauptarbeitssprache in
der Deutschen Welle als deutscher Auslandssender blei-
ben, und zumindest der größte Teil derjenigen, die in der
Deutschen Welle arbeiten, soll deutsch sozialisiert sein.
Das heißt, wir wollen die Deutsche Welle als deutschen
Sender halten. Das ist ein ganz wichtiges Thema.
Zum Thema „Kulturvermittler und Kulturträger“ hat
die Staatsministerin umfänglich ausgeführt. Auch das ist
Kernauftrag der Deutschen Welle. Aber die Menschen
fragen ein Stück weit anderes vorrangig nach. Deswegen
glaube ich: Wenn man all das in einen attraktiven Nach-
richtensender hineinpackt, wird das eher zum Ziel füh-
ren, als wenn man nur die eine oder andere Reportage,
mit der man möglicherweise weder in Asien noch in
Afrika jemanden erreicht, vornan stellt.
Letzter Punkt – das Thema wurde ebenfalls angespro-
chen –: die Kooperation mit ARD, ZDF und Deutsch-
landradio, insbesondere mit der Überlegung, dass die
Deutsche Welle davon profitieren soll, indem sie bei-
spielsweise auf das Netz der Auslandskorrespondenten
zurückgreifen kann. Wir sehen da noch gewissen Ver-
besserungs-, Optimierungsbedarf und wünschen uns
sehr, dass sowohl die Welle als auch die öffentlich-recht-
lichen Anstalten intensiv weiter daran arbeiten, dass die
gewünschten Effekte eintreten. Da ist noch ein bisschen
was zu verbessern; deswegen will ich es an dieser Stelle
ansprechen.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu der Unterrichtung
durch die Deutsche Welle über ihre Aufgabenplanung
2014 bis 2017. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3595, in Kennt-
nis der Unterrichtung auf den Drucksachen 18/2536 und
18/3056 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Entschließung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3596. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3597. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja
Keul, Luise Amtsberg, Volker Beck , wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Versor-
gungsausgleichsgesetzes
Drucksache 18/3210
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf
für eine Änderung des Versorgungsausgleichs im Schei-
dungsverfahren vor. Der Versorgungsausgleich dürfte so
ziemlich das unbeliebteste Thema nicht nur bei den Be-
troffenen, sondern auch in der Anwaltschaft und in der
Richterschaft sein. Dennoch ist er es wert, dass wir uns
mit ihm beschäftigen; denn es geht um nichts Geringeres
als um Gerechtigkeit, Altersvorsorge und viel Geld. Der
Versorgungsausgleich erfährt längst nicht das gleiche öf-
fentliche Interesse wie das Unterhaltsrecht. Dabei über-
sehen allerdings die meisten, dass es beim Versorgungs-
ausgleich um mindestens ebenso existenzielle Fragen
und Summen geht.
Das Enfant terrible der Ehescheidung verdient also
durchaus unsere Aufmerksamkeit. Am liebsten würde
ich den Versorgungsausgleich ja ganz aus dem familien-
gerichtlichen Verfahren herausnehmen. Aber ich gebe
zu: Dieses Konzept ist noch nicht ganz fertig.
Wir fangen daher erst einmal mit einem schwerwie-
genden, aber leicht zu lösenden Problem an: der exter-
nen Teilung von betrieblichen Anwartschaften nach § 17
des Versorgungsausgleichsgesetzes. Damit der Spannungs-
bogen jetzt nicht abfällt, verrate ich Ihnen vorab, dass
jährlich dreistellige Millionenbeträge betroffen sind.
Um was geht es? Bis 2009 wurden bei einer Ehe-
scheidung alle Rentenanwartschaften des einen Ehegat-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7313
Katja Keul
(C)
(B)
ten zusammengerechnet und den zusammengerechneten
Anwartschaften des anderen Ehegatten gegenüberge-
stellt. Wer mehr hatte, musste die Hälfte der Differenz
übertragen.
Das hört sich ganz einfach an. Das Problem dabei ist:
Alle Anwartschaften berechnen sich anders: die gesetzli-
che Rente anders als die Beamtenversorgung und die
wiederum anders als die betriebliche Rente. Es mussten
also regelmäßig Birnen und Äpfel addiert werden. Dazu
mussten erst einmal alle Birnen in Äpfel umgewandelt
werden. Man könnte auch sagen: Es musste erst einmal
alles zu Mus gerührt werden. Bei diesem Prozess gab es
immer so viel Verlust für bestimmte Obstsorten, dass
man dies im Hinblick auf das Gebot des Halbteilungs-
grundsatzes nicht mehr hinnehmen konnte.
Deswegen teilen wir seit der Reform von 2009 die
Anwartschaften nicht mehr extern, sondern intern. Das
heißt, wir vergleichen nur noch Äpfel mit Äpfeln und
Birnen mit Birnen. Eine Betriebsrente braucht also nicht
mehr auf Biegen und Brechen in eine gesetzliche An-
wartschaft umgerechnet zu werden, sondern sie wird so
geteilt, dass auch der geschiedene Ehegatte einen eige-
nen Anspruch gegenüber dem Betriebsrententräger er-
hält. So weit, so gut.
Jetzt kommt aber die Ausnahme des § 17 des Versor-
gungsausgleichsgesetzes ins Spiel, die seinerzeit von der
Wirtschaft durchgesetzt worden ist. Wurde dem Arbeit-
nehmer eine Direktzusage gemacht, wollten die Arbeit-
geber sich durch die Ehescheidung des Arbeitnehmers
keinem weiteren Anspruchsberechtigten gegenüberse-
hen. Deswegen dürfen dort trotz der bekannten Nachteile
die Anwartschaften doch noch extern geteilt werden. Das
heißt, die Unternehmen können diese Direktzusagen im
Falle der Ehescheidung ihres ausgleichspflichtigen Ar-
beitnehmers als Kapitalbetrag auszahlen, und der Aus-
gleichsberechtigte muss dann sehen, wie er – statistisch
gesehen ist es meistens die Ehefrau – sich damit eine
vergleichbare Altersvorsorge aufbaut. Das wird aber
nicht gelingen. Allein schon die Differenz zwischen dem
zugrunde gelegten Zinssatz bei Abschluss der Direktver-
sicherung und dem heute aktuell zu erzielenden Zinssatz
steht dem entgegen. Der Ehemann verliert also die
Hälfte seiner Altersversorgung. Seine geschiedene Ehe-
frau kann mit dem ausgezahlten Kapital aber keine
Rente in der entsprechenden Höhe aufbauen.
Insgesamt gibt es also weniger Rente, als wenn die
Ehe Bestand gehabt hätte. Wie immer stellt sich jetzt die
Frage: Wo bleibt die Differenz? Genau. Die Differenz
wird zum Gewinn des Arbeitgebers, der sich auf diese
Art von der Hälfte seiner Verpflichtung befreien kann
und keine Sorge mehr haben muss, wie er seine Direkt-
zusage trotz der Niedrigzinsen einhalten kann.
Die Scheidung des Arbeitnehmers ermöglicht es dem
Unternehmen, sich von einer teuren vertraglichen Ver-
pflichtung günstig zu lösen. Für die geschiedene Ehefrau
ist dies eine Ungerechtigkeit im doppelten Sinne: Zum
einen hat sie aus der Betriebsrente eine geringere Alters-
versorgung als ihr geschiedener Ehemann. Damit wird
der Halbteilungsgrundsatz verletzt. Zum anderen profi-
tiert der Arbeitgeber ihres Mannes von ihrer geringeren
Rente.
Einer der wenigen Rechtsanwälte dieser Republik mit
einer Leidenschaft für versicherungsmathematische Be-
rechnungen, der Kollege Jörn Hauß, schätzt, dass davon
etwa 50 000 Fälle im Jahr betroffen sind. Er rechnet den
Gewinn der Firmen auf einen dreistelligen Millionenbe-
trag hoch. Auch der Deutsche Anwaltverein hat bereits
Alarm geschlagen. Wir müssen hier als Gesetzgeber
dringend Abhilfe schaffen und die Ausnahme des § 17
des Versorgungsausgleichsgesetzes wieder streichen.
Dann bekommt die ausgleichsberechtigte Ehefrau eine
gleichwertige Direktzusage des Unternehmens in hälfti-
ger Höhe – und der Ehemann auch, und alles ist gut. Ge-
gen Altersarmut von Frauen würde das deutlich mehr
bringen als jede Mütterrente.
Ich plädiere daher an die Mehrheitsfraktionen in die-
sem Hause: Zerpflücken Sie diesen Vorschlag nicht rou-
tinemäßig nur deshalb, weil er von der Opposition einge-
bracht worden ist. Prüfen Sie ihn in aller Ruhe, und
lassen Sie uns die Experten dazu anhören. Wenn wir am
Ende alle gemeinsam etwas Vernünftiges beschließen,
bricht doch keinem ein Zacken aus der Krone.
Da können Sie doch mit Ihrer 80-Prozent-Mehrheit
mal großzügig sein.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Frau Dr. Sabine
Sütterlin-Waack, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Frau Kollegin Keul hat es eben schon angedeutet:
Wir behandeln heute ein Thema, das auch vielen Juristen
exotisch anmutet, aber in sehr vielen Scheidungsverfah-
ren praktische Relevanz entwickelt. Es geht um einen
Teilbereich des Versorgungsausgleichsgesetzes.
Mit der Strukturreform des Jahres 2009 wurde darin
festgelegt, dass der Grundsatz der internen Teilung von
Versorgungsanwartschaften aus der gesetzlichen Renten-
versicherung, die in der Ehe erworben wurden, ange-
wendet wird. Frau Keul hat dies eben so schön mit den
Äpfeln und Birnen erklärt. Ich will auch einmal versu-
chen, dies zu erklären: Sinn und Zweck des Versor-
gungsausgleichs ist es, im Scheidungsfall sämtliche in
der Ehezeit erworbenen Versorgungsrechte der Ehegat-
ten gleichmäßig aufzuteilen. Das nennt man Halbtei-
lungsgrundsatz.
7314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
(C)
In den meisten Fällen wird die sogenannte interne
Teilung der Anrechte angewandt. Dabei wird für den
Ausgleichsberechtigten ein eigenständiges Anrecht zu-
lasten des Anrechts der Ausgleichsverpflichteten beim
gleichen – und das ist wichtig – Versorgungsträger be-
gründet.
Bei der sogenannten externen Teilung wird vom Ver-
sorgungsträger des Ausgleichsverpflichteten ein Kapital-
betrag an einen von der Ausgleichsberechtigten ausge-
wählten anderen Versicherungsträger gezahlt. Dort wird
dann ein Anrecht begründet. Diese Möglichkeit wird
auch heute noch in einigen Ausnahmefällen durchge-
führt. Die Ausnahme, um die es heute geht, ist – wir
haben es gehört – der § 17 des Versorgungsausgleichsge-
setzes. Dieser soll nach dem Gesetzentwurf von Bünd-
nis 90/Die Grünen nun ersatzlos gestrichen werden.
§ 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes lässt die ex-
terne Teilung der betrieblichen Altersversorgung zu.
Zwei Voraussetzungen sind allerdings einzuhalten: Im
Rahmen der betrieblichen Altersversorgung muss es sich
um eine Direktzusage oder um Leistungen der Unterstüt-
zungskasse handeln. Zweitens darf der Ausgleichswert
die Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Renten-
versicherung nicht übersteigen. Diese liegt im Moment
bei 72 600 Euro.
Schon bei der Neuregelung des § 17 des Versorgungs-
ausgleichsgesetzes im Jahre 2009 galt es für den damali-
gen Gesetzgeber, zwischen den Interessen der Aus-
gleichsberechtigten und denen der Versorgungsträger
abzuwägen. Diese Abwägung haben wir auch heute
noch zu berücksichtigen.
Für die Ausgleichsberechtigten gilt der aus Artikel 6
des Grundgesetzes hergeleitete Halbteilungsgrundsatz.
Kritiker des § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes
führen nun an – wir haben es eben gehört –, dass bei der
Teilung der Anwartschaften aus der betrieblichen Alters-
versorgung keine gleichmäßige Teilung stattfindet, da
der ausgleichsberechtigte Ehegatte im Rentenalter deut-
lich weniger Rente bekommt als der andere. Dies gilt
auch, wenn man nur die Anwartschaften, die in der Ehe
erworben worden sind, berücksichtigt.
Selbstverständlich, meine Damen und Herren, gelten
die Grundrechte auch für die Versorgungsträger. Die
Versorgungsträger sind ursprünglich gesehen keine
Beteiligten des Ehescheidungsverfahrens. Sie erhalten
ihre Beteiligtenstellung aber kraft Gesetzes. Sie erhalten
Mitwirkungspflichten und – darauf möchte ich beson-
ders hinweisen – auch Rechte. Insbesondere das Recht
am ausgeübten und eingerichteten Gewerbebetrieb
könnte bei der Streichung des § 17 betroffen sein. Würde
§ 17 wegfallen, gäbe es die Möglichkeit der externen
Teilung nur noch in sehr eingeschränkten Grenzen. Die
Unternehmen wären dann praktisch gezwungen, immer
intern teilen zu müssen. Die Versorgungsträger müssten
einen Betriebsfremden aufnehmen, mit dem sie nie ein
Beschäftigungsverhältnis hatten, und seine Anrechte
verwalten. Dieser erhielte dann die Stellung eines unver-
fallbar ausgeschiedenen Arbeitnehmers – ein sehr weit-
reichender Eingriff in die unternehmerische Freiheit.
Darüber hinaus steht zu befürchten, dass die Arbeit-
geber aufgrund dieses zusätzlichen, vom Gesetzgeber
dann erzwungenen Mehraufwandes davor zurückschre-
cken, weitere betriebliche Altersvorsorge anzubieten.
Damit würde eine wichtige Säule der Altersversorgung
als freiwillige Leistung der Betriebe ins Wanken geraten.
Das kann angesichts des demografischen Wandels nicht
unser Bestreben sein.
Genau diese Gesichtspunkte haben auch den Gesetz-
geber vor fünf Jahren dazu bewogen, den § 17 in der gel-
tenden Fassung einzuführen. Da ich 10 Minuten Rede-
zeit habe, zitiere ich aus der Gesetzesbegründung
und werde Ihnen den Grund der Entscheidung ganz kurz
erläutern:
Eine höhere Wertgrenze für die internen Durchfüh-
rungswege der betrieblichen Altersversorgung ist
gerechtfertigt, weil der Arbeitgeber hier, anders als
bei Anrechten aus einem externen Durchführungs-
weg …, unmittelbar mit den Folgen einer internen
Teilung konfrontiert ist, also die Verwaltung der
Ansprüche betriebsfremder Versorgungsempfänger
übernehmen muss. Das mögliche Interesse der aus-
gleichsberechtigten Person an der systeminternen
Teilhabe muss in diesen Fällen zurückstehen, bleibt
aber insoweit gewahrt,
– ich zitiere nur aus der Begründung, Frau Keul –
als sie nach § 15 VersAusglG über die Zielversor-
gung entscheidet, die durchaus auch bessere Bedin-
gungen bieten kann als das zu teilende betriebliche
Anrecht.
Das war das Zitat. Letztlich haben der Reform des Ver-
sorgungsausgleichs damals alle Fraktionen zugestimmt,
auch Ihre Fraktion, liebe Frau Keul.
– Sogar die Linken, genau.
Auf der anderen Seite verkenne ich nicht, dass es bei
der derzeitigen externen Teilung zu deutlichen Ungleich-
heiten zwischen Ausgleichspflichtigen und Ausgleichs-
berechtigten kommen kann.
Das habe ich auch in meiner anwaltlichen Praxis erlebt.
Andere Praktiker bestätigen dies ebenfalls. Die Aus-
gleichsberechtigten erhalten oft nicht die Hälfte der
Rentenanwartschaft, die der geschiedene Ehepartner er-
arbeitet hat.
Der vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich an ei-
ner Initiativstellungnahme des Deutschen Anwaltvereins
aus dem letzten Jahr. Auch dort wird die Streichung der
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7315
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
(C)
(B)
externen Teilung gefordert. Die Begründung dieser Stel-
lungnahme, die sich der Gesetzentwurf zu eigen macht,
ist auf eine Beispielsrechnung gestützt, die wenig realis-
tisch erscheint.
Im genannten Beispiel geht der Deutsche Anwaltverein
nämlich davon aus, dass die Zinsen in einem Zeitraum
von 40 Jahren unverändert bleiben. Diese Annahme ist
kritisch zu hinterfragen. Wir alle wissen, dass in den
letzten 40 Jahren sowohl eine Hochzinsphase als auch
die heutige Niedrigzinsphase zu beobachten waren. Die
Ungleichheiten werden damit übertrieben dargestellt.
Dadurch ergibt sich eine Berechnung mit extremen
Unterschieden, die uns nicht zu vorschnellen gesetz-
geberischen Handlungen verleiten sollte.
Meine Damen und Herren, aus Sicht vieler Experten
ist die Höhe des Zinssatzes der entscheidende Faktor für
den Ausgleichswert. Die für den Ausgleichberechtigten
unbefriedigende Situation ergibt sich im Wesentlichen
aus den unterschiedlichen Zinssätzen, die die internen
und externen Versorgungsträger zugrunde legen.
Im Hinblick auf den Rechnungszins lässt der BGH es
zu, dass der abgebende Versorgungsträger den Aus-
gleichswert unter Verwendung des Zinssatzes des Bilan-
zierungsmodernisierungsgesetzes in Verbindung mit
dem HGB berechnet.
– Ja, genau. –
Der Gesetzgeber hat die Verwendung dieses Zinssatzes
allerdings nicht vorgegeben, ihn aber zur Auswahl ge-
stellt. Dieser liegt regelmäßig bei ungefähr 5 Prozent.
Die Zielversorgungsträger rechnen hingegen mit
niedrigeren Rechnungszinsen. Lebensversicherer kalku-
lieren mit einem Garantiezins von 1,25 Prozent zuzüg-
lich Überschussanteilen.
Das ist der bereits erwähnten Niedrigzinsphase geschul-
det. Damit haben, wie wir alle wissen, nicht nur die Ver-
sicherer zu kämpfen.
Um die Schieflage zu begradigen, liegen mehrere
Lösungsalternativen vor. Die Radikallösung „Streichung
des § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes“ ist meiner
Ansicht nach keine zufriedenstellende Lösung. Weitaus
vielversprechender erscheint mir der Weg, einen geeig-
neteren Zinssatz zu finden.
Ein geringerer Rechnungszins beim Versorgungsträger
würde die Unterschiede der Rentenzahlungsergebnisse
nach Teilungsart deutlich abmildern.
Derzeit sind mehrere Verfahren vor dem BGH anhän-
gig, in denen es um die Frage des richtigen Rechnungs-
zinses geht. Wir sollten auf jeden Fall abwarten, zu wel-
chen Ergebnissen der BGH in den vorliegenden
Rechtsbeschwerdeverfahren in Bezug auf die Zinsfin-
dung kommen wird.
Um es auf den Punkt zu bringen: Auch ich erkenne
die Schwächen im Versorgungsausgleichsgesetz an.
Dass es Schwächen gibt, bestätigt auch die einschlägige
familienrechtliche Literatur fast einhellig. Auch in mei-
nen Gesprächen mit Familienrichtern wurde das immer
wieder deutlich. Es bedarf meiner Einschätzung nach
aber einer näheren Untersuchung, ob eine Senkung der
Wertgrenze in § 17 oder die Verwendung eines realisti-
scheren Rechnungszinses unter Umständen geeigneter
sind, um zu einer gerechten Ausgleichsform zu kommen.
Ein ersatzloser Wegfall des § 17 dürfte kaum geeignet
sein, die Interessen der Eheleute an einer möglichst ge-
rechten Halbteilung ihrer Anrechte und die berechtigten
Interessen der Betriebsrententräger in Einklang zu brin-
gen.
Über die aufgezeigten und möglichen anderen Lösun-
gen zur Verringerung der Ungleichheiten sollten wir in
den kommenden Wochen diskutieren.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Jörn Wunderlich,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 12. Februar 2009 wurde das Gesetz zur Strukturre-
form des Versorgungsausgleichs hier in diesem Hause
beschlossen. Jetzt habe ich den Vorteil, dass ich bei der
damaligen Debatte schon Berichterstatter war und auch
an den dazugehörigen Anhörungen teilnehmen durfte,
insofern die Begründung des Gesetzes kenne und weiß,
wie da diskutiert wurde und was letztlich Hintergrund
des Ganzen war.
Hintergrund war, dass niemand mehr bei der Versor-
gungsausgleichsberechnung durchstieg. Das Reizwort
war die Barwert-Verordnung. Der Richter sagte: Hier ist
der Versorgungsausgleich; die Anwälte werden es Ihnen
erklären. – Da wurden die Anwälte bleich. An der dama-
ligen Situation hat sich im Grunde nichts geändert.
Das Verfahren der Umrechnung gemäß Barwert-
Verordnung sollte beendet werden. Rentenanwartschaf-
7316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Jörn Wunderlich
(C)
(B)
ten sollten nun dort geteilt werden – das ist schon gesagt
worden –, wo sie entstehen. Das ist die sogenannte
interne Teilung. Das heißt, ein Beamter konnte Renten-
anwartschaften bei der BfA erwerben, obwohl er nie dort
eingezahlt hat. Umgekehrt konnte man auch Beamten-
pensionsansprüche erwerben, obwohl man nie verbeam-
tet war. Das führte dann zwar – gerade, was die Direkt-
zusage bei den betrieblichen Renten betraf – zu einem
erhöhten Aufwand für die Betriebe; aber für die Betrof-
fenen war es verständlicher und nachvollziehbarer.
Jetzt wurde hier begründet, warum § 17 Versorgungs-
ausgleichsgesetz eingeführt wurde. Ich sage: Das war
ein Kotau vor der Wirtschaft. Wenn eine Direktversiche-
rung im Rahmen des Versorgungsausgleichs intern ge-
teilt wird, dann hat der Betrieb plötzlich zwei Rentenbe-
rechtigte, muss also auch zwei Konten führen. Das führt
zu einem verwaltungstechnisch höheren Aufwand; das
ist klar. Im Hinblick auf die Regelung zu den geringfügi-
gen Beträgen nach § 14 waren wir uns alle einig, dass es
sich praktisch nicht lohnt oder unverhältnismäßig ist,
hier eine Änderung vorzusehen. § 17 aber war letztlich
die Verbeugung vor der Wirtschaft. Es sollte sicher-
gestellt werden, dass sich hier alle Fraktionen einig sind.
Dass diese Regelung heute in einem solch ausufernden
Maß angewendet wird, dass die betriebliche Altersver-
sorgung inzwischen eine der wesentlichen Säulen der
Alterssicherung ist, war damals nicht abzusehen.
Es sind hier schon entsprechende Rechenbeispiele an-
geführt worden. Gehen wir einmal davon aus, der Mann
müsste von seinen 1 000 Euro Rentenanwartschaften im
Rahmen einer internen Teilung 500 Euro an die geschie-
dene Frau abgeben. Sie würde damit eine Betriebsrente
von 500 Euro erwerben. Ihr Anteil könnte aber auch
– wie damals bei der Barwert-Verordnung – in eine
Kapitalgröße umgerechnet und fiktiv ausgezahlt werden
– den Anteil bekommt sie ja nicht auf die Hand –; damit
müsste sie ihre Rente bestreiten. Wir haben damals eine
Ausgleichskasse geschaffen für den Fall, falls jemand
keine Kasse hat und keine Rentenversicherungskasse be-
reit ist, überhaupt Rentenanwartschaften zu begründen.
Dieses Beispiel zeigt: Mit einer Kapitalsumme von
500 Euro kann ein Anspruchsberechtigter in der Versor-
gungsausgleichskasse oder auch in der gesetzlichen
Kasse maximal 302 Euro – und das bei dem angenom-
menen Höchstsatz von 5 Prozent – erwirtschaften. Das
heißt: Rund 200 Euro bleiben definitiv auf der Strecke,
und der davon Profitierende ist der Betrieb. Dieser zahlt
den Betrag einmal aus, ist den Anspruch los und muss
daher auch weniger Rückstellungen bilden, weil es nur
noch um 500 Euro Betriebsrente geht und nicht mehr,
wie vorher, um 1 000 Euro. Dass das den Betrieben ge-
fällt, ist klar.
Die Zinsproblematik wurde bereits erklärt. Der ge-
neigte Zuschauer wird spätestens nach fünf Minuten den
Fernsehkanal wechseln, weil die Problematik auch so
schon schwer zu durchschauen ist, insbesondere für den-
jenigen, der damit nichts zu tun hat.
Ob jetzt § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes ge-
strichen werden muss, ob man, wie Sie es vorschlagen,
die Werte herabsetzt und nicht einfach den halben Kapi-
talwert zugrunde legt oder ob man möglicherweise die
Bewertungsvorschriften nach § 45 Versorgungsaus-
gleichsgesetz ändert, das müssen wir im Rahmen der
Ausschussberatungen klären. Wir werden auch um eine
Anhörung von Sachverständigen aus der Praxis und aus
der Wissenschaft nicht herumkommen. Das alles hier in
erster Beratung zu erörtern, würde den Rahmen bei wei-
tem sprengen. Wir werden im Rahmen der Beratung zu
einer sauberen Lösung kommen, die sowohl den Berech-
tigten als auch den übrigen Beteiligten zumindest wei-
testgehend gerecht wird. Am 12. Februar 2009 war nicht
die Intention, dass das Gesetz so umgesetzt wird, wie es
gegenwärtig in der Praxis der Fall ist. Das hatten wir uns
anders vorgestellt.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dennis Rohde.
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zahl der Ehescheidungen in Deutschland
liegt Jahr für Jahr im sechsstelligen Bereich. 2013 waren
es rund 170 000 Paare, die ihre Ehe beendeten. Das be-
deutet, dass jedes Jahr Hunderttausende Menschen un-
mittelbar von einer Scheidung betroffen sind. Wir reden
dabei nicht nur über die persönlichen Enttäuschungen
und Verletzungen, wir reden nicht nur über die vielen
Veränderungen für das Familienleben. Als Gesetzgeber
geht es uns natürlich primär um die rechtlichen Folgen.
Wir debattieren heute über die Fragen des Umgangs
mit den erworbenen Anwartschaften für die Altersvor-
sorge. Es geht uns Sozialdemokraten natürlich darum,
dass es eine gerechte Verteilung der Vermögenswerte
zwischen den Geschiedenen gibt. Uns ist auch klar: Wir
dürfen nicht akzeptieren, dass 65 Jahre nach Verkündung
des Grundgesetzes die Gleichstellung zwischen Mann
und Frau immer noch nicht überall Alltag zu sein
scheint. Heute geht es um die Frage des externen Vertei-
lungsverfahrens bei Betriebsrenten auf die jeweiligen
Ansprüche der Geschiedenen und darum, wie sich das
auswirkt, dass dabei Ungerechtigkeiten durchaus mög-
lich sind. Frau Keul, wir sind in der Analyse ganz bei Ih-
nen. – Aber der Reihe nach.
Die betriebliche Altersvorsorge wird allgemein als die
zweite Säule der Altersvorsorge bezeichnet. Etwa
40 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftig-
ten gehen diesen Weg, um ihre Rente aufzubessern. Der
Betriebsrente kommt also mit Blick auf die Zukunft eine
herausgehobene Rolle in Bezug auf das Einkommen im
Alter zu, einem Einkommen, von dem man auch leben
können muss. Ich möchte an dieser Stelle mit Blick auf
die kommenden Beratungen auch deutlich machen: Wir
sollten das im Hinterkopf haben und sicherstellen, dass
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7317
Dennis Rohde
(C)
(B)
wir die Akzeptanz der Betriebsrenten am Ende nicht ge-
fährden; denn genau mit dieser Intention hat der Gesetz-
geber bei der Neuregelung des Versorgungsausgleichs in
der vorletzten Wahlperiode, also auch durch die Große
Koalition, eine besondere Ausnahme für die betriebliche
Altersvorsorge geschaffen, die dieser Herausforderung
gerecht werden soll. So werden im Falle einer Eheschei-
dung oder Trennung normalerweise die Versorgungsan-
rechte, die die Partner während der Ehe erworben haben,
intern geteilt. Das heißt, der Versorgungsträger, sei es
eine Kasse oder der Arbeitgeber, nimmt den Ex-Partner
– das ist in der Regel oftmals noch die Frau – als Versi-
cherten auf, wobei jeder der Partner die Hälfte der er-
worbenen Ansprüche erhält. Externe Teilung hingegen
bedeutet, dass der Versorgungsträger den Kapitalwert
des Anrechts an einen anderen Versicherer übergibt, den
die ausgleichsberechtigte Person auswählt. Das ge-
schieht im Normalfall nur bei kleinen Beträgen oder im
beidseitigen Einvernehmen.
Anders ist es jedoch bei den Betriebsrenten. Bei der
betrieblichen Altersvorsorge hat der Versorgungsträger,
in der Regel also der Arbeitgeber, das Recht, einseitig
die externe Teilung zu beantragen und so zu verhindern,
dass er eine neue Versicherte oder einen neuen Ver-
sicherten bekommt und insofern keine zusätzlichen Kos-
ten, zum Beispiel für die Verwaltung, entstehen; das
wurde eben schon genannt.
Das führt derzeit zu folgendem Problem: Um den Ka-
pitalwert eines Rentenanspruchs zu bestimmen, wird zu-
meist ein Zinssatz herangezogen, der momentan bei gut
4,6 Prozent liegt. Wenn ich diesen Maßstab zur Berech-
nung zugrunde lege und weiß, dass zum Beispiel der Ga-
rantiezins bei Lebensversicherungen derzeit bei nur
1,25 Prozent liegt, weil sich die Zinsen allerorts im Kel-
ler befinden, dann wird das Problem schnell deutlich:
Die externe Teilung kann zu einer Minderung der Alters-
vorsorge führen, insbesondere von Frauen, die überpro-
portional oft hiervon betroffen sind.
Der Deutsche Anwaltverein hat in Beispielrechnun-
gen angeführt, dass die am Ende ausgezahlte Rente um
mehr als 50 Prozent niedriger sein könnte, als sie es bei
Anwendung der internen Teilung gewesen wäre. Das ist
also eine deutliche Verletzung des Halbteilungsgrundsat-
zes. Allerdings ist dieser Zahl gegenüber – das hat die
Kollegin Sütterlin-Waack gerade schon gesagt – eine ge-
wisse Skepsis angebracht. Hier wird, zumindest in den
dramatischen Fällen, von einer Zeitspanne von über
40 Jahren zwischen Scheidung und Rente und einem
ebenso lange anhaltenden Niedrigzinsumfeld ausgegan-
gen. Das eine darf man wohl als nicht die Regel und das
andere als nicht gottgegeben bezeichnen. Tatsächlich
fehlt es uns an belastbarem und aussagefähigem Zahlen-
material.
Ich meine, eine einfache Streichung des § 17 des Ver-
sorgungsausgleichsgesetzes wird der Komplexität unse-
res Problems nicht gerecht. Der Gesetzgeber hat die
Ausnahme für Betriebsrenten aus den genannten Grün-
den ganz bewusst geschaffen. Wir sollten Belastungen
der betrieblichen Altersvorsorge vermeiden, wenn wir
sie letztlich vermeiden können. Dabei sollten wir Fol-
gendes im Auge behalten: Das Problem ist nicht die
externe Teilung selbst, sondern die im Vergleich zur
betrieblichen Altersvorsorge zurückhaltende Wertent-
wicklung bei anderen kapitalgedeckten Vorsorgeformen,
von denen insbesondere die Arbeitgeber, also die Firmen
profitieren. Wir befinden uns seit Jahren in einer andau-
ernden Niedrigzinsphase. Hier ist keine Lösung in Sicht.
Hier ist kein Ende absehbar.
Hätten wir andere Entwicklungen auf dem Kapital-
markt gehabt, hätten wir das heutige Problem nicht. Es
geht uns zwar darum, das Problem anzugehen, aber da-
bei nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Konkret
bedeutet das für uns: Zunächst sollten wir die anstehen-
den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in mehre-
ren Fällen abwarten, die sich um die Frage der Festle-
gung eines angemessenen Zinssatzes bei entsprechenden
Berechnungen drehen. Dann wissen wir mehr. Dann ist
es Zeit, zu prüfen, ob hier gesetzgeberischer Handlungs-
bedarf besteht oder ob das Problem auch durch eine ein-
heitliche höchstrichterliche Rechtsprechung aufgelöst
werden kann. Ansonsten hat – auch das wurde schon ge-
sagt – beispielsweise der Deutsche Familiengerichtstag
im letzten Jahr alternative Vorschläge für eine Reform
des § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes gemacht.
Es muss uns letztlich um eine Lösung gehen, die das
politische Ziel der Stärkung der betrieblichen Altersvor-
sorge wie auch die Interessen der Versicherten berück-
sichtigt. Wir brauchen eine tragfähige Lösung, die bei-
den Ansinnen gerecht wird. Lassen Sie uns die Thematik
in der kommenden Zeit – da sind wir ganz bei Ihnen –
mit Sachverständigen beraten! Lassen Sie uns die Zeit
bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht untä-
tig verstreichen lassen! Lassen Sie uns die Thematik in-
tensiv beleuchten und schauen, je nachdem, wie die Ent-
scheidung des BGH ausfällt, ob wir am Ende eventuell
gesetzgeberisch tätig werden müssen!
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Volker
Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jede Ehescheidung ist eine menschlich schwie-
rige Situation.
– Frau Kollegin Roth! – Zu der Frage, wie man ganz
persönlich mit der Trennung umgeht, kommt die Frage:
Was passiert mit meinen Versorgungsansprüchen? Bei
der Frage der Bemessung der Versorgungsausgleichsan-
sprüche geht es nicht weniger um die Frage: Was ist der
faire und gerechte Wert? Der Gesetzgeber hat die Auf-
gabe, die Eckpunkte zur Bestimmung dieses fairen und
7318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
gerechten Wertes festzusetzen; gleichwohl gibt er ihn
nicht im Detail vor.
An sich heißt es zwar „Iudex non calculat“; aber hier
muss der Jurist eben doch einmal rechnen. Das macht
die Situation so schwierig.
Die Situation ist schwierig, weil es hier um die Bestim-
mung von Kapitalwerten geht.
Wie sehr der Zins bei der Bestimmung von Kapitalwer-
ten zu divergierenden Ergebnissen führt, mag sich jeder
vor Augen führen, der einmal nachrechnet, was bei ei-
nem Zinssatz von 2 oder von 5 Prozent nach 20 Jahren
aus 10 000 Euro wird. Bei einem Zinssatz von 5 Prozent
werden aus 10 000 Euro 26 530 Euro und bei einem
Zinssatz von 2 Prozent lediglich 14 860 Euro.
Bei 5 Prozent ist das Ergebnis fast doppelt so hoch. Na-
türlich ist die Bestimmung des Kapitalwertes finanzma-
thematisch noch komplizierter. Ich will Ihnen aber deut-
lich machen, dass die Bestimmung des Zinses der
entscheidende Parameter bei der Frage der Ausgleichs-
ansprüche ist.
Nun kommen wir zu der Frage, warum wir uns mit
diesem Thema beschäftigen. Wir beschäftigen uns da-
mit, weil die Zinsentwicklung der letzten fünf Jahre nur
den Weg nach unten kannte. Hätten wir eine umgekehrte
Zinsentwicklung, würde die Diskussion in einem ande-
ren Umfeld stattfinden.
Dann wäre nämlich der Ausgleichsverpflichtete schlech-
tergestellt als der Ausgleichsberechtigte, weil der Aus-
gleichsverpflichtete an den niedrigeren Zinssatz gebun-
den wäre, während sich der Ausgleichsberechtigte bei
seiner neuen Versorgungskasse einen höheren Zinssatz
genehmigen könnte.
Das bedeutet im Ergebnis, dass wir aufgrund der Son-
dersituation der Zinsentwicklung der letzten fünf Jahre
über dieses Problem diskutieren. Ich bitte Sie, das zur
Kenntnis zu nehmen.
Dieser von Ihnen angesprochenen politischen Frage
wird man nicht gerecht, wenn die Lösung nur bedeutet:
Schaffen Sie einen Paragrafen ab!
Dahinter steckt vielmehr ein grundlegendes Verständnis
von Zins- und Bewertungsfragen in der gesamten
Rechtsordnung. Wir haben nämlich nicht nur beim Ver-
sorgungsausgleich über Zinssätze und Bewertungsfragen
zu diskutieren, sondern müssen dieses Thema auch in ei-
nem anderen Zusammenhang sehen. Da werden Wer-
tungswidersprüche zwischen Bewertungsanlässen im
Steuerrecht, im Bereich der Unternehmensbewertung
und im Bereich des Versorgungsausgleiches deutlich.
Wenn im Bewertungsgesetz derzeit ein Zinssatz von
2,59 Prozent angenommen wird, nach § 253 HGB ein
Zinssatz von 4,58 Prozent, nach den Grundsätzen des In-
stituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland bei Bewer-
tungsanlässen im Ertragswertverfahren Zinssätze zwi-
schen 1 und 3 Prozent, während die Lebensversicherer
mit 1,2 Prozent rechnen, dann merken Sie schon, dass
hier eine Bandbreite herrscht, die, wie eben dargestellt,
auf lange Sicht zu sehr divergierenden Ansätzen kommt.
Der Ansatz muss ein anderer sein. Wir dürfen es uns
nicht einfach machen, sondern haben die Verpflichtung,
diese Frage umfassend zu beleuchten. Wir brauchen,
glaube ich, einen Überblick über die verschiedenen Be-
wertungsanlässe. Wir sollten uns fragen, ob der Gesetz-
geber bei Bewertungsanlässen, die wesensgleich sind
oder zumindest aus einer ähnlichen Sphäre stammen,
nicht verbindliche ähnliche Bewertungsparameter zu-
grunde legen müsste. Das ist die Frage, die dahinter-
steckt. Sie ist viel komplizierter als die Frage, ob man
§ 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes streichen oder
beibehalten sollte.
Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen Ak-
tionismus wie die Streichung eines Paragrafen, sondern
sollten uns ruhig und besonnen überlegen, ob wir das
Problem der Bewertung durch gesetzgeberische Maß-
nahmen insgesamt angehen und lösen. Das wird keine
einfache Aufgabe werden. Aber ich glaube, diese Auf-
gabe ist die Anstrengungen wert. Denn im Augenblick
hängt das Ergebnis noch vom Zufall bzw. davon ab, wo
ein Ausgleichsberechtigter seinen Wohnsitz hat, weil es
in Bezug auf die Zinssatzhöhe unterschiedliche Recht-
sprechungen der Oberlandesgerichte gibt. Ich halte es
für unbillig, wenn ein Ausgleichsberechtigter in Augs-
burg einen anderen Kapitalanteil bekommt als ein Aus-
gleichsberechtigter in Celle, Hamburg oder Berlin. Das
ist mit uns nicht zu machen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7319
Dr. Volker Ullrich
(C)
Deswegen, meine Damen und Herren: Lassen Sie die
Finger von einer isolierten Streichung des § 17 des Ver-
sorgungsausgleichsgesetzes! Gehen Sie mit uns den Weg
der Erarbeitung einer grundsätzlichen und tauglichen
Regelung. Wir müssen uns fragen: Welche Zinssätze
sind für Bewertungsanlässe in größerem Maßstab ad-
äquat? In diesem Sinne: Lassen Sie uns in diesem Be-
reich weiterarbeiten.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Sonja Steffen, SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin die letzte Rednerin. Deshalb erlaube
ich mir, die Dinge etwas vereinfacht darzustellen.
Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns einig:
Der Versorgungsausgleich soll für Gerechtigkeit im Al-
ter sorgen. Wir haben den Versorgungsausgleich in
Deutschland übrigens seit 1977; davor gab es das
Schuldprinzip, das vom Zerrüttungsprinzip abgelöst
worden ist. In Ostdeutschland gibt es den Versorgungs-
ausgleich erst seit der Wende. Das ist übrigens ein gro-
ßer Nachteil für sehr viele geschiedene Frauen, die da-
durch finanzielle Nachteile haben. Aber das ist ein
anderes Thema, über das heute hier nicht diskutiert wer-
den soll.
Jedenfalls wurde 1977 nur jede fünfte Ehe geschie-
den; inzwischen ist es traurigerweise jede dritte Ehe. Das
verpflichtet uns natürlich, immer wieder einen kritischen
Blick auf die Gesetzgebung und die Gesetzeslage zu
werfen. Ich denke, wir haben 2009 eine gute Reform
verabschiedet; Herr Wunderlich hat sie ja dargestellt. Al-
lerdings müssen wir uns trotzdem immer wieder aufs
Neue fragen: Ist der Versorgungsausgleich wirklich an
allen Stellen gerecht?
Wir haben heute schon verschiedentlich gehört – das
ist, glaube ich, auch allgemein bekannt –: Eine Eheschei-
dung ist fast immer oder zumindest oft mit großen finan-
ziellen Einschnitten verbunden, die sich häufig erst im
Alter bemerkbar machen. Es ist tatsächlich so: Im Rah-
men einer Ehescheidung wird viel über die Höhe des
Unterhalts diskutiert. Weniger Augenmerk wird auf den
Versorgungsausgleich gelegt. Das dicke Ende bzw. das
böse Erwachen kommt erst zum Schluss, nämlich dann,
wenn es um die Rente geht und man feststellt, wie unter-
schiedlich hoch die Anwartschaften sind. Wir haben hier
schon entsprechende Beispiele gehört; Frau Keul etwa
hat Äpfel mit Birnen verglichen.
Auch ich möchte das Wesentliche ganz kurz am Bei-
spiel zweier Ehen darstellen: Nehmen wir die Eheleute
Müller, die ganz normal gesetzlich rentenversichert sind.
Ehemann Müller hat 1 000 Euro Rentenanwartschaften,
seine Ehefrau hat 500 Euro Rentenanwartschaften. Unter
dem Strich ist es nach einer komplizierten Verrechnung
dann so, dass die geschiedene Ehefrau später 250 Euro
mehr Rente bekommt und der Ehemann 250 Euro abge-
ben muss, sodass beide mit Anwartschaften in Höhe von
750 Euro, die sie während der Ehe erworben haben,
rechnen können. Das ist übrigens gerecht. Das gilt aber
nur im Hinblick auf die gesetzliche Rente, die Beamten-
versorgung und die berufsständischen Versorgungs-
werke. Was die Betriebsrenten betrifft, ist es nicht so.
Hier gibt es die Sonderregelung des § 17 des Versor-
gungsausgleichsgesetzes, über die wir heute reden.
Auch hierzu ein kurzes Beispiel. Nehmen wir die
Eheleute Berger. Bei den Eheleuten Berger ist es so, dass
der Ehemann neben seinen gesetzlichen Anwartschaften
noch 800 Euro Betriebsrente bekommt. Davon nimmt
man ihm 400 Euro weg – dieser Betrag würde dann im
Grunde genommen für seine Ehefrau zur Verfügung ste-
hen –, und er behält 400 Euro. Aber die Ehefrau erhält
im Alter eben nicht diese 400 Euro. Aufgrund der der-
zeitigen Zinssätze bekommt sie – auch dazu haben wir
schon Berechnungen gehört – vielleicht 250 Euro, viel-
leicht 300 Euro, vielleicht auch nur 200 Euro, jedenfalls
nicht die hälftigen Anwartschaften. Das ist in der Tat
nicht gerecht.
Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass ich den Gesetz-
entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für gar
nicht so schlecht und für nicht unvernünftig halte.
Es mag vielleicht andere Wege geben. Darüber werden
wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens reden.
Im Übrigen ist das auch haushalterisch nicht unver-
nünftig. Im Gegenteil: Es belastet nicht den Steuerzahler
und auch nicht die Rentenkassen.
Es sind nur die Unternehmen, die dann anders rechnen
müssen, und zwar im Grunde genommen so, als ob ihr
Arbeitnehmer eben nicht geschieden worden wäre.
7320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Sonja Steffen
(C)
(B)
Ich erlaube mir in der restlichen Zeit noch ganz kurz,
ein weiteres Anliegen vorzubringen, das ich aus dem Pe-
titionsbereich kenne. Auch das betrifft die Betriebsren-
ten.
Gehen wir vom Normalfall aus, den gesetzlichen An-
wartschaften, und erinnern wir uns an die Eheleute
Müller: Wenn die geschiedenen Eheleute Müller Rente
bekommen, dann erhalten sowohl der geschiedene Ehe-
mann als auch die geschiedene Ehefrau 750 Euro. Das
ist gerecht verteilt. Wenn nun die Ehefrau innerhalb von
36 Monaten nach dem Beginn des Rentenbezuges be-
dauerlicherweise stirbt, dann erhält der Ehemann – hier-
für gibt es eine Härtefallregelung – wieder die volle
Rente. Das finden wir auch sehr gut. Wir haben das hier
so beschlossen und die Frist sogar von zwei auf drei
Jahre verlängert.
Bei den Betriebsrenten gibt es das aber nicht. Unser
Herr Berger erhält im Falle der Scheidung 400 Euro statt
800 Euro. Wenn seine Ehefrau in Rente geht und ein hal-
bes Jahr nach dem Beginn des Rentenbezugs stirbt, dann
bleibt es bei seinen 400 Euro. Er hat dann 30 Jahre lang
oder noch länger gearbeitet, um eine Betriebsrente von
800 Euro zu erhalten, erhält aber auch im Falle des To-
des seiner früheren Ehefrau für den Rest seines Lebens
nur noch 400 Euro. Ich finde, man müsste auch darüber
nachdenken, ob man das nicht auch ändern sollte.
Zum Schluss will ich noch ein kleines, aber sehr di-
ckes Brett bohren – ich hoffe, das wird mir erlaubt –:
Wir könnten auch einmal darüber nachdenken, dass wir
bei einer Ehe von Anfang an zwei getrennte Konten bil-
den.
Wir teilen die Anwartschaften also von Anfang an. Jeder
Ehegatte erhält sein eigenes Konto. Dann brauchen wir
gar keinen Versorgungsausgleich, und dann brauchen
wir uns auch über die Witwenrente keine Sorgen mehr
zu machen.
Vielleicht ist das etwas für die Zukunft.
Vielen Dank.
Vielen Dank. Frau Kollegin, Sie sehen, dass alle sehr
dankbar sind für die einfache Darstellung hier.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3210 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Bundesdaten-
schutzgesetzes – Stärkung der Unabhängig-
keit der Datenschutzaufsicht im Bund durch
Errichtung einer obersten Bundesbehörde
Drucksache 18/2848
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/3598
Hierzu liegen ein Änderungsantrag und ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung und über
den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf
zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes und
dem Änderungsantrag unserer Regierungskoalition set-
zen wir zum einen zwei Urteile des Europäischen Ge-
richtshofs um, die gegen Deutschland und Österreich er-
gangen sind, und zwar einmal das vom 9. März 2010
und einmal das vom 16. Oktober 2012, und zum anderen
stärken wir die Unabhängigkeit der Bundesdatenschutz-
beauftragten. Das ist aufgrund dieser beiden Urteile er-
forderlich.
Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die Bundes-
datenschutzbeauftragte schon bisher unabhängig war. Es
gab zwar formal eine Dienstaufsicht des Bundesinnen-
ministeriums und eine Rechtsaufsicht der Bundesregie-
rung. Aber von beidem ist nie Gebrauch gemacht
worden. Aufgrund der Vorgaben des Europäischen Ge-
richtshofs wird die Bundesdatenschutzbeauftragte ab
dem Jahr 2016 zu einer vollkommen eigenständigen, un-
abhängigen obersten Bundesbehörde. Damit wird die
bisherige organisatorische Anbindung an das Bundesin-
nenministerium aufgehoben. Ich denke, dass wir damit
zum einen den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs
Rechnung tragen und zum anderen ein laufendes Ver-
tragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommis-
sion zum Abschluss bringen können. Es ist uns als CDU/
CSU sehr wichtig, dass diese Novellierung des Bundes-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7321
Stephan Mayer
(C)
(B)
datenschutzgesetzes noch im laufenden Jahr abgeschlos-
sen wird, um ein klares Signal Richtung Brüssel zu
senden, dass wir die Vorgaben des Europäischen Ge-
richtshofs umsetzen und die Bundesdatenschutzbeauf-
tragte aufwerten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben am 1. Dezember eine Sachverständigenanhörung
durchgeführt. Teilweise wird uns vorgeworfen, Sachver-
ständigenanhörungen hätten nur einen Placeboeffekt
oder hätten nur therapeutische Bedeutung. Wir haben,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ganz
konkrete Rückschlüsse aus dieser Anhörung gezogen,
insbesondere was die Stärkung der Bundesdatenschutz-
beauftragten im Bereich ihrer Zeugenaussagemöglich-
keiten anbelangt. Wir werden § 23 Absatz 6 des Bundes-
datenschutzgesetzes dahin gehend ändern, dass bei einer
gerichtlichen oder außergerichtlichen Zeugenaussage
der Bundesdatenschutzbeauftragten nicht das „Einver-
nehmen“ der Bundesregierung einzuholen ist für den
Fall, dass der Kernbereich exekutiver Eigenverantwor-
tung der Bundesregierung betroffen sein könnte, sondern
es wird lediglich erforderlich sein, dass die Bundesda-
tenschutzbeauftragte „im Benehmen“ mit der Bundesre-
gierung entscheidet, ob der Kernbereich exekutiver Ei-
genverantwortung betroffen ist oder nicht.
Ich möchte hinzufügen, man kann auch mit guten
Gründen die gegenteilige Position vertreten, dass letzten
Endes nur die Bundesregierung selbst festlegen kann, ob
der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung tangiert
ist oder nicht. Um es klar zu sagen und um jeglichen
Spekulationen und Gerüchten den Boden zu entziehen:
Es wird kein Maulkorberlass verfügt. Die Bundesdaten-
schutzbeauftragte ist in Zukunft sogar unabhängiger und
stärker in ihrer Position als Richter, wenn sie Zeugenaus-
sagen vornehmen müssen, weil für diese durchaus das
Erfordernis des Einvernehmens gilt. Ich glaube, das ist
ein klares Signal und stärkt die Stellung der Bundesda-
tenschutzbeauftragten.
Noch ein Wort zur Sach- und Personalausstattung.
Uns ist es wichtig, dass die Bundesdatenschutzbeauf-
tragte amtsangemessen ausgestattet wird. Mit diesem
Gesetz ist eine Stellenerhöhung um sechs Stellen beab-
sichtigt. Das wird auch entsprechend vorgenommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, im Vorfeld ist behauptet worden, das sei viel zu we-
nig, man müsse der Bundesdatenschutzbeauftragten
noch mehr Stellen zur Verfügung stellen. Ich habe schon
darauf hingewiesen, dass der Status der obersten Bun-
desbehörde erst im Jahr 2016 wirksam wird.
Wir haben also noch genügend Zeit, lieber Herr Kollege
Korte, uns im Rahmen der Haushaltsberatungen für das
Jahr 2016 und dem entsprechenden Stellenplan Gedan-
ken zu machen, wie die Stellensituation der Bundes-
datenschutzbeauftragten auszugestalten ist. Ich sage Ih-
nen an dieser Stelle zu: Wir werden hierbei in Zukunft
ein offenes Ohr haben. Auch wenn sich der Aufwuchs
aus meiner Sicht durchaus schon jetzt sehen lassen kann,
wird dies mit Sicherheit nicht das letzte Wort sein.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in
der Debatte der vergangenen Sitzung des Innenausschus-
ses war das dominierende Thema der Dienstsitz. Wenn
sich die Debatte in erster Linie darum dreht, ob der
Dienstsitz der Bundesdatenschutzbeauftragten in Zu-
kunft Bonn oder Berlin sein soll, dann kann – mit Ver-
laub – das Gesetz wirklich nicht so schlecht sein.
Wir werden festlegen, dass die Bundesdatenschutzbeauf-
tragte in Zukunft ihren Dienstsitz in Bonn hat. Das ist
auch sachgerecht, weil die meisten Unternehmen, die die
Bundesdatenschutzbeauftragte zu kontrollieren hat,
nämlich die Telekommunikationsunternehmen, entweder
in Bonn oder in der Umgebung von Bonn ihren Sitz ha-
ben. Es gibt also handfeste, sachgerechte Gründe, die
dafür sprechen, dass der Dienstsitz der Bundesdaten-
schutzbeauftragten Bonn sein wird. Auch der Bundes-
rechnungshof ist in Bonn angesiedelt. Ich glaube,
niemand wird unterstellen oder vorwerfen, dass der Bun-
desrechnungshof aufgrund des Dienstsitzes Bonn seiner
Kontrollfunktion nicht ausreichend nachkommen kann.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zum
Schluss kann ich nur feststellen: Wir haben einen guten
Gesetzentwurf vorgelegt. Wir dürfen es aber nicht bei
dem Gesetzentwurf belassen, sondern wir müssen vor al-
lem auch bei den laufenden Verhandlungen in Brüssel,
was die Datenschutz-Grundverordnung anbelangt, dafür
sorgen, dass die Datenschutzaufsicht auch in Zukunft so
stark und unabhängig bleibt, wie wir sie mit diesem Ge-
setzentwurf und dem entsprechenden Änderungsantrag
machen.
Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jan
Korte, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Bundesdatenschutzbeauftragte Voßhoff! Sie sitzt
ganz alleine auf der Besuchertribüne. Das ist sinnbild-
lich für das, was Sie mit ihr vorhaben: Dann sitzt man
halt alleine.
7322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Jan Korte
(C)
(B)
Sie haben heute den selbst für Ihre Verhältnisse be-
merkenswert schlechten Versuch unternommen, ein
EuGH-Urteil umzusetzen und bei dieser Umsetzung da-
für zu sorgen, dass es einen strukturellen Maulkorb für
die Bundesbeauftragte für den Datenschutz gibt. Interes-
sant ist die Frage, warum das Gesetz erst 2016 in Kraft
treten soll.
Davon abgesehen – Sie haben damit geendet; ich will
damit beginnen – war die Debatte im Innenausschuss um
den Dienstsitz Berlin nicht völlig emotional. Es gab die,
wie ich finde, völlig berechtigte Überlegung, dass wir im
Jahr 2014/2015 eine solche Behörde nach Berlin holen
sollten – das ist zumindest unsere Auffassung –, und
zwar aus einem ganz praktischen Grund: weil nämlich
diese Bundesregierung in Fragen des Datenschutzes eine
Rund-um-die-Uhr-Betreuung braucht. Deswegen haben
wir gesagt, es wäre sinnvoll, den Dienstsitz nach Berlin
zu verlegen.
Noch etwas ist interessant: Wir machen eine Sachver-
ständigenanhörung, an der alle eingeladenen Sachver-
ständigen teilgenommen haben – auch die, die Sie
benannt haben, insbesondere die Freunde der Sozialde-
mokraten –, und alle bis auf einen, nach dem Sie wahr-
scheinlich lange gesucht haben, haben Ihren Gesetzent-
wurf zerfetzt. Alle anderen haben gesagt: So geht das gar
nicht; das ist eine reale Schwächung der Bundesbeauf-
tragten für den Datenschutz.
Das ist auch ein wenig sinnbildlich für die Politik, die
Sie als Große Koalition machen:
Selbst das, was die Sachverständigen sagen, ist völlig
egal. Man sitzt hier satt und zufrieden mit einer 80-Pro-
zent-Mehrheit und macht eh, was man will. Man nimmt
dann nicht einmal Sachverständige ernst. Das ist wirkli-
che keine angemessene Einstellung auch gegenüber den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Wie sehen diese Maulkörbe nun aus? Man muss das
ein wenig übersetzen; denn wenn man einen solchen Ge-
setzentwurf liest – das gilt vor allem für Leute, die das
nicht jeden Tag machen –, dann braucht man etwas
Übersetzungshilfe, um ihn zu verstehen. Maulkörbe fin-
den sich in folgender Formulierung:
Die oder der Bundesbeauftragte darf als Zeugin
oder Zeuge aussagen, es sei denn, die Aussage
– jetzt kommt es –
… würde dem Wohle des Bundes oder eines deut-
schen Landes Nachteile bereiten, insbesondere
wenn Nachteile für die Sicherheit der Bundesrepu-
blik Deutschland oder ihre Beziehungen zu anderen
Staaten zu besorgen sind …
So klingt ein Maulkorb. Es kann dann sehr gut sein, dass
Sie im Zusammenhang mit Snowden oder der NSA mit
Verweis auf die Beziehungen zu anderen Ländern nichts
sagen und nichts machen, und das schreiben Sie sogar
noch der Bundesdatenschutzbeauftragten in den Gesetz-
entwurf. Das ist völlig unangemessen für die Zeit.
Ein weiterer Punkt: Sie haben es eben als ganz großen
Fortschritt verkauft, dass nicht mehr von „Einverneh-
men“, sondern von „Benehmen“ die Rede ist. In der Tat
ist das ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber
man muss auch lesen, was davorsteht. Dort steht – ich
darf zitieren –:
Betrifft die Aussage laufende oder abgeschlossene
Vorgänge, die dem Kernbereich exekutiver Eigen-
verantwortung der Bundesregierung zuzurechnen
sind oder sein könnten,
– das machen Sie natürlich immer dann, wenn es Ihnen
in den Kram passt, und schreiben es sogar noch in den
Gesetzentwurf hinein –
darf die oder der Bundesbeauftragte nur im Beneh-
men der Bundesregierung aussagen.
Es ist aberwitzig, so etwas in einen Gesetzentwurf für
die Stärkung der Unabhängigkeit der Bundesdaten-
schutzbeauftragten hineinzuschreiben. Das bedeutet
nämlich im Kern, dass bei Ihnen alles Kernbereich ist
und dass Sie alles verweigern werden, was an Aufklä-
rung nötig ist. Das ist wirklich völlig daneben, wie Sie
das machen.
Deswegen wäre die richtige Alternative gewesen, die-
sen Passus, den § 23 BDSG, in Gänze zu streichen, wie
es uns auch die große Mehrheit der Sachverständigen ge-
raten hat.
In Zeiten von Massenüberwachung, schwer kontrol-
lierbaren Geheimdienste, Edward Snowden und der Gier
von Konzernen und des Staates nach immer mehr Daten
stärken Sie den Datenschutz nicht, sondern Sie schwä-
chen ihn per Gesetz. Das ist diesen Zeiten nicht ange-
messen, und das ist auch der Demokratie, die nicht in al-
lerbestem Zustand ist, nicht angemessen. Deswegen
muss man das, was Sie vorgelegt haben, vollständig ab-
lehnen.
Ich komme zum Schluss. Es kommt noch hinzu – ich
weiß nicht, ob Ihnen das gar nicht auffällt –, dass Sie
Ihre eigene Datenschutzbeauftragte, die Sie selber vor-
geschlagen haben, düpieren und vorführen, wenn Sie
versuchen, ihr einen solchen Gesetzentwurf für ihre Be-
hörde zuzuschustern. Das geht überhaupt nicht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7323
Jan Korte
(C)
(B)
Der Zustand der Großen Koalition ist nicht gut. Das
Problem ist, dass Sie hier so abgefrühstückt und satt sit-
zen und dass alles egal ist. Alle Fragen betreffend die
Bürgerrechte und den Datenschutz sind – man muss sich
nur vor Augen führen, was hier in den letzten Jahren ge-
schehen ist – für Sie kein Thema. Es regt Sie nichts mehr
auf. Nur wenn einen nichts mehr aufregt, ist man in der
Lage, einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen. Deshalb
werden wir ihn aus voller Überzeugung ablehnen.
Schönen Dank.
Danke schön. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Gerold Reichenbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ob man sich im politischen Geschäft be-
stimmter Themen annimmt und sich über bestimmte
Dinge aufregt, ist nicht davon abhängig, ob man gleich-
zeitig Schaum vor dem Mund hat.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf stellt einen wich-
tigen Schritt für den Datenschutz in Deutschland dar.
Wir setzen mit diesem Gesetz um, was wir Sozialde-
mokraten seit Jahren fordern – natürlich haben die Ent-
scheidungen des Europäischen Gerichtshofs uns dabei
geholfen –, nämlich eine völlige Unabhängigkeit der Da-
tenschutzbeauftragten. Lassen Sie mich dazusagen: Es
ist nicht so, als wäre der Datenschutzbeauftragte bisher
nicht unabhängig gewesen. Kein anderer als der Amts-
vorgänger Peter Schaar hat deutlich gemacht, dass er
durchaus in der Lage war, unabhängig zu agieren, und
keinen Maulkorb hatte, obwohl das Gesetz damals noch
eine Reihe restriktiverer Formulierungen enthielt, die
der EuGH später moniert hat.
Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, machen wir
die Datenschutzbeauftragte auch formal unabhängig,
etwa mit § 23 BDSG. Es tut mir leid, Kollege Korte, da
waren Sie offenbar auf einem anderen Sportplatz.
Alle Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass
die Einvernehmensregelung in europarechtlicher Hin-
sicht schwierig ist. Deswegen haben wir das geändert.
Aber alle Sachverständigen haben auch deutlich ge-
macht, dass damit, egal ob dort „kann“ oder „könnte“
steht, ein Abwägungstatbestand beschrieben ist, also
nicht das, was Sie gerade versucht haben zu insinuieren.
Alle Sachverständigen haben ebenfalls deutlich ge-
macht, dass das, was der geplante § 23 Absatz 6 beinhal-
tet, nämlich den Hinweis auf „Nachteile für die Sicher-
heit der Bundesrepublik Deutschland oder ihre
Beziehungen zu anderen Staaten“, ohnehin bindende
Wirkung für die Datenschutzbeauftragte hat, unabhängig
davon, ob das in diesem Gesetz so formuliert ist oder
nicht. Sicherlich kann man darüber diskutieren, ob das
Gesetz solche Formulierungen unbedingt beinhalten
muss, wenn sie nicht notwendig sind. Aber wir formulie-
ren nichts von dem, was Sie gerade insinuiert haben,
dass es nicht existieren würde, wenn es nicht im Gesetz
stehen würde. Es handelt sich nämlich um ein Prinzip
unserer Grundrechtsordnung. Wenn sie Ihnen nicht
passt, müssen Sie es sagen. Aber dann können Sie es
nicht daran festmachen.
Nun kommen wir zum Kernbereich des Regierungs-
handelns. Es ist völlig unbestritten – das ist in verfas-
sungsrechtlicher Hinsicht ausgeurteilt –, dass der Kern-
bereich des Regierungshandelns verfassungsrechtlichen
Schutz genießt.
Wir haben den Genehmigungsvorbehalt herausgenom-
men; auch das wurde in der Anhörung thematisiert. Die
Bundesbeauftragte muss in die Lage versetzt werden,
Erkenntnisse, die ihrer Behörde nicht vorliegen, von der
Bundesregierung einzuholen, die es ihr ermöglichen, in
eigener Verantwortung zu beurteilen, ob der Kernbereich
des Regierungshandelns tangiert ist oder nicht. Das ist
Sinn und Zweck dieser Benehmensregelung, nichts an-
deres. Wenn ich mir das Urteil betreffend Österreich an-
schaue, bei dem es um die Kontrolle laufender Verfahren
geht, bin ich mir ganz sicher, dass dies in europarechtli-
cher Hinsicht in Ordnung ist. Letztendlich entscheidet
die Bundesbeauftragte oder der Bundesbeauftragte ei-
genständig. Mit anderen Worten: Mit der jetzigen For-
mulierung ist der Maulkorb weg, wie es in den Medien
tituliert worden ist.
Nun komme ich zu der von Ihnen geforderten Festle-
gung des Dienstsitzes. Dazu fällt mir nur ein: Wenn man
nichts mehr zu meckern hat, geht man halt auf den
Dienstsitz ein.
Am Ende stellt sich wirklich die Frage, ob die Stellung
der Bundesbeauftragten zum Parlament – das betrifft die
Symbolik – abhängig vom Dienstsitz ist. Beim Bundes-
verfassungsgericht gibt es das Problem nicht; das sitzt in
Karlsruhe. Beim Bundesverwaltungsgericht gibt es das
Problem nicht; das sitzt in Leipzig.
Beim Bundesrechnungshof sehen Sie das Problem auch
nicht; der sitzt auch in Bonn. Also, wo liegt ausgerechnet
beim Sitz der Bundesdatenschutzbeauftragten das Pro-
blem? Ich habe den Eindruck, dass es da nur nach dem
7324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Gerold Reichenbach
(C)
(B)
Prinzip geht: Irgendetwas muss ich ja zum Meckern ge-
funden haben. – Mehr steckt nicht dahinter.
Ebenso verhält es sich mit der Frage der Ausstattung.
Wir alle wissen, dass die völlige Unabhängigkeit 2016 in
Kraft tritt. Die Frage, wie eine angemessene Sachaus-
stattung auszusehen hat, entscheidet wie immer in die-
sem Parlament der Haushaltsgesetzgeber, nämlich der
des Jahres 2016. Sie können sich sicher sein, dass die
Koalitionsfraktionen bei der Aufstellung des Haushalts
2016 darüber beraten werden – wir haben das schon ein-
mal im Ausschuss deutlich gemacht –, welche Sachaus-
stattung der neuen Aufgabe angemessen ist. Sie wären
doch der Erste, der gesagt hätte: Jetzt kommen die Ko-
alitionsfraktionen und schreiben in das Gesetz, dass be-
stimmte Ausgaben für das Jahr 2016 getätigt werden sol-
len. Daran sieht man wieder einmal, welchen Respekt
die bräsige Große Koalition vor dem Haushaltsgesetzge-
ber 2016 hat. – Was beliebt Ihnen denn jetzt?
Wir gehen Stück für Stück und sachlich vor.
Das Gleiche gilt übrigens auch für das dritte Thema,
das in der Anhörung behandelt wurde, nämlich die Sank-
tionen. Es ist richtig: Ein Teil dessen, was die Bundesda-
tenschutzbeauftragte überwacht, ist der Bereich des Te-
lekommunikationsgesetzes. Da hat sie keine eigenen
Sanktionsmöglichkeiten. Aber wir sagen: Bis 2016 wird
die europäische Datenschutz-Grundverordnung vorlie-
gen. Dann werden wir im Rahmen dieser Grundverord-
nung, die ohnehin eigene Sanktionsmöglichkeiten für
die Datenschutzbeauftragten vorsieht, dieses Thema dis-
kutieren. Es macht keinen Sinn, das heute mitregeln zu
wollen.
Ich sage aus voller Überzeugung: Wir haben hier ein
Gesetz vorgelegt, insbesondere mit den Änderungen, die
wir im Ausschuss vorgenommen haben, das zu einer
vollständigen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der
Datenschutzbeauftragten führt.
Ich sage Ihnen auch: Wir machen Ihr Spiel nicht mit.
Es ist erstens nicht redlich und zweitens sachlich falsch,
zu behaupten, dass jeder, der den Anträgen der Grünen
oder der Linkspartei nicht zustimmt, gegen die Unab-
hängigkeit des oder der Datenschutzbeauftragten ist.
Diese Unabhängigkeit ist auch mit unserem Gesetzent-
wurf gegeben. Deswegen werden wir Ihnen in einer na-
mentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf am
Ende die Gelegenheit geben, deutlich zu machen, ob es
Ihnen wirklich um die Sache oder nur um eigene partei-
politische Profilierung und Klamauk geht.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Ihre
Zustimmung und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Dr. Konstantin von Notz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann ja
verstehen, dass Sie sich bei all dem Frust in der Großen
Koalition gern für Selbstverständlichkeiten abfeiern.
Aber das ist hier und heute gänzlich unangebracht.
Denn die Herstellung der völligen Unabhängigkeit
der Bundesbeauftragten für den Datenschutz als Hüterin
der Grundrechte ist europarechtlich geboten, und zwar
seit Jahrzehnten. Auch das Bundesverfassungsgericht
hat eine effektive Datenschutzkontrolle zur Vorausset-
zung für Dateien im Sicherheitsbereich genannt. Die Da-
teien gibt es, bei der Kontrolle ist Fehlanzeige. So geht
es eben nicht, meine Damen und Herren.
Wir haben die Unabhängigkeit hier in den letzten Jah-
ren immer wieder eingefordert, und Sie haben sie bisher
blockiert, vor allem die Kolleginnen und Kollegen der
Union. Ihre Feierlaune ist deswegen völlig deplatziert;
denn Sie stellen die Unabhängigkeit der Datenschutzbe-
auftragten eben auch heute nicht her.
Das liegt daran, dass Sie insgesamt ein gespaltenes
Verhältnis zum Datenschutz und zur Privatsphäre in der
digitalen Welt haben.
Seit Jahren blockieren Sie die Unabhängigkeit der Da-
tenschutzbeauftragten. Sie blockieren jegliche Verbesse-
rung der Privatsphäre von Menschen in der digitalen
Welt. Sie verweigern seit Jahren ein Arbeitnehmerdaten-
schutzgesetz. Statt aus den Niederlagen vor dem Bun-
desverfassungsgericht und vor dem EuGH zu lernen,
halten Sie an der Vorratsdatenspeicherung fest. Auf dem
CDU-Parteitag konnten wir lernen: Sie wollen auch
noch die Anonymität im Netz gänzlich wieder abschaf-
fen. Na, herzlichen Dank! Praktisch täglich dokumentie-
ren Sie Ihr Versagen, aus dem von Edward Snowden auf-
gedeckten Skandal Konsequenzen zu ziehen.
Die Bundesregierung wollte einen Maulkorb für die
amtierende Datenschutzbeauftragte und die ehemaligen
Datenschutzbeauftragten. Dieser Vorschlag ist bei den
Sachverständigen – das hat der Kollege Korte gesagt –
mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Nun legen Sie
kosmetische Korrekturen beim Maulkorb vor. Es bleibt
jedoch bei einer Genehmigungspflicht für den ehemali-
gen BfDI und die Bundesbeauftragte für den Daten-
schutz, die sich ins „Benehmen“ mit dem BMI zu setzen
hat. Ins „Benehmen“, das klingt harmlos, Herr Kollege
Reichenbach. Wir können hier ja einmal gesetzlich be-
schließen, dass Sie sich vor jeder Rede im nächsten Jahr
mit mir ins „Benehmen“ darüber zu setzen haben, was
Sie hier sagen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7325
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
Ich kann Ihnen schon sagen, wie das Ihre Unabhängig-
keit als Abgeordneter einschränken würde.
Ihnen liegt unser europa- und verfassungsrechtskon-
former Antrag vor, der in der Anhörung großes Lob, gro-
ßen Zuspruch erfahren hat. Seine Annahme würde ver-
hindern, dass die Bundesregierung, so wie sie es im PUA
täglich tut, unter Berufung auf den Kernbereich exekuti-
ver Eigenverantwortung immer wieder Informationsblo-
ckaden errichtet.
Ihre Vorlagen enthalten weitere Regelungen, die die
vollständige Unabhängigkeit darüber hinaus einschrän-
ken: das alleinige Vorschlagsrecht der Bundesregierung
bei der Benennung der Bundesbeauftragten, die fehlende
haushalterische Unabhängigkeit, die lückenhaften Ein-
sichtsbefugnisse der BfDI im Sicherheitsbereich, das
Fehlen von wesentlichen Sanktionsbefugnissen – Herr
Reichenbach, das haben Sie sogar angesprochen – im
Bereich der Post und Telekommunikation. Dazu kom-
men erhebliche Kontrolllücken zwischen der G-10-
Kommission und der BfDI, die Sie nicht gesetzlich
schließen wollen. All das ist völlig unzureichend.
Wir erleben derzeit den größten Datenschutzskandal
aller Zeiten. Dazu braucht es klare parlamentarische
Antworten: Neben der Aufklärung im Untersuchungs-
ausschuss, gesetzgeberischen Konsequenzen und der
Stärkung der parlamentarischen Kontrolle ist das eben
auch eine Stärkung der BfDI. Der Aufgabenbereich der
Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist massiv ge-
wachsen. Sie sind aber nicht in der Lage, die Behörde
entscheidend zu stärken.
Dieses Gesetz, bei dem Sie selbst sagen, dass es über-
fälligerweise einen rechtswidrigen, hochproblemati-
schen Zustand beseitigt, soll erst 2016 in Kraft treten.
Bis dahin soll eine Genehmigungspflicht durch das BMI
bei gerichtlichen und außergerichtlichen Aussagen wei-
terbestehen. Man kann einmal sehr gespannt sein, wie
Sie sich im PUA NSA verhalten, wenn Frau Voßhoff
und Herr Schaar kommen.
Herr Kollege von Notz.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich fordere Sie auf, die tatsächliche Unabhängigkeit
der Datenschutzaufsicht zu gewährleisten,
eine angemessene finanzielle und personelle Ausstattung
zu schaffen und die Möglichkeit, ihre wichtige Funktion
zum Schutz unserer Grundrechte endlich wahrnehmen
zu können, zu sichern. All das erfüllt Ihr Vorschlag
nicht. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist
der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kollegen!
Datenschützer können keine Daten schützen, sie
können allenfalls kontrollieren, ob Daten hinrei-
chend geschützt werden.
Dieses Zitat von Bundespräsident Gauck zeigt, dass
es beim Thema Datenschutz nicht um Daten an sich
geht; vielmehr steht die Nutzung von personenbezoge-
nen Daten im Vordergrund.
Die Große Koalition geht deshalb mit der Umsetzung
der EuGH-Urteile den nächsten richtigen Schritt, um
Deutschland zum Marktführer beim Schutz personen-
bezogener Daten zu entwickeln, ohne die Nutzung durch
die digitale Wirtschaft aus dem Blick zu verlieren.
Effizienter Datenschutz ist Bestandteil der Digitalen
Agenda der Großen Koalition. Daher ist die Behauptung,
wir seien mit unseren jetzigen Entscheidungen nur Ge-
triebene des Europäischen Gerichtshofes, schlicht unzu-
treffend. Formell und nachhaltig wird jetzt abgesichert,
was de facto schon vorher der Fall gewesen ist; denn die
Unabhängigkeit der Arbeit der Datenschutzbeauftragten
bestand bereits. Sie sehen dies daran, dass es nie einen
rechtsaufsichtlichen Eingriff durch das Innenministe-
rium gab.
Ich sehe das Gesetz als richtigen Schritt zur Stärkung
der Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten und
nehme die heutige Debatte deshalb zum Anlass, noch
einmal einen generellen Blick auf den deutschen Daten-
schutz zu werfen, insbesondere auf unseren Weg zur
Marktführerschaft in diesem Bereich. Aus meiner Sicht
sollten wir als Gesetzgeber künftig Folgendes bedenken:
Ziehen wir die Zügel beim Datenschutz zu straff, würgen
wir Innovation und Fortschritt ab. Wir würden hierdurch
jungen Unternehmen schaden, obwohl wir Start-ups ei-
gentlich stärken wollen. Lassen wir die Zügel zu locker,
öffnen wir Missbrauch Tür und Tor. Deshalb sind meiner
Meinung nach drei Punkte wichtig.
Erstens. Effektiven Datenschutz erreichen wir in
Deutschland nicht durch besonders strenge Regulierung.
Durch eine strenge Regulierung werden Unternehmen
vertrieben, die ihr Geschäftsmodell rund um die Nut-
zung von Daten aufgebaut haben.
7326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
(C)
(B)
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier redet ein
Kollege über ein sehr wichtiges Thema. Ich bitte Sie,
diesem Kollegen jetzt zuzuhören oder Ihre Diskussionen
draußen fortzusetzen. Ich sage das jetzt wirklich im
Ernst. Sonst warten wir einfach, bis Sie still sind, bis Sie
zuhören. Das gilt für alle Seiten in diesem Haus. Herr
Wendt hat das Recht, dass ihm zugehört wird,
und zwar auf allen Rängen des Hauses, auch in den hin-
teren Abteilungen. Setzen Sie sich also bitte hin, und hö-
ren Sie dem letzten Redner in dieser Debatte zu, sonst
machen wir eine Pause, bis alle sitzen. Das ist eine Dro-
hung.
So, Herr Kollege, wir versuchen es noch einmal.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich denke, insbeson-
dere die Tatsache, dass wir nachher namentlich über die
vorliegenden Anträge und dieses Gesetz abstimmen,
zeigt die Bedeutung des Themas.
Erstens. Effektiven Datenschutz erreichen wir nicht
durch besonders strenge Regulierung. Dadurch werden
Unternehmen aus unserem Land vertrieben, die ihr Ge-
schäftsmodell rund um die Nutzung von Daten aufge-
baut haben. Diese gehen dann nämlich in Länder, in de-
nen keine oder wenig Regulierung besteht. Damit fallen
sie aus unserem europäischen Einflussbereich heraus.
Was ist dadurch gewonnen? – Nichts.
Das Verbot jedweder Datennutzung ohne eine konkrete
Einwilligung, Privacy by Default genannt, ist ein gutes
Beispiel dafür. Dieses Verbot sorgt zum Beispiel dafür,
dass die Daten der hauptsächlich genutzten sozialen
Netzwerke heute in den Vereinigten Staaten gesammelt
und verwertet werden. Deutsche Unternehmen erleiden
ja aktuell signifikante Nachteile.
Zweitens. Wie der geschätzte Kollege Lars Klingbeil
kürzlich im Handelsblatt schrieb, hat sich in Zeiten der
Datenvielfalt das Prinzip der Datensparsamkeit überlebt.
Daten sind ein überaus wertvolles Gut und schützens-
wert. Dieses Gut zu nutzen, bringt uns Vorteile. Für mich
ist deshalb auch klar: Datenvielfalt ist gewünscht. Sie ist
Innovationstreiber. Die Vielzahl der positiven Einsatz-
möglichkeiten, heute und in der Zukunft, kann hier noch
keiner überblicken. Die Energiewende ist hier als Bei-
spiel zu nennen: Das Einsparpotenzial durch intelligente
Steuerung der Energieversorgung ist enorm. Ich möchte,
dass wir bei diesen Innovationen Vorreiter bleiben. Des-
halb ist für mich nicht die Datenerhebung, sondern die
Datenverwertung beim Datenschutz entscheidend.
Nur diese sollte reguliert werden. Die Alternative wäre,
dass die Unternehmen außerhalb des europäischen Rechts-
kreises diese Daten erheben und sie einfach fernab von
jeglichen Datenschutzstandards verwenden.
Drittens. Datensammlung und -verwertung sind wich-
tig für die Gefahrenabwehr. Es geht nicht an, dass Sicher-
heitsbehörden zum Beispiel im Vorfeld der HoGeSa-Kra-
walle in Köln nicht effektiv durch einen Datenabgleich
zusammenarbeiten dürfen. Wir müssen hier überlegen,
wie wichtig uns die Sicherheit von Menschen in unserem
Land ist. Natürlich ist es ein Spannungsfeld, das ver-
nünftige Abwägungen erfordert; aber das Leben und die
Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger haben für mich
den höchsten Stellenwert.
Aus diesem Grund ist auch die Verbindungsdatenspei-
cherung für mich weiterhin ein wichtiges Mittel der Ge-
fahrenabwehr.
Abschließend möchte ich zusammenfassend sagen,
dass wir bei der Erneuerung des Datenschutzrechtes wei-
ter vorangehen müssen.
Entweder wir modernisieren uns oder andere moder-
nisieren uns – und das können wir uns im Sinne der Bür-
gerinnen und Bürger nicht leisten. Vor allem denke ich,
dass wir weg von der alten Idee der Datensparsamkeit
hin zu einer positiven Nutzung von Daten innerhalb kla-
rer Schranken gelangen müssen. Mit Datenschutzstan-
dards von 1983 werden wir dem digitalen Wandel nicht
gerecht werden.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Wendt, und Dank den Kollegin-
nen und Kollegen, die Ihnen ihre Aufmerksamkeit ge-
schenkt haben.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Bundesdatenschutzgesetzes – Stärkung der Un-
abhängigkeit der Datenschutzaufsicht im Bund durch
Errichtung einer obersten Bundesbehörde. Der Innen-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3598, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/2848 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen.
Hierzu liegt auf Drucksache 18/3601 ein Änderungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über
den wir zuerst abstimmen.
Wir stimmen nun über den Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7327
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – An zwei Urnen
fehlen noch Schriftführerinnen bzw. Schriftführer. Sind
die Plätze an den Urnen jetzt besetzt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung über den Änderungsan-
trag.
Sind noch Kolleginnen und Kollegen im Saal, die ihre
Stimme nicht abgegeben haben? – Ich kann nur immer
wieder darauf hinweisen: Wenn sich die Kolleginnen
und Kollegen ganz außen zur Abstimmung mehr in der
Mitte einreihten, wären sie schneller fertig.
Ich frage noch einmal: Gibt es Mitglieder des Hauses,
die noch nicht abgestimmt haben? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Gute Unterhaltung!
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nähern uns der
zweiten Abstimmung. Zuerst gebe ich Ihnen aber das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Änderungsantrag bekannt: abgegebene Stimmen 566.
Mit Ja haben gestimmt 110 Kolleginnen und Kollegen,
mit Nein haben gestimmt 456, Enthaltungen keine. Der
Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 110
nein: 456
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Christian Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
7328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7329
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Das sieht ungefähr
nach halbe-halbe aus.
– Sie passen ja auf. Sind Sie der Meinung, das war
halbe-halbe? – Nein, nicht wirklich. – Gut, wir machen
das noch einmal: Wer stimmt für den Gesetzentwurf? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zustimmung
einer größeren Gruppe von Abgeordneten von CDU/
CSU und SPD und bei Gegenstimmen einer hinten im
Saal stehenden Gruppe von Abgeordneten von Bünd-
nis 90/Die Grünen und einer links von mir stehenden
Gruppe von Abgeordneten der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Ge-
setzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, wie
vorhin die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die
Urnen besetzt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung über den Gesetzentwurf.
Gibt es noch Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht
abgestimmt haben? – Vorne sind zwei Urnen, die kom-
plett frei sind. Sie könnten hier ganz schnell abstimmen.
Gibt es noch Kolleginnen und Kollegen, die nicht abge-
stimmt haben? – So, jetzt haben alle abgestimmt.
Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3602. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt: Zustim-
mung von der Linken, Gegenstimmen von CDU/CSU
und SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich lasse über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3603 abstim-
men. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
1) Ergebnis Seite 7334 A
7330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
schließungsantrag ist abgelehnt: Zustimmung vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken, Ablehnung
von CDU/CSU und SPD.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Karin Binder, Caren Lay, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Schutz von Kindern vor Schadstoffen in
Spielzeugen wirksam durchsetzen
Drucksachen 18/1367, 18/2717
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/2717, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1367 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen von der Linken und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bevor-
rechtigung der Verwendung elektrisch betrie-
Drucksache 18/3418
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3418 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Iguala ist kein Einzelfall – Zur Menschen-
rechtslage in Mexiko
Drucksache 18/3552
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
1) Anlage 9
2) Anlage 10
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Michael Leutert, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Menschenrechte in Mexiko schützen, Ver-
handlungen zum Sicherheitsabkommen aus-
setzen
Drucksache 18/3548
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheitsabkommen brauchen Standards
Drucksache 18/3553
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3552, 18/3548 und 18/3553 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Teilumsetzung der Energieeffizienzrichtlinie
und zur Verschiebung des Außerkrafttretens
des § 47 g Absatz 2 des Gesetzes gegen Wett-
bewerbsbeschränkungen
Drucksache 18/3373
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss Digitale Agenda
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) –
Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3373 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu weitergehende oder anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
3) Anlage 11
4) Anlage 12
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7331
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W. Birkwald, Ulla Jelpke, Halina
Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Wiedereingliederung fördern – Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversiche-
rung einbeziehen
Drucksachen 18/2606, 18/2784
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Gabriele Hiller-Ohm für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Linken, kann es sein, dass
Ihnen die Themen ausgehen?
Ich frage Sie das, weil Sie uns heute einen Antrag vorle-
gen, der fast wortgleich mit einem Antrag ist, den wir
2013 bereits am Ende der letzten Legislaturperiode be-
handelt haben.
Es geht um die Einbeziehung von Strafgefangenen in die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Wir haben
unsere Argumente ausgetauscht, und wir haben Ihrem
Antrag nicht zugestimmt.
Das werden wir jetzt genau so wiederholen.
Dafür gibt es gute Gründe. Uns allen ist bekannt, dass
bereits im Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 Rege-
lungen zu einer Einbeziehung der Gefangenen in die So-
zialversicherungen enthalten waren. Diese Regelungen
sind jedoch größtenteils seit nunmehr 38 Jahren nicht in
Kraft getreten. Und warum ist das so? Haben wir Bun-
destagsabgeordneten oder die Bundesregierung daran
Schuld? Tragen wir die Verantwortung? Nein, liebe Kol-
leginnen und Kollegen der Linken, nicht wir, sondern
die Bundesländer haben es verbockt.
Sie müssten nämlich die anfallenden Sozialversiche-
rungsbeiträge für die Strafgefangenen zahlen. Das wol-
len sie nicht, und deshalb stehen sie seit 38 Jahren auf
der Bremse.
Die Haltung der Bundesregierung in dieser Angele-
genheit ist seit Jahren ebenso gleich wie klar. Exempla-
risch zitiere ich hier die Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage der Linken von 2008 zu diesem
Thema:
Die Bundesregierung hält die Einbeziehung von
Strafgefangenen in die gesetzliche Kranken- und
Rentenversicherung weiterhin für sinnvoll. Die auf-
geschobene Inkraftsetzung der Regelungen im
Strafvollzugsgesetz beruht im Wesentlichen auf
finanziellen Vorbehalten der Bundesländer, die die
Beiträge zur Sozialversicherung übernehmen müss-
ten. Die Vorbehalte bestehen unverändert: Die
Haushaltssituation der Bundesländer hat sich nicht
in der Weise verändert, dass eine neuerliche Initia-
tive der Bundesregierung Aussicht auf Erfolg hätte.
Damit ist eigentlich schon alles gesagt.
In der letzten, der 17. Wahlperiode haben Sie, meine
Damen und Herren von der Linken, aber dennoch am
17. April 2013 einen inhaltlich, vom Titel und Wortlaut
identischen Antrag zu dem heute vorliegenden gestellt.
Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung hat in
gleicher Weise argumentiert und geantwortet wie das so-
zialdemokratisch geführte Arbeits- und Sozialministe-
rium im Jahre 2008.
Man kann nun denselben Antrag immer wieder neu
stellen; das ist das Recht der Opposition.
Es stellt sich aber doch die Frage: Ist so etwas zielfüh-
rend? Klar ist: Der Bundestag ist nicht der richtige An-
sprechpartner. Warum – so frage ich Sie – versuchen Sie
es also nicht über die Bundesländer?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
frage Sie: Was soll diese Schaufensterpolitik hier im
Deutschen Bundestag? Verwenden Sie Ihre Energien
doch lieber sinnvoller. Überzeugen Sie Ihre Kolleginnen
und Kollegen in den beiden Bundesländern, in denen Sie
mitregieren, also in Brandenburg und Thüringen, eine
Bundesratsinitiative zur Einbeziehung der Strafgefange-
nen in die Sozialversicherung zu starten.
7332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Gabriele Hiller-Ohm
(C)
(B)
Das wäre doch ein sinnvoller Vorschlag.
An Ihrem Antrag stört uns aber nicht nur die falsche
Adressierung. Es gibt noch weitere Ablehnungsgründe.
Es ist grundsätzlich richtig, den Resozialisierungsgedan-
ken vor Augen zu haben. Es ist auch richtig, den Strafge-
fangenen sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.
Die Forderung in Ihrem Antrag nach einem individuell
einklagbaren Recht auf Arbeit für Gefangene, also einer
staatlichen Garantie auf Arbeit für Strafgefangene, geht
uns zu weit. Warum – das muss man sich doch fragen –
sollen Strafgefangene dieses Recht erhalten, obwohl es
so etwas für die Allgemeinheit nicht gibt?
Zudem haben die Länder seit der Föderalismusreform
2006 die Zuständigkeit für die Gesetzgebungskompetenz
beim Strafvollzug. Das Bundes-Strafvollzugsgesetz ist
auch nur noch gültig, sofern die Länder nicht eigene
Landesstrafvollzugsgesetze erlassen. Soweit mir be-
kannt ist, haben dies bereits – oder erst; je nachdem, wie
man es sieht – elf Länder getan. Die Länder können also
durch ihre Zuständigkeit eigene Arbeitsregelungen im
Strafvollzug festlegen. Sie können auch auf die in Ihrem
Antrag kritisierte Arbeitspflicht verzichten. Einige Bun-
desländer tun das bereits.
Auch hierfür wären die Länder also die richtigen An-
sprechpartner.
Schauen wir uns doch einmal die Landesjustizvoll-
zugsgesetze in den Ländern mit linker Regierungsbetei-
ligung, also in Brandenburg und Thüringen, an: In kei-
nem gibt es das von Ihnen geforderte einklagbare Recht
auf Arbeit für Gefangene.
In Thüringen steht sogar noch die von Ihnen ebenfalls in
Ihrem Antrag kritisierte Arbeitspflicht im Landesjustiz-
vollzugsgesetz. Zugegeben: In Thüringen, meine Damen
und Herren von der Linken, sind Sie erst seit zwei Wo-
chen an der Regierung.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Aber in Brandenburg hat die Linke seit 2009
das Justizministerium inne.
Ein einklagbares Arbeitsrecht findet sich im 2013 neu
gefassten brandenburgischen Justizvollzugsgesetz auch
nicht. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss doch
zu denken geben und sagt einiges über die Politik der
Linken aus.
Unglücklich finde ich in dem Antrag aber auch die
Vermengung von Täter- und Opferangelegenheiten. Für
die Verbesserung der Rechtsstellung der Opfer hätte ich
mir einen gesonderten Antrag gewünscht.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen,
dass im Koalitionsvertrag eine Reform der Opferent-
schädigung und des Rechts der Sozialen Entschädigung
vereinbart ist. Wir werden den Opferschutz also schon
bald gemeinsam mit der Union verbessern.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich
kann schon nachvollziehen, dass es Ihnen schwerfällt,
sich als Opposition kraftvoll einzubringen. Wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten sind einfach zu
gut und räumen Ihre Themen Stück für Stück ab, zum
Beispiel: Mindestlohn, Rente mit 63, Frauenquote, Miet-
preisbremse, Doppelpass usw.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende!
Das muss wehtun! Trotzdem: Fröhliche Weihnachten!
Bei aller Freundlichkeit: Angesichts der Weihnachts-
feiern wäre es gut, wenn Sie Ihre Redezeiten einhalten
würden. – Nächster Redner: Matthias W. Birkwald von
der Linken.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wer ein Verbrechen begeht und dafür in Haft
muss, sitzt zu Recht im Gefängnis. Der Freiheitsentzug
ist seine oder ihre Strafe. Aber die Linke sagt: Eine dop-
pelte Strafe in Form von Altersarmut ist Unrecht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7333
Matthias W. Birkwald
(C)
(B)
Darum wollen wir die Gefangenen in die Renten-, Kran-
ken- und Pflegeversicherung einbeziehen.
Unser Antrag kommt, Frau Kollegin, kurz vor Weih-
nachten und damit genau zur richtigen Zeit. Das sieht
man in Mecklenburg-Vorpommern auch so. Ich zitiere
und bitte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der
Union aufmerksam zuzuhören:
Zu jeder Zeit sollten Menschen die Möglichkeit be-
kommen, Rentenbeiträge einzuzahlen, um für das
Alter vorsorgen zu können. Auch Gefangenen muss
eine solche Chance geboten werden. Das betrachte
ich als einen Teil des Resozialisierungsgedankens.
Wer im Gefängnis an seiner straffreien Zukunft ar-
beiten kann, dem sollten wir keine Steine in den
Weg legen.
Das ist absolut richtig. Wer hat es gesagt?
Uta-Maria Kuder, CDU, die Justizministerin des Landes
Mecklenburg-Vorpommern.
Sie versprach, das Thema 2015 in die Justizministerkon-
ferenz einzubringen. Gut so!
Wenn Strafgefangene während ihrer Zeit im Gefäng-
nis arbeiten und dafür künftig Rentenansprüche erwür-
ben, so wäre das der beste Schutz vor Altersarmut. Im
Übrigen gäbe es auch einen wichtigen Grund weniger,
erneut straffällig zu werden.
Die Justizministerin nannte auch eine interessante
Zahl: Mecklenburg-Vorpommern hätte einen Arbeitge-
beranteil von nur rund 1,5 Millionen Euro im Jahr zu tra-
gen, wenn es – Zitat – „zu einem Umdenken käme“.
1,5 Millionen Euro, das muss ja wohl drin sein.
Frau Staatssekretärin, Ihr Ministerium hatte auf An-
frage des ARD-Magazins Kontraste am 30. Oktober
2014 erklären lassen, Ministerin Andrea Nahles begrüße
das Vorhaben zwar, aber leider gebe es weiterhin Vorbe-
halte finanzieller Art der Länder.
Vorbehalte der Länder? Die kann ich bei der CDU-Jus-
tizministerin von Mecklenburg-Vorpommern nicht er-
kennen.
Der bayerische Finanzminister erwartet laut Kon-
traste 44 Millionen Euro Einnahmen aus der Arbeit in
den bayerischen Haftanstalten. 44 Millionen Euro Ein-
nahmen und 0 Cent davon gehen in die Rentenkasse?
Das darf nicht so bleiben.
In Nordrhein-Westfalen sind es 50 Millionen Euro
Einnahmen jährlich, weil die Gefangenen Möbel bauen,
Bücher binden oder für renommierte Unternehmen wie
Gardena oder Siemens Gartengeräte oder Lampenteile
herstellen. Ihr Stundenlohn beträgt gerade einmal
1,50 Euro. Dazu sage ich: Das ist viel zu wenig.
Wir brauchen endlich ein Umdenken. Gefangene wie-
der in die Gesellschaft einzugliedern und alles dafür zu
tun, dass sie nicht rückfällig werden, darum muss es ge-
hen.
Unser Antrag geht zurück auf eine Petition des Komi-
tees für Grundrechte und Demokratie aus dem Jahr 2011.
Diese Petition wurde von über 5 700 Menschen sowie
von nahezu allen bundesweit tätigen Organisationen der
Gefangenenhilfe unterzeichnet. Der Petitionsausschuss
hatte sie im April 2014 an die Bundes- und die Landes-
regierungen weitergeleitet. Die Reaktion? Null, keine.
Dabei hatte vor bereits bald 38 Jahren die Bundesregie-
rung im damals neuen Strafvollzugsgesetz von 1977
vorgesehen, die Gefangenen in die Rentenversicherung
einzubeziehen. Nur, Frau Kollegin Hiller-Ohm, das ent-
sprechende Bundesgesetz wurde nie erlassen.
Das heißt: Erstens. Alle Regierungen verstoßen seit
38 Jahren gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundge-
setzes. Zweitens. Alle Regierungen verstoßen seit
38 Jahren gegen das Sozialstaatsprinzip. Drittens. Alle
Regierungen sind damit seit 38 Jahren für die absehbare
Altersarmut von arbeitenden Gefangenen verantwort-
lich; und diese Altersarmut ist eine nicht zu rechtferti-
gende Doppelbestrafung.
Und viertens müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.
Das mache ich glatt. – Deshalb fordern wir Linken,
die Arbeitspflicht durch ein Recht auf Arbeit zu erset-
zen; denn nur wer freiwillig arbeitet, darf in die Renten-
kasse einzahlen. Die meisten Strafgefangenen wollen ar-
beiten, und sie arbeiten gerne. Dann muss aber auch
gelten: Wer arbeitet, muss angemessen entlohnt werden,
und wer arbeitet, muss Rentenansprüche erwerben dür-
fen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den nächsten
Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführe-
7334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
rinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung zum Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes bekannt: ab-
gegebene Stimmen 566. Mit Ja haben gestimmt 456 Kol-
leginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt
110 Kolleginnen und Kollegen. Der Gesetzentwurf ist
damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 456
nein: 110
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7335
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
7336 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
Norbert Müller
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Christian Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Wir gehen weiter in der laufenden Debatte. Nächster
Redner Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die Frau Kollegin Hiller-Ohm hat präzise die Sach-
lage erklärt,
und der Herr Kollege Birkwald ist mit keinem einzigen
Wort auf die Sachlage eingegangen, sondern hat seine
Standardrede gehalten.
Sachlage ist: Erstens. Seit der Föderalismusreform
2006 sind ausschließlich die Bundesländer für die Rege-
lungen zum Strafvollzug zuständig, nicht wir Bundes-
tagsabgeordnete. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch unsere Kollegen in den Landtagen haben ihre Ar-
beit zu machen. Diese sollen sie bitte machen. Wenn die
Gefangenen in unseren Gefängnissen die Bedingung er-
füllen sollen, um rentenversicherungspflichtig zu wer-
den, dann, liebe Bundesländer, regelt den Strafvollzug
neu. Ihr seid zuständig, nicht wir. Deswegen ist der An-
trag an der falschen Stelle gestellt.
Zweitens. Rentenansprüche bedingen Rentenversi-
cherungsbeiträge. Für die Zahlung der Rentenversiche-
rungsbeiträge für Gefangene sind die Bundesländer
zuständig. Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Land-
tagen, beschließt in allen 16 Ländern: Jawohl, wir stellen
das Geld bereit, um diese Rentenversicherungsbeiträge
zu zahlen. Es ist nicht unsere Zuständigkeit, sondern es
ist Sache der Länder. Liebe Linke, stellt dort die An-
träge. Hier ist der falsche Ort.
Drittens. In jeder Legislaturperiode den wortgleichen
Antrag vorzulegen, zeugt nicht von fleißiger Arbeit;
denn man muss nur abschreiben. Ich finde, fürs Ab-
schreiben sollte der Fraktion Die Linke schlichtweg eine
Fünf erteilt werden.
Das kann jeder. Es liegt nichts Neues vor. Alte Kamellen
werden zu später Stunde erneut im Bundestag diskutiert.
Das hat das Parlament nicht verdient.
Das Weihnachtsfest steht vor der Tür, das Fest, bei
dem wir Geschenke verteilen. Die letzten zwei Minuten
50 Sekunden meiner Redezeit schenke ich dem Deut-
schen Bundestag und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.
Vielen Dank.
So kommt man zu Applaus, Herr Kollege Weiß. Vie-
len herzlichen Dank für das großzügige Geschenk. –
Nächster Redner in der Debatte Markus Kurth für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr
Weiß, Sie hätten diese zwei Minuten auch mir ganz per-
sönlich schenken können. Ich wäre darüber sehr dankbar
gewesen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7337
Markus Kurth
(C)
(B)
Sie hätten diese zwei Minuten aber auch gerne nutzen
können, um inhaltlich auf den Antrag der Linken einzu-
gehen,
statt sich einfach dahinter zu verstecken, dass primär
– das ist richtig – die Länder zuständig sind. Wenn wir
bei allen Debatten über Themen, bei denen die Länder
die Federführung haben, sagen würden: „Die Anträge
müssen in den Landtagen gestellt werden, wir können
das hier nicht machen“, dann könnten wir hier über eine
ganze Reihe von Politikbereichen überhaupt nicht mehr
debattieren. Dann brauchen wir hier keine bildungs-
oder schulpolitischen Debatten mehr zu führen.
Auch viele andere Sachen könnten wir dann hier nicht
mehr besprechen.
Die Problematik ist leider auch in anderen Politikfel-
dern ähnlich. Ich erinnere nur an den auch in unserem
Ausschuss diskutierten Fonds für Heimkinder mit Be-
hinderungen, die für erlebte Gewalt und Missbrauch ent-
schädigt werden sollen. Auch hier stellt der Bund Geld
zur Verfügung. Die Kirchen sind bereit, Geld zur Verfü-
gung zu stellen. Leider Gottes – das muss ich sagen; ich
bin auch über die Länder mit grüner Regierungsbeteili-
gung beschämt – mauern die Länder. Dennoch werden
wir alle – Union, SPD, Linke und natürlich auch wir
Grünen – nicht müde, zu fordern, dass sich die Länder an
diesem Fonds beteiligen.
Insofern, finde ich, kann man bei der vorliegenden
Verletzung des Sozialstaatsprinzips – das hat der Kollege
Matthias W. Birkwald ganz richtig gesagt – von dieser
Stelle aus die Länder auffordern, endlich tätig zu wer-
den.
Ich muss sagen: Seit 1976 – damals war ich zehn
Jahre alt – ist trotz wechselnder Konstellationen an die-
ser Stelle nichts passiert. Wir stimmen dem Antrag der
Linken zu. Auch wenn Sie ihm heute nicht zustimmen,
sollten wir uns einmal zusammensetzen und überlegen,
wie wir es hinbekommen, dass Gefangene vergleichbar
mit den in Freiheit Lebenden entlohnt und zumindest
was die Rentenversicherung betrifft sozialversicherungs-
pflichtig versichert werden. Denn das hat – ganz klar –
Folgewirkungen. Wenn man, gerade im Falle einer län-
geren Haftstrafe, Lücken in seinem Versicherungsver-
lauf hat, dann sind bestimmte Ansprüche in der Renten-
versicherung nicht vorhanden oder Wartezeiten nicht
erfüllt. Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand.
Das kostet die Länder zwar nicht die Welt. Allerdings
kostet es schon einiges. Alle Bundesländer zusammen
– diese Zahlen liegen mir vor – kostet es 160 Millionen
Euro. Mit Mecklenburg-Vorpommern haben Sie es sich
ein bisschen leicht gemacht – Sie nannten den Betrag
von 1,5 Millionen Euro –, weil Sie sich ein sehr kleines
Land ausgesucht haben. Aber im Verhältnis zu den Län-
derfinanzen insgesamt sind 160 Millionen Euro, denke
ich, ein Betrag, den man den Ländern an dieser Stelle
durchaus zumuten kann.
Ich würde empfehlen, dass man auch einmal die Ge-
genrechnung anstellt und sich die Kosten pro Hafttag vor
Augen führt. Wenn eine vernünftige Entlohnung und
eine vernünftige Sozialversicherung mit dazu beitragen,
dass weniger Strafgefangene rückfällig werden, dann
lässt sich in den Länder- und Justizhaushalten eine ganze
Menge Geld einsparen. Ich finde, das muss man in diese
Betrachtung mit einbeziehen. Beim Thema Sozialversi-
cherung geht es also, wenn man so will, auch ein Stück
weit um Kriminalitätsprävention.
In einem Punkt, bei der Gesundheitsversorgung, ha-
ben wir einen etwas anderen Fokus. In Nordrhein-West-
falen beispielsweise gibt es einen eigenen Gesundheits-
versorgungszweig, nämlich Haftkrankenhäuser. Hier
muss man genau aufpassen, inwieweit man einen Einbe-
zug in die gesetzliche Krankenversicherung vornehmen
könnte. Das würden wir vom Akzent her ein bisschen
anders beurteilen als Sie. Aber grundsätzlich sollten wir
uns dieser Aufgabe tatsächlich annehmen.
In diesem Sinne wünsche auch ich allen Kolleginnen
und Kollegen ein schönes Weihnachtsfest und ein gutes
neues Jahr.
Danke.
Vielen Dank, lieber Markus Kurth. – Letzter Redner
in dieser Debatte: Matthäus Strebl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Auch ich würde meine Redezeit dem mir
nachfolgenden Redner schenken. Aber wie ich sehe, bin
ich der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns auf An-
trag der Linksfraktion mit diesem Thema. Sie fordern er-
neut, Gefangene im Strafvollzug in die Rentenversiche-
rung mit einzubeziehen. Seit der 17. Wahlperiode haben
Sie diesen Antrag wiederholt eingebracht, sodass wir ihn
auch heute, in der 18. Wahlperiode, debattieren. Ich
denke, man sollte in die Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages einfließen lassen, dass gleichlau-
tende Anträge anders behandelt und auch nicht zu später
Stunde debattiert werden.
7338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Matthäus Strebl
(C)
(B)
Es fehlt an der Freiwilligkeit der Ausübung der Tätig-
keit, da die Arbeitsleistung aufgrund eines öffentlich-
rechtlichen Gewahrsamsverhältnisses erfolgt. Es handelt
sich nicht um ein freies Arbeitsverhältnis. Deshalb wer-
den auch keine Beiträge in die Rentenversicherung ein-
gezahlt. Diese Rechtsauffassung wurde, wie uns allen
bekannt ist, mehrfach durch verschiedene Gerichte be-
stätigt. Zwar hält die Bundesregierung die Einbeziehung
von Strafgefangenen in die Rentenversicherung weiter-
hin für grundsätzlich sinnvoll. Aber die Gesetzgebungs-
kompetenz für den Strafvollzug liegt seit der Föderalis-
musreform im Jahre 2006 bei den Ländern, Herr Kollege
Birkwald.
Da die Linke in einigen Landtagen vertreten ist, emp-
fehle ich Ihnen, sich einmal mit Ihren Parteikolleginnen
und -kollegen zu diesem Thema austauschen.
Unklar bleibt weiterhin, wie die Länder die Finanzierung
meistern wollen; denn sie müssten die anteiligen Versi-
cherungsbeiträge übernehmen. Da Sie ja jetzt den Minis-
terpräsidenten Thüringens stellen, könnten Sie also mit
gutem Beispiel vorangehen, statt hier zu später Stunde
über Ihren Antrag diskutieren zu lassen.
Vergegenwärtigen sollten wir uns die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1998, in
der die Nichteinbeziehung der Gefangenenentlohnung in
die Renten- und Krankenversicherung als verfassungs-
konform bestätigt wurde. Tätigkeiten innerhalb des
Strafvollzugs lassen sich eben nicht mit freien Tätigkei-
ten gleichsetzen. Das ist sowohl mit Artikel 3 des
Grundgesetzes als auch mit dem Resozialisierungsge-
danken vereinbar. Dennoch: Die Resozialisierung eines
Strafgefangenen ist unbestritten eine wichtige Aufgabe
und Pflicht des Staates.
Wir alle sind uns einig: Eine Arbeit ist ein wesentli-
cher Bestandteil einer erfolgreichen Resozialisierung.
Durch eine im Vollzug ausgeübte Beschäftigung kann
der Gefangene Überbrückungsgeld ansparen. In vielen
Fällen sinkt durch eine Arbeitspflicht während des Voll-
zugs die Rückfallquote nach der Entlassung des Gefan-
genen.
Sie, die Linken, fordern jedoch sowohl die Abschaf-
fung der Arbeitspflicht als auch die Festschreibung eines
Anspruchs auf Arbeit. Sie müssen doch zugeben, dass
dies zu einiger Verwirrung und Ratlosigkeit führen
muss.
Die Forderung nach einem einklagbaren Anspruch
auf einen Arbeitsplatz lässt sich nur schwer mit dem be-
sonderen Charakter des Strafvollzugs vereinbaren. Wie
soll für jeden einzelnen Gefangenen eine Tätigkeit ange-
boten werden, die seinen Fähigkeiten und Neigungen
entspricht? In der Konsequenz würde das bedeuten, dass
die Justizvollzugsanstalten für jeden erdenklichen Beruf
sowohl Arbeitsplätze als auch Materialien, Werkzeuge,
Instrumente und Räumlichkeiten bereitstellen müssten.
Allein diese wenigen Beispiele zeigen, wie absurd Ihre
Forderungen sind.
Ich möchte nochmals erwähnen, dass auch dieser An-
trag in einem Landtag eingebracht werden müsste. Dazu
haben Sie Gelegenheit. Wir lehnen den Antrag der Frak-
tion der Linken dementsprechend ab.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Strebl.
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich mitzu-
teilen, dass eine Erklärung des Kollegen Wunderlich aus
der Fraktion Die Linke zu TOP 17 der Tagesordnung
vorliegt.1) Er bezieht sich auf den § 31 Absatz 2 unserer
Geschäftsordnung, der besagt:
Jedes Mitglied des Bundestages kann vor der Ab-
stimmung erklären, dass es nicht an der Abstim-
mung teilnehme.
Das heißt, Kollege Wunderlich wird an der Abstimmung
zu TOP 17 nicht teilnehmen.
– Nein, aber er erklärt das explizit. Damit wird auch im
Protokoll festgehalten, dass er an dieser Abstimmung
nicht teilnehmen wird. Die anderen erklären das nicht;
da sind sie selber schuld.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Wiedereingliederung för-
dern – Gefangene in die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung einbeziehen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2784, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/2606 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen
gestimmt haben die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
es gab keine Enthaltungen.
Bevor ich die letzten Tagesordnungspunkte aufrufe,
über die heute debattiert wird, möchte ich Sie, da Sie
sich so freundlich schöne Weihnachten gewünscht ha-
1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7339
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
ben, darauf hinweisen, dass morgen auch noch ein Sit-
zungstag ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Werner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich
Lange, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gustav Herzog, Sören Bartol, Kirsten
Lühmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-
tung zukunftsfest gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Stephan Kühn , Sven-
Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reform der Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung konsequent fortsetzen
Drucksachen 18/3041, 18/1341, 18/3536
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialverträgliche Arbeitsverhältnisse und
fristgerechte Nachbesetzung in der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung sichern
Drucksache 18/3414
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Werner Kammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Wir behandeln heute drei Anträge. Diesen vorange-
stellt ist der 6. Bericht des Ministeriums zur Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Der
gute Antrag ist ein Antrag von den Regierungsfraktio-
nen,
der auch vom Kollegen Herzog unterstützt wird. Es gibt
einen Antrag der Grünen, der meines Erachtens in die
Mottenkiste gehört.
Der 6. Bericht zur Reform der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung sagt einiges aus. Dazu gibt es aber
auch noch einen Antrag der Linken.
Nötig wäre dieser Antrag nicht gewesen. Mit einem der-
art inhaltsarmen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt rauben
Sie, Herr Behrens, uns wertvolle Lebens- und Arbeits-
zeit.
Ich weiß, Sie müssen Ihre Klientel bedienen.
Der Antrag klingt so, als ginge es bei der Reform allein
um den Erhalt von Stellen im öffentlichen Dienst. Die
Verkehrsfunktion kommt viel zu kurz. Das Wort „Ver-
kehr“ kommt in Ihrem Antrag lediglich dreimal vor,
zweimal davon bei der Nennung des zuständigen Minis-
teriums.
Dass der Schwerpunkt des Antrags der Linken nicht
auf dem Thema Verkehr, sondern auf den Beschäftigten
liegt, beweist aber auch, dass wir mit der Reform den
richtigen Weg eingeschlagen haben. Offensichtlich gibt
es am vorliegenden Konzept des Ministeriums nichts
Wesentliches zu bemängeln, sodass Sie sich auf Neben-
kriegsschauplätze konzentrieren.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Auch ich weiß um
die berechtigten Sorgen der Beschäftigten in den Stand-
orten. Die Belastung hat in den vergangenen Jahren stark
zugenommen. Das Ministerium wird daher die zweifel-
los bestehenden Probleme beim Personal in der WSV
angehen. Bessere Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaß-
nahmen sind dringend notwendig,
um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Auf die Unter-
stützung durch die Koalitionsfraktionen können sich die
Beschäftigten und das Ministerium dabei verlassen.
Ich erinnere gern daran – der Kollege Rehberg sitzt
dort –, dass wir zusätzliche Stellen in der WSV geschaf-
fen haben, die der Haushaltsausschuss bewilligt hat.
Aber auch die Beschäftigten wissen, dass es bei der Re-
form nicht darum geht, eine Oase für den öffentlichen
Dienst zu schaffen, sondern eine leistungsfähige Infra-
struktur.
Neue Ideen enthält der Antrag nicht, aber einen altbe-
kannten Mythos, den die Linken seit langer Zeit verbrei-
ten. Das Verkehrsministerium hatte nie vorgehabt, die
WSV von einer Ausführungs- zu einer Gewährleistungs-
verwaltung umzubauen. Die WSV war, ist und bleibt
7340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Hans-Werner Kammer
(C)
(B)
eine Mischverwaltung, in der einige Aufgaben an Dritte
vergeben werden. Es stand nie – außer vielleicht bei der
FDP – zur Debatte, alle Aufgaben zu vergeben. Das hat
das Ministerium bereits im 2. Bericht zur Reform vom
Mai 2011 klargestellt.
Es gibt derzeit keinen Grund für große Unruhe. Die
WSV-Beschäftigten und die Schifffahrtsbranche sehen
die Reform auf einem guten Weg. Deshalb halte ich we-
nig davon, nun durch laute Standortdiskussionen wieder
für Unruhe vor Ort zu sorgen.
Bei einer längeren Redezeit hätte ich jetzt über die
Lahn, über den Elbe-Lübeck-Kanal, über den Standort
Rheine oder auch über Standorte in den neuen Bundes-
ländern sprechen können.
Alle Standorte bleiben erhalten. Das ist die klare Aus-
sage des Ministeriums, mit der wir alle leben können.
Wo der Schreibtisch des Amtschefs steht, sollte nun
wirklich nicht unser Thema sein. Freuen wir uns lieber
darüber, dass die WSV nach den langen Debatten der
vergangenen Jahre wieder in ruhigem Fahrwasser ange-
langt ist.
In den kommenden Monaten wird das Ministerium
wichtige Details zum weiteren Reformkurs vorlegen.
Diese Informationen sollten wir zunächst abwarten. Las-
sen wir das Ministerium die Reform voranbringen. Dann
können wir konstruktiv über die WSV debattieren. Ich
freue mich schon darauf, mit dem Kollegen Herzog von
unserem Koalitionspartner weiter intensiv daran zu ar-
beiten und darüber zu diskutieren.
Unser Koalitionsvertrag und der Antrag der Koalition
geben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung die notwendige Ruhe,
um ein besinnliches Weihnachtsfest feiern und im Jahr
2015 mit Optimismus wieder an die Arbeitsplätze zu-
rückkommen zu können.
Ich wünsche Ihnen ebenfalls ein frohes Weihnachts-
fest und ein gutes Jahr 2015 mit tollen Beratungen über
die WSV.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Kammer. – Nächster Red-
ner in der Debatte ist Herbert Behrens für die Linke.
Sehr geehrter Herr Kammer, Ihr ruhiges Fahrwasser,
in dem Sie zurzeit die WSV sehen, ist eher ein Stillstand.
Die Beschäftigten merken eben nicht, dass es wirklich
vorangeht mit einer WSV-Reform hin zu einer Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung, die in der Lage ist, ihren
Aufgaben gerecht zu werden. Die Belegschaft gehört
nämlich dazu, wenn es darum geht, dass die anfallenden
Aufgaben erledigt werden können.
Wir haben es im letzten Jahr gemerkt, als die Kolle-
ginnen und Kollegen gezwungen waren, die Schleusen
zuzumachen und zu streiken, um einen Tarifvertrag
durchzusetzen. Damals wurde sehr deutlich, dass es kei-
nen Verkehr geben wird, wenn es keine angemessene
und ausreichend qualifizierte Belegschaft in der WSV
gibt.
Das ist der Wert von Belegschaften, um den es geht,
und darum stehen die Belegschaften im Kern unseres
Antrages; denn sie sind zurzeit bei Ihnen nicht richtig
aufgehoben. Wir werden es in diesem Winter merken,
wenn es darum gehen wird, die Schleusen und insbeson-
dere die Kanäle schiffbar zu halten, und wenn Unterneh-
men, um sicher planen zu können, darauf angewiesen
sind, dass die Schleusen funktionsfähig gehalten werden,
auch wenn es friert und der Frost möglicherweise den
Schleusen zusetzt.
Aber was haben Sie in den letzten Jahren gemacht?
Mit der unseligen Debatte über getroffene Entscheidun-
gen bzw. insbesondere über nicht getroffene Entschei-
dungen haben Sie dazu beigetragen, schweren Schaden
anzurichten. Das hat in der WSV tiefe Spuren hinterlas-
sen.
Die WSV ist angeschlagen. Dringend erforderliche
Beschlüsse fehlen, beispielsweise bei den Einstellungen.
Wir haben festgestellt, dass 100 Ingenieure fehlen. Sie
sind noch immer nicht an Bord. Das alles hat dazu ge-
führt, dass Millionen Euro, die zur Verfügung gestellt
worden waren, um wichtige verkehrspolitische Aufga-
ben wahrzunehmen, nicht eingesetzt werden konnten.
Sie haben darauf hingewiesen, dass es notwendig ist,
die Belegschaften zu qualifizieren. Alternde Belegschaf-
ten müssen qualifiziert und auf den neuesten Stand ge-
bracht werden. Wir müssen jungen Auszubildenden die
Möglichkeit geben, übernommen zu werden.
Aber was machen Sie? 2012 gab es noch 3,3 Millio-
nen Euro für Aus- und Fortbildung. 2014 sind im Haus-
halt 2,5 Millionen Euro eingestellt. Für 2015 sind 3 Mil-
lionen Euro vorgesehen. Wo ist da der Aufwuchs für
Ausbildung und Weiterbildung? Fehlanzeige!
Was haben Sie mit der Behörde insgesamt gemacht?
Die Generaldirektion in Bonn ist eher eine Art Briefkas-
tenfirma als eine arbeitende Behörde, die in der Lage ist,
die ihr übertragenen Aufgaben zu bewerkstelligen.
All das ist keine zukunftsfeste Gestaltung der WSV.
Darum ist Ihr Antrag eigentlich nur eine Aufstellung all
dessen, was die Bundesregierung noch nicht erledigt hat
und künftig erledigen muss.
Zum Antrag der Grünen: Wir werden diesem Antrag
nicht zustimmen können.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7341
Herbert Behrens
(C)
(B)
Das haben wir bereits im Ausschuss gesagt. Es geht ins-
besondere um den Punkt, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, das unselige Verfahren
der neuen Steuerungsmethode unbedingt der WSV auf-
drücken wollen.
Dieses Konzept ist schon in den 90er-Jahren gescheitert.
Sie haben in Ihrem Antrag geschrieben, die Reform der
WSV sei eine lohnenswerte Aufgabe. In der Tat: Die
Unternehmensberater haben sich in den 90er-Jahren gol-
dene Nasen verdient, als sie den Kommunen weisma-
chen wollten, sie bräuchten die Behörde nur wie ein Un-
ternehmen zu führen; dann wäre die Finanzknappheit
schon erledigt.
Das geht nicht. Goldene Nasen mit dem lohnenswerten
Projekt WSV-Reform: Das macht Unternehmensberater
stark, aber nicht die Belegschaften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit der WSV
muss von guten Fachleuten geleistet werden, die in der
Lage sind, schnell und qualifiziert reagieren zu können.
Darum haben wir unseren Antrag so formuliert, dass ent-
sprechende Forderungen umgesetzt werden müssen, und
ich hoffe sehr, dass sie auch von der Bundesregierung
wahrgenommen werden.
Wir brauchen eine Aufgabenkritik und eine Priorisie-
rung, die sich an den Aufgaben orientiert, und wir brau-
chen mehr Geld für Personal und dessen Qualifizierung.
So wird eine vernünftige Reform gemacht.
Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege Behrens. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Dr. Birgit Malecha-Nissen für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Anfang dieser Legislaturperiode habe ich mich mit Ver-
tretern der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung am
Nord-Ostsee-Kanal getroffen. Dabei habe ich die Sorgen
der Beschäftigten über ihre Zukunft deutlich gespürt.
Ich bin froh, dass mit dem 6. Bericht des Bundes-
ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zur
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung dieser
Unsicherheit endlich ein Ende gesetzt wird. Der gemein-
same Antrag der Regierungskoalition „Wasserstraßen-
und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten“ be-
grüßt ausdrücklich das im 6. Bericht vorgelegte Kon-
zept. Dieses erfüllt die Vorgaben des Koalitionsvertrages
hinsichtlich der Einbindung der Beschäftigten und der
Sicherung der regionalen Kompetenz. Dafür hat sich die
SPD-Fraktion in der Vergangenheit nachdrücklich einge-
setzt und wird das auch in Zukunft tun.
Mit unserem Antrag wollen wir den Reformprozess
unterstützen und eine zügige Umsetzung fördern. In der
letzten Legislaturperiode wurden tiefgreifende Verände-
rungen in der Aufbauorganisation der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung vorgenommen. In einem ersten Schritt
wurde die Generaldirektion Wasserstraßen und Schiff-
fahrt gegründet. In einem zweiten Schritt werden nun die
bestehenden Wasser- und Schifffahrtsämter zu 18 über-
regionalen Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern zu-
sammengeführt. Die heutigen 39 regionalen Standorte
bleiben dabei erhalten.
Der Erfolg dieser Reform ist entscheidend abhängig
von einem schlüssigen Organisationsaufbau der Gene-
raldirektion sowie der Vernetzung und der Aufgabenver-
teilung zwischen der Generaldirektion und den neuen
Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern.
Der Erhalt und die Stärkung der regionalen Kompetenz
dieser neuen Ämter müssen gemeinsam mit den Be-
schäftigten fortgeführt werden.
Das Fundament der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung sind ihre Fachkräfte. Das sind Ingenieure und Fach-
arbeiter. Deshalb darf und wird es keinen weiteren Per-
sonalabbau geben, im Gegenteil.
Um Fachkräfte zu halten und anzuwerben, müssen wir
Fortbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie
gesetzliche und tarifliche Regelungen nutzen. Wir müs-
sen den Auszubildenden der Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung nach ihrem Abschluss eine Perspektive bie-
ten; Herr Behrens, da bin ich ganz auf Ihrer Seite. Die
dafür erforderlichen Stellen dürfen nicht weiter einge-
spart werden.
Ohne Fachkräfte ist die Unterhaltung unserer Bundes-
wasserstraßen gefährdet. In den kommenden Jahren sind
umfangreiche Grundinstandsetzungen und Ersatzinvesti-
tionen erforderlich. Das heißt auch, dass die Baumaß-
nahmen während des laufenden Verkehrs durchgeführt
werden müssen. Auf den Hauptwasserstraßen gibt es
keine Umfahrungsmöglichkeiten wie bei einer Straße.
Wenn doch, dann ist es ein langer Weg, wie zum Bei-
7342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Dr. Birgit Malecha-Nissen
(C)
(B)
spiel beim Nord-Ostsee-Kanal. Dort sind es 250 Seemei-
len, um Dänemark herum.
An dieser Stelle wollte ich eigentlich unseren sehr ge-
ehrten Herrn Minister Dobrindt ansprechen. Da Herr
Ferlemann noch anwesend ist, kann er dem Minister
vielleicht berichten. Ich möchte den Minister beim
nächsten Stau vor den Schleusen des Nord-Ostsee-Ka-
nals zu uns an die Kieler Förde einladen. Hier trifft Tech-
nik zum Teil noch aus Kaisers Zeiten auf modernste
Frachter- und Containerschiffe.
– Sehr schön. Herr Herzog kann auch gerne kommen. –
Es ist auch ohne Störung der Schleusentore eine beein-
druckende Leistung der Lotsen, die großen Pötte durch
die engen Schleusen und den Kanal zu führen. Das ist
eine Erfahrung wert.
Der Reformstau auf unseren Bundeswasserstraßen
muss aufgelöst werden. Dafür brauchen wir eine zügige
und zukunftsfeste Reform der Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung. Diesen Prozess wird die SPD-Fraktion wei-
terhin kritisch und konstruktiv begleiten.
Vielen herzlichen Dank und fröhliche Weihnachten.
Vielen Dank, Frau Kollegin Malecha-Nissen. –
Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Valerie Wilms für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Kollege Herzog, es geht nicht nur darum, eine Kos-
ten- und Leistungsrechnung einzuführen, sondern auch
darum, eine moderne Verwaltung aufzubauen. Davon
sind wir laut Ihrem Bericht weit entfernt.
Wir reden hier über die unendliche Geschichte der
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Das
System Wasserstraße braucht dringend einen funktions-
fähigen Dienstleister, der die Anlagen für die Nutzer en-
gagiert erhält. Das tun unsere Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter in den Ämtern vor Ort. Aber sie sehen auch, mit
wie wenig Verstand wir in der Politik an eine echte Re-
form herangehen. Das System muss dienstleistungsge-
recht aufgebaut werden. Die Beschäftigten vor Ort wün-
schen sich wirklich nichts sehnlicher als das; denn sie
wollen das System Wasserstraße erhalten.
Und was machen wir hier im Deutschen Bundestag?
Mit der Großen Koalition hat der große Stillstand in den
Reformbemühungen eingesetzt. Alle Ansätze, den Weg
aus der wilhelminischen Beamtenstruktur heraus zu ei-
ner dienstleistungsorientierten Verwaltung zu finden,
sind offenbar wieder vergessen.
Im 6. Bericht zeigen die Großkoalitionäre leider über-
deutlich, dass sie nur noch an die Sicherung des Beste-
henden denken. Einzig wichtig war ihnen die Sicherung
der Ämterreviere in den Wahlkreisgrenzen. Eine Re-
form, die uns wirklich weiterführt und die die Beschäf-
tigten herbeisehnen, sieht anders aus.
Was wir jetzt brauchen, ist kein Weiter-so, sondern
eine wirkliche Neuorientierung für das System Wasser-
straße. Lassen Sie mich das an Beispielen aufzeigen.
Schauen wir uns die Zulassungsstelle für Binnenschiffe
an, die ZSUK als Abteilung der WSV in Mainz. Sie
sollte eigentlich Dienstleister für Hersteller und Eigner
von Binnenschiffen sein; denn ohne Untersuchung durch
die ZSUK darf kein Binnenschiff fahren. Doch tatsäch-
lich scheint die ZSUK in Mainz vor sich hin zu schlum-
mern.
Termine gibt es erst 16 Wochen nach Beantragung.
Wichtige Schiffsatteste werden nur vorläufig ausgestellt
und bedeuten einen erheblichen Mehraufwand für den
Schiffseigner; aber ein Nachteil sei für die Bundesregie-
rung nicht zu erkennen, wie sie uns durch den Kollegen
Ferlemann im November geantwortet hat. Die Bundesre-
gierung ist offenbar nicht daran interessiert, in die Zulas-
sung für Binnenschiffe endlich auch externe Sachver-
ständige einzubinden, wie das im Straßenverkehr, in der
Luftfahrt und jetzt auch bei der Bahn gemacht worden
ist.
Hoppla, da staunt der Laie, und der Fachmann wun-
dert sich. Sollte es nicht eine Reform der gesamten Was-
serstraßen- und Schifffahrtsverwaltung geben? Anschei-
nend wurden einige Teile vergessen. Bei allem Respekt,
den ich gegenüber den Mitarbeitern der WSV habe: Sol-
che Strukturen, wie sie dort konserviert wurden, gehen
heute definitiv nicht mehr. Befreien Sie sich vom schwe-
ren Ballast vergangener Tage, und setzen Sie endlich die
Verwaltungsreform in Gang.
An die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Linken: Rufen Sie doch bitte nicht immer nur nach
neuen Stellen in der Verwaltung, bevor das System Was-
serstraße wirklich neu organisiert ist. Kürzlich hat der
Kollege Herzog auf einem parlamentarischen Abend
einfach einmal 500 neue Stellen für die WSV gefordert.
So einfach geht es nicht, und so kommen wir nicht wei-
ter, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7343
Dr. Valerie Wilms
(C)
(B)
Setzen Sie jetzt ein Zeichen für eine echte Reform,
wie wir sie in unserem Antrag fordern. Damit fördern
wir den Erhalt unserer Wasserstraßen und helfen dem
Schifffahrtsstandort Deutschland.
Da müssen wir weitermachen, anstatt einfach noch mehr
Leute zu fordern.
Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin Wilms. – Nächster Redner:
Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! „Viel zu ruhig“, ruft Frau Kollegin Wilms
dazwischen. Der Kollege Behrens erinnert mich mit sei-
nem Beitrag so ein bisschen an die Taktik der Sozialde-
mokratie, an die Taktik von Lenin: zwei Schritte vor-
wärts, ein Schritt zurück. Dabei kommt man dann ins
Stolpern, Herr Kollege Behrens.
– Das war eine Abwandlung. – Was Sie hier vorgetragen
haben, ist strukturkonservativer Stillstand. Schlimmer
geht es nicht. Ich glaube, dass das, was die Koalition in
den letzten Wochen und Monaten hier gemeinsam auf
den Weg gebracht hat, und die Struktur, die die Bundes-
regierung vorgeschlagen hat, manchen Mangel beheben,
der in der Vergangenheit aufgetreten ist.
Ich will nur eines zur Erinnerung sagen: Die Ursache
dieser Unruhe ist nicht die Politik gewesen, die Ursache
ist der Bundesrechnungshof gewesen. Es gibt manchen
Kollegen und manche Kollegin, der oder die dem Bun-
desrechnungshof förmlich an den Lippen hängt. Schauen
Sie sich an, wie viele Stellen bei der WSV nach den Be-
richten des Bundesrechnungshofs noch abgebaut werden
sollten. Das geht in die Tausende.
– Ja, Herr Kollege Behrens, man kann nicht auf der ei-
nen Seite den Bundesrechnungshof zum Fetisch erheben
und auf der anderen Seite genau das Gegenteil dessen
fordern, was der Bundesrechnungshof verlangt. Das
passt schlichtweg nicht zusammen.
Ich glaube ganz einfach, dass mit dem Aufbau der
Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn,
mit der Ansiedelung der regionalen Kompetenz in den
Wasser- und Schifffahrtsämtern, mit der Bündelung von
Führung in den Revierämtern genau der richtige Weg ge-
funden worden ist; das ist meine feste Überzeugung. Ich
habe auch in der letzten Legislaturperiode keinen Hehl
daraus gemacht, dass die Trennung von Verkehr und In-
vestition aus meiner Sicht nicht richtig gewesen ist. Ich
glaube, die Zusammenführung gerade in den zukünfti-
gen Revierämtern ist genau der richtige Weg.
Ich will drei Herausforderungen beschreiben:
Erstens. Wir haben 75 neue Stellen ausgebracht.
Im ersten Aufschlag bedeutete das die Umwandlung von
befristeten und unbefristeten Stellen. Das ist der richtige
Weg. Wir werden, Herr Kollege Behrens, nur Stück für
Stück mit den 50 neuen Stellen für Ingenieure, für Um-
weltjuristen, für Verwaltungsjuristen wieder zu einem
vernünftigen Personalbestand kommen; nicht mit
500 neuen Stellen auf einmal, sondern mit einem Aufbau
Stück für Stück wird es gehen.
Man muss einfach zur Kenntnis nehmen: Emden, Au-
rich, Lübeck und Stralsund sind eben nicht Hamburg
oder Berlin. Das heißt, bestimmte Standorte sind gerade
für Studenten, die aus den ingenieurwissenschaftlichen
Fachrichtungen kommen, nicht sonderlich attraktiv. Des-
wegen sollten wir alle miteinander noch einmal nach-
denken, ob es nicht sinnvoll ist, in diesem Bereich ähnli-
che Regelungen wie beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz
anzuwenden. Ich persönlich sage: Wir werden in Kon-
kurrenz mit der Wirtschaft stehen. Meine persönliche
Erfahrung ist, dass wir auch in Konkurrenz mit kommu-
nalen Häfen, mit Landeshäfen stehen, die Wasserbau-
ingenieure und Juristen in diesem Bereich schon heute
deutlich besser bezahlen als die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes.
Zweitens. Ich glaube, dass das, was wir ansteuern, zu-
kunftsträchtig sein kann, und zwar deswegen, weil man
die Logistikstrukturen, die Strukturen von Verwaltung,
die Hafenstrukturen regional zusammenführt. Wir wer-
den hier dem Anspruch gerecht, der sich daraus ergibt,
dass die Hafenwirtschaft, die Logistikwirtschaft zu den
wesentlichen nationalen Branchen gehören. Die mari-
time Wirtschaft ist und bleibt eine nationale Aufgabe.
Drittens. Ich glaube, dass unser Antrag eine Heraus-
forderung für die Regierung ist. Ich halte es für ganz le-
gitim, dass Regierungsfraktionen die Regierung auch
fordern, dass wir Termine setzen, dass wir der Regierung
ganz bestimmte Meilensteine vorgeben, wie eine jährli-
che Unterrichtung oder die Einbringung des Entwurfs ei-
nes Rechtsbereinigungsgesetzes usw. usf. Aus meiner
Sicht befinden wir uns auf einem guten und vernünftigen
Weg.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eine letzte Bemer-
kung machen. Herr Kollege Behrens, Sie sind so intensiv
auf den Streik im Jahre 2013 eingegangen. Wissen Sie,
wozu dieser Streik in meinem Wahlkreis – Mirow, We-
senberg, die ganze Müritz wurde bestreikt – geführt hat?
Das hat zu Unmut bei der Bevölkerung geführt. Die
Menschen vor Ort hatten kein Verständnis, warum ge-
rade in dieser Zeit – vier, sechs, acht Wochen vor der
Wahl – gestreikt worden ist. Ich sage Ihnen eins: Mit da-
7344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014
Eckhardt Rehberg
(C)
(B)
für verantwortlich, dass ich 47 Prozent der Erststimmen
bekommen habe, war der von Verdi ausgerufene Streik.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Rehberg. – Letzter Redner in
der Debatte: Johann Saathoff für die SPD. Jetzt bin ich
einmal gespannt, wie viel Lenin bei ihm mitschwingt.
– Das, was dazu heute gesagt wurde, war für mich ein
Erkenntnisgewinn.
Ich denke, es ging vielleicht um einen Karl-Heinz
Lenin oder so. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Die regionale Kompetenz
sichern“, das war für uns einer der beiden wichtigen
Punkte bei der Reform der Wasserstraßen- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes. Heute können wir sagen:
Die regionale Kompetenz wird gesichert. Die Ämter vor
Ort behalten ihr Personal, ihre Fachkenntnisse sowieso
und hoffentlich auch ihre Entscheidungsbefugnisse. Sie
werden sogar noch gestärkt durch zusätzliche revierbe-
zogene Aufgaben, zu denen natürlich auch zusätzliches
Personal gehört.
„Mutt eerst mall worden, bit moi word“, sagt man bei
mir in Ostfriesland, wenn etwas umgebaut wird. „Es
muss zunächst schwieriger werden, bis es besser wird.“
Das ist die Übersetzung dafür, und das gilt auch für die
Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung.
Ich möchte Ihnen aufzeigen, welche Aufgaben bei-
spielsweise das für Ostfriesland zuständige Wasser-
schifffahrtsamt Emden hat: die Sicherstellung der Be-
fahrbarkeit der Ems, Kreuzfahrtschiffsüberführungen
von der Meyer-Werft in Papenburg bis in die Nordsee,
den Bau und die Unterhaltung der Seeschleusen unter
anderem und vor allem in Emden, den Betrieb der Ver-
kehrszentrale Ems, die Vermessung von Fahrwassertie-
fen, die Unterhaltungsbaggerungen zur Instandhaltung
der Schifffahrtswege in der Ems und durch das Watten-
meer.
Das ist keine abschließende Aufzählung. Zudem ist
die Ems-Mündung das einzige Revier ohne eine festge-
legte Grenze zum Nachbarland. Jede Regelung muss
einzeln mit den Niederlanden abgestimmt werden. Das
gibt es sonst nirgendwo in Europa. Bei dieser Aufzäh-
lung wird deutlich, wie wichtig die Erhaltung der regio-
nalen Kompetenz ist. Wir haben in den Wasser- und
Schifffahrtsämtern unheimlich viel Sachverstand, und
die Menschen machen eine hervorragende Arbeit. Ich
denke, das ist der richtige Ort, um das einmal zu erwäh-
nen.
Kurz vor Weihnachten möchte ich einen Appell an
Sie richten: Herr Staatssekretär, lassen Sie uns, wenn es
um die Frage der Leitungssitze geht, nicht nach dem
Motto „Jeder kämpft für sich allein“ agieren. Einfach ab-
zuwarten, bis eine entsprechende Anzahl von Amtslei-
tern in Rente gegangen ist, ist auch keine Lösung. Wir
sollten uns zusammensetzen und gemeinsam überlegen,
wo die Leitungssitze für die neu zugeschnittenen Re-
viere sinnvoll sind.
Die enge Einbindung der Beschäftigten bei der Wei-
terentwicklung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
war für uns ein weiterer Kernpunkt. Die Erarbeitung der
Reform sollte in Zusammenarbeit mit der Personalver-
tretung stattfinden. Das steht schon im Koalitionsver-
trag. Entsprechende Vereinbarungen zwischen Ministe-
rium und Personalrat gibt es. Außerdem lege ich großen
Wert auf die sozialverträgliche Umsetzung der Reform.
Es wird keine betriebsbedingten Kündigungen geben,
ebenso keine Um- oder Versetzungen oder Abordnungen
gegen den Willen der Beschäftigten. Nach jahrelanger
Unsicherheit kann und muss jetzt endlich wieder Ruhe
einkehren, damit Fachkräfte gebunden und rekrutiert
werden können.
Wir sind mit dieser Reform wieder auf einem guten
Kurs, und diesen Kurs werden wir im nächsten Jahr wei-
ter begleiten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur auf Drucksache 18/3536.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3041 mit
dem Titel „Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung
zukunftsfest gestalten“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustim-
mung von CDU/CSU und SPD, Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1341 mit
dem Titel „Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung konsequent fortsetzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 18 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3414 mit
dem Titel „Sozialverträgliche Arbeitsverhältnisse und
fristgerechte Nachbesetzung in der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung sichern“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist abgelehnt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Dezember 2014 7345
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
bei Zustimmung von der Linken und Ablehnung von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Matthias W. Birkwald, Sabine
Zimmermann , Klaus Ernst, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr
Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzli-
Drucksache 18/3042
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/3462
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3463
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/3462, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3042 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung abgelehnt bei Zustimmung der Linken und Ab-
lehnung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalge-
setzes
Drucksache 18/3254
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/3586
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
1) Anlage 13
2) Anlage 14
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3586, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3254 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben
CDU/CSU, SPD und Linke, Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD
und Linken sowie Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wei-
terentwicklung des Personalrechts der Beam-
tinnen und Beamten der früheren Deutschen
Bundespost
Drucksache 18/3512
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3512 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt
offensichtlich keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 19. Dezember 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen wunderbaren vorweihnachtlichen Abend.