Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, nach der Frage-
stunde als Zusatzpunkt ohne Debatte die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung
zur Einführung eines europäischen Verfahrens für ge-
ringfügige Forderungen und der Verordnung zur Einfüh-
rung eines Europäischen Mahnverfahrens auf Drucksa-
che 18/419 Nr. A.48 aufzurufen.
Des Weiteren soll die Unterrichtung der Bundesregie-
rung über den Bericht über die Einlegung eines Parla-
mentsvorbehalts gemäß § 8 Absatz 4 Satz 2 des Geset-
zes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union auf Drucksache 18/3385 federführend dem
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie dem
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zur Mitberatung überwiesen werden.
Schließlich soll der Entwurf eines Gesetzes zur weite-
ren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015
und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der
Kindertagesbetreuung auf Drucksachen 18/2586 und
18/3008 sowie die Beschlussempfehlung hierzu auf
Drucksache 18/3241 an den federführenden Haushalts-
ausschuss und der Gesetzentwurf zusätzlich zur Mitbera-
tung an den Innenausschuss, den Finanzausschuss, den
Ausschuss für Arbeit und Soziales und an den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurücküber-
wiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
anlässlich des Internationalen Tages der Men-
schen mit Behinderungen – Mehr Teilhabe er-
öffnet neue Perspektiven
Für die Bundesregierung erteile ich der Beauftragten
für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele,
das Wort.
Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Ich stehe richtig gerne
heute hier, um am Internationalen Tag der Menschen mit
Behinderung zu Ihnen zu sprechen. Ich wurde vor einigen
Tagen gefragt, ob wir diesen Tag eigentlich noch brau-
chen. Und, wie Sie sich denken können, als Beauftragte
der Bundesregierung ist meine Antwort ein klares Ja.
Denn dieser Tag gibt uns die Gelegenheit, immer wieder
zu gucken: Welchen Weg haben wir noch vor uns und
was ist noch zu tun, bis wir in einer inklusiven Gesell-
schaft leben?
Es gibt – das können Sie mir glauben – noch viel zu
tun, beispielsweise, wenn es um die neue Eingliede-
rungshilfe, um die Reform, die uns so wichtig ist, geht.
Für Menschen mit Behinderung muss es selbstverständ-
lich sein, dass sie Hilfen aus einer Hand bekommen.
Wir brauchen meiner Ansicht nach vor allem eine un-
abhängige Beratung. Wir brauchen aber auch Leistun-
gen, die für jeden Menschen immer von einer Ansprech-
partnerin oder einem Ansprechpartner einer Behörde
erbracht werden.
In unserer modernen technologisierten Welt muss es
möglich sein, dass sich die Akten und die Abläufe bewe-
gen und nicht die Menschen ihren Leistungen nachlau-
fen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen.
6804 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Beauftragte der Bundesregierung Verena Bentele
(C)
(B)
Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutsch-
land müssen ebenfalls die Hürden immer noch selbst be-
seitigen, wenn sie die Potenziale und Fähigkeiten von
Menschen mit Behinderung sehen und einsetzen wollen.
Es muss aber für Unternehmen, die Menschen mit Be-
hinderung beschäftigen wollen, weil sie deren Kompe-
tenzen erkennen und sie damit als großen Gewinn anse-
hen, möglich sein, sie einstellen zu können, ohne dass
ihnen Steine in den Weg gelegt werden.
Für mich ist jedenfalls klar: Arbeit muss sich lohnen,
und zwar für alle Menschen, auch für Menschen mit Be-
hinderung. Das erreichen wir nur, wenn wir endlich die
Einkommens- und Vermögensanrechnung abschaffen.
Für Menschen mit Behinderung ist es heute nicht mög-
lich, ein Vermögen anzusparen, für die Ausbildung der
Kinder zu sorgen oder, wie vielleicht viele von Ihnen
schon geplant haben, einen Weihnachtsurlaub zu ma-
chen; denn dafür fehlt schlicht das Geld. Mit 2 600 Euro
ist schnell eine Grenze für Wünsche und Träume er-
reicht, selbst wenn wir keinen übermäßigen Anspruch
haben. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass jeder Mensch
von seinem Einkommen und Vermögen so viel haben
darf und haben kann – auch wenn er einen hohen Assis-
tenzbedarf hat –, dass am Ende des Tages auch eine
selbstbestimmte Teilhabe durch eigene Mittel möglich
ist.
Darüber hinaus dürfen wir natürlich die Kinder und
Jugendlichen nicht vergessen. Ich plädiere deswegen
ganz eindeutig für die sogenannte große Lösung.
Kinder und Jugendliche sind in erster Linie Kinder
und Jugendliche. Sie sollen unter dem Dach der Kinder-
und Jugendhilfe ihre Unterstützung bekommen und als
Kinder und als Jugendliche behandelt und gesehen wer-
den. So setzen wir die UN-Behindertenrechtskonvention
um.
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Am 7. Juli
2011 wurde hier im Deutschen Bundestag beschlossen,
dass Kinder und Jugendliche, die in Heimen der Behin-
dertenhilfe Missbrauch erlitten haben, nicht weiter aus
dem Heimerziehungs-Fonds ausgeschlossen werden sol-
len. Lassen Sie uns hier – darum bitte ich inständig –
eine Lösung suchen, um auch diese Menschen mit Be-
hinderung zu entschädigen, und dafür sorgen, dass auch
sie einen Ausgleich für erlittenes Leid bekommen.
Für mich ist dieser Tag ein guter Tag. Viele Organisa-
tionen und Verbände der Menschen mit Behinderung
werden heute Veranstaltungen und Aktionen machen,
bei denen ich den einen oder die andere von Ihnen mit
Sicherheit sehe. Ich freue mich auf gute Diskussionen
und darauf, dass wir das, was wir heute planen und wo-
für wir heute einstehen, auch tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche uns allen einen guten Internationalen Tag für die
Rechte der Menschen mit Behinderung.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Katrin Werner, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Bentele, am 3. Dezember 1993 wurde der Welttag der
Menschen mit Behinderungen ins Leben gerufen. Viel
ist zumindest seitdem auf dem Papier passiert. Wir ha-
ben eine UN-Behindertenrechtskonvention, die allen
Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte zu-
spricht wie auch Menschen ohne Behinderung. Aber an
deren Umsetzung mangelt es.
Wir haben ein Behindertengleichstellungsgesetz, das ei-
ner Überarbeitung bedarf. Wir haben ein Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz, einen neuen Teilhabebericht,
einen laufenden Prozess zu einem Bundesteilhabegesetz
und vieles mehr.
Aber ist der heutige Welttag der Menschen mit Behin-
derungen der Bundesregierung wirklich wichtig? Letzte
Woche wurde eine Debatte zum heutigen Tag vereinbart,
und zwar mit einer Debattenzeit von nur 38 Minuten.
Warum nicht mehr? Die aktuellen Anträge der Opposi-
tionsparteien werden einfach diese Woche Donnerstag
irgendwann zu später Stunde unter Tagesordnungs-
punkt 33 „Abschließende Beratungen ohne Ausspra-
che“ behandelt.
Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschland
noch meilenweit von einer inklusiven Gesellschaft ent-
fernt, an der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichbe-
rechtigt teilhaben kann – egal ob jung oder alt, egal ob
mit Beeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrations-
hintergrund oder ohne.
Seien wir alle hier doch mal ehrlich zu uns selber. Zur
Schaffung einer inklusiven Gesellschaft bedarf es auch
eines Blicks in die Kommunen. Was hilft den Kommu-
nen ein Nationaler Aktionsplan auf Bundesebene, was
hilft ihnen ein Aktionsplan auf Landesebene, wenn es an
den entsprechenden Maßnahmen für Barrierefreiheit vor
Ort mangelt? In Kindergärten, Schulen, Turnhallen
wurde jahrelang zu wenig investiert; der Putz fällt von
den Wänden, oder es muss wegen Schimmelbefall ge-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6805
Katrin Werner
(C)
(B)
schlossen werden. Unsere Straßen sind marode. Investie-
ren Sie endlich bedarfsorientiert in eine barrierefreie In-
frastruktur!
Deutschland wird sich im März 2015 einer Prüfung
durch die UN unterziehen. Ich bin mir sicher, dass sich
dabei herausstellen wird: Der deutschen Behinderten-
politik fehlt weitgehend die Menschenrechtsperspektive.
Das trifft zum Beispiel Flüchtlinge mit Behinderungen
besonders hart. Es mangelt an barrierefreien Erstaufnah-
meeinrichtungen und auch an angemessener ärztlicher
Versorgung und vielem mehr. Das, meine Damen und
Herren, ist nicht mehr hinnehmbar!
In den kommenden 15 Tagen begehen wir drei UN-
Menschenrechtstage: den heutigen Welttag der Men-
schen mit Behinderung, am 10. Dezember den Welttag
der Menschenrechte und am 18. Dezember den Interna-
tionalen Tag der Migrantinnen und Migranten. Das ist
gut so, und das begrüßen wir alle ausdrücklich.
Frau Bentele, Ihre Wünsche haben wir alle vernom-
men, und ich möchte, dass wir gemeinsam dafür streiten,
sie zu erfüllen.
Ich möchte einen Teil der Forderungen vonseiten der
Linken wiederholen:
Die Behindertenpolitik der Bundesrepublik muss
konsequent unter einen Menschenrechtsblickwinkel ge-
stellt werden.
Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderung auf-
grund eines Bedarfs an Assistenz armgemacht werden.
Wie notwendig es ist, daran etwas zu ändern, hat die
Trierer Richterin Nancy Poser in der Anhörung am ei-
genen Beispiel dargestellt: Sie darf nicht mehr als
2 600 Euro ansparen; jede Summe darüber hinaus wird
ihr abgezogen. Was macht sie, wenn mal das Auto kaputt
ist? Wer soll das finanzieren? Sie muss immer wieder
auf ihre Eltern zurückgreifen. Meine Damen und Herren,
das darf nicht sein!
Wir fordern eine den Bedürfnissen entsprechende ein-
kommens- und vermögensunabhängige persönliche As-
sistenz für alle Lebenslagen und gesellschaftlichen Be-
reiche.
Das bedeutet: Assistenz in der Kindertagesstätte, Assis-
tenz im Praktikum, Assistenz bei der Erziehung von
Kindern, aber auch Assistenz im Ehrenamt.
Wir fordern eine Überprüfung aller Bundesgesetze.
Schließlich hat sich die Bundesregierung mit der Unter-
zeichnung der Behindertenrechtskonvention dazu ver-
pflichtet, alle Gesetze entsprechend der Konvention an-
zupassen.
Wir fordern die freie Wahl von Wohnort und Wohn-
form. Niemand darf aufgrund seines hohen Assistenzbe-
darfs gezwungen werden, im Heim zu leben.
Wir fordern, dass Flüchtlingen mit Behinderungen die
gleichen Rechte eingeräumt werden wie anderen Men-
schen mit Behinderungen.
Wir fordern Leistungen aus einer Hand und nicht
von verschiedenen Ämtern. Und ja, schaffen Sie den
Dschungel an Bürokratie ab!
Wir fordern eine stärkere Förderung von Integrations-
betrieben und die Schaffung von Alternativen zu Werk-
stätten für Menschen mit Behinderung.
Wir fordern, dass die Menschenrechte von Menschen
mit Behinderung nicht länger unter Kostenvorbehalt ge-
stellt werden. Die schwarze Null darf nicht weiter im
Zentrum stehen, wenn sie die Umsetzung der Behinder-
tenrechtskonvention verhindert.
Wir müssen die Brille des Geldes absetzen und weg von
der schwarzen Null des Herrn Finanzminister, der sich
die schwarze Null heute noch schönredet, die aber unse-
ren Kindern morgen auf die Füße fällt.
Ich weiß, ich habe meine Redezeit überzogen; aber
ich möchte mit einem Appell an uns alle schließen: Ge-
hen wir alle am Montag in unsere Wahlkreise und ma-
chen wir uns stark für die Erstellung und Umsetzung von
bedarfsorientierten kommunalen Aktionsplänen! Bitte
verneinen Sie nicht von vornherein die Erfüllung wichti-
ger Forderungen mit dem Argument der Kosten.
Danke.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Dass wir die Parlamentswoche mit einer Debatte anläss-
lich des Internationalen Tags der Menschen mit Behin-
derungen starten, zeigt die Gewichtigkeit dieser Debatte.
Ob wir jetzt 31 Minuten oder 45 Minuten debattieren,
das ist marginal. Entscheidend ist, dass unsere Worte
6806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Uwe Schummer
(C)
(B)
und Taten überzeugen, dass wir die Herzen und Köpfe
der Menschen erreichen und dass die Große Koalition
ihre Projekte zur Inklusion in der Gesellschaft mit der
Bundesregierung zügig vorantreibt. Hier wurde bereits
ein gutes Stück Arbeit geleistet. Deshalb bin ich froh,
dass diese Debatte zu diesem Zeitpunkt geführt wird.
Das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist.
Zurzeit leben in Deutschland 7 Millionen Menschen
mit einer anerkannten Schwerbehinderung, davon er-
halten etwa 700 000 Menschen, die eine wesentliche
Einschränkung haben, Leistungen aus der Wiederein-
gliederungshilfe. Nur 5 Prozent der Menschen mit Be-
hinderungen ist diese Behinderung angeboren, bei
95 Prozent ist sie im Laufe des Lebens eingetreten, und
dies kann jeden Menschen treffen.
Bei vielen Diskussionen und Veranstaltungen im Be-
hindertenbereich stelle ich fest, dass sich eine Gruppe
von etwa 10 Prozent intensiv mit dem Thema Behinde-
rung beschäftigt, wir aber immer noch Probleme haben,
die übrigen 90 Prozent der Gesamtgesellschaft zu errei-
chen. Wir brauchen insofern eine Gesinnungsreform,
eine Zuständereform, wir müssen Aufklärungsarbeit
leisten, diskutieren und informieren. Hier sind wir alle
gefordert. Lassen Sie uns den heutigen Internationalen
Tag der Menschen mit Behinderung nutzen, um zu hel-
fen, dass Projekte vor Ort umgesetzt werden, und um das
Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.
Die Reform der Eingliederungshilfe ist ein Großpro-
jekt der Großen Koalition. Die Zielsetzung ist: So viel
Teilhabe wie möglich, so viel Unterstützung wie nötig.
Selbstbestimmung, Wahlfreiheit und persönliche Entfal-
tung – das sind Grundsätze eines modernen Teilhabe-
rechts.
Wer es in der Zukunft besser machen will, der muss
auch die Vergangenheit aufarbeiten. Ich bin schon etwas
erschrocken, dass dem Vorschlag des Bundes, einen
zweiten Entschädigungsfonds für missbrauchte behin-
derte Heimkinder zu bilden – die Kirchen haben schon
signalisiert, dabei mitzumachen –, nur Bayern zuge-
stimmt hat, während alle anderen Bundesländer derzeit
aber auf der Bremse stehen.
Hier stehen wir alle in der Pflicht. Wer sich schon auf
Landesebene nicht durchsetzt oder nicht die richtige Phi-
losophie umsetzen will, der wird natürlich auch bei ei-
nem so großen Projekt wie der Schaffung eines Teilha-
begesetzes nicht vorneweg gehen. Ich appelliere an uns
alle, die Ministerpräsidenten in den jeweiligen Bundes-
ländern aufzufordern, zügig eine Regelung für die Ent-
schädigung missbrauchter behinderter Heimkinder auf
den Weg zu bringen.
Etwa 1 Million schwerbehinderter Menschen arbei-
ten auf dem ersten Arbeitsmarkt; zwei Drittel dieser
986 000 Menschen in privaten Unternehmen. 300 000
sind in Werkstätten tätig. Die Ausgleichsabgabe umfasst
ein Gesamtvolumen von 531 Millionen Euro im Jahr.
Davon werden etwa 167 Millionen Euro von den Unter-
nehmen abgerufen, um die Finanzierung der behinder-
tengerechten Umgestaltung von Arbeitsplätzen sicher-
zustellen. Eine Umfrage des Handelsblattes hat nun
ergeben, dass offenkundig jedem vierten Unternehmer
die Möglichkeit, Finanzhilfen aus dem Ausgleichsfonds
zu erhalten, nicht bekannt ist. Es ist schon merkwürdig,
dass ich als Unternehmer weiß, dass ich bezahlen muss,
wenn ich die Quote nicht erfülle, aber nicht weiß, dass
ich aus dem Fonds Geld entnehmen kann, damit ich im
eigenen Betrieb für Barrierefreiheit sorgen kann, um da-
mit motivierte Beschäftigte an mein Unternehmen zu
binden.
Deshalb ist die Aufklärungsarbeit auf dem ersten Ar-
beitsmarkt so wichtig; denn schwerbehinderte Menschen
im Unternehmen sind ein großes Potenzial, das es auszu-
bauen gilt. Darauf hinzuweisen, ist eine ganz wichtige
Maßnahme, die wir uns auch am heutigen Tag ins Ge-
dächtnis rufen sollten. Es darf keine Unternehmen ohne
Barrierefreiheit geben. Viele finanzielle Hilfen sind
möglich, um schwerbehinderte Menschen zu beschäfti-
gen. Es muss nur bekannt gemacht werden, dass es sie
gibt. 82 Prozent der Unternehmer, die schwerbehinderte
Menschen beschäftigen, sagen – so das Handelsblatt –:
Es gibt keinen Leistungsunterschied zu anderen Be-
schäftigten; es handelt sich vielmehr um motivierte, qua-
lifizierte und hochproduktive Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter. – Das sollte auch den anderen Unternehmen
eine Lehre sein, ihre Arbeitsplätze für Menschen mit Be-
hinderung menschengerecht umzugestalten.
Ich möchte an dieser Stelle den Zehntausenden von
Schwerbehindertenvertretern gratulieren, die in diesen
Tagen ihre Ämter neu übernehmen. Bis Ende November
wurden die Schwerbehindertenvertreterwahlen durchge-
führt. Die Schwerbehindertenvertreter sind für die so-
ziale Struktur der Unternehmen wichtig und besitzen
viel Kompetenz. Sie wissen, wie man aus dem Aus-
gleichsfonds Gelder für die Ausgestaltung menschenge-
rechter Arbeitsplätze abruft, sie wissen, wie man auch
chronisch Kranke im Unternehmen halten kann, sie wis-
sen, wie man Frühverrentungen vermeiden kann, wie
man das Erwerbspotenzial in den Unternehmen sichert.
Sie leisten eine starke, eine wichtige Aufgabe in den Be-
trieben und Verwaltungen. Deshalb noch einmal: Gratu-
lation an alle neu gewählten Schwerbehindertenvertreter
in Deutschland.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6807
Uwe Schummer
(C)
(B)
Zum Schluss möchte ich das Thema Einkommen und
Vermögen ansprechen. Die Vermögensgrenze in Höhe
von 2 600 Euro ist 15 Jahre alt. Es muss auch ein Recht
auf ein Sparbuch geben. Wenn wir ein modernes Teilha-
berecht miteinander entwickeln wollen, gehört diese Re-
gelung auf den Prüfstand. Hier müssen wir einen großen,
einen guten Schritt nach vorne machen.
Teilhabe bedeutet neue Perspektiven, gute Perspekti-
ven für jeden einzelnen Menschen, aber auch für unsere
Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese De-
batte miteinander führen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Corinna Rüffer, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Bentele! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bentele,
ich danke Ihnen erst einmal sehr, dass Sie ganz viele
Forderungen, die wir alle, die wir fachlich mit dem Be-
reich der Behindertenpolitik beschäftigt sind, teilen,
genannt haben. So muss ich sie nicht mehr nennen.
Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, teilen das zu
100 Prozent.
Ich möchte meine beschränkte Redezeit darauf ver-
wenden, auch Sie, Frau Bentele, in die Niederungen der
parlamentarischen Arbeit zu entführen. Stellen Sie sich
alle einmal bitte Folgendes vor: Sie besuchen eine
fremde Stadt und suchen, sagen wir mal, eine Jugendher-
berge. Die Frau, die mit einem Stadtplan in der Hand
dort steht, antwortet Ihnen auf Ihre Frage: Ich bin gerade
in einem Beteiligungsprozess mit einer Reihe von Ex-
pertinnen und Experten. Über den Weg zur Jugendher-
berge reden wir in einer Woche. Über den Verlauf un-
seres Gespräches informiere ich Sie gerne über das
Internet. Hier ist die Adresse. – Jetzt würden Sie wahr-
scheinlich nachfragen: Können Sie mir denn nicht jetzt
schon sagen, welcher Weg aus Ihrer Sicht der gute, der
beste ist? Sie haben doch einen Stadtplan in der Hand.
Welche Möglichkeiten gäbe es? – Wenn sich die Dame
ein Beispiel an unserer Bundesregierung nehmen würde,
würden Sie auf diese Frage keine Antwort bekommen.
So erging es meiner Fraktion zuletzt vorgestern, als
wir einige inhaltliche Nachfragen zum geplanten Teilha-
begesetz gestellt haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
legen aus SPD und Union, haben sich vorgenommen,
Teilhabeleistungen für Menschen mit einer wesentlichen
Behinderung aus dem Fürsorgerecht zu lösen. In diesem
Zusammenhang sollen auch die Kommunen finanziell
entlastet werden. Das ist gut. Wir wollten nun von der
Bundesregierung wissen, wie sie beides miteinander ver-
knüpfen möchte, und haben, wie es hier so üblich ist,
eine Kleine Anfrage gestellt. Mehr als erstaunt mussten
wir aber feststellen: Ein Jahr nach der Unterzeichnung
des Koalitionsvertrags ist die Bundesregierung nicht in
der Lage, eine einzige inhaltliche Frage zu ihrer Reform
zu beantworten. Was wären Vor- und Nachteile eines be-
stimmten Vorschlags für behinderte Menschen? Was wä-
ren die Vor- und Nachteile für Bund, Länder und Kom-
munen? Die Bundesregierung verrät es nicht. Sie möchte
zumindest mit uns nicht darüber sprechen.
Und warum nicht? Da wird es jetzt interessant: Sie
begründet ihre Verweigerung, die Vor- und Nachteile
verschiedener Vorschläge zu beschreiben, damit, dass sie
ihrem Beteiligungsprozess nicht vorgreifen möchte. Sie
habe sich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen
und ihre Verbände am Gesetzgebungsprozess zu beteili-
gen.
Das finde ich sehr gut.
Es ist eine sinnvolle Selbstverpflichtung, diejenigen zu
beteiligen, die hinterher vom Ergebnis betroffen sein
werden.
Genauer beschreibt das Artikel 4 der viel zitierten Be-
hindertenrechtskonvention, aus der ich jetzt zitieren
möchte:
Bei der Ausarbeitung … von Rechtsvorschriften
und politischen Konzepten zur Durchführung die-
ses Übereinkommens … führen die Vertragsstaaten
mit den Menschen mit Behinderungen … über die
sie vertretenden Organisationen enge Konsultatio-
nen und beziehen sie aktiv ein.
So wird aus der Selbstverpflichtung ganz schnell eine
völkerrechtliche Verpflichtung.
Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung an völker-
rechtliche Verpflichtungen hält; meinetwegen darf sie
diese auch als Selbstverpflichtungen verkaufen. Es ist
aber nicht gut, wenn sie sich die Freiheit herausnimmt,
inhaltliche Fragen nicht mehr mit den Abgeordneten die-
ses Hauses zu besprechen und zu debattieren.
Es reicht nicht aus, wenn wir hier nur deshalb eine De-
batte führen, weil heute der Internationale Tag der Men-
schen mit Behinderung ist. Wir sollten Debatten führen,
in denen wir über Lösungen streiten. Diese Debatten
können nicht nur in einer AG in einem Ministerium ge-
führt werden.
Für uns Grüne ist klar: Der Bund muss die Finanzie-
rung der Teilhabeleistungen anteilig übernehmen, syste-
6808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Corinna Rüffer
(C)
(B)
matisch und dauerhaft. Wir haben darüber hinaus in die-
sem Jahr weitere Reformvorschläge unterbreitet. Wir
möchten ein Sofortprogramm für Barrierefreiheit und
gegen Diskriminierung. Wir möchten eine echte Wahl
zwischen einem Arbeitsplatz in einer Werkstatt für be-
hinderte Menschen und einem Arbeitsplatz auf dem ers-
ten Arbeitsmarkt ermöglichen.
Über einige unserer Vorschläge wird diese Woche
hier abgestimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Union und von der SPD, stimmen Sie zu! Hören Sie
auf, die Beteiligung behinderter Menschen an diesem
Reformprozess vorzuschieben, um sich vor einer inhalt-
lichen Auseinandersetzung mit der Opposition zu drü-
cken!
Es ist nicht nur legitim, sondern es ist auch gut, dass
die Bundesregierung mit Verbänden, mit den Rehaträ-
gern, mit Vertretern aus Ländern und Kommunen über
diese Reform berät. Genauso legitim, sinnvoll und gut ist
es, im Parlament über verschiedene Wege zu guten Lö-
sungen zu streiten, und zwar nicht erst zu dem Zeitpunkt,
zu dem die Meinungsbildung abgeschlossen ist. Man
nennt das Demokratie.
Vielen Dank.
Wollen Sie eine Kurzintervention dazu machen, Herr
Dr. Rosemann? – Bitte.
Herr Präsident! Liebe Kollegin Rüffer, Sie haben den
Koalitionsfraktionen eben vorgeworfen, dass sie sich in-
haltlich nicht mit Ihren Vorschlägen auseinandersetzen
würden. Ich finde diesen Vorwurf falsch und will ihn
entschieden zurückweisen.
Wir diskutieren und debattieren über Ihre Anträge; wir
haben eine Anhörung dazu durchgeführt, wir diskutieren
sie im Ausschuss, wir debattieren sie im Plenum, und
wir nehmen dazu auch Stellung. Was wir aber nicht tun,
ist, abschließend darüber abzustimmen und hier etwas zu
beschließen, wodurch wir den Beteiligungsprozess quasi
ad absurdum führen und die Ergebnisse, über die wir ge-
meinsam mit den betroffenen Menschen diskutieren
wollen, vorwegnehmen würden.
Mögen Sie darauf antworten, Frau Kollegin Rüffer?
Ja, aber hallo!
Bitte schön.
Wenn ich diese Gelegenheit schon einmal bekomme,
mache ich das sehr gerne. – Herr Rosemann, das, was
Sie sagen, ist ganz richtig. Es gab auch Treffen mit Frau
Lösekrug-Möller im Ministerium, und an der einen oder
anderen Stelle besprechen wir auch Dinge. Aber hier im
Plenum funktioniert das eher nicht so gut. Ich glaube,
das Diskutieren über konkrete Vorschläge hier im Ple-
num ist noch ausbaufähig.
Das, worauf ich Bezug genommen habe, ist eine von
mehreren Kleinen Anfragen, die meine Fraktion an die
Bundesregierung gerichtet hat. Die Antworten waren
mehr als dürftig. Aus den Antworten lässt sich herausle-
sen, dass Sie sich weigern, sich intensiv mit den Frage-
stellungen auseinanderzusetzen bzw. uns darüber zu in-
formieren, wie Ihre Vorstellungen dazu sind. Ich kann
Ihnen diese Kleinen Anfragen gerne übermitteln.
Als Begründung – dazu habe ich gerade genug gesagt –
steht darin: Wir befinden uns in einem Beteiligungspro-
zess mit den Verbänden etc. – Dazu habe ich gesagt: Das
finde ich richtig und gut. Aber das ersetzt nicht die Aus-
einandersetzung in dem Parlament, in dem wir uns hier
befinden.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Kerstin Tack, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Verena
Bentele, vor fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechts-
konvention hier in Deutschland ratifiziert worden. Das
war ein ganz wesentlicher Meilenstein für die Interessen
der behinderten Menschen und ihre Rechtsstellung in
Deutschland.
Die Inklusion, die mit der UN-Behindertenrechtskon-
vention auch in Deutschland Einzug gehalten hat, ist ein
Paradigmenwechsel gewesen; denn bisher hatten wir im
Rahmen der Integration immer gefragt: Was muss der
einzelne Mensch tun, um in ein bestehendes System in-
tegriert zu werden? Mit der Inklusion drehen wir diese
Fragestellung um und fragen: Wie müssen sich die Sys-
teme verändern, damit jeder an und in ihnen teilhaben
kann? Das alleine war schon ein wesentlicher Baustein,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6809
Kerstin Tack
(C)
(B)
um Inklusion auch in Deutschland inhaltlich zu begrün-
den.
Wenn wir uns angucken, wo wir heute, nach fünf Jah-
ren UN-Behindertenrechtskonvention, stehen, dann stellt
sich zum einen die Frage: Was müssen wir gesetzlich re-
geln? Welchen Auftrag haben wir für die Definition ei-
nes Handlungsrahmens? Zum anderen geht es um die
Frage: Wie ist es um das Bewusstsein in der Gesellschaft
für eine inklusive und damit eine sich öffnende Gesell-
schaft bestellt?
Im November wurde eine Studie des Allensbacher In-
stituts veröffentlicht, die im Auftrag der Bundesvereini-
gung Lebenshilfe durchgeführt wurde. Sie enthält er-
freuliche und weniger erfreuliche Ergebnisse: 22 Prozent
sagen, sie haben von der UN-Behindertenrechtskonven-
tion noch nichts gehört. Das sind ganz schön wenige.
40 Prozent sagen, dass sie in ihrem Familien-, Bekann-
ten- oder Verwandtenkreis entsprechende Kontakte haben.
Aber 50 Prozent geben an, Berührungsängste gegenüber
Menschen mit Behinderungen zu haben, insbesondere
gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung,
und gar 62 Prozent sagen, sie glauben, dass eine gesell-
schaftliche Teilhabe nur beschränkt möglich ist.
Daran erkennen wir, wie groß die Notwendigkeit ist,
dass wir unsererseits gute Rahmenbedingungen schaf-
fen, aber auch, wie sehr eine entsprechende Bewusst-
seinsbildung in der Gesellschaft erforderlich ist, damit
wir mit unserem Gesamtanliegen – mit beiden Berei-
chen – weiterkommen.
Deshalb haben wir uns auch in dieser Legislaturpe-
riode beeindruckend viel vorgenommen: Das BGG wird
verändert, wir werden für die Barrierefreiheit einiges
tun, wir werden das AGG bearbeiten, und wir werden im
Petitionsausschuss Barrierefreiheit herstellen. An über
20 Stellen des Koalitionsvertrages stehen konkrete Maß-
nahmen für Menschen mit Behinderungen; dies werden
wir umsetzen.
Das wichtigste Vorhaben wird aber sicherlich das
Bundesteilhabegesetz sein. Es wird sich daran messen
lassen müssen, ob damit tatsächlich ein Paradigmen-
wechsel vollzogen wird – hin zu der Sichtweise des ver-
sorgenden, des fürsorgenden Staates – und ob wir die
Teilhabe, die Selbstbestimmung und das Wunsch- und
Wahlrecht tatsächlich in geltendes Recht umsetzen kön-
nen und damit im Sinne der Menschen mit Behinderun-
gen in unserem Land einen wirklich echten Schritt vor-
wärtskommen.
Deshalb haben wir uns vorgenommen, innerhalb des
Gesetzes klar zu sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist
das A und O, wenn es darum geht: Wie will ich leben?
Wo will ich leben? Wo und wie will ich arbeiten? Wo
möchte ich mich gesellschaftlich beteiligen? Wir sagen:
Das Wunsch- und Wahlrecht ist die wesentliche Voraus-
setzung für die Gewährleistung von Teilhabe. Deshalb
steht das ganz klar im Fokus und im Grunde genommen
als Überschrift über dem Gesetz.
Wir sagen aber auch: Wir wollen, dass die Geldleis-
tungen zur Teilhabe entsprechend den Wünschen an die
jeweiligen Personen und nicht einrichtungszentriert aus-
gezahlt werden. Für uns ist völlig klar, dass es in
Deutschland keine unterschiedliche Bedarfsermittlung
geben kann, wenn es um die entsprechenden Belange
geht. Egal ob ich in Berlin oder in Bayern lebe: Es muss
eine Standardisierung bei der Frage geben, wie eine Be-
darfsermittlung vorzunehmen ist. Wir müssen weg von
über 600 Verfahren zur Bedarfsermittlung, die es im Mo-
ment gibt.
Einer der wesentlichen Punkte sind an dieser Stelle
bundeseinheitliche Standards für eine gute, flächende-
ckend in Deutschland angewandte einheitliche Bedarfs-
ermittlung; diese brauchen wir dringend.
Frau Bentele hat es schon sehr deutlich gesagt, und
auch uns geht es darum, dass Einkommen und Vermögen
für den Nachteilsausgleich eingesetzt werden, also für
die soziale Teilhabe, und nicht für den Lebensunterhalt.
Das ist unser Anliegen. Wir wollen die soziale Teilhabe
gewähren, unabhängig von Einkommen und Vermögen.
Außerdem wollen wir selbstverständlich ein Recht
auf Sparen. Warum auch nicht? Jeder, der arbeitet – das
gilt auch für eine Werkstatt für Menschen mit Behinde-
rungen –, muss das Recht haben, Geld zurückzulegen.
Das halten wir für selbstverständlich. Deshalb werden
wir an diese Sache herangehen. Wir haben hier die
Schnittstellen zur Pflege und zur Gesundheitsversorgung
sowie zum SGB VIII im Blick; das ist bereits gesagt
worden.
Ich will zum Schluss sagen, dass wir von den Ländern
enttäuscht sind, die sich bei der Arbeits- und Sozial-
ministerkonferenz in der vergangenen Woche mit großer
Mehrheit dagegen entschieden haben, sich an einem
Fonds für Kinder aus Heimen der Behindertenhilfe zu
beteiligen. Wir erwarten, dass es in dieser Richtung Be-
wegung gibt. Genauso wie wir einen Fonds für die Kin-
der aus Erziehungsheimen in Ost und West eingerichtet
haben, wollen wir auch für behinderte Kinder einen ent-
sprechenden Fonds erreichen; selbstverständlich. Des-
wegen ist unsere deutliche Erwartung an die Länder, sich
hier nicht aus der Solidarität und der Gemeinschaftsauf-
gabe zu verabschieden, sondern für eine gute Ausstat-
tung des Fonds zu sorgen.
Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Frau Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Frak-
tion.
6810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
Herr Präsident! Frau Bentele! Meine Damen und Her-
ren! Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit
Behinderung. An diesem Tag könnten wir uns darauf zu-
rückziehen, ausschließlich über die Lage hier bei uns in
Deutschland zu sprechen. Ich meine aber, es ist an die-
sem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung
angemessen, einen Blick über die Grenzen zu werfen.
80 Prozent der Menschen mit Behinderungen welt-
weit leben in Entwicklungsländern. Sie erhalten dort in
aller Regel keine ausreichende medizinische Grundver-
sorgung, keine Hilfsmittel, keine Sozialleistungen. Sie
werden diskriminiert, ausgegrenzt und nicht selten ver-
folgt. Viele Menschen mit Behinderungen auf der Welt
haben kaum Möglichkeiten, überhaupt am gesellschaftli-
chen Leben teilzuhaben. Dabei sind es im Übrigen vor
allem Frauen und Kinder, die es besonders hart trifft.
Wenn wir es mit gleichberechtigter Teilhabe ernst
meinen, dann müssen wir diese Überlegungen in unsere
Außen- und Entwicklungspolitik einbeziehen. Ich bin
wirklich froh, dass wir dies auch in unserem Koalitions-
vertrag so vereinbart haben:
Die Einbeziehung von Menschen mit Behinderun-
gen soll in der Entwicklungszusammenarbeit stär-
ker verankert und systematischer ausgestaltet wer-
den.
Das ist sicher der richtige Weg.
Gleichzeitig lässt der Blick über die Grenzen auch
eine gute Einordnung dessen zu, was wir hier in
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erreicht
oder eben nicht erreicht haben. Seit es die Bundesrepu-
blik gibt, gab es nie die eine Behindertenhilfe. Das Sys-
tem hat sich stark und oft verändert. Es bestand und be-
steht aus vielen unterschiedlichen Instrumenten. Dabei
waren es nie Revolutionen, sondern immer Reformen,
die uns den Weg bis zum heutigen Stand geebnet haben.
Überholte Vorstellungen darüber, was Behinderte kön-
nen oder auch nicht können, sind verschwunden. Neue
Ideen, ein neues Denken haben Einzug gehalten.
Wir haben heute in unserem Land ein breit gefächer-
tes System von Diensten, Einrichtungen und Hilfen, das
Menschen mit Behinderungen Unterstützung gewährt
und ihnen Teilhabe ermöglicht. Gleichzeitig – das ist gut
so – diskutieren wir zurzeit sehr viel darüber, wie wir es
noch besser machen können.
Welche Ideen verfolgen wir? Es geht nicht mehr in
erster Linie um die Frage, wie wir Menschen mit Behin-
derungen ein besseres Leben bereiten können, sondern
uns treibt die Idee um, wie wir Menschen mit Handicap
ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen kön-
nen. Hier hat die UN-Behindertenrechtskonvention mit
Sicherheit sehr wertvolle Impulse gegeben.
Nun können wir Behinderung nicht quasi per Gesetz
oder Verordnung auflösen. Wir sollten in unseren Dis-
kussionen auch nicht so tun, als müssten wir nur Bord-
steine absenken und alle Kinder in das gleiche Klassen-
zimmer setzen, und schon wäre das Problem gelöst. Das
wäre sicher falsch.
Wir sollten uns auch davor hüten, die Inklusionsde-
batte zum Beispiel dafür zu missbrauchen, den Leis-
tungsgedanken in unseren Schulen auszuhebeln. Die
Mutter, die ihr Kind mit Downsyndrom an das Gymna-
sium bringen will, tut dem Kind, so meine ich, nichts
Gutes.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die gesell-
schaftlichen Umstände weiterhin so gestaltet werden,
dass jeder – und zwar ganz egal ob behindert oder nicht
behindert – nach seinen individuellen Fähigkeiten leben,
lernen und arbeiten kann.
Wir müssen die Betroffenen unterstützen und stärken,
damit sie gleichberechtigt teilhaben können.
Um diesen eingeschlagenen Weg in Deutschland wei-
terzugehen, werden wir das Bundesteilhabegesetz verab-
schieden. Damit sollen die guten Ansätze in unserem
Land weiter intensiviert und die Menschen mit Behinde-
rung in ihren Bedürfnissen gestärkt werden.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer zulassen, oder möchten Sie weiterspre-
chen?
Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.
Bitte schön, Frau Kollegin Rüffer.
Auch diese Gelegenheit möchte ich nicht ungenutzt
verstreichen lassen. Sie haben gerade gesagt, dass die
Mutter, die ein Kind mit Downsyndrom hat, ihrem Kind
keinen Gefallen tut, wenn sie es auf ein Gymnasium
schickt.
– Genau. Das ist nicht wahr. – Meine Frage dazu: Haben
Sie zur Kenntnis genommen, dass es mittlerweile Men-
schen mit Downsyndrom gibt, die einen Hochschulab-
schluss erreicht haben?
Grundsätzlich verfolgen wir sicher alle das Ziel, Kin-
der gemeinsam zu beschulen, sofern dies irgend möglich
ist. Das ist keine Frage. Ich meine aber nicht, dass es
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6811
Dr. Astrid Freudenstein
(C)
(B)
grundsätzlich das Ziel sein muss, jeden zum Abitur zu
führen,
weil daraus eine gewisse Missachtung anderer Schulab-
schlüsse und anderer Bildungswege folgt.
Ich habe vorhin ganz bewusst die Wörter „intensivie-
ren“ und „verstärken“ benutzt; denn ich meine, dass wir
einen Paradigmenwechsel, wie ihn viele vom Bundes-
teilhabegesetz erwarten, schon eingeleitet haben. In je-
dem Unternehmen, in dem Schwerbehinderte beschäftigt
sind, wird schon heute Inklusion betrieben, und zwar mit
einem beeindruckenden Engagement.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Arbeit-
gebern, allen Eltern und Geschwistern, allen Lehrern
und Sozialarbeitern sowie allen Erziehern danken, die
sich schon heute in großem Maße für Menschen mit Be-
hinderungen engagieren.
Es gibt schon heute eine ganze Reihe von Unterneh-
men in unserem Land, die sich der beruflichen Integra-
tion von Menschen mit Behinderungen verpflichtet ha-
ben, die das als Teil ihrer sozialen Verantwortung
ansehen, die ihre Belegschaft sensibilisieren und für ein
offenes Klima sorgen. Diese Unternehmen haben aller-
dings oft mit bürokratischen Hindernissen zu kämpfen.
An dieser Stelle muss die Politik meines Erachtens ein-
greifen.
Wir brauchen mehr engagierte Unternehmer, die ei-
nen hochengagierten Mitarbeiter, der jedoch einen Ein-
handbetrieb braucht, weil er handamputiert ist, einstellen.
Wir brauchen mehr Unternehmer, die einen engagierten
Mitarbeiter, der aber vielleicht eine große Tastatur
braucht, weil er sehbehindert ist, einstellen. Wir brauchen
Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen, auf denen man
vielleicht ein kleines bisschen langsamer sein darf.
Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Gabriele Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebes Präsidium! Liebe Gäste im
Bundestag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Da-
men und Herren! Wir begehen seit 1993 diesen Gedenk-
und Aktionstag der Vereinten Nationen, um die Öffent-
lichkeit nicht vergessen zu lassen und um uns selbst da-
ran zu erinnern, dass wir noch längst keine inklusive Ge-
sellschaft sind. Wir sind aber auf dem Weg dorthin, auch
wenn es noch viel zu tun gibt.
Mir gefällt die Bezeichnung „Aktionstag“ um einiges
besser als die Bezeichnung „Gedenktag“; denn Geden-
ken allein reicht nicht aus. Taten sind es, auf die es an-
kommt, und dabei ist jeder Einzelne von uns gefragt.
Denn Selbstbestimmung der Menschen mit Behinde-
rung, Chancengleichheit und Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft stellen nach wie vor eine große Herausfor-
derung dar.
Das Thema geht uns alle an. Eine Behinderung kann
uns schließlich jeden Tag selber treffen. Die meisten Be-
einträchtigungen sind, wie schon angesprochen wurde,
nicht angeboren, sondern entstehen im Laufe des Le-
bens.
Was die Teilhabe am beruflichen Leben angeht, haben
wir wohl noch einen weiten Weg vor uns. Sicherlich gibt
es viele Firmen, die schon Vorbildliches tun; es sind aber
noch nicht genug.
Menschen mit Behinderungen sind hochmotiviert, en-
gagiert und loyal. Viele sind sehr gut qualifiziert. Das hat
nicht nur gerade mein Kollege Uwe Schummer bestätigt,
sondern auch der Präsident der Bundesagentur für Arbeit
vorhin im Ausschuss. Also, liebe Arbeitgeber, schauen
Sie sich doch angesichts des Fachkräftemangels einmal
in dieser Richtung um!
Mich erreichen zahlreiche Anliegen von Bürgerinnen
und Bürgern aus dem Wahlkreis, die das Thema Barrie-
refreiheit zum Gegenstand haben. Barrierefreier Zugang
für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln,
Informationen, Diensten und Einrichtungen ist essenziell
für ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben, und
zwar für die Menschen mit Behinderungen selbst wie
auch für ihre Angehörigen. Barrieren findet man überall;
danach braucht man nicht lange zu suchen.
Ich war kürzlich in einer Schule für gehörlose und ge-
höreingeschränkte Menschen und habe dort sehr viel ge-
lernt über die spezifischen Probleme der Schülerinnen
und Schüler dort. Sie können zum Beispiel einen nächtli-
chen Rauchmelderalarm nicht hören. Ich war froh, ihnen
melden zu können, dass jetzt optische Rauchmelder mit
Lichtsignalen von den Krankenkassen bezahlt werden –
ein kleiner Mosaikstein auf dem Weg zu mehr Inklusion.
Bei der Deutschen Bahn habe ich – auch auf die An-
regung dieser gehörlosen Schulkinder hin – angefragt,
ob man nicht den Inhalt der oft schwer hörbaren Durch-
sagen in Zügen und auf Bahnsteigen verstärkt auf den
dort meist vorhandenen Displays anzeigen könnte. Auch
dies ist ein geringer Aufwand unter Nutzung moderner
6812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Gabriele Schmidt
(C)
(B)
Technik, der uns auf dem Weg zur Inklusion weiter-
bringt.
Wir müssen aber nicht nur sichtbare Barrieren ab-
bauen; viel wichtiger sind die Barrieren in unseren Köp-
fen. Denn Inklusion beginnt genau da. Aufeinander zu-
gehen, voneinander lernen, sich gegenseitig schätzen
lernen, Berührungsängste abbauen sind die Basis für das
Gelingen gleichberechtigter Teilhabe.
Kinder haben keine oder fast keine Berührungsängste.
Warum sollten Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen
nicht zusammen spielen, malen, singen oder Fußball
spielen? Das geht ganz wunderbar. Davon habe ich mich
kürzlich in einem Musical überzeugen können, das von
Kindern einer Grundschule, einer Jugendmusikschule
und einer Förderschule der Lebenshilfe gemeinsam ge-
staltet wurde. Die Kinder haben nicht nur zusammen
gesungen und gespielt, sondern zuvor Kostüme genäht,
Requisiten gebastelt und vor allem Freundschaften ge-
schlossen. Da saßen Kinder mit schwerster spastischer
Behinderung im Rollstuhl zusammen mit Kindern ohne
Behinderung rund ums Lagerfeuer. Sie haben Stockbrot
gebacken, und allen war anzusehen, dass es eine sehr,
sehr gelungene Veranstaltung war.
In Gesprächen mit verschiedenen Trägern, Vereinen,
Behindertenwerkstätten, Schulklassen und einzelnen
Personen, die ich im Wahlkreis und in Berlin geführt
habe, wurden viele gravierende Probleme genannt, mit
denen die Menschen mit Behinderungen und ihre Ange-
hörigen jeden Tag zu kämpfen haben, oft auf sich allein
gestellt. Es geht schon damit los, dass sie oft den richti-
gen Ansprechpartner nicht finden können. Wir können
nur im Dialog Probleme gemeinsam benennen und lö-
sen. Nicht umsonst heißt der wichtigste Leitsatz der UN-
Behindertenrechtskonvention: „Nicht ohne uns über
uns“. Für mich ist daher eines der wichtigsten Reform-
vorhaben in dieser Legislaturperiode die Formulierung
und Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes.
Geben Sie mir auch noch eine halbe Minute Redezeit,
Herr Präsident? Es blinkt schon so auffällig.
Weil Sie so freundlich nachgefragt haben. Die ande-
ren Rednerinnen und Redner haben sich einfach darüber
hinweggesetzt. Deswegen kriegen Sie jetzt noch 30 Se-
kunden.
Ich bin noch nicht so ausgefuchst. Aber ich bin die
letzte Rednerin in dieser Debatte, die ich in der Tat für
sehr wichtig halte. Ich komme bald zum Schluss.
Ich werde nichts mehr zur Finanzierung der Vorhaben
sagen, zum Beispiel über die Kommunalentlastung. Ich
möchte Sie einfach nur bitten: Lassen Sie uns gemein-
sam die Inklusion vorantreiben und dabei stets die Men-
schen und ihre Bedürfnisse im Blick haben. Wir haben
hohe Erwartungen bei den Betroffenen geweckt, und
diese müssen wir nun erfüllen. Das Thema der heutigen
Debatte lautet: „Mehr Teilhabe eröffnet neue Perspekti-
ven“. – Ja, genau, neue Perspektiven für alle Menschen,
mit oder ohne Behinderungen.
Vielen Dank.
Schönen Dank. – Ich denke, es tut dem Deutschen
Bundestag und dem Thema gut, dass wir die Sitzungs-
woche mit dem Tagesordnungspunkt „Debatte anlässlich
des Internationalen Tages der Menschen mit Behinde-
rungen – Mehr Teilhabe eröffnet neue Perspektiven“ be-
gonnen haben.
Ich schließe nun die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Erster Fortschrittsbericht –
Energiewende und Nationaler Aktionsplan Energie-
effizienz.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bun-
desminister für Wirtschaft und Energie, Herr Sigmar
Gabriel. – Bitte schön, Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heuti-
gen energiepolitischen Beschlüsse des Bundeskabinetts
sind ein wichtiger Meilenstein bei der weiteren Umset-
zung der Energiewende. Mit den heutigen Entscheidun-
gen gehen wir eine wichtige Aufgabe in dieser Legisla-
turperiode an, die im Wesentlichen darin besteht, die
häufig sehr unverbundenen Einzelprojekte der Energie-
wende in einen inneren Zusammenhang zu stellen und
sozusagen die Zahnräder mehr ineinandergreifen zu las-
sen. Der erste Beschluss, den wir heute gefasst haben,
betrifft den Fortschrittsbericht zur Energiewende. Im
Rahmen des Monitoringprozesses bewertet der Fort-
schrittsbericht den derzeitigen Stand und gibt erstmalig
auch Ausblick in die Zukunft. Vieles ist auf den Weg ge-
bracht. Aber genauso viel ist noch zu tun. Ich will des-
wegen nur einige Themenfelder des Berichts herausgrei-
fen.
Bei den erneuerbaren Energien sind wir in Deutsch-
land auf dem von uns abgesteckten Zielkurs. Erneuer-
bare Energien sind zum ersten Mal die wichtigste Quelle
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6813
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
für Strom in Deutschland. Mit der EEG-Novelle haben
wir zum ersten Mal die Kostendynamik durchbrochen.
Nach 14 Jahren steigt die EEG-Umlage zum ersten Mal
nicht an.
Auch beim Energieverbrauch stehen wir gut da. Be-
reits heute haben wir in Deutschland das Wirtschafts-
wachstum vom Energieverbrauch entkoppelt. Wenn wir
aber nichts weiter unternehmen würden, würden wir die
Ziele 2020 verfehlen. Wir wollen 2020 einen um 20 Pro-
zent geringeren Primärenergieverbrauch haben. Wenn
wir nichts weiter unternehmen würden, würden wir den
Primärenergieverbrauch nur um 10 Prozent senken. Des-
wegen haben wir heute im Bundeskabinett den Nationa-
len Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen.
Bei der Reduktion der Treibhausgase gibt es eine
Reihe von Erfolgen. Wir halten in der Bundesregierung
– genauso wie der Deutsche Bundestag – an dem Ziel
fest, national bis 2020 die klimaschädlichen Treibhaus-
gasemissionen um mindestens 40 Prozent zu reduzieren.
Nach aktuellen Prognosen reichen die bisher beschlosse-
nen Maßnahmen allerdings auch hier nicht aus, um die-
ses Ziel zu erreichen. Deshalb zeigt die Bundesregierung
mit ihrem heute ebenfalls beschlossenen Aktionspro-
gramm Klimaschutz 2020 den Weg und vor allen Dingen
auch die Mittel auf, mit denen wir das nationale Minde-
rungsziel bei den Treibhausgasemissionen erreichen
wollen.
Zu nennen ist hier vor allem der Nationale Aktions-
plan Energieeffizienz, der deshalb von so großer Bedeu-
tung ist, weil das Thema Energieeffizienz in den letzten
Jahren praktisch keine Rolle gespielt hat. Wir haben dort
eine Menge aufzuholen. Gleiches gilt auch für den
Stromsektor. Beide Bereiche sind für die Gesamtminde-
rung der Treibhausgasemissionen von besonderer Be-
deutung. Die Energieeffizienz war, wie gesagt, ein lange
vernachlässigtes Thema. Aber sie ist neben dem Ausbau
der erneuerbaren Energien die zweite Säule der Energie-
wende. Mit dem Aktionsplan Energieeffizienz haben wir
heute die Effizienzstrategie für die 18. Legislaturperiode
verabschiedet. Damit bekommt Energieeffizienz die
Aufmerksamkeit, die sie verdient.
Aus diesem Grund werden wir mit dem Aktionsplan
erstens eine steuerliche Förderung von besonders ener-
giesparenden Gebäudesanierungen in Höhe von 1 Mil-
liarde Euro pro Jahr einführen. Das generiert aufgrund
der Ihnen bekannten Hebelwirkung private Investitionen
von insgesamt bis zu 12 Milliarden Euro pro Jahr. Wir
reden auch in anderen Zusammenhängen viel über not-
wendige Investitionen in unserem Land, und wir wissen,
dass diese steuerliche Abschreibungsmöglichkeit eine
gewaltige Hebelwirkung für private Investitionen hat.
Deswegen erreichen wir jedes Jahr einen so großen Be-
trag. Übrigens bietet das, was im Nationalen Aktions-
plan Energieeffizienz beschlossen wurde, bis 2020 die
Chance, Investitionen in Höhe von über 70 Milliarden
Euro auszulösen, die uns helfen, die Energiekosten der
Verbraucherinnen und Verbraucher zu reduzieren, das
Klima zu schützen und gleichzeitig bis zu 300 000 Ar-
beitsplätze in Deutschland zu sichern.
Zweitens. Wir wollen ferner Ausschreibungen als
neues Instrument für Energieeffizienzprojekte etablie-
ren. Hier bekommt derjenige den Zuschlag für eine För-
derung, der Energieeinsparungen zu den geringsten Kos-
ten anbietet. Dieses Programm soll im nächsten Jahr
starten. Der erste Schwerpunkt ist der Bereich Stromeffi-
zienz.
Drittens. Wir werden das bewährte CO2-Gebäudesa-
nierungsprogramm um 200 Millionen Euro auf 2 Mil-
liarden Euro verstärken. Die Förderung wird künftig
auch auf gewerbliche Nichtwohngebäude ausgedehnt,
und es wird ein neuer Förderstandard „Effizienzhaus
Plus“ eingeführt. Damit mobilisieren wir 2,4 Milliarden
Euro pro Jahr.
Viertens. Wir werden weitere Mittel zur Umsetzung
der im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz aufge-
führten Maßnahmen bereitstellen, darunter zum Beispiel
eine Ausweitung des Bürgschaftsrahmens für Contrac-
tingmodelle.
Allein durch die im Nationalen Aktionsplan Energie-
effizienz festgelegten Sofortmaßnahmen können wir
nach Berechnungen der Gutachter bis 2020 – ich sagte es
bereits – Investitionen von mehr als 70 Milliarden Euro
anstoßen, bis 2018 nahezu 50 Milliarden Euro. Das sind
rund 13 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen
und privaten Investitionen pro Jahr. Das ist vielleicht
auch ganz interessant in Anbetracht der Debatte über
eine zu geringe Investitionstätigkeit in Deutschland.
Mindestens genauso wichtig ist aber, dass wir über die
gesamte Lebensdauer der Maßnahmen Einsparungen bei
den Energiekosten in Höhe von bis zu 100 Milliarden
Euro realisieren können.
Ich glaube, dass wir mit diesen Beschlüssen heute ei-
nen wichtigen Beitrag zur Erreichung des Ziels, bis 2020
im Vergleich zu 1990 40 Prozent weniger CO2 auszusto-
ßen, geleistet haben, dass wir aber vor allen Dingen dazu
beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-
land ihre Energiekosten reduzieren können, und zwar in
dem Bereich, der am meisten Energiekosten verursacht,
nämlich Raumwärme und Warmwasser. Deswegen sind
das, glaube ich, wichtige Beschlüsse, die wir heute ge-
fasst haben.
Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Wir haben bereits sechs Wortmel-
dungen. Ich lese sie einmal vor, damit sich jeder auf
seine Frage einstellen kann: Frau Dr. Verlinden, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Bulling-Schröter, Fraktion
Die Linke, Herr Petzold, Fraktion Die Linke, Herr
Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Frau Höhn,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Frau Baerbock,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir beginnen mit Frau Dr. Verlinden, Bündnis 90/Die
Grünen. – Bitte schön.
6814 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
Ich habe eine Frage, Herr Gabriel, zu dem Nationalen
Aktionsplan Energieeffizienz. Sie wollen den Primär-
energieverbrauch bis zum Jahr 2020 im Vergleich zum
Jahr 2008 um 20 Prozent reduzieren. Ich habe eben im
Monitoringbericht gesehen, dass bei der Auflistung der
Indikatoren steht, dass im Jahr 2013 3,8 Prozent ge-
schafft worden seien. Ich hoffe, Sie meinen damit minus
3,8 Prozent, wobei auch das eine Katastrophe wäre an-
gesichts dessen, dass wir im Jahr 2012 schon 4,3 Prozent
geschafft hatten und im Jahr 2011 5,4 Prozent. Das heißt,
der Trend geht genau in die falsche Richtung. Wir ver-
brauchen immer mehr Primärenergie.
Sie haben jetzt den Nationalen Aktionsplan Energie-
effizienz beschlossen und glauben, bei der Energieein-
sparung bis zum Jahr 2020 die Lücke schließen zu kön-
nen. Meine Frage wäre: Wie wollen Sie das schaffen?
Denn Sie haben selber gesagt, alleine durch die Maßnah-
men des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz
werde es nicht möglich sein, diese Energiesparlücke zu
schließen und damit das Ziel, das Sie sich selbst gesetzt
haben, zu erreichen.
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, wie ich eben gesagt habe, haben wir
das Ziel, bis zum Jahre 2020 den Primärenergiever-
brauch um mindestens 20 Prozent zu reduzieren. Bei
Fortschreiben des jetzigen Trends, also ohne dass wir
dazu zusätzliche Beiträge erbringen, würden wir nur
eine Reduzierung um 10 Prozent erreichen. Das ist die
Hälfte dessen, was wir erreichen müssen. Das, was wir
jetzt hier hinsichtlich Energieeffizienz beschlossen ha-
ben, soll die Reduzierung in Richtung weiterer 10 Pro-
zent bis 2020 bringen.
Natürlich reicht das nicht aus, um die Treibhausgas-
emissionen bis 2020 im nötigen Umfang zu reduzieren.
Dafür müssen der Verkehrssektor, die Landwirtschaft
und natürlich auch der Kraftwerkspark ebenfalls Bei-
träge erbringen.
Frau Verlinden, Sie dürfen später noch einmal fra-
gen. – Jetzt ist erst einmal eine andere Fragestellerin an
der Reihe, nämlich die Abgeordnete Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
Danke schön, Herr Minister, für den Bericht. – Auch
ich möchte zum Nationalen Aktionsplan Energieeffi-
zienz fragen. Wir alle wissen, dass die Energiewirtschaft
eine wichtige Rolle im Bereich Energieeffizienz spielen
muss. In dem Entwurf des Nationalen Aktionsplans
Energieeffizienz des Umweltministeriums war von ei-
nem Beitrag der Energiewirtschaft in Höhe von 40 bis
65 Millionen Tonnen CO2 zu lesen. In einer Tabelle im
Entwurf des Klimaaktionsplans waren auch diese Zahlen
zu finden. Im jetzt vorgelegten Nationalen Aktionsplan
Energieeffizienz findet sich diese Tabelle nicht mehr. Sie
als Wirtschaftsminister hätten dort zumindest eine Redu-
zierung um 22 Millionen Tonnen CO2, über die jetzt im-
mer gesprochen wird, festhalten können. Meine Frage
ist: Welchen Beitrag der Energiewirtschaft zur CO2-Re-
duktion stellen Sie sich jetzt vor?
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, bezüglich des Beitrags der Stromwirt-
schaft geht es nicht allein um Energieeffizienz. Sie fin-
den den Beitrag der Stromwirtschaft im Klimaschutz-
plan der Kollegin Hendricks, die ja hier ist und die Ihnen
dazu gern auch Auskunft gibt, wenn dazu Fragen gestellt
werden. Im Klimaschutzplan steht, dass der Kraftwerks-
park zusätzlich eine Reduzierung um 22 Millionen Ton-
nen CO2 erbringen muss – zusätzlich gegenüber der Pro-
gnose über die Entwicklung der Treibhausgase und des
Beitrags des Stromsektors, die die letzte Bundesregie-
rung am 15. März 2013 der Europäischen Union gemel-
det hat.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Petzold,
Fraktion Die Linke. – Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte zum Ers-
ten Fortschrittsbericht zur Energiewende nachfragen.
Laut diesem Fortschrittsbericht lag der Endenergiever-
brauch im Verkehr im Jahr 2013 um rund 1 Prozent hö-
her als im Zielbezugsjahr 2005. Nach meiner Informa-
tion ist das auch auf einen Anstieg der Personen- bzw.
Güterverkehrsleistung seit 2005 um rund 5 bzw. 11 Pro-
zent zurückzuführen. Damit ist zwar der Endenergiever-
brauch pro Verkehrsleistung leicht gesunken; aber diese
höhere Effizienz wird durch eine Zunahme des Ver-
kehrswachstums insgesamt wieder aufgefressen. Des-
wegen möchte ich Sie fragen, Herr Minister, was die
Bundesregierung dagegen tut, dass der Personen- und
Güterverkehr weiter ansteigt?
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Zunächst freuen wir uns einmal darüber, wenn der
Güterverkehr ansteigt, insbesondere dann, wenn er auf
der Schiene stattfindet. In einem Land wie Deutschland,
das unter anderem vom Export lebt, haben wir jedenfalls
nichts dagegen, dass Güter und Personen transportiert
werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6815
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Die Frage ist, mit welchen Antriebstechniken das pas-
siert, mit welchen Effizienzmaßnahmen wir den Ausstoß
der dabei häufig entstehenden Treibhausgase und den
Energieverbrauch reduzieren können. Wir haben ver-
sucht, das in den verschiedenen Maßnahmen, sowohl im
Ersten Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz als auch
im Klimaschutzplan von Frau Hendricks, zu beschrei-
ben.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister Gabriel, für
den Bericht. – Ich glaube, man muss eines klarstellen:
Wir haben eine Klimalücke, die bei 16 Prozent liegt, und
nicht bei 5 bis 8 Prozent. Wir haben nämlich im Mo-
ment, also Stand jetzt, gegenüber 1990 um 24 Prozent
reduziert. Wir wollen eine Reduzierung um 40 Prozent
erreichen; es fehlen also 16 Prozent. Dieser Wert muss
erreicht werden.
Ich habe eine konkrete Frage an Sie, was den Kraft-
werkssektor angeht. Ich entnehme dem Klimaaktionsplan,
dass Sie für 2015 eine Regelung vorschlagen wollen, die
eine Reduzierung der Emissionen um 22 Millionen Ton-
nen erbringen soll; mehr steht darin nicht. Meine Frage
wäre: Wann kommt diese Regelung? Was beinhaltet
diese Regelung?
Die Frage, die sich daran anschließt, ist: Wie wollen
Sie die weiteren Emissionsreduktionen erreichen, die
wir im Kraftwerkssektor erbringen müssen und die Sie
als Trendprognose der vorherigen Bundesregierung dar-
gestellt haben? Die Reduktionen sind ja noch nicht er-
folgt. Wir haben seit 20 Jahren in der Summe ein sta-
gnierendes Emissionsniveau im Kraftwerkssektor. Durch
welche Maßnahmen wollen Sie die weiteren Emissions-
reduzierungen von mindestens 40 Millionen Tonnen,
eher 50 Millionen Tonnen erreichen?
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Herr Kollege, ich kann nur darauf hinweisen, dass
das, was jedenfalls im Klimaaktionsprogramm der Kol-
legin Hendricks als Lücke bezeichnet ist, 5 bis 8 Pro-
zentpunkte beträgt.
Was wollen wir im Stromsektor jetzt konkret ma-
chen? Einer der Vorschläge, die wir entwickelt haben
und über die wir jetzt im Rahmen der Debatte mit den
Energieversorgern, auch im Hinblick auf das Strom-
marktdesign, reden, ist, erstens dafür zu sorgen, dass es
eine gesetzliche Obergrenze für die Emissionen aus dem
Kraftwerkspark gibt, die im Jahr 2020 noch getätigt wer-
den können, und zweitens die Unternehmen entspre-
chend den historischen Emissionen sozusagen selbst ent-
scheiden zu lassen, wie sie ihre Minderungsbeiträge
erbringen. Aber sie müssen sie erbringen. Das hat, wie
Sie sicherlich zur Kenntnis genommen haben, bei den
Stromerzeugern eine überschaubare Begeisterung ausge-
löst, was aber nichts daran ändert, dass sich auch die
Stromerzeuger zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt haben.
Das ist sozusagen die gemeinsame Basis.
In der Tat – da haben Sie recht – sagen die Strom-
erzeuger, dass sie jedenfalls nicht ohne Weiteres erken-
nen, wie sie die in der Vergangenheit von der vorigen
Bundesregierung bereits prognostizierte Abnahme um
34 Millionen Tonnen erbringen sollen. Trotzdem, glaube
ich, wird am Ende kein Weg daran vorbeiführen.
Wie könnte man das machen? Man könnte erstens,
wie gesagt, diese 22 Millionen Tonnen in der Art und
Weise verteilen, wie ich das eben gesagt habe, und zwei-
tens im Rahmen der Entscheidung über die Frage „Kapa-
zitätsmärkte oder Energy-only-Markt?“ festlegen, einen
nicht unerheblichen Teil dessen, was die Stromerzeuger
erbringen müssen, in eine Kapazitätsreserve zu tun, die
wir in jedem Fall brauchen, egal ob wir uns für einen
Energy-only-Markt oder für einen Kapazitätsmarkt ent-
scheiden; denn wir werden selbst bei einem weiteren Zu-
bau an erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren so
etwas wie eine Back-up-Kapazität brauchen, eben Strom
aus fossilen Kraftwerken.
In der Mischung glauben wir gemeinsam mit der
Stromwirtschaft zu einer Lösung des Problems kommen
zu können. Das kann nicht freiwillig erfolgen, sondern
am Ende brauchen wir eine gesetzliche Grundlage, bei
der sichergestellt ist, dass im Jahr 2020 die Emissionen
aus dem Kraftwerkspark eine bestimmte Größenordnung
nicht überschreiten.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Höhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, ich zitiere einmal aus dem Aktionspro-
gramm Klimaschutz 2020, das Sie heute im Kabinett
hatten.
Laut Projektionsbericht der Bundesregierung von
2013
– den haben Sie vorhin schon einmal erwähnt –
kann davon ausgegangen werden, dass die Emissio-
nen des Energiesektors … bis 2020 auf rund
306 Mio. t CO2-Äq. zurückgehen.
Dabei beziehen Sie sich auf umgesetzte und weiter wirk-
same Maßnahmen.
Eine dieser Annahmen war laut IEKP, dass Kraft-
werke, die älter als 45 Jahre sind, von den Betreibern
freiwillig abgeschaltet werden. Das würde immerhin
40 Millionen Tonnen im Jahr 2020 ausmachen. Zusam-
men mit Ihren 22 Millionen Tonnen wäre man dann im-
merhin schon bei 62 Millionen Tonnen. Aber nach dem
Plan müsste eine Reduktion um 71 Millionen Tonnen er-
bracht werden. Tatsache ist, dass genau in diesem Ener-
giesektor über einen Zeitraum von 15 Jahren von
380 Millionen Tonnen auf 377 Millionen Tonnen redu-
6816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Bärbel Höhn
(C)
(B)
ziert worden ist, also um ganze 3 Millionen Tonnen und
nicht um 71 Millionen Tonnen.
Wollen Sie immer noch, dass Kraftwerke, die älter als
45 Jahre sind, abgeschaltet werden, und wenn ja, wie
wollen Sie das ordnungspolitisch machen? Oder haben
Sie von dieser Regelung Abstand genommen?
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich kann nur wiederholen, was ich eben bei der Ant-
wort auf die Frage Ihres Kollegen Krischer gesagt habe,
nämlich dass wir über die Frage, wie der Kraftwerkssek-
tor den bereits in der letzten Legislaturperiode prognosti-
zierten Abbau an Treibhausgasemissionen erbringen
muss und erbringen kann, im Rahmen der Festlegung
zum Strommarktdesign eine Entscheidung fällen wollen.
Das muss im ersten Halbjahr 2015 erfolgen.
– Bitte?
– Dazu habe ich eine Meinung, ja.
Die nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete
Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. – Ihre Vorstellungen würden uns sehr
interessieren.
CO2-Grenzwerte stehen im Raum. Den Aussagen, die
Sie jetzt getätigt haben, nämlich dass Sie mit einem Ge-
setz zum Strommarktdesign darangehen wollen, wider-
spricht Ihre Aussage im aktuellen Spiegel: Die 22 Mil-
lionen seien keineswegs ein Kohleausstieg. – Wollen Sie
den Einsatz der Kohle jetzt weiter schrittweise reduzie-
ren? Soll es für diese Reduzierung ein Gesetz geben?
Wird das Strommarktdesign das mitumfassen? Ist das
eine Deckelung auf 22 Millionen Tonnen, und darüber
hinaus wird es in den nächsten fünf Jahren nichts geben?
Wenn Sie sagen: „Es ist kein Kohleausstieg geplant“,
frage ich Sie: Wie wird sich die Bundesregierung in
Lima positionieren, wo es ja um die Frage von fossilen
Ausstiegsplänen, Dekarbonisierungsplänen geht?
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, wir haben über 300 Millionen Tonnen
CO2-Emissionen. Wenn wir um weitere 22 Millionen
Tonnen reduzieren, kann man, glaube ich, nicht vom
Kohleausstieg sprechen. Deswegen behaupte ich das
auch nicht.
Wenn Sie einen Kohleausstiegsplan vorlegen, dann
diskutiere ich mit Ihnen gern darüber. Ich kenne einen
solchen nicht. Ich kenne bloß eine öffentliche Debatte
darüber, die den Eindruck erweckt, als könne man zeit-
gleich aus der Atomenergie und aus der Kohleverstro-
mung aussteigen.
– Ich kann Sie ja nur bitten: Wenn Sie sagen, das meinen
Sie gar nicht, dann legen Sie doch einmal einen Kohle-
ausstiegsplan vor, der diesen Eindruck nicht erweckt.
Sie tun das nicht.
– Ich kann doch nichts dafür, dass Sie mich fragen.
Ich versuche ja, nur zu antworten. Deswegen sage ich:
Bei über 300 Millionen Tonnen CO2-Emissionen und
22 Millionen Tonnen weiterer Reduzierung kann man
nicht wirklich davon sprechen, dass wir aus der Kohle
aussteigen.
Die Kohle wird – das wissen auch alle, die Kohlestrom
produzieren – über die nächsten Jahrzehnte an Bedeutung
verlieren. Ich hoffe allerdings, dass dies im Rahmen einer
Neubelebung des europäischen Emissionshandels pas-
siert. Ich halte nämlich die Position, durch ordnungspoli-
tische Eingriffe in Deutschland den CO2-Ausstoß zu re-
duzieren – wie soll ich mich jetzt höflich ausdrücken;
eigentlich möchte ich nicht „verlogen“ sagen, aber mir
fällt dazu kein anderes Wort ein –, für verlogen, weil das
natürlich mit europäischen Emissionsreduzierungen gar
nichts zu tun hat.
Wir reden doch in der internationalen Klimapolitik
nicht darüber, dass sich Deutschland irgendein Ziel setzt.
– Nein. – Wir reden vor allen Dingen darüber, dass das
deutsche Ziel, das wir uns setzen, es ermöglichen soll,
ein europäisches Ziel überhaupt zu erreichen. Europa
tritt Gott sei Dank auf den internationalen Klimakonfe-
renzen gemeinschaftlich auf. Damit Europa das Ziel
– das wir hier übrigens einmal gemeinsam im Bundestag
beschlossen haben – einer CO2-Reduktion von 30 Pro-
zent im Jahr 2020 erreichen kann – das hat zwar Europa
nicht beschlossen, aber das ist das, was wir hier in
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6817
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Deutschland einmal für Europa als Ziel gesetzt haben –,
ist es nötig, dass unser Land eine CO2-Reduktion von
40 Prozent bis 2020 erbringt.
Wir sind eine große Volkswirtschaft, und wenn wir
nicht mehr tun als andere, dann wird Europa im Durch-
schnitt diese 30 Prozent nicht erreichen können. Wir, die
Kollegin Hendricks und ich, haben einen Vorschlag ge-
macht, wie wir sicherstellen, dass wir bis 2020 diese
40 Prozent Reduktion erreichen. Dafür ist kein Kohle-
ausstieg notwendig.
Ich glaube, dass es sinnvoll ist, dass wir den europäi-
schen Emissionshandel wiederbeleben, der ja nichts an-
deres beinhaltet als eine alte Forderung unter anderem
auch der Grünen, nämlich externe Kosten aufgrund Um-
weltzerstörung durch schädliche Klimagase zu interna-
lisieren und zum Gegenstand der betriebswirtschaftli-
chen Kalkulation zu machen. Das passiert zurzeit nicht,
weil der Emissionshandel am Boden liegt. Mit 4 Euro,
5 Euro, 6 Euro pro Tonne CO2 lösen Sie keinerlei Markt-
signale aus. Deswegen müssen wir dringend zu einer
Neustrukturierung des Emissionshandels kommen.
Die Bundesregierung hat die Europäische Union und
die Mitgliedstaaten aufgefordert, damit nicht bis zum
Jahr 2020 zu warten, sondern nach Möglichkeit deutlich
davor dazuzukommen, weil wir glauben, dass wir in Eu-
ropa Preissignale für CO2-Emissionen brauchen und es
nicht ausreicht, dass sich Deutschland schlecht fühlt,
wenn wir diese Ziele nicht erreichen. Wir brauchen ein
richtiges Marktsignal zum Abbau von CO2-Emissionen.
Ich halte nichts davon – das stand in allen Zeitungen;
ich kann es aber gern hier wiederholen –, durch zusätzli-
che nationale Maßnahmen wie das Festlegen von Wir-
kungsgraden oder viele andere Dinge jetzt noch einmal
in den Markt einzugreifen, sondern ich halte eine Menge
davon, dafür zu sorgen, dass wir das 40-Prozent-Ziel er-
reichen. Das ist übrigens das, was in Lima gefordert ist,
und nichts anderes.
– Na gut, dann haben wir einfach eine unterschiedliche
Auffassung über die Frage, ob wir das erreichen oder
nicht.
Diese Frage muss übrigens auch Gegenstand der wei-
teren Fortschrittsberichte sein. Die Idee dieser Fort-
schrittsberichte ist doch, alle drei Jahre einmal zu gu-
cken, ob wir eigentlich auf dem richtigen Pfad sind. Jetzt
haben wir einen, bei dem wir feststellen: Sowohl bei der
Energieeffizienz als auch in der Landwirtschaft, im Ver-
kehr und in der Stromproduktion sind wir auf keinem
ausreichenden Pfad. Deswegen steuern wir nach. Wenn
wir in drei Jahren feststellen, dass das, was wir jetzt ge-
macht haben, immer noch nicht reicht, dann werden wir
wieder etwas tun müssen, um sozusagen aufzuholen.
Die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren relativ
wenig bei Energieeffizienz gemacht haben, rächt sich
jetzt natürlich. Aber mit dem, was wir machen, erreichen
wir erstens diese Ziele und ermöglichen es Europa zwei-
tens, sein 30-Prozent-Ziel vielleicht doch noch zu errei-
chen. Drittens ist es so, dass wir nach meiner festen
Überzeugung jedenfalls etwas dafür tun müssen, dass
wir in Europa bessere Marktsignale für den Kraftwerks-
park aussenden. Wenn wir das nicht schaffen, dann hat
Deutschland möglicherweise seine Ziele erreicht, aber
wir haben trotzdem zu viele CO2-Emissionen in Europa.
Es war jedenfalls bislang nicht die Meinung der deut-
schen Politik, dass wir uns nur auf Deutschland zu kon-
zentrieren haben. Ich fände es ganz gut, wenn es dabei
bliebe.
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Zdebel,
Fraktion Die Linke. Danach kommt Frau Haßelmann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, der Nationale Aktionsplan sieht ein
neues Heizungslabel für Altanlagen vor, das Schorn-
steinfeger bei ihrer jährlichen Feuerstättenschau aufkle-
ben sollen. Allerdings werden dabei keinerlei Messun-
gen durchgeführt. Es handelt sich also eigentlich um
einen Aufkleber, der lediglich nach Vergleich der Daten
der Heizungsanlage mit Angaben auf einer Liste für ei-
nen bestimmten Heizungstyp und ein bestimmtes Alter
der Heizung vergeben wird. Nach meiner Auffassung
bedeutet dieses Label daher nicht besonders viel und
zieht letztendlich auch keine großartigen Konsequenzen
nach sich.
Die Frage ist, ob es nicht an der Zeit wäre anstatt
diese Aufkleber zu verteilen über betreffende Verord-
nungen nachzudenken und diese zu überarbeiten, damit
dieses Label tatsächlich mehr Wirkung entfaltet.
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Die Idee ist, dass Eigentümer von Heizungsanlagen,
die in der Regel Eigentümer von Häusern sind, auf einen
möglicherweise veralteten Standard ihrer Heizungsanla-
gen aufmerksam gemacht werden. Ich finde, Informatio-
nen sind der Beginn von Veränderung. Die Leute müssen
wissen, was los ist.
Wir werden die Energieeinsparverordnung weiter no-
vellieren; das haben wir in den letzten Jahren getan; das
wird auch weitergehen. Sie wollen aber parallel dazu die
Hausbesitzer zwingen – so verstehe ich Sie –, ihre Hei-
zungsanlagen auszutauschen. Ich sage Ihnen: Da werden
Sie vermutlich Überraschungen erleben.
Es gibt Menschen, die ein bestimmtes Alter haben
oder die vielleicht nicht über ein so hohes Einkommen
verfügen und die ein kleines Häuschen oder ein Reihen-
haus mit einer veralteten Anlage besitzen. Wenn Sie
diese Menschen dazu zwingen, ihre Anlagen auszutau-
6818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
schen, dann entstehen möglicherweise soziale Verwer-
fungen, von denen ich nicht glaube, dass wir sie produ-
zieren sollten.
Unser erster Schritt – weitere Schritte wie zum Bei-
spiel Förderprogramme folgen – muss sein, dass wir
Hausbesitzer und Eigentümer solcher Heizungsanlagen
besser informieren. Dies soll im Rahmen der Feuerstät-
tenschau passieren, weil der Schornsteinfeger da ohne-
hin ins Haus kommt und heute längst alle Schornsteinfe-
ger auch Energieberater sind. Wir gehen davon aus, dass
diese dann Antworten auf die Frage geben, welche För-
derprogramme es gibt, um eine Heizungsanlage auszu-
tauschen.
Unterschätzen Sie nicht, wie viele Menschen in
Deutschland Eigentümer von Häusern mit solchen Anla-
gen sind, aber eben nicht über ein hohes Einkommen
verfügen. Möglicherweise wohnen deren Kinder nicht in
derselben Stadt und haben auch nicht die Absicht, das
Haus ihrer Eltern irgendwann zu übernehmen. Wenn Sie
diese Hausbesitzer nun zwingen, ihre Anlagen zu erneu-
ern, dann entsteht eine Reihe von sozialen Fragen, von
denen ich nicht glaube, dass wir sie schnell beantworten
können. Deswegen setzen wir erst einmal auf Informa-
tionen und auf Förderung und nicht auf Zwang.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben gerade auf die Frage meiner Kollegin Bärbel Höhn
nicht geantwortet. Die Frage bezog sich darauf, ob
Kraftwerke, die älter als 45 Jahre sind, weiterlaufen sol-
len. Auf meinen kurzen Zwischenruf sagten Sie, Sie hät-
ten dazu eine Meinung. Ich will Ihnen durch meine
Frage die Gelegenheit geben, diese Meinung hier kund-
zutun. Denn das Parlament interessiert sich dafür. Wol-
len Sie Kraftwerke länger als 45 Jahre laufen lassen?
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich will das nicht entscheiden. Denn mir ist es völlig
egal, wie lange ein Kraftwerk läuft. Mich interessiert
vielmehr, wie hoch die CO2-Emission 2020 sein wird.
– Das wollte ich gerade sagen. – Da gibt es natürlich Zu-
sammenhänge; gar keine Frage. Das eine kann mit dem
anderen partiell durchaus etwas zu tun haben.
Wenn ich jemandem sage: „Ab dem Jahr 2020 darfst
du eine bestimmte Emissionsmenge nicht überschreiten“
und ich wie beim Emissionshandel eine Pönale vorsehe,
wenn er es doch tut, dann überlasse ich es ihm, auf wel-
chem Weg er diese Menge nicht überschreitet. Einige
werden sagen: Das Einfachste wäre, dass wir alte Kraft-
werke abschalten. – Andere werden womöglich sagen:
Wir fahren die alten ein bisschen herunter und die mo-
dernen etwas hoch. – Ich will aber gar nicht entscheiden,
wie die betriebswirtschaftliche Rechnung der Unterneh-
men aussieht. Denn ich glaube nicht, dass wir das besser
können als die Unternehmen selbst.
Sie sind die Erfinderinnen und Erfinder des Emis-
sionshandels gewesen. Beim Emissionshandel interes-
siert überhaupt nicht das Alter des Kraftwerks, sondern
dort legt man eine Emissionsobergrenze fest. Darüber
hinaus gibt es keine Zertifikate. Da wir jetzt merken,
dass der europäische Emissionshandel nicht ausreichend
funktioniert, werden wir ihn, bis er vernünftig funktio-
niert, möglicherweise durch ein eigenes System, bei dem
es Emissionsobergrenzen gibt, ergänzen müssen.
Aber mir ist es völlig egal, auf welchem Weg ein Unter-
nehmen diese Emissionsobergrenze einhält. Ich wüsste
nicht, warum ich auf die unternehmerische Entscheidung
Einfluss nehmen sollte. Mich interessiert, dass das Ziel,
nämlich die CO2-Emissionen zu verringern, erreicht
wird.
– Wenn es nicht anders geht, werden die Unternehmen
exakt das tun, was Sie fordern. Das ist aber eine unter-
nehmerische Entscheidung.
Sie hingegen wollen, dass wir staatlich eingreifen und
den Unternehmen sagen: Das Kraftwerk musst du stillle-
gen; das darfst du weiterlaufen lassen. – Ich glaube, dass
Sie sich mit solchen Einzelentscheidungen ganz schnell
im kurzen Gras befinden werden. Ich fand die Position
von Bündnis 90/Die Grünen eine kluge Idee – wenn ich
das so sagen darf –, sich für einen europäischen Emis-
sionshandel zu entscheiden, der europaweit Emissions-
budgets festlegt und bei dem es völlig egal ist, wie die
Kraftwerksunternehmen im Einzelnen damit umgehen.
Das Entscheidende ist dabei nur, dass sie eine bestimmte
Emission nicht überschreiten dürfen. Weil ich finde, dass
man kluge Ideen nicht über Bord werfen sollte, bin ich
dafür, dass wir dies weiter anstreben und parallel dazu
in dem uns rechtlich möglichen Rahmen ein System
schaffen, mit dem wir sicherstellen, dass die Emissions-
budgets nicht überschritten werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6819
(C)
(B)
Wir haben noch sieben Fragesteller. Ich bitte die Fra-
gesteller um kurze und knackige Fragen. Der Bundes-
minister antwortet bitte auch kurz und knackig.
Prinzipiell haben wir vereinbart, dass wir die Zeit von
jeweils einer Minute für Frage und für Antwort einhal-
ten. Bei der Komplexität der Fragen kann man es nicht
immer in einer Minute beantworten. Das ist schon klar.
Es gibt auch ein deutliches Interesse, wie Zwischenrufe
und Nachfragen deutlich machen.
Ich lese einmal die Liste der Fragesteller vor, damit
sich alle darauf einstellen können: Frau Dr. Verlinden,
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Bulling-Schröter, Fraktion
Die Linke, Herr Zdebel, Fraktion Die Linke, Frau Höhn,
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Baerbock, Bündnis 90/Die
Grünen, Herr Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen, und
Herr Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. Knackige Fra-
gen und knackige Antworten wären gut.
Frau Abgeordnete Dr. Verlinden, Bündnis 90/Die
Grünen, bitte.
Vielen Dank. – Ich habe noch eine Frage zum Moni-
toringbericht, Herr Gabriel. Viele Indikatoren laufen lei-
der in die falsche Richtung. Die aktuellen Zahlen, die
uns vorliegen, zeigen das. Das führt mich zu der Frage,
was im Bereich der erneuerbaren Energien konkret ge-
plant ist, und zwar nicht nur im Stromsektor, sondern
insgesamt. Der Anteil der erneuerbaren Energien soll auf
18 Prozent steigen. Im Augenblick liegen wir bei gerade
einmal 12 Prozent. Hier muss noch einiges passieren,
vor allen Dingen, weil der Trend rückläufig gewesen ist.
Vielleicht können Sie mir die Frage von vorhin beant-
worten; die Antwort haben Sie sozusagen unterschlagen.
Der Primärenergieverbrauch ist 2013 wieder gestiegen.
Ist er im Vergleich zu 2012 oder sogar auch im Vergleich
zu 2008 gestiegen?
In diesem Zusammenhang noch einmal der Hinweis,
dass im NAPE steht, dass mit den dort genannten Maß-
nahmen die Einsparlücke von 10 Prozent nicht geschlos-
sen werden kann. Das ist zumindest meine Lesart, wenn
ich das, was dort steht, als Grundlage nehme.
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Noch einmal die Zahlen hinsichtlich der Verringerung
des Primärenergieverbrauchs, Frau Verlinden: Die Lücke
beträgt 1 400 Petajoule. Der NAPE bringt 500, der Ver-
kehrssektor muss 150 bringen, die Landwirtschaft 50,
den Rest muss der Kraftwerkssektor bringen.
Zur zweiten Frage, wie wir die 18 Prozent erreichen
wollen: zum Beispiel durch Fortführung des Marktan-
reizprogrammes für erneuerbare Wärme.
Was war Ihre dritte Frage?
Es ist sowieso nur eine zulässig. Insofern ist es nicht
schlimm, wenn Sie die dritte Frage nicht beantworten.
Das kann bilateral vielleicht noch geklärt werden.
Frau Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, stellt die
nächste Frage.
Danke schön. – Noch einmal zum Nationalen Ak-
tionsplan Energieeffizienz. Es geht jetzt um die Finan-
zierung, Herr Minister. Da lese ich, dass sich diese Maß-
nahmen, soweit sie zu einnahme- und ausgabenseitigen
Belastungen im Bundeshaushalt führen, in die haushalts-
politische Gesamtstrategie des Bundes einfügen müssen.
Das bedeutet, dass entsprechende Maßnahmen grund-
sätzlich im eigenen Politikbereich gegenzufinanzieren
sind.
Ich würde gerne erklärt bekommen, was unter Gegen-
finanzierung zu verstehen ist. Bezieht man sich da auf
die schwarze Null? Gibt es da einen Vorbehalt? – Man
braucht ja Geld für diese ganzen Maßnahmen; umsonst
wird es nicht gehen.
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, Sie finden im Bundeshaushalt im Ein-
zelplan des Bundesfinanzministeriums für das kom-
mende Jahr gut 5 Milliarden Euro. Daraus werden die
zusätzlichen Mittel kommen, um die Gebäudesanierung
zu finanzieren.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Zdebel,
Fraktion Die Linke.
Herr Minister, ich finde es erst einmal sehr lobens-
wert, dass Sie im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
die Maßnahme vorgestellt haben, den Schienengüterver-
kehr zu stärken. Ich frage mich allerdings, wie Sie das
angesichts der Tatsache machen wollen, dass jetzt die
Mittel im Haushaltsplan für den Neuausbau und den
Ausbau im Schienennetz um 200 Millionen Euro ge-
kürzt worden sind.
Es ist mir natürlich klar, dass es im Schienengüterver-
kehr nicht nur darum geht, Neuausbau zu betreiben; aber
bei einigen Streckenteilen – ich denke da zum Beispiel
an die Betuweroute, an den Streckenteil zwischen Em-
merich und Duisburg – wäre es sicherlich nicht schlecht,
wenn tatsächlich entsprechende Ausbaumaßnahmen
stattfinden könnten; das gilt sicherlich auch für andere
Teile der Region. Insofern ist es für mich, wenn Sie tat-
sächlich das Ziel haben, mehr Güterverkehr auf die
6820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Hubertus Zdebel
(C)
(B)
Schiene zu bringen, erst einmal widersprüchlich, dass
die Mittel gekürzt werden.
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Da die Kollegin Hendricks, die dafür verantwortlich
ist, extra mit hierhergekommen ist, möchte ich den Prä-
sidenten fragen, ob sie diese spezielle Frage zum Ak-
tionsplan Klimaschutz beantworten darf.
Was der Aufklärung des Parlaments hilft, findet im-
mer die Zustimmung des Präsidenten. – Bitte, Frau Bun-
desministerin.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Kollege, die Mittel für die Verkehrsinvestitionen
im Haushalt des Bundesverkehrsministers sind insge-
samt gesteigert worden, und sie sind auch gegenseitig
deckungsfähig. Was den Ausbau der sogenannten Betu-
weroute zwischen Emmerich und Oberhausen anbelangt,
so geht es um eine Größenordnung von 1,1 Milliarden
Euro. Der Ausbau fängt aber noch nicht im nächsten
Jahr an. Wir sind noch im Planfeststellungsverfahren.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister Gabriel, ich habe eben darauf hinge-
wiesen, dass laut Projektionsbericht eine Reduktion der
CO2-Emissionen des Energiesektors auf 306 Millionen
Tonnen bis 2020 erwartet wird. Wir hatten in 2012
377 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Energiesek-
tor, also 71 Millionen Tonnen mehr. Sie haben jetzt eine
Reduktion der Emissionen um 22 Millionen Tonnen vor-
geschlagen. Soll alles andere über Kapazitätsmärkte er-
reicht werden? Welche weiteren Maßnahmen haben Sie
vorgesehen, um die Lücke von knapp 50 Millionen Ton-
nen zu schließen? Können Sie hier bestätigen, dass es
der Umweltminister Gabriel war, der 2007 das 40-Pro-
zent-Ziel verkündet hat?
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
In meiner Erinnerung habe ich das gemeinsam mit Ih-
nen im Deutschen Bundestag beschlossen; aber ich kann
es gerne auch verkündet haben. Das würde mir ja zur
Ehre gereichen. Aber ich glaube, es war ein Beschluss
des Deutschen Bundestages.
– Ich auch. Deswegen hat es die Bundesregierung heute
noch einmal bestätigt. Sie müssen nicht alles glauben,
was im Spiegel steht; das wäre mein Ratschlag.
Wir kommen zur nächsten Fragestellerin.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig.
Ach so, das war das Intro. Alles klar.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Abseits der humorvollen Bemerkungen zu dem
Thema ist es so, dass wir mit der Reduktion der Emissio-
nen um 22 Millionen Tonnen auf die Prognose draufsat-
teln – das habe ich vorhin versucht zu erklären –, die die
alte Bundesregierung abgegeben hat und die bis heute in
einem Umfang von circa 34 Millionen Tonnen noch
nicht unterlegt ist. Deswegen glauben wir, dass eine der
Antworten sein kann – darüber müssen wir aber mit der
Strombranche verhandeln –, dafür das Angebot zu ma-
chen, Kapazitätsreserven zu bilden. Das ist das, was ich
letzte Woche versucht habe mit der Stromwirtschaft zu
verhandeln. Die Bereitschaft, da mitzumachen, war
überschaubar. Deswegen werden wir allerdings nicht
von unseren Plänen abweichen.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Baerbock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Genau deswegen, weil die Bereitschaft überschaubar
war und in den letzten Jahren auf freiwilliger Basis
nichts erreicht wurde, fordern wir Instrumente des Ord-
nungsrechts. Sie sagen immer, es sei unmöglich, so et-
was zu fordern, weil das alleine nicht laufen wird. Der
Emissionshandel – das wissen Sie selber; an anderer
Stelle halten Sie andere Vorträge – wird es auch nicht au-
tomatisch richten, weil wir für einen Switch ja mindes-
tens einen Preis von 30 Euro pro Tonne CO2-Emissionen
bräuchten. Das wird allein mit der Backloading-Menge
nicht erreicht werden können. Das heißt, der Emissions-
handel wird als Instrument ausfallen. Sie brauchen aber
ein ordnungsrechtliches Instrument. Sie selber hatten
eingangs CO2-Grenzwerte in die Debatte eingebracht.
Diese fordern wir auch. Nehmen Sie nun Abstand von
dem ordnungspolitischen Instrument, CO2-Grenzwerte
einzuführen, die über die 22 Millionen Tonnen hinausge-
hen?
Herr Bundesminister, bitte.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6821
(C)
(B)
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich habe die Frage nicht ganz verstanden. Was genau
möchten Sie von mir wissen?
Sie haben vorhin gesagt: kein ordnungspolitisches In-
strument. Meine Frage ist, ob Sie CO2-Grenzwerte für
den fossilen Kraftwerksbereich ausschließen oder ob Sie
sie einführen wollen. Dazu haben Sie unterschiedliche
Aussagen gemacht.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich kann nur meine Antworten von vorhin wiederho-
len. Ein Vorschlag, um die Sicherung des 40-Prozent-
Ziels zu gewährleisten, ist, eine Obergrenze für Emissio-
nen aus dem Kraftwerkspark einzuführen. Es geht nicht
darum – das ist das, was Sie wollen –, sie für einzelne
Kraftwerke einzuführen; denn das führt – aus meiner
Sicht jedenfalls – nicht allzu weit. Aber wenn wir im Er-
gebnis durch eine Obergrenze die Erreichung des 40-
Prozent-Ziels sicherstellen, dann müssten auch Sie zu-
frieden sein.
– Nein, das Ziel ist doch, 40 Prozent zu erreichen und
nicht 45 Prozent. Sie wollen möglicherweise mehr, was
Ihr gutes Recht ist.
– Ich darf, glaube ich, jetzt nicht mit Ihnen diskutieren,
aber glauben Sie mir: Es würde mir großen Spaß ma-
chen.
Ich denke, das habe ich letzte Woche hinreichend unter
Beweis gestellt.
Das Zweite, was ich sagen wollte: Bitte unterstellen
Sie nicht, dass wir der Meinung sind, dass das Backloa-
ding ausreicht, um den Emissionshandel zu reformieren.
Vielmehr brauchen wir eine völlig neue Struktur. Dazu
gibt es gute Vorschläge vonseiten der EU-Kommission.
Der Fehler ist, dass wir das nicht rechtzeitig genug
machen. Das hat aber nichts mit der deutschen Bundes-
regierung zu tun, sondern es hat etwas damit zu tun, dass
es in Europa – insbesondere in osteuropäischen Ländern,
die in sehr großem Umfang von der Kohle abhängig
sind – massive Widerstände gegen eine Verbesserung
des Emissionshandels gibt. Deswegen bin ich dafür, dass
wir aufhören, ein bisschen zu sehr auf den nationalen
Bauchnabel zu schauen.
Wir brauchen europäische Lösungen. Es ist sicher in-
teressant und auch intellektuell freudebringend, in
Deutschland darüber zu reden, welche weiteren Instru-
mente uns einfallen. Besser wäre es, wir würden partei-
übergreifend in den Gesprächen beispielsweise mit unse-
ren polnischen Partnern dafür Sorge tragen, dass der
Emissionshandel in Polen akzeptiert wird; denn das ist
bislang nicht in ausreichendem Maße der Fall. Deswe-
gen glaube ich, dass uns die nationale Debatte bei der
Bewältigung der Probleme in Europa nicht besonders
viel weiterhilft.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Kekeritz,
Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Jetzt habe ich Pech. Sie haben meine Frage, die sich
auf den Emissionshandel bezog, schon beantwortet.
Würden Sie mir trotzdem erklären, wie es möglich ist,
dass Polen Emissionspapiere kostenlos zur Verfügung
gestellt bekommt? Ich kann mir überhaupt nicht vorstel-
len, dass das im Rahmen des Möglichen ist. Das ist für
mich ein Zeichen dafür, dass der Emissionshandel ei-
gentlich gar nicht systematisch gefördert werden soll. Im
Gegenteil: Man lässt es so weiterlaufen. Ich weiß, jetzt
kommt gleich die Antwort: Im Jahr 2019 wird alles bes-
ser. Aber warum ist es nicht möglich, auf europäischer
Ebene schneller zu reagieren?
Herr Minister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Weil Sie die Zustimmung Polens brauchen. Das geht
nicht nach dem Motto: „An der deutschen Debatte wird
Europa genesen“. Vielmehr müssen Sie Menschen in an-
deren Ländern überzeugen, die unsere Klimadebatte für
verrückt halten.
Man muss offen aussprechen, was in Europa gerade
los ist. Vor ein paar Jahren haben uns die Menschen noch
interessiert zugeschaut, weil sie der Meinung waren,
dass wir mit der deutschen Ingenieurskunst die Energie-
wende schon hinkriegen werden. Inzwischen halten sie
uns für hinreichend wahnsinnig.
Wenn sie nett zu uns sind, dann sagen sie: Okay, wir
verstehen das, was ihr da macht, aber wir sind skeptisch.
Wenn die Kameras aus sind, dann sagen sie: Wenn ihr
eure Industrie gefährden wollt, dann macht es, aber zieht
uns da bitte nicht mit rein. – Das ist die Position, die ver-
treten wird. Deswegen müssen Sie verhandeln.
Es geht nicht darum, etwas zu diktieren, sondern da-
rum, die Menschen zu überzeugen, die völlig anders
über die Sache debattieren als wir; ob wir das gut oder
schlecht finden, das ist auf europäischer Ebene ziemlich
egal. Sie müssen sie überzeugen, und manchmal müssen
Sie Angebote machen, damit der Emissionshandel nicht
6822 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
komplett blockiert wird. Das ist doch die Situation, vor
der wir stehen. Die Debatte in Deutschland suggeriert:
Die anderen müssen nur die Hand an die Mütze legen
und uns folgen.
Das ist aber nicht die Vorstellung, die die anderen haben.
Deren Vorstellung ist eine völlig andere, und trotzdem
müssen Sie mit ihnen verhandeln.
– Weil das die Bedingung Polens war, damit sie dem
Emissionshandel und der Veränderung überhaupt zu-
stimmen, ja.
Ich habe doch überhaupt nichts dagegen, dass Sie all
Ihre politische Kraft einsetzen, um Polen vom Gegenteil
zu überzeugen. Dann werden wir alle miteinander noch
glücklicher sein, als wir das ohnehin schon sind. Dafür
wäre es aber notwendig, dass Sie diese Debatte nicht al-
lein im Deutschen Bundestag führen, sondern gelegent-
lich auch mit Polen.
– Scheinbar hören sie nicht in ausreichendem Maße auf
Sie. Das bedauere ich zutiefst.
Es ist nun einmal leider so, dass Polen zustimmen
muss. Sie können das nicht befehlen.
So ist Europa nicht konstruiert.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Krischer.
Herr Gabriel, ich komme gerade aus dem Wirtschafts-
ausschuss. Dort war eine französische Delegation zu
Gast und hat sich über zu niedrige Industriestrompreise
in Deutschland beschwert; Herr Beckmeyer war ja da-
bei. Das war eine interessante Debatte.
Ich möchte eine Frage zum Thema Kohle stellen. Sie
haben uns gerade erklärt, dass Wirkungsgrade für Sie
kein Thema sind, dass das Alter der Kraftwerke für Sie
kein Thema ist, dass das CO2-Budget für Kraftwerke für
Sie kein Thema ist und dass der CO2-Mindestpreis für
Sie kein Thema ist. Ich habe das so verstanden: Jede ord-
nungsrechtliche Maßnahme ist für Sie kein Thema. Sie
haben gleichzeitig auf den Emissionshandel verwiesen.
In diesem Zusammenhang muss man einfach zur Kennt-
nis nehmen: Sie haben auf dem Europäischen Rat zuge-
stimmt, dass vor 2020 diesbezüglich nichts Relevantes
verändert wird. Also kann der Emissionshandel keine
Wirkung entfalten. Trotzdem erklären Sie uns hier, dass
Sie eine Reduktion der heute 377 Millionen Tonnen CO2
im Stromsektor um 71 Millionen Tonnen auf 306 Millio-
nen Tonnen in fünf Jahren erreichen wollen. Mich würde
interessieren, mit welchem Instrumentarium Sie das er-
reichen wollen. Außer einer Kapazitätsreserve kann ich
mir da konkret nichts vorstellen. Planen Sie einen Emis-
sionshandel unter dem Emissionshandel, also quasi ei-
nen deutschen Emissionshandel? Ich bitte um eine kleine
Andeutung dazu, was Sie in diesem zur Erreichung des
deutschen Klimaschutzziels zentralen Bereich vorhaben.
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Erstens habe ich mich nicht gegen CO2-Mindestpreise
ausgesprochen. Der ganze Emissionshandel hat das Ziel,
einen CO2-Mindestpreis herzustellen.
– Ja, sicher. Ziel des Emissionshandels ist die Verknap-
pung von Zertifikaten.
Zweitens hat nicht die deutsche Bundesregierung ge-
sagt, dass sie erst 2020 eine Reform haben will. Im Ge-
genteil: Wir haben gerade mitgeteilt, dass wir dringend
darum bitten, das früher anzugehen. Aber Sie kriegen
dafür in Europa keine Mehrheit. Auch nicht dadurch,
dass wir das hier noch einmal beschreiben. Wir versu-
chen, diese Mehrheit herzustellen. Wir versuchen, zu
überzeugen. Wir machen Angebote, wie man Übergänge
gestalten kann.
– Herr Krischer, ich komme zu der Antwort auf Ihre
Frage; keine Sorge. Sie haben aber auch ein paar andere
Dinge angesprochen, zu denen ich auch etwas sagen
möchte. – Wir versuchen, die Kollegen in anderen Län-
dern zu überzeugen. Aber die Bereitschaft, das vor 2020
anzugehen, ist in einem Teil der Mitgliedstaaten der Eu-
ropäischen Union außerordentlich gering. In einem an-
deren Teil ist die Bereitschaft sehr hoch, traditionell in
Skandinavien, aber auch in Großbritannien und Frank-
reich, natürlich auch wegen der COP, die im nächsten
Jahr dort stattfinden soll. In einem Teil Europas gibt es
aber nun einmal leider massiven Widerstand dagegen.
Man kann nur versuchen, das durch Verhandlungen zu
verändern. Das probieren wir.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6823
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Die Idee, die wir verfolgen, habe ich vorhin schon ge-
nannt: Wir wollen Emissionsobergrenzen festlegen, also
eine Obergrenze für Emissionen, die der Kraftwerkspark
2020 ausstoßen darf. Das habe ich jetzt, glaube ich, drei-
mal gesagt. Mit Bezug auf historische Emissionen wol-
len wir die Minderungsbeiträge auf die Kraftwerks-
betreiber verteilen, jedenfalls 22 Millionen Tonnen.
Zusätzlich wollen wir versuchen, den noch nicht ge-
schafften Teil aus der alten Prognose zumindest in grö-
ßerem Umfang dadurch zu erreichen, dass dieser Teil in
die Kapazitätsreserve eingebracht wird; dieses Angebot
wollen wir unterbreiten.
– Nein, das würde im Gesetz stehen. Das stand übrigens
auch in allen Zeitungen. Weil sich der Stromsektor da-
rüber nicht besonders gefreut hat, gab es Widerstand da-
gegen.
Ich habe Ihnen in meiner ersten Antwort schon ge-
sagt, dass wir diese Beschlüsse spätestens im Jahr 2015
im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über das
Strommarktdesign fassen müssen, also nicht irgend-
wann, sondern im ersten Halbjahr 2015.
Sie haben gesagt, Sie wollten eine leichte Andeutung
dessen haben, was wir tun wollen. Das ist sie.
Die beiden abschließenden Fragen stellen Kollege
Grund, CDU/CSU-Fraktion, und die Abgeordnete
Baerbock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Kollege
Grund.
Vielen Dank, Herr Minister. – Bei der Debatte heute
geht es ja eigentlich um die Struktur der Energieversor-
gung in Deutschland. Es gibt ja die konventionelle, die
klassische Energieerzeugung – Kohlekraftwerke, CO2-
Emittenten, Gaskraftwerke und Atomkraftwerke, die
2022 vom Netz gehen – und die erneuerbaren Energien
– Photovoltaik, Windenergie, Biomasse –, die ganz er-
heblich subventioniert werden.
Heute Morgen, um 6 Uhr, hatten wir in Deutschland
eine Gesamteinspeisung ins Netz in Höhe von 23 600 Me-
gawatt elektrischer Energie. An diesen 23 600 Megawatt
waren die Photovoltaik – es war, wie gesagt, 6 Uhr – mit
0 Prozent – das ist jetzt nicht viel anders – und die Wind-
energie mit 511 MW beteiligt; das sind knapp 2 Prozent.
Die Erwartung, dass der Kraftwerkspark umgebaut und
der CO2-Ausstoß reduziert wird, bedeutet ja, dass wir ab
2022 viel stärker aus der Nutzung von Kohle und Gas
– denn diese Kraftwerke produzieren ja auch CO2 – aus-
steigen müssen; das ist die Erwartung, die hier geäußert
wird. Was bedeutet das für die Energieversorgung
Deutschlands, und welche Voraussetzungen müssten er-
füllt werden, bis die Forderungen an die Bundesregie-
rung – es werden ja auch entsprechende Vorwürfe erho-
ben – überhaupt erfüllt werden können?
Herr Bundesminister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Ich halte diese Debatte, in der immer der Anschein er-
weckt wird, als müssten wir jetzt eine Kohleausstiegsde-
batte führen – das kann ich den Kollegen vom Bünd-
nis 90/Die Grünen nicht ersparen –, für eine große
Illusion.
– Nein, es geht Ihnen nicht um alte Kraftwerke. Sie wol-
len aus der Braunkohle aussteigen.
Sie müssen nur offen sagen, was Sie wollen; dann kann
man ja darüber diskutieren.
Sie wollen, wie gesagt, aus der Braunkohle aussteigen.
Das bedeutet, dass es unmittelbare Preiswirkungen am
Strommarkt geben wird. Das konterkariert unser Ziel
– natürlich ist das die Folge – im Hinblick auf die Ener-
giepreise, die die Grundstoffindustrie zu zahlen hat, um
zumindest einigermaßen wettbewerbsfähig zu bleiben.
Außerdem würde man à la longue erhebliche Versor-
gungssicherheitsprobleme bekommen, weil man natür-
lich nicht nur den Durchschnitt berechnen darf, sondern
auch die Jahreshöchstlast darstellen können muss, und
zwar auch an Tagen, die so sind, wie es der Kollege eben
beschrieben hat.
Ich glaube, dass wir auch bei einem weiteren Ausbau
der erneuerbaren Energien fossile Kraftwerkskapazitäten
sozusagen als Rückendeckung brauchen. Die Frage ist
nur – darüber reden wir zurzeit –: Wie kommen wir an-
gesichts der großen Überkapazitäten im europäischen
und im deutschen Strommarkt eigentlich zu den richti-
gen Kraftwerken?
Wir führen eine Debatte darüber: Soll das über Kapazi-
tätsmechanismen oder über eine stärker marktorientierte
Organisation des Strommarktes geschehen, in deren
Rahmen der Strommarkt die Signale zur Auswahl exakt
der Kraftwerke, die wir brauchen, aussendet, damit wir
6824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
auch in windarmen und sonnenarmen Zeiten Strom ha-
ben und – da dies die effizientesten Kraftwerke sind –
die auch preiswert zur Verfügung stehen? Das ist die De-
batte, die wir gerade führen.
Es ist nicht ganz unbekannt, dass ich sehr skeptisch
bin, was einen umfassenden Kapazitätsmarkt, den einige
fordern, angeht. Ich glaube, das hätte einen preistreiben-
den Effekt, den wir nicht akzeptieren sollten. Ich bin
eher dafür, in Richtung Strommarkt und Energy-only-
Markt zu gehen. Im Übrigen glaube ich, dass wir auch
mit den Erneuerbaren stärker in diese Richtung gehen
müssen. Aber das ist eine Debatte, deren Ergebnis offen
ist und die wir bis Ende Februar nächsten Jahres führen
werden.
Was dabei aber nicht herauskommen wird, ist ein flä-
chendeckender Kohleausstieg – das wird nicht passie-
ren –, sondern wir werden entsprechend unseren Klima-
schutzzielen die CO2-Emissionen von Kohlekraftwerken
reduzieren. Das ist keine Frage, und das wissen auch
alle. Die Kraftwerksbetreiber und die Beschäftigten wis-
sen übrigens auch, dass es angesichts der Überkapazitä-
ten, die wir in Europa und in Deutschland haben, zu ei-
ner Marktbereinigung kommen wird; auch das wissen
alle. Nur, was Sie vom Bündnis 90/Die Grünen fordern,
ist, dass der Staat entscheidet, wann und wo das stattzu-
finden hat. Das halte ich für ein ziemlich großes Risiko,
was die Preise und die Versorgungssicherheit angeht.
Darüber gibt es Streit. Ich finde, man kann ihn mit gro-
ßer Gelassenheit führen, wenn man sich einfach die Zah-
len ansieht.
Ich bin dagegen, dass in dieser Debatte immer wieder
Mythen gebildet werden. Die Energiewende in Deutsch-
land leidet eher an einem Zuviel an Mythen und einem
Zuviel an Zielen. Ich glaube, unsere Aufgabe in dieser
Legislaturperiode ist, unterhalb der zwischen uns allen
verabredeten Ziele dafür zu sorgen, dass die Zahnräder
der Energiewende ineinandergreifen und wir uns nicht
überholen mit immer neuen Vorstellungen, was ein In-
dustrieland wie Deutschland alles schaffen kann.
Die letzte Frage: Abgeordnete Frau Baerbock, Bünd-
nis 90/Die Grünen. Bitte.
Es ist schön, dass Sie immer wissen, was wir wollen.
Wir wollen einen schrittweisen Kohleausstieg, um Pla-
nungssicherheit im Kraftwerkspark zu gewährleisten.
Eine Anmerkung zum europäischen Emissionshandel,
weil Sie uns auch unterstellen, wir würden nicht euro-
päisch, sondern nur rein national denken und wir hätten
von Europapolitik keine Ahnung: Vielleicht sollte man
einmal anerkennen, dass auch die Leute auf der anderen
Seite ein bisschen Kenntnis haben.
Sie wissen selber ganz genau, dass für die Umsetzung
der EU-ETS-Richtlinie eine qualifizierte Mehrheit und
eben nicht Einstimmigkeit notwendig ist, und es geht da-
rum, diejenigen, die gleiche Interessen haben, hier zu-
sammenzuführen. Sie wissen ebenso ganz genau, dass
andere Länder hier sehr wohl vorangehen – auch mit na-
tionalen Mindestpreisen im europäischen Emissionshan-
del – und dass das keine nationale Nabelschaudebatte ist.
Ich möchte jetzt noch eine Frage zum ETS stellen,
weil uns Ihre Aussage schon sehr verwundert hat. Sie
haben nämlich gesagt: Das ist das Instrument, auf das
wir setzen. Im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
heißt es aber nicht mehr wie früher – damit wurde vor al-
len Dingen Ministerin Hendricks mehrfach zitiert, und
das wurde angeblich auch auf europäischer Ebene einge-
bracht –, dass 2 Milliarden CO2-Zertifikate vom Markt
müssen und dass das Backloading wirklich dauerhaft
sein muss – 900 Millionen CO2-Zertifikate auf jeden
Fall dauerhaft; das hat sie mehrfach betont –, sondern in
dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 heißt es jetzt
nur noch: eine „direkte Überführung der im Rahmen des
erhaft geschehen.
Ist es wirklich die Absicht der Bundesregierung, die
im Rahmen des Backloadings zurückgehaltene Menge
von 900 Millionen Zertifikaten und auch nicht mehr
2 Milliarden Zertifikate in die Reserve zu überführen,
was direkt bedeutet, dass sie auch wieder Bestandteil des
ETS werden können, wodurch das Preissignal ausfallen
würde?
Herr Bundesminister, bitte.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Bevor Kollegin Hendricks Ihnen darauf antwortet,
weil Sie sie ja gefragt haben, will ich Ihnen nur sagen:
Ich habe Ihnen nicht unterstellt, dass Sie keine Ahnung
von der Europapolitik haben. Das haben Sie von mir
nicht einmal gehört. Ich habe ganz ruhig und freundlich
darauf hingewiesen, dass Sie gelegentlich auch einmal
mit Polen und Osteuropäern reden und nicht unterstellen
sollten, dass das alles nur ein Problem in Deutschland
ist.
Ich wundere mich, dass Sie öffentlich erklären, es
gebe einen nationalen Emissionshandel. Das ist nach
dem Emissionshandelsrecht in Europa verboten.
(C)
(B)
– Es gibt in Großbritannien die Entscheidung, hier etwas
über das Steuersystem zu machen. In diesem Land, das
Sie uns hier gerade genannt haben, wurde vor kurzem
übrigens durchgesetzt, die Atomenergie mit öffentlichen
Subventionen auszubauen.
– Ich habe heute ein Maß an Freundlichkeit, das mir
meistens gar nicht zur Verfügung steht.
– Ich finde, es ist noch Vorweihnachtszeit. – Deswegen
wollte ich nur darauf hinweisen, dass ich diese Debatte
weit weniger aggressiv führe, als Sie vielleicht gehört
haben.
Den Rest macht Frau Hendricks.
Frau Bundesministerin.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin Baerbock, die EU-Kommission schlägt
eine Marktstabilitätsreserve vor, die ab dem Jahr 2021
wirksam werden soll. Die Bundesregierung hat sehr
deutlich an die EU-Kommission adressiert, dass wir
diese Marktstabilitätsreserve schon zum Jahr 2017 ein-
führen wollen. Diese Marktstabilitätsreserve ist sozusa-
gen Gegenstand der Reform. Auf diese Weise soll die
Reform des ETS zustande kommen, und genau in diese
Marktstabilitätsreserve werden dann sinnvollerweise die
Backloading-Mengen eingebracht. Es geht also genau
um diese Reserve.
Schönen Dank. – Ich beende damit die Befragung der
Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/3360, 18/3401
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Num-
mer 10 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 18/3401 auf.
Sie betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung. Die Beantwortung übernimmt der Parlamentari-
sche Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel.
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Abgeordneten Jan
van Aken, Fraktion Die Linke, auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Ankündigung des
Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen vom
1. Dezember 2014, die Nahrungsmittelhilfe für syrische
Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien, Tür-
kei, Irak und Ägypten aufgrund von Geldmangel einzustellen
sichtlich der humanitären und politischen Folgen für die be-
troffenen Staaten, und was unternimmt die Bundesregierung
im Rahmen ziviler Krisenprävention, um einer Verschärfung
und Eskalation der humanitären und politischen Situation in
den betroffenen Ländern vorzubeugen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Ha
Herr Kollege van Aken, der Bundesminister
Dr. Müller weist schon seit Monaten darauf hin, dass es
Probleme mit der Finanzierung der Ernährung und Un-
terbringung der Flüchtlinge gibt. Er war selber vor Ort,
und er hat auch vor diesem Hohen Hause sehr deutlich
auf die Probleme hingewiesen und darüber gesprochen,
dass sich hier eine Katastrophe entwickeln kann. Er hat
dafür geworben, dass alle Beteiligten Mittel bereitstel-
len, um die Finanzierung auf den Weg zu bringen.
Der Minister war vor sechs Wochen in New York und
hat bei der Direktorin des World Food Programmes vor-
gesprochen, um sich nochmals eingehend zu informie-
ren. In den letzten Wochen und Tagen sind vonseiten der
Bundesregierung nochmals 22,5 Millionen Euro zusätz-
lich zur Verfügung gestellt worden, sodass die Bundes-
republik Deutschland im Jahr 2014 jetzt 54 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt hat und alle getroffenen Zu-
sagen eingehalten hat.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter van Aken?
Vielen Dank. – Diese 22,5 Millionen Euro extra rei-
chen nach Angaben des Welternährungsprogramms un-
gefähr bis zum 14. oder 15. Dezember dieses Jahres. Da-
nach ist wieder Schluss. Dann muss das Programm
wieder seine Zahlungen für die ganzen Flüchtlingslager
rund um Syrien einstellen.
Meine Frage an Sie: Was tun Sie denn, um die Nicht-
zahler davon zu überzeugen, zu zahlen? Nach Aussage
des Welternährungsprogramms ist es so: Das große Pro-
blem ist, dass ganz viele Länder gepledgt haben, also
Geld angekündigt, aber nicht gezahlt haben. Ich möchte
von Ihnen gerne wissen: Welche Partner aus der EU und
der NATO haben denn ihren Pledge nicht erfüllt? Was
tun Sie, um diese Länder davon zu überzeugen, endlich
das Geld herüberwachsen zu lassen?
6826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
Ha
Wir würden gerne noch mehr tun, aber wir verfügen
nicht über Kenntnisse und Einzelheiten darüber, wer be-
zahlt und wer nicht bezahlt hat. Wir können deswegen
nur allgemein an alle appellieren, die Not zu sehen und
den eigenen Verpflichtungen nachzukommen. Ich kann
nur wiederholen: Deutschland liegt mit seinen Zahlun-
gen an das Welternährungsprogramm weit vorne und mit
seinen gesamten Zahlungen für die Regionen ebenfalls.
Noch eine Nachfrage, Herr van Aken?
Nur um das kurz zu kommentieren: Ich bin mir sicher,
dass das Welternährungsprogramm Ihnen ohne Weiteres
sagen könnte, wer wie viel bezahlt hat, und dann könn-
ten Sie aktiv werden. Das möchte ich nur einmal anre-
gen.
Aber eine ganz andere Frage. Das eine ist das Geld,
das Deutschland gibt. Das andere ist eine andere Art von
Unterstützung für die Flüchtlinge aus Syrien. Wir wis-
sen, dass es um viele Millionen Menschen geht. Wir
wissen auch, dass Deutschland bislang angeboten hat,
20 000 Flüchtlinge aus Syrien hier aufzunehmen. Ich
finde die Zahl von 20 000 Menschen viel zu wenig.
Angesichts der Tatsache, dass ab Mitte Dezember die
Zahlungen des Welternährungsprogramms wieder einge-
stellt werden müssen und Millionen Menschen in der
Region deswegen hungern müssen, wünsche ich mir,
dass die Bundesregierung beschließt, eine größere Zahl
von Flüchtlingen hier aufzunehmen. Meine Frage ist:
Was war das Ergebnis der letzten Debatten im Kabinett
zu der Frage, mit wie vielen Flüchtlingen aus Syrien wir
in Zukunft in Deutschland rechnen können?
Herr Staatssekretär.
Ha
Ich kann Ihnen hierzu keine neuen Erkenntnisse mit-
teilen.
Danke schön. – Die nächste Frage dazu stellt der Ab-
geordnete Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Die Frage der Nahrungsmittelhilfe betrifft nicht nur
die syrischen Flüchtlinge. Es gibt noch sehr viel mehr
Probleme. Schauen wir uns einmal den Südsudan an:
Dort hungern Millionen Menschen. Schauen wir uns die
Zentralafrikanische Republik an: Auch da herrscht eine
riesige Hungersnot. In Somalia – das weiß man nicht ge-
nau – könnte demnächst auch eine Hungersnot ausbre-
chen.
Wie stellt sich die Bundesregierung denn die Behand-
lung dieser Problematik a) national, b) europäisch und c)
auf UN-Ebene vor? Es ist doch sicher im Interesse der
Bundesregierung, da eine Lösung zu finden. Die Lösung
kann nicht sein, nur bis zum 15. Dezember dieses Jahres
zu denken.
Ha
Es ist richtig, dass die Bundesrepublik ein großes In-
teresse daran hat, Lösungen mit Perspektive zu finden.
Zunächst einmal darf ich darauf verweisen, dass im
Haushaltsausschuss hierzu eine sehr gründliche Debatte
stattgefunden hat, die dann in der Bereinigungssitzung
dazu geführt hat, dass die Mittel sowohl für die humani-
täre Hilfe wie auch für die ESÜH des BMZ wesentlich
erhöht wurden, und zwar im Fall des BMZ von 49 Mil-
lionen Euro auf 139 Millionen Euro. In Einzelberatun-
gen wird nun darüber gesprochen, wie diese Mittel ef-
fektiv eingesetzt werden. Das ist der nationale Teil.
Außerdem darf ich darauf hinweisen, dass mein
Minister ständig Gespräche mit dem Ziel führt, eine kon-
struktive Lösung zu erreichen. Das gilt für Gespräche
mit Bischöfen der Kirchen von Damaskus. Das gilt für
Gespräche mit dem nationalen und dem internationalen
Roten Kreuz. Das gilt, wie schon gesagt, auch für das
World Food Programme in New York und natürlich auch
Richtung EU.
Schönen Dank. – Nachdem die dringliche Frage auf-
gerufen und beantwortet worden ist, rufe ich jetzt die
mündlichen Fragen auf Drucksache 18/3360 in der übli-
chen Reihenfolge auf. Wir kommen zunächst zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und
Soziales. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Annette Kramme bereit.
Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Matthias W.
Birkwald werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Markus
Kurth:
Was sind aus Sicht der Bundesregierung die wesentlichen
rechtlichen Hemmnisse, um eine Beschäftigung auch im Ren-
tenalter zu erleichtern?
Frau Staatssekretärin, bitte.
A
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Kurth, ich
gehe nicht davon aus, dass Sie tatsächlich die Frage be-
antwortet haben wollen, welche rechtlichen Hemmnisse
eine Beschäftigung im Rentenalter erleichtern. Solche
wären mir nämlich nicht bekannt. Sofern Ihre Frage so
gemeint sein sollte, ob es rechtliche Hemmnisse gibt, die
die Beschäftigung im Rentenalter erschweren, kann ich
Ihnen Folgendes sagen:
Derzeit beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe der Koali-
tionsfraktionen mit der Frage flexibler Übergänge in das
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6827
Parl. Staatssekretärin Anette Kramme
(C)
(B)
Rentenalter. Insoweit wird auch über Hemmnisse disku-
tiert, die die Beschäftigung im Rentenalter erschweren.
Wir werden die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe abwar-
ten und uns dann in einem gesonderten Prozess mit die-
ser Thematik näher beschäftigen.
Haben Sie dazu eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter
Kurth?
Natürlich. – Ich persönlich empfinde diese Antwort
als etwas dürftig. In der vorherigen Debatte über die
Politik für Menschen mit Behinderung hat sich die Kol-
legin Rüffer in ihrer Rede über die Auskunftsfreudigkeit
bzw. Nichtauskunftsfreudigkeit der Bundesregierung be-
klagt, wenn es um die Benennung zumindest von Ziel-
perspektiven geht. Insofern meine genaue Nachfrage:
Der Abgeordnete Carsten Linnemann, der sowohl Mit-
glied der CDU-Fraktion als auch dieser Arbeitsgruppe
ist, hat laut Süddeutscher Zeitung vom vergangenen
Samstag mitgeteilt, dass 15 sehr komplexe Themen dis-
kutiert worden seien. Wenn Sie schon keine Ergebnisse
mitteilen können, können Sie dann wenigstens sagen
– schließlich nehmen Vertreter der Bundesregierung
auch an den Sitzungen dieser Koalitionsarbeitsgruppe
teil –, welches die wichtigsten dieser komplexen The-
men sind?
A
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich jetzt
nicht 15 Themen der Reihe nach herunterdeklinieren
kann.
Ich kann aber sehr wohl einige dieser Fragestellungen
wiedergeben. Es geht beispielsweise um die Frage der
Rentenbeiträge von Älteren. Es geht beispielsweise um
die Frage von befristeten Arbeitsverhältnissen bei Älte-
ren. Es geht beispielsweise um Hinzuverdienstmöglich-
keiten von Älteren, die sich auch im vorgezogenen
Rentenbezug befinden. Es geht um Fragen der Gesund-
heitspolitik. Es geht um die Frage, wie man die Gesund-
heit älterer Menschen besser schützen kann, sodass diese
länger am Erwerbsprozess teilnehmen können. Es geht
um Vorschläge zu einem sogenannten Alterssicherungs-
geld. – Das sind die Dinge, die mir aus dem Stegreif
dazu einfallen.
Sie haben noch die Möglichkeit zu einer weiteren Zu-
satzfrage, Herr Abgeordneter Kurth. Mögen Sie?
Ja. – Ergänzend zunächst noch der Hinweis zu Ihrer
Antwort: Sie sind ja schon fast auf 15 Themen gekom-
men. Wenn Sie die noch fehlenden Themen schriftlich
nachreichen könnten, wäre ich Ihnen dankbar.
Kommen wir zu einem konkreten Vorschlag, den Sie
vorhin auch genannt haben. Die Junge Union und auch
die Gruppe der jungen Abgeordneten der Union, zu de-
nen Herr Linnemann auch gehört, wollen eine bestimmte
Regelung streichen, nämlich die Regelung, wonach be-
fristete Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern über 52 Jah-
ren nur über fünf Jahre geschlossen werden können, dies
aber nur dann, wenn sie zuvor mindestens vier Monate
arbeitslos waren.
Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundesregie-
rung dafür, an dieser Regelung festzuhalten?
A
Hierzu gibt es keine Meinungsbildung innerhalb der
Bundesregierung. Wie gesagt, wir werden uns mit der
Thematik beschäftigen, wenn der Prozess in der Koali-
tionsarbeitsgruppe abgeschlossen ist.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Be-
antwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staats-
sekretärin Frau Dr. Flachsbarth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Ostendorff auf:
Wie genau hilft die Unterzeichnung des Veterinärproto-
Pferden und die Anerkennung des Verarbeitungsstandards für
Nebenprodukte der Schweinefleischerzeugung den deutschen
Schweinehaltern weiter, die, wie Kollegen in anderen führen-
den Produzentenländern auch, Notierungseinbrüche um bis zu
21 Cent/kg Schlachtgewicht innerhalb weniger Wochen
hinnehmen mussten, sodass die Produktion nach Berechnun-
gen von Experten vielerorts nicht mehr kostendeckend ist
D
Herr Kollege Ostendorff, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Durch die Abstimmung des Veterinärproto-
kolls für den Export von Pferden aus der Bundesrepublik
Deutschland in die Volksrepublik China konnten die
langjährigen Verhandlungen der tiergesundheitlichen
Bedingungen für den Export von Pferden erfolgreich ab-
geschlossen werden. Seit Mai 2014 wurden die ersten
Sportpferde, circa 40 Tiere, nach China exportiert.
Die Anerkennung des Verarbeitungsstandards für
Schweinepfoten, der sogenannte Pfotenstandard, ist
ebenfalls das Ergebnis langwieriger Verhandlungen mit
dem Staatlichen Zentralamt für Qualitätsüberwachung,
Inspektion und Quarantäne, AQSIQ, der Volksrepublik
China. In diesem Standard wurden die grundsätzlichen
Anforderungen an die Gewinnung und weitere Behand-
lung von Schweinepfoten in deutschen Schlachtbetrie-
ben festgelegt. Durch die Anerkennung des Pfotenstan-
dards durch die chinesischen Behörden wurde die
Voraussetzung dafür geschaffen, dass deutsche Schlacht-
betriebe dieses Produkt, welches auf dem chinesischen
Markt im Gegensatz zum deutschen sehr gefragt ist,
nach China exportieren können.
6828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
(C)
(B)
Im Zuge der Anerkennung des Pfotenstandards konn-
ten weitere drei deutsche Schlachtbetriebe für den Ex-
port von Schweinepfoten nach China zugelassen wer-
den. Dadurch werden die Verwertungsmöglichkeiten der
Schlachtkörper nachhaltiger und damit die Wertschöp-
fung ebenfalls erhöht, wodurch zusätzliche Erlöse gene-
riert werden können. Davon profitieren selbstverständ-
lich auch die Landwirte in Form höherer Erzeugerpreise.
Das aktuell relativ niedrige Preisniveau bei Schwei-
nefleisch ist nur teilweise auf die fehlenden Exportmög-
lichkeiten nach Russland infolge von Veterinärmaßnah-
men und des Einfuhrembargos für Lebensmittel
zurückzuführen. Während die Schweinefleischexporte in
Drittländer insgesamt im Zeitraum von Januar bis Au-
gust 2014 um 2 Prozent zurückgegangen sind, wurden
die Exporte nach Asien ausgebaut.
Hauptverantwortlich für den Preisdruck sind seit Au-
gust 2014 deutlich gestiegene Schlachtzahlen und eine
im Vergleich zum Vorjahr niedrigere Verbrauchernach-
frage. Eine gewisse Stabilisierung zeichnet sich aller-
dings in den letzten Wochen ab.
Herr Kollege Ostendorff, ich vermute, Sie haben eine
Nachfrage.
In der Tat, Herr Präsident, Sie vermuten richtig. –
Sehr geehrte Staatssekretärin, die Themen, die wir jetzt
ansprechen, werden wir möglicherweise noch in der
heute-show betrachten können. Aber das Pfotenabkom-
men und das Veterinärabkommen zum Export von Sport-
pferden stehen in einem Zusammenhang.
Der Staatssekretär ist nach China gereist und hat vor-
her sehr umfassende Ankündigungen gemacht, die
Exportmöglichkeiten für deutsche Agrarprodukte auszu-
loten, zu verbessern und auszubauen. Denn es ist nach
den uns zur Verfügung stehenden Zahlen nicht so, wie
Sie es gesagt haben. Deswegen bitte ich Sie im Rahmen
meiner ersten Frage darum, uns diese Zahlen zur Verfü-
gung zu stellen. Denn die uns vorliegenden Daten der
AMI, die gemeinhin als Grundlage gelten, besagen, dass
der China-Handel eben nicht voranschreitet, sondern
stark zurückgegangen ist. Nehmen wir das Beispiel
Milch: Im Sommer waren es noch 22 000 Tonnen pro
Monat. Jetzt sind es 11 000 Tonnen. Für Fleisch gilt
Ähnliches.
Wie erklären Sie sich, dass vor dem Antreten der Reise
hohe Erwartungen geweckt wurden, dass der sehr lah-
mende Abverkauf von Schweinefleisch bzw. Schweine-
pfoten deutlich angekurbelt werden soll, dass es aber in
China selbst darum ging, Sportpferde, sprich: Hottemäxe,
die durch die Arena reiten, zu exportieren? Der Zusam-
menhang hat sich mir noch nicht erschlossen, inwiefern
das dazu beiträgt, den Schweinefleischexport anzukur-
beln.
D
Herr Kollege Ostendorff, es ging bei diesen Verhand-
lungen tatsächlich um zwei Handlungsfelder. Es ging auf
der einen Seite um Sportpferde und auf der anderen Seite
um den Verkauf von Schweineprodukten.
Aus unserer Sicht ist es ausgesprochen erfreulich
– auch im Sinne einer nachhaltigen Verwendung von
Tierkörpern –, dass es sich eben nicht um Produkte han-
delt, für die auch im Inland und in Europa eine starke
Nachfrage herrscht, wie bei den sogenannten edlen
Fleischstücken. Vielmehr besteht auch Nachfrage nach
Produkten, zum Beispiel Pfoten, die hierzulande kaum
nachgefragt werden. In China ist die Nachfrage ausge-
sprochen gut.
Sie haben sicherlich noch eine zweite Nachfrage.
Natürlich habe ich eine zweite Nachfrage. Auch hier
vermuten Sie richtig, Herr Präsident.
Wenn das so ist, wie Sie sagen, will ich versuchen,
den Nebel ein bisschen zu lichten. Erklären Sie mir doch
bitte, warum die infrage stehenden Pfoten in China acht
Wochen auf Reede liegen und nicht abgeladen werden,
wenn doch der Bedarf so groß ist. Mir erschließt sich
nicht, dass in China so große Nachfragepotenziale beste-
hen, wenn es dort kaum Möglichkeiten gibt, die Fracht
an Land zu bringen.
D
Herr Kollege Ostendorff, es gibt unterschiedliche
Essgewohnheiten, die kulturell bestimmt sind, sowohl in
Deutschland als auch in China. Ich erinnere mich trotz
meines noch nicht so fortgeschrittenen Alters an eine
Zeit, in der auch hier in Deutschland solche Fleischteile
sehr gern konsumiert wurden. Das hat sich aber in den
letzten 50 Jahren verändert.
Die Situation, die Sie ansprechen, betrifft einen be-
stimmten einzelnen Exporteur, der Probleme hat. Wir
versuchen, unterstützend zu wirken und diese Probleme
zu beseitigen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zur Frage 5 des Kollegen Ostendorff:
Wie viele Pferde wurden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in den vergangenen drei Jahren nach China exportiert,
und zu welchem Zweck?
D
Herr Kollege Ostendorff, diese Frage darf ich wie
folgt beantworten: Gemäß der Außenhandelsstatistik
wurden im Jahr 2011 49 Nutzpferde in die Volksrepublik
China exportiert. Im Jahr 2012 waren es 51, und im ver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6829
Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
(C)
(B)
gangenen Jahr wurden 72 Pferde exportiert. Mit der Pa-
raphierung des Veterinärprotokolls für den Export von
Pferden aus der Bundesrepublik Deutschland in die
Volksrepublik China am 7. Mai 2014 in Peking konnten
die Rahmenbedingungen für einen tiergesundheitlich si-
cheren Export geschaffen werden. Hintergrund war das
große Interesse der chinesischen Seite am Import von
Sportpferden für die Jugendolympiade im August 2014
in China, bei welcher das ausrichtende Land die Pferde
für die Gastreiter stellen musste. Seit Mai 2014 wurden
circa 40 Pferde aus Deutschland nach China versandt.
Die nach China exportierten Pferde dienen ausschließ-
lich der sportlichen Nutzung sowie gegebenenfalls der
Zucht.
Herr Kollege Ostendorff, Sie haben die Möglichkeit,
eine Nachfrage zu stellen.
Frau Staatssekretärin, schönen Dank. – Können Sie
mir erklären, warum Staatssekretär Bleser in China
selbst das Abkommen zur Vermarktung von Sportpfer-
den geschlossen hat und warum sich der Bundesminister
eingeschaltet hat und einen kurzen Gruß an die dort Ver-
sammelten gesandt hat? Warum hat der Staatssekretär
nach seiner Reise nach China die Bewertung abgegeben,
dass dies ein Meilenstein für die Stärkung des Exports
deutscher Agrarprodukte ist? Wie kam das zustande?
D
Herr Kollege Ostendorff, wie Sie wissen, ist Deutsch-
land ein Standort der Pferdezucht in unterschiedlichen
Bundesländern. Wir schauen mit einem gewissen Stolz
auf den Erfolg dieser Zucht und die Erfolge unserer
Sportpferde in vielen internationalen Wettbewerben. Da-
her ist die Möglichkeit, deutsche Sport- und Zuchtpferde
in das Ausland zu exportieren, wichtig für den Agrar-
standort Deutschland.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Kollege
Ostendorff?
Nach diesen Auskünften habe ich keine weitere
Nachfrage, Herr Präsident.
Vielen Dank. – Gibt es dazu weitere Fragen? – Das ist
nicht der Fall.
Die Frage 6 der Abgeordneten Bärbel Höhn und die
Frage 7 des Abgeordneten Harald Ebner werden schrift-
lich beantwortet.
Ich danke der Staatssekretärin Dr. Flachsbarth.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Die Frage 8 der Abge-
ordneten Katrin Kunert wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Frage steht Frau Staatssekretärin
Elke Ferner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Kollegin Britta Haßelmann
auf:
Wie ist in den Bundesministerien der Stand der Umset-
zung der geltenden Regelungen für die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf – nicht nur auf der Leitungsebene, sondern in
allen Bereichen der Ressorts –, und nimmt das Bundesminis-
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dabei eine
besondere Vorbildfunktion für andere Ministerien ein?
Frau Staatssekretärin.
E
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin
Haßelmann, alle Ressorts haben das Zertifikat für Fami-
lienfreundlichkeit des Audits berufundfamilie bekom-
men. Die Zertifizierung umfasst dabei mehrere Bereiche,
zum Beispiel Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Informa-
tions- und Kommunikationspolitik, Führungskompetenz
oder Personalentwicklung. Die Ressorts setzen jeweils
bedarfsbezogene eigene Schwerpunkte. Die Umsetzung
familienfreundlicher Maßnahmen in den Bundesministe-
rien ist insgesamt vorbildlich.
Bereits seit 2003 haben der Bundeswirtschaftsminis-
ter und die Bundesfamilienministerin gemeinsam die
Schirmherrschaft über das Audit inne. 2008 hat das
BMFSFJ einen Kabinettsbeschluss zur Teilnahme aller
Ressorts am Audit initiiert. Die Bundesregierung hat
sich damit ausdrücklich zum hohen Stellenwert einer fa-
milienbewussten Personalpolitik bekannt und kommt da-
her auch ihrer Vorbildfunktion als Arbeitgeber nach. Das
gilt für alle Bereiche der Ministerien.
Im Rahmen des Maßnahmenprogramms „Nachhaltig-
keit“ haben die Ressorts zudem Beschäftigtenbefragun-
gen zur Zufriedenheit mit der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie in den einzelnen Häusern durchgeführt. Die
Ergebnisse dieser Befragungen befinden sich derzeit in
der Auswertung und werden demnächst weitere Erkennt-
nisse liefern.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine Nachfrage
dazu?
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin. Ich habe eine Nachfrage dazu. Mich
würde vor dem Hintergrund Ihrer gerade dargelegten
Bewertung interessieren, welche Konsequenzen insbe-
sondere das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und die Ministerin aus den drei Kla-
gen vor dem Verwaltungsgericht Berlin und den beste-
henden Anwürfen ziehen, dass Regelungen zur Gleich-
stellung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf im
6830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Britta Haßelmann
(C)
(B)
entsprechenden Bundesministerium nicht ausreichend
umgesetzt werden, und wie sie dies bewerten.
E
Zu anhängigen Klagen werde ich jetzt keine Stellung
nehmen, weil ich zu laufenden Verfahren hier im Parla-
ment keine Stellungnahmen abgeben möchte.
Was die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf anbelangt, kann ich Ihnen sagen, dass bei uns im
Ministerium – das ergab die eben erwähnte Befragung –
80 Prozent der Beschäftigten, die an der Befragung teil-
genommen haben – das waren gut zwei Drittel der Be-
schäftigten –, der Auffassung sind, dass sich Beruf und
Familie gut vereinbaren lassen, und dass über 90 Prozent
der Beschäftigten der Ansicht sind, dass das BMFSFJ
eine familienfreundliche Dienststelle ist.
Wir haben über 60 verschiedene Teilzeitmodelle. Un-
gefähr ein Drittel der Belegschaft nutzt flexible Arbeits-
zeitformen wie Telearbeit, mobiles Arbeiten oder exter-
nen Mailzugriff. Es gibt eine Dienstvereinbarung über
gleitende Arbeitszeit, die für alle Beschäftigten ein ho-
hes Maß an zeitlicher Flexibilität gewährleistet. Wir ha-
ben zusammen mit dem Ministerium für Arbeit und
Soziales ein Pilotprojekt zur Einführung von Langzeitar-
beitskonten durchgeführt, das jetzt im Rahmen der No-
vellierung der Arbeitszeitverordnung noch ausgeweitet
wird.
Wir haben eine eigene Kindertagesbetreuungseinrich-
tung sowohl am Standort Bonn als auch in Berlin. Ferner
haben wir ein Familienserviceangebot, bei dem es darum
geht, den Kolleginnen und Kollegen Hilfestellung zu
leisten, wenn es um die Vermittlung von Betreuung für
die Kinder oder auch für zu pflegende Angehörige geht.
Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben die Möglich-
keit, auch noch eine zweite Nachfrage zu stellen.
Ich habe keine zweite Nachfrage, sondern nur die
Bitte, dass dann, wenn die Erhebung abgeschlossen ist,
Sie, Frau Staatssekretärin, uns die Ergebnisse zur Verfü-
gung stellen.
E
Wenn wir die Ergebnisse zusammengetragen haben
und die Leitung damit befasst war, können wir Ihnen
diese gerne zur Verfügung stellen.
Ich sehe, es gibt keine weiteren Nachfragen.
Ich danke Frau Staatssekretärin Ferner. Wir verlassen
damit diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit. Für die Beantwortung der
Fragen ist Frau Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
anwesend.
Wir kommen zur Frage 10 der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche:
Wann plant das Bundesministerium für Gesundheit, BMG,
in Reaktion auf den Vorschlag der europäischen Arzneimittel-
behörde, die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat
europaweit aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, in
Deutschland die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorges-
trel aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, und wie sieht
der Zeitplan der dafür notwendigen Änderung der Arzneimit-
telverschreibungsverordnung aus?
A
Frau Kollegin Schulz-Asche, mit Datum vom 21. No-
vember 2014 hat die Europäische Arzneimittelagentur
darüber informiert, dass der zuständige Ausschuss für
Humanarzneimittel empfohlen hat, das Notfallkontra-
zeptivum ellaOne mit dem Wirkstoff Ulipristal aus der
Verschreibungspflicht zu entlassen.
Das Bundesministerium für Gesundheit wird die ak-
tuelle Empfehlung des Ausschusses für Humanarznei-
mittel genau prüfen und die Entscheidungsfindung bei
der Europäischen Kommission weiter verfolgen. Ziel ist
es, eine gute Beratung für Notfallkontrazeptiva mit bei-
den Wirkstoffen, Levonorgestrel und Ulipristal, aus ei-
ner Hand sicherzustellen. Zu einer Entscheidung der Eu-
ropäischen Kommission in Bezug auf die Empfehlung
des Ausschusses für Humanarzneimittel wird es voraus-
sichtlich erst ab Ende Januar 2015 kommen. Die Ent-
scheidung bleibt abzuwarten.
Frau Kollegin Schulz-Asche, Sie haben die Möglich-
keit zu einer Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für diese Antwort. –
Ich habe folgende Nachfrage. Sowohl die schwarz-gelbe
Vorgängerregierung als auch die jetzige Regierung mit
Gesundheitsminister Gröhe sind der Empfehlung des
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte
nicht gefolgt, die lautete, den Wirkstoff Levonorgestrel
aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Gleichzeitig
hat man sehr viele Vorbehalte gegen den Wirkstoff Uli-
pristalacetat geäußert, dessen Freigabe die Europäische
Arzneimittelkommission plant. Von daher haben wir
jetzt die Situation, dass wir unter Umständen einen
Wirkstoff haben, dessen breite Anwendung in Europa
nachweislich zu wenig Nebenwirkungen geführt hat: Le-
vonorgestrel. Bei Ulipristalacetat gibt es das Problem,
dass wir bisher nur sehr wenige Versorgungsdaten ha-
ben. Insofern meine Frage: Was planen Sie, um sicherzu-
stellen, dass die Versorgungs- und Wirkungsdaten von
Ulipristalacetat tatsächlich auch erhoben werden? Wie
gesagt, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-
produkte hat beim Wirkstoff Ulipristalacetat im Gegen-
satz zum Wirkstoff Levonorgestrel äußerst viele Beden-
ken gehabt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6831
(C)
(B)
A
Frau Kollegin Schulz-Asche, wie Sie richtig beschrei-
ben, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Sachver-
ständigenausschüssen zu tun, mit zwei unterschiedlichen
Arzneimitteln, mit unterschiedlichen Wirkmechanismen,
vor allen Dingen mit unterschiedlich langer Marktfähig-
keit und damit mit unterschiedlichen Erfahrungen. Der
Bundesminister für Gesundheit hat immer klargemacht,
dass ihm die Sicherheit der Patientinnen und Patienten
und eine gute, schnelle, vorurteilsfreie Beratung sehr
wichtig sind. Deshalb werden wir, wie ich bereits ausge-
führt habe, die Empfehlungen des europäischen Aus-
schusses für Humanarzneimittel sehr genau prüfen und
die Entscheidungsfindung der Europäischen Kommis-
sion abwarten. Dem geht ein Prozedere voraus, das ich
Ihnen ansonsten gerne zur Verfügung stelle.
Nach der Entscheidung der Europäischen Kommis-
sion wird unser Haus eine Entscheidung in Bezug auf
die Pflicht zur Verschreibung von levonorgestrelhaltigen
Notfallkontrazeptiva treffen. Auch da gilt, weil wir es
immer in einem Kontext gesehen haben: Es ist uns wich-
tig, auch in Zukunft eine umfassende Beratung für beide
Wirkstoffe aus einer Hand zu gewährleisten.
Frau Kollegin Schulz-Asche, Sie haben die Möglich-
keit einer zweiten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Widmann-Mauz,
mich hat Ihre Aussage etwas gewundert, dass es schon
immer im Interesse von Gesundheitsminister Gröhe war,
eine umfassende Beratung sicherzustellen; schließlich
hatte er ja gar nicht vor, den Wirkstoff aus der Verschrei-
bungspflicht zu entlassen. Aber das lasse ich jetzt einmal
im Raum stehen.
Auf jeden Fall wird ja, wenn beide Medikamente
nicht mehr verschreibungspflichtig sind, die Aufgabe
der Apotheker sehr wichtig, eine gute Beratung durchzu-
führen. Mit welchen Partnern, zum Beispiel mit dem
Bundesinstitut, werden Sie sicherstellen, dass die ent-
sprechenden Informationen sowohl bei den Apothekern
zur Beratung der Frauen eintreffen als auch zum Beispiel
im Internet eingestellt werden?
A
Frau Kollegin Schulz-Asche, zunächst einmal: Im
Moment sind beide Präparate verschreibungspflichtig,
und damit unterliegen sie der Pflicht zur Beratung durch
den Arzt, was in Deutschland bislang als sehr wichtig,
notwendig und auch schützenswert empfunden wurde.
Deshalb haben wir einen hohen Anspruch an die ärztli-
che Beratung, an Beratung zu diesen Präparaten insge-
samt.
Wie gesagt, wir haben jetzt eine neue Situation, die
durch eine Empfehlung des zuständigen europäischen
Ausschusses für Humanarzneimittel entstanden ist, die
nach einem Austausch in den europäischen Gremien mit
den Mitgliedstaaten und den betroffenen Unternehmen
zu einer Entscheidung der Kommission führen wird.
Diese Entscheidung sollten wir nicht vorwegnehmen.
Sollte es zu einer solchen Entscheidung auf europäischer
Ebene kommen, werden wir diese sehr genau prüfen.
Das gilt auch für die Auswirkungen auf die deutsche Si-
tuation, was die Frage der Entlassung aus der Verschrei-
bungspflicht anbelangt.
Bundesminister Gröhe hat gesagt: Sollte es zu einer
Empfehlung auf europäischer Ebene kommen, die das
Erfordernis einer ärztlichen Beratung nicht mehr sieht,
legen wir großen Wert auf Kontinuität in der Beratungs-
situation. Das heißt, wir werden dann, wenn aus Sicht
der Europäischen Kommission nicht mehr der Arzt die
beratende Person sein soll, gemeinsam mit dem Bundes-
institut für Arzneimittel, den Frauenärzten und der Apo-
thekerschaft Kriterien dazu festlegen, wie eine gute Be-
ratungssituation in Deutschland insgesamt ermöglicht
werden kann, damit dem Schutz der Patientinnen auch in
Zukunft Rechnung getragen werden kann.
Wir kommen jetzt zur Frage 11 der Kollegin Kordula
Schulz-Asche:
Plant das BMG begleitende Regelungen – Beratung, wei-
terhin kostenlose Abgabe an junge Frauen bei ärztlicher Ver-
ordnung –, und wann
werden die hierfür notwendigen gesetzlichen Regelungen in
den Deutschen Bundestag eingebracht?
A
Frau Kollegin Schulz-Asche, Ziel ist es, eine gute und
umfassende Beratung der Frauen aus einer Hand vor ei-
ner Abgabe und Anwendung von Notfallkontrazeptiva
mit beiden Wirkstoffen – Levonorgestrel und Ulipristal –
sicherzustellen. Wie dies sichergestellt werden kann,
wird nach Vorliegen des Kommissionsbeschlusses zu
entscheiden sein.
Grundsätzlich gilt: Frauenärzte, Apotheken und das
zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-
produkte müssen hier zusammenwirken, um eine quali-
tativ hochwertige und umfassende Beratung für beide
Wirkstoffe zu entwickeln und sicherzustellen. Wenn diese
Beratung aufgrund eines Beschlusses der EU-Kommis-
sion, das Medikament ellaOne aus der Verschreibungs-
pflicht zu entlassen, zukünftig nicht mehr zwingend
durch einen Arzt im Rahmen der Verschreibung vorge-
nommen werden muss, ist eine intensive Beratung in den
Apotheken der richtige Weg.
Gesetzliche Krankenkassen erstatten die Kosten für
die vom Arzt verschriebenen hormonellen Kontrazeptiva
bei Mädchen und jungen Frauen bis zum vollendeten
20. Lebensjahr. Die Bundesregierung wird auch prüfen,
welche Konsequenzen für die Erstattungsfähigkeit sich
aus der Entlassung aus der Verschreibungspflicht gege-
benenfalls ergeben.
6832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
Frau Kollegin Schulz-Asche, haben Sie eine Nach-
frage?
Ja. Vielen Dank. – Ich finde es auch richtig, zu prü-
fen, inwieweit es gerade für Mädchen und junge Frauen
unter 21 Jahren weiter möglich sein muss, die Kosten für
die Pille danach erstattet zu bekommen. Von daher ist
meine Frage: Planen Sie eine Regelung analog zu den
OTC-Regeln, die es ermöglicht, für bestimmte nicht ver-
schreibungspflichtige Medikamente eine Erstattung vor-
zusehen? Ist etwas in dieser Richtung geplant, oder
haben Sie vor, in einer anderen Richtung über die Kos-
tenerstattung nachzudenken?
A
Frau Kollegin, es freut uns immer sehr, wenn Sie sich
schon vielfach Gedanken um diese Themen machen.
Zunächst wird die Bundesregierung die Entscheidungen
auf europäischer Ebene – sie sind noch nicht getroffen –
sorgfältig prüfen. Aber auch die von Ihnen angesproche-
nen Fragen werden bei der Prüfung bezüglich einer Er-
stattungsfähigkeit eine Rolle spielen. Da wir die Prüfung
noch nicht abgeschlossen haben, sondern erst am An-
fang dieses Prozesses stehen, bitte ich um Verständnis
dafür, dass ich diesen Beratungen und dieser Prüfung
jetzt nicht vorgreifen möchte.
Dann danke ich Ihnen ganz herzlich. Ich habe keine
weitere Frage, freue mich aber, dass die EU jetzt so ent-
schieden hat, nachdem dies schon lange absehbar war,
und wir unter Umständen tatsächlich dazu kommen, dass
die Pille danach verschreibungsfrei abgegeben werden
kann.
Danke schön.
Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Dr. Harald Terpe
werden schriftlich beantwortet.
Somit danke ich der Staatssekretärin Widmann-Mauz
für die Beantwortung.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Die
Frau Staatssekretärin Katherina Reiche steht für die Be-
antwortung zur Verfügung.
Die Frage 14 hat die Kollegin Sabine Leidig von den
Linken gestellt:
In welchem Umfang – Wert in Euro – hat das Eisenbahn-
Bundesamt, EBA, in den Jahren 2011, 2012 und 2013 Auf-
träge zum Projekt Stuttgart 21 an freiberufliche Fachinge-
Frau Staatssekretärin.
K
Herr Präsident! Frau Kollegin! Das Eisenbahn-Bun-
desamt hat im angefragten Zeitraum Aufträge zum Pro-
jekt Stuttgart 21 in Höhe von 4 493,44 Euro vergeben.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage zu dieser
kurzen Antwort?
Ich habe noch zwei Nachfragen, aber ich hatte mir na-
türlich gewünscht, dass meine eigentliche Frage beant-
wortet wird. Die Antwort war zu kurz. Ich fände es
schade, wenn die Bitte um Beantwortung von der Zeit
für meine Nachfragen abgehen würde.
Ich stelle jetzt sozusagen eine Nachfrage, die ich im
Zusammenhang mit der Tätigkeit des Eisenbahn-Bun-
desamtes bedeutsam finde. Im Jahr 2010 hat es eine
Anhörung gegeben, die sich mit den kaputten Radsatz-
wellen bei ICE beschäftigt hat. Sie erinnern sich wahr-
scheinlich, dass es da echte Unfälle und Beinahe-Unfälle
gab. Bei dieser Anhörung hat der Präsident des Eisen-
bahn-Bundesamtes gesagt, dass sie die Konstruktion zu-
gelassen hätten, obwohl die „auf Kante“ genäht war, und
dass sie die Sicherheit von solchen Konstruktionen an-
hand der Unterlagen der Hersteller und der Betreiber
prüfen und geprüft hätten.
Ich frage Sie jetzt, wer nach Ihrer Auffassung eigent-
lich für die Sicherheit im Eisenbahnverkehr verantwort-
lich ist. Ist es das Eisenbahn-Bundesamt, ist es das Bun-
desverkehrsministerium, also die Bundesregierung, oder
ist es die Deutsche Bahn AG?
K
Frau Kollegin Leidig, damit hier keine Verwechslung
entsteht: Sie hatten gefragt, welche Aufträge das Eisen-
bahn-Bundesamt vergeben hat. Nach dem Umfang ha-
ben Sie gefragt. Diese Frage habe ich beantwortet. Ich
kann jetzt nicht zu Anhörungen im Jahr 2010 Stellung
nehmen. Da muss ich mich erkundigen, muss ich nach-
fragen. Das steht aber in keinem Zusammenhang zu
dem, was Sie gefragt haben. Oder Ihre Frage war so ver-
kürzt angekommen, dass wir nicht erschließen konnten,
um welchen Sachverhalt es Ihnen geht.
Der einzige Auftrag, der in dieser Zeit vergeben
wurde, ging an eine Firma aus Sachsen, und der Auf-
tragsgegenstand war ein Gutachten zur Juchtenkäfer-
Problematik. Jetzt scheint mir aber der Zusammenhang
von Juchtenkäfer und Stellwerksproblemen oder Trieb-
werksproblemen nicht ganz hergestellt zu sein. Viel-
leicht verbleiben wir so, Frau Kollegin, dass Sie uns den
Zusammenhang noch einmal darstellen. Ich glaube, dann
können wir präziser antworten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6833
(C)
(B)
Genau.
Frau Kollegin Leidig, Sie haben die Möglichkeit,
noch eine zweite Frage zu stellen –
Entschuldigung, Herr Präsident.
– oder zu den Hinweisen Stellung zu nehmen, die Ih-
nen die Staatssekretärin gegeben hat.
Unser Anliegen ist tatsächlich, eine Klärung darüber
herbeizuführen, wer für die Eisenbahnsicherheit zustän-
dig ist und was geschieht, wenn sich das Eisenbahn-
Bundesamt selber nicht ausreichend in der Lage sieht,
die Eisenbahnsicherheit zu garantieren.
Ich möchte jetzt noch einmal mit einer weiteren Frage
das Thema quasi untersetzen, nämlich mit der Frage: Bei
welchen Planfeststellungen im Zusammenhang mit dem
Projekt Stuttgart 21 hat das Eisenbahn-Bundesamt eine
Befreiung von Mindestanforderungen gewährt, die sich
aus der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung oder aus
der Eisenbahn-Sicherheitsverordnung oder aus anderen
Vorschriften ergeben? Also: In welchen Fällen hat das
Eisenbahn-Bundesamt in Bezug auf das Projekt Stutt-
gart 21 Ausnahmen genehmigt?
K
Das bezieht sich schon auf Ihre zweite Frage, Frau
Kollegin Leidig. Insofern greife ich jetzt Ihrer nächsten
Frage ein bisschen vor, in der Sie sich auf Sondergeneh-
migungen beziehen. Es ist in der Tat so, dass es gesetzli-
che Möglichkeiten gibt, Ausnahmegenehmigungen zu
erteilen. Das Eisenbahn-Bundesamt ist hier selbstver-
ständlich gehalten, alle Maßgaben der Sicherheit einzu-
halten, aber Abweichungen können vorgenommen wer-
den, wenn Sicherheitsstandards eingehalten werden. Das
trifft generell für alle Zulassungen oder auch Genehmi-
gungen zu.
Soll ich die Frage 15 auch gleich beantworten, Herr
Präsident?
Frau Staatssekretärin, dazu kommen wir, wenn es
keine Nachfragen von anderen Kolleginnen und Kolle-
gen gibt. – Das sehe ich nicht.
Ich rufe somit die Frage 15 der Kollegin Sabine
Leidig, die Linke, auf:
Mit welcher Begründung hat das damalige Bundesminis-
terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BMVBS, eine
Sondergenehmigung für den geplanten Mischverkehr auf der
Filderstrecke bis 2030 erteilt, und haben Beamte des EBA
dieser Sondergenehmigung des Bundesministers widerspro-
chen und dagegen Einwände, Remonstration, erhoben?
K
Hier geht es um eine solche Sondergenehmigung. Der
Antragsteller, Frau Kollegin, hat dargelegt, dass die Si-
cherheitsanforderungen unter Beachtung von Maßgaben
eingehalten werden. Nach eingehender Prüfung wurden
daher für den Abschnitt Leinfelden–Stuttgart Flughafen
– das sind die Kilometer 20,6 bis 24,7 der Strecke 4861 –
Abweichungen von den Vorschriften der §§ 9 und 10 der
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zugelassen, so-
dass dort auch Züge des Fern- und Regionalverkehrs, die
von ihrer Gestaltung Stadtschnellbahnfahrzeugen ähn-
lich sind, unter Beachtung sicherheitsrelevanter Maßga-
ben verkehren dürfen.
Remonstrationen von EBA-Mitarbeitern sind dem
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruk-
tur nicht bekannt.
Frau Kollegin Leidig, Sie haben die Möglichkeit, eine
Nachfrage zu stellen.
Ich möchte nachfragen, welche weiteren Sonderge-
nehmigungen im Zusammenhang mit Stuttgart 21 erteilt
worden sind. Sie haben gesagt, es ist möglich, solche
Sondergenehmigungen zu erteilen. Ich würde gerne wis-
sen, um welche es sich dabei handelt.
K
Hier ging es ganz konkret darum, die Höchstge-
schwindigkeit zu begrenzen. Es ging auch darum, dass
im Regelbetrieb ausschließlich elektrische Triebfahr-
zeuge und Reisezugwagen mit Drehgestellen und Not-
bremsüberbrückungen verkehren dürfen, dass eine even-
tuell vorhandene Neigetechnik ausgeschaltet werden
kann und dass Drehtüren und Drehfalttüren nicht nach
außen weisen dürfen. Das waren Maßgaben, die beachtet
werden mussten, wenn eine Ausnahmegenehmigung er-
teilt werden sollte.
Frau Leidig, Sie haben das Wort für eine weitere
Nachfrage.
Ich möchte noch nachfragen, wie es sich mit der Nei-
gung der Gleise im unterirdischen Bahnhof in Stuttgart
verhält und ob und unter welchen Bedingungen dort eine
Ausnahmegenehmigung erteilt worden ist. Denn die dort
geplante Gleisneigung ist um ein Vielfaches höher als
die ansonsten genehmigungsfähige Gleisneigung.
K
Alle Maßgaben sind geprüft worden, sodass die Si-
cherheit in jedem Fall gewährleistet werden kann. Auch
dies gehörte dazu, und es gab keine Einwände.
6834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
Die Kollegin Hänsel hat eine weitere Nachfrage. – Sie
haben das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich habe eine Nach-
frage bezüglich der Sondergenehmigungen. Die Flucht-
wege im Flughafenbahnhof werden sehr weit unter der
Erdoberfläche geplant. Der Mischverkehr von ICE-, IC-,
Regional- und S-Bahn-Zügen auf der S-Bahn-Filderstre-
cke zwischen Stuttgart-Vaihingen und dem Flughafen-
bahnhof stellt ein ganz großes Problem dar. Es gibt mitt-
lerweile viele Gutachten dazu. Deswegen unsere
Nachfrage: Gibt es hierfür auch irgendwelche Ausnah-
men, Sondergenehmigungen usw.? Denn in der Form, in
der es jetzt geplant ist, ist es unverantwortlich.
K
Vielleicht weise ich doch noch einmal darauf hin,
dass das Planfeststellungsverfahren noch läuft. Wir be-
finden uns mitten in der Anhörung, die durch das Regie-
rungspräsidium Stuttgart durchgeführt wird. Wann wel-
cher Verkehr auf welcher Strecke läuft, ist Gegenstand
dieses Planfeststellungsverfahrens und wird dort gere-
gelt.
Es gibt eine weitere Nachfrage vom Kollegen
Behrens. – Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilt die Bundesregie-
rung als Vertreterin und Eigentümerin der bundeseige-
nen DB die Tatsache, dass das Unternehmen DB AG in
20 Jahren nicht in der Lage war, für die Filderstrecke
zwischen Stuttgart und dem Flughafenbahnhof eine ge-
nehmigungsfähige Planung vorzulegen?
K
Es ist kein Projekt der Bundesregierung; das wissen
Sie. Es ist an dieser Stelle schon mehrfach gesagt wor-
den: Es ist ein Projekt der Deutschen Bahn. Nicht das
Bundesministerium macht Planfeststellungsverfahren
oder Anhörungsverfahren; das wird vor Ort geregelt,
Herr Kollege.
Vielen Dank. – Wir kommen dann zu Frage 16 des
Kollegen Herbert Behrens:
Ist der Bundesregierung inzwischen bekannt, welche ge-
werblichen Schutzrechte – Patente etc. – die Toll Collect
GmbH bzw. deren Gesellschafter an dem Mauterfassungssys-
tem besitzen – gegebenenfalls bitte die einzelnen Schutz-
rechte deren Inhabern zuordnen –, und trifft es zu, dass der
Bund nach Ablauf des neuen Betreibervertrages nicht mehr
alle für den Betrieb relevanten Patente kostenlos übernehmen
könnte, wie dies im bisherigen Betreibervertrag vorgesehen
Frau Staatssekretärin.
K
Herr Kollege Behrens, nein. Die der Toll Collect
GmbH, deren Gesellschaftern sowie der Toll Collect
GbR zustehenden Rechte sind der Bundesregierung nur
teilweise bekannt. Die kostenlose Übertragung gewerbli-
cher Schutzrechte an den Bund ist laut des geltenden Be-
treibervertrages nur für den Fall vorgesehen, dass bei
Vertragsbeendigung die Call-Option nicht ausgeübt
wird. Abweichendes ist in dem verhandelten Verlänge-
rungsvertrag nicht vorgesehen.
Herr Kollege Behrens, möchten Sie eine Nachfrage
stellen?
Bleibt es auch im neuen Vertrag bei der Regelung,
dass der Bund nach Ablauf des Betreibervertrages An-
spruch darauf hat, Anlagen und Einrichtungen des Be-
treiberunternehmens zu übernehmen?
K
Ja, das ist so.
Kollege Behrens, möchten Sie eine zweite Nachfrage
stellen?
Ja, die bezieht sich auf die von Ihnen zurzeit ausge-
schlossene Call-Option. Können Sie mir präziser benen-
nen, zu welchen Zeitpunkten die Call-Option gezogen
werden kann, nachdem der Vertrag mit Toll Collect fort-
gesetzt werden soll?
K
Nein, das kann ich Ihnen nicht beantworten, weil der
Minister entschieden hat, in eine Verlängerung zu gehen,
und alles Weitere im Verlauf der jetzt laufenden Periode
besprochen wird.
Damit kommen wir zu Frage 17 des Kollegen Herbert
Behrens:
In welcher Form wurden seit Abschluss der Verhandlun-
gen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infra-
struktur mit der Toll Collect GmbH über die Verlängerung des
Betreibervertrages – was laut dem Bundesminister für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt, im Ver-
kehrsausschuss des Deutschen Bundestages am 25. November
2014 „Mitte September“ der Fall war – noch die anderen Op-
tionen zur Weiterführung der Lkw-Mauterhebung nach Ab-
lauf des bisherigen Betreibervertrages zum 31. August 2014
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6835
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
geprüft, und wann genau wurde deren Prüfung abgeschlos-
sen?
Frau Staatssekretärin.
K
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Verhandlungen
über die Verlängerung des Betreibervertrages wurden
Mitte September auf Arbeitsebene abgeschlossen. An-
schließend wurden die hausinternen Beratungen weiter-
geführt und eine Entscheidung über die Vertragsverlän-
gerung wurde getroffen. Dieser Sachverhalt wurde am
14. November 2014 schriftlich gegenüber der Vorsitzen-
den des Haushaltsausschusses und dem Vorsitzenden des
Verkehrsausschusses kommuniziert.
Herr Kollege Behrens, Sie haben die Möglichkeit ei-
ner Nachfrage.
Ja. – Die Nachfrage dazu: Sie haben gesagt, am
14. stand fest, dass nicht die Call-Option gezogen wird,
sondern dass der Vertrag mit Toll Collect verlängert
wird. Gleichwohl waren im Haushalt Beträge für das
Nichtziehen der Call-Option eingestellt worden. Wir ha-
ben gehört, dass die Call-Option bis zum Jahresende
theoretisch noch gezogen werden könnte. Es sind aber
keine entsprechenden Anträge an den Haushaltsaus-
schuss gegangen, dass unter Umständen dann notwen-
dige Kosten in den Haushalt eingestellt werden müssen.
Warum ist diese Option finanziell nicht im Haushalt un-
terlegt worden?
K
Herr Kollege Behrens, wie ich Ihnen schon am
12. November gesagt habe, sind verschiedene Optionen
geprüft worden. Die endgültige Entscheidung, die dem
Minister obliegt, wurde am 14. November den beiden fe-
derführenden Ausschüssen mitgeteilt. Man mag als Ab-
geordneter vielleicht nicht froh darüber sein, zwischen
dem 12. und dem 14. nicht über alles Bescheid gewusst zu
haben, aber ein Stückchen Regierungshandeln und -ver-
antwortung müssen Sie dann vielleicht dem Minister
auch noch zubilligen, damit er die abschließenden Ar-
beiten bzw. endgültigen Entscheidungen durchführen
kann.
Herr Kollege Behrens, Sie haben die Möglichkeit ei-
ner weiteren Nachfrage.
Die will ich gerne nutzen. – Wir haben in der Tat da-
rüber gesprochen: Was war am 14. November denn nun
alles fix, und was war ausgeschlossen worden? – Gleich-
wohl wissen wir, dass die entsprechenden Kosten am
5. November in den Haushaltsplan eingestellt worden
sind, und zwar als Kosten, die auf jeden Fall auftauchen
werden. Es ist kein Sperrvermerk dabei; es gibt keinen
Hinweis darauf, dass andere Optionen möglicherweise
andere Kosten nach sich ziehen würden. Warum konnte
man sich zu dem Zeitpunkt, am 5. November, schon so
sicher sein, dass sowohl diese Mittel fließen werden – es
gab keinen Sperrvermerk – als auch alle anderen Optio-
nen ausgeschlossen werden, obwohl es erst am 14. No-
vember so weit gewesen sein soll?
K
Herr Kollege Behrens, der Minister hat am 14. No-
vember seine Schreiben verschickt. Der ganze Prozess
vorher diente einer Abwägung im Haus, dem Ausloten
aller möglichen Optionen. Das mag jetzt im Einzelfall
für Sie nicht in allen Details nachvollziehbar sein; aber
am Ende zählt jetzt das Ergebnis, eine Entscheidung, die
dann dem Parlament auch so kommuniziert wurde.
Die Kollegin Leidig hat eine weitere Nachfrage, zu
der ich ihr das Wort erteile.
Ich möchte Sie, Frau Staatssekretärin, einfach fragen,
wie Sie es denn interpretieren würden, wenn Sie als Par-
lamentarier am 12. November in der Fragestunde die
Antwort erhalten hätten: „Was Toll Collect betrifft, sind
alle Optionen offen“, dann feststellen, dass am 5. No-
vember bereits eine Option im Haushaltsplan verankert
wurde, und am 14. November erfahren, dass der Minis-
ter die Entscheidung getroffen hat und jetzt die zuständi-
gen Ausschüsse informiert. Können Sie vielleicht nach-
vollziehen, dass wir uns da als Parlamentarier nicht ganz
umfassend und auch nicht ganz aufrichtig informiert
fühlen?
K
Frau Kollegin, ich finde, das ist hier eine relativ nor-
male Rollenverteilung: Die Opposition kritisiert; die Re-
gierung muss aber dafür sorgen, dass vernünftige Ent-
scheidungen getroffen und vorbereitet werden. Genau in
dieser Rollenverteilung befinden wir uns jetzt.
Nachdem jetzt keine weiteren Nachfragen mehr er-
kennbar sind, kämen wir zu den Fragen 18 und 19 des
Kollegen Dr. André Hahn. Beide werden allerdings
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs. Ich
danke an dieser Stelle der Staatssekretärin Reiche.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen ist Herr
Staatssekretär Florian Pronold anwesend.
Die Frage 20 des Kollegen Meiwald, die Frage 21 der
Kollegin Höhn und die Frage 22 der Kollegin Kotting-
Uhl werden schriftlich beantwortet.
6836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
Damit kommt der Kollege Pronold um die Beantwor-
tung der Fragen.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Ich freue
mich, dass der Staatssekretär Stefan Müller bei uns ist.
Die Frage 23 der Kollegin Kotting-Uhl wird schrift-
lich beantwortet.
Deshalb kommen wir jetzt zur Frage 24 des Kollegen
Oliver Krischer:
Wie hoch sind die seit der Stilllegung des AVR Jülich im
Jahr 1988 bis heute bereits angefallenen und in Zukunft ab-
sehbar noch anfallenden Kosten für Stilllegung, Einschluss,
Rückbau, Zwischenlagerung, Endlagervorausleistungen usw.,
also Gesamtkosten, und wie verteilen sich diese Gesamtkos-
ten auf die Einzelpositionen?
Herr Staatssekretär.
S
Vielen Dank, Herr Präsident. – Kollege Krischer, die
Rückbaukosten werden sich auf Basis der letzten Pro-
jektkostenschätzung für Bund und Land auf insgesamt
rund 612 Millionen Euro belaufen. Darin nicht enthalten
sind die Kosten für den Rückbau des Reaktorbehälters,
der, wie Sie sicher wissen, nach einer mindestens 30-jäh-
rigen Zwischenlagerung zum Abklingen des Aktivitäts-
inventars zerlegt und entsorgt wird. Die entsprechenden
Rückbaukosten können daher noch nicht verlässlich
quantifiziert werden.
Die 612 Millionen Euro gliedern sich wie folgt: zu-
nächst für den sicheren Einschluss und anschließend für
Stilllegung und Rückbau von 1988 bis 2022 – bis dahin
soll der Rückbau vollständig abgeschlossen sein – rund
550 Millionen Euro, der Bundesanteil beträgt 421 Mil-
lionen Euro. Darüber hinaus sind in der Summe von
612 Millionen Euro gesetzliche Endlagervorausleistun-
gen bis 2022 in Höhe von 62 Millionen Euro einge-
schlossen. Der Bundesanteil beträgt hier 43 Millionen
Euro.
Wir haben beim Forschungszentrum Jülich nachge-
fragt. Deren Angaben zufolge sind im Zusammenhang
mit der vertraglichen Verpflichtung, radioaktive Rest-
stoffe und Abfälle für die AVR GmbH zu entsorgen, im
Zeitraum von 2003 bis 2013 Kosten in Höhe von
5,31 Millionen Euro angefallen. Natürlich können sich
durch die Räumungsanordnung des Ministeriums für
Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Hand-
werk des Landes Nordrhein-Westfalen noch weitere
Kosten ergeben, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht ver-
lässlich abgeschätzt werden können.
Herr Kollege Krischer, Ihre erste Nachfrage.
Herzlichen Dank für die Ausführungen, Herr Staats-
sekretär Müller. – Ich bin jetzt etwas überrascht, weil die
Zahl 612 Millionen Euro von der Bundesregierung
schon seit mindestens zwei Jahren genannt wird. Das ist
erstaunlich; denn wir haben erhebliche Verzögerungen
beim Rückbau, beim Herausheben und bei der Umlage-
rung des hochverstrahlten Reaktors.
Das Projekt ist weltweit einzigartig. Es gibt eine min-
destens vierjährige Verzögerung. An dem Rückbau ar-
beiten 100 festangestellte Personen. Aufträge mit riesi-
gem Volumen werden fremdvergeben. Aber Sie nennen
mir jetzt die gleiche Zahl von 612 Millionen Euro. Ich
kann das, ehrlich gesagt, nicht so richtig glauben, weil
das bedeuten würde, dass die Verzögerungen in den letz-
ten Jahren keine Kosten verursacht haben. Aber da ich
davon ausgehe, dass Aufträge vergeben und Löhne ge-
zahlt worden sind etc. etc., müsste sich eigentlich eine
Kostensteigerung ergeben haben.
S
Das ist eine Vermutung, die ich so nicht einschätzen
kann. Ich habe Ihnen die Kosten nach aktuellem Ermitt-
lungsstand genannt.
Herr Kollege Krischer, Sie haben die Möglichkeit ei-
ner zweiten Nachfrage.
Sie haben eben von den Castoren gesprochen, die der-
zeit in Jülich zwischengelagert werden. Die Bundesre-
gierung plant, sie in die USA zu verbringen, wofür Mit-
tel in den Haushalt eingestellt worden sind. Soweit ich
informiert bin, sollen in diesem Jahr oder in den nächs-
ten Jahren mindestens Kosten von 250 Millionen Euro
anfallen. Sind diese 250 Millionen Euro in den 612 Mil-
lionen Euro enthalten, oder müssen sie obendrauf ge-
rechnet werden?
S
Ich will Sie zunächst einmal korrigieren. Wenn Sie ei-
nen Blick in den Bundeshaushalt werfen, dann werden
Sie feststellen, dass es im Zusammenhang mit der Räu-
mung in Jülich nicht ausschließlich um die Option „Ver-
bringung in die USA“ geht. Sie wissen, dass derzeit drei
Optionen diskutiert werden, für die die entsprechenden
Mittel in den Haushalt eingestellt worden sind. Aber bis-
her ist keine abschließende Entscheidung darüber her-
beigeführt worden, welche Option tatsächlich zum Tra-
gen kommen soll.
Die von Ihnen angesprochene Summe setzt sich aus
den Beträgen für mehrere Jahre zusammen. Sie beläuft
sich im Jahr 2015 auf rund 65 Millionen Euro, in den
Jahren 2016 ff. auf rund 171 Millionen Euro. Diese Be-
träge sind in der Summe, die ich vorhin genannt habe,
nicht enthalten.
Wir kommen jetzt zur Frage 25 des Kollegen Oliver
Krischer:
Gibt es in der Bundesregierung Überlegungen oder kon-
krete Planungen, die derzeit in Ahaus lagernden Castoren mit
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6837
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Brennelementen aus dem THTR – Thorium-Hochtemperatur-
reaktor – Hamm-Uentrop in die USA zu verbringen, und,
wenn ja, auf welche Rechtsgrundlage stützen sich diese Über-
legungen bzw. Planungen?
S
Die Antwort auf die Frage ist: Nein.
Herr Kollege Krischer.
Herzlichen Dank, Herr Müller, für die klare Antwort.
Das ist präzise. – Hat es in der Vergangenheit an der
Stelle Überlegungen gegeben? Ich frage das, weil ich ei-
nen Letter of Intent kenne, den die Bundesregierung und
die amerikanische Seite unterzeichnet haben, in dem die
abgebrannten Brennelemente des THTR als Teil einer
möglichen USA-Exportoption genannt werden.
S
Ich kann nicht ausschließen, dass es in der Vergan-
genheit dazu Überlegungen gegeben hat. Es hat in jedem
Fall eine Diskussion darüber gegeben, nicht nur inner-
halb des Bundesministeriums, sondern auch in der
Öffentlichkeit. Sie wissen, dass daraufhin mehrere
Rechtsgutachten erstellt worden sind, die übrigens zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ansonsten
kann ich nur sagen: Es gibt keine Planungen, diese
Brennelemente in die USA zu verbringen.
Herr Kollege Krischer, Sie haben die Möglichkeit zu
einer weiteren Nachfrage.
Meine zweite Nachfrage: Es gibt ein Rechtsgutachten
der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, das zu dem
Ergebnis kommt, dass ein USA-Export der THTR-Ku-
geln rechtlich nicht zulässig ist. Teilen Sie die in diesem
Gutachten vertretene Rechtsauffassung?
S
Es gibt mehrere Rechtsgutachten.
– Es gibt, glaube ich, auch eines von Greenpeace, das
zur Verfügung gestellt worden ist. – Bevor es hierzu eine
Rechtsposition der Bundesregierung gibt, muss ein kon-
kreter Antrag gestellt werden. Der liegt nicht vor. Inso-
fern kann ich auch keine Rechtsauffassungen, die es
gibt, oder Gutachten, die es gibt, bewerten. Sollte ein
Antrag gestellt werden, die Brennelemente in die USA
zu verbringen, wird die Bundesregierung dazu selbstver-
ständlich eine Rechtsauffassung, und zwar eine einheitli-
che, entwickeln.
Weitere Nachfragen sehe ich nicht.
An dieser Stelle danke ich dem Herrn Staatssekretär
Müller.
Die Frage 26 des Abgeordneten Niema Movassat zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Energie. Ich begrüße
den Herrn Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
Wir kommen jetzt zur Frage 27 der Kollegin Britta
Haßelmann:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Beschluss des niederländischen Parlaments, der „Tweede Ka-
mer“, in dem die niederländische Regierung aufgefordert
wird, sich gegen die ISDS-Klausel – Schiedsgerichtsverfah-
ren – in den Freihandelsabkommen CETA und TTIP auszu-
sprechen?
Herr Staatssekretär.
U
Für die Bundesregierung beantworte ich die Frage
wie folgt: Der Bundesregierung steht es nicht an, Be-
schlüsse von Parlamenten aus Drittstaaten zu kommen-
tieren. Ungeachtet dessen sieht die Bundesregierung
großen Nutzen in einem Freihandelsabkommen der EU
mit Kanada, und sie setzt sich daher für den erfolgrei-
chen Abschluss des CETA-Abkommens ein. Nach Auf-
fassung der Bundesregierung werden durch ein solches
Abkommen neue Impulse und Möglichkeiten für Wachs-
tum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutsch-
land und der gesamten Europäischen Union erzeugt.
Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Auffassung, Be-
stimmungen zum Investitionsschutz einschließlich In-
vestor-Staat-Schiedsverfahren mit Staaten, die über be-
lastbare Rechtsordnungen verfügen und ausreichend
Rechtsschutz vor unabhängigen nationalen Gerichten
gewährleisten, im Grundsatz nicht für erforderlich zu
halten. Die Bundesregierung tritt nicht für Nachverhand-
lungen ein, sieht aber insbesondere bei den Regelungen
zu etwaigen Umschuldungen und Bankenrestrukturie-
rungen und -abwicklungen noch Klärungsbedarf. Zudem
setzt sich die Bundesregierung dafür ein, beim Investi-
tionsschutz weitere Verbesserungen zu erreichen.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine Nachfrage
dazu?
Ja, die habe ich. – Es ist bedauerlich, dass Sie sich zu
anderen EU-Parlamenten nicht äußern. Aber das haben
wir ja neulich schon erlebt, als wir Sie hier gefragt ha-
ben, ob sich Deutschland der Nichtigkeitsklage von
Österreich gegen die Beihilfeentscheidung der EU-Kom-
mission im Zusammenhang mit dem Bau des Atomkraft-
werks Hinkley Point C anschließt.
6838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Britta Haßelmann
(C)
(B)
Zu den Schiedsgerichtsverfahren. Sie haben gesagt,
Sie bleiben als Bundesregierung bei der Position, dass
Sie Schiedsgerichtsverfahren neben unserer bestehenden
Rechtsordnung für nicht erforderlich halten. Der Bun-
deswirtschaftsminister hat uns in der letzten Woche hier
im Parlament etwas anderes erzählt. Deshalb lautet
meine Frage: Geht die Bundesregierung in Brüssel wei-
ter mit der Position – keine Schiedsverfahren neben un-
seren bestehenden Rechtsordnungen – in die Gespräche
und Konsultationen zu CETA und TTIP, oder gibt es
nach den Einlassungen von Herrn Gabriel in der Plenar-
debatte am letzten Donnerstag und seinem grundsätzli-
chen Bekenntnis zu Schiedsverfahren in TTIP oder
CETA eine Änderung in der Auffassung, und vertreten
Sie diese offensiv in Brüssel?
U
Liebe Frau Haßelmann, die Position, die ich Ihnen
eben vorgetragen habe, ist eine Position, die auch schon
die alte Bundesregierung eingenommen hat, als es um
die Diskussion darüber ging, ob zwischen Staaten, die
ausgebildete Rechtssysteme haben, ein Investoren-
schutz in dieser Form nötig ist. Diese Haltung hat die
Bundesregierung also auch in der Vergangenheit einge-
nommen.
Sie müssen festhalten, dass die Bundesrepublik
Deutschland ein Mitgliedstaat unter vielen in der Euro-
päischen Union ist und dass es einen entsprechenden
Prozess gegeben hat, auch im Rat, in dem festgestellt
wurde, dass eine überwiegende Mehrheit der anderen
Mitgliedstaaten eine andere Position vertritt und sich
dies im Grunde auch im Auftrag bzw. im Verhandlungs-
mandat der Kommission widerspiegelt. Das ist die Situa-
tion, von der Sie ausgehen müssen.
Insofern ist das, was ich für die Bundesregierung vor-
getragen habe, eine ganz konsistente Auskunft. Dem hat
auch Sigmar Gabriel nicht widersprochen. Das ist die
Position, zu der wir die ganze Zeit stehen. Heute habe
ich im Wirtschaftsausschuss über den aktuellen Sach-
stand berichtet. Ich kann auch dazu noch etwas ausfüh-
ren.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine weitere
Nachfrage?
Ja. – Mich interessierte nicht so sehr, was die anderen
europäischen Länder machen – da hatte ich ja schon in
Ihrer ersten Antwort gehört, dass Sie darauf hier nicht
eingehen –, sondern meine Frage war konkret: Mit wel-
cher Haltung in Bezug auf die Klageprivilegien für Kon-
zerne geht die jetzige Bundesregierung in die weiteren
Gespräche? Da haben Sie gesagt: Grundsätzlich halten
wir sie nicht für erforderlich. – Der Wirtschaftsminister
hat letzten Donnerstag aber etwas anderes gesagt. Des-
halb meine Frage noch einmal – und zwar nicht in Bezug
auf die schwarz-gelbe Regierung; da weiß ich, welche
Auffassung sie vertreten hat –: Welche Position vertritt
die Große Koalition, Ihr Wirtschaftsministerium in den
Konsultationen? Halten Sie Klageprivilegien für Kon-
zerne für sinnvoll und richtig oder für grundsätzlich
nicht erforderlich, wie hier dargelegt wurde? Dann
würde das aber nicht mit dem zusammenpassen, was der
Bundeswirtschaftsminister hier geäußert hat.
U
Die Antwort: Erstens. Ich widerspreche Ihnen aus-
drücklich, dass es hier einen Widerspruch gibt. Ich habe
eben klargemacht, welche grundsätzliche Haltung wir
haben. Ich habe außerdem gesagt, welche Haltung an-
dere Mitgliedstaaten haben und dass wir uns im Rat in
einer Minderheitenposition befunden haben, als es um
den Auftrag für die Verhandlungen zu CETA gegangen
ist. Punkt.
Zweitens. Was Sie anführen, ist, dass der Bundeswirt-
schaftsminister in der Debatte beim letzten Mal klarge-
macht hat, dass wir uns im Hinblick auf die Aufgaben-
stellung der Schiedsgerichte im Rahmen des Legal-
Scrubbing-Verfahrens sicherlich noch einbringen wer-
den, und zwar informell, aber auch in Gesprächen zum
Beispiel mit dem Europäischen Parlament. Er hat auch
Gespräche mit der neuen Handelskommissarin, Frau
Malmström, geführt. Es hat ebenfalls Gespräche von
Staatssekretär Machnig mit der kanadischen Seite gege-
ben. Es hat also auf verschiedenen Ebenen Interventio-
nen der Bundesregierung mit Blick auf unsere Position
gegeben. Wir hoffen, dass wir unsere Position im Rah-
men der weiteren Gespräche durchsetzen werden.
Der Kollege Ernst möchte eine weitere Nachfrage
stellen.
Erstens. Sie haben
gerade gesagt, bei der Auftragserteilung – ich gehe da-
von aus, Sie meinen das Mandat für CETA – war die
Bundesregierung in der Minderheit. Wenn ich es richtig
verstehe, wäre dieses Mandat ohne Zustimmung der
Bundesrepublik so aber gar nicht zustande gekommen.
Heißt das letztendlich, dass über das Thema Investoren-
schutz verhandelt wurde – obwohl Sie die Auffassung
haben, man brauche ihn nicht? Zumindest von der alten
Regierung wurde das so gesehen, dass man gesagt hat:
Ja, wir wollen über den Investorenschutz verhandeln.
Zweitens. Bisher war die Aussage, auch in der letzten
Debatte mit Sigmar Gabriel, die Bundesregierung sei mit
ihrer Position, dieses Freihandelsabkommen ohne Inves-
torenschutz abschließen zu wollen, vollkommen alleine.
Inzwischen vertreten auch die Niederlande diese Posi-
tion. Ich habe heute mitbekommen, dass die Französi-
sche Nationalversammlung ebenfalls beschlossen hat,
keinen besonderen Investorenschutz zu akzeptieren.
Ähnliches ist aus Österreich zu hören. Wird die Bundes-
regierung ihre bisherige Position, wir seien da ganz al-
leine und könnten das nicht machen, nun ändern, weil
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6839
Klaus Ernst
(C)
(B)
wir uns inzwischen in guter Gesellschaft mit unserem
Freund und Nachbarn Frankreich befinden?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
War das die Frage?
Das war die Frage: Wollen Sie darauf beharren, dass
wir da ganz alleine sind, obwohl wir es gar nicht mehr
sind, und sind Sie bereit, mit den anderen gemeinsam da-
für einzutreten, das TTIP und CETA so verhandelt wer-
den, dass keine Klauseln für einen Investorenschutz ent-
halten sind? Wir sind nicht mehr alleine; das ist ja die
Feststellung.
U
Waren das die beiden Fragen, Herr Präsident?
Das waren die beiden Fragen.
Die Fragen sind zweimal formuliert worden. Jetzt hat
der Herr Staatssekretär das Wort.
U
Schönen Dank. – Erstens. Ich habe zu dem Beschluss
des niederländischen Parlamentes vorhin sehr vorsichtig
Stellung genommen, weil uns inoffizielle Informationen
erreicht haben, wonach es sich hier möglicherweise um
einen Abstimmungsirrtum einer Fraktion des niederlän-
dischen Parlaments handelt. Ich habe das nicht verifi-
ziert; ich sage das nur einmal an dieser Stelle. Insofern
sind wir hinsichtlich dieser Position sehr zurückhaltend.
Zweitens. Ich habe Ihnen auf Ihre Intervention und
auch Ihre Frage hin schon im Wirtschaftsausschuss ge-
sagt, dass wir bei verschiedenen Themen Gesprächsbe-
darf sehen, und zwar hinsichtlich der Befugnisse von
Schiedsgerichten, hinsichtlich einer möglichen Beru-
fungsinstanz, hinsichtlich der Auswahl der Schiedsrich-
ter, hinsichtlich der Qualifikation der Schiedsrichter und
hinsichtlich der Liquidation der Schiedsrichter. Außer-
dem müssen wir im Rahmen des weiteren Prozesses eine
Klärung darüber herbeiführen, ob man sein Klagerecht
erst an den nationalen Gerichten wahrnehmen kann, be-
vor man anschließend gegebenenfalls ein Schiedsgericht
anruft. – Auf all diese Elemente bin ich schon eingegan-
gen; ich habe das hier wiederholt. Über diese Themen
führen wir eine fachliche und sachliche Diskussion so-
wohl im Handelsrat als auch informell mit den Kollegin-
nen und Kollegen im Europäischen Parlament. Hier
muss aus unserer Sicht noch eine Klärung herbeigeführt
werden.
Im Übrigen haben wir hier eine ähnliche Position wie
Kanada. Dies habe ich den Gesprächen mit Herrn Minis-
ter Fast, dem Handelsminister Kanadas, entnommen. Er
hat mir gegenüber bestätigt, dass sie eine ähnliche Dis-
kussion in Kanada führen wie wir hier. Im Falle eines
negativen Urteils eines Schiedsgerichtes gegenüber ei-
nem Staat, in dem investiert worden ist und in dem diese
Investition gefährdet wurde, wollen wir eine Durch-
griffshaftung auf Deutschland nicht notwendigerweise
akzeptieren, sondern vermeiden. Eine gleiche Position
vertritt auch Kanada.
Insofern meine ich schon, dass bei all den Gesprä-
chen, die im Laufe der nächsten zwei bis drei Monate
noch geführt werden, noch eine Klärung herbeigeführt
werden kann. Danach werden wir die Finalisierung der
Texte erleben, und dann werden wir hoffentlich auch ei-
nen autorisierten deutschen Text haben, den wir hier im
Parlament beraten können.
Vielen Dank. – Der Kollege Ströbele hat das Wort zu
einer Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihrer Antwort entnom-
men, dass Sie ernsthaft überlegen, dass die Schiedsge-
richte das letzte Wort haben sollen und vorher vielleicht
noch ein ordentliches Gericht etwas dazu sagen darf.
Wenn überhaupt, dann müsste das umgekehrt sein. – Das
ist aber nicht meine Frage.
Meine Frage lautet: Was waren die maßgeblichen
Gründe für das Parlament der Niederlande, so zu ent-
scheiden? Waren das auch Bedenken hinsichtlich der
Schiedsklauseln? Welche Informationen können Sie mir
über die Haltung der niederländischen Regierung geben?
Es soll ja manchmal Differenzen zwischen der Parla-
mentsmehrheit und der Regierung geben.
U
Herr Abgeordneter, mir liegen – über das hinausge-
hend, was ich Ihnen berichtet habe – keine näheren In-
formationen über die Debatte im niederländischen Parla-
ment vor. Ich werde mich bemühen, Ihnen die Antwort
schriftlich zukommen zu lassen, sofern wir die entspre-
chende Information bekommen.
– Auch das kann man erfragen. Aber ich denke, das
deutsche Parlament hat genauso die Chance, Fragen an
die Kollegen im Nachbarland Niederlande zu richten. In-
sofern bitte ich Sie, auch Ihr Büro in dieser Sache tätig
werden zu lassen. Ich werde jedenfalls das Meinige tun,
um Ihnen eine entsprechende Auskunft zukommen zu
lassen.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen mehr.
Die Fragen 28 und 29 der Kollegin Julia Verlinden
werden schriftlich beantwortet. Wir verlassen deshalb
diesen Geschäftsbereich. Ich danke an dieser Stelle
Herrn Staatssekretär Beckmeyer für die Beantwortung.
6840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amts. Für die Beantwortung steht die Frau Staats-
ministerin Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Die Frage 30 des Kollegen Niema Movassat sowie
die Fragen 31 und 32 der Kollegin Sevim Dağdelen wer-
den schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 33 der Kollegin Heike Hänsel auf:
Welches gemeinsame Wertefundament sprach der Bundes-
minister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, bei
seinem letzten Besuch im Juli 2014 in Mexiko an, das Mexiko
und Deutschland verbindet, angesichts der offensichtlichen
Verstrickungen der politisch Verantwortlichen auf bundes-
staatlicher Ebene und den Sicherheits-, Polizei- und Militär-
instanzen mit der organisierten Kriminalität beim Verschwin-
denlassen der 43 Studenten von Ayotzinapa im Bundesstaat
Guerrero, das den Abschluss eines Sicherheitsabkommens
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Mexiko recht-
Frau Staatsministerin, bitte.
D
Die Kollegin Hänsel hat auf das Wertefundament ab-
gehoben. Darauf darf ich zuerst eingehen. – Wenn die
Bundesregierung von einem gemeinsamen Wertefunda-
ment mit Mexiko spricht, so ist damit nicht nur ein ge-
meinsames Wertefundament der beiden Regierungen,
sondern grundsätzlich ein gemeinsames Werteverständ-
nis der beiden Gesellschaften gemeint.
Mexiko ist ein Land mit einer pluralistischen Gesell-
schaft, freien Medien, freier Meinungsäußerung und ei-
ner vom mexikanischen Volk frei gewählten demokrati-
schen Regierung. Wir haben es dort mit sehr engagierten
Menschenrechtsorganisationen zu tun und, wie wir der-
zeit angesichts der Demonstrationen sehen, mit einer
sehr gut funktionierenden Zivilgesellschaft.
Die Vorfälle von Iguala, die mutmaßliche Ermordung
der 43 Studenten im Bundesstaat Guerrero – das habe
ich schon bei der letzten Fragestunde, in der wir das
Thema gemeinsam erörtert hatten, erwähnt –, haben
mich sehr erschüttert. Sie wissen, ich war vor Ort. Die
Vorfälle haben in Mexiko, aber auch international eine
außerordentlich breite öffentliche Diskussion ausgelöst.
Präsident Peña Nieto hat in Reaktion auf diese Debatte
vor wenigen Tagen ein umfangreiches Maßnahmenpaket
zur Reform des Sicherheitsapparates, insbesondere der
kommunalen Polizeien, angekündigt. Er hat unterstri-
chen, dass sich Mexiko nach den Vorfällen von Iguala
verändern müsse. Sie haben sicherlich genauso wie ich
in großen deutschen Tageszeitungen gelesen, dass Me-
xiko an einem Wendepunkt steht.
Wir sehen Mexiko als wichtigen Partner. Es geht jetzt
darum, den Staat, insbesondere den Rechtsstaat, zu stär-
ken, damit die Menschen in Sicherheit leben können.
Wir haben Mexiko daher eine Zusammenarbeit im Be-
reich der Opferidentifizierung und der forensischen Aus-
bildung angeboten. An diesem Punkt bedarf Mexiko
dringender Unterstützung. Die mexikanische Regierung
hat das Angebot angenommen. In den nächsten Wochen
werden wir besprechen, wie diese Zusammenarbeit aus-
gestaltet werden soll.
Ich will noch ein Wort zum Sicherheitsabkommen sa-
gen; auch darüber hatten wir uns in der Fragestunde am
15. Oktober ausgetauscht. Bei dem Sicherheitsabkom-
men, das noch nicht abgeschlossen ist, über das also
noch verhandelt wird, müssen wir die vorgebrachten Ar-
gumente und die Situation vor Ort genau bedenken; das
wird vonseiten der Bundesregierung sehr ernst genom-
men. Wir werden die Verhandlungen verantwortungsvoll
unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechts-
lage führen.
Frau Kollegin Hänsel, Ihre Nachfrage, bitte.
Danke schön, Frau Staatsministerin. – Sie waren in
Mexiko. Auch ich war vor circa drei Wochen in Mexiko.
Sie werden sicher auch von unterschiedlichsten Stellen
die Information bekommen haben – das sagt selbst die
Generalstaatsanwaltschaft –, dass es zwar sehr viele Re-
formen in Mexiko gibt – die Gesetzesgrundlage ist in
vielen Punkten sehr fortschrittlich –, aber so gut wie
keine Umsetzung. Das ist auch das große Problem bei
dieser fast hundertprozentigen Straflosigkeit. Es gibt
sehr viele Reformen im Justizbereich. Man könnte auch
sehr viel machen; aber es passiert nichts.
Sie sprachen von Meinungsfreiheit. Mexiko ist eines
der Länder mit den meisten ermordeten Journalisten
weltweit. Man kann zwar formal von Meinungsfreiheit
sprechen. Wenn die Menschen diese aber real in An-
spruch nehmen wollen, gefährden sie teilweise ihr Le-
ben.
Ich möchte deshalb auf das Wertefundament und auf
die vom Präsidenten angekündigten Reformen zurück-
kommen. Wie will die Bundesregierung darauf reagie-
ren? Es gab schon so viele Reformen, die nicht in die
Praxis umgesetzt wurden. Wie kommen Sie zu der Hoff-
nung, dass sich jetzt etwas ändern wird, dass es jetzt zu
einer fundamentalen Veränderung in Mexiko kommt?
D
Ich habe zitiert, was vonseiten mexikanischer Vertre-
ter gesagt worden ist. Ich muss Ihnen auch sagen: Die
Einschätzung hinsichtlich der Umsetzung von Reformen
und der Umsetzung geltender Gesetze haben mir die
Menschenrechtsorganisationen keinen Deut anders ge-
schildert, als sie Ihnen offensichtlich geschildert worden
ist. Angesichts einer 98-prozentigen Straffreiheit bei an-
gezeigten Strafanzeigen darf man sich nicht zufriedenge-
ben mit beschlossenen Gesetzen oder einer Strafrechts-
reform, die in Gang gesetzt worden ist, aber nicht so
weit gekommen ist. Jetzt sind konkrete Umsetzungen er-
forderlich. Das wird auch der Maßstab sein, an dem sich
das Maßnahmenpaket des Präsidenten messen lassen
muss. Nicht allein das, was auf dem Papier steht, son-
dern die Umsetzung ist das Entscheidende.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6841
(C)
(B)
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben die Möglichkeit ei-
ner zweiten Nachfrage.
Danke schön. – Ich möchte noch auf das Sicherheits-
abkommen zu sprechen kommen, das Sie erwähnt ha-
ben. Es gibt viele Gerüchte. Es gibt die Aussage, das Ab-
kommen sei auf Eis gelegt worden. Sie hingegen sagen,
es werde daran gearbeitet. Deshalb möchte ich noch ein-
mal nachfragen: Kann ich davon ausgehen, dass die
Bundesregierung dieses Sicherheitsabkommen in nächs-
ter Zeit abschließen möchte? Wird bei einzelnen Punk-
ten nachverhandelt? Wird zum Beispiel – wir kennen
den Text leider nicht – über eine umfassende Menschen-
rechtsklausel diskutiert? Die Menschenrechtsorganisa-
tionen fordern, dass, wenn es ein Abkommen gibt, dieses
gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen und einer
sehr breiten Beteiligung erarbeitet wird, um neue Men-
schenrechtsverletzungen, die im Rahmen einer solchen
Kooperation stattfinden könnten, weitgehend auszu-
schließen. Gibt es die Bereitschaft der Bundesregierung
dazu?
D
Frau Kollegin Hänsel, als ich in Mexiko war, habe ich
natürlich sehr lange und ausführliche Gespräche mit den
Menschenrechtsorganisationen geführt. Ich habe aber
auch mit Vertretern der Bundesregierung und der einzel-
nen Länder gesprochen. Ich habe die Menschenrechts-
organisationen gefragt, wie sie zum Gedanken eines
Sicherheitsabkommens stehen. Dazu haben sie sich
grundsätzlich bejahend geäußert. Das habe ich mit gro-
ßer Aufmerksamkeit registriert. Es wird aber sicherlich
auch darauf ankommen, was in einem solchen Sicher-
heitsabkommen niedergeschrieben wird. Deshalb ist es
für uns ganz wesentlich, zu sehen, was sich im Men-
schenrechtsbereich tut. Ich halte es für richtig, dass diese
Gedanken und Forderungen mit einfließen.
Wir sind hier in Verhandlungen. Ich habe aber nicht
von einem baldigen Abschluss gesprochen. Vielmehr
wird es entscheidend darauf ankommen, was hier mitei-
nander verhandelt wird.
Der Kollege Ströbele hat eine weitere Zusatzfrage.
Frau Kollegin Böhmer, ich bin Ihnen dankbar, dass
Sie nach der letzten Diskussion, die wir im Bundestag
darüber geführt haben, versucht haben, das in Mexiko
zur Geltung zu bringen, was hier diskutiert worden ist.
Sie wissen, dass die Debatte in der Fragestunde, die wir
hier geführt haben, in Mexiko durchaus wahrgenommen
wird. Das Video ist 100 000-mal angeklickt worden. Das
heißt, es wird durchaus wahrgenommen, wie wir in Eu-
ropa und in Deutschland darüber diskutieren.
Meine Frage ist: Haben Sie mit den Menschenrechts-
organisationen auch diskutiert und zur Kenntnis genom-
men, dass der Verdacht besteht, dass nicht nur einzelne
Bürgermeister und Behörden in das organisierte Verbre-
chen, insbesondere in die Drogenmafiageschäfte, -morde
und -straftaten, verstrickt sind, sondern auch die Staaten-
regierungen – Mexiko besteht aus vielen Bundesstaaten –
und die Zentralregierung? Gehen Sie mit mir in der Auf-
fassung konform, dass ein Sicherheitsabkommen, das
unter anderem mit der Unterstützung von Sicherheits-
kräften verbunden ist, erst dann abgeschlossen werden
kann, wenn die Korruption und die Verstrickung aufge-
klärt sind und sichergestellt ist, dass solche Leistungen
aus Deutschland dort nicht für die Kriegsführung genutzt
werden?
D
Lassen Sie mich zuerst den letzten Punkt aufgreifen.
Das Entscheidende ist, Herr Ströbele, dass Informatio-
nen und Daten – darum geht es Ihnen – nicht in falsche
Hände geraten. Das ist auch für uns ein ganz zentraler
Punkt. Daran gibt es keinen Zweifel.
Die Reaktionen, auf die ich in Mexiko traf, waren
sehr unterschiedlich. Ich fand es außerordentlich wich-
tig, ein sehr intensives und, wie gesagt, sehr langes Ge-
spräch mit den Menschenrechtsorganisationen zu führen.
Ich habe darüber hinaus nicht nur auf Bundesebene mit
dem dortigen Staatssekretär für Menschenrechte gespro-
chen, sondern auch die Gelegenheit genutzt, in zwei
Bundesstaaten Gespräche zu führen. Ich habe dabei ge-
merkt – das ist auch Ihnen bekannt –, dass die Unter-
schiede von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr groß sind.
Ich betone noch einmal: Die Aufmerksamkeit, die wir
in Deutschland der Menschenrechtssituation in Mexiko
widmen, führt, glaube ich, in der Tat auch dazu, dass
man dort jetzt anders reagiert. Aber zweifellos ist die
Tatsache, dass die Menschen in Mexiko auf die Straße
gegangen sind und das auch weiterhin tun, von entschei-
dender Bedeutung. Ich habe selbst vor Ort die Proteste
der Studenten gesehen und verfolge sie weiter. Das alles
mag auch dazu geführt haben, dass Staatssekretär
Gómez Robledo, mit dem ich in Mexiko gesprochen
habe, Ende letzter Woche in Berlin war, um persönlich
die zehn Punkte zu erläutern. Aber ich habe mich nicht
zurückgehalten; ich habe ihm gesagt: Es kommt jetzt da-
rauf an, dass umgesetzt wird, was angekündigt worden
ist.
Weitere Zusatzfragen sehe ich nicht.
Deswegen kommen wir jetzt zu Frage 34 der Kollegin
Heike Hänsel:
Wie kommt die Bundesregierung zu der Einschätzung, es
gebe für sie keine Verpflichtung aus dem CCW-Abkommen,
Protokoll V, für die Beräumung von deutscher Munition auf
Übungsgeländen der Bundeswehr in Afghanistan, eingedenk
der Tatsache, dass die Bundesregierung Unterzeichner des
Abkommens ist und sich damit seinen Zielen verpflichtet hat
Frau Staatsministerin.
6842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
(C)
(B)
D
Im Hinblick auf die Gültigkeit von Protokoll V ist
festzuhalten: Das Protokoll über explosive Kampfmittel-
rückstände des VN-Waffenübereinkommens ist in dem
von Ihnen erwähnten Fall nicht einschlägig. Afghanistan
ist keine Vertragspartei dieses Protokolls. Darüber hi-
naus gilt Protokoll V nicht für Vertragsparteien, die sich
an internationalen friedenserzwingenden Missionen mit
Mandat des VN-Sicherheitsrates beteiligen. Die Bundes-
wehr unterstützt im Rahmen von ISAF in Afghanistan
die afghanische Regierung. Diese, nicht Deutschland, ist
Partei des nicht internationalen Konflikts.
Ich halte aber fest: Deutschland hat bei der Aufgabe
des Bundeswehrtrainingsgeländes „Wadi“ bei Kunduz
die geltende Verpflichtung zu einer Oberflächenräumung
vollumfänglich erfüllt. Dies ist geschehen. Darüber hi-
naus möchte ich Ihnen mitteilen, dass unabhängig von
der Frage der rechtlichen Verpflichtung die Bundesregie-
rung entschieden hat, nun für „Wadi“ auch eine Tiefen-
beräumung in Auftrag zu geben. Das entspricht unserer
grundsätzlichen Position. Die Bundesregierung hat im
Rahmen ihrer humanitären Hilfe Afghanistan bei der
Minen- und Kampfmittelräumung sowie bei der Für-
sorge für die Opfer explosiver Kampfmittelrückstände
unterstützt, egal von wem diese verursacht wurden. Da-
für wurden im Jahr 2014 annähernd 2,5 Millionen Euro
in Afghanistan bereitgestellt.
Frau Kollegin Hänsel, Ihre erste Nachfrage, bitte.
Danke schön, Frau Staatsministerin. Ich habe inzwi-
schen auch die Information bekommen, dass die Bun-
deswehr der NATO geantwortet hat, dass sie unabhängig
von der rechtlichen Situation die Prüfung einer Tiefen-
beräumung dieses Schießübungsgeländes beabsichtigt.
Mich interessiert, wie dieser Positionswechsel zu-
stande gekommen ist bzw. wann genau die Bundesregie-
rung entschieden hat, dass diese Prüfung nun eingeleitet
wird. Wann wird die Prüfung der Tiefenberäumung ab-
geschlossen sein? Prüft die Bundesregierung – analog
dazu – das auch für andere Trainingsgelände in Afgha-
nistan?
D
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben sicherlich gehört,
was ich gesagt habe. Ich habe nicht von einer Prüfung
gesprochen, sondern davon, dass die Bundesregierung
entschieden hat, dass in „Wadi“ eine Tiefenberäumung
in Auftrag gegeben wird. Damit ist das definitiv.
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben jetzt die Möglich-
keit, eine zweite Nachfrage zu stellen.
Es geht auch um den Zugang zu Informationen, da-
rum, dass die Bundeswehr den afghanischen Behörden
Informationen über Gefechtsorte bereitstellt, damit
eventuelle Rückstände von Kampfmitteln in den entspre-
chenden Regionen geräumt werden können. In der Ant-
wort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage ha-
ben wir die generelle Antwort bekommen, dass die
Bundeswehr das an ISAF weiterleitet und dass ISAF das
dann an die afghanischen Behörden und vor allem an das
Mine Action Coordination Centre weiterleitet. Aber wir
haben die Information, dass das Centre große Schwierig-
keiten hat, umfängliche Informationen über die realen
Gefechtsregionen zu bekommen. Deshalb lautet meine
Nachfrage – wir haben das vom Wissenschaftlichen
Dienst prüfen lassen –: Es besteht eine Informations-
pflicht durch das unterzeichnete Abkommen. Es handelt
sich hier nicht um Protokoll V, sondern um Protokoll IV,
wonach die Informationspflicht gegeben ist. Wird die
Bundesregierung dieser Pflicht nachkommen und alle
Informationen über Gefechtsrückstände an die afghani-
schen Behörden direkt weiterleiten?
D
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass Ihre Fraktion eine Kleine Anfrage an das
Bundesverteidigungsministerium gerichtet hat. Diese
Frage betrifft das Bundesverteidigungsministerium. Ich
stehe hier für das Auswärtige Amt. Ich bitte Sie deshalb,
diese Frage dem Bundesverteidigungsministerium zu
stellen.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Dann danke ich
der Frau Staatsministerin; denn die Fragen 35 und 36 des
Kollegen Wolfgang Gehrcke sowie die Frage 37 des
Kollegen Andrej Hunko werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums des Innern. Hier werden die Frage 38
des Kollegen Andrej Hunko, die Fragen 39 und 40 des
Kollegen Alexander S. Neu, die Fragen 41 und 42 des
Kollegen Hubertus Zdebel, die Frage 43 der Abgeordne-
ten Luise Amtsberg und die Frage 44 des Abgeordneten
Volker Beck schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatsse-
kretär Christian Lange zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Ist die Bundesregierung im Kontakt mit dem Generalbun-
desanwalt beim Bundesgerichtshof wegen dessen angeblichen
Vorhabens, das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen
unbekannt betreffend das Abhören des Handys der Bundes-
arbeiter und Mitglieder der Bundesregierung, insbesondere
die Bundeskanzlerin nach ihrer Äußerung „Das geht gar
nicht“ und nach ih-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6843
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
soll, jedenfalls in seiner Amtszeit werde die Bundeskanzlerin
nicht mehr abgehört, zu dem Sachverhalt durch Ermittler nach
ihrem Wissen zum Tatverdacht befragt?
C
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Ströbele,
das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher-
schutz steht in regelmäßigem Kontakt mit dem General-
bundesanwalt beim Bundesgerichtshof. Die Prüfung, ob
Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung einer öf-
fentlichen Klage bieten, obliegt indes dem Generalbun-
desanwalt. Das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz nimmt auf solche Prüfungen grund-
sätzlich keinen Einfluss. Das gilt auch für das konkrete
von Ihnen genannte Ermittlungsverfahren. In diesem
Verfahren ist noch keine Entscheidung darüber getroffen
worden, ob Anklage erhoben oder das Verfahren einge-
stellt wird. An bloßen Spekulationen über einen mögli-
chen Ausgang des Ermittlungsverfahrens möchte ich
mich nicht beteiligen.
Da der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
noch keine Entscheidung darüber getroffen hat, ob die
Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung einer öf-
fentlichen Klage bieten oder ob die Ermittlungen einzu-
stellen sind, kann ich keine Auskunft darüber geben,
welche Ermittlungsschritte bereits vorgenommen wor-
den sind oder welche Ermittlungsschritte möglicher-
weise geplant sind. Dafür bitte ich um Verständnis.
Herr Kollege Ströbele, Ihre erste Zusatzfrage.
Danke, Herr Staatssekretär. Sie haben natürlich haar-
scharf an meiner Frage vorbei argumentiert. Meine
Frage geht dahin, ob Ihnen bekannt ist – das stand jeden-
falls in einem Magazin –, dass bereits eine Einstellungs-
verfügung formuliert ist und dem Generalbundesanwalt
zur Unterschrift vorliegt. Diese Einstellungsverfügung
soll darauf gestützt sein, dass sich kein Verdacht erhärtet
hat, dass das Handy der Kanzlerin abgehört worden ist.
Meine erste Frage ist daher: Ist Ihnen durch die enge
Beziehung, die Sie zu dem Generalbundesanwalt haben
– das haben Sie eben betont –, bekannt, ob eine solche
Einstellungsverfügung bereits formuliert ist und ihm
vorliegt?
C
Herr Kollege Ströbele, ich kann mich nur wiederho-
len. In diesem Verfahren ist noch keine Entscheidung da-
rüber getroffen worden, ob Anklage erhoben oder das
Verfahren eingestellt wird. Ich habe auch gesagt, dass
ich mich an bloßen Spekulationen über einen möglichen
Ausgang des Ermittlungsverfahrens nicht beteilige.
Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit einer
zweiten Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, Sie ha-
ben wieder haarscharf an der Frage vorbei argumentiert.
Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Anliegen, das
ich habe. Die Frage können Sie beantworten; ich habe
das im zweiten Teil meiner Frage angesprochen. Sind
Mitglieder oder Mitarbeiter der Bundesregierung bisher
durch Ermittlungsbehörden – Generalbundesanwalt, Bun-
desanwälte, BKA, wer auch immer – zu diesem Fall
befragt worden? Ich frage noch gar nicht, was sie geant-
wortet haben. Ist insbesondere die Frau undeskanzlerin,
die sich zu diesem Verdacht mehrfach geäußert hat und
auch mit dem US-Präsidenten telefoniert hat, schon ein-
mal von Ermittlungsbehörden befragt worden?
C
Herr Kollege Ströbele, zu einzelnen Schritten eines
noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens
nimmt die Bundesregierung keine Stellung.
Frau Kollegin Haßelmann hat die Möglichkeit, eine
weitere Nachfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt Fragen beantwor-
tet, die mein Kollege Ströbele gar nicht gestellt hat. Er
hat Sie nicht aufgefordert, darüber zu spekulieren, son-
dern er hat Sie aufgefordert, uns den Stand Ihrer Infor-
mationen zu geben. Darum bitte ich Sie jetzt noch ein-
mal.
Ansonsten würden wir das sicherlich gegenüber der
Bundesregierung insgesamt schriftlich tun. Das können
wir über den Bundestagspräsidenten selbstverständlich
veranlassen.
C
Das bleibt Ihnen unbenommen. Ich kann Ihnen nur
noch einmal sagen, dass sich die Bundesregierung an
Spekulationen über ein Verfahren, dessen Ausgang noch
nicht klar ist, nicht beteiligt, und dass wir zu einzelnen
Ermittlungsschritten des Generalbundesanwalts nicht
Stellung nehmen. Darüber hinaus liegen mir keine Er-
kenntnisse vor, die ich Ihnen hier vortragen könnte.
Weitere Nachfragen sehe ich nicht. Ich bedanke mich
bei Herrn Staatssekretär Lange. Damit verlassen wir die-
sen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Für die Beantwortung der
6844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Fragen steht Herr Staatssekretär Dr. Michael Meister zur
Verfügung.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Markus
Kurth:
Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund
eines sinkenden Rentenniveaus den Umstand, dass von den
über 35 Millionen aktiv in der Rentenversicherung Versicher-
ten nur 6,4 Millionen Personen ausreichend im Sinne des
tur, um die Inanspruchnahme der privaten Altersvorsorge zu
erhöhen?
D
Herr Präsident! Herr Kollege Kurth, die Bundesregie-
rung ist der Auffassung, dass der Aufbau einer zusätzli-
chen kapitalgedeckten Altersversorgung besonders für
junge Beschäftigte notwendig ist, wenn auch im Alter
ein lebensstandardsicherndes Einkommen zur Verfügung
stehen soll. Dafür kommen in erster Linie die betriebli-
che Altersversorgung und die Riester-Rente in Betracht.
Daneben ist der Aufbau eines Kapitalvermögens oder
die Bildung eines Immobilienvermögens möglich. Ob
und, wenn ja, welche Art der Altersvorsorge der Be-
schäftigte wählt, obliegt seiner Entscheidung.
Angesichts dessen greift der Hinweis auf die Riester-
Rente allein zu kurz. Aus dem Umstand, dass für das
Beitragsjahr 2011 6,4 Millionen Personen eine unge-
kürzte Altersvorsorgezulage erhalten haben, kann nicht
geschlossen werden, dass nur dieser Teil der Versicher-
ten ausreichend vorgesorgt hat. Vielmehr müssen auch
weitere Alterssicherungssysteme, insbesondere die be-
triebliche Altersversorgung, berücksichtigt werden.
Derzeit haben etwa 60 Prozent der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten bei ihrem aktuellen Arbeit-
geber einen Anspruch auf Betriebsrente. Aus wissen-
schaftlichen Untersuchungen ist bekannt, dass zurzeit
mehr als 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten entweder einen Anspruch auf eine Riester-
Rente oder eine Betriebsrente haben. Diese Zahlen sind
aus Sicht der Bundesregierung durchaus ermutigend.
Ungeachtet dessen beabsichtigt die Bundesregierung,
die betriebliche Altersversorgung weiter zu stärken. Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in die-
sem Zusammenhang für 2015 den Entwurf für ein Be-
triebsrentenänderungsgesetz angekündigt. Außerdem hat
der Gesetzgeber mit dem Altersvorsorge-Verbesserungs-
gesetz zum 1. Januar 2014 bereits verschiedene Verbes-
serungen im Bereich der geförderten Altersvorsorge
beschlossen, insbesondere bei der Einbeziehung der
selbstgenutzten Wohnimmobilie. Hierzu gehört auch die
Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für ein anbieter-
gruppenübergreifendes Produktinformationsblatt, mit dem
die Transparenz der begünstigten Altersvorsorgepro-
dukte verbessert wird.
Herr Kollege Kurth, Sie haben die Möglichkeit zu ei-
ner Zusatzfrage.
Zunächst vielen Dank für die umfassende Antwort. –
Sie sagen, dass die 6,4 Millionen Personen, die die volle
Förderung in Anspruch nehmen, nicht Gradmesser sein
können, weil es noch andere, etwa ungeförderte private
Altersvorsorgebemühungen der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer gibt.
Gleichwohl ist es notwendig, separat noch einmal
nach den Absicherungen durch die Riester-Rente zu fra-
gen, wie ich es in meiner Frage getan habe. Denn: An-
ders als bei der freiwilligen privaten Vorsorge über Le-
bensversicherungen oder Immobilien ist es so, dass die
staatliche Förderung der Riester-Rente gekoppelt war
mit einem Absenken des Rentenniveaus, mit der soge-
nannten Riester-Treppe. Darum die Frage: Ist die Bun-
desregierung vor dem Hintergrund der Inanspruchnahme
der vollen Förderung durch nur 6,4 Millionen Personen
von 35 Millionen aktiv in der Rentenversicherung Versi-
cherten, die allesamt vom Absenken des Rentenniveaus
betroffen sind, der Auffassung, dass dies ausreicht, um
den ursprünglich formulierten Sicherungszielen von
2001 gerecht zu werden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe in meiner
Antwort darauf hingewiesen, Herr Kollege Kurth, dass
die Zahl von 6,4 Millionen, die Sie zitieren, die Förder-
berechtigten umfasst, die die staatliche Förderung unge-
kürzt erhalten.
Ich will zunächst einmal darauf hinweisen, dass es ne-
ben den Förderberechtigten, die die staatliche Förderung
ungekürzt erhalten, auch Personen gibt, die eine Förde-
rung erhalten, die dann eben nur teilweise erfolgt. Die
Begründung, warum jemand nur anteilig eine staatliche
Förderung bekommt oder eine Riester-Rente abge-
schlossen hat, für die es keine Altersvorsorgezulage gibt,
kann sehr vielfältig sein: Ein Grund kann sein, dass zwar
die Förderberechtigung fehlt, dass aber dennoch ein
Riester-Vertrag besteht. Ein anderer Grund kann sein,
dass das Riester-Sparen seitens des Sparers bewusst al-
lein zum Zwecke der Sparanstrengung erfolgt. Das kann
zum Beispiel dazu dienen, dass man in der Ansparphase
das Zahlen der Abgeltungsteuer vermeiden will, die we-
gen der nachgelagerten Besteuerung in der Sparphase,
also im vorgelagerten Bereich, entfällt. Es kann ferner
der Fall sein, dass man mehrere Riester-Verträge bespart
und dann eben nur einer gefördert wird. Auch kann es
durchaus der Fall sein, dass wegen eines Berufswechsels
die Förderberechtigung erlischt, der Vertrag aber sehr
wohl weiter bespart wird.
Insofern kann man aus der Zahl, die Sie genannt ha-
ben, Herr Kollege Kurth, nicht auf die Anstrengungen in
der Bevölkerung schließen, über eine Riester-Rente oder
über andere Wege Vorsorge zu betreiben.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6845
(C)
(B)
Herr Kollege Kurth, haben Sie den Wunsch, noch
eine zweite Nachfrage zu stellen? Dann haben Sie die
Möglichkeit dazu. Ich darf gleichzeitig ankündigen, dass
wir damit nach unserer Geschäftsordnung die entspre-
chende Zeitdauer für die Fragestunde ausgeschöpft ha-
ben. Herr Kurth, Sie haben jetzt sozusagen die letzte Fra-
gemöglichkeit.
Das ist schön. Danke. – Herr Staatssekretär Meister,
Sie haben jetzt sozusagen die möglichen Motivlagen für
die nicht vollständige Inanspruchnahme der Förderung
aufgefächert. Dann will ich an dieser Stelle nicht ver-
schweigen, dass die Antwort der Bundesregierung auf
meine schriftlichen Fragen gezeigt hat, wer ohne Förde-
rung oder mit gekürzter Förderung spart; das sind mehr
als doppelt so viele Verträge. Über 12 Millionen werden
bespart. Das sind gegenüber, wie gesagt, 35 Millionen
aktiv Versicherten, die von der Niveauabsenkung betrof-
fen sind, immer noch weniger als die Hälfte. Wir sehen
insbesondere, dass von denjenigen, die über ein geringes
Einkommen verfügen, mehr als die Hälfte gar keine Ver-
träge haben; aber auch sie sind von der Niveauabsen-
kung betroffen. Wird die Bundesregierung vor diesem
Hintergrund – Sie haben schon angekündigt, dass Sie
das prüfen werden – Maßnahmen ergreifen, um insbe-
sondere Geringverdienerinnen und Geringverdienern die
Inanspruchnahme einer privat geförderten Altersvor-
sorge zu erleichtern?
D
Damit sich diese Zahl von 6,4 Millionen im Bewusst-
sein der Öffentlichkeit nicht festsetzt,
möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass es im Sep-
tember 2014 16 Millionen Verträge gab.
Diese Zahl von September 2014 ist die letzte mir dazu
vorliegende Zahl.
Zum Zweiten. Ich habe darauf hingewiesen, dass zum
1. Januar dieses Jahres das Altersvorsorge-Verbesse-
rungsgesetz in Kraft getreten ist und dass wir beabsichti-
gen, im Bereich der Betriebsrente im nächsten Jahr Ver-
besserungen herbeizuführen.
Wenn Sie sozusagen anteilig mit Blick auf alle Be-
schäftigten argumentieren, Herr Kollege Kurth, müssen
Sie auch die von mir vorhin genannten unterschiedlichen
Wege sehen: Neben der Riester-Rente haben wir die
Rürup-Rente, wir haben die betriebliche Altersvorsorge,
und wir haben auch das Kapitalsparen etwa über Lebens-
versicherungen, um nur ein Beispiel zu nennen. Insofern
muss man, glaube ich, das Gesamtportfolio sehen. Wir
als Bundesregierung haben das Interesse, dass breite
Kreise der Bevölkerung Altersvorsorgesparen betreiben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich sehe zwar, dass der Kollege Grund noch eine
Frage stellen möchte, aber ich habe schon darauf hinge-
wiesen, dass wir die in der Geschäftsordnung vorgese-
hene Dauer der Fragestunde schon deutlich überschritten
haben. Deshalb hoffe ich auf Ihr Einverständnis, dass
wir jetzt entsprechend der Geschäftsordnung zum Ende
der Fragestunde kommen.
Die Fragen 47 und 48 des Kollegen Klaus Ernst wer-
den schriftlich beantwortet.
Damit schließe ich diesen Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Ände-
rung der Verordnung Nr. 861/2007 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Juli 2007 zur Einführung eines europäi-
schen Verfahrens für geringfügige Forderun-
gen und der Verordnung Nr. 1896/2006
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines
Europäischen Mahnverfahrens
KOM(2013) 794 endg.; Ratsdok. 16749/13
Drucksachen 18/419 Nr. A.48, 18/2647,
18/3385, 18/3427
Es geht hier um die Einvernehmensherstellung gemäß
§ 8 Absatz 4 EUZBBG.
Eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Deshalb
kommen wir gleich zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz auf der Drucksache 18/3427. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksa-
che 18/419 Nummer A.48 und der Stellungnahme des
Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung
gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes auf
Drucksache 18/2647 sowie des Berichts der Bundesre-
gierung über die Einlegung eines Parlamentsvorbehalts
nach § 8 Absatz 4 Satz 2 EUZBBG auf Drucksache
18/3385 eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit § 8 Absatz 4
EUZBBG anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
bei einer Enthaltung der Fraktion der Linken angenom-
men.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Pläne zur künftigen Gestaltung des Solidari-
tätszuschlags
6846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Die Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde ver-
langt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Dietmar Bartsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
eine Aktuelle Stunde zum Thema der Gestaltung des So-
lidaritätszuschlags auf die Tagesordnung gesetzt. Ich
will allerdings zu Beginn sagen, dass es hier aus meiner
Sicht um ein viel grundsätzlicheres Problem geht. Es
geht um die Rolle des Bundestages und ein Stück weit
auch um die Rolle der Demokratie. Wir können ja zu
dem Thema Solidaritätszuschlag sehr unterschiedliche
Auffassungen haben.
Es ist ja auch sichtbar geworden: CDU-geführte, SPD-
geführte Länder, Grüne, Linke haben dort unterschiedli-
che Sichtweisen. Das gilt auch für das Thema „Auslau-
fen des Solidarpaktes“ oder auch für die Neuordnung des
Länderfinanzausgleichs. Sicherlich alles sehr interes-
sante Themen, die behandelt werden müssen.
Das Problem ist, dass es zu all diesen Themen im
Bundestag eine völlige Fehlanzeige gibt. Wir reden über
diese Themen überhaupt nicht.
Das wird in der Öffentlichkeit, in Talkshows beredet, das
wird von den Finanzministern beredet, das wird von A-
und von B-Ländern beredet. Dann redet der Finanz-
minister mit dem Hamburger Bürgermeister und macht
da im Kern das aus, was sein soll. Aber, meine Damen
und Herren, wir sind das gewählte Parlament. Alle diese
Themen müssen doch im Bundestag behandelt werden.
Es muss doch eine demokratische Auseinandersetzung
geben. Wir haben die Aktuelle Stunde beantragt. All
diese Themen spielen überhaupt keine Rolle. Nur wir
sind demokratisch legitimiert.
Ich appelliere einmal ausdrücklich an die Abgeordne-
ten der Großen Koalition: Sie müssen dafür sorgen, dass
wir hierzu streiten. Das kann ja kontrovers sein.
Sie haben doch eine Mehrheit. Aber wenigstens die De-
batte muss doch möglich sein.
Wir haben jetzt die Situation, dass es so aussieht, als
würde sich die Regierung ein Parlament halten, und
nichts anderes. Das ist inakzeptabel. Dafür trägt die Bun-
deskanzlerin die Verantwortung. Wir brauchen diese De-
batten.
Noch einmal: Es geht um die Zukunft. Wir wissen
alle nicht, welche Konstellationen es im Jahr 2019 gibt.
Wir müssen damit befasst werden. Also rein in das Par-
lament, rein in die Ausschüsse, Transparenz, kontroverse
Debatten und dann auch Entscheidungen zu diesem
Thema wie zu den anderen, die ja miteinander verbun-
den sind! Meine Damen und Herren allesamt, als Parla-
mentarier dürfen wir es nicht mit uns machen lassen,
dass das in Hinterzimmern ausgekungelt wird
und wir hier im Parlament nur noch abstimmen sollen.
Der Soli – um kurz etwas zur Sache zu sagen – ist im
Kern eine gigantische Kommunikationsleistung der
Bundesregierung. Schon der Titel ist irreführend. Der ist
total klug gewählt, denn Solidarität hat in Deutschland
offensichtlich einen guten Klang. Deswegen wird das
auch angenommen.
Ich will aber einmal daran erinnern, wie das denn im
Jahr 1991 war, als CDU/CSU und FDP dieses Gesetz
eingeführt haben, und zwar mit der Begründung: erstens
wegen der Mehrbelastung durch den Konflikt am Golf,
zweitens wegen der Unterstützung der Länder in Mittel-,
Ost- und Südosteuropa auf dem Weg zur Marktwirt-
schaft und drittens für Aufgaben in den neuen Ländern,
die insbesondere nach dem Zusammenbruch der frühe-
ren RGW-Absatzmärkte entstanden sind.
In der Bevölkerung gibt es das Gefühl, dass der Soli
eine Abgabe für den Aufbau in den neuen Ländern ist.
Das ist aber, wie wir alle wissen, nicht der Fall. Das ist
eine allgemeine Bundessteuer, die in den großen Topf
geht, so wie die Sektsteuer, die Tabaksteuer und andere
Steuern. Sie geht in den Bundeshaushalt, und wir Haus-
hälter beschließen dann, wie sie verwandt wird.
Alle – auch das will ich betonen – bezahlen sie, von Rü-
gen bis zum Bodensee, also selbstverständlich auch die
Menschen in den neuen Ländern. Ich sage das, weil auch
hier hin und wieder das Gerücht entsteht, dass das nicht
der Fall wäre. 14 Milliarden Euro sind das.
Jetzt haben wir die komische Situation, dass es
schlaue oder vielleicht nur einen ganz schlauen Journa-
listen gibt, der sagt: Einfach streichen, und alles ist gut. –
Jede Haushälterin und jeder Haushälter weiß, dass wir
das nicht mit einem Federstrich einfach so machen kön-
nen. Das ist ja unbestritten.
Deswegen gibt es eben auch hier einen Zusammen-
hang von auslaufendem Solidarpakt und Länderfinanz-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6847
Dr. Dietmar Bartsch
(C)
(B)
ausgleich. Das ist nur im Gesamtpaket auflösbar. Wir
brauchen insgesamt eine Neuordnung der Finanzbezie-
hungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, ein-
schließlich einer entsprechenden Aufgabenverteilung
zwischen den unterschiedlichen Ebenen.
Da gibt es eine gemeinsame Aufgabe, und wir könnten
das mit einer wirklichen Steuerreform in Deutschland
verbinden. Jetzt haben wir doch die Situation, dass es,
wenn einer das Wort „Steuern“ in den Mund nimmt,
heißt: Um Gottes willen, um Gottes willen, Steuererhö-
hung! – Dann ist alles sofort tot. Darum geht es über-
haupt nicht. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte.
Die jetzige Situation – der totale Stillstand, keine Bewe-
gung auf diesem Gebiet – ist aus meiner Sicht in jedem
Fall falsch. Wir müssen das in jedem Fall mit der Aus-
einandersetzung um die ungleiche Einkommens- und
Vermögensverteilung in Deutschland verbinden. Das
kann auch eine Auseinandersetzung im Wahlkampf des
Jahres 2017 sein. Aber wir müssen darüber streiten, und
es muss nachvollziehbar sein.
Deshalb ist unsere, meine Forderung: Wir brauchen
dringend eine Föderalismuskommission III, in der diese
Fragen behandelt werden. Sie ist dringend notwendig.
Dies muss entschieden werden, damit es eine klare Ver-
antwortlichkeit gibt und die Menschen im Lande wissen,
wer für welche Aufgabenverteilung und welche Finanz-
verteilung steht.
Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans
Michelbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte haben wir einem fragwürdigen Vorstoß
einer Gruppe von Ländern zu verdanken.
Sie will bei den Verhandlungen zur Neuordnung des
Länderfinanzausgleichs den Soli in die Einkommen-
oder Körperschaftsteuer überführen. Man will so tun, als
sei der Soli verschwunden, und trotzdem heimlich mit-
kassieren. Man konnte bei den Beteiligten förmlich die
Euro-Zeichen in den Augen leuchten sehen, nach dem
Motto: Man will fette Beute machen. Was hier passiert,
meine Damen und Herren, ist nach meiner Ansicht zu-
tiefst unehrlich. Das Auslaufen des Solidarpakts II im
Jahr 2019 liefert keine Begründung für eine Beteiligung
der Bundesländer am Soli.
Meine Damen und Herren, die Bürger sind auch nicht
so dumm. Sie haben ein gutes Gespür dafür, wie sie von
den dauerhaften Soli-Besitzstandswahrern und stetigen
Steuererhöhern mehr oder minder hinter die Fichte ge-
führt werden sollen. Da wird über marode Infrastruktur,
marode Schulen und über Kommunen im Schulden-
sumpf laut geklagt.
In Wirklichkeit geht es aber um etwas völlig anderes. Es
geht um den Unwillen oder auch die Unfähigkeit zur
Haushaltskonsolidierung.
Letzten Endes verweigert man die Schuldenbremse, die
bei uns Gesetz ist. Das ist die Wahrheit. Deshalb will
man sich möglichst schnell beim Bund ein saftiges Stück
herausschneiden, obwohl bei der Einführung des Soli
schon 7 Umsatzsteuerpunkte an die Länder übertragen
wurden.
Es dreht sich im Moment nur um ein Delta von 3 bis
4 Milliarden Euro zwischen den Umsatzsteueranteilen
und dem Aufkommen des Soli beim Bund.
Mehr noch: Mit den unter der Führung einzelner Län-
der ausgeheckten Plänen würde bei der Steuerbelastung
der Bürger sogar noch eine Schippe draufgelegt, es wäre
eine Steuererhöhung, denn der Soli als Teil des Einkom-
mensteuertarifs belastet vor allem Familien mit Kindern
im unteren und mittleren Einkommensbereich. Meine
Damen und Herren, das wollen wir nicht.
Das ist genau die Politik, die Politikverdrossenheit
wachsen lässt.
Der Soli ist im Zusammenhang mit der Finanzierung der
deutschen Einheit eingeführt worden.
Der Nachholprozess der deutschen Einheit ist gut entwi-
ckelt. Das Geld kommt in den gesamten Haushaltstopf.
Davon werden auch Rentenanteile für die neuen Bundes-
länder bezahlt. Der Solidarpakt II läuft in vier Jahren
aus. Angesichts dieser Lage dauerhaft für alle Zeiten auf
dem Soli zu verharren, hieße nach meiner Ansicht, eher
die Bürger zu betrügen. Man muss immer wieder sagen,
wofür der Soli geschaffen wurde, und vor allem, dass er
letzten Endes nicht dauerhaft bezahlt werden darf.
Einige Soli-Besitzstandswahrer versuchen deshalb
schon, die Beibehaltung der Abgabe mit der Aussicht
auf eine Bändigung der kalten Progression schmackhaft
6848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
zu machen. Der Steuerzahler soll also seine Entlastung
selbst finanzieren. Meine Damen und Herren, das halte
ich für empörend; das ist eine Verhöhnung der Bürger.
Wer auf eine solche Idee kommt, dem mangelt es ganz
offenbar am Respekt vor dem Wähler.
Der eigentliche Grund für die heutige Debatte ist:
Politisch Verantwortliche wollen die Mühen der Konso-
lidierung nicht auf sich nehmen; man will sich auf Kos-
ten des Bundes und der Steuerzahler einen schlanken
Fuß machen. So kann es nicht gehen. Deswegen: Der
schrittweise Ausstieg aus dem Soli nach 2019 ist nicht
nur eine Frage der Finanzpolitik, sondern nach meiner
Ansicht auch der politischen Glaubwürdigkeit.
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich aufhö-
ren, eine falsche Debatte zu führen. Wir müssen nicht
fragen, wofür man den Soli noch verwenden kann. Wir
müssen fragen: Wie schaffen wir es, den Soli schritt-
weise Geschichte werden zu lassen? Der Bürger hat ei-
nen Anspruch auch auf den Verzicht des Staates, insbe-
sondere dann, wenn durch Wachstum und Beschäftigung
Spielräume entstehen. Der Soli darf nicht dauerhaft die
zweite deutsche Sektsteuer werden.
Die Einnahmen von Staat und Kommunen werden in den
nächsten Jahren weiter deutlich anwachsen. Diese Spiel-
räume müssen für die Entlastung der Bürger genutzt
werden. Wir brauchen mehr Kreativität nicht beim Erfin-
den neuer Ausgabenfelder, sondern bei der Verringerung
der Steuer- und Abgabenlast der Bürger und der Unter-
nehmen. Das, meine Damen und Herren, ist wachstums-
fördernd, investitionsanreizend und beschäftigungs-
freundlich. Daraus wird eine Gelegenheit, eine Chance
auch für die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen. Es ist der richtige Weg, dass man erst einmal
versucht, Spielräume zu schaffen, bevor man in den gro-
ßen Topf des Geldes der Steuerzahler greift.
Herzlichen Dank.
Die Kollegin Lisa Paus spricht als Nächste für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schade,
dass Herr Schäuble und Herr Scholz heute nicht unter
uns sind.
Denn, Herr Michelbach, die Geschichte geht doch ein
bisschen anders, als Sie sie jetzt gerade erzählt haben. In
Wahrheit ist es so, dass wir diese Aktuelle Stunde hier
Herrn Schäuble, dem Finanzminister der Bundesrepu-
blik Deutschland, und Herrn Scholz, dem Ersten Bürger-
meister der Stadt Hamburg,
zu verdanken haben. Denn es geht um ihr Geheimpapier,
ein sogenanntes Non-Paper, ein Papier also, das es an-
geblich gar nicht gibt,
das aber im politischen Berlin alle wichtigen Leute, na-
türlich auch die Journalisten, haben. Damit wollten die
beiden Herren Verhandlungsführer der Arbeitsgruppe
„Finanzen“ für die Große Koalition die Integration des
Soli in die Einkommensteuer vorbereiten. Heute wissen
wir: Sie haben sich dabei ganz kräftig verkalkuliert.
– Genau.
Zu Recht sind die Bürgerinnen und Bürger heute in
heller Aufregung. Denn anstatt die Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen mit der gebotenen
Transparenz zu diskutieren – Herr Bartsch hat es schon
gesagt –, anstatt überfällige und notwendige Reformen
des Föderalismus auf die Tagesordnung zu setzen – zum
Beispiel die effektive Bekämpfung der Steuerhinterzie-
hung und Steuergestaltung internationaler Konzerne und
Einkommensmillionäre durch eine Spezialeinheit des
Bundes oder die Frage, wie wir die Einhaltbarkeit der
Schuldenbremse ab 2020 bei dem Altschuldenproblem,
das wir in Deutschland haben, nachhaltig sichern –,
anstatt sich um diese Themen zu kümmern, haben
Schäuble und Scholz versucht, mit ihrem Geheimpapier
Tatsachen zu schaffen
und die Bürgerinnen und Bürger und die Parlamente,
auch den Deutschen Bundestag, einfach zu überrumpeln.
Das geht nicht.
Das ist im Übrigen deshalb besonders ärgerlich,
meine Kolleginnen und Kollegen, weil damit die De-
batte um die Zukunft des Soli insgesamt schwer belastet
ist. Denn wenn man einen eigentlich zeitlich begrenzten
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6849
Lisa Paus
(C)
(B)
Zuschlag wie den Soli in eine dauerhafte Einnahme um-
wandeln will, dann braucht es dafür eben erstens einen
wirklich guten Grund und zweitens eine breite öffentli-
che Debatte über die Problemlage, damit dieses Vorha-
ben überhaupt irgendeine Chance auf gesellschaftliche
Akzeptanz hat.
Doch statt diese Debatte zu führen, haben eben ein
Bundesfinanzminister sowie ein Erster Bürgermeister
und ehemaliger Bundesarbeitsminister einen Vorschlag
gestreut, ohne die einfachsten Voraussetzungen der Um-
setzbarkeit ihres Vorschlages überprüft zu haben. Das ist
wirklich ein starkes Stück.
Am Montag kam nun endlich die Bestätigung meiner
eigenen Rechnung zu der Frage: Was passiert denn ei-
gentlich, wenn der Soli in den bisherigen Einkommen-
steuertarif überführt wird? Die Antwort von Schäubles
eigenen Beamten: über 8 Millionen Steuerfälle. Das
heißt konkret: Über 24 Millionen Menschen in unserem
Lande würden dadurch mehr belastet, vor allem Allein-
erziehende und Familien mit Kindern und mit niedrigen
und mittleren Einkommen. Aber nicht nur die: auch
kleine und mittlere Unternehmen wegen der Gewerbe-
steueranrechenbarkeit, auch die Nutzer des Steuerbonus
für Handwerksleistungen oder die von haushaltsnahen
Dienstleistungen. Selbst ALG-I-Bezieher würden zu-
sätzlich belastet, wenn der Soli einfach so in die Ein-
kommensteuer integriert würde. Das hätte man wirklich
vorher sehen können. Das geht nicht, das darf es nicht
geben, meine Damen und Herren!
Um Ihnen noch einmal zu erklären, woran das liegt:
Der Soli hat eine etwas andere Berechnungsgrundlage
als die Einkommensteuer, wie zum Beispiel die zusätzli-
che Berücksichtigung des Kinderfreibetrages, die jetzt
– geltendes Gesetz – für untere und mittlere Einkommen
entlastend wirkt. Ebenso sind die Regeln bei der Gewer-
besteueranrechnung zu nennen. Das alles würde bei der
Integration des Soli in die Einkommensteuer entfallen.
Konkret heißt das, dass eine Familie mit zwei Kindern
mit bis zu 304 Euro pro Jahr zusätzlich belastet würde.
Lange wurden unsere Fragen oder unsere Kritik mit
dem Hinweis, ja, es stimme, es gebe – 24 Millionen
Menschen sind betroffen – vereinzelte Fälle von Mehr-
belastung, aber das sei alles durch einen Abschlag von
2,5 Milliarden Euro auf das Soli-Gesamtaufkommen re-
gelbar. Die jetzt vorliegende Antwort auf unsere Kleine
Anfrage macht aber völlig klar: Selbst wenn der Ein-
kommensteuertarif so abgeflacht würde, dass der Fiskus
5 Milliarden Euro weniger Einnahmen hätte, müsste eine
Alleinerziehende mit einem Jahreseinkommen von
25 000 Euro mehr Steuern zahlen als heute, und das geht
eben nicht.
Wenn Sie das kompensieren wollen, dann müsste man
das Kindergeld um 10 Euro pro Monat erhöhen, und das
wiederum würde zu Mehrausgaben von 4 Milliarden
Euro führen. Das ist also eine Milchmädchenrechnung.
Jetzt zeigt sich: Es rächt sich der Plan der Großen Ko-
alition, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Län-
dern möglichst ohne Aufsehen in der Öffentlichkeit und
auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners neu ord-
nen zu wollen. Eine Mehrbelastung von breiten Bevöl-
kerungsschichten darf es nicht geben. Ohne eine umfas-
sende Einkommensteuerreform, die auch die oberen
Einkommen stärker heranzieht, wird eine Integration des
Soli in die Einkommensteuer nicht gehen. Deswegen
heißt es jetzt: Zurück auf Los in den Verhandlungen über
die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Herzlichen Dank.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Carsten
Sieling.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle
Stunde heute bekommt für mich einen völlig neuen An-
strich. Sie scheint ein Ort des herrschaftsfreien Ge-
sprächs zu sein. Es scheint so zu sein, dass man die De-
batten, die hier sonst geführt werden, nicht weiter
aufnehmen muss, sondern quasi frei von Erinnerung re-
det. Ich sage das in Richtung aller drei meiner Vorredne-
rinnen und Vorredner.
Kollege Bartsch, es geht nicht, dass Sie sich hier hin-
stellen und sagen, man wolle eine FöKo III, wenn man
als Linkspartei selber – zumindest über die Regierung in
Brandenburg – an den Gesprächen, die es gegeben hat,
beteiligt war. Man kann jetzt nicht einfach behaupten:
Hier muss man sich breiter aufstellen.
Liebe Lisa Paus, sicherlich ist es ausgesprochen
schwierig, den Soli in die Einkommensteuer zu integrie-
ren. Aber das wurde meines Wissens auch von grünen
Ministerpräsidenten unterstützt.
Ich bin insbesondere – Herr Kollege Brinkhaus – von
dem, was Sie, Herr Kollege Michelbach, hier vorgetra-
gen haben, erschüttert; das will ich ganz offen sagen.
Wir müssen gerade in der Koalition noch einmal festhal-
ten – das ist ein wichtiger Punkt –: Der Soli war in den
letzten Jahren ein guter und wichtiger Beitrag für die
6850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Dr. Carsten Sieling
(C)
(B)
Stabilisierung und das Zusammenwachsen unseres Lan-
des.
Lassen Sie uns nun den Blick nach vorne richten. Vor
der Bundestagswahl wurde eine Debatte von einer Partei
geführt, die heute – meines Erachtens glücklicherweise –
nicht mehr in diesem Parlament sitzt. Die FDP hat sich
damals hingestellt und gesagt: Der Soli muss weg. Im
Juli 2013 hat die Kanzlerin höchstpersönlich gesagt: Wir
brauchen für die zukünftigen Gestaltungen diesen Soli-
daritätszuschlag weiterhin. Dazu muss man als Union
stehen, auch in schwierigen Zeiten, wenn die Populisten
wieder einmal den Soli streichen wollen.
Ich sage das vor allem deshalb, weil – ich glaube, da-
rin sind wir uns alle einig – wir es uns gar nicht erlauben
können, auf die Einnahmen aus dem Solidaritätszu-
schlag – 2020 werden das an die 20 Milliarden Euro
sein – zu verzichten, jedenfalls wenn man die Finanzbe-
ziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen in
Ordnung bringen will.
– Na ja, Kollege Michelbach, man kann die ganzen Ziele
in Sachen Investitionen und Schulden nicht erreichen,
und man kann auch den Wunsch Bayerns, Hessens und
anderer Länder nach einer Reduzierung der Einzahlun-
gen in den Länderfinanzausgleich nicht erfüllen, wenn
man Geld aus dem System nimmt. Man wird dieses Geld
brauchen.
Es gibt also gute Argumente, den Soli fortzuführen.
Ich möchte auf ein Thema eingehen, das die Kollegin
Paus vorhin angesprochen hat. In der Tat wird es schwie-
rig – das ist unzweifelhaft –, den Solidaritätszuschlag in
die Einkommensteuer zu integrieren. Ich will aber da-
rauf hinweisen, dass der Bundesfinanzminister dies vor-
geschlagen hat. Diesem Vorschlag ist der Erste Bürger-
meister der Freien und Hansestadt Hamburg, Olaf
Scholz, beigetreten. Das war aber auch Thema in den
Gesprächen zwischen allen Länderfinanzministern mit
dem Bund. Das ist doch keine Angelegenheit von Herrn
Schäuble persönlich oder von Herrn Scholz persönlich.
Das hat in allen Gesprächen eine Rolle gespielt. Deshalb
kann man das hier nicht so salopp vom Tisch wischen.
Ich finde das unsolide. Das ist kein ernsthafter Umgang
mit dem Problem.
Zum Schluss möchte ich deutlich machen, dass die
Berechnungen des Bundesfinanzministeriums in der Tat
zeigen, dass die Eingliederung ganz schwierig wird.
Deshalb will ich darauf hinweisen, dass es natürlich
auch die Alternative gibt, den Soli so fortzuführen, wenn
man es vernünftig begründet und sagt, welches beson-
dere Ziel man damit verfolgt. Ich bin der festen Über-
zeugung, dass es dieses Ziel gibt. Wir wissen, dass wir
Investitionsbedarf haben, und wir wissen, dass wir die
Schuldenbelastung in vielen Bereichen reduzieren müs-
sen. Ich glaube, dass sich daraus mit Blick auf die Zu-
kunft unseres Landes eine gute Begründung herleiten
lässt.
Es ist mir ein wichtiges Anliegen – darauf möchte ich
in den letzten 15 Sekunden meiner Redezeit an dieser
Stelle hinweisen –, dass wir uns in diesem Haus gemein-
sam gegen die interessengeleitete Argumentation stellen
– ich muss es schon fast Propaganda nennen –, dass der
Soli die Leute überfordert. Der Soli ist als Ergänzungs-
abgabe so konstruiert, dass immerhin – ich nehme Zah-
len des Bundesfinanzministeriums – 11 Millionen Steu-
erzahlerinnen und Steuerzahler den Soli gar nicht zahlen
müssen. Der Soli ist eigentlich die gerechteste Form der
Abgabe, weil es sich um einen Aufschlag auf die Steuer
handelt. Er betrifft somit vor allem Gutverdienende und
höhere Einkommen. Ich finde, höhere Einkommen und
Gutverdienende können in diesem Land einen Beitrag
dazu leisten, dass wir ein solides und stabiles Gemein-
wesen bekommen.
Deshalb sind wir als Sozialdemokraten dafür, jetzt
nicht einfach alles über den Haufen zu werfen, sondern
nüchtern und sachlich an die Problemlagen heranzuge-
hen. Wir sollten keine populistischen Reden halten, son-
dern die Probleme lösen, und dazu werden wir das Auf-
kommen aus dem Soli brauchen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Olav
Gutting.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich so an die Zukunft des Solidaritätszuschlags
denke, wenn ich sie vor meinem geistigen Auge be-
trachte, dann sehe ich vor dem Bundestag 16 Geier sit-
zen.
Diese 16 Geier sind völlig unterschiedlich, aber irgend-
wie scheinen sie doch gleicher Abstammung zu sein;
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6851
Olav Gutting
(C)
(B)
denn in den 32 Augen dieser Geier blinken unentwegt
Dollar- bzw. Euro-Zeichen.
Gemeinsam ist diesen Geiern auch ein unheimlich guter
Geruchssinn.
Sie riechen Geld auf weiteste Entfernungen, und sie rie-
chen auch den Soli.
Während sich diese Geier sonst immer schwertun,
sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, scheint es hier
auf einmal ganz anders zu sein. Man würde den Soli
gerne verschwinden lassen. Natürlich soll er nicht gänz-
lich verschwinden. Er soll in den Einkommensteuertarif
integriert werden. Wenn man das macht, dann ver-
schwindet von den bis 2019 prognostizierten jährlichen
Einnahmen von ungefähr 18 Milliarden Euro plötzlich
ganz schnell die Hälfte bei den Ländern.
Das ist dann natürlich elegant gelöst. Denn die im Zu-
sammenhang mit der Einführung des Soli in den 90er-
Jahren zugestandene Erhöhung des Anteils an der Um-
satzsteuer in Höhe von 7 Prozent wollen sie natürlich zu-
sätzlich und trotzdem behalten.
Bei der ganzen Diskussion darüber, wie man den So-
lidaritätszuschlag denn nun ab 2019 am besten neu ver-
teilen könnte, vergessen meines Erachtens einige das
Entscheidende: Der Soli war bisher in der Tat eine wich-
tige und gute Einnahmequelle; das ist unbestritten. Aber
wir sprechen hier über das Geld der Bürgerinnen und
Bürger. Und die Selbstverständlichkeit, mit der vor al-
lem die rot-grünen Bundesländer ihren Anteil an der
Soli-Beute fordern,
muss einem schon zu denken geben.
Der Bürger wird hier nur noch zum Zuschauer auf ir-
gendwelchen Nebenplätzen. Er muss sich ja fast schon
als störendes Element bei der Verteilung der Beute füh-
len. So kann es nicht gehen. Es ist wirklich eine Frage
des Respekts vor unseren Bürgerinnen und Bürgern, wie
wir mit der Frage des Solidaritätszuschlags ab 2019 um-
gehen.
Wenn eine befristete Ergänzungsabgabe – und das ist
der Solidaritätszuschlag –, wie von einigen gefordert,
nun in eine dauerhafte Einnahmequelle des Staates ver-
wandelt werden soll, dann gehört es zur Ehrlichkeit in
der politischen Debatte, dies als das zu bezeichnen, was
es dann auch tatsächlich ist, nämlich als eine Steuererhö-
hung.
Wer das will, der soll es auch deutlich sagen
und nicht versuchen, durch irgendwelche Winkelzüge
das Offensichtliche zu verstecken.
Dass das Federkleid der 16 Länder so unterschiedlich
ist, hat auch seinen Grund. Es gibt zwischen den 16 Län-
dern nämlich gehörige Effizienzunterschiede. Da gibt es
welche, die seit langem unionsregiert sind, und die ha-
ben, wie Bayern oder Sachsen, einen ausgeglichenen
Haushalt.
Es gibt andere, die überhaupt kein Interesse an einer so-
liden, nachhaltigen Haushaltspolitik haben. Wozu auch?
Es gibt ja den Länderfinanzausgleich.
Da, meine Damen und Herren, gibt es sicherlich auch
Gesprächsbedarf.
Ich stelle mir gerade wieder einmal diese 16 Vögel
vor, über die ich vorhin schon gesprochen habe.
Wenn dann die Sprache auf die Neuordnung der Finan-
zen und vor allem auf den Länderfinanzausgleich
kommt, flattern auf einmal 12 dieser 16 Vögel ganz ge-
schwind davon.
Ich meine, die Zukunft des Solis können wir nicht los-
gelöst und isoliert von der Frage einer grundsätzlichen
Neuordnung der Länder- und Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen betrachten. Wir sollten die Chance nutzen, staat-
liches Handeln ökonomischer, effizienter, produktiver zu
organisieren. Gerade im Hinblick auf den Soli und des-
sen Zukunft stellt sich doch die Frage: Wollen wir ge-
stalten, oder wollen wir einfach nur fantasielos abkassie-
ren?
6852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Olav Gutting
(C)
(B)
Lassen Sie uns doch zum Beispiel mal auf die Steuer-
bescheide draufschreiben, wohin die Gelder fließen.
Lassen Sie uns draufschreiben, welche Anteile an die
Länder, an den Bund und an die Kommunen fließen. Da-
rauf basierend können wir entsprechende Konzepte ent-
wickeln. Dann – dieser festen Meinung bin ich – sollen
die Wählerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl ent-
scheiden, wem sie ihr sauer verdientes Geld anvertrauen.
Vielen Dank.
Ich darf feststellen, dass die Redezeit auf die Sekunde
präzise ausgeschöpft wurde. Das verdient Lob.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für
die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gutting, es ist schon ein Witz, wenn man auf der ei-
nen Seite sagt: „Im Zusammenhang mit dem Soli muss
man grundsätzlich über die Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen reden“, und auf der anderen Seite keine Föde-
ralismuskommission III eingesetzt wird, sondern so
gemauschelt wird wie im Augenblick und der Finanz-
minister sogar noch hofft, am nächsten Donnerstag, also
am 11. Dezember dieses Jahres, den Knoten durchschla-
gen zu können, und zwar an uns allen vorbei. Das ist das
genaue Gegenteil von grundsätzlicher Diskussion.
Wir haben erlebt, dass es hier ganz unterschiedliche
Vorstellungen gibt: Entweder will man den Soli ganz ab-
schaffen als Ausgleich für die kalte Progression oder die
Zweckbindung anders definieren oder ihn – das ist in der
Tat der Vorschlag der Ministerpräsidentinnen und Minis-
terpräsidenten der rot-grünen Länder – in die Einkom-
mensteuer integrieren.
Aus meiner Sicht muss es uns darum gehen, den Soli
zu erhalten – und das aus mindestens drei Gründen:
Erstens. Der Soli ist aus unserer Sicht steuertechnisch
durchaus sehr vernünftig, weil er – das ist hier indirekt
schon gesagt worden – insbesondere die Empfänger hö-
herer Einkommen und Kinderlose belastet. Insofern ist
das sozusagen eine relativ gerechte Abgabe. Wenn man
ihn abschaffen oder einfach umlegen würde, dann würde
das im Prinzip eine Entlastung von Reichen und eine Be-
lastung von kinderreichen Familien bedeuten. Das ist
aber aus unserer Sicht völlig inakzeptabel.
Zweitens. Wenn man ihn auf die Einkommensteuer
umlegen würde, dann würde das natürlich dazu führen
– auch das ist ein Problem –, dass die reichen Bundes-
länder logischerweise noch reicher würden und die steu-
erarmen Bundesländer keine entsprechenden Zuwächse
hätten. Die logische Konsequenz wäre, dass das Auf-
kommen im Länderfinanzausgleich noch weiter steigen
würde – Bayern müsste noch einmal 400 bis 500 Millio-
nen Euro mehr zahlen –, es trotzdem am Ende aber dazu
käme, da der Länderfinanzausgleich nur zu einer Anglei-
chung und nicht zu einem Ausgleich führt, dass Hessen
zum Beispiel 20 Prozent mehr Einnahmen pro Kopf der
Bevölkerung hätte als steuerschwache Länder. Auch das
wäre aus meiner Sicht unvernünftig.
Drittens. Ich finde – das ist aus meiner Sicht das
Wichtigste –, dieser Solidaritätszuschlag ist schon durch
Solidarität charakterisiert.
Denn das Aufkommen, das eigentlich Bund, Ländern
und Kommunen zusteht, weil es eben eine Ergänzungs-
abgabe zur Einkommensteuer, zur Kapitalertragsteuer
und zur Körperschaftsteuer ist, steht nur dem Bund zu.
Deswegen sollte es auch für strukturpolitische Aufgaben
verwendet werden. So hat man mit dem Solidaritäts-
zuschlag lange Zeit den Solidaritätspakt II mitfinanziert.
Es macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, ihn
jetzt abzuschaffen. Viel eher sollte man ihn umfunktio-
nieren. Der Soli ist ja nicht befristet eingeführt worden
– das ist völlig falsch –, sondern unbefristet. Insofern
liefe er weiter. Wenn Sie ihn abschaffen, würde das zu
einer massiven Steuersenkung für Besserverdienende
und Kinderlose führen. Das ist aus meiner Sicht über-
haupt nicht zu akzeptieren. Wir brauchen auch in Bezug
auf den Länderfinanzausgleich dringend strukturpoliti-
sche Töpfe, mit denen man arbeiten kann.
Darüber, was man dann damit macht, kann man ja
diskutieren. Carsten Sieling war ja vor ungefähr zwei
Jahren einer der Autoren, die überlegt haben, ob man mit
dem Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag nicht
auch einen Teil der Verschuldungsprobleme der hoch-
verschuldeten Bundesländer und Kommunen lösen
könnte. Wir brauchen aber auch ganz dringend – das hat
auch die Bundeskanzlerin im Wahlkampf in den Bundes-
ländern deutlich gemacht – eine Nachfolge für den Soli-
darpakt II, nämlich einen Solidarpakt III, logischerweise
nicht nur für den Osten, sondern für strukturschwache
Regionen in Ost, West, Nord und Süd.
Das ist zwingend erforderlich. Wir brauchen den Soli
also nicht nur weiterhin für bestimmte Regionen im Os-
ten und, nebenbei bemerkt, für einzelne Regionen in
Bayern, sondern natürlich auch für Nordrhein-Westfa-
len, für Bremerhaven und für viele andere Regionen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6853
Dr. Axel Troost
(C)
(B)
Deswegen bietet aus meiner Sicht der Soli die
Chance, strukturpolitische Korrekturen vorzunehmen.
Seine Abschaffung würde nur eine weitere Verstärkung
der öffentlichen Armut bedeuten und das Auseinander-
entwickeln zwischen Bundesländern und unterschiedlich
finanzstarken Kommunen nur verstärken.
Danke schön.
Johannes Kahrs ist der nächste Redner für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Helmut Kohl hat zusammen mit der FDP den
Solidaritätszuschlag unbefristet eingeführt. Der Bundes-
finanzminister Wolfgang Schäuble hat am Sonntag im
Bericht aus Berlin zwei Dinge klargestellt:
Erstens. Die Parteivorsitzende der CDU, Bundes-
kanzlerin Merkel, hat im Bundestagswahlkampf 2013
die klare Ansage gemacht, dass die Einnahmen aus dem
Solidaritätszuschlag auch nach 2019 weiter benötigt
werden.
Zweitens hat Wolfgang Schäuble festgestellt: Die
Union will an ihrem Versprechen festhalten, dass es
keine Steuererhöhungen gibt. Der Soli als unbefristete
Ergänzungsabgabe des Bundes hat damit aber nichts zu
tun.
Vor diesem Hintergrund, nach diesen Worten am
Sonntag, konnte Herr Schäuble den Vorschlag machen,
den Soli in die Gemeinschaftsteuer zu integrieren. Die-
sem Vorschlag von Herrn Schäuble sind leider die Mi-
nisterpräsidenten gefolgt; ich weiß auch nicht, warum.
Man wird im Ergebnis diskutieren müssen, ob überhaupt
und, wenn ja, wie. Es gibt da ja viele Vorschläge, wie die
Einnahmen genutzt werden könnten, etwa für einen Alt-
schuldenfonds oder andere Sachen. Ich glaube, diese
Diskussion gehört zu Recht ins Parlament. Darüber ge-
hört debattiert.
Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn zum Bei-
spiel der Bund mit den Ländern, also die Exekutiven,
miteinander reden – die Unterschiede zwischen den
16 Ländern sind ja sehr groß – und geschaut wird, ob sie
uns einen Vorschlag unterbreiten können. Das ist voll-
kommen legitim. Da über dieses Thema sowieso täglich
in der Presse berichtet wird, bekommt man mit, wie das
Ganze läuft. Wir selber im Parlament sind ja auch dabei
und begleiten diesen Prozess.
Das alles gesagt habend, zeigt, dass wir, wenn der
Vorschlag vorliegt, in der Sache darüber reden müssen,
was mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen passieren
soll. Dabei gehören ganz viele Dinge zusammen. Wir
haben innerhalb der Koalition eine gemeinsame Arbeits-
gruppe dazu, in der wir das diskutieren. Da alles ist in
Ordnung.
Ich habe an den Sitzungen dieser gemeinsamen Arbeits-
gruppe teilgenommen. Allerdings habe ich dort von Ver-
tretern der Union nie den Vorschlag gehört, den Solidari-
tätszuschlag zu streichen, obwohl die bisherigen Redner
der Union heute hier etwas ganz anderes gesagt haben.
Lassen Sie mich noch darauf eingehen, was bisher in
der Debatte gesagt worden ist. Nachdem klar war, dass
Helmut Kohl mit der FDP den Solidaritätszuschlag sinn-
vollerweise eingeführt hat, und zwar unbefristet, nach-
dem klar war, dass Herr Schäuble am Sonntag Frau
Merkel zitierte, wonach der Solidaritätszuschlag in der
Zukunft erhalten bleibt, auch nach 2019, nachdem klar
war, dass sowohl Frau Merkel als auch Herr Schäuble
das so sehen, muss man über die Frage diskutieren, ob
man a) diese Ansicht teilt, und b), wie man das umsetzt.
Vor dem Hintergrund, dass Wolfgang Schäuble am
Sonntag gesagt hat, Frau Merkel wolle den Solidaritäts-
zuschlag auch über 2019 hinaus erhalten, weise ich auf
Folgendes hin: Die zwei Redner der CDU/CSU, die,
vollkommen losgelöst von der Realität in ihrer eigenen
Partei, ihre privaten Wunschvorstellungen oder ihre
Träume zum Besten geben,
spiegeln damit weder die Haltung der Bundesregierung
noch die der Koalition noch die der CDU/CSU noch den
Inhalt des Koalitionsvertrages wider, sondern das ist die
Privatmeinung von zwei Herren, die aber weder etwas
mit der Realität noch mit den Vereinbarungen im Koali-
tionsvertrag noch etwas mit der Meinung innerhalb der
CDU/CSU zu tun hat.
Ihrer Aussage, Herr Michelbach, das sei ein fragwür-
diger Vorstoß der Länder, halte ich entgegen: Der Vor-
stoß kommt von Herrn Schäuble. Ich schlage vor, Sie
unterhalten sich darüber mit Herrn Meister, der diesen
Vorschlag von Herrn Schäuble immer und überall vertei-
digt. Das gibt bestimmt lustige Gespräche innerhalb der
Union.
Herr Gutting, bei aller Sympathie: Die Länder als
Geier zu bezeichnen
6854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Johannes Kahrs
(C)
(B)
und dann zu erklären, es säßen 16 Geier vor der Tür,
zeigt erst einmal ein sehr seltsames Staatsverständnis.
Zum anderen kann man mal die Frage diskutieren, ob
Herr Bouffier oder Herr Seehofer von Ihnen gerne als
Geier tituliert werden wollen. Schließlich kann man
auch die Ministerpräsidentin des Saarlandes fragen, de-
ren Vorstellungen noch viel weitreichender sind.
Wenn man mit diesen populistischen Vorschlägen um
die Kurve kommt, die nichts mit dem zu tun haben, was
Frau Merkel und Herr Schäuble sagen und was im Koali-
tionsvertrag steht, dann führt man damit Debatten im
Deutschen Bundestag ad absurdum. Wenn man hier
nicht bei der Wahrheit bleibt, wenn man hier seine Pri-
vatmeinung wiedergibt und nicht die Meinung der Ko-
alition und der Bundesregierung, wenn man Herrn
Schäuble und Frau Merkel so desavouiert und deren
Aussagen an die Wand klatscht, kann man leider nur sa-
gen: Das ist schade.
Die Kollegin Anja Hajduk spricht jetzt für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bishe-
rigen Debattenbeiträge der CDU/CSU hat der Kollege
Kahrs völlig zutreffend beschrieben und auch richtiger-
weise entsprechend abqualifiziert. Das muss ich einmal
ganz deutlich sagen.
Der Kollege Kahrs hat aber an einer Stelle ordentlich
geschummelt.
Dass wir heute über den Solidaritätszuschlag diskutie-
ren, hat nicht nur etwas damit zu tun, dass sich Herr
Schäuble in den vergangenen Monaten überlegt hat, dass
man ihn in die Einkommensteuer integrieren könne;
vielmehr handelt es sich um einen gemeinsamen Vor-
schlag von Finanzminister Schäuble und von Olaf
Scholz,
und zwar in dessen Rolle als Repräsentant der A-Länder
und damit der SPD. Deswegen reden wir heute darüber.
Ich muss einmal ganz deutlich sagen: Seit neun Mo-
naten wird über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen
gesprochen. Seit fünf Monaten liegen dezidierte Vor-
schläge zur Einigung zwischen Bund und Ländern auf
dem Tisch. Der Bundestag redet heute darüber, weil die
Linksfraktion eine Aktuelle Stunde angemeldet hat und
weil meine Fraktionskollegin Lisa Paus eine in der Sa-
che sehr aufklärende Anfrage gestellt hat. Diese Große
Koalition aber, diese stolzen Fraktionen des Deutschen
Bundestages, erklären sich aber für komplett unzustän-
dig.
Ich finde, das ist ein blamables Vorgehen des Deutschen
Bundestages gegenüber unserer Öffentlichkeit und ge-
genüber unserer Demokratie.
Das verantworten die CDU-Fraktion und die SPD-
Fraktion. Das verantworten Finanzminister Schäuble,
Herr Gabriel und Frau Merkel.
Sie haben dieses Hinterzimmerverfahren festgelegt. In
diesem Hinterzimmerverfahren sind sie nach neunmona-
tiger Tagung in kleiner Gruppe komplett an die Wand
gefahren.
Ich hoffe, dass Sie endlich dafür sorgen, dass das auf-
hört.
– Herr Sieling, verstecken Sie sich doch nicht hinter den
Ministerpräsidenten. Ich gehe gern auch auf Herrn
Kretschmann ein. Hören Sie jetzt einmal zu.
Dass sich die Länder auf den jetzt eingenommenen
Standpunkt stellen und danach schauen, was für sie
finanziell nachher übrig bleibt, habe ich mir gedacht.
Deswegen ist es umso richtiger und wichtiger, dass wir
uns als Bundestag nicht zurückziehen; denn bei den
Bund-Länder-Finanzbeziehungen geht es nicht nur da-
rum, wie viele Euro für jeden übrig bleiben, sondern es
geht auch darum, ob das sachgerecht ist, was wir ma-
chen, ob die Aufgabenverteilung gut ist und ob wir mit
den Bund-Länder-Finanzbeziehungen für die Zukunft
gut aufgestellt sind.
Wir haben einen Megatrend Europa und müssen ein-
mal überlegen, welche Aufgaben die Länder überhaupt
wahrnehmen müssen. Wir als Bundestag lassen uns da
aber einfach herausdrücken. Ich finde, das kann nicht
sein. Deshalb fordere ich Sie auf, hier auch auf Frak-
tionsebene tätig zu werden.
Ich möchte auch noch etwas in der Sache sagen und
nicht nur zu dieser wirklich elenden Hinterzimmerpoli-
tik, die Sie da betreiben. Wenn wir Umfragen den Soli-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6855
Anja Hajduk
(C)
(B)
daritätszuschlag betreffend trauen dürfen, sind die Bür-
gerinnen und Bürger durchaus willig, diesen neu zu
justieren; sie sind in dieser Frage aber sehr aufmerksam.
Eine Umfrage hat zu dem Ergebnis geführt, dass die
Menschen der Auffassung sind, dass es besser ist, das
Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag nicht nur in
den neuen Ländern auszugeben, sondern unabhängiger
von Himmelsrichtungen genauer nach dem Bedarf zu
schauen.
Wenn es diese Bereitschaft in der Bevölkerung gibt,
dann verdient diese Haltung aber auch, dass wir sorgfäl-
tig begründen, warum wir ihn in Zukunft weiter so auf-
rechterhalten wollen. Da kann man eben nicht einfach
sagen: Die Länder einigen sich darauf. Wir wollen ei-
gentlich nur die Mittel als Steuer vereinnahmen und uns
möglichst gar nicht rechtfertigen müssen, wofür wir
diese Mittel ausgeben. – Das geht so nicht. Das führt zu
einem Schaden beim Umgang mit der Bevölkerung, die
uns ihre Finanzen zur sorgfältigen Verausgabung anver-
traut.
Wir müssen wirklich einmal feststellen: Wenn man
den Soli in die Einkommensteuer integriert – hierzu hat
Frau Paus eine wunderbare Anfrage gestellt, und das
Finanzministerium hat aufreizend ehrlich geantwortet –,
werden über 8 Millionen Steuerzahler schlechterge-
stellt. Wenn man das mit irgendeinem anderen Mecha-
nismus kompensiert – sei es über das Kindergeld oder
über die kalte Progression –, dann wird man dabei das
Gesamtvolumen um ein Drittel schmälern müssen.
Über all diese Fragen muss man, finde ich, ausführ-
lich miteinander diskutieren, und zwar im Bundestag, in
einem Gremium, in dem man Fragerechte hat und rich-
tige Antworten bekommt, statt nur indirekt über mehr
oder weniger durchgesteckte Papiere, mit denen soge-
nannte Reformen für 20 Jahre festgeklopft werden sol-
len. Wenn der Soli einfach in die Einkommensteuer inte-
griert wird, dann ist das eine Steuermehrbelastung,
obwohl die CDU/CSU eigentlich das Kernversprechen
gegeben hat, dass sie das nicht will. Da müssen Sie also
dringend nacharbeiten.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. – Wenn man den Soli inte-
griert, dann vertieft das gleichzeitig die Kluft zwischen
finanzschwachen und finanzstarken Ländern. Das ist ge-
nau das Gegenteil des Zwecks, zu dem der Soli einge-
führt wurde.
Sie haben gar nichts erreicht, außer einen schlechten
Vorschlag zu machen. Sie sind mit Ihrem Hinterzimmer-
verfahren gegen die Wand gefahren. Sorgen Sie endlich
für eine ordentliche Beratung für die Zukunft der Bund-
Länder-Finanzbeziehungen, um diese endgültig und
nachhaltig zu sichern! Dazu fordern wir Sie auf.
Das Wort erhält nun der Kollege Matthias Hauer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute darüber, wie es mit dem Soli
weitergehen soll. Dieses Thema – das konnten wir ge-
rade schon der Debatte entnehmen – bewegt uns, aber
vor allem auch die Menschen außerhalb dieses Hauses.
Viele Vorschläge liegen seit Monaten auf dem Tisch.
Auch in der letzten Woche wurde noch einmal viel quer
durch alle Medien über das Thema diskutiert. Es freut
mich, dass die Linksfraktion die heutige Aktuelle Stunde
beantragt hat. Denn von Ihnen hat man bislang in der
Debatte am wenigsten gehört. Insofern ist es schön, dass
wir das Thema heute auf Ihre Initiative in diesem Haus
diskutieren.
CDU/CSU und SPD haben gemeinsam einen Haus-
halt ohne neue Schulden und ohne Steuererhöhungen
vorgelegt.
Wir haben gleichzeitig mehr in Bildung, Forschung und
die Kommunen investiert. Sie können uns deshalb zu-
trauen, dass wir auch für den Soli eine vernünftige Lö-
sung finden werden.
Aber zunächst einmal der Reihe nach: 1991 wurde
der Soli zunächst auf ein Jahr befristet eingeführt. 1995
wurde er ohne Befristung wieder eingeführt, 1998 auf
5,5 Prozent abgesenkt. Ziel war es, den Aufbau der ost-
deutschen Bundesländer langfristig zu sichern, aber auch
andere Bedarfsspitzen des Bundes zu bewältigen. Der
Bund hat seit der deutschen Einheit massive Anstren-
gungen unternommen, um die ostdeutschen Bundeslän-
der direkt zu fördern – das war auch richtig so –, zuletzt
mit dem Solidarpakt II. Während der Solidarpakt II im
Jahr 2019 ausläuft, ist der Solidaritätszuschlag weder
zweckgebunden noch befristet.
Für die Zeit nach 2019 stellt sich nun die Frage: Wie
geht es weiter mit dem Solidaritätszuschlag, wenn der
Solidarpakt ausläuft? Dazu gibt es verschiedene Vor-
schläge, die wir in den kommenden Monaten intensiv
beraten werden,
6856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Matthias Hauer
(C)
(B)
natürlich auch im Zusammenhang mit der gesamten
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Die rot-grünen Landesregierungen haben gefordert,
den Soli in die reguläre Einkommensteuer einzugliedern.
Dem kann ich wenig abgewinnen, und ich will Ihnen
auch gerne sagen, warum.
Der Bund hat die Länder in den letzten Jahren in Mil-
liardenhöhe finanziell massiv entlastet. Der Vorschlag
der rot-grünen Landesregierungen würde bedeuten,
dass mit 9 Milliarden Euro jährlich ein wesentlicher Teil
der Soli-Einnahmen vom Bund auf die Länder verlagert
wird.
Anstatt ihre eigenen Haushalte –
zum Beispiel gerade in Nordrhein-Westfalen – durch
konsequentes – –
Lieber Kollege Kahrs, dieser Zwischenruf ist jetzt
ganz sicher dank der Verlässlichkeit der Protokollführer
fünf- bis sechsmal im Protokoll.
Damit sollte es eigentlich reichen. Wenn der Redner sich
entschließt, darauf nicht zu reagieren, ist das seine freie
Entscheidung.
Ich denke, es wird aus der Rede deutlich. Hören Sie
zu! Sie schreien die ganze Zeit; dann können Sie mir
aber nicht zuhören. Das ist vielleicht das Grundproblem.
Also: Anstatt ihre eigenen Haushalte durch Sparen in
Ordnung zu bringen, fällt einigen Landesregierungen
leider immer nur ein, nach neuem Geld des Bundes zu
rufen.
Das ist, glaube ich, der falsche Weg.
Einige haben offensichtlich auch vergessen – der Kol-
lege Dr. Michelbach hat es gerade erwähnt –, dass 7 Um-
satzsteuerpunkte 1993 im Zuge der Föderalismusreform
an die Länder abgegeben wurden. Wo ist denn die Initia-
tive der Länder, diese Umsatzsteuerpunkte zurückzuge-
ben, wenn sie auf der anderen Seite Geld aus dem Soli
haben wollen?
Der Vorschlag der rot-grünen Landesregierungen
würde aber auch bedeuten: Soli für immer und ewig, al-
lerdings im Gewand einer höheren Einkommen-, Kör-
perschaft- und Kapitalertragsteuer. Das halte ich für
falsch; denn nur solange der Solidaritätszuschlag klar als
Ergänzungsabgabe identifizierbar bleibt, besteht künftig
eine gute Möglichkeit, ihn schrittweise abzubauen oder
sogar ganz abzuschaffen. Das sollte mittelfristig unser
Ziel sein. Bis dahin kann der Bund aber noch nicht auf
die Einnahmen aus dem Soli verzichten. Das haben wir
gesagt, im Übrigen auch vor der Bundestagswahl.
Einige Regionen unseres Landes stehen vor besonde-
ren Herausforderungen, die wir schnell angehen müssen,
zum Beispiel in meiner Heimat im Ruhrgebiet, aber auch
in anderen Orten in Ost wie West. Auch wenn es die
Aufgabe der Bundesländer ist und bleibt, für eine aus-
kömmliche Finanzausstattung ihrer Städte und Gemein-
den zu sorgen, so können ebendiese besonderen Heraus-
forderungen nur gemeinsam von Bund und Ländern
gelöst werden. Wir sollten uns fragen: Welche Städte
und Gemeinden müssen beim Wohlstand aufholen? Wel-
che Kommunen haben größere soziale Herausforderun-
gen als andere? Jetzt muss es darum gehen, die heutigen
strukturschwachen Gegenden gezielt zu unterstützen.
Wir brauchen keine Verteilung der Mittel nach dem
Gießkannenprinzip über ganz Deutschland. Wir brau-
chen konkrete Lösungen nach objektiven Kriterien für
diese besonderen Problemstellungen.
Denn Solidarität ist unabhängig von der Himmelsrich-
tung. Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Vielen Dank.
Bernhard Daldrup ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-
nauso wie andere bin auch ich in diese Debatte gegan-
gen, um darüber zu sprechen, dass es in der von der
Linken beantragten Aktuellen Stunde um den zeitlich
unbefristeten Solidaritätszuschlag, den zeitlich befriste-
ten Solidarpakt und die Frage, wie es weitergehen soll,
aber auch um die Neuordnung der Bund-Länder-Finanz-
beziehungen geht. Was ich bislang gehört habe, finde ich
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6857
Bernhard Daldrup
(C)
(B)
teilweise erschütternd. Die Forderung, darüber intensi-
ver zu diskutieren, ist richtig, Herr Bartsch.
– Richtig, im Parlament. – Wir reden aber über Regelun-
gen, die teilweise einen Zeithorizont bis 2019 bzw. 2020
haben.
– Richtig, und darüber hinaus. – Es brennt also noch
nichts an. Insofern ist Ihre Forderung okay, Herr
Bartsch.
Herr Michelbach, was ich wirklich für erschütternd
halte, ist die Art und Weise, wie Sie über dieses Thema
reden.
Sie sprechen davon, dass diejenigen, die den Solidari-
tätszuschlag aufrechterhalten wollen, die Bürger betrü-
gen. Die Bürger betrügen? Sie sagen, der Bürger habe ei-
nen Anspruch auf Verzicht des Staates.
Ich bin der Meinung, dass der Bürger in der Bundesrepu-
blik Deutschland einen Anspruch auf die Möglichkeit
zur Verwirklichung seiner Lebenschancen hat. Das ist
die Hauptaufgabe, der man sich stellen muss.
Ich muss ganz offen sagen: Die Art und Weise, Herr
Gutting, wie Sie über die Länder reden – Sie sprachen
von Geiern –, ist genauso erschütternd. Ich hatte, als
Sie Ihre Rede hielten, eine kleine Assoziation. Herbert
Wehner hat damals einen Unionsabgeordneten mit dem
Namen Wohlrabe angesichts dessen scharfer Polemik als
Übelkrähe bezeichnet. Sie sollten statt Gutting vielleicht
Bösling heißen.
Denn Ihre Art und Weise ist für mich völlig inakzepta-
bel. Herr Brinkhaus, ich bin verwundert, dass Sie als
stellvertretender Fraktionsvorsitzender angesichts unse-
res guten Umgangs in der gemeinsamen Kommission
von SPD und Union nicht protestieren. Das müssten Sie
meiner Meinung nach tun.
Das, was Sie machen, Herr Michelbach, stammt aus
der Abteilung „Söders Welt“.
Irgendwann wird Ihre Simplifizierung dem Faktencheck
unterworfen werden. Dann wird zum Schluss wahr-
scheinlich nur noch die Pressesprecherin applaudieren.
So funktioniert das jedenfalls nicht.
Es ist schon ein besonderes Kunststück, so zu tun, als
ob der Soli über Nacht gekommen wäre. Es wurde eben
gesagt: Die Kanzlerin hat 2013 erklärt, dass der Soli
nach dem Auslaufen des Solidarpakts vom Volumen her
aufrechterhalten werden soll. – Damals gab es noch Wi-
derspruch vonseiten des Finanzministers, der gesagt hat,
dass wir das in dieser Legislaturperiode regeln.
Das passiert zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Das ist im
Wahlkampf von allen Beteiligten erklärt worden. Jetzt
kann man doch nicht so tun, als ob der Finanzminister
diesen Vorschlag nicht gemacht hätte. Man kann doch
nicht so tun, als ob Herr Dr. Schäuble in den Tagesthe-
men nicht gesagt hätte: Was wir vorhaben, die Integra-
tion, ist keine Steuererhöhung.
Jetzt will ich in Ergänzung zu dem, was Frau Paus ge-
sagt hat, es vielleicht so formulieren: Es soll auch für Fa-
milien keine Steuererhöhung werden.
Es ist eine Grundüberlegung, wie man es macht. Sie wis-
sen genau, dass diese Grundüberlegung sehr differen-
ziert ausgearbeitet werden muss.
Jedenfalls ist das nicht die Zielsetzung dabei.
Es geht nicht um eine Steuererhöhung. Sie werden doch,
wenn Sie mir schon nicht glauben, Ihrem eigenen Fi-
nanzminister und Ihrer eigenen Kanzlerin glauben. Es
kann doch nicht wahr sein, dass Sie das in dieser Art und
Weise machen.
Ich will noch eines sagen: Es geht nicht nur um die
Frage des Solidaritätszuschlags, sondern es geht um das
gesamte Paket. Es geht um die Frage der Bund-Länder-
Finanzbeziehungen – das ist der zweite Punkt –, und es
geht um die Frage, wie Solidarität in diesem Land orga-
nisiert werden muss. Dazu gibt es eine ganze Reihe, wie
ich jedenfalls finde, guter Punkte, von denen ich bislang
der Meinung war, dass sie in diesem Haus Konsens sind.
– Die Debatte hat ja nicht erst gestern angefangen, auch
nicht erst in dieser Wahlperiode. Sie, Frau Hajduk, haben
es zwar laut gesagt, aber es ist deshalb noch nicht wahr.
Es ist nicht so, als ob die Debatte erst dann geführt wer-
den darf, wenn sie vorher hier geführt worden ist. Wa-
rum sollen sich Länder nicht darüber unterhalten dürfen,
ohne dass hier schon darüber debattiert worden ist? Da
läuft uns nichts weg.
6858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Bernhard Daldrup
(C)
(B)
Übrigens hat Herr Schäuble in den Tagesthemen auch
auf das Thema der kalten Progression hingewiesen und
gesagt, das sei nicht so sehr unser aktuelles Problem.
Es gibt eine Reihe Punkte, von denen ich glaube, dass
sie es wert sind, dass wir sie im Kontext der Neugestal-
tung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen unter Fortset-
zung des Solidaritätszuschlags diskutieren, und die hier
im Grunde genommen Konsens sind, und zwar angefan-
gen bei der Infrastrukturförderung über die Frage eines
gerechteren Länderfinanzausgleichs und der Hilfe nach
Bedürftigkeit bis hin zur Entlastung von Sozialabgaben.
Das Paket ist groß, die Notwendigkeit ist da. Bislang
war dieser Konsens vorhanden. Ich hoffe, Sie werden
ihn nicht einseitig aufkündigen.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Feiler für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich bedanke mich zunächst einmal aus-
drücklich bei den Kollegen von der Linksfraktion für die
Beantragung dieser Aktuellen Stunde zum Solidaritäts-
zuschlag, gibt mir das doch die Gelegenheit, noch ein-
mal darauf hinzuweisen, wohin 40 Jahre Sozialismus
und Planwirtschaft geführt haben, sodass der Bund über-
haupt zum Mittel des Solidaritätszuschlags greifen
musste.
Bei der ganzen Debatte, die wir in diesen Tagen erle-
ben, sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, mit
welch beispiellosem Kraftakt alle Menschen hier in
Deutschland dazu beigetragen haben, die Folgen der Tei-
lung insbesondere im Bereich der Infrastruktur, der so-
zialen Sicherungssysteme, der Umweltbelastung sowie
des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs zu mildern.
Gerade als Abgeordneter aus Brandenburg, der seinen
Wahlkreis unmittelbar vor den Toren Berlins hat, kann
ich mich noch deutlich daran erinnern, wie es war, als
ich mit dem Auto die desolate Bundesstraße 5 entlang
nach Nauen fuhr, wie es war, als ich mit dem Zug, gezo-
gen von einer Diesellokomotive, Richtung Stendal fah-
ren musste, weil die Bahnlinie nur eingleisig befahrbar
und nicht elektrifiziert war. Wenn ich abends in Rathe-
now bei einer Wetterlage wie dieser einkaufen ging,
konnte man aufgrund des Braunkohlegeruchs und der
Autoabgase kaum frei und tief atmen. All dies ist Ge-
schichte. Darüber können wir zufrieden sein. Der Solida-
ritätspakt und der Solidaritätszuschlag waren und sind
ein Erfolgsmodell für die ostdeutschen Länder.
Zu meinem Anspruch als Brandenburger gehört es al-
lerdings auch, dass wir bei allen Unterschieden, die wir
zwischen Ost und West gerade im wirtschaftlichen Be-
reich jetzt noch haben, ab 2019 nicht mehr nach Him-
melsrichtungen, sondern nach Bedarf fördern sollten.
Als Finanzpolitiker verfolge ich genauso wie Sie die ak-
tuelle Debatte und bin erstaunt, mit welcher Intensität
sich die rot-grünen Ministerpräsidenten um die Einnah-
men des Bundes aus der Erhebung des Solidaritätszu-
schlages sorgen.
Ich muss aber auch gestehen, dass ich aus dem Stau-
nen kaum noch herauskomme, wenn ich sehe, in welcher
Geschwindigkeit sich Ministerpräsidenten der Länder
zulasten Dritter Einnahmen bemächtigen wollen, die ih-
nen gar nicht zustehen.
Ich habe letztlich sogar ein wenig Verständnis dafür.
Aber wir tragen als Politiker auf kommunaler Ebene, auf
Länderebene und auf Bundesebene eine gesamtstaatliche
Verantwortung, der wir auch entsprechend nachkommen
müssen.
Einige Ministerpräsidenten scheinen zu übersehen,
dass die Länder bei der Einführung des Solidaritätszu-
schlags dauerhaft 7 Prozentpunkte der Umsatzsteuer er-
halten haben. Man kann es gar nicht oft genug wiederho-
len – Wiederholen scheint als Lehrmittel durchaus
geeignet zu sein –, dass diese 7 Prozentpunkte als Aus-
gleich für den Solidaritätszuschlag abgegeben wurden.
Noch einmal in Zahlen ausgedrückt: 2019 umfasst der
Soli wahrscheinlich 18 Milliarden Euro. Der Umsatz-
steueranteil liegt dann bei 14 Milliarden Euro. Wenn wir
uns also über den Soli unterhalten, dann sollte es besten-
falls um den Differenzbetrag, 4 Milliarden Euro, und
nicht um einen einzigen Cent mehr gehen.
Der Solidaritätszuschlag nimmt im deutschen Steuer-
recht gemeinsam mit der Kirchensteuer als Annexsteuer
eine Sonderstellung ein. Durch die Kopplung an die fest-
zusetzende Einkommensteuer, die Berücksichtigung von
Kindern in allen Festsetzungsfällen und die Freigrenze
von 972 Euro wird deutlich, dass eine Einbeziehung in
den Einkommensteuertarif, verbunden mit der Zusage
einer exakt gleichen Gesamtsteuerbelastung, schwer dar-
stellbar sein dürfte. Ich habe allerdings großes Verständ-
nis dafür, dass die Akzeptanz dieses Zuschlags zur Ein-
kommensteuer mit jedem Jahr weiter abnimmt. Deshalb
ist es sinnvoll, die weitere Diskussion in die anstehende
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen bzw.
der Länder-Länder-Finanzbeziehungen einzubetten, an-
statt jetzt durch irgendwelche Schnellschüsse zu glän-
zen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014 6859
Uwe Feiler
(C)
(B)
Noch einmal zum Thema Hinterzimmerpolitik. Ich
führe Gespräche mit meinen Länderkollegen in Bran-
denburg. Nun sitzen wir in Brandenburg nicht in der
Landesregierung;
aber ich glaube, dass meine Fraktionskollegen das in den
jeweiligen Ländern genauso machen. Wir diskutieren
miteinander darüber.
Das sollten Sie von den Grünen, Sie von den Linken und
auch Sie von der SPD gerne ebenfalls machen.
In diesem Sinne, lassen Sie uns gemeinsam die De-
batte führen, wenn die ersten Ergebnisse aus den Ver-
handlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen
hier vorliegen und wir konkrete und belastbare Vor-
schläge haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kol-
lege André Berghegger.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als letzter
Redner in dieser Debatte wird es von mir nicht viele
neue Aspekte geben – das wird Sie nicht verwundern –;
aber ich habe vielleicht die Möglichkeit, die Diskussion
an der einen oder anderen Stelle zusammenzufassen,
vielleicht auch zusammenzuführen oder aber auch den
einen oder anderen Punkt einzusammeln.
Vor nicht ganz vier Wochen standen wir hier in Berlin
und konnten Tausende von leuchtenden Ballons bewun-
dern, die den ehemaligen Grenzverlauf markiert hatten.
Mit dem Aufsteigen dieser Ballons – ich denke, eine be-
eindruckende Kunstaktion – haben wir an die friedliche
Revolution erinnert und die Überwindung der Teilung
Deutschlands.
Natürlich habe ich persönlich nach fast 25 Jahren der
Wiedervereinigung großes Verständnis dafür, dass auch
die Frage gestellt wird: Brauchen wir denn den Soli
noch, oder können wir ihn nicht abschaffen? Vorausset-
zung für seine Abschaffung ist aber sicherlich, dass wir
überprüfen müssen: Hat der wirtschaftliche Aufholpro-
zess in den neuen Ländern Erfolg gehabt? Wie weit sind
die Infrastrukturlücken geschlossen? Wie steht es dort
um die Finanzausstattung der Kommunen?
Ich glaube, erfreulicherweise sind wir dort auf sehr
gutem Wege. Wir haben Leuchttürme in Technologie,
Wissenschaft und Forschung an international anerkann-
ten Standorten. Die Lebensqualität ist gut. Natürlich gibt
es Licht und Schatten – das gibt es aber überall –, und
natürlich könnte man fragen: Könnte es noch ein biss-
chen mehr sein? Im Laufe der Zeit haben sich die He-
rausforderungen wesentlich verändert; vielleicht sind
noch nicht alle bewältigt. Vorhin ist schon deutlich ge-
worden: Wir müssen demnächst nicht mehr nach Him-
melsrichtungen denken, sondern eher nach Bedarfen.
Wir müssen uns um strukturschwache Gebiete – da
denke ich natürlich an das Ruhrgebiet, aber auch an
ländliche Regionen in meinem Heimatbundesland, in
Niedersachsen – kümmern. Wir müssen an die Infra-
struktur denken: Straßen, Schienen, Wasserwege, Brü-
cken. Wir haben heute Morgen im Haushaltsausschuss
eine Anhörung zur LuFV II gehabt; da wurde das sicher-
lich noch einmal deutlich.
Eine solidarische Gesellschaft sollte das Ziel „Schaf-
fung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ haben.
Deswegen ist die isolierte Frage nach der zukünftigen
Gestaltung des Soli zu kurz gegriffen. Wir müssen sie in
ein Gesamtbild einbetten und schauen, welche Lösungen
wir finden.
Unser Fraktionsvorsitzender sagt immer: Politik be-
ginnt mit dem Erkennen der Realität. – Zur Realität ge-
hört sicherlich, dass wir 2020 große finanzielle Fragen
zu stemmen haben. Der Finanzausgleich ist neu zu re-
geln. Die Schuldenbremse tritt in allen Ländern in Kraft.
Der Solidarpakt II läuft aus. Wir müssen uns um das
Thema Altschulden kümmern, um Zinslasten usw. Ein
Stichwort hierbei ist der Solidaritätszuschlag.
Das Ziel muss es sein, die Handlungsfähigkeit aller
staatlichen Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden – zu
gewährleisten,
und zwar durch ordnungsgemäße Aufgabenzuweisung,
Finanzverantwortung und Finanzausstattung.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns für die umfas-
sende Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen Zeit nehmen. Die Beratungen laufen, und sie werden
in Ruhe weitergeführt. Viele Interessen sind gegeneinan-
der und untereinander abzuwägen, und es ist eine gute
Lösung zu finden.
Fest steht: Das gesamtstaatliche Steueraufkommen
beträgt derzeit 640 Milliarden Euro und 2019 760 Mil-
liarden Euro.
6860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Dezember 2014
Dr. André Berghegger
(C)
(B)
Die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag werden
sich auf 18 Milliarden Euro erhöhen. Fest steht auch,
dass dies eine bedeutende Summe für den Bund ist.
Zur Äußerung der rot-grünen Ministerpräsidenten
– jetzt müsste Johannes Kahrs hier sein –, egal wie auch
immer entstanden: Die Integration des Solidaritätszu-
schlags in den Einkommensteuertarif ist aus deren Sicht
verständlich, weil so die Einnahmen natürlich zum
Großteil auf Länder und Kommunen umverteilt werden.
Aber wir müssen doch auch beachten, dass die Finanz-
situation der Gesamtheit der Länder und der Gesamtheit
der Kommunen besser ist als die des Bundes.
All das gilt es gegeneinander abzuwägen.
Eine Frage ist vonseiten der Länder immer noch nicht
ausdrücklich beantwortet. Bei Abschluss des Solidar-
pakts II wurden 7 Umsatzsteuerpunkte beim Bund abge-
schmolzen und den Ländern zugeschrieben mit der Be-
gründung, dass die ostdeutschen Länder vollkommen in
den Länderfinanzausgleich einbezogen werden. Jetzt zu
sagen: „Wir behalten die Umsatzsteuerpunkte, und wir
verteilen die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in
der Summe um, sodass die Kommunen und Länder deut-
lich davon profitieren“, das ist aus meiner Sicht, höflich
ausgedrückt, zu einfach. Lassen Sie uns die Verhandlun-
gen in der Gesamtheit weiterführen und versuchen, ein
vernünftiges Ergebnis für alle Ebenen zu erreichen, um
eine föderale Struktur auf Augenhöhe zu erreichen, bei
der alle staatlichen Ebenen handlungsfähig sind.
Wenn Johannes Kahrs jetzt hier wäre, dann würde ich
sagen: Wir arbeiten gut zusammen. – An dieser Stelle
aber zumindest eine Anmerkung persönlicher Art: Wenn
wir eine interne Arbeitsgruppe haben, um solche kom-
plexen Fragestellungen zu besprechen, dann ist das für
mein persönliches Verständnis wirklich eine interne Ar-
beitsgruppe.
Ich hoffe – ich werde es ihm gleich im Haushaltsaus-
schuss noch persönlich sagen –, dass er das auch so
sieht. Er hat sich bestimmt nur einmal versprochen.
Ich hoffe, dass wir weiter gedeihliche Verhandlungen
führen – im Sinne einer guten Lösung für die Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen.
Ich bedanke mich für das freundliche Zuhören.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Damit sind wir zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 4. Dezember,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen für den Rest des Tages ein frohes,
ein fröhliches Schaffen und, falls dafür noch Zeit bleibt,
ein paar besinnliche Stunden.
Die Sitzung ist geschlossen.