Protokoll:
18063

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 63

  • date_rangeDatum: 6. November 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:34 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/63 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 63. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Klaus Ernst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5785 A Wahl der Abgeordneten Matthias W. Birkwald und Dr. Alexander S. Neu in das Kuratorium der Stiftung „Haus der Ge- schichte der Bundesrepublik Deutschland“ 5785 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5785 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 16 . . . . 5786 A Tagesordnungspunkt 4: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Ver- besserter automatischer Informations- austausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuer- flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5786 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abga- benordnung Drucksache 18/3018 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5786 A Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5786 B Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . 5790 A Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 5792 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5793 D Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5795 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 5797 C Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5799 B Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 5800 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5801 A Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5802 B Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5803 C Andreas Schwarz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5805 A Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5806 C Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5807 C Uwe Feiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5808 D Tagesordnungspunkt 5: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Euro- päischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung ei- nes Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Än- derung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/ EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/ 56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/ 2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) Drucksachen 18/2575, 18/2626, 18/3088 5810 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die ge- meinsame Nutzung dieser Beiträge Drucksachen 18/2576, 18/2627, 18/3088 5810 C b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2577, 18/2629, 18/3082 5810 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Fe- bruar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanis- mus Drucksachen 18/2580, 18/2628, 18/3082 5810 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Durchführungsbestimmungen zum In- strument der direkten Bankenrekapita- lisierung durch den Europäischen Sta- bilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deut- schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2669, 18/3082 . . . . . . . . . 5810 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Risiko und Haftung zusam- menführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler be- enden – Für einen einheitlichen euro- päischen Restrukturierungsmechanis- mus – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Kindler, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Par- laments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines ein- heitlichen Verfahrens für die Abwick- lung von Kreditinstituten und bestimm- ten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwick- lungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Ra- tes – KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 – hier: Stellungnahme gegen- über der Bundesregierung gemäß Arti- kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Zum Schutz der Allgemeinheit vor Ein- zelinteressen – Für eine echte Europäi- sche Bankenunion Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 . 5811 B Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 5811 B Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5813 B Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5814 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5815 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5817 A Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . 5819 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5819 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5820 A Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5821 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5823 A Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . 5823 D Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5824 C Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 5826 B Alexander Radwan (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5828 D Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Massensterben an den EU-Au- ßengrenzen beenden – Für eine offene, soli- darische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union Drucksachen 18/288, 18/2946 . . . . . . . . . . . . 5832 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 III Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5832 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 5834 A Christina Kampmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5835 B Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5837 B Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5838 C Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5839 D Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5840 C Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5842 A Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5842 C Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5843 C Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5844 C Tagesordnungspunkt 36: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen So- zialgipfel für Wachstum und Beschäfti- gung und zur Aufhebung des Beschlus- ses 2003/174/EG Drucksache 18/2953 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5846 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz- buches – Umsetzung europäischer Vor- gaben zum Sexualstrafrecht Drucksache 18/2954 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5846 A c) Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Artikel 36 der Istanbul- Konvention umsetzen – Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Ge- walt und Vergewaltigung schließen Drucksache 18/1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5846 B Tagesordnungspunkt 37: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hin- sichtlich der Einführung des euro- päischen elektronischen Mautdiens- tes Drucksachen 18/2656, 18/2988 . . . . . . 5846 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/2991. . . . . . . . . . . . . . . 5846 C b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Än- derung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Drucksachen 18/2847, 18/3072. . . . . . . . . 5846 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- frastruktur zu der Verordnung der Bundes- regierung: Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissions- schutzgesetzes (Verkehrslärmschutz- verordnung – 16. BImSchV) Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065 . 5847 A d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz: Übersicht 3 – über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht Drucksache 18/2921 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5847 A e)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 103, 104, 105, 106 und 107 zu Petitionen Drucksachen 18/2889, 18/2890, 18/2891, 18/2892 (neu), 18/2893 . . . . . . . . . . . . . . . 5847 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jugend- arbeitslosigkeit in Europa bekämpfen – Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben Drucksachen 18/1343, 18/1531 . . . . . . . . . . . 5847 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des Weltklimaberichts und dem Handlungsbedarf für mehr Klima- schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5848 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5848 A Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5849 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 5850 B Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5851 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5853 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5854 C Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5855 B Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5856 B Andreas Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5857 C Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5858 D Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 5860 A Dr. Nina Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5861 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5862 A Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Frei- zügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften Drucksachen 18/2581, 18/3004, 18/3077 . 5863 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3083 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5863 B Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5863 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 5865 A Dr. Lars Castellucci (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5866 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5867 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5869 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5869 D Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5871 B Tagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes Drucksachen 18/2592, 18/3000, 18/3073 5872 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3084. . . . . . . . . . . . . . . 5872 C b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, Luise Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- bung des Asylbewerberleistungsgeset- zes Drucksachen 18/2736, 18/3073. . . . . . . . . 5872 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Sozialrechtliche Diskriminierung been- den – Asylbewerberleistungsgesetz auf- heben Drucksachen 18/2871, 18/3073 . . . . . . . . 5872 D Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5873 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 5874 A Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5875 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 5876 B Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5877 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5878 C Matthäus Strebl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5879 C Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5880 B Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5880 D Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen Drucksache 18/2881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5882 B Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5882 B Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 5883 C Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5884 D Hiltrud Lotze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5885 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 5886 D Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5888 D Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen Drucksachen 18/2752, 18/3070. . . . . . . . . . . . 5889 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 V Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5889 D Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5890 C Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 5892 A Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5893 B Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin (Hamburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5894 C Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5895 D Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5897 A Tagesordnungspunkt 11: Bericht des Ausschusses für Verkehr und digi- tale Infrastruktur gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abge- ordneten Herbert Behrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Einführung ei- ner Pkw-Maut in Deutschland Drucksachen 18/806, 18/2989 . . . . . . . . . . . . 5898 B Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5898 C Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5899 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5900 D Sebastian Hartmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5902 A Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5903 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5904 A Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5904 D Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5905 D Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5906 D Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5907 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Na- tionen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2155 (2014) vom 27. Mai 2014 Drucksache 18/3005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5908 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5909 A Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5910 A Thomas Hitschler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5911 B Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5912 D Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 5913 C Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kündigung des bila- teralen Atomabkommens mit Brasilien Drucksachen 18/2610, 18/2907 . . . . . . . . . . . 5914 C Dr. Nina Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5914 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5915 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5916 A Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5917 B Hiltrud Lotze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5918 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Opera- tion in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Sicherheits- rates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2173 (2014) vom 27. August 2014 Drucksache 18/3006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5919 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5920 A Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5921 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 5921 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5923 A Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5924 A Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetz- lichen Rentenversicherung (Beitragssatz- gesetz 2014) Drucksache 18/3042 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5925 A VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängig- keit von Ratings Drucksachen 18/1774, 18/3066. . . . . . . . . . . . 5925 B Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen Drucksache 18/1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5925 C Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrar- statistikgesetzes Drucksachen 18/2707, 18/3064. . . . . . . . . . . . 5925 C Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Anti-Do- ping-Gesetz für den Sport vorlegen Drucksache 18/2308 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5926 A Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Drucksachen 18/2602, 18/3069. . . . . . . . . . . . 5926 A Tagesordnungspunkt 22: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zu- satzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkom- men vom 13. Dezember 1957 Drucksachen 18/2655, 18/3071. . . . . . . . . . . . 5926 B Tagesordnungspunkt 23: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarun- gen Drucksachen 18/2846, 18/3068 . . . . . . . . . 5926 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kurzzeitig Be- schäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen Drucksachen 18/2786, 18/3067 . . . . . . . . 5926 D Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mi- krozensusgesetzes 2005 und des Bevölke- rungsstatistikgesetzes Drucksachen 18/2141, 18/3078. . . . . . . . . . . . 5927 B Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerken- nung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Ver- fahren in Familiensachen und in den Angele- genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Drucksache 18/2955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5927 C Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen Drucksache 18/2956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5927 D Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Drucksache 18/3017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5928 A Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) Drucksache 18/2654 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5928 A Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5928 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 VII Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 5929 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth, Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- legung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- lungsfonds und über die gemeinsame Nut- zung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- rungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe- instrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) . . . . . . . . . 5929 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zu den Ab- stimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- legung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- lungsfonds und über die gemeinsame Nut- zung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- rungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe- instrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) . . . . . . . . . 5930 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) zu den Ab- stimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- legung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- lungsfonds und über die gemeinsame Nut- zung dieser Beiträge (Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 5931 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleis- tungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 5932 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Bei- tragssätze in der gesetzlichen Rentenversiche- rung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tagesord- nungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5932 C Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . 5932 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 5933 B VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5934 A Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . 5934 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . 5935 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5936 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . 5937 B Fritz Güntzler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5937 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . 5938 C Frank Junge (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5939 C Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5940 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5941 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings (Tagesord- nungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5942 D Matthias Hauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5942 D Andreas Schwarz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5944 A Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5945 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5946 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) . . . . 5946 D Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5946 D Johannes Steiniger (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5948 B Michaela Engelmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 5949 B Dr. André Hahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5950 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5951 C Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Agrarstatistikgesetzes (Tagesord- nungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5952 A Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5952 B Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5953 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . 5954 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . 5955 B Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5956 A Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5956 C Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5956 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5957 C Christian Flisek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5958 C Saskia Esken (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5959 A Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5959 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5960 B Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesordnungs- punkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5961 A Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 5961 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5962 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5963 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5964 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5965 A Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- barungen – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurz- zeitig Beschäftigten vollständigen Zu- gang zur Arbeitslosenversicherung ermög- lichen (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) . . . . . . 5965 D Sebastian Steineke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5965 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . 5966 D Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . 5967 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 IX Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5968 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5968 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5969 C Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Tagesord- nungspunkt 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5970 C Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5970 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . 5972 A Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 5972 D Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5974 C Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäi- sche Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die ge- genseitige Anerkennung von Schutzmaßnah- men in Zivilsachen und zur Änderung des Ge- setzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) . . . 5975 D Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . 5975 D Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5977 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5978 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5978 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5979 B Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- rung der Finanzaufsicht über Versicherungen (Tagesordnungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . . 5980 A Anja Karliczek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5980 B Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5981 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . 5982 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5983 D Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 27) . . . . . . 5984 D Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5984 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 5985 D Dr. Jens Zimmermann (SPD) . . . . . . . . . . . . 5986 C Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5988 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5989 B Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von der Bundes- regierung zu dem Europäischen Überein- kommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) (Tagesord- nungspunkt 28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5990 C Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . 5990 D Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD). . . . . . . . . . . 5991 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE). . . . . . . . . . . 5992 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5992 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5993 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5785 (A) (C) (D)(B) 63. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 Beginn: 9.02 Uhr
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    2) Anlage 18 (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5929 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 6.11.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 6.11.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 6.11.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 6.11.2014 Helfrich, Mark CDU/CSU 6.11.2014 Hellmuth, Jörg CDU/CSU 6.11.2014 Henn, Heidtrud SPD 6.11.2014 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 6.11.2014 Kühn-Mengel, Helga SPD 6.11.2014 Kunert, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 6.11.2014 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 6.11.2014 Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 6.11.2014 Pflugradt, Jeannine SPD 6.11.2014 Poß, Joachim SPD 6.11.2014 Dr. Rosemann, Martin SPD 6.11.2014 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 6.11.2014 Schön (St. Wedel), Nadine CDU/CSU 6.11.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 6.11.2014 Veit, Rüdiger SPD 6.11.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 6.11.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 6.11.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth, Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstim- mungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ 59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/ 36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/ 36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- träge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- rungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru- mente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro- päischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Mit den Regelungen zur Bankenunion wird eine Haf- tungskaskade eingeführt, die dazu führt, dass für die Schieflage von systemrelevanten Banken in erster Linie die Gesellschafter, dann die Gläubiger, der Bankenret- tungsfonds und schließlich der Sitzstaat einzustehen ha- ben. Erst im unwahrscheinlichen Fall, dass alle diese Mittel nicht reichen sollten, kommt die neue Möglich- keit einer direkten Bankenrekapitalisierung durch den ESM in Betracht. Diese Stufenfolge ist richtig, weil sie die Gefahr einer Haftung des deutschen Steuerzahlers deutlich reduziert. Auch wenn – nach den bisherigen Erfahrungen – eine direkte Bankenrekapitalisierung in der Zukunft äußerst unwahrscheinlich ist, ist kritisch zu beobachten, ob de- ren Voraussetzungen mit Blick auf die Mithaftung des deutschen Steuerzahlers im Einzelfall tatsächlich geprüft werden können. Es ist insoweit richtig und wichtig, dass der deutsche Vertreter im ESM-Gouverneursrat etwaige Entscheidungen zu einer direkten Bankenrekapitalisie- rung in jedem Einzelfall von einer Zustimmung des Deutschen Bundestages abhängig machen muss und der Deutsche Bundestag mit Blick auf das Erfordernis der Einstimmigkeit von Entscheidungen des Gouverneursra- tes damit der Sache nach ein Vetorecht hat. Anlagen 5930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Diese Zustimmung des deutschen Vertreters im Gou- verneursrat und damit auch die des Deutschen Bundesta- ges hat sich im Wesentlichen auf zwei Fragen zu bezie- hen: Zum einen ist zu prüfen, ob der Sitzstaat tatsächlich nicht mehr zu der notwendigen Bankenrekapitalisierung in der Lage ist, zum anderen, ob das zu rettende Kredit- institut tatsächlich noch sanierungsfähig ist. Während der Deutsche Bundestag hinsichtlich der ersten Frage noch zu einer eigenständigen Entscheidung in der Lage sein dürfte, ist dies bei der zweiten Frage schwieriger: Denn ihre Beurteilung kann nur in Kenntnis ausführli- cher Sanierungsfähigkeitsgutachten erfolgen. Werden diese tatsächlich dem gesamten Plenum vorgelegt, dürfte das Kreditinstitut wegen des Bekanntwerdens unterneh- mensinterner Daten gar nicht mehr zu retten sein. Wer- den sie aber aus Geheimhaltungsgründen nicht offenge- legt, läuft das Beteiligungsrecht des Deutschen Bundestages leer. Angesichts einer möglichen Gesamt- haftungssumme von 500 Milliarden Euro ist diese Frage durchaus relevant. Unsere Zustimmung zu dem Gesetz verbinden wir vor dem Hintergrund dieses Konflikts mit der Erwar- tung, dass es im Falle einer notwendigen Beteiligung des Deutschen Bundestages zu einem Ausgleich dieser ge- genläufigen Interessen kommt. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/ CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ 59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/ 36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/ 36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- träge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- rungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru- mente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro- päischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Ich stimme gegen das Gesetzespaket, mit dem die di- rekte Rekapitalisierung von Finanzinstituten aus dem ESM ermöglicht werden soll. Die vergangenen fünf Jahre Euro-Krise sollten uns alle misstrauisch machen, wenn Finanzhilfen als Ultima Ratio im Raum stehen. Stets versucht man uns weiszumachen, dass damit Risi- ken für den deutschen Steuerzahler reduziert werden, da- bei setzen wir den Steuerzahler immer größeren und qualitativ neuen Risiken aus. Wir unterlaufen mit Zahlungen an Banken, für die ei- gentlich der jeweilige Sitzstaat verantwortlich ist, auch zugleich die Maastrichtkriterien. Viele haben es viel- leicht schon vergessen und verdrängt, aber die 60-Pro- zent-Grenze Gesamtverschuldung in Relation zum Brut- toinlandsprodukt ist immer noch gültig. Zahlungen des ESM an Banken wirken sich perfiderweise nicht erhö- hend auf den Schuldenstand des Sitzlandes aus und schaffen somit zusätzliche Verschuldungsmöglichkeiten, die nach aller Erfahrung lustvoll ausgeschöpft werden. Bisher war eine Rekapitalisierung von Finanzinstitu- ten innerhalb der Euro-Zone nur indirekt möglich, das heißt, die Kredite wurden an den betroffenen Staat gege- ben, der diese dann an die jeweiligen angeschlagenen Banken weiterleitete. Banken können – zumindest in der Theorie – pleitegehen; wer würde dann die Kredite zu- rückzahlen? Banken kommen und gehen, die Staaten bleiben. Ein von mir in Auftrag gegebenes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes hat noch einmal bestä- tigt, dass im Falle der Abwicklung eines mit direkten Finanzhilfen aus dem ESM unterstützten Finanzinstituts nicht der Sitzstaat, sondern die Bank Schuldner ist. Ein Forderungsausfall des ESM wird sich damit im Rahmen der anteiligen Gläubigerbefriedigung bis hin zum Total- ausfall ergeben. Der Anteil, der nicht zurückgezahlt wird, belastet das Ergebnis des ESM und ist von den Anteilseignern gemäß ihrer Quote zu erbringen, das heißt für den deutschen Steuerzahler derzeit zu rund 27 Prozent. Nun sollen Hilfsgelder doch als „letzte Haftungs- stufe“ direkt aus dem ESM an Pleitebanken fließen. „Haftungskaskade“ ist ein schönes Wort, es ist aber nur Augenwischerei. Zunächst sollen Eigentümer und große Gläubiger der Banken haften. Diese müssen 8 Prozent der Bilanzsumme der abzuwickelnden Bank beisteuern. Für weitere 5 Prozent der Bilanzsumme soll in einer zweiten Haftungsstufe ein aus Bankenabgaben gespeis- ter Bankenfonds in Anspruch genommen werden. Dieser Fonds wird allerdings erst in acht Jahren seine Zielgröße von 55 Milliarden Euro erreichen. Wenn der Sitzstaat der angeschlagenen Bank durch Deckung einer verbleiben- den Kapitallücke überfordert erscheint, sollen dann die Instrumente der indirekten und – nun neu und noch risi- koreicher – direkten Bankenrekapitalisierung aus dem Euro-Rettungsschirm ESM in Anspruch genommen wer- den. Die direkte Zahlung an Banken soll zwar durch Beschluss des ESM-Gouverneursrates auf 60 Milliarden Euro gedeckt werden. In Zeiten der „Euro-Rettung“ seit 2010 hatten solche Wertgrenzen allerdings meist eine kurze Verfallszeit; sie dienten mehr der Erlangung der Bundestagszustimmung. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5931 (A) (C) (D)(B) In den entsprechenden Dokumenten heißt es schon: „Unbeschadet des Verfahrens zur Überprüfung des ma- ximalen Darlehensvolumens gemäß Artikel 10 Absatz 1 des Vertrags kann der Gouverneursrat beschließen, die anfänglich auf 60-Milliarden-Euro festgesetzte Ober- grenze anzupassen, sofern dies notwendig und angemes- sen ist.“ Die 60-Milliarden-Euro-Obergrenze kann also sehr schnell angepasst werden. Doch wie niedrig ist das Risiko für den Steuerzahler wirklich? Die Bilanzsumme der Banken in den Krisenländern Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Zypern und Italien beläuft sich zusammen auf 9 074 800 000 000 Euro – in Worten: über neun Billio- nen. Für 8 Prozent dieser Summe haften zukünftig die Eigentümer und große Gläubiger, für bis zu 5 Prozent der neue Bankenrettungsfonds – sogenanntes „Bail-in“ –. Das läppische Restrisiko von 87 Prozent – gleich 7,9 Billionen Euro – trägt der Steuerzahler. Dies ist na- türlich nur das theoretische Risiko. Rechnen wir das Haftungsrisiko einmal anhand der portugiesischen Großbank Banco Espirito Santo, BES, durch, die vor kurzem mithilfe von EFSF-Mitteln indi- rekt rekapitalisiert worden ist. Hätte das Instrument der direkten Kapitalisierung aus dem ESM, das wir erst be- schließen sollen, schon zur Verfügung gestanden, wären die Gelder mit Sicherheit direkt aus dem Rettungsschirm an die Bank geflossen. Die Rechnung ist ganz einfach: Die Bilanzsumme der BES beträgt 80,6 Milliarden Euro. In der ersten Haftungsrunde werden Eigentümer und pri- vate Gläubiger mit 6,448 Milliarden Euro – gleich 8 Pro- zent – beteiligt. Auf den 55-Milliarden-Euro-Fonds der Banken entfallen weitere 4,03 Milliarden Euro, gleich fünf Prozent, allerdings erst nach Auffüllung. Der Rest der Zeche von 70,122 Milliarden Euro hängt am ESM, an dem Deutschland mit 27 Prozent beteiligt ist. Im schlimmsten Fall haftet also der deutsche Steuerzahler für rund 19 Milliarden Euro einer portugiesischen Bank. Bevor nun der Einwand kommt, die BES habe nur 4,4 Milliarden Euro an EFSF-Mitteln bekommen und wäre mithilfe der neuen Haftungskaskade bereits in Runde 1 abgefangen worden, entgegne ich, dass einfach nicht mehr Geld zur Verfügung stand. Man hat den letz- ten Rest aus dem 78 Milliarden Euro schweren Pro- gramm, das im Herbst 2010 beschlossen worden war, zusammengekratzt. Ich wünsche es mir nicht, aber es be- steht zumindest die Gefahr, dass uns die „Rettung“ die- ser Bank irgendwann einmal wieder beschäftigen wird. Über welche Summen wir beim Thema Bankenret- tung sprechen, habe ich nicht nur weiter oben vorgerech- net, es gibt auch bereits Referenzfälle. So wurde für die indirekte Rekapitalisierung spanischer Banken im Sommer 2012 ein maximales ESM-Programmvolumen von bis zu 100 Milliarden Euro beschlossen. Benötigt wurden letztendlich „nur“ 41,5 Milliarden Euro. Wir se- hen aber bereits hieran, in welchen Sphären wir uns be- wegen. Der Bankenfonds von 55 Milliarden ist lächer- lich klein. Außerdem soll er erst in acht Jahren gefüllt sein. Ein Experte hat bei der öffentlichen Anhörung vor dem Finanzausschuss gesagt: „Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll.“ Da habe ich mir gedacht: Dann sind wir ja schon zu zweit. Das kann nicht funktionieren und ist wahrscheinlich auch schon intern eingepreist. Ein Banken-Bail-out soll zwar mithilfe der neuen Bankenaufsicht verhindert werden. Aber die EZB, bei der die Aufsicht verortet ist, ist selbst Teil des Spiels. Sie hat haufenweise Schrottpapiere aufgekauft und plant, dies künftig in noch größerem Maße zu tun. Wenn die EZB eine dieser Banken abwickelt, verhagelt sie sich ihre eigene Bilanz. Ich rechne eher damit, dass die Ban- ken künstlich am Leben erhalten werden – entgegen al- len Regeln des Marktes, die wir ohnehin schon lange fahrlässig außer Kraft gesetzt haben. Im Ergebnis züch- ten wir uns wie in Japan immer mehr Zombie-Banken heran. Und wenn dann doch einmal eine dieser Banken Bankrott geht, wird der betroffene Staat die Verantwor- tung auf die EZB schieben. Die Aufsicht hat versagt, also muss der ESM haften und nicht der Euro-Mitglied- staat. Irgendwann platzt hier unweigerlich die Bombe. Aus all diesen Erwägungen und noch vielen mehr stimme ich mit Nein. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/ CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ 59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/ EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- träge (Tagesordnungspunkt 5 a) Im Rahmen des Gesetzes zu einer einheitlichen euro- päischen Regelung zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten im Krisenfall – sogenanntes BRRD- Umsetzungsgesetz – wird auch die Einführung einer eu- ropäischen Bankenabgabe beschlossen, die zum Aufbau des Bankenabwicklungsfonds dient. Viele der jetzt be- schlossenen Regelungen sind zu begrüßen, so zum Bei- spiel die Einführung der Haftungskaskade mit Gläubi- gerbeteiligung und der Ansatz einer risikoabhängigen Ausgestaltung der Bankenabgabe für kleinere Banken. Deswegen stimme ich dem Gesetzentwurf zu. Zu kritisieren ist jedoch, dass die Abgabe in Deutsch- land, anders als in anderen europäischen Ländern, nicht 5932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) von der Steuer absetzbar ist. Dies stellt einen erhebli- chen Wettbewerbsnachteil und letztendlich eine Schwä- chung für die deutschen Banken dar, die sich auf dem internationalen Finanzmarkt behaupten müssen. Diese Benachteiligung kann nicht im Interesse der deutschen Kunden und Steuerzahler sein. Eine einheitliche europäi- sche Regelung ist unbedingt notwendig. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozial- gerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) Mit dem Gesetz werden die Leistungen für Asylsu- chende rechtssicher festgesetzt und endlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 eins zu eins umgesetzt. Zudem werden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, zukünftig ab Beginn ihres Aufenthalts Bil- dungs- und Teilhabeleistungen gewährt, wodurch die Möglichkeiten zur sozialen Integration verbessert wer- den. Angesichts der aktuellen Entwicklungen und Krisen, die weltweit zu der größten Zahl an Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, begrüßen wir die weiteren anstehenden Reformen. Das Gesetz ist ein ers- ter Schritt hin zu einer umfassenden Reform des AsylbLG, die die Länder und Kommunen entlastet und die Situation der Flüchtlinge verbessert. In den kommen- den Monaten werden wir die weiteren Gesetzesvorhaben in dem Bereich nutzen, um diese Ziele zu erreichen. Insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung sind Veränderungen geboten. Der heute beschlossene Nothelferanspruch ist ein erster wichtiger Schritt, um die medizinische Versorgung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern zu verbessern. Es wird damit eine medi- zinische Versorgung von Leistungsberechtigten in Eilfäl- len gewährleistet und die Erstattung der Behandlungs- kosten geregelt. Die Expertenanhörung am 3. November hat deutlich gemacht, dass die derzeitige Praxis der Gesundheitsver- sorgung darüber hinaus verbessert werden sollte. Die zu- meist angewandte Praxis der Gewährung von Kranken- scheinen nach vorherigem Antrag ist umständlich und bürokratisch. Die Modelle aus Bremen und Hamburg sind positive Beispiele, wie es besser gehen kann. Mit dem Gesetz nehmen wir Gruppen mit bestimmten Aufenthaltstiteln aus dem Asylbewerberleistungsgesetz heraus. Die Kommunen und Länder werden entlastet – um 43 Millionen Euro jährlich ab 2016, 2015 schon um 31 Millionen Euro. Die Zusicherung der Bundes- regierung im Rahmen ihrer Protokollerklärung im Bun- desrat vom 19. September, die Kommunen und Länder noch mehr zu entlasten, muss in den nächsten Monaten mit Leben gefüllt werden. Eine komplette Abschaffung des AsylbLG, wie mit den Anträgen der Grünen und Linken gefordert, lehnen wir jedoch ab. Das AsylbLG soll eine sozialrechtliche Grundversorgung während eines vorübergehenden Zeit- raums sicherstellen. Das gilt insbesondere für Asylbe- werberinnen und Asylbewerber, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist, sowie für Geduldete, deren Aufenthalt der gesetzlichen Konzeption nach als provisorisch erach- tet wird. Diesem Grundgedanken wird die Anknüpfung der Bezugsdauer von Leistungen an die Dauer des Auf- enthalts in Deutschland sowie die Reduzierung des ma- ximalen Leistungsbezugs von 48 auf 15 Monate gerecht. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinui- tät der Beitragssätze in der gesetzlichen Renten- versicherung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tages- ordnungspunkt 15) Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben uns als Koalition vorgenommen, die Rentenleistungen für die Menschen in unserem Land zu verbessern und das Rentensystem gerechter zu gestalten. Dafür haben wir das Rentenpaket geschnürt. Darin enthalten waren: Erstens: eine bessere Absicherung für Erwerbsgemin- derte. Zweitens: eine Anhebung des Rehabudgets, angepasst an die demografische Entwicklung. Drittens: eine bessere Anerkennung der Leistung der- jenigen, die durch ihre sehr lange Beitragszeit einen gro- ßen Anteil an der guten Situation der Rentenversiche- rung haben – deshalb die sogenannte abschlagsfreie Rente mit 63. Viertens haben wir mit dem Paket eine Gerechtig- keitslücke bei der Anrechnung der Kindererziehungszei- ten geschlossen. Die Leistung der Menschen, meist Müt- ter, die die Grundlage für das Funktionieren der umlagefinanzierten Rente und deren gute finanzielle Si- tuation gelegt haben, wird nun besser anerkannt. Und das hilft gerade diesen Menschen. Sie hatten besonders oft unterbrochene Erwerbsbiografien oder Teilzeitstel- len, die nicht zu einer auskömmlichen Rente führen. Die Leistungsverbesserung greift hier also an der richtigen Stelle. Ich habe Ihnen die Punkte nur noch einmal genannt, um darzustellen, wie wir die Rentenversicherung noch gerechter gemacht haben. Unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag haben wir also eingelöst. Eine zentrale Aufgabe bleibt aber, neben der Gerechtigkeit auch für die Stabilität der Rentenversicherung zu sorgen. Um diese Stabilität auf Jahre hinaus zu verbessern, haben wir im Frühjahr die eigentlich anstehende Senkung des Ren- tenbeitrags ausgesetzt – ausnahmsweise! Denn eine Aus- setzung der Rentenbeitragsanpassung sollte immer eine Ausnahme bleiben. Das Gesetz regelt das ja eigentlich, wie Sie im Antrag schön beschreiben. Und das hat einen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5933 (A) (C) (D)(B) Sinn: Denn die Füllung der Rentenkasse ist kein Zweck an sich. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen ein, damit die heutigen Rentner und Rentnerinnen Leistun- gen erhalten. Das ist der Kern des Umlageverfahrens un- seres Rentensystems. Wenn absehbar ist, dass sie zu viel einzahlen, ist eine Senkung deshalb nur logisch und rich- tig. Unter der schwarz-gelben Koalition begann der Bei- tragssatz 2011 zu sinken. Ein Prozent hat er seitdem schon gutgemacht. Wir wollen auch weiterhin die Ar- beitnehmer und Arbeitgeber in diesem Land entlasten, wenn es die finanzielle Situation zulässt. Wie es momen- tan ausschaut, trifft genau das zu. Die finanzielle Situa- tion der Rentenversicherung hat sich augenscheinlich besser entwickelt als vor einem Jahr angenommen. Das sollte uns alle in diesem Haus freuen. Daran hat natür- lich die Politik der unionsgeführten Bundesregierungen der vergangenen Jahre einen großen Anteil. Arbeits- marktpolitisch und wirtschaftlich wurden die richtigen Weichen gestellt. Aber den größten Anteil an dieser Erfolgsgeschichte haben eben die Beschäftigten und die Arbeitgeber selbst, die, die die Beiträge gezahlt haben und zahlen. Wenn ihre Löhne und der Arbeitsmarkt insgesamt sich so gut entwickeln, besteht einfach nicht mehr die Notwendig- keit, eine Anpassung nach unten zu verhindern. Im Ge- genteil: Durch eine Entlastung der Arbeitgeber können diese mehr investieren. Gerade in Zeiten, in denen die Konjunkturprognosen nicht nur nach oben schießen, ist das wichtig. Nach dem momentanen Stand der Dinge wird sich der Rentenbeitrag aber auch noch in den kommenden Jahren stabil niedrig halten lassen. Wir müssen derzeit also nicht um die Stabilität der Rentenversicherung fürchten. Wir dürfen uns vielmehr für die Leistungsträger unserer Gesellschaft freuen, wenn es zu einer Senkung des Ren- tenbeitrags kommt. Und natürlich für die Leistungsemp- fänger, die nun mehr von ihrer Rente haben. Warum sollten wir nun also ein System, das seit Jahr- zehnten ordentlich läuft, das schon viele Widrigkeiten überstanden hat, so massiv verändern, wir Sie es vor- schlagen? Wir passen die Rentenbeiträge so an, wie es im System verankert ist. Wir entlasten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn es möglich und verantwortbar ist – für die älteren ebenso wie für die jüngeren Generationen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Jahr 2014 ist für die Deutsche Rentenversicherung, für die Rentnerinnen und Rentner und für die Beitragszahle- rinnen und -zahler ein Sensationsjahr. Die Rentenver- sicherung steht so gut da wie kaum zuvor: Mit über 33,5 Milliarden Euro oder 1,82 Monatsausgaben ist die Nachhaltigkeitsrücklage erneut auf einem Höchststand. Mit dem Rentenpaket haben wir die Leistungen für die derzeitigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rent- ner erheblich verbessert. Ab dem 1. Juli 2014 profitieren rund 9,5 Millionen Frauen und Männern, die vor 1992 ihre Kinder bekommen haben, von der Erhöhung der Er- ziehungsjahre bei der Rente. Erwerbsgeminderte erhal- ten durch die Verlängerung der Zurechnungszeiten ab 1. Juli 2014 ein durchschnittliches Plus von rund 45 Euro brutto im Monat bzw. mit Abschlägen von bis zu 10,8 Prozent rund 40 Euro brutto; das sind etwa 500 Euro pro Jahr. Die Aufstockung des Rehabudgets kommt denjenigen zugute, die Rehamaßnahmen in An- spruch nehmen müssen. Und mit der Rente mit 63 Jah- ren können diejenigen, die besonders langjährig versi- chert sind, die teilweise schon mit 15 oder 16 Jahren angefangen haben zu arbeiten, eine Rente ohne Ab- schläge erhalten. Das Rentenpaket gibt also vor allem denjenigen Men- schen etwas zurück, die für unsere Gesellschaft und für die Stabilität unserer Sozialversicherungen besonders viel geleistet haben. Die langjährig geschafft haben, die Kinder erzogen haben und mit ihren Beiträgen die Allge- meinheit gestützt haben. Warum also sollten wir nun nicht auch die aktuellen Möglichkeiten ausschöpfen, damit auch die Beitragszah- lerinnen und Beitragszahler von den positiven Entwick- lungen in der Rentenversicherung profitieren? Denn sie sind es, die für die gute wirtschaftliche Lage in Deutsch- land verantwortlich sind und hart gearbeitet haben. Der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung richtet sich nach einem gesetzlich festgelegten Mecha- nismus. Jährlich wird der Beitrag zur gesetzlichen Ren- tenversicherung anhand der Einkommensentwicklung der Vorjahre neu berechnet und unter Berücksichtigung der Einnahmen und vorhandenen Reserven angepasst. Gemäß § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zur gesetzli- chen Rentenversicherung dann zu verändern, wenn die Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage ansonsten zum Jahresende entweder die untere Grenze von 0,2 Monats- ausgaben unterschreiten oder die obere Grenze von 1,5 Monatsausgaben überschreiten. Hintergrund dieser Regelung ist es, unterjährige Einnahme- und Ausgaben- schwankungen auszugleichen. Bei den Beratungen zum Rentenpaket sind wir davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Ausgaben zu stem- men sind bei einem für die kommenden Jahre stabilen Beitragssatz von 18,9 Prozent. Doch die Entwicklung der Rentenfinanzen ist trotz der Mehrausgaben positiver verlaufen, als es alle Experten vorausgesagt haben. Mit der aktuellen Schätzung zur Finanzlage der Rentenversi- cherung einschließlich der aktuellen Steuerschätzung ist es trotz der Ausgaben für das Rentenpaket möglich, den Rentenbeitrag ab dem Jahr 2015 um 0,2 Prozentpunkte herabzusetzen. Dies ist nicht zuletzt eine außerordentli- che Leistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszah- ler. Gleichzeitig kann dieser verminderte Beitragssatz von 18,7 Prozent voraussichtlich auch in den nächsten vier Jahren so bestehen bleiben. Damit ist über mehrere Jahre eine Entlastung der Beitragszahler garantiert, und die Arbeitgeber verfügen über langfristige Planungssi- cherheit. Deshalb wird – nach geltendem Recht – zum 1. Ja- nuar 2015 der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversiche- 5934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) rung infolge der gesetzlichen Vorgaben um 0,2 Prozent- punkte von 18,9 auf 18,7 Prozent gesenkt werden. Auch angesichts der Gefahren eines schwächeren Wirtschaftswachstums ist die Senkung des Rentenversi- cherungsbeitrags das richtige Signal. So können durch die Einsparungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei der Rente nachhaltig wirkende Impulse für eine wirt- schaftliche Belebung ausgehen. Und was viele vergessen: Eine Beitragssenkung hat stets auch positive Auswirkungen für die Rentnerinnen und Rentner. Denn nach der gesetzlichen Rentenformel führt eine Beitragssenkung im darauffolgenden Jahr zu einer stärkeren Anhebung der Rentenzahlungen. Wir schaffen mit dem abgesenkten Rentenversiche- rungsbeitrag eine Win-win-Situation für alle: die Bei- tragszahlerinnen und Beitragszahler, die Unternehmen und für die Rentnerinnen und Rentner selbst. Michael Gerdes (SPD): Der bisherige Debattenver- lauf hat gezeigt, dass man sehr unterschiedlich mit der erwarteten Senkung des Rentenbeitrags umgehen kann. Die Reaktionen reichen von völliger Zustimmung bis hin zur klaren Ablehnung der Senkung. Zunächst einmal muss man ganz neutral sagen: Mit der Beitragssenkung folgen wir der gesetzlichen Logik. Ich selbst tendiere zu einer Meinung, die zwischen den genannten Extremen liegt: Einerseits begrüße ich das Signal, das von der Absenkung ausgeht. Wir entlas- ten nämlich die Beitragszahler und würdigen damit die wirtschaftliche Leistung der Beschäftigen und Unterneh- men in Deutschland. Und – auch das gehört zur Rech- nung dazu – mit der Absenkung des Beitrags in 2015 fällt die Rentenanpassung im Sommer 2015 höher aus. Arbeitnehmer und Rentner werden beide etwas mehr Geld in der Tasche haben. Andererseits habe ich Verständnis für diejenigen, die die Rücklagen der Rentenversicherung erhalten wollen. Schließlich müssen wir uns auf die demografische Ent- wicklung vorbereiten. Ich hoffe, dass sich die angedachte Absenkung als moderat erweist und wir am Ende nicht durch deutliche Beitragsanstiege bestraft werden. Die Absenkung um 0,2 Prozentpunkte scheint mir kein radikaler Schritt zu sein. Grundsätzlich freue ich mich über die Tatsache, dass wir überhaupt eine Absenkung des Beitrags vornehmen können. Das heißt nämlich im Umkehrschluss: Die Lage der Rentenkasse ist momentan komfortabel. Sie ist bes- ser als erwartet. Das ist eine gute Nachricht, besonders vor dem Hintergrund der zuletzt beschlossenen Leis- tungsverbesserungen. Im Klartext: Wir können uns das Rentenpaket tatsächlich leisten. Abschlagsfreie Rente ab 63 für langjährig Beschäftigte, mehr Mütterrente, höhere Renten für Erwerbsgeminderte, mehr Geld für Reha- maßnahmen – das sind sinnvolle und überzeugende Ver- besserungen, für die unsere Ministerin Andrea Nahles mit Hochdruck gearbeitet hat. Ich wiederhole es an dieser Stelle gerne: Das Renten- paket schafft mehr Gerechtigkeit bei der Anerkennung von Lebensleistungen. Und noch besser: Es ist offen- sichtlich bezahlbar. Selbstverständlich ist die Rentenpolitik damit nicht abgeschlossen. Wir müssen weiter an den Herausforde- rungen der Zukunft arbeiten. Wir wollen, dass die ge- setzliche Rentenversicherung die tragende Säule einer armutsfesten Alterssicherung bleibt. Sie muss allerdings durch Betriebsrenten oder öffentlich geförderte private Vorsorge ergänzt werden, damit die Menschen im Alter ihren Lebensstandard halten können. Wir wollen ein Rentensystem, das weiterhin tragfähig ist. Deshalb denken wir zum Beispiel über individuelle Renteneintritte nach. Wer länger arbeiten will und kann, soll die Möglichkeit dazu haben. Es gilt: Wer nach Errei- chen der Regelaltersgrenze noch keine Rente bezieht und weiter arbeitet, erhöht den zukünftigen Rentenan- spruch. Gerade weil wir die Leistungsfähigkeit der Rente erhalten wollen, haben wir auch den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Deshalb kämpfen wir für gute, existenzsichernde Arbeit. Denn wir wissen: Eine aus- kömmliche Rente beginnt im Erwerbsleben. Die Renten- versicherung kann nur dann funktionieren, wenn der Arbeitsmarkt stabil ist und die Löhne der Menschen angemessen sind. Aktuell lassen sich die Arbeitsmarkt- zahlen als solide bezeichnen. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinwirken, dass die Beschäftigung noch besser wird und hoch bleibt. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Mit ihrem Ge- setzentwurf fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, uns auf, wie für dieses auch für das nächste Jahr die Beitragssenkung auszusetzen? Auch wenn ich selber Sympathien für eine Versteti- gung des Beitragssatzes habe: Wir haben uns in unserem Koalitionsvertrag nicht vorgenommen, die Deckelung der Nachhaltigkeitsrücklage aufzuheben. Wir hatten uns aber sehr wohl anderes im Koalitionsvertrag vorgenom- men, nämlich ein ambitioniertes Rentenpaket, das wir im ersten Halbjahr dieses Jahres umgesetzt haben. Das ist auch die Logik, der die Koalition gefolgt ist: Wir haben gerechte Leistungen definiert, die wir finan- zieren wollen, und haben daher die zu erwartenden Aus- gaben berücksichtigt und den Beitragssatz trotz gefüllter Kassen nicht gesenkt. Und das war es wert. Wir haben in diesem Jahr etwa eine Milliarde Euro für die Rente mit 63 eingesetzt, um langjährige Beitrags- zahlung zu honorieren – wer 45 Jahre gearbeitet hat, kann seit diesem Jahr abschlagsfrei mit 63 in Rente ge- hen. Das betrifft circa 240 000 Menschen in 2014, und das haben sie sich verdient! Wir setzen 3,3 Milliarden Euro für die sogenannte Mütterrente ein und sorgen so für eine bessere Anerken- nung von Kindererziehung in der Rentenversicherung. Auch wenn wir – das ist kein Geheimnis – eine Steuerfi- nanzierung noch gerechter gefunden hätten, so ist die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5935 (A) (C) (D)(B) Anerkennung der Erziehungsleistung grundsätzlich rich- tig. Denn auch das haben sich in diesem Fall vor allem die Mütter verdient. Und auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminde- rungsrente und die Anhebung des Rehadeckels führen zu einer besseren sozialen Absicherung: Wenn jemand bei- spielsweise mit 50 in die Erwerbsminderungsrente gehen muss, werden ihm zwölf Jahre anstatt wie bisher zehn Jahre hinzugerechnet. Im Durchschnitt sind das dann 41 Euro mehr im Monat – das mag manchen sehr wenig erscheinen, für die Betroffenen ist dies aber viel Geld. Seit langer Zeit, nämlich seit 2002, sind das die ersten Verbesserungen im Leistungsrecht der Rentenversiche- rung, und darauf sind wir stolz. Dann ist dieses Jahr noch etwas passiert, worüber wir uns, glaube ich, alle in diesem Haus sehr freuen. Die po- sitive Arbeitsmarktentwicklung hat zu noch höheren Rentenversicherungseinnahmen geführt. Und wir erwar- ten das auch für das nächste Jahr. Die Steuerschätzung von heute stützt die Annahme einer Absenkung um 0,2 Prozentpunkte. Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzli- ches über Beitragssenkung und Beitragserhöhungen sa- gen: Sie sind weder an und für sich gut und richtig noch an und für sich schlecht und falsch: Beitragssenkungen ent- lasten vor allem geringe Einkommen stärker als zum Beispiel Steuersenkungen. Sie senken die Lohnkosten oder eröffnen Verteilungsspielräume der Gewerkschaf- ten zugunsten der Nettoeinkommen der Arbeitsneh- merinnen und Arbeitnehmer – je nach Kräfteverhältnis der Tarifparteien. Und Sie entlasten die Kommunen und alle öffentlichen Haushalte. Dagegen können auch Sie erst mal nichts haben. Und dass wir die Beiträge letztes Jahr nicht gesenkt haben, hat deswegen so eine große und breite Akzeptanz ge- habt, weil den Beiträgen Leistungen gegenüberstanden, die die Menschen als richtig und gerecht empfunden ha- ben. Ich möchte an dieser Stelle die Umfragewerte in Erin- nerung rufen. Rente mit 63: Nach einer Umfrage von TNS Infratest liegt die Zustimmung bei den 18- bis 34-Jährigen bei 89 Prozent und damit sogar über dem Durchschnitt aller Befragten von 87 Prozent. Für die so- genannte Mütterrente sprechen sich nach einer Umfrage von INFO GmbH 78 Prozent aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, nicht nur Sie, sondern auch wir haben rentenpolitisch noch etwas auf unserer Agenda. Aber nicht nächstes Jahr. Wir haben uns noch große Ziele gesetzt – teilweise in dieser Legislatur, teilweise darüber hinaus. Manches wird auch ohne große Kosten trotzdem große Verbesse- rungen bringen und sogar perspektivisch Geld sparen. Das könnten – ohne vorgreifen zu wollen – Ergebnisse der AG „Flexible Übergänge" sein. Für anderes werden wir Geld in die Hand nehmen müssen: Dazu gehören die Angleichung des aktuellen Rentenwerts Ost auf das westdeutsche Niveau, die Be- kämpfung der Altersarmut, die Stabilisierung des Siche- rungsniveaus oder auch eine noch bessere Absicherung der Erwerbsminderung. Wenn wir diese Ziele angehen, bin ich mir sicher, dass wir auch die Akzeptanz für ange- messene Beiträge erhalten werden. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusa- gen, sondern auf sie gut vorbereitet zu sein“, wussten auch schon der alte Grieche Perikles. Das gilt insbeson- dere für die soziale Sicherheit im Alter. Wir wollen ein solidarisches Rentensystem, das hohe Akzeptanz und Vertrauen genießt. Dazu haben wir die- ses Jahr einen großen Beitrag geleistet. Und daran wer- den wir weiter mit aller Kraft arbeiten. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Schlag- zeilen in dieser Woche lauten: Die Zahl der auf Grund- sicherung im Alter Angewiesenen stieg innerhalb nur ei- nes Jahres um sage und schreibe 7,4 Prozent auf 499 000. – Die Rentenerhöhung fällt im nächsten Jahr niedriger aus. – Und drittens wurde gerade heute Nach- mittag bekannt gegeben: Bundesarbeitsministerin Nahles hält an der Senkung des Rentenbeitrages um 0,2 Prozentpunkte für 2015 fest. Frau Staatssekretärin, ich sage es Ihnen deutlich: Wenn Sie den Beitragssatz jetzt senken, handeln Sie grob fahrlässig und ignorieren die Jahr für Jahr größer werdende Welle der Altersarmut. Sie gießen gerade Öl ins Feuer! Auf dem Arbeitgebertag frohlockte vorgestern die Kanzlerin: Die Rentenkasse ist gut gefüllt, also erlassen wir euch, liebe Unternehmer, einmal ein paar Sozial- beiträge. Das ist falsch: Die Rentenkasse leert sich gerade, und zwar sehr fix. Seit der Verabschiedung des Rentenpakets im Juli ist die Nachhaltigkeitsrücklage von 34,3 Milliar- den auf 32,4 Milliarden Euro im September gesunken – in zwei Monaten knapp 2 Milliarden Euro weniger in der Rentenkasse. 2 Milliarden! In zwei Monaten! Woran liegt das? Es liegt an der Rentenanpassung vom 1. Juli. Aber vor allem liegt es daran, dass Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD, die Müt- terrente aus Rentenbeiträgen der Versicherten bezahlen und nicht aus Steuergeldern. Das ist systemwidrig, grob fahrlässig, sozial ungerecht und alles andere als nachhal- tig. Dr. Axel Reimann, der Präsident der Deutschen Ren- tenversicherung, warnt: Wenn wir so weitermachen, ist die Nachhaltigkeitsrücklage spätestens 2019 wieder leer, also auf null. Die Nachhaltigkeitsrücklage ist weder nachhaltig noch eine Rücklage, wenn sie ohne jeden Grund für die Mütterrente verballert wird. Sie müssten Steuergelder dafür verwenden. Und warum haben Sie die nicht? Weil Sie unter anderem lieber 3,5 Milliarden Euro für die staatliche Riester-Förderung verpulvern. Nachhaltig heißt doch langfristig denken, oder? Wa- rum heißt die Nachhaltigkeitsrücklage dann so, wenn 5936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) wir ständig am Beitragssatz herumschrauben? Nachhal- tig ist das nicht. Rücklage? Auch zurückgelegt wird da gar nix, wenn Sie die Nachhaltigkeitsrücklage bis 2019 wieder auf null fahren. Das ist schlecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie wollen die Versicherten kurzfristig um 0,1 Prozent- punkte entlasten. Na bravo; das sind bei durchschnittlich Verdienenden gerade einmal 2,90 Euro. Ein Cappuccino! Schön! Aber Sie denken dabei nicht an die Zukunft der Versicherten. Eine sichere Rente wollen sich die Men- schen erarbeiten und nicht 3 Euro weniger in diesem Jahr und 5 Euro mehr in fünf Jahren bezahlen. Genau deshalb fordert die Linke: erstens, den unsinni- gen Mechanismus zu streichen, der die Bundesregierung dazu zwingt, ab einer Rücklage in Höhe von 1,5 Monats- ausgaben den Beitragssatz zu senken. Zweitens fordern wir, die Mindestreserve auf eine halbe Monatsausgabe anzuheben. Die Deutsche Renten- versicherung hatte sich in der Ausschussanhörung im Februar genau für eine solche Mindestreserve von einer halben Monatsausgabe ausgesprochen. Wir müssen den Deckel oben lüften und den Boden unten anheben. Das wäre nachhaltig. Beides würde Ver- sicherten und Arbeitgebern stabile Beiträge garantieren und wilde Sprünge des Beitragssatzes vermeiden. Die Versicherten könnten planen, und wir könnten uns lang- fristig daranmachen, die Zukunftsprobleme der Rente anzupacken. Zuallererst müssen wir das Problem zu niedriger Ren- ten und das Problem der Altersarmut angehen. Dafür brauchen wir jeden Cent in der Rentenkasse. Angesichts der Herausforderungen müssen wir den Beitragssatz sta- bilisieren und moderat anheben. Das wäre nachhaltig. Das wäre vorausschauend. Und das wäre zukunftssicher. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie wollen stattdessen Versicherte in die Riester-Rente schieben oder dazu zwingen, auf Lohn zu verzichten und den in die Betriebsrenten zu stecken. Ich sage Ihnen: Wer sich das leisten kann, okay, aber auf den Arm neh- men lassen sich die Menschen nicht so leicht. Die Zinsen der Riester-Verträge sind im Keller: Christoph Rybarczyk vom Hamburger Abendblatt schrieb am Dienstag: „Gleichzeitig bleibt die gesetzliche Rente bei einer Rendite von 3,2 bis 3,8 Prozent. Das wirft ein neu abgeschlossener Riester-Vertrag nur ab, wenn man 100 Jahre alt wird.“ Kluger Mann! Deshalb: Wenn Sie aus der Finanzkrise lernen wollen, dann vergessen Sie Riester, und kümmern Sie sich um die gesetzliche Rentenversicherung. Streichen Sie end- lich die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsfor- mel, und kehren Sie wieder zu einem Rentenniveau vor Steuern von 53 Prozent zurück. Das würde in den kom- menden Jahren die Renten der Älteren stabilisieren und die Jüngeren wieder davon überzeugen, dass die gesetz- liche Rente sicher ist. Dafür brauchen wir die Rentenbei- träge, und deshalb darf der Beitragssatz nicht gesenkt werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist erfreulich, wenn sich die Finanzsituation der Rentenver- sicherung besser als erwartet entwickelt. Die gute Kon- junktur, ein hoher Beschäftigungsstand und das Ab- sinken des Rentenniveaus führten in der jüngeren Vergangenheit sowohl zu niedrigeren Beitragssätzen als auch zu einer Rekordrücklage der Rentenversicherung. Eine Beitragssatzsenkung zum jetzigen Zeitpunkt, wie von der Großen Koalition geplant, wäre trotzdem falsch. Sie mindert die Einnahmen und erhöht die Aus- gaben der Rentenkasse. Genau das können wir uns vor dem Hintergrund gewaltiger Aufgaben nicht leisten. Al- lein in dieser Wahlperiode wird das Rentenpaket rund 32 Milliarden Euro verschlingen. Der demografische Wandel und nicht zuletzt die konjunkturelle Unsicher- heit kommen hinzu. So gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinsti- tute für 2014 nur noch von einem Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent anstatt von 1,8 Prozent aus. Auch 2015 fällt die Wachstumsprognose von 2,0 auf 1,3 Prozent. Der Internationale Währungsfonds, IWF, warnt in sei- nem Weltwirtschaftsausblick vor den Abwärtsrisiken. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Oktober zum sechs- ten Mal in Folge gefallen. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht von einem merklichen Stottern des Konjunkturmotors mit einem Nullwachstum im Schlussquartal. Dies alles ist zwar noch kein Anlass zur Panik. Anlass für Vorsicht sollte es aber schon sein. Denn eine Sen- kung des Beitragssatzes im kommenden Jahr wird zu noch kräftigeren Beitragssatzerhöhungen in den Folge- jahren führen. Hinzu kommt, dass die voraussichtliche Beitragssatz- senkung nur mithilfe eines statistischen Tricks ermöglicht wird. Weil die Bundesagentur für Arbeit die Beschäftig- tenstatistik verändert hat, fallen die Rentenerhöhung und somit die Ausgaben der Rentenversicherung im kom- menden Jahr geringer aus. Ohne diesen Effekt, der dann im Jahr 2016 wie ein Bumerang auf die Ausgabenseite der Rentenkasse zurückkommt, wäre eine Senkung der Beiträge heute nicht in der Diskussion. Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Absenkung des Rentenbeitragssatzes. Zum einen ist auch langfristig mit weiter steigenden Beiträgen zu rechnen. Für diesen ab- sehbaren Beitragsanstieg sollte schon heute Vorsorge ge- troffen werden, um die Auswirkungen für die Wirtschaft und auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abzufedern. Im Sinne der Planungssicherheit der Unter- nehmen und Betriebe darf es kein „Beitrags-Jojo“ geben. Deswegen sollte eine höhere Nachhaltigkeitsrück- lage gebildet werden. So offenbarte eine öffentliche An- hörung zum Beitragssatzgesetz 2014 am 17. Februar 2014 im Arbeits- und Sozialausschuss, dass zehn von zwölf Sachverständigen die Obergrenze der Nachhaltig- keitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben als zu niedrig einschätzen. Für eine gänzliche Abschaffung der Ober- grenze – wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf fordert – gab es indes keine Mehrheit. http://www.abendblatt.de/meinung/article133963307/Das-Dilemma-mit-der-Rente.html Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5937 (A) (C) (D)(B) Wir lehnen den Gesetzentwurf der Linken ab, da wir – ähnlich wie die meisten Sachverständigen – eine gänz- liche Abschaffung der Obergrenze der Nachhaltigkeits- rücklage für nicht sinnvoll erachten. Eine Obergrenze gibt Orientierung und schafft eine Systematik für die Beitragssatzfestsetzung. Vollkommen richtig ist es indes, die Mindestrücklage von 0,2 auf 0,5 Monatsausgaben zu erhöhen. Hiervon ist im Übrigen auch die Deutsche Ren- tenversicherung überzeugt. Zugleich steht die Rente auch auf der Leistungsseite vor großen Herausforderungen. Bei den beitragsfinan- zierten Leistungen sind vor allem Verbesserungen bei Erwerbsminderung und Rehabilitation notwendig. Die von Schwarz-Rot verabschiedeten Maßnahmen zur Ver- besserung der Erwerbsminderungsrente gehen in die richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Die Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten sollten abgeschafft wer- den, wenn der Zugang allein aufgrund medizinischer Diagnose und Prüfung erfolgt. An den Abschlägen auf Erwerbsminderungsrenten hält die Bundesregierung aber ausdrücklich fest. Aktuell stehen zudem nicht aus- reichend Mittel zur Rehabilitation zur Verfügung. Wird das Rehabudget nicht umgehend bedarfsgerecht ausge- staltet, wird die Zahl der Erwerbsminderungsrentnerin- nen und -rentner absehbar steigen. Eine Bundesregierung, die gestern das Rentenpaket verabschiedet hat, heute die Beitragssätze senken will und morgen kräftigste Beitragssatzsteigerungen in Kauf nehmen wird, handelt kurzsichtig. Gerade in der Alters- versorgung aber lohnt es sich, für nachhaltige und stabile Rentenfinanzen zu sorgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17) Fritz Güntzler (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag verfolgt das richtige Ziel, Umsatzsteuerbetrug in Deutsch- land zu bekämpfen. Er unterstellt aber, hier sei bisher so gut wie nichts geschehen. Das ist aber falsch. Das Umsatzsteueraufkommen betrug im Jahr 2013 knapp 200 Milliarden Euro. Die Umsatzsteuer ist damit eine der wichtigsten Finanzierungsquellen des Staates. Sie ist mit einem Anteil von rund 32 Prozent an den ge- samten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kom- munen die mit Abstand bedeutendste Steuer. Die Sicherung des Umsatzsteueraufkommens ist also von großer Bedeutung. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung sind sich dessen bewusst. Wir arbeiten fortlaufend daran, Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen und aufkommende Probleme zu beseitigen. Denn eines ist klar: Steuerhinterziehung schadet der Allgemeinheit, muss verfolgt und entsprechend geahndet werden, am besten aber unmöglich gemacht werden. Das tun wir nicht nur, um das Steueraufkommen zu gewährleisten, sondern auch, um die vielen steuerehrlichen Unterneh- mer nicht zu benachteiligen. Der Antrag der Grünen liest sich aber so, als hätten wir es in Deutschland mit unzähligen (Umsatz-)Steuer- betrügern zu tun, für deren Bekämpfung der Steuerver- waltung keine wirksamen Instrumente zur Verfügung stehen. Das Gegenteil ist der Fall. Beim Umsatzsteuerbetrug geht es um Einzelfälle, die zugegeben oft hohe Summen betreffen. Aber nicht jeder Unternehmer verkürzt seine Umsatzsteuerschuld. Ein Generalverdacht ist gefährlich und wird schnell peinlich, wenn der Beweis nicht ge- führt werden kann. Das musste auch der NRW-Finanzminister erleben. Er hat erst vor kurzem medienwirksam dem angeblich mas- senhaft stattfindenden Umsatzsteuerbetrug mit Regis- trierkassen den Kampf angesagt. Nach Rücksprache mit seinem Ministerium musste er feststellen, dass dazu keine Zahlen vorliegen, die diesen Verdacht erhärtet hät- ten. Seither habe ich von der Initiative nie wieder etwas gehört. Zuvor hatte er aber einen ganzen Berufsstand pauschal verurteilt. 2012 gab es laut der offiziellen Umsatzsteuerstatistik knapp 370 000 Einzelhandelsbetriebe – ohne Kfz-Han- del und Tankstellen – sowie rund 225 000 Betriebe des Gastgewerbes. Selbst wenn es also bundesweit jeweils 10 000 Betriebe in beiden Wirtschaftszweigen gäbe, die sich illegal verhielten, wären dies gerade einmal 2,7 bzw. 4,4 Prozent aller Betriebe. Sollten aber tatsäch- lich 20 000 Betriebe systematisch Umsatzsteuer hinter- ziehen, würde es doch wohl gerichtsfeste Zahlen darüber geben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Jeder Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden, aber wir sollten das Problem nicht größer reden, als es tatsächlich ist. Wir müssen das Umsatzsteuerrecht ständig weiterent- wickeln. Das ist ein laufender Prozess, der auch die Steuerverwaltung bei der Ahndung von Steuerhinterzie- hungen unterstützt. Der vorliegende Grünen-Antrag ist dagegen ein Schrotschuss, bei dem sie mit vielen Forderungen alles irgendwie ein wenig ansprechen: alles wenig konzeptio- nell. Sie wissen, dass unser Mehrwertsteuersystem auf eu- ropäischem Recht beruht, das uns als Gesetzgeber einen strengen Handlungsrahmen vorgibt. Unsere Bemühun- gen, das System zu verbessern, finden daher sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene statt. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ein wichtiges Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung ist und könnte das Reverse-Charge-Verfahren im Geschäftsver- kehr zwischen Unternehmern sein, wie auch von Ihnen im Antrag angesprochen. Umsatzsteuerschuldner ist in diesen Fällen dann nicht der Leistende, sondern der Leistungsempfänger. Ist der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt, gleichen sich geschuldete Reverse-Charge-Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug aus. Das verringert zwar die Gefahr von Umsatzsteuerbetrug. Das Verfahren an sich ist aber selbst wiederum nicht unproblematisch. 5938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Mit dem Verfahren soll ungerechtfertigte Geltendma- chung des Vorsteuerabzugs erschwert werden. Bisher ist das Reverse-Charge-Verfahren in der Mehrwertsteuer- systemrichtlinie nur als Ausnahme vorgesehen. Die Bundesregierung hat sich schon während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 für die Verankerung eines generellen Reverse-Charge-Verfah- rens auf europäischer Ebene eingesetzt. Aufgrund massi- ver politischer Vorbehalte einer Reihe von Mitgliedstaa- ten der Europäischen Union war dies jedoch bisher nicht durchsetzbar. Die Kommission hat damals entschieden, dass nur Ausnahmen, auf einzelne Branchen beschränkt, zulässig seien. So wurde das Reverse-Charge-Verfahren ab Juli 2011 auch für die Lieferung von Mobilfunkgeräten und integrierten Schaltkreisen eingeführt. Mit dem Kroatien-Gesetz haben wir das Reverse- Charge-Verfahren zum Beispiel bei edlen und unedlen Metallen eingeführt. Der Fall zeigt ehrlicherweise auch, dass Betrugsbekämpfung massive bürokratische Auswir- kungen haben kann. Zum Beispiel eine gesplittete Rech- nung beim Kauf von Alufolie im Baumarkt an einen Un- ternehmer. Daher denken wir gegenwärtig über die Einführung einer Bagatellgrenze und Korrekturen nach. Außerdem sieht die Mehrwertsteuersystemrichtlinie mittlerweile vor, dass die Mitgliedstaaten der Union den sogenannten Schnellreaktionsmechanismus einführen kön- nen. Mit dem Zollkodex-Anpassungsgesetz wollen wir das umsetzen. Es geht darum, das Bundesministerium der Finanzen dazu zu ermächtigen, in dringenden Fällen den Leistungsempfänger zum Schuldner der Umsatzsteuer bestimmen zu können. Damit steht ein weiteres wirksa- mes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung bereit. Die EU-Kommission will Überlegungen zu einem umfassenden Umbau der Mehrwertsteuersystemrichtli- nie anstellen. Das Ziel sei ein einfacheres, wirksameres und betrugssicheres Mehrwertsteuersystem für den Bin- nenmarkt. Wir würden das sehr begrüßen. Ich bin sicher, dass sich auch die Bundesregierung erneut konstruktiv in diese Debatte einbringt. Sie fordern gleiche Zugriffsrechte von Bund und Län- dern auf Datenbanken und Steuerstatistiken. Sie wissen doch, dass es schon eine beim Bundeszentralamt für Steuern angesiedelte Stelle zur Koordinierung der Prü- fungsmaßnahmen der Länder gibt. Diese ist gerade für die Fälle, in denen mehrere Bundesländer oder andere EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden müssen, einge- richtet worden. Diese Koordinierungsstelle beschränkt ihre Arbeit nicht nur auf die Koordination der betroffe- nen Behörden, sondern sammelt selbst Informationen über Betrugsmuster und gibt diese an die Behörden wei- ter. Die Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug ist wichtig, und ich habe ausgeführt, dass wir viel dafür getan haben und tun werden. Bei allen Maßnahmen gilt es, das rich- tige Maß zwischen Betrugsbekämpfung und unnötiger Bürokratie zu finden. Auch ist klar: Es wird immer Leute geben, die geltende Gesetze umgehen. Die Bundesregierung ist bei der Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug auf einem guten Weg. Ihres Antra- ges bedarf es daher nicht, insbesondere weil einige Punkte, die dort angesprochen sind (Gelangensbestäti- gung, Reverse-Charge bei Metallen), bereits umgesetzt worden sind. Gern können wir die einzelnen Maßnahmen noch im Ausschuss diskutieren. Wichtig ist aber: Der Umsatz- steuerbetrug muss bekämpft werden. Das wird eine stän- dige Aufgabe sein, der wir uns stellen. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Umsatzsteuerbetrug be- kämpfen“ adressiert ein altbekanntes Problem. Durch Umsatzsteuerbetrug entgehen dem deutschen Fiskus nach Schätzungen des Ifo-Instituts 14 bis 15 Mil- liarden Euro im Jahr. Ein großer Teil dieser Summe geht dabei auf die Aktivitäten krimineller Organisationen zu- rück, die staatenübergreifend sogenannte Karussellge- schäfte praktizieren. Aber auch durch geplante Insolven- zen, die Berechnung falscher Steuersätze, nicht korrekte Erfassung von Privatentnahmen oder manipulierte Re- gistrierkassen werden jährlich erhebliche Beträge an Umsatzsteuer hinterzogen. Der Bundesrechnungshof hat im September 2012 zu- sammen mit den Kollegen aus Belgien und den Nieder- landen einen Bericht vorgelegt, in dem auf zwei EU- Schätzungen aus dem vergangenen Jahrzehnt verwiesen wird, wonach sich der Schaden in der EU auf 100 Mil- liarden Euro im Jahr belaufe. Der Umsatzsteuerbetrug kann aber auch für ehrliche Unternehmer zu einem ernsten Problem werden. Die un- gewollte Verwicklung in Umsatzsteuerbetrugsaktivitäten kann fatale Konsequenzen für Unternehmen und deren Mitarbeiter haben. Denn nach der Rechtsprechung des BFH trägt der Unternehmer die Feststellungslast für den Vorsteuerabzug. Der EuGH hat zwar mittlerweile in ver- schiedenen Urteilen festgestellt, dass die Finanzbehör- den die objektiven Umstände dafür darlegen müssen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müs- sen, dass der von ihm bezogene Eingangsumsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war. Dennoch besteht für den ehrlichen Unternehmer immer noch ein erhebli- ches Risiko, auch wenn er unwissentlich in einen Um- satzsteuerbetrug verwickelt wird. Unternehmer müssen nach der Rechtsprechung des EuGH die vernünftiger- weise von ihnen zu erwartenden Maßnahmen gegen die Einbeziehung in eine Umsatzsteuerhinterziehung treffen. Deshalb muss sich der Unternehmer durch geeignete or- ganisatorische Maßnahmen im Unternehmen davor schützen. Umsatzsteuerbetrugsgeschäfte tauchen verstärkt bei hochpreisigen sowie schnell handelbaren Wirtschaftsgü- tern auf. Ein besonders dreister Fall war vor einigen Jah- ren der Betrug beim Handel mit Verschmutzungsrechten, in den auch die Deutsche Bank einbezogen war. Hier sind binnen kürzester Zeit Hunderte von Millionen Euro durch Umsatzsteuerbetrüger ergaunert worden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5939 (A) (C) (D)(B) Besonders gefährdet sind Branchen, die nicht unter das Reverse-Charge-Verfahren im Sinne von § 13 b Ab- satz 2 UStG in Verbindung mit § 13 b Absatz 5 UStG fallen. Im Rahmen des Kroatien-Gesetzes haben wir hier für bestimmte Produkte eine Umkehr der Steuerschuldner- schaft festgelegt, beispielsweise für die Lieferung von Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin sowie aller un- edlen Metalle und für bestimmte Elektronikartikel wie Spielekonsolen und Tablet-PCs. Soweit erforderlich, wird eben sehr schnell auf er- kannte Betrugsfälle auch vonseiten des Gesetzgebers re- agiert. Auch durch das Zollkodexanpasssungsgesetz wird eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von Be- trügereien geschaffen. Die Finanzverwaltung bekämpft ganz systematisch den Umsatzsteuerbetrug. Dazu verwendet die Finanzver- waltung Checklisten, die entsprechende Verdachtsmo- mente bzw. Auffälligkeiten auflisten. Das BMF hat gemäß einem Artikel in der Zeitung PStR Praxis Steuerstrafrecht einen mehr als 100 Punkte zählenden Katalog von Verdachtsmomenten zusammen- gestellt. Ebenso enthält, wie in dem Artikel ausgeführt wird, das bundeseinheitliche Handbuch für die Umsatz- steuer-Sonderprüfung eine eigene Passage betreffend Umsatzsteuerkarussellgeschäfte. Hier sind Leitlinien und Hinweise für das Erkennen, die Aufdeckung und die Behandlung von Umsatzsteuerbetrugsgeschäften nieder- gelegt. Darüber hinaus arbeitet die Finanzverwaltung sehr eng mit den entsprechenden Behörden im In- und Aus- land zusammen, um auch den Betrug über die Grenze hinweg zu verfolgen. Es gäbe sicherlich noch eine ganze Reihe von Mög- lichkeiten, den Umsatzsteuerbetrug einzudämmen. Aber vieles davon lässt sich eben nicht so einfach verwirkli- chen. In den vergangenen Jahren wurde beispielsweise von Deutschland aus der Versuch unternommen, zur Ein- dämmung des Umsatzsteuerbetruges das Reverse- Charge-Modell für die Umsatzbesteuerung einzuführen. Leider scheiterte das aber an den anderen Ländern in der EU, die sich nicht dazu durchringen konnten, dem deut- schen Vorstoß zuzustimmen. Das ist das Dilemma. Das Umsatzsteuerrecht ist weitgehend durch europäisches Recht geprägt. Veränderungen im Umsatzsteuerrecht sind deshalb alleine auf nationaler Ebene nur noch sehr eingeschränkt möglich. Deshalb muss zur Eindämmung von Betrügereien auf jeden Fall auf eine gesamteuropäi- sche Lösung gesetzt werden. Derzeit bereitet die EU- Kommission anscheinend einen weiteren Anlauf vor, das europäische Mehrwertsteuersystem weiter zu vereinheit- lichen und dadurch die Betrugsanfälligkeit des Systems zu verringern. Wir berücksichtigen schon heute alle Möglichkeiten, soweit Handlungsbedarf auf diesem Gebiet erforderlich ist, durch gesetzgeberische Maßnahmen, wie das Kroatien- Gesetz gezeigt hat. Dabei gilt es ganz allgemein, einen aus- gewogenen Mix von Vermeidung von Betrügereien, per- sonellen Ressourcen und zumutbarem Bürokratieauf- wand zu finden. Bevor wir deshalb weitere Maßnahmen ergreifen, sollten wir die Wirkungen der bisher schon eingeleiteten Maßnahmen abwarten. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Frank Junge (SPD): Jeder Euro, der unserem Staat durch Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug verloren geht, schwächt ihn in seiner Fähigkeit, Aufgaben und dringend benötigte Leistungen für seine Bürgerinnen und Bürger zu übernehmen. Insofern vergehen sich Hin- terzieher und Betrüger in puncto Steuern doppelt an der Allgemeinheit: rechtlich, weil sie gegen das Gesetz ver- stoßen, und moralisch, weil sie die gleichen infrastruktu- rellen Leistungen des Staates nutzen und in Anspruch nehmen, die Kosten dafür jedoch anderen aufbürden. Und dann meist sogar noch denen, die finanziell wesent- lich schlechter gestellt sind als sie selber. Für uns Sozialdemokraten ist das eine mordsmäßige Sauerei, die wir mit allen zur Verfügung stehenden Mit- teln konsequent bekämpfen, verfolgen und bestrafen müssen. Wenn wir also heute über Ihren Antrag zum Thema Umsatzsteuerbetrug reden, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von Bündnis 90/Die Grünen, dann freue ich mich grundsätzlich sehr darüber, dass Sie dieses Thema auf die Tagesordnung gehoben haben. Es zeigt mir nämlich, dass Ihnen das Problem und die Bekämpfung des Um- satzsteuerbetrugs genauso am Herzen liegen wie meiner Fraktion. Auf der anderen Seite wird mir jedoch nicht klar, an welcher Stelle Ihr Antrag heute neue Aspekte oder An- satzpunkte bietet, an denen wir andocken sollten. Oder wollten Sie den Inhalt eines diesbezüglichen Antrages von Ihnen aus der letzten Wahlperiode hier einfach nur noch einmal mit uns erörtern? So oder so kann ich Ihnen sagen, dass wir uns bei der Widerspiegelung der Bedeu- tung und der Tragweite des Problems für unser Land al- lem Anschein nach einig sind. Wir Sozialdemokraten setzen uns daher entschieden gegen jede Form von Steuerhinterziehung ein. Wir wer- den es nicht hinnehmen, dass unserem staatlichen Ge- meinwesen jährlich Milliarden von Steuern vorenthalten werden. Wir haben daher im Koalitionsvertrag ein ent- schiedenes Vorgehen gegenüber Steuerhinterziehern ver- einbart und konkrete Maßnahmen dafür bereits einge- leitet. National werden wir die Regelungen zur steuerbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung deutlich verschärfen. Zudem hat Deutschland – Sie erin- nern sich an unsere Debatte vom heutigen Vormittag hier im Deutschen Bundestag – ein Abkommen zum automa- tischen Informationsaustausch in Steuersachen unter- zeichnet, das es uns zukünftig leichter machen wird, Steuerhinterzieher zu enttarnen. Dass 50 Staaten diesen hohen Steuerstandard anwen- den wollen, ist aus Sicht der SPD-Fraktion ein großer Erfolg. Diesen Stand der Dinge habe ich selbst vor noch nicht allzu langer Zeit für unmöglich gehalten. Ich 5940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) möchte daher von hier aus gern einen Dank an Bundes- finanzminister Schäuble senden, der sich für dieses Ab- kommen eingesetzt hat. Ich unternehme das jedoch nicht, ohne mit gewissem Stolz darauf hinzuweisen, dass wir heute nicht an diesem Punkt stehen würden, wenn das geplante schwarz-gelbe Steuerabkommen mit der Schweiz aus der letzten Legis- latur nicht gestoppt worden wäre. Aber kommen wir zurück zum Umsatzsteuerbetrug, dem eigentlichen Thema Ihres Antrages. Dessen Be- kämpfung ist naturgemäß eine Daueraufgabe, die sich faktisch seit der Einführung des europäischen Mehrwert- steuersystems stellt. Für den Staat ist die Umsatzsteuer eine der wichtigsten Einnahmequellen überhaupt. Allein im Jahr 2013 betrug das Umsatzsteueraufkommen 196 Milliarden Euro. Nach Schätzungen des ifo-Instituts von 2007 entgehen der Bundesrepublik Deutschland 14 bis 15 Milliarden Euro jährlich durch Hinterziehung. Sie haben daher recht, wenn Sie in Ihrem Antrag von der Betrugsanfälligkeit bei der Umsatzsteuer sprechen. Diese ist allerdings systembedingt. Eine grundsätzliche Lösung kann es deshalb nur auf internationaler Ebene, in Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern in der Eu- ropäischen Union, geben. Gerne gehe ich nachfolgend noch konkreter auf ver- schiedene Punkte aus Ihrem Antrag ein. Sie schreiben, dass Sie eine bessere Bund-Länder-Zu- sammenarbeit wünschen, um Kompetenzen zu bündeln und schneller bei Betrugsdelikten aktiv zu werden. Da sind wir ganz bei Ihnen. Lassen Sie uns das ausführlich im dafür zuständigen Finanzausschuss tun und dort ge- meinsam prüfen, an welchen Stellen man Verbesserun- gen erreichen kann. Sie fordern, dass die Hinweise auf Betrug mit mani- pulierten Registrierkassen ernst genommen werden müs- sen und dazu ein Gesetzentwurf vorgelegt werden soll. Sorry, da müssen Sie nicht aufgepasst haben. Bereits knapp zwei Monate vor Ihrem Antrag, am 7. Mai 2014, hat meine Fraktion dieses Anliegen im Finanzausschuss thematisiert. Hierzu erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister, dass sich das Finanz- ministerium derzeit in Gesprächen mit den Ländern be- finde und alle Länder diesbezüglich einen Handlungsbe- darf erkennen. Ob der Gesetzgeber oder die Verwaltung tätig werden muss, bleibt abzuwarten. Diesen Punkt hät- ten Sie sich in Ihrem Antrag also sparen können, bzw. es wäre meines Erachtens konstruktiver gewesen, zunächst die gewonnenen Erkenntnisse aus den diesbezüglichen Gesprächen des Bundesfinanzministeriums mit den Län- dern abzuwarten. Einig sind wir uns allerdings wieder bei der Eindäm- mung von Umsatzsteuerbetrugsgestaltungen durch das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren. Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuer- rechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Ände- rung weiterer steuerlicher Vorschriften haben wir die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers für be- trugsanfällige Branchen eingeführt, unter anderem für die von Ihnen angesprochenen Lieferungen von unedlen Metallen und Edelmetallen. Im Rahmen des Zollkodex- Anpassungsgesetzes führen wir außerdem den Schnell- reaktionsmechanismus ein. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, kann die Ver- waltung künftig umgehend und gezielt auf Betrugsfälle reagieren. Und das ist natürlich richtig so! Sie sprechen zudem davon, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene weiter auf einen Systemwechsel hin zu einem generellen Reserve-Charge-Verfahren drängen soll. Ich sage Ihnen: Auch hier vertreten wir die gleiche Position. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass diesbezügliche Initiati- ven bisher geplatzt sind. Im Jahr 2007 haben wir uns fraktionsübergreifend für einen solchen Systemwechsel auf europäischer Ebene eingesetzt. Damit sind wir kra- chend am Widerstand der Kommission und zahlreicher Mitgliedstaaten gescheitert. Es gab nicht ansatzweise ge- nügend politische Unterstützung für unser Vorhaben. Gleichwohl können Sie sich sicher sein, dass wir – und das gilt selbstverständlich auch für die Bundesre- gierung – alle formellen und informellen Wege nutzen, um das Thema in den zuständigen Gremien der EU an- zusprechen und für einen Systemwechsel zu werben. Er läge im Interesse der Wirtschaft wie der Finanzver- waltung, da punktuelle Ausnahmen das Steuerrecht na- türlich verkomplizieren und bürokratischen Aufwand er- zeugen. Wir brauchen den generellen Systemwechsel. Solange wir den aber nicht haben, soll die Verwaltung den Schnellreaktionsmechanismus mit Augenmaß ein- setzen. Zum Schluss meiner Rede will ich meine Worte kurz zusammenfassen: Erstens. Inhaltlich, liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bringt Ihr Antrag heute überhaupt nichts Neues. Zweitens. Uns eint offensichtlich der Wille, unsere Kräfte zu bündeln, um noch wirkungsvoller gegen Um- satzsteuerbetrüger vorzugehen. Lassen Sie uns deshalb genau das tun und uns im Fi- nanzausschuss weiter mit dem Thema auseinanderset- zen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute Abend einen Antrag mit dem Titel „Umsatzsteuer- betrug bekämpfen“. Wie wir alle wissen, ist der Betrug besonders bei der Umsatzsteuer hoch – und das schon seit Jahren. Die Europäische Kommission schätzt die Steuerausfälle allein für Deutschland auf rund 27 Mil- liarden Euro jährlich. Das bestreitet zwar die Bundes- regierung pflichtgemäß, aber man braucht bloß die ein- zelnen Beträge nachzurechnen, und dann sieht man, dass es ungefähr hinkommt. 27 Milliarden Euro – das ist mehr als die Bundesregierung pro Jahr für Bildung, For- schung und Gesundheit ausgibt. Warum ist das so? Manipulierte Kassen in Geschäften und Restaurants, Abzug von Umsatzsteuer, ohne dass sie vorher bezahlt wurde – also Vorsteuerabzug –, Schwarz- arbeit, unterschiedliche EDV-Systeme in den Finanzver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5941 (A) (C) (D)(B) waltungen der Bundesländer und so weiter – die Liste der Ursachen ist lang. International werden Betrügereien durch unterschied- liche gesetzliche Rahmenbedingungen erleichtert. Wel- cher Mehrwertsteuersatz in einem europäischen Land gilt, ist nicht ohne Weiteres sofort zu erkennen – unter- liegt der Umsatz der vollen Mehrwertsteuer, oder ist ei- ner der ermäßigten Umsatzsteuersätze anzuwenden? Das nutzen manche Unternehmen aus und berechnen oft we- niger Umsatzsteuer als vorgeschrieben. Warum ist Umsatzsteuerbetrug in Deutschland so leicht möglich? Das liegt daran, wie hier die Umsatz- steuer abgerechnet wird. Üblicherweise muss der Ver- käufer, also der Lieferant, für seine verkauften Waren die von dem Käufer erhaltene Umsatzsteuer an das Finanz- amt zahlen. Diese also von dem Käufer gezahlte Um- satzsteuer kann der Käufer gegenüber dem Finanzamt geltend machen, als sogenannte Vorsteuer, sofern er Un- ternehmer ist und die übrigen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gegeben sind. Der Käufer holt sich also die von ihm an den Verkäufer gezahlte Umsatzsteuer di- rekt vom Finanzamt zurück. Er weiß aber nicht, ob der Verkäufer die von ihm, dem Käufer, erhaltene Umsatz- steuer tatsächlich an das Finanzamt gezahlt hat. Hier er- öffnen sich zahlreiche Betrugsmöglichkeiten. Denn das Finanzamt kann nicht sofort überprüfen, ob das der Ver- käufer auch tatsächlich so gemacht hat, sondern muss sich erst mal auf die Umsatzsteuererklärungen und die Einhaltung der Gesetze verlassen – dass also alles ge- zahlt wurde wie vereinbart. Besser wäre es, wenn der Käufer der Ware die von ihm an den Lieferanten gezahlte Umsatzsteuer selbst verrechnen würde. Der Käufer zahlt also die Umsatz- steuer selbst an das Finanzamt und der Lieferant berech- net erst gar keine Umsatzsteuer. Das würde nicht nur den Umsatzsteuerbetrug erheblich reduzieren, sondern auch für die Finanzämter vieles vereinfachen. Außerdem müssten die Käufer die an den Lieferanten gezahlte Um- satzsteuer nicht bis zur Erstattung durch das Finanzamt finanzieren. Fachlich spricht man von einer Umkehrung der Steuerschuldnerschaft vom Leistungserbringer auf den Leistungsempfänger – Fachausdruck „Reverse Charge“. Dadurch, dass nur der Käufer seine gezahlten und seine erhaltenen Umsatzsteuern verrechnen kann und die Differenz an das Finanzamt abführen muss, werden die sogenannten Karussellgeschäfte verhindert, mit denen Steuerbetrügereien durchgeführt werden. Bei den Karus- sellgeschäften zahlen einige (Schein-)Unternehmen in einer längeren Lieferkette die erhaltene Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt. Das Finanzamt erstattet zwar die Vorsteuer an den Käufer, hat die Umsatzsteuer vom Ver- käufer aber gar nicht erhalten. Bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft müsste das Finanzamt nicht mehr die Vorsteuer auszahlen, sondern bräuchte sie nur noch zu verrechnen. Diese Umkehrung vom bisherigen Ablauf ist in Deutschland aber nichts grundsätzlich Neues; denn be- reits jetzt gibt es zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel in der Bauwirtschaft, bei Grundstücksgeschäften oder Un- ternehmenspleiten (§ 13 b UStG). Daher wäre eine Um- kehrung der Steuerschuldnerschaft also nicht komplett neu. Obwohl wir also wissen, wo die Probleme liegen, ob- wohl wir wissen, dass viel Steuergeld verloren geht, wird wenig dagegen getan. Zwar haben sich die EU-Kommission und andere europäische Staaten bisher nicht kooperativ gezeigt und sowohl eine entsprechende Änderung der Mehrwertsteu- ersystemrichtlinie als auch den Weg über eine Ermächti- gung zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als Sondermaßnahme abgelehnt. Aber in anderen Fällen übt die Bundesregierung doch auch Druck auf die Kommission und auf EU-Länder aus, um ihre Ziele durchzusetzen. Hier aber hält sie sich vor- nehm zurück, obwohl jedes Jahr Milliarden an Steuer- einnahmen verloren gehen. Mit denen könnten Sie, Herr Schäuble, Ihre „schwarze Null“ im Bundeshaushalt pro- blemlos erreichen, ohne auf Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu verzichten. Die Linke fordert seit längerer Zeit die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als ein wesentliches Ele- ment zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs, und da- her fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich verstärkt auf europäischer Ebene für die Einführung der Steuerschuldumkehr einzusetzen. Es gibt eine neue EU-Kommission, und damit sind die Chancen gestiegen, jetzt zu einer neuen Regelung zu kommen. Daher kön- nen wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Beim Thema Umsatzsteuerbetrug – so sollte man meinen – können wir hier im Deutschen Bundestag leicht Übereinstimmung aller Fraktionen erzielen. Es ge- hört ja mittlerweile zum politischen Alltag, dass Steuer- ausfälle durch Betrug oder Gestaltung von allen politi- schen Seiten angeprangert werden, übrigens egal ob von uns in der Opposition oder seitens der Bundesminister Gabriel oder Schäuble. Und natürlich ist das in der Sa- che auch richtig, zumal wir ja auch aufgelistet haben, dass schon die benennbaren Umsatzsteuerausfälle 9 Mil- liarden Euro betragen. Nur gehören zu den schönen Wor- ten auch Taten, meine Damen und Herren in der Bundes- regierung! Das gilt insbesondere dann, wenn man wie die Union seit 2009 den Finanzminister stellt. In der Realität muss man leider sagen, dass genau an dieser Stelle steuerpoli- tisch, insbesondere was die Umsatzsteuer betrifft, Leis- tungsverweigerung betrieben wird, und das schließt dann auch das Thema Umsatzsteuerbetrug ein. Konkret zur Sache: Wir reden an dieser Stelle später noch über das Zollkodex-Gesetz aus dem BMF und wer- den in diesem Zusammenhang auch die Einführung ei- nes nationalen Schnellreaktionsmechanismus gegen Umsatzsteuerbetrug debattieren. Insofern kann man dem BMF keine Untätigkeit vorwerfen, aber man muss fest- stellen, dass wir beim Thema Umsatzsteuerbetrug lang- 5942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) sam an die Grenze des national Möglichen und Sinnvol- len stoßen. Wir haben in der jüngeren Vergangenheit immer wie- der die sogenannten Reverse-Charge-Tatbestände, also die Fälle in denen Umsatzsteuerzahlung und -erstattung in einer Hand liegen, erweitert. Dies will ich an dieser Stelle nicht infrage stellen, sondern weise ausdrücklich darauf hin, dass uns erst Hinweise aus den Finanzämtern gezwungen haben, zu handeln, um Steuerausfälle durch Betrug zu vermeiden. An dieser Stelle sind wir uns in der Bewertung der Sache sicher auch einig. Das schließt auch den fünften Punkt unseres Antrags ein, den die Bundesregierung auf Initiative der Bundesländer mittler- weile umgesetzt hat. Dennoch sollten wir uns an dieser Stelle eingestehen, dass wir nicht unbegrenzt neue Sonderregelungen schaf- fen können, weil dadurch das Umsatzsteuerrecht noch sehr viel unübersichtlicher und schwerer handhabbar wird, als es heute schon ist. Und hier ist der Finanz- minister gefordert, das Thema endlich europäisch stärker zu thematisieren. Während die alte EU-Kommission ei- nen Vorstoß mit ihrem Grünbuch zur Reform der Mehr- wertsteuer gestartet hat, verharren Herr Schäuble und das BMF hier in einer nicht nachvollziehbaren Lethargie und bremsen eher, als dass sie sich beispielsweise weiter für einen generellen Übergang zu einem Reverse- Charge-Verfahren einsetzen würden. Dabei ist genau das der Schlüssel, um Umsatzsteuerbetrug wirksam zu be- grenzen und Unternehmen ein administrierbares Steuer- recht zu bieten. Und wenn es nicht zu einer gesamteuropäischen Re- gelung kommen kann, weil einzelne Mitgliedstaaten eine Reform blockieren, sollte dennoch darüber nachge- dacht werden, ob nicht Sondergenehmigungen für eine vollständige Umstellung einzelner Nationalstaaten auf das Reverse-Charge-Verfahren angestrebt werden soll- ten, zumal dies den innereuropäischen Warenverkehr nicht beeinflussen würde. Hier ist es an der Bundesregie- rung, Lösungen zu entwickeln. Aber auch national müssen wir mehr und vor allem schneller handeln. Wir befinden uns in der Situation, dass wir im Deutschen Bundestag auf Hinweise aus den Ländern angewiesen sind, wenn es um Steuerbetrug geht. Das BMF verweigert den Mitgliedern des Bundes- tags stets konkrete Aussagen und zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass Steuervollzug eben Ländersa- che ist und es keine konkreten Informationen zu Be- trugsfällen gibt. So stehen wir vor einer bizarren „Friss- oder-Stirb“-Situation ohne die konkreten Hintergrund- informationen einer geplanten Gesetzesänderung zu ken- nen. Das schließt auch Reaktionen auf Betrugsfälle ein, und deswegen müssen wir die Entscheidungsgrundlage für den Bundestag als legislatives Organ unserer Verfas- sung stärken; dazu gehören auch mehr und bessere Infor- mationen für Steuerdaten und Betrugsfälle. Und wenn man Betrug bekämpfen will, dann sollte man es auch schnell und richtig machen: Beispiel Gelangensbestätigung: Das BMF denkt sich per Verordnung einen neuen Nachweis zur Bestätigung eines EU-Exports aus und begründet das mit Bürokratie- erleichterungen für Unternehmen und der Notwendig- keit, Betrug besser Einhalt gebieten zu können. Im Ergebnis fürchten Unternehmen aktuell neue Rechts- unsicherheiten. Zudem ist die Fälschungssicherheit einer Gelangensbestätigung schlicht nicht gegeben, sondern im Zweifel sogar größer als bei anderen gängigen Aus- fuhrbelegen. Nehmen wir das Beispiel Betrug mit manipulierten Registrierkassen: Nordrhein-Westfalen hat Belege gelie- fert, dass an dieser Stelle hohe Steuerausfälle entstehen, unter anderem durch fehlende Umsatzsteuereinnahmen. Hier ziert sich das BMF, eine einfache und schnelle Lö- sung zu beschließen. Vorschläge dazu gibt es, etwa die Einführung manipulationssicherer Kassen. Die entste- henden Kosten dazu halten sich im Rahmen. Nehmen wir das Beispiel Betrug bei differenzbesteu- erten Waren. Hier schlug der Bundesrechnungshof eine Ergänzung bei der Umsatzsteuererklärung um eine An- gabe vor. Der bürokratische Aufwand wäre gering, aber die Finanzämter könnten Betrug potenziell sehr viel schneller erkennen. Was ist passiert? Nichts! Die Bundesregierung muss dem Thema Umsatzsteu- erbetrug endlich international eine höhere Bedeutung beimessen und sich innerhalb der EU für handhabbare Lösungen einsetzen, sie muss national mit Augenmerk auf Betrugsfälle reagieren, und sie darf auf keinen Fall bestehenden Betrug weiter durch Nichthandeln dulden. Herr Schäuble muss seinen steuerpolitischen Winter- schlaf endlich beenden. Gerade bei diesem Thema ver- kennt er die Bedeutung und wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings (Tagesordnungspunkt 18) Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der heutigen Ver- abschiedung des Ratinggesetzes machen wir einen wei- teren wichtigen Schritt zu einer wirksamen Regulierung der Finanzmärkte. Wir haben uns im Koalitionsvertrag klar festgelegt und gehen mit dem Ratinggesetz direkt in die Umsetzung: Wir reduzieren die Bedeutung externer Ratings; wir fördern die Wettbewerbsfähigkeit europäi- scher Ratingagenturen; wir bauen Regelungen ab, die eine Einschaltung der drei großen Ratingagenturen vor- schreiben; wir verbessern die Aufsicht; wir führen harte Sanktionen bei Verstößen ein. Das Ratinggesetz steht so- mit für strengere Regeln auf den Finanzmärkten – und dafür stehen auch CDU und CSU. Bevor ich auf die Details zu sprechen komme, lassen Sie uns gemeinsam noch einen Blick zurück werfen. Die Wurzeln der Ratingagenturen reichen über 150 Jahre zurück – bis in die Zeit des Wilden Westens: In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Amerika die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5943 (A) (C) (D)(B) Vorläufer der ersten Ratingagenturen gegründet. Die vo- ranschreitende Besiedlung und größere Distanzen zwi- schen den Kaufleuten erzeugten Anonymität und schür- ten Misstrauen. Bald wurden Informanten dafür bezahlt, Profile über Geschäftsleute und über einzelne Geschäfte zu erstellen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die ersten modernen Ratingagenturen gegründet. Es war eine Zeit der Pioniere: Neue Territorien in den USA wur- den besiedelt, Eisenbahnstrecken wurden gebaut – der Finanzbedarf war extrem hoch. Die Finanzierung über Banken reichte nicht aus: Einige Banken hatten nicht ge- nug Geld – andere scheuten die Kreditvergabe gerade an die vielen neu gegründeten Unternehmen. Neue Lösun- gen mussten her: Die Unternehmen beschafften sich das Kapital fortan durch die Emission von Wertpapieren. Ei- senbahnanleihen, aber auch Staatsanleihen bildeten seit- dem den Kern des neu entstandenen Kapitalmarkts der Vereinigten Staaten von Amerika. Solche Wertpapiere amerikanischer Eisenbahnfirmen genauer zu analysieren und zu bewerten, diese Idee legte damals den Grundstein für die Entwicklung der modernen Ratingagenturen. Die Agenturen – damals gegründet als Stifter von Transpa- renz, Vergleichbarkeit und Vertrauen – entwickelten sich über die Jahrzehnte hinweg zu vermeintlich allwissen- den und unfehlbaren Instanzen. Drei von ihnen etablier- ten sich besonders stark. Viele lauschten den Verkündun- gen dieser drei großen Ratingagenturen wie einst den Weissagungen des Orakels von Delphi. In der Finanzkrise ab dem Jahre 2008 sind die Pro- bleme mit Ratingagenturen sehr deutlich geworden – der Hauch von Allwissenheit ist der Klarheit gewichen, dass die Agenturen erheblich zur Entstehung der Krise beige- tragen haben. Finanzprodukte, Unternehmen und Staaten wurden unrealistisch positiv bewertet, ein zu niedriges Risiko wurde suggeriert und Ausfallrisiken wurden unter- schätzt. Als sich die Krise dann zuspitzte, erfolgte die Anpassung der Ratings viel zu spät. Gerade die Länder- ratings verwandelten den Sturm der Finanzkrise in einen wirtschaftlichen Orkan. Hinzu kamen massive Interessenkonflikte: Nicht sel- ten wurde eine Agentur von demselben Unternehmen ausgewählt und bezahlt, das sie auch bewerten sollte. Ratingagenturen konzipierten oft sogar selbst Finanzpro- dukte, die sie dann später bewerteten. Und diese Pro- dukte wurden anschließend von den Muttergesellschaf- ten der Ratingagenturen im großen Stil gehandelt. Sowohl der europäische als auch der nationale Ge- setzgeber haben auf diese Missstände reagiert: Mit Unterstützung der unionsgeführten Bundesregierungen leistete die Europäische Union 2009 mit der Ratingver- ordnung und der ersten Novelle 2011 bereits einen wich- tigen Beitrag zur strengeren Beaufsichtigung von Ra- tingagenturen. Seit 2009 besteht für Ratingagenturen eine Registrie- rungspflicht. Dazu gehören umfangreiche Prüfungs- und Genehmigungsverfahren und eine laufende Beaufsichti- gung. Dies waren erste wichtige Schritte, um die Trans- parenz des Bewertungsprozesses von Ratingagenturen zu erhöhen, Interessenkonflikte zu vermeiden und Re- gelverstöße mit Bußgeldern zu ahnden. Im Jahr 2011 wurde dann mit der ersten Novelle der Ratingverord- nung die Aufsicht an die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, ESMA, übertragen. Zusätzlich wurde die Transparenz für Ratings strukturierter Finanz- produkte erhöht. Diesen richtigen Weg führen wir mit der zweiten No- velle der Verordnung, der Richtlinie und schließlich dem vorliegenden Ratinggesetz nun konsequent weiter. Zunächst müssen wir aber noch deutlich machen: Wir brauchen auch weiterhin externe Ratings. In einer globa- lisierten Welt mit Millionen von Finanzierungsentschei- dungen sind Bonitätsbewertungen unerlässlich. Dafür muss es jedoch einen geordneten Rahmen geben – mit klaren Regeln für alle Beteiligten. Daher hat die EU mit deutscher Unterstützung in der zweiten Novelle der Ratingverordnung die Regulierung der Ratingagenturen verschärft: Die Transparenz von Länderratings wird verbessert. Es gibt nun klare Regeln hinsichtlich Inhalt, Zeitpunkt und Anzahl der Veröffentlichungen. Jede Ratingagentur darf nur noch dreimal im Jahr nicht angeforderte Länder- ratings abgeben und muss die Termine der Veröffentli- chungen vorher bekannt geben. Sie müssen zudem die wesentlichen Faktoren erläutern, die ihren Ratings zu- grunde liegen. Auch dürfen Ratingagenturen in Zukunft keine Empfehlungen mehr für die Finanzpolitik von Staaten abgeben. Die Interessenkonflikte bei Ratingagenturen werden reduziert. Zum einen haben wir mit den Höchstlaufzei- ten für vertragliche Beziehungen nun ein Rotationsprin- zip. Der regelmäßige Wechsel verringert die Abhängig- keit der Agenturen von den Marktteilnehmern. Zugleich erleichtert die Rotation kleineren Ratingagenturen den Zugang zum Markt und erlaubt es gerade spezialisierten Agenturen, sich breiter aufzustellen. Zum anderen wur- den klare Regeln aufgestellt, dass Anteilseigner und Mit- glieder einer Ratingagentur keine Kontrolle oder einen beherrschenden Einfluss auf eine andere Ratingagentur ausüben können. Die Ratingagenturen werden für Fehler zur Verant- wortung gezogen. Die Grundlage für eine zivilrechtliche Haftung wurde geschaffen. Wenn Agenturen gegen die Regeln verstoßen, sollen sie auch effektiv gegenüber Anlegern und Emittenten haften und Schadensersatz leisten müssen. Mit dem vorliegenden Ratinggesetz stärken wir die Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleis- tungsaufsicht, BaFin. Damit erhält diese die Befugnis, insbesondere die Einhaltung der folgenden Pflichten zu überwachen, die ebenfalls in der Verordnung angelegt sind. Zudem geben wir der BaFin mit dem Ratinggesetz Sanktionsmöglichkeiten an die Hand, um Pflichtver- stöße mit Bußgeldern zu ahnden. Marktteilnehmer werden in Zukunft auch eigene Risi- koanalysen vornehmen müssen. Eine unkritische Über- nahme von externen Ratings führte in der Vergangenheit häufig zu falschen Einschätzungen der Ausfallrisiken. 5944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Ein ausschließlicher oder automatischer Rückgriff auf Ratings ist daher nicht mehr zulässig. Die „Ratinggläu- bigkeit“, der viele Marktteilnehmer in der Vergangenheit mit schwerwiegenden Folgen verfallen sind, wird so ein- gedämmt. Bei strukturierten Finanzinstrumenten wird es künftig mindestens zwei Bewertungen geben müssen – nämlich durch zwei voneinander unabhängige Ratingagenturen. Auch kleine Agenturen mit einem Marktanteil von unter 10 Prozent sollen in Zukunft einbezogen werden. Da- durch werden europäische Ratingagenturen deutlich ge- stärkt. Das kann auch dazu beitragen, das über die Jahre aufgebaute Oligopol der drei großen Agenturen aufzu- brechen. Transparenz, Vergleichbarkeit und Vertrauen: Mit die- sen Zielen wurden Ratingagenturen im 19. Jahrhundert gegründet. Einige von ihnen sind in der Zwischenzeit vom Pfad dieser Tugenden abgekommen. Wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt und Ra- tingagenturen eine Krise mit auslösen oder deren Verlauf negativ beeinflussen. Unser Ratinggesetz wird das Handeln von Rating- agenturen transparenter machen. Es wird kleine, euro- päische Agenturen am Markt etablieren und stärken. Und es wird einen Teil dazu beitragen, langfristig und nachhaltig für mehr Stabilität auf den Finanzmärkten zu sorgen. Andreas Schwarz (SPD): Wir können uns heute hier alle gemeinsam über einen guten Tag für Deutsch- land und für Europa freuen. Wir kommen nämlich ent- scheidend voran. Schon die letzte Große Koalition hat unter der Führung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück das Schiff Bundesrepublik Deutschland in ruhigen Fahrwassern durch die steife Brise der welt- weiten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt. Die Krise führte uns allen vor Augen, dass sich insbesondere die Finanzmärkte mehr und mehr von der Realwirtschaft und damit auch von der Realität entfernt hatten. Das Agieren der Finanzmärkte, das in weiten Teilen in einer Parallel- oder Schattenwelt stattfand, brachte nahezu alle wichtigen Volkswirtschaften ins Schwanken, teilweise ins Fallen. Es war das Verdienst von Peer Steinbrück und Angela Merkel, dass Deutschland so gut durch diese Krise gekommen ist. Ein Umstand, um den uns viele Staaten beneiden. Es war die wohldurchdachte und maßvolle Politik dieser Jahre, die uns vor Schlimmerem bewahrte. An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen: häu- fig mit der Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen. Es widerspricht aber dem sozialdemokratischen Natu- rell, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Wir haben uns lang genug damit auseinandergesetzt, die Symptome der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zu bekämpfen. Nun geht es aber seit geraumer Zeit darum, sich den Ursachen zu widmen und somit dafür Sorge zu tragen, dass Krisen eines solchen Ausmaßes künftig verhindert werden und Risiken aus solchen Krisen vermieden bzw. auch anders verteilt werden. Erst heute Morgen haben wir in diesem Hohen Hause dafür einen weiteren wichtigen Schritt unternommen und das Fundament der europäischen Einigung noch weiter gestärkt. Mit der Bankenunion schaffen wir aber nicht nur ein Mehr an Europa, sondern sichern auch die Bürgerinnen und Bürger Europas deutlich stärker vor künftigen Folgekosten von Finanzkrisen. Damit stärken wir das Vertrauen in Europa. Wie wichtig dieses Ver- trauen ist, können wir gerade von Ungarn bis zum Balti- kum beobachten. Aber wir haben heute nicht nur über die Bankenunion abgestimmt, sondern gehen auch mit der jetzigen Abstimmung einen weiteren und wichtigen Schritt – zu- gegeben, nicht ganz so prominent in der medialen Be- richterstattung vertreten. In der Finanzkrise wurden Staaten, aber auch weite Teile der Finanzwirtschaft zum Spielball der Urteile der Ratingagenturen, teilweise selbst verschuldet. Hier liegt auch noch ein langer Weg vor uns. Das will ich klar sa- gen. Trotzdem freue ich mich, dass wir heute mit dem Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings einen weiteren von vielen Schritten gehen. Wie bereits erwähnt: Wir – die Staatengemeinschaft und die Finanzwelt selbst – haben uns in den letzten Jahrzehnten in eine unkritische Abhängigkeit der Ratingagenturen ergeben, die uns mit in die Abwärtsspi- rale der letzten Jahre hinabzog. Vergessen hat man dabei, wer eigentlich die Akteure hinter den Ratingagenturen sind. Es sind eben keine selbstlosen Finanzanalysten, nicht nur neutrale Institutionen oder unabhängige Markt- beobachter. Nein, es sind Akteure am Finanzmarkt, die an selbigem partizipieren und von selbigem profitieren wollen. Peer Steinbrück hat einst vollkommen zu Recht die Frage gestellt, wer in Europa den Taktstock des Gesche- hens in der Hand halten soll. Die SPD-Bundestagsfrak- tion ist sich da sehr sicher: nicht die Ratingagenturen! Und deshalb hat die SPD im vergangenen Bundestags- wahlkampf richtigerweise gefordert, dass das Primat der Politik endlich wiederhergestellt werden muss. Diese Forderung haben wir erfolgreich in den Koali- tionsvertrag geschrieben. Ich darf die weisen Worte des Koalitionsvertrages zitieren: Die Bundesregierung wird sich für eine effektive Anwendung der zivilrechtlichen Haftungsregelun- gen für Rating-Agenturen einsetzen und die Wett- bewerbsfähigkeit europäischer Rating-Agenturen fördern. Wir wollen die Rechtsnormen reduzieren, die eine Einschaltung der drei großen Rating-Agen- turen vorschreiben. Wir wollen auch die Bedeutung externer Ratings reduzieren. Weiter heißt es: In Zukunft muss noch stärker gelten: Gemeinschäd- liches Handeln von Unternehmen und Managern muss angemessen sanktioniert werden. Wir unter- stützen die Aufnahme strenger Vorschriften in den maßgeblichen europäischen Rechtsakten, welche insbesondere den Rahmen für Geldsanktionen auf Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5945 (A) (C) (D)(B) ein angemessenes Niveau anheben und die Verhän- gung spürbarer Sanktionen gegen Unternehmen vorsehen, die gegen regulatorische Vorgaben ver- stoßen, und werden für deren Umsetzung ins deut- sche Recht Sorge tragen. Sie sehen also, dass wir uns durchaus etwas vorge- nommen haben, was noch gar nicht alles in diesem Ge- setzentwurf vollzogen werden kann. Aber mit diesem Gesetzentwurf gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung: Ziel muss es sein, die Abhängigkeit der Finanzbranche von den Bewertungen der Ratingagenturen zu reduzieren. Wenn Sie so wollen, geht es in diesem Gesetzentwurf um die Hilfe zur Selbst- hilfe. Mit dem Gesetz verhelfen wir der Wirtschaft zu einer größeren Eigenständigkeit und auch zu einem Mehr an Unabhängigkeit von den Bewertungen der großen Ra- tingagenturen. Die Unternehmen der Finanzbranche werden künftig verpflichtet sein, stärker eigene und un- abhängigere Einschätzungen in der Bonitätsprüfung durchzuführen. Daraus resultieren künftig belastbarere Urteile, die nicht nur dem Staat, sondern vor allem den Unternehmen von großem Nutzen sein werden. Ihre Ri- sikobewertungen stehen nunmehr auf festerem Funda- ment. Die unkritische und oftmals schematische Übernahme der Ratings der Ratingagenturen – etwa zur Einstufung der Bonitätsgewichtung der Kreditnehmer und Wert- papiere – führte häufig zu erheblichen Fehleinschätzun- gen von Ausfallrisiken. Die Folgen konnten wir alle miterleben. Dieses Gefahrenpotenzial werden wir mit dem vorliegenden Gesetz deutlich eindämmen. Denn das ist eine der klaren Lehren aus den Gescheh- nissen an den Finanzmärkten seit 2008. Die Finanzbran- che muss in ihren eigenen Bewertungen und Urteilen endlich wieder viel stärker eigene Einschätzungen in der Bonitätsprüfung vornehmen, um unabhängiger Ausfall- risiken beurteilen zu können. Es darf nicht sein, dass der eine einfach das übernimmt, was der andere bereits vor- formuliert hat. Die Gefahr von Kettenreaktionen war und ist somit viel zu groß. Oftmals wurden in der Vergangenheit Risiken viel zu positiv eingeschätzt, häufig durch Interessenkonflikte innerhalb der Finanzmärkte selbst. Von diesen Interes- senkonflikten, die fast logischerweise aus den engen Verflechtungen am Finanzmarkt resultieren, machen wir die Finanzbranche nun unabhängiger. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem heute zu beschließenden Gesetz ein gutes Stück vorankommen. Mit den mittlerweile drei CRA-Verordnungen haben wir auf europäischer und nationaler Ebene die Beauf- sichtigung der Ratingagenturen verstärkt, mehr Transpa- renz in den Ratings geschaffen, Interessenkonflikte deut- lich gemildert. Jetzt sorgen wir endlich für noch mehr Unabhängigkeit von den Urteilen der Ratingagenturen! Ich will nicht verhehlen, dass auch wir uns sehr mit dem Gedanken einer großen europäischen Ratingagentur anfreunden konnten. Man muss sich aber auch eingeste- hen, dass die Schaffung einer solchen Agentur bisher nicht gelang. Übrigens nicht nur politisch. Auch die Wirtschaft selbst vermochte es nicht, zu einer Lösung zu kommen. Hier sollten wir den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen und langfristig weiter an dem Ziel fest- halten. Es hilft aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen über andere Wege mehr Nachvollziehbar- keit, Transparenz und Unabhängigkeit in das Geflecht der Finanzbranche bringen. Ich denke, im Rahmen der sehr gut funktionierenden großkoalitionären Zusammenarbeit tragen wir mit dem heutigen Gesetz genau dafür Sorge. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion diesem Gesetz zustimmen. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Mit der Entfesselung der Finanzmärkte haben Ratingagenturen in den letzten Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung gewonnen. Ihr Urteil beeinflusst, zu welchen Konditionen ein Un- ternehmen oder ein Staat an Kredite kommt. In vielen Gesetzen ist geregelt, dass sich bestimmte Anleger nur an Produkte mit einem bestimmten Rating halten dürfen, etwa bei Versicherungen. Die Zentralbanken berufen sich ebenfalls auf externe Ratings, wenn sie Finanzpro- dukte bewerten, die sie als Sicherheiten hineinnehmen. In der Finanzkrise hat sich deutlich gezeigt, dass die Ratingagenturen vielfach versagt haben. Dies gilt in be- sonderem Maß für sogenannte strukturierte Produkte, also extrem komplizierte Finanzprodukte. Diese lassen sich nicht seriös bewerten. Da die Ratingagenturen dafür bezahlt wurden, haben sie es trotzdem gemacht, sich da- mit eine goldene Nase verdient und Anleger in Scharen in die Irre geführt. Als die Blase schließlich platzte, wur- den angeblich hochsichere Papiere praktisch wertlos. Aus diesem und anderen Beispielen ist bekannt, dass bei den Agenturen die Zufriedenheit der Kunden an oberster Stelle steht, nicht ein möglichst treffsicheres Urteil. Bei Entwicklungsländern zeigte sich beispielsweise auch, dass die entsprechenden Ratings von schlechter Qualität waren – weil sich die Bewertung aus privatwirtschaftli- cher Perspektive sonst zu wenig rentiert hätte. Ratings sind, so die Ratingagenturen, im Grunde ge- nommen private Meinungsäußerungen, die man schlecht verbieten kann bzw. soll. Sie sind aber weit mehr als das, denn die Verankerung von Ratings in Gesetzen verleiht ihnen einen regulativen Charakter. Es ist leicht möglich, den Markt für Ratings konsequenter zu regulieren und vor allem die Verankerung von Ratings in Gesetzen zu verringern. Die diesem Gesetz zugrunde liegende Verordnung ist ein Schritt in diese Richtung. Weitere Schritte sind nötig, denn viele starke Maßnahmen haben den EU-Gesetzgebungsprozess nicht überlebt. Die drei großen Ratingagenturen besitzen einen riesi- gen Marktanteil und haben eine entsprechend große Macht. Sie haben alle drei Wurzeln in den USA. Es gab in den vergangen Monaten Versuche, ihnen eine große private europäische Ratingagentur entgegenzusetzen. Dies ist gescheitert, weil sich dafür nicht genügend Geldgeber fanden. Wir waren immer schon der Mei- 5946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) nung, dass dies der falsche Ansatz gewesen ist. Denn für den Aufbau einer neuen großen Agentur braucht man ei- nen langen Atem, und zudem ist nicht gesichert, warum eine private europäische Ratingagentur sich nicht ge- nauso verhalten wird wie die vielfach kritisierten großen Drei. Deswegen halten wir die Gründung einer öffentlichen europäischen Ratingagentur für den deutlich vielverspre- chenderen Weg. Wir kennen viele öffentliche Finanz- unternehmen, etwa die deutschen Sparkassen oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die sich sehr gut mit Finanzgeschäften auskennen und entsprechend behaup- ten. Dazu muss man auch Risiken bewerten können. Mit der dafür notwendigen Ausstattung wird auch die öffent- liche Ratingagentur kompetente Urteile treffen können. Sie böte den Vorteil, dass sie aus dem jetzigen System der privatwirtschaftlichen Ratings ausbrechen und unter Zugrundelegung anderer Kriterien bewerten könnte. Weitere stärkere Maßnahmen wären etwa das Verbot von weiteren Übernahmen durch die großen Drei oder stärkere Haftungsregeln. All dies steht unter dem Ziel, die Dominanz der Finanzmärkte zu brechen und das Pri- mat der Politik wiederherzustellen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Theorie sind Ratingagenturen objektive Dritte: Der Emittent entwickelt ein Produkt, die Ratingagentur bewertet es, und der Investor wählt aus – unter angemes- sener Zuhilfenahme der objektiven Bewertung. Die Re- alität sieht freilich völlig anders aus: Die Ratingagentur arbeitet häufig eng mit dem Emittenten zusammen, wird von ihm bezahlt, verlässt sich auf die von ihm bereitge- stellten Daten und hilft unter Umständen sogar bei der Entwicklung der Produkte, die sie bewertet. Manche Ra- tingagenturen bewerten Unternehmen, an denen sie oder die an ihnen Anteile besitzen, oder Investoren besitzen Anteile an der Ratingagentur und die von dieser Agentur bewerteten Unternehmen. Investoren waren offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, diese engen Bezie- hungen und die Interessenkonflikte, die dadurch entste- hen, zu unterbinden. Trotz der Schwächen im Prozess haben sie ihre Investitionsentscheidungen – zuweilen au- tomatisch und oftmals ohne eigene Prüfung des Produkt- risikos – auf Basis dieser Ratings getroffen. Nun greift der Gesetzgeber ein, um die offensicht- lichsten Probleme abzuschwächen: Unter anderem darf eine Ratingagentur nicht länger als vier Jahre am Stück für einen bestimmten Emittenten restrukturierter Finanz- produkte tätig sein und unterliegt dann einer Sperrfrist. Strukturierte Finanzprodukte müssen von mindestens zwei Ratingagenturen bewertet werden. Anteile, die In- vestoren, zu bewertende Unternehmen und Ratingagen- turen aneinander halten, sogenannte Cross-Holdings, sind auf bis zu 10 Prozent begrenzt. Diese Schritte sind positiv zu bewerten, in ihrer Reichweite aber stark ein- gegrenzt: Cross-Holdings sind nicht grundsätzlich ver- boten, wichtige Regelungen beziehen sich nur auf das Rating strukturierter oder restrukturierter Finanzpro- dukte. Das grundsätzliche Prinzip, dass der Emittent für die Bewertung zahlt, wurde nicht infrage gestellt. Darüber hinaus werden regulatorische Anreize ge- setzt, um den Wettbewerb auf dem Ratingmarkt zu erhö- hen. Ob diese ausreichen, um die Marktmacht der drei größten Ratingagenturen zu beschränken, wird sich zei- gen müssen. Skepsis ist hier angebracht, denn ihr Repu- tationsvorteil ist enorm. Auch die Effektivität von Haf- tungsansprüchen, die Investoren in Zukunft bei grober Fahrlässigkeit der Ratingagenturen geltend machen kön- nen, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Doch selbst wenn aufgrund dieser Regelungen Ra- tings tatsächlich realistischer würden, bliebe es ein Pro- blem, wenn Investoren weiterhin einseitig auf externe Ratings setzten. Es begünstigt Herdenverhalten und hat in Krisenzeiten eine prozyklische Wirkung, wenn alle sich auf dieselben wenigen Bewertungen beziehen. Hier wird durch die Richtlinie und Verordnung auf europäi- scher Ebene vorgeschrieben, dass bestimmte Investoren auch interne Modelle zur Risikobewertung entwickeln müssen, externe Ratings nicht mehr automatisch die In- vestitionsentscheidung bestimmen dürfen und ihre Be- nutzung bis 2020 auch nicht mehr regulatorisch vorge- schrieben sein darf. Die Regulierungsbemühungen sind zu begrüßen, aber ihre Wirkung wird begrenzt sein. Tritt man einen Schritt zurück, kann man sich fragen, warum der Gesetzgeber sich der Ratingproblematik überhaupt annehmen muss. Müssten nicht Investoren das größte Interesse daran ha- ben, dass die Ratings, die sie für die Bewertung des Risikos ihrer Investitionen zurate ziehen, auf nachvoll- ziehbare und sinnvolle Weise zustande kommen? Aus Investorensicht ist es eine feine Sache, sich auf externe Ratings zu verlassen: Diejenigen sollen das Risiko einer Investition beurteilen, die es aufgrund ihrer Erfahrung vermeintlich besonders gut beurteilen können; erweist sich die Beurteilung im Nachhinein als falsch, kann der Investor auf die falsche Bewertung durch die Agentur verweisen, und haben seine Peers sich auf dieselbe Ra- tingagentur verlassen, steht er im Vergleich auch nicht schlechter da. Hier ist auch ein Umdenken bei Investo- ren erforderlich, denn die Qualität des Bewertungspro- zesses sollte ihnen deutlich stärker am Herzen liegen, als sie es bisher getan hat. Eigene Bewertungsmodelle zu entwickeln und die Abhängigkeit von Ratingagenturen zu verringern, ihre Haftungsansprüche bei Fahrlässigkeit geltend zu machen und im Zweifelsfall lieber eine über jeden Interessenkonflikt erhabene Ratingagentur zu wählen – auch wenn sie unbekannt ist –, sollten Investo- ren nicht nur aufgrund der neuen Regelungen auf euro- päischer und nationaler Ebene erwägen, sondern auch aus Eigeninteresse. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Dass uns ausgerech- net die Fraktion Die Linke hier einen Antrag zur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5947 (A) (C) (D)(B) Dopingbekämpfung vorlegt, kann nicht ohne einen grundlegenden Widerspruch hingenommen werden. Wir verfolgen in diesen Wochen aus Anlass der Re- gierungsbildung in Thüringen ein peinliches Schauspiel um die Frage, ob die Linke gerade angesichts von 25 Jahren Mauerfall bereit ist, die DDR als das zu be- zeichnen, was sie war, nämlich ein Unrechtsstaat. Zu diesem Unrechtsstaat hat auch ein staatlich verordnetes Doping gehört, dem bis heute Menschen zum Opfer fal- len, wenn man allein nur an das traurige Schicksal des Gewichthebers Gerd Bonk erinnert. Deswegen sage ich: Wer nicht klar als Partei seine eigene Geschichte aufar- beitet und die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet und sich insofern auch nicht klar vom staatlich verordneten Doping der DDR distanziert, der hat jede Glaubwürdig- keit verloren, uns hier mit Belehrungen zu kommen, wie ein Anti-Doping-Gesetz aussehen sollte. Es ist völlig richtig: Auch in Westdeutschland hat es Doping gegeben, vor allem gesteuert durch Sportmedizi- ner der Freiburger Uniklinik. Deswegen ist dort eigens eine Kommission zur Geschichte der Freiburger Sport- medizin eingesetzt worden. Und hier kommen wir nun zur zweiten Oppositionsfraktion, den Grünen. Das hat auch mit einer entschlossenen Aufarbeitung bundesdeut- scher Dopingvergangenheit wenig zu tun, was sich die zuständige Wissenschaftsministerin der Grünen in Ba- den-Württemberg, Frau Bauer, da gerade erlaubt. Ich finde es abenteuerlich, dass sie sich dazu verstiegen hat, der Kommissionsvorsitzenden, Letizia Paoli, einer aner- kannten Expertin, vorzuwerfen, die Veröffentlichung der Kommissionsergebnisse zu konterkarieren. Bevor uns die Grünen hier gleich mit Belehrungen zum Anti- Doping-Kampf kommen, sollten sie erst einmal in den eigenen Reihen für entschlossenes Handeln sorgen. Das ist umso bemerkenswerter, als ja auch unser früherer Kollege aus dem Sportausschuss, Winfried Hermann, Mitglied der Landesregierung in Baden-Württemberg ist, der sich zu seinen Bundestagszeiten als oberster Dopingjäger geriert hat. In der Opposition dicke Backen machen und, wenn man in Regierungsverantwortung ist, aus dem letzten Loch pfeifen, das ist keine überzeugende Sportpolitik. Der Antrag der Linken zeichnet auch ein Zerrbild des Sports in Deutschland. Natürlich müssen wir entschlos- sen gegen Doping kämpfen, weil es blauäugig wäre, zu leugnen, dass Doping auch heute noch für den Sport in Deutschland eine Bedrohung darstellt. Aber es sind nun nicht – wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben – krimi- nelle Netzwerke oder sogar die organisierte Kriminalität im großen Stil am Werk. Gleichwohl: Jeder Einzelfall, bei dem es zu Doping kommt, ist einer zu viel. Das gilt umso mehr, als wir doch immer stärker spüren, dass dem Sport in Deutsch- land und einzelnen Sportlern eine große gesellschafts- politische Bedeutung zukommt. Wir haben erst vor kurzem im Sportausschuss ausführlich darüber gespro- chen, welche vielfältige Integrationskraft der Sport hat. Das gilt sowohl für Menschen mit Migrationshinter- grund wie auch für Menschen mit Behinderungen. Sportliche Großveranstaltungen wie Fußballweltmeister- schaften oder Olympische Spiele versammeln wie sonst kaum ein gesellschaftliches Ereignis Arm und Reich, Männer und Frauen, Ältere wie Jüngere vor dem Fernse- her oder in den Stadien. Für viele Jungen und Mädchen sind Sportidole Vorbilder, denen sie nacheifern, die zum Teil auslösendes Moment dafür waren, im Verein wett- kampfmäßig Sport zu betreiben. Diese jungen Menschen glauben an die Integrität des Sports. Es würde die Bereit- schaft, Sport zu betreiben, damit zum Beispiel auch Ge- sundheitsvorsorge zu leisten, nachhaltig erschüttern, wenn wir in Deutschland immer wieder Fälle von promi- nenten Sportlern hätten, die des Dopings überführt wür- den. Angesichts dieser überragenden gesellschaftlichen Bedeutung des Sports hat sich die Koalition entschieden, Doping auch mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämp- fen. Dazu werden der Bundesjustiz- und der Bundesin- nenminister in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir dann ausführlich mit allen Betroffenen aus dem Sport hier im Parlament eingehend beraten werden. Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß um die Abläufe und kennt die ersten Formulierungen des Refe- rentenentwurfs. Auch deshalb hätte es des Antrags der Linken nicht bedurft, weil die Dinge bereits alle auf einem guten Weg sind. Guter Weg heißt vor allem, dass wir durch die Ent- scheidung, auch mit den Mitteln des Strafrechts gegen Dopingsünder vorzugehen, auf keinen Fall die vorgela- gerte Sportgerichtsbarkeit schwächen dürfen. Wenn Dopingvergehen vorliegen, dann muss schnell gehandelt werden, um auch schnell die Integrität des sportlichen Wettbewerbs wiederherzustellen. Das kann nur durch die Sportgerichtsbarkeit und den Grundsatz der „strict liabi- lity“, also der verschuldensunabhängigen Haftung, im Sport geschehen. Wer im Sport Dopingsubstanzen im Körper hat, wird gesperrt. Dieser Grundsatz muss weiter gelten, und es muss auch eine Rechtsgrundlage für ent- sprechende Athletenvereinbarungen geben. Im Strafrecht muss dann die Absicht hinzukommen, sich durch den Einsatz von Dopingmitteln im sportlichen Wettbewerb einen Vorteil verschaffen zu wollen. Diese Absicht müssen Polizei und Staatsanwaltschaft dem Täter nachweisen. Das kann dauern, und es wäre ein unhaltbarer Zustand, dass der Sport möglicherweise langjährige staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Ver- fahren abwarten müsste, bevor er einen gedopten Sport- ler aus dem Wettbewerb nehmen dürfte. Man muss auch ganz klar betonen, dass es durchaus Fälle geben kann, in denen eine sportrechtliche Strafe ausgesprochen wurde, es für eine strafrechtliche Verurteilung aber nicht aus- reicht, weil zwar die Verwirklichung des objektiven, nicht aber des subjektiven Tatbestands nachgewiesen werden kann. In solchen Fällen darf es natürlich nicht dazu kommen, dass ein Sportler etwa Schadensersatzan- sprüche geltend machen kann. Aus generalpräventiven Gründen setzt der Staat hier lediglich das scharfe Schwert des Strafrechts ein, um vorsätzlich verübte Straftaten tatangemessen zu bestrafen. Bei der Einnahme von Dopingmitteln aus Unkenntnis, etwa über die Zu- sammensetzung von Nahrungsergänzungsmitteln, wird man zwar zu einer sportrechtlichen Sperre kommen, wahrscheinlich aber eine strafrechtliche Sanktion nicht 5948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) verhängen können. Auf diesen Unterschied wird man die Öffentlichkeit immer wieder aufmerksam machen müs- sen. Wir müssen außerdem sehr präzise benennen, wer Adressat einer Strafnorm sein soll. Das kann vor dem Hintergrund, dass wir das Rechtsgut der Integrität des sportlichen Wettbewerbs schützen wollen, natürlich nur der sein, der in diesen Wettbewerb auch tatsächlich ein- greifen kann. Das bedeutet konkret, dass natürlich nicht jeder Teilnehmer am Berlin-Marathon Normadressat sein kann. Sondern es macht Sinn, etwa die Teilnehmer am Testpool der NADA oder solche Sportler als mögli- che Täter zu identifizieren, die in erheblichem Umfang ihren Lebensunterhalt durch Einnahmen aus dem Sport finanzieren. Am Ende brauchen wir ein Gesetz, das etwas bringt, und nicht ein Gesetz, das nur gut klingt. Insofern müssen wir uns gerade im Bereich des Selbstdopings auf Tat- bestandsmerkmale und entsprechende Formulierungen verständigen, die dazu führen, dass die sportrechtliche und die strafrechtliche Sanktion nicht zu sehr auseinan- derfallen. Das würde die Glaubwürdigkeit unseres Ge- setzes nur unnötig relativieren. Gestatten Sie mir am Ende eine persönliche Anmer- kung: Wenn wir die Integrität des sportlichen Wett- bewerbs umfassend schützen wollen, dann dürfen wir uns nicht allein auf die Bekämpfung des Dopingmiss- brauchs konzentrieren. In einem ernstzunehmenden Umfang erreichen uns aus dem Sport immer wieder Hinweise, dass auch die Spielmanipulation geeignet ist, den fairen Wettbewerb auszuhebeln. Insofern würde ich mich persönlich freuen, wenn wir uns in einem Gesetz zum Schutz der Integrität des Sports nicht nur den Kampf gegen Doping, sondern auch den Kampf gegen die Spielmanipulation vornehmen würden. Johannes Steiniger (CDU/CSU): Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“ lässt sich zuallererst einmal sagen: Fakt ist: Wie im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vereinbart, wird derzeit gerade ein solches Ge- setz zur Bekämpfung von Doping im Sport auf den Weg gebracht. Es stellt sich daher für mich die Frage, ob Ihr Antrag, wie Sie ihn hier vorstellen, nur dem Schaufens- ter dient. Denn ein entsprechender Referentenentwurf aus den Bundesministerien für Inneres und Justiz liegt bereits vor. Hierüber wird im Sport derzeit schon beraten. Die positive Presseresonanz und die ersten Bewertungen durch Athletinnen und Athleten sind ein gutes Signal für die breite Akzeptanz des geplanten Gesetzes. Ein solches Gesetz, sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion Die Linke, darf allerdings kein Schuss aus der Hüfte sein; es muss vielmehr sorgfältig abgewogen und umfassend beraten werden. Das gilt vor allem des- halb, weil es wichtig ist, den Sport selbst zum Gesetzent- wurf maßgeblich zu hören. Und der organisierte Sport, vertreten durch den Deutschen Olympischen Sportbund, besteht alleine schon aus 62 olympischen und nicht- olympischen Spitzenverbänden. Die politische Willensbildung ist daher komplex. Ziel muss sein, dass die „große deutsche Sportfamilie“ ein Gesetz zur Bekämpfung von Doping mit seinen weitge- henden Regelungsbereichen – auch im Zusammenspiel mit der Sportgerichtsbarkeit – nachhaltig trägt. Gerade dieses Spannungsfeld darf nicht ignoriert werden. Hier gilt also, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Frak- tion Die Linke: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Den- noch gibt es für die Gesetzesinitiative der Bundesregie- rung einen ambitionierten, klaren Fahrplan: Im nächsten Jahr genau um diese Zeit soll die jetzige Initiative bereits im Gesetzblatt stehen. Kern des geplanten Gesetzes ist es, Doping als eige- nen Straftatbestand zu führen. Zum Arzneimittelgesetz und zur Arbeit der Sportgerichte wäre das eine wichtige Ergänzung. Ziel ist es, die Integrität des Sports zu gewährleisten und nachhaltig zu sichern. Denn gerade der Sport hat eine hohe Strahlkraft. Sport steht für Fairness, Chancen- gleichheit und Wettbewerb. Und Sport bedeutet, dass große Erfolge durch Anstrengung und Leistung erzielt werden. Ganz wichtig ist dabei die Vorbildfunktion der Spitzenathletinnen und -athleten für den Nachwuchs. Wenn hier Doping im Spiel ist, hat es fatale Wirkungen. Darüber hinaus kann durch Doping eine ganze Sport- art kaputtgemacht werden. Schauen wir uns nur die Pro- bleme im Radsport an. Eine Tour de France war einmal ein Megaevent; heute hat der Radsport große Mühen, sich vom Dopingimage zu erholen. Bei Betrachtung einer Studie der Deutschen Sport- hilfe und der Deutschen Sporthochschule vom Januar 2013 wird klar, dass Handlungsbedarf besteht. Die Er- gebnisse der Studie, basierend auf einer anonymen Be- fragung, sind erschreckend: So gaben 6 Prozent der be- fragten Kaderathleten an, regelmäßig zu dopen. Wir erwarten uns als CDU/CSU-Fraktion vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zahlen durch den Ge- setzentwurf und die hohe Strafandrohung, mit Haftstrafe bis zu drei Jahren, eine stärkere Drohkulisse. In diesem Zusammenhang kann ich es nicht nachvoll- ziehen, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, zwar zu einer ähnlichen Problemanalyse kommen, aber beim Thema Belegung mit Strafe ledig- lich „vorrangig Geldstrafen“ fordern. Gerade eine mit- unter hohe Strafandrohung soll schließlich abschrecken. Sie begründen das Absehen von härteren Strafen un- ter anderem mit „viel Unkenntnis über die Gefahren von Doping“, was aus unserer Sicht schlicht falsch ist. Bei Spitzensportlern und Profis dreht sich schließlich der ge- samte Tagesablauf um Sport und Ernährung. Vielmehr ist Doping noch immer viel zu verlockend. Das Risiko, erwischt zu werden, ist für viele offenbar überschaubar. Durch eine Aufhängung von Doping im Strafgesetz wird es weitaus stärkere Möglichkeiten der Handhabe gegen Dopingsünder geben. Es lassen sich bei Ermitt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5949 (A) (C) (D)(B) lungen alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung aus- schöpfen. Breitensportler sind bewusst ausgenommen. Ziel des Gesetzes ist es ausdrücklich nicht, den Sport zu krimina- lisieren. Dabei sind zwei Kriterien wichtig, nämlich dass es sich im Anwendungsbereich um Kaderathleten han- delt oder nennenswerte Einnahmen mit dem Betreiben des Sports erzielt werden. Dieser Punkt ist deshalb von Bedeutung, da auch die immer beliebter werdenden sportlichen Großereignisse jenseits des organisierten Sports, etwa ein Stadtmarathon mit hohen Preisgeldern, in besonderem Maße fair bleiben müssen. Es ist richtig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, wenn Sie sagen, das gesamte Umfeld der Athleten muss beim Thema Doping in die Pflicht genommen werden. Die Gesetzesinitiative von BMI und BMJV sieht dies auch vor, sodass etwa Trainer und Betreuer bei aktiver Unterstützung strafbar handeln. Besonders mit Blick auf die deutsche Olympiabewer- bung halte ich das geplante Gesetz für sehr wichtig. Bei internationalen Sportgroßereignissen ist die mediale Aufmerksamkeit bei einem konkreten Dopingfall enorm. Im Lichte dieses Scheinwerfers ist die Integrität des Sports insgesamt schnell gefährdet. Es geht in der Gesetzesinitiative der Bundesregierung genau um diese so zentrale Integrität des Sports. Es ist wichtig, dass der Gesetzgeber zu seinem schärfsten Schwert, nämlich dem Strafrecht, greift, um bei Regel- verstoß ein klares Zeichen zu setzen und den sauberen Sport zu schützen. Michaela Engelmeier (SPD): Wir beraten heute also den Antrag der Linken, und ich muss zugeben: Als ich den Titel des Antrags, „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“, zum ersten Mal las, da musste ich schon schmunzeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, seien Sie versichert: Das läuft! Wissen Sie auch, warum? Weil viele Mitglieder dieses Hohen Hau- ses – ganz besonders aus der SPD, die es im Koalitions- vertrag verankert hat – ausdauernd und erbittert für ein solches Gesetz gekämpft haben. Ein Gesetz, das genau jene Ziele erfüllt, die Sie in Ihrem Antrag aufgeschrie- ben haben: Sie wollen „Sportlerinnen und Sportler sowie den freien Wettbewerb im Sport vor unlauteren Mani- pulationen in Form von Doping ... schützen“, und Sie wollen „die Autonomie des Sports“ berücksichtigen. Als sportpolitische Sprecherin meiner Fraktion kann ich Ihnen sagen: Ja, das wollen wir auch. Mir fallen da einige Kolleginnen und Kollegen ein, die – schon länger als ich – hier im Haus genau dafür eintreten, ja regel- recht kämpfen. Und nicht nur in der Politik, auch in der Gesellschaft treffen diese Ziele auf eine breite Zustim- mung. Doch geht es eben nicht nur darum, was wir wol- len, sondern auch darum, wie wir es erreichen möchten. Die Werte des Sports – und das ist für mich als Sport- lerin keine Floskel – sind Fairness, Respekt und Tole- ranz. Aber die Werte sind auch das Bewusstsein für und die Achtung vor Gesundheit. Um diese Werte zu schüt- zen, bedarf es einer leidenschaftlichen Kraftanstrengung. Es ist die Aufgabe der Politik, dies zu leisten. Sport und Politik sind sich dabei sehr ähnlich. Im Sport muss man konzentriert und leidenschaftlich für das Team und die Ziele, die man verfolgt, eintreten. Geduld und Ehrgeiz sind dazu ebenso notwendig wie Sachkenntnis und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Und Politik? Der berühmte Soziologe Max Weber meinte: „Politik bedeutet ein starkes und langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Das gilt meines Erachtens auch für den Sport und ganz besonders für die Sportpolitik. Das harte Brett – das Anti-Doping-Gesetz – kann nur durch leidenschaftlichen Einsatz und mit zuverlässiger Sachkenntnis gebohrt werden. Doch leider fehlt dem Antrag der Linken genau das: Augenmaß und Leidenschaft. Denn einige Forderungen sind teilweise etwas realitätsfern: Da soll die NADA eine Zusammenfassung der negativen Auswirkungen von Arzneimitteln zum Muskelaufbau herausgeben. Und alle Sportvereine, Sporteinrichtungen und Fitnessstudios werden verpflichtet, Ausdrucke dieser Zusammenfas- sungen anzubringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wie darf ich mir das denn in der Praxis vorstellen? Wer be- zahlt das, und vor allem wer soll das denn kontrollieren – macht das Herr Gysi persönlich? Im besten Fall kommt dabei so etwas heraus wie bei den Jugendschutzgesetz- tafeln; die hängen in üblen Spelunken, übrigens gerne einmal in der Ecke hinter dem Feuerlöscher. Es ist die Aufgabe der Sportpolitik, den Sport kon- struktiv und kritisch zu begleiten. Nicht den Sport zu regeln, sondern einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der es dem Sport überhaupt erst ermöglicht, seine Auto- nomie und seine Integrität zu wahren. Dafür, liebe Kol- leginnen und Kollegen von der Linken, ist einiges nötig von dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. Und – hören Sie genau hin – ich teile Ihre Ziele! Doch muss ich Ihnen leider sagen: Wir setzen diese Ziele bes- ser um. Ich möchte heute nichts vorwegnehmen, doch ich kann Ihnen versichern, da kommt etwas auf Sie zu. Sie fordern die Definition von Doping, Dopingmitteln und Dopingmethoden. Das regeln wir! Man kann das übrigens recht aktuell gestalten, indem die Definition einfach aus dem Internationalen Übereinkommen gegen Doping im Sport übernommen wird. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Sie fordern ein gutes Anti- Doping-Gesetz, das den genauen Adressatenkreis be- nennt und die Straftatbestände festlegt. Das regeln wir! Wir wollen aber noch mehr. Wir möchten ein Gesetz, das die konkrete Anwendung von Doping unter Strafe stellt und eine Dopingprävention ermöglicht. Darüber hinaus müssen aber auch die Produktion und der Handel von Dopingmitteln beachtet werden. Leidenschaft und Augenmaß, nur so werden die dicken Bretter der Politik gebohrt, nur so kommen wir zu einem differenzierten und ausgewogenen Anti- Doping-Gesetz. 5950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Für ein solches Gesetz streitet die SPD-Bundestags- fraktion schon lange mit Leidenschaft und Augenmaß. Und dieses Gesetz, das wird kommen! Dr. André Hahn (DIE LINKE): Über die Doping- praktiken im Leistungssport der DDR ist in den Jahren nach 1990 umfänglich berichtet worden, und daran, dass es in vielen, insbesondere den olympischen Sportarten ein organisiertes und politisch gestütztes Dopingsystem gegeben hat, gibt es heute keine ernsthaften Zweifel mehr. Dieser Teil der deutschen Sportgeschichte wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbei- tet – was notwendig war –, er wurde aber leider häufig auch politisch instrumentalisiert. Ja, in der DDR wurde gedopt, aber dennoch wurde die Mehrzahl der sportli- chen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt. Gedopt wurde – und auch das wird heute niemand mehr leugnen – auch in Westdeutschland, wenn auch vielleicht nicht im gleichen Umfang. „Wie nah war die BRD der DDR?“ So titelte der Ber- liner Tagesspiegel im Mai 2007 seinen Bericht über sys- tematisches Doping im westdeutschen Radsport und die darin nach Aussagen des Olympia-Arztes Georg Huber offenbar verwickelten Sportmediziner der Universitäts- klinik in Freiburg. Der heutige Bundesfinanzminister Schäuble soll laut der früheren ARD-Sendung Kontraste schon 1977 hin- sichtlich der damals längst verbotenen Anabolika geäu- ßert haben: „Wir wollen solche Mittel nur eingeschränkt und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es of- fenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.“ Bei der Einweihung des Medizinischen Zentrums 1976 in Freiburg machte auch der damals für den Leis- tungssport zuständige Vertreter im Bundesinnenministe- rium, Gerhard Groß, im Südwestfunk brisante Aussagen. An den Sportmediziner Joseph Keul gewandt, sagte der damals unter Minister Maihofer tätige Groß: „Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit her- beigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grund- sätzlich diese Auffassung. Was in anderen Staaten er- folgreich als Trainings- und Wettkampfhilfe erprobt worden ist und sich in jahrelanger Praxis ohne Gefähr- dung der Gesundheit der Athleten bewährt hat, kann auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden.“ Das hören heute manche nicht gern, die offenbar noch immer in Zeiten des Kalten Krieges verhaftet sind und in erster Linie eine Abrechnung mit der DDR betreiben wollen; aber die Fakten sprechen eine klare Sprache. 2013 kam dann auch eine Studie der Berliner Humboldt-Universität zu dem Schluss: Doping mit wis- senschaftlicher Unterstützung und aus politischen Moti- ven hat es auch in Westdeutschland gegeben. Die soge- nannte Steiner-Kommission hat diesen Befund bestätigt. Namen und Fakten, Ross und Reiter wurden allerdings nicht geliefert, während Verantwortliche aus DDR-Zei- ten in den 90er-Jahren nicht nur benannt, sondern zum Teil auch strafrechtlich verfolgt wurden. Von wirklich gleichberechtigter Aufarbeitung kann also keine Rede sein, und leider fehlt ja auch noch im- mer eine ganz wichtige Untersuchung, nämlich die des Zeitraums seit 1990. Wir als Linke plädieren ganz nach- drücklich dafür, dass die Studie der Humboldt-Universi- tät noch um diesen Komplex ergänzt wird. Ich habe eingangs die Uni in Freiburg erwähnt. Die heutige Debatte kann logischerweise auch nicht losge- löst von der derzeit tobenden Auseinandersetzung um die Fortführung der Arbeit der dort eingesetzten Aufklä- rungskommission und die Versuche der Universitätslei- tung, deren vollständigen Abschluss zu be-, wenn nicht gar zu verhindern, geführt werden. Dabei wird offenbar sogar in Kauf genommen, dass die in den letzten Jahren akribisch zusammengetragenen Daten und Akten wo- möglich sogar vernichtet werden. Für die Linke sage ich hier klar und deutlich: Das darf nicht passieren! Die Kommission muss ihre Arbeit geordnet zu Ende führen und die Ergebnisse öffentlich präsentieren können. Und wenn das Gremium erst vor wenigen Tagen neue Unter- lagen im Umfang von über 18 000 Seiten über das Wir- ken einer zentralen Figur der mutmaßlichen Dopingakti- vitäten der Freiburger Medizinfakultät erhalten hat, dann müssen die Mitglieder diese natürlich auch auswerten und in den Abschlussbericht einarbeiten können. Alles andere wäre ja geradezu absurd. Wenn nun seitens des Rektorats ein unverzüglicher Abschluss der Überprüfung gefordert wird, dann drängt sich der Verdacht auf, dass hier etwas vertuscht werden soll. Ich bin insofern der baden-württembergischen Wis- senschaftsministerin Bauer sehr dankbar, dass sie sich klar für eine gründliche Aufarbeitung ohne Druck ausge- sprochen hat. Der Blick zurück ist wichtig. Noch wichtiger aber ist die Auseinandersetzung mit Dopingpraktiken heute und mit präventiven Maßnahmen für morgen. Diesem Ziel dient der von meiner Fraktion vorgelegte Antrag. Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmen- kataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle waren letztlich nur mäßig erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht der Linken nun endlich entschlossen gehandelt werden. Das hat ja offenbar auch die die Regierung tragende Mehrheit erkannt, weshalb im Koalitionsvertrag die Ver- abschiedung eines Anti-Doping-Gesetzes ausdrücklich verankert ist. Innenminister de Maizière hatte im Sport- ausschuss avisiert, dass ein entsprechender Gesetzent- wurf bis zur Sommerpause vorliegen würde. Geliefert hat er nicht. Bislang kursiert lediglich ein Referentenent- wurf, der viele vernünftige Punkte enthält, bei dem aber völlig unklar ist, ob er in der Koalition und insbesondere in der CDU/CSU-Fraktion auch nur ansatzweise mehr- heitsfähig ist. Deshalb stellen wir nunmehr hier im Bun- destag einen eigenen Antrag zur Diskussion. Für uns steht fest: Doping gefährdet die Gesundheit und ist eine Gefahr für den Sport als solchen und die Werte, die durch ihn in die Gesellschaft transportiert werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Do- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5951 (A) (C) (D)(B) ping im Sport noch deutlich wirksamer als bisher zu be- kämpfen. Zu den Vorschlägen der Linken gehören die Einfüh- rung eines neuen Straftatbestandes „Sportbetrug“ in das Strafgesetzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvor- schriften für den Handel mit Dopingmitteln sowie der Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren. Pharmazeutische Unternehmen sollen verpflichtet wer- den, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind, entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen an- zubringen. Für den Schutz von Whistleblowern wollen wir bereichsspezifische Regelungen schaffen. Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfte Sanktionen für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler vorgeschlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betrei- ben, sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbe- werb zu verschaffen. Für diesen Sportbetrug sollen bei Wiederholungstätern auch Freiheitsstrafen verhängt wer- den können. Die Geldbußen sollen sich jeweils an der Höhe der direkt oder mittelbar durch den Sport erzielten Einnahmen orientieren, können also wie Gehalt, Sieg- prämien und Werbeverträge von Sportart zu Sportart durchaus unterschiedlich sein. Der Besitz nicht geringer Mengen an Dopingmitteln soll künftig unter Strafe ge- stellt werden. Bereits vorhandene Regelungen, zum Bei- spiel aus dem Arzneimittelgesetz, AMG, sollen zusam- mengefasst und angepasst werden. Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem Anti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aus- höhlung der Sportgerichtsbarkeit. Beides kann problem- los nebeneinander funktionieren. Die Verbände können bei Dopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen. Bei gra- vierenden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder bei Wiederholungstätern kann aber künftig auch die Staatsanwaltschaft tätig werden. Das ist im Übrigen auch keine unzulässige Doppelbe- strafung, denn schon heute wird ein Fußballprofi gemäß Regelwerk nach einer Tätlichkeit vom Platz gestellt und entsprechend gesperrt, und darüber hinaus kann es den- noch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung geben. Bei Sportlern am Ende ihrer Karriere können Sperren sogar gänzlich ins Leere gehen, wenn sie ein- fach ihre Laufbahn beenden. Gerade auch hier erhöht eine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entspre- chender Mittel zu bedienen. Darüber hinaus muss aus unserer Sicht die Unabhän- gigkeit und angemessene finanzielle Förderung der Na- tionalen Anti Doping Agentur, NADA, dauerhaft sicher- gestellt werden, damit auch die Kontrolldichte erhöht werden kann. Zu den Präventionsmaßnahmen sollen Aufklärungs- aktivitäten im Jugend- und Nachwuchssport sowie im Fitnesssport sowie die Aus- und Weiterbildung der in die- sem Umfeld tätigen Personen über die Wirkungen von anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und sporttypischen Aufbaupräparaten sowie die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle gehören. Der vorliegende Antrag zielt hinsichtlich der straf- rechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Dopingan- wendung im Hochleistungssport, nicht aber auf gesund- heitliche Gefährdungen durch die Einnahme verbotener Substanzen, wie zum Beispiel von Anabolika in Fitness- studios. Das kann weder in einem Gesetz geregelt noch wirksam kontrolliert werden. Mit unserem Antrag wollen wir als Linke konstruk- tive Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten und freuen uns auf die Debatte im Fachausschuss. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin mir sicher, dass wir über alle Fraktionen hinweg überein- stimmen: Der Kampf gegen Doping ist eines der zentra- len Themen im Sport. Gleichzeitig bestimmt Doping auch viele Diskussionen im Spitzensport. Schauen Sie auf den internationalen Radsport, wo trotz der Do- pingskandale und der gefallenen Radsporthelden wie Armstrong munter weitergedopt wird. Mitte Oktober standen 112 Profifahrer auf der Sperr- liste des Weltverbandes UCI und die Dunkelziffer wird weit höher sein. Und mit dem Rugby kommt ganz ak- tuell eine weitere Mannschaftssportart in Frankreich und Kanada in die Diskussion. Vielleicht sollten wir uns auch den Fußball genauer anschauen. Jedenfalls ist ein Anti-Doping-Gesetz überfällig. Auch in diesem Bereich hat die Bundesregierung viel angekündigt, hier warten wir auf die Lieferung. Es ist doch mehr als peinlich, sich vom Chef der US-Antido- pingbehörde Trevis Tygart belehren lassen zu müssen, wie der Kampf gegen Doping in Deutschland geführt werden müsste. Das Schlimme ist doch, dass er in der Analyse recht hat und dass unsere Anstrengungen nicht weit genug gehen. Dieser mangelnde Wille in Deutschland zeigt sich zum Teil auch im Umgang mit der Dopingvergangenheit unseres Landes. Die Opfer des systematischen Dopings in der DDR werden weiterhin mit den gesundheitlichen Folgen alleinegelassen, und es gibt keine Anzeichen, dass sich etwas grundsätzlich an dieser Haltung ändert. Aktuelles Beispiel Freiburg: Hier scheint die Arbeit ei- ner wichtigen Kommission zur Aufarbeitung der Do- pingforschung in Westdeutschland durch die betroffene Universitätsklinik behindert zu werden. Das darf nicht hingenommen werden. Also, wo bleibt die Initiative der Bundesregierung in der Anti-Doping-Gesetzgebung? Ich bin gespannt, ob sich bis zum Ende der Wahlperiode et- was tut – nötig ist es längst. Inhaltlich möchte ich dafür werben, den Zweck eines Anti-Doping-Gesetzes auf den Schutz der Sportlerinnen und Sportler und des Wettbewerbs im Sport vor unlaute- ren Manipulationen auszurichten. Die Einführung einer Besitzstrafbarkeit und die Ausrichtung des Gesetzes- zwecks auf die Gesundheit der Sportlerinnen und Sport- ler sind nicht auf der Höhe der Zeit. Vor allem ist es auch höchst fragwürdig, der mit der Einnahme von Doping- mitteln verbundenen Eigengefährdung mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen. 5952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Und bezüglich der Meldepflichten der Sportlerinnen und Sportler braucht es eine eindeutige Rechtsgrund- lage. Dabei darf es nicht nur um die Verpflichtung der Sportlerinnen und Sportler gehen, jederzeit ihren Auf- enthaltsort der NADA mitzuteilen, sondern dies auch da- tenschutzrechtlich abzusichern. Denn wenn wir schon auf der einen Seite die Strafbarkeit deutlich verschärfen, müssen wir wenigstens diskutieren und Wege aufzeigen, wie im Gegenzug das Recht der Sportlerinnen und Sportler auf Privatsphäre gestärkt werden müsste. Wir sind nicht der Auffassung, dass Sportlerinnen und Sportler völlig rechtlos gestellt werden dürfen. Wir sollten uns aber auch fragen, ob wir nicht auch die Fördermechanismen des Leistungssports und die wieder stärker diskutierte Ausrichtung auf Medaillen überdenken müssen. Denn wenn wir davon ausgehen – und meiner Ein- schätzung nach müssen wir dies –, dass im internationa- len Spitzensport Doping leider nicht die absolute Aus- nahme, sondern eher die Regel ist, wird eine einseitige Ausrichtung der Sportförderung auf Medaillen nicht für weniger Doping im Sport sorgen. Ich freue mich auf unsere kommenden Diskussionen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Im letzten Jahr mussten zahlreiche Betriebsleiter den Äm- tern Auskunft über Ihre Betriebs- und Produktionsstruk- turen erteilen. Für den einzelnen Landwirt ist die Agrar- strukturerhebung zunächst ein bürokratischer Akt, den man über sich ergehen lassen muss. Statistik und Zahlen, ein Thema, das vielfach auf Desinteresse stößt. Ähnlich wie bei Mathematik und Ökonomie sehen Unbedarfte in der Statistik eine Übung, die der Praxis weit unterlegen ist und nur eine Berechti- gung hat, wenn es darum geht, den eigenen Standpunkt zu bekräftigen. Für Verwaltung, Verbände und Wissenschaft liefert sie jedoch wertvolle Erkenntnisse. Denn nur auf Grund- lage belastbarer Zahlen kann ein verlässliches Bild der deutschen und europäischen Landwirtschaft gezeichnet werden. Schließlich geht es um nicht weniger als die Nutzung von 18,6 Millionen Hektar Agrarland; das sind mehr als 50 Prozent der Fläche unseres Landes. Mithilfe der Ergebnisse kann zum Beispiel der Erfolg von Agrar- und Marktpolitiken eingeordnet werden. Hat ein speziel- les Förderprogramm tatsächlich seine Wirkung erzielt? Oder haben Marktmaßnahmen zum gewünschten Erfolg geführt? Ein Vergleich der Statistiken gibt Aufschluss. Nehmen wir ein Beispiel: Das Jahr 2014 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der fa- milienbetriebenen Landwirtschaft ausgerufen. Anhand der Daten der Agrarstrukturerhebung 2013 können wir für Deutschland feststellen, dass rund 90 Prozent der Be- triebe in Deutschland familiengeführt sind. Das ent- spricht 256 000 Betrieben. Allerdings hat die Zahl der Familienbetriebe gegenüber der Landwirtschaftszäh- lung aus 2010 um 6 Prozent abgenommen. Was können wir für Schlüsse aus dieser Entwicklung ziehen? Die Antwort bestimmt das Auge des Betrachters: Aus Sicht der Verwaltung kann die Effizienz von För- dermaßnahmen in diesem Bereich beurteilt werden. Die Wissenschaft kann mit aktuellen Zahlen Zukunftsszena- rien berechnen und konkretisieren. Wir Politiker hinge- gen müssen uns entscheiden: Geht die Entwicklung in die gewünschte Richtung? Um das zu entscheiden, braucht es zunächst ein ge- meinsames Ziel – oder vielmehr ein gemeinsames Leitbild. Je breiter die Mehrheiten für dieses Ziel sind, desto effektiver können passende Maßnahmen durch- gesetzt werden. Bleiben wir beim Beispiel der Familienbetriebe: Familiengeführte Agrarunternehmen sind das Marken- zeichen des ländlichen Raums in Deutschland – und sie bringen viele Vorteile. Denn landwirtschaftliche Famili- enunternehmen erzielen eine hohe Wertschöpfung, die in der Regel im ländlichen Raum verbleibt. Sie wirtschaf- ten meist nachhaltiger und mit mehr Arbeitskräften als zum Beispiel anonyme Kapitalgesellschaften. Durch Di- versifizierung und Eigentumsstreuung wird struktur- schwacher ländlicher Raum lebenswert gehalten. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass das soziale und gesellschaftli- che Engagement der Familien – etwa in Kirchen, Verei- nen oder Feuerwehren – ein Garant für lebendige Dörfer ist. Dass Landwirtschaft und ländlicher Raum auch an- ders aussehen können, ging aus dem Bericht der Dele- gationsreise des Landwirtschaftsausschusses in die USA hervor. Dort können Sie mehrere Hundert Kilometer über Land fahren, ohne an einem Haus, einem landwirt- schaftlichen Betrieb, geschweige denn an einem Dorf vorbeizukommen. Einmal davon abgesehen, dass wir es nicht mit dem Flächenpotenzial der Vereinigten Staaten aufzunehmen brauchen, stellt sich für mich vor allem die Frage: Welche Agrarstruktur möchten wir in Deutsch- land haben, und wie können wir diese fördern und be- gleiten? Meiner Ansicht nach ist der landwirtschaftliche Fami- lienbetrieb das passende Leitbild für die Agrarpolitik. Dabei ist es unerheblich, ob der Betrieb konventionell oder ökologisch bewirtschaftet wird. Wichtig erscheint mir, dass die Verbindung von Eigentum, Arbeit und Kapital in den ländlichen Regionen erhalten bleibt. Auch wenn mehrheitlich noch die landwirtschaftli- chen Betriebe für Arbeit und Vitalität im ländlichen Raum sorgen, können wir uns dem Wandel in den Dörfern nicht verschließen. Gerade auslaufenden Land- wirtschaftsbetrieben müssen wir Chancen eröffnen, um zum Beispiel über Tourismus oder Umweltdienstleistun- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5953 (A) (C) (D)(B) gen weiterhin im ländlichen Raum wirtschaften zu können. Natürlich lassen sich durch die Statistik Tatsachen verstärkt oder abgeschwächt darstellen, doch eins ist si- cher: Die Zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen geht stetig zurück. Mit der heutigen Dritten Änderung des Agrarstatistik- gesetzes werden Erhebungsmerkmale für verschiedene Bereiche der Agrarstatistik angepasst und konkretisiert. In der Geflügelhaltung wird zum Beispiel der Geflügel- bestand nicht mehr zu einem Stichtag erfasst, sondern über die Zahl der Haltungsplätze ermittelt. Das schafft eine aussagekräftigere Datengrundlage, wodurch die strukturelle Entwicklung der Branche besser interpretiert werden kann. Im Zuge der Agrarstrukturerhebung 2016 wird eine Produktionsgartenbauerhebung durchgeführt. Allerdings werden zusätzliche Angaben abgefragt, die nicht Teil der Agrarstrukturerhebung sind. Das sind zum Beispiel Daten zum Energieverbrauch nach Energieträ- gern oder zur Beheizung. Dadurch könnten Maßnahmen zur energieeffizienten Produktion im Gartenbau abgelei- tet und gefördert werden. Landwirtschaft ist Vielfalt. Dies sehen wir bestätigt, wenn wir den Gesetzentwurf einmal durchblättern. Hennenhaltungsplätze, Mostgewicht, Aquakulturstatis- tik, Gartenbausämereien, Bodenbearbeitungsverfahren, Rebsorten – das sind nur einige Stichworte, die im Text enthalten sind. Und Landwirtschaft entwickelt sich; neue Techniken, neue Verfahren, neue Züchtungen kommen ständig dazu. Gerne wird der landwirtschaftliche Berufsstand in Pres- semeldungen einzig auf Ertragszahlen reduziert. Doch unsere Bauern wissen um die Mehrdimensionalität ihrer Tätigkeit. Saatgut, Energieverbrauch, Produktqualität, Boden- beschaffenheit und die Gestaltung von Kulturräumen sind längst integrale Bestandteile des Berufsfeldes. Die Agrarstatistik bildet all diese Entwicklungen ab, macht sie zugänglich, erlaubt Interpretationen, und nicht zuletzt zeichnet sie ein Bild des Wandels in der Landwirtschaft. Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, trägt den Veränderungen im Agrarbereich Rechnung. In erster Linie geht es um die Anpassung an EU-Vorschrif- ten. Schließlich – so heißt es in der Begründung –: „Die Betriebsstrukturerhebungen sind für die Europäische Kommission von großer Bedeutung als Grundlage für die Entwicklung und Bewertung von Maßnahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie zur Förderung der ländlichen Entwicklung.“ Bei einem Gesamtetat der EU von 57,8 Milliarden Euro für den Agrarsektor ist Transparenz über Verwen- dung dieser öffentlichen Mittel oberstes Gebot. Das Agrarstatistikgesetz schafft entsprechende Voraussetzun- gen und fördert die Kooperation zwischen den öffentli- chen Institutionen als Fördermittelgeber und den Land- wirten als Empfänger. „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.“ Dieses Zitat, das dem Griechen Pythagoras zugeschrieben wird, trös- tet zwar nicht über die Mühen um Umstände ordentli- cher Buchführung hinweg. Trotzdem mahnt es auch uns Landwirte zu Sorgfalt und Einsicht um die Bedeutung statistischer Maßnahmen. Die Agrarstatistik liefert wertvolle Daten, die uns Po- litikern als Entscheidungsgrundlage dienen. Nutzen wir die Fakten, um strukturelle Entwicklungen in der deut- schen Landwirtschaft zu erkennen und zu hinterfragen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Ein bekannter Auto- manager sagte einmal: „Ich will Sie nicht mit Statistiken quälen – sondern ganz ohne!“ Auch ich will Sie heute nicht mit Statistikdetails quälen. Deswegen werde ich auch nicht über die hier zu beschließenden Änderungen des Agrarstatistikgesetzes im Einzelnen reden – nicht über die Baumobstanbauerhebung, die Rebflächenerhe- bung, die Agrarstrukturerhebung, die Gartenbauerhe- bung, die Erhebung in den Betrieben der Holzbearbei- tung. Hier geht es in erster Linie um Anpassungen an europäisches Recht. Das müssen wir einfach machen, und zwar so schlank und so geschickt wie möglich. Ja, geschickt – weil davon, wie wir Anforderungen zur Da- tenerhebung ausgestalten, viel abhängt. Davon können die Bauern in diesem Land ein Lied singen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn wir wirklich etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be- triebe machen wollen, dann sollten wir sie, wo es geht, von Pflichten entlasten, die der Landwirt oder die Land- wirtin nicht auf dem Acker oder im Stall erfüllen muss, sondern im Büro. Ich weiß, dass sich das immer so platt anhört, und mir ist auch klar, dass es nicht einfach die bösen Ministerien sind, die sich neue Anforderungen ausdenken. Meist geht es einfach darum, das gut zu voll- ziehen, was wir hier im Parlament beschließen und was sich die Politik in Brüssel überlegt. Für den Landwirt im Betrieb bleibt das Ergebnis dennoch das Gleiche. Deswegen möchte ich exemplarisch ein konkretes, ein brandaktuelles Beispiel ansprechen, bei dem noch völlig offen ist, wie ernst es Bund und Länder mit dem Thema Bürokratieabbau nehmen – die Antibiotikaüber- tragung. Sie wissen: Das neue Arzneimittelgesetz ist zum 1. April 2014 in Kraft getreten. Danach müssen alle An- tibiotika, die für Masttiere angewendet oder abgegeben werden, an eine staatliche Antibiotikadatenbank gemel- det werden. Das ist ein Riesenaufwand – vor allem, wenn man dieses System neu aus dem Boden stampft, statt Bestehendes zu nutzen. Es gibt ein bestehendes und bestens funktionierendes System, das wirtschaftsgetragene sogenannte QS-Sys- tem, das bereits in vielen Betrieben zum Einsatz kommt, gerade in der Schweinemast. Wenn man das nutzt, liegt der Mehraufwand fast bei null. Nutzen wir es nicht, ist er gewaltig. Mir wurde gerade berichtet, dass QS jetzt die techni- schen Voraussetzungen für eine direkte Datenübermitt- lung geschaffen hat. Die Meldungen zur Abgabe von Antibiotika an Mastschweine, Mastgeflügel, Mastkälber und Mastrinder könnten also von QS jederzeit automati- 5954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) siert weitergeleitet werden. Ich danke dem BMEL hier ausdrücklich für seinen großen Einsatz in den Gesprä- chen mit QS. Aber Sie werden es nicht glauben: Die Daten werden dennoch nicht übermittelt. Weil sie nicht von den Behör- den der Länder angenommen werden. Ich frage mich und Sie: Warum? Vor allem deshalb, weil eine Reihe von Ländern Anforderungen an die Datenerhebung stellen, die weder das AMG selbst noch die entsprechende Durchführungsverordnung vorsehen, nämlich die tagge- naue Information über jeden Zu- und Abgang. Ich möchte einmal beschreiben, was das bedeutet: Da soll ein Betrieb mit, sagen wir, 200 000 Puten jeden Tag jede einzelne Bestandsveränderung durchgeben, jedes einzelne gestorbene Tier den Behörden melden. Und wo- für? Als ob es für die Bemessung der Antibiotikamenge auf einen Zweihunderttausendstelwert heruntergerechnet ankäme. Das ist wirklich absurd! Deshalb an dieser Stelle mein Appell an die Länder: Bitte leisten nach dem BMEL und QS auch Sie Ihren Beitrag zu einer verantwortungsvollen, halbwegs büro- kratiearmen Lösung der Antibiotikameldung im AMG. Denken bei allem auch Sie einen Moment lang an die Bauern und daran, wo wir deren Zeit wirklich brauchen: im Stall bei ihren Tieren zum Beispiel. Deshalb meine Botschaft: Statistiken sollten nicht quälen, schon gar nicht ohne vernünftigen Grund. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute debattieren wir über die Änderung eines Gesetzes, das im Grundsatz schon seit 1989 existiert, 2009 neu gefasst wurde und die Basis für statistische Auswertungen und damit für unsere Politik im Agrarbereich ist. Schon Galileo Galilei wies mit seinen Worten „Alles messen, was messbar ist – und messbar machen, was noch nicht messbar ist“ darauf hin, wie bedeutsam statistische Erhebungen sind. Das Agrarstatistikgesetz in seiner aktuellen Fassung regelt bereits die Durchführung von elf Einzelstatistiken im Rahmen der Bundesstatistik. Es ist damit die Grund- lage für Erhebungen über Ernte, Bodennutzung, Viehbe- stände, Strukturen in land- und forstwirtschaftlichen Be- trieben, Geflügel, Wein, Holz usw. Beispielsweise führt das Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel (Max Rubner-Institut) im Rahmen der „Besonderen Ernte- und Qualitätsermitt- lung“ jährliche Untersuchungen durch. Die Qualität un- serer landwirtschaftlichen Produkte und letztendlich die Sicherheit unserer Lebensmittel kann so besser beurteilt werden. Dazu werden auf bis zu 10 000 Feldern unserer landwirtschaftlichen Betriebe Ernteproben gezogen, analysiert und ausgewertet. Das Gesetz schafft damit wesentliche Entscheidungshilfen für Politik und Wirt- schaft. Der Boden ist der wichtigste und ein knapper Produk- tionsfaktor unserer Landwirtschaft. Er ist nicht vermehr- bar. Darum ist die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit eines der wichtigsten Ziele im Agrarbereich. Die Boden- fruchtbarkeit ist Grundlage der Ertragsfähigkeit unserer Landwirtschaft. Auch darüber liefert das Agrarstatistik- gesetz wichtige Informationen und Entscheidungshil- fen. Die Erhebung zur Bodenerhaltung stellt Informatio- nen über die Bodenbedeckung im Winter und zur Größe des Ackerlandes ohne Fruchtwechsel zur Verfügung. Zu- sätzlich werden im Rahmen der Bodennutzungshaupter- hebung Angaben zu angebauten Kulturarten, Pflanzen- gruppen, Pflanzenarten und Kulturformen erfragt. Das vorliegende Gesetz ist zum einen notwendig, um die Vorschriften des Unionsrechts umzusetzen, und zum anderen, um die Inhalte einiger Erhebungen im Agrarbe- reich an den aktuellen Datenbedarf anzupassen. Mit diesem Gesetz kommen wir auch einer wichtigen Forderung des Bundesrates nach, eine Gartenbauerhe- bung durchzuführen. Mit einer Bruttowertschöpfung von über 19 Milliarden Euro und einem Anteil von etwa 11 Prozent am Produktionswert der deutschen Landwirt- schaft leistet der Gartenbau einen wichtigen Beitrag im Agrarbereich. Zukünftig können wir auch in diesem Be- reich auf verlässliche Zahlen zurückgreifen. Im Bereich der Geflügelhaltung ist eine Anpassung der Erfassung an den aktuellen Datenbedarf sinnvoll. So wird neben der Zahl der Tiere auch die Zahl der Hal- tungsplätze erfasst. Damit lassen sich strukturelle Ent- wicklungen zukünftig besser interpretieren. Außerdem sollen Legehennenhalter monatliche Angaben zur Hal- tungsform machen. In der Landwirtschaft besteht die Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung, um den Landwirten die Arbeit mit der Umsatzsteuer zu erleichtern. Dieses Merkmal der Form der Umsatzbesteuerung wurde seit der Änderung des Agrarstatistikgesetzes 2009 nicht mehr regelmäßig erhoben. Für die Arbeit in unseren Ausschüssen ist es aber von großer Bedeutung, dass diese Angaben aktuell sind. Der Bundesrechnungshof stellte 2013 fest, dass ein nichtangepasster Umsatzsteu- ersatz für Pauschallandwirte zu erheblichen Steueraus- fällen führen kann. Die Anpassung des Durchschnitt- satzes um 1 Prozentpunkt entspricht bereits einem Umsatzsteuerbetrag von jährlich 150 Millionen Euro. Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Form der Umsatz- besteuerung zukünftig wieder regelmäßig erfasst wird. Sehr zu begrüßen ist die Straffung von Verwaltungs- aufgaben. Die Erhebung der weniger als 400 auskunftge- benden holzverarbeitenden Betriebe soll zukünftig durch das Statistische Bundesamt durchgeführt werden. Das ist ein Beispiel für eine sinnvolle Entlastung von Behörden bei gleichzeitig schnellerer Datenverfügbarkeit. Mit den beschlossenen Änderungen wird außerdem ein wichtiger Einwand des Bundesrates umgesetzt. Na- türlich ist es notwendig, den Energieverbrauch nicht für einen Berichtszeitpunkt, sondern für einen Berichtszeit- raum zu erheben. Aus unserer Sicht ist nur schwer zu verstehen, wie dieser Punkt im Gesetzentwurf übersehen und erst durch Mitwirkung des Bundesrates angepasst wurde. Diesen Fehler konnten wir noch rechtzeitig mit- hilfe des beschlossenen Änderungsantrages korrigieren. Die Gesetzesänderung sieht auch Ergänzungen im Betriebsregister Landwirtschaft vor. Beispielsweise kön- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5955 (A) (C) (D)(B) nen befragte Ökolandwirte durch die Verlagerung der Aufgaben auf das Betriebsregister Landwirtschaft deut- lich entlastet werden. Gleichzeitig ist sichergestellt, dass wir Biobetriebe eindeutig und effizient identifizieren können, und das kostenneutral. Zusätzlich wird zukünf- tig die Angabe zur ökologischen Wirtschaftsweise auch bei Baumobstanbauern erhoben. Damit erreichen wir, dass auch im Bereich Obst verlässliche Informationen und Zahlen zum Ökolandbau zur Verfügung stehen. Ins- gesamt können regionale landwirtschaftliche Strukturen in Deutschland besser dargestellt werden. Das begrüßen wir besonders vor dem Hintergrund der Stärkung ländli- cher Räume sowie des ökologischen Landbaus. Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention hat sich Deutschland verpflichtet, in jährlichen Emissionsin- ventaren auch Angaben zu Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft zu machen. Gerade mit Blick auf Strategien und Maßnahmen im Bereich der Klima- schutzpolitik und des Umweltschutzes sind diese Anga- ben von grundlegender Bedeutung. Ich begrüße deshalb die zusätzliche Erhebung von Merkmalen bei der Aus- bringung von Wirtschaftsdüngern sehr. Nur so können wir die erforderlichen Daten bei der Emissionsberichter- stattung sowie den steigenden Bedarf bei der Evaluie- rung des Düngerechts sicherstellen. Mit dem gestern beschlossenen Änderungsantrag unserer Koalition wird mit dem neuen Artikel 2 das Le- bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, rechts- technisch geändert. Die ab 13. Dezember dieses Jahres geltende EU-Lebensmittelinformationsverordnung machte es zwingend notwendig, allgemeine Täuschungsschutz- vorschriften des LFGB anzupassen. Nur so ist auch ge- währleistet, dass den Ländern mit Geltungsbeginn der Verordnung eine angepasste Täuschungsschutzvorschrift sowie darauf abgestimmte Straf- und Bußgeldvorschrif- ten zur Verfügung stehen. Insgesamt ist die Änderung des Agrarstatistikgesetzes ein wichtiger Schritt, um auch langfristig die wissen- schaftliche Grundlage für die Politik im Agrarbereich zu gewährleisten. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Das Agrarsta- tistikgesetz ist die einheitliche Rechtsgrundlage für den Agrarteil der Bundesstatistik. Das Gesetz wurde zuletzt im Jahr 2012 geändert und muss nun erneut an EU-Vor- schriften angepasst werden. Das bezieht sich vor allem auf das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Es geht aber auch um die Aktualisierung der Agrarstruktur- erhebung aus Sicht der Agrarumweltpolitik. Die Erhe- bung des Baumobstanbaus soll vereinfacht und die Reb- flächenerhebung angepasst werden. Die Vorschläge des Bundesrats hat der Änderungsantrag der Koalitionsfrak- tionen größtenteils aufgegriffen. Hört sich also gut und wenig spannend an und ist auch so. Eigentlich. Denn einige überfällige Änderungen zeigen, wie schnell scheinbar harmlose Regelungsdetails zu grobem Unfug und falschen statistischen Aussagen führen. Ein Beispiel: Bisher wurde beim Mastgeflügel der Tierbestand an einem Stichtag erhoben. Falls genau an diesem Tag der Stall wegen der Reinigung vor Neuein- stallung nach dem „Alles-rein-alles-raus-Prinzip“ leer stand, entfiel für diesen Betrieb nicht nur die aktuelle Berichtspflicht, sondern er fiel komplett aus der Statis- tik. Wegen statistischer Nichtexistenz wurde er auch nicht mehr kontrolliert. Diese Absurdität wird jetzt kor- rigiert durch die Erfassung der Haltungsplätze, egal ob sie aktuell besetzt sind oder nicht. Dieses Beispiel zeigt, dass Statistik alles andere ist als irrelevant und dröge. Leider hat die Statistik als Wissen- schaft ein schlechtes Image. Sie ist vielen suspekt, weil sie ihr Regelwerk nicht durchschauen. Das gilt zwar für viele Wissenschaftsdisziplinen, aber hier nährt es Miss- trauen, weil sie gleichzeitig als manipulierbar gilt und in der Realität ja auch nicht selten missbraucht wird. Das untergräbt in der Summe ihre Autorität und den Wert statistischer Analysen. Das wiederum ist fatal, denn ge- rade in der Politik sind wir auf objektive Bewertungen von Daten dringend angewiesen, sollen sie nicht auf Da- tenfriedhöfen landen und ihre Erfassung damit Alibi bleiben. Wir brauchen verlässliche statistische Analyse- ergebnisse, um Problemsituationen und ihre Ursachen exakt erkennen oder die Folgen politischer Entscheidun- gen bewerten zu können. Voraussetzung für belastbare Ergebnisse ist aber zwingend, dass erstens geeignete Daten erhoben und dass sie zweitens mit geeigneten Methoden analysiert werden. Beides ist leider oft nicht der Fall und deshalb sind auch immer wieder politische Entscheidungen auf dieser Basis falsch. Ein Beispiel. Wir wollen und müssen aus Klima- und Artenschutzgründen das Grünland erhalten. Wer aber Durchschnittswerte zum Grünlandanteil für große Zeit- räume und große Regionen zur Bewertung der Situation nutzt, wird dramatische Entwicklungstendenzen inner- halb dieses Zeitraums oder in Teilregionen übersehen. Ein anderes Beispiel. Wir wollen die biologische Vielfalt in der Agrarlandschaft erhalten. Wer auf positive Bestandsentwicklung der Kraniche schaut, wird beruhigt sein. Gleichzeitig senden dramatische Verluste bei bis- herigen Allerweltsarten wie Sperling oder Feldlerche Alarmsignale. Aus Sicht der Linksfraktion ist die Agrarstatistik also ein wichtiger und fahrlässig unter- oder absichtsvoll überschätzter Baustein der Agrarpolitik. Der Bundestag beschäftigt sich eher zu selten als zu oft mit statistischen Analysen. Selbst der Agrarbericht erscheint nur noch alle vier Jahre, weil das die Union-FDP-Koalition so be- schlossen hat. Deshalb steht er auch im Parlament nur noch einmal pro Wahlperiode auf der Tagesordnung. Die Linke war für einen zweijährigen Turnus, um auf Pro- blemsituationen schnell reagieren zu können. Ich halte das nach wie vor für richtig. Und leider werden in ihm auch längst nicht alle aus linker Sicht agrarpolitisch interessanten Daten erhoben. Aktuelle Tendenzen der Umverteilung des Bodeneigen- tums in immer weniger Hände mit schwarzen Geldkof- 5956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) fern ahnen wir bestenfalls. Aber politisch so brisante Entwicklungen sollten wir genau kennen. Auch über die Zusammensetzung landwirtschaftlicher Einkommen wis- sen wir zu wenig. Spannend wäre auch die Analyse der Entwicklung von Agrargenossenschaften und ihrer Funktion in den Dörfern. Sie werden absichtsvoll in der Kategorie „juristische Personen“ versteckt. Sonst wür- den sie noch als soziale, ökologische und demokratische Alternative zur Enteignung von Familienbetrieben durch den Markt entdeckt. Deshalb: Statistik wird zum spannenden Krimi, wenn man mit der Frage beginnt: Wem nutzt sie? Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): In unserem Land werden viele Tiere gehalten, sehr viele sogar. Das Agrarstatistikgesetz soll unter an- derem dafür Sorge tragen, dass regelmäßig erfasst wird, über wie viele Tiere wir hier sprechen. Denn schon lange ist die konventionelle, intensive Tierhaltung indoor in große Hallen verlegt. So kann es passieren, dass man durch die Region mit der europaweit höchsten Vieh- dichte fährt und außer ein paar Reitponys kein einziges Tier zu Gesicht bekommt. Dabei ist natürlich die Anzahl der genehmigten Hal- tungsplätze ausschlaggebend, nicht die aktuell eingestallte Tierzahl. Man stelle sich nur mal folgendes Szenario vor: Aus seuchenhygienischen Gründen beschließen Geflü- gelmäster einer Region, die Ställe frühzeitig zu leeren und eine freiwillige Stallruhe einzurichten, um den Keimdruck zu reduzieren. So geschehen kürzlich beim Auftreten der Virusinfektion der Infektiösen Laryngotra- cheitis – ILT– im Emsland. Dann sinkt die Anzahl der gehaltenen Tiere ganz schnell um einige 100 000 auf we- nigen Quadratkilometern. Daher ist die Änderung, dass beim Geflügel Haltungsplätze statt Tierzahlen erfasst werden, ein kleines, aber ungemein wichtiges Detail, das wir sehr begrüßen. Natürlich hätte die Bundesregierung noch weiter ge- hen können, um für noch mehr Transparenz und Vertrau- enswürdigkeit zu sorgen: Bei der Geflügelmast wäre es nämlich durchaus sinnvoll, die Häufigkeit der Erhebun- gen zu erhöhen. Denn kein anderer Zweig der sogenann- ten Veredelungsbranche wächst in so rasantem Tempo. Will der Schlachthof in Wietze seine Kapazitäten voll auslasten, müssen alleine hierfür noch 400 neue Hähn- chenmastanlagen gebaut werden. Was die Bundesregierung durch einen Änderungsan- trag kurzfristig noch angepackt hat, ist eine Änderung im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelge- setzbuch, das der ab 13. Dezember 2015 geltenden Le- bensmittelinformationsverordnung angepasst werden muss. Diese Änderung ist im Prinzip vor allem technisch und entspricht der Regelung in der Lebensmittelinforma- tionsverordnung, ist also tatsächlich eine Umsetzung und daher unproblematisch. Schade ist allerdings schon, dass nun diese rein tech- nische LFGB-Änderung vorgenommen wird, ohne sie mit anderen notwendigen Verbesserungen im Täuschungs- schutz zu verknüpfen. Mir würde da zum Beispiel eine Mitteilungspflicht der Unternehmer im Fall von schwer- wiegenden Verstößen bei Täuschung einfallen. Eine sol- che Mitteilungspflicht könnte bei schwerwiegenden Ver- stößen wie dem Pferdefleischskandal verhindern, dass die Unternehmen mit stillen Rückrufen reagieren, ohne Behörden oder Verbraucher zu informieren. Aber dass die Bundesregierung wider alle Bekundun- gen nichts aus dem Pferdefleischskandal gelernt hat, ha- ben wir ja gerade beim Thema Separatorenfleisch ge- merkt. Wieder hat die Bundesregierung also eine Chance verstreichen lassen, systematische oder größere Betrugs- fälle schneller entdecken und verfolgen zu können. Man hätte diese LFGB-Änderung außerdem mit der längst überfälligen Novellierung des § 40 1 a verknüpfen können. Damit könnte die Bundesregierung erwirken, dass die Veröffentlichung von Rechtsverstößen im Inter- net rechtssicher ist und die Länder wieder auf ihren In- ternetseiten über Verstöße informieren können. Warum soll bei uns nicht möglich sein, was in Österreich schon längst praktiziert wird? Diese LFGB-Novellierung ist schon lange angekündigt. Im Sommer war im Ausschuss die Rede von „in den nächsten Wochen“, zuletzt war der Entwurf für November angekündigt. Frau Aigner galt zu ihrer Amtszeit als Ankündigungsministerin. Es scheint sich so zu entwickeln, dass Minister Schmidt zumindest in diese Fußstapfen seiner Vorgängerin tritt. Ob er damit gut beraten ist, wage ich zu bezweifeln. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 21) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Mit der heutigen ab- schließenden Beratung des Gesetzentwurfs zur Ände- rung des Urheberrechtsgesetzes bringen wir eine über mehrere Legislaturperioden geführte Debatte zu Ende. Wir werden heute die Regelung über die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken in Unterricht und Forschung endgültig entfristen. Damit schaffen wir Rechtssicherheit für Verlage auf der einen und Bildungs- und Forschungseinrichtungen auf der anderen Seite. In den Beratungen im Rechtsausschuss sowie in der Fraktion ist deutlich geworden, dass auch die beiden jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes be- züglich der Definition der zulässigen Länge von Werk- teilen zur Nutzung in Unterricht und Forschung sowie insbesondere zur Regelung der Zugänglichmachung zu dieser Rechtssicherheit für die Beteiligten beitragen. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion wäre es sicherlich wünschenswert gewesen, das Ergebnis der höchstrich- terlichen Entscheidungen zur Klarstellung daher auch in den Gesetzestext aufzunehmen. Dies betrifft insbeson- dere den Vorrang eines angemessenen Lizenzangebots eines Verlages an eine Wissenschaftseinrichtung vor der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5957 (A) (C) (D)(B) Zugänglichmachung durch eine Universität oder andere Forschungseinrichtung. Da der Bundesgerichtshof die- sen Vorrang von vertraglichen Lizenzen in einem Urteil im vergangenen Jahr festgestellt hat, ist § 52 a UrhG auch nach der Entfristung in diesem Sinne auszulegen, sodass materiell-rechtlich eine solche Aufnahme in den Gesetzestext entbehrlich ist. Die Rechtsprechung stärkt somit insbesondere die Position der Rechteinhaber und der Urheber. Die Verlage und damit die Rechteinhaber sind zur Refinanzierung ih- res Angebots auf die Einnahmen aus Lizenzverträgen nicht nur angewiesen: Es liegt in der Natur des Urheber- rechts, dass die Rechte an einem Werk zunächst bei sei- nem Schöpfer liegen und alle Beschränkungen dieses Rechts, zu denen auch die Zugänglichmachung von Wer- ken oder Werkteilen für Unterricht und Forschung gehö- ren, daher zuallererst als Beschränkung des Eigentums verstanden werden müssen. Dabei ist das geistige Eigen- tum, das beim Urheberrecht betroffen ist, nach dem Grundgesetz ebenso schützenswert wie materielles Ei- gentum. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es aufseiten der Rechteinhaber auch einige Vertreter gibt, die unter dem Stichwort Schutz des Eigentums teils illusorische Preisvorstellungen durchsetzen wollen. Ein solches Verhalten bedauern wir natürlich, denn es scha- det dem deutschen Rechtsstaat und widerspricht auch in erheblichem Maße dem berechtigten Anliegen derjeni- gen Verleger, die selbstverständlich dem Prinzip des ehr- baren Kaufmanns, das wir aus dem Handelsrecht kennen, verpflichtet sind. Gerade für die deutsche Verlagsland- schaft als mittelständisch geprägtem Wirtschaftszweig gilt dies besonders. Dennoch haben die Urteile des Bundesgerichtshofs aus dem vergangenen Jahr bestätigt, dass der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes eine bewährte Regelung ist, die daher im Grundsatz nicht überarbeitet werden muss. Aus diesem Grund werden wir den Gesetzestext ohne Ände- rungen in die entfristete Regelung überführen. Die Diskussion um die urheberrechtlichen Schranken für Bildung und Wissenschaft wird mit der heutigen Per- petuierung der im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ent- haltenen Regelung jedoch nicht beendet sein. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzuführen, die sowohl den Belangen der Forschung als auch den be- rechtigten Belangen der Verlage gerecht wird. Die Ein- führung dieser allgemeinen Schranke für das Urheber- recht in Bildung und Wissenschaft wird eine umfassende rechtspolitische Diskussion und Bewertung erfordern, um die bestehenden Schrankenregelungen sinnvoll zu- sammenzufassen. Eine neue einheitliche Bildungs- und Wissenschaftsschranke darf dabei nicht den Inhalt der derzeit geltenden Schranken ad absurdum führen. Vielmehr muss gewährleistet sein, dass auch in einer zusammengefassten Schranke ein angemessener Interes- senausgleich zwischen den Beteiligten – Verlage, Wis- senschaftsinstitutionen und ihre Nutzer – gegeben ist. Die zukünftige Regelung einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschaftsschranke muss sich in die bestehende Systematik des Urheberrechts einfügen und den Urheber mit seinen Rechten als Ausgangspunkt sehen. Dies wer- den wir Rechtspolitiker in der anstehenden Diskussion mit den Kollegen aus der Bildungspolitik intensiv disku- tieren. Heute erreichen wir das Ende einer über viele Jahre geführten Debatte über die Geltung des § 52 a des Urhe- berrechtsgesetzes. Wir wissen, dass es nur das vorläufige Ende sein wird. Daher freue ich mich auf die kommen- den Diskussionen im Rahmen der weiteren Umsetzung des Koalitionsvertrages im Bereich des Urheberrechts. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent- wurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes wollen wir die bis Ende diesen Jahres geltende Befristung des § 52 a UrhG aufheben und die bisherige Sonderregelung für die öffentliche Zugänglichkeit urheberrechtlich ge- schützter Werke für Unterricht und Forschung in eine neu gefasste, dauerhafte Urheberrechtsschranke über- führen. Zum Hintergrund: § 52 a des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) ist durch das erste Gesetz zur Regelung des Ur- heberrechts in der Informationsgesellschaft vom 10. September 2003 in das UrhG eingefügt worden. Diese Regelung erklärt es für zulässig, kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Bei- träge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Ver- anschaulichung im Unterricht an Schulen, Hochschulen und weiteren Einrichtungen einem eingegrenzten Kreis von Personen für Unterrichtszwecke oder für For- schungszwecke öffentlich zugänglich zu machen. Dies gilt nur, soweit dies zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke ge- rechtfertigt ist. Bei Werken, die für den Unterrichtsge- brauch an Schulen bestimmt sind, ist dies nur mit Ein- willigung des Berechtigten zulässig; auch Filmwerke dürfen vor Ablauf von zwei Jahren nach Beginn der übli- chen regulären Auswertung in Filmtheatern nur mit Ein- willigung des Berechtigten genutzt werden. Für diese Nutzung ist eine angemessene Vergütung zu zahlen. Um den Befürchtungen der wissenschaftlichen Verle- ger vor unzumutbaren Beeinträchtigungen durch die neue Regelung Rechnung zu tragen, wurde die Regelung durch § 137 k UrhG zunächst befristet. Nach insgesamt drei Evaluierungen über die Auswirkungen der Norm in der Praxis soll § 52 a UrhG nun endgültig entfristet wer- den, nachdem auch die Rechtsprechung im vergangenen Jahr endgültig entschieden hat, dass es sich hierbei um eine für die Praxis handhabbare Regelung handelt, die einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen Rechteinhabern und nutzenden Institutionen ermöglicht. In einem Verfahren ging es um Reichweite und Grenzen des Tatbestands sowie um die Frage der Zulässigkeit von Sekundärnutzungen wie das Herunterladen, Abspeichern und Ausdrucken. Danach darf eine Universität oder eine andere Forschungseinrichtung ihren Studierenden ein ur- heberrechtlich geschütztes Werk in Teilen nur dann elek- tronisch zugänglich machen, wenn diese Teile nicht mehr als 12 Prozent oder 100 Seiten in der Summe aus- machen. In dem anderen Verfahren ging es im Kern um 5958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) die Klärung der Frage der nach § 52 a UrhG angemesse- nen Vergütung für Nutzungen an Hochschulen. Hier hat der BGH festgestellt, dass diese Zugänglichmachung nicht geboten ist, wenn der Rechteinhaber eine an- gemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Das heißt, der BGH geht ganz klar davon aus, dass vertragli- che Regelungen Vorrang vor der Anwendung der Schranke haben. Die Rechtsprechung räumt also einem angemessenen Lizenzangebot eines Verlages den Vor- rang ein. Den Urteilen lassen sich im Ergebnis keine Hinweise entnehmen, die eine Überarbeitung des Wort- lauts der Regelung nahelegen. Nach über zehn Jahren schaffen wir mit der Entfris- tung Rechtssicherheit für alle Beteiligten und geben jun- gen Menschen zeitgemäßen Zugang zu Bildung und Lehrmaterialien. Zugang ist dabei das Schlüsselwort. Denn Wissenschaft und Bildung leben neben dem Aus- tausch von Informationen auch vom Zugang zu diesen. Da ein Großteil der Informationen oftmals in Werken eingebunden ist, die urheberrechtlich geschützt sind, bie- tet § 52 a UrhG hier die entsprechende Nutzungserlaub- nis und gleichzeitig eine vergütungspflichtige Schranke. Damit wahrt er die Interessen der Urheber und ermög- licht zum anderen einen einfachen Weg für Bildung und Wissenschaft. Im Koalitionsvertrag haben wir darüber hinaus ver- einbart, dass wir den wichtigen Belangen von Wissen- schaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einfüh- ren. Die Entfristung ist da ein kleiner Schritt in die rich- tige Richtung. Die Perpetuierung der Regelung des § 52 a UrhG präjudiziert aber nicht gleichzeitig die Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschafts- schranke. Klar ist aber auch, dass durch die Digitalisie- rung die Zahl der Ausgleichsschranken an verschiedenen Stellen im Urheberrechtsgesetz gestiegen ist, welche zum Teil unübersichtlich, wenig transparent und teil- weise technisch überholt sind. Dieser Flickenteppich an Regelungen kann so nicht bleiben. Wir wollen daher die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und die Schrankenregelungen im Bereich Bildung und Wissenschaft praktikabler und für alle Anwender ver- ständlicher gestalten. Wir sollten uns aber bei allen Veränderungen und bei allem Veränderungsbedarf im Urheberrecht immer be- wusst machen, dass Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt des Urheberrechts Artikel 14 unseres Grundgesetzes ist. Artikel 14 garantiert und schützt das Eigentum, sei es materielles oder geistiges Eigentum. Beschränkungen dieses Eigentumsrechts, also auch die sogenannten Schranken des Urheberrechts, sind daher immer als Aus- nahme zu verstehen und lassen sich nur durch die Inte- ressen des Allgemeinwohls begründen. Vor diesem Hintergrund müssen wir gesetzliche Änderungen im Ur- heberrecht immer betrachten, und vor diesem Hinter- grund müssen sich auch diejenigen messen lassen, die eine Schrankenregelung für sich in Anspruch nehmen. Die umfassende Umgestaltung aller Schrankenregelun- gen in diesem Bereich erfordert daher eine intensive rechtspolitische Diskussion, die voraussichtlich nicht vor Ende der Befristung des § 52 a UrhG abgeschlossen werden kann. In den beiden vergangenen großen Urhe- berrechtsreformen hat der Gesetzgeber bereits umfas- sende Privilegien für den Bereich Wissenschaft geschaf- fen. Mit dem Anfang diesen Jahres vorgelegten Gutachten von Frau Professor de la Durantaye, welches vom BMBF in Auftrag gegeben worden ist, haben wir eine gute Grundlage für die kommenden Debatten. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird ein zeitge- mäßes und nutzerfreundliches Urheberrecht zu schaffen und dabei die Interessen der Urheberinnen und Urheber zu wahren und im Interesse der Allgemeinheit die Nut- zung von urheberrechtlich geschützten Werken in be- stimmtem Umfang für Zwecke von Bildung und Wissen- schaft zu ermöglichen. Christian Flisek (SPD): Wir haben es endlich ge- schafft! Nach elf Jahren fortwährender Befristung verab- schieden wir heute ohne weitere Einschränkungen den Gesetzentwurf zur Entfristung des § 52 a und überneh- men diesen in den urheberrechtlichen Normenbestand. Damit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte von Schu- len und Hochschulen eine zukünftig dauerhafte Rechts- sicherheit bekommen, wenn sie ihren Schülerinnen und Schülern Lehrmaterial zur Verfügung stellen, das von ih- nen selbst digitalisiert wurde. Es freut mich daher außerordentlich, dass die bishe- rige Befristung zum Ende dieses Jahres hinfällig wird und wir den § 52 a des Urheberrechtgesetzes in dieser und der folgenden Dekade in diesem Parlament nicht mehr zu verhandeln haben. Zusammen mit den Kolle- ginnen und Kollegen der Union haben wir uns darauf verständigt, diesen Paragrafen im Urheberrechtsgesetz in seinem Inhalt unangetastet und ohne weitere Befris- tung zu übernehmen. Auch mit so scheinbar kleinen Gesetzesänderungen kann man manchmal Weitreichendes bewirken. Wie be- reits angedeutet, ist dieser Paragraf außerordentlich rele- vant, wenn es um einen angemessenen und zeitgemäßen Zugang junger Menschen zu Bildung und Lehrmateria- lien geht. Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel dazu: Eine Lehr- kraft scannt entsprechende Seiten der Unterrichtsmateri- alien ein und stellt sie den Schülern und Studenten im In- tranet der Schule oder der Universität zur Verfügung. Die Schüler und Studenten laden sich dann das Unter- richtsmaterial einfach herunter. Exakt dieses erlaubt der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes. Das hört sich wie ein alltägliches Beispiel an, und das ist es tatsächlich auch. Warum wurde der § 52 a nicht schon viel früher ent- fristet? Auch ich habe mich das gefragt. Die Träger von Schulen und Hochschulen, also letztlich die Bundeslän- der, erhalten mit dieser Entfristung Planungssicherheit, um entsprechende Infrastrukturen für ihre Institutionen aufzubauen, wo bisher Unsicherheit herrschte. Ich bin froh, dass sich meine in der letzten Debatte formulierten Hoffnungen zu diesem Gesetzentwurf er- füllt haben: Ohne weitere Aufregung ging der vorlie- gende Entwurf in die heutige Schlussabstimmung. Dafür Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5959 (A) (C) (D)(B) danke ich ausdrücklich der Opposition. Dies ist ein gutes Zeichen für uns als Verantwortliche und für alle Bil- dungsträger, Lehrkräfte, Schüler und Studenten in unse- rem Land. Die Entfristung steht aber auch für das, was meiner Fraktion in allen urheberrechtlich relevanten Fragen be- sonders wichtig ist. Es geht darum, die Rechte der kreati- ven Urheber und auch ihrer Verwerter in einem digitalen Umfeld zu stärken. Es geht auch darum, die Rechte der Nutzer auf eine legale Nutzung digitaler Inhalte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. In diesem Dreieck von Kreativen, Verwertern und Nutzern solch einen an- gemessenen Ausgleich herzustellen, erfordert in vielen Detailfragen oft urheberrechtliches Fingerspitzengefühl, sehr viel Arbeit und sehr oft auch Geduld. Alle, die sich im parlamentarisch-politischen Umfeld mit Urheber- recht beschäftigen, wissen das und können das sicherlich bestätigen. Stimmen Sie mit mir für ein fortschrittliches Urheber- recht, für die digitale Bildung unserer Kinder und für diesen Gesetzentwurf! Saskia Esken (SPD): Die bisherige Regelung des § 52 a – also die Erlaubnis der elektronischen Nutzung kleiner Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes für Lehrveranstaltungen – war durch die Geschichte ei- ner fortgesetzten Befristung eng verbunden mit der Angst vor der eigenen Courage. Dreimal wurde diese für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich so wichtige Er- laubnis wider besseres Wissen neu befristet, und nie gab es wirkliche Klarheit, Rechts- und Planungssicherheit für Schulen, Hochschulen und andere Lehreinrichtun- gen. Der Wegfall der Entfristung löst nun endlich diese Unsicherheit und auch die Investitionsblockade der Schulen und Hochschulen. Mit der Rechtssicherheit ent- steht eine Planungssicherheit für Investitionen in die technischen Infrastrukturen, die an den Einrichtungen für die Nutzung erforderlich sind. Bislang wurden diese Investitionen, beispielsweise zur Erstellung eines Intra- net an Schulen und Hochschulen, wegen der Befristung immer wieder verschoben oder in Gänze vermieden. Die endgültige Entfristung des § 52 a ist daher ein kleiner, aber sehr wichtiger Schritt im Bereich des Urhe- berrechts. Sie schafft endlich Rechtssicherheit über die genehmigungsfreie Verwendung von durch das Urheber- recht geschützten Objekten in Lehrveranstaltungen, und zwar für alle Beteiligten. Sowohl die Evaluation des Ge- setzes und seiner Befristung durch das Bundesjustiz- ministerium als auch die Überprüfung durch den Bun- desgerichtshof sind übrigens zu derselben Auffassung gelangt. Ganz klar bekennt sich auch die SPD darüber hinaus zu einer zeitgemäßen Weiterentwicklung des Urheber- rechts. Mit der Entfristung des § 52 a sind bei weitem nicht alle bildungs- und wissenschaftspolitischen Pro- bleme im Urheberrecht gelöst. Zahlreiche Formulierun- gen des Gesetzes sind ungenau und auch für Experten oft strittig. Für einen offenen, freizügigen Umgang mit Wissen und Information in einer digitalen Welt stellt die derzeitige Gesetzeslage eine unangemessene Beschrän- kung dar. Wissenschaftler, Lehrkräfte und Lernende sind durch die Angst vor teuren Abmahnungen stark verunsi- chert und nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine vernetzte und kollaborative Bildungslandschaft des- halb nur mit angezogener Handbremse. Für eine Moder- nisierung des Urheberrechts ist die endgültige Entfris- tung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke daher nur ein erster Schritt. SPD und Union haben im Koalitionsvertrag verein- bart, dass das Urheberrecht an die Erfordernisse und He- rausforderungen des digitalen Zeitalters angepasst wer- den muss. Dieses Vorhaben wurde mit der Digitalen Agenda der Bundesregierung nochmals bestätigt. Wir brauchen ein bildungs-, forschungs- und wissenschafts- freundliches Urheberrecht. Hierzu zählt insbesondere die vereinbarte Einführung einer allgemeinen und zeit- gemäßen Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die den wichtigen Belangen einer offenen und vernetzten Wis- senschaft, Bildung und Forschung Rechnung trägt. Kei- nesfalls dürfen die bestehenden Schranken für Bildung, Wissenschaft und Forschung in irgendeiner Form einge- engt werden. Eine Neuregelung des Urheberrechts muss endlich ein zeitgemäßes Forschen, Lehren und Lernen ermögli- chen. Für die SPD ist daher ein weiterer Novellierungs- korb für die Belange von Bildung, Wissenschaft und Forschung unverzichtbar. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Wege im Laby- rinth des Urheberrechts sind unergründlich. Nehmen wir an, Sie sind Astronaut und filmen sich in der Raumsta- tion beim Singen eines Liedes, das ein bekannter Mann geschrieben hat und dessen Rechte einer Plattenfirma gehören. Sie wollen das Video ins Internet stellen. Danach beginnt eine sehr komplizierte rechtsphilosophi- sche Debatte, in der sogar die Herkunft der Teile der Raumstation, ihre Flughöhe und die Länder, die sie über- fliegt, eine Rolle spielen. Fast so kompliziert wie diese Debatte gestaltet es sich für eine Hochschullehrerin hierzulande, einen Reader mit Unterrichtsmaterial über das Internet an die eigenen Studierenden zu verteilen. Laut § 52 a UrhG dürfen „kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften“ aber auch nur „zur Veran- schaulichung“ und auch nur einem „bestimmt abge- grenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern“ zugänglich gemacht werden. Zusätzlich muss laut Gesetz jedes Mal die Einwilli- gung des Berechtigten, also des Inhabers der Nutzungs- rechte, Verlage, Medienunternehmen oder Sendeanstal- ten, eingeholt und eine „angemessene Vergütung“ gezahlt werden. Mit diesem Gesetz fingen die Fragen erst an: Was sind kleine Teile, was Werke geringen Umfangs, was ist ein begrenzter Kreis, wer ist der Be- rechtigte, was ist eine angemessene Vergütung? Diese Fragen sind für unsere Hochschullehrerin nicht zu beant- 5960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) worten. Damit war diese Urheberrechtsschranke im Prinzip unbrauchbar. Es bedurfte einer Kette von Grund- satzurteilen, bis die Umrisse des Regelungsgehaltes eini- germaßen klar zu erkennen waren. Zu dieser Klarheit gehört seit dem bisher letzten Urteil zur Sache auch, dass die kleinen Werkteile nur dann zugänglich gemacht werden dürfen, wenn die Verlage selbst kein entsprechendes elektronisches Ange- bot vorhalten. Bevor unsere Hochschullehrerin also ihren Seminarreader aus dem zusammenstellt, was ihre Unibibliothek so bietet, muss sie nun die E-Book- und E-Learning-Angebote der Verlage durchforsten und, falls sie fündig wird, die Lizenz zur Nutzung der benö- tigten Teile einkaufen. Der § 52 a ist in der Praxis deshalb keine Einschrän- kung des Urheberrechtsschutzes zugunsten von Bildung und Wissenschaft, sondern eher ein Schrankennutzungs- verhinderungsparagraf. Wenn dieser nun auf Dauer ge- stellt werden soll, kann man das nicht als Fortschritt, sondern bestenfalls als Vermeidung von Rückschritt be- zeichnen. Wir werden deshalb seit Jahren nicht müde, zu wie- derholen: Wirklich helfen würde den Kitas, Schulen und Hochschulen, wenn die Koalition einen Blick in den ei- genen Vertrag würfe: „Wir werden den wichtigen Belan- gen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschafts- schranke einführen.“ Ein unmissverständlicher Auftrag. Die Frage ist, wann diese allgemeinverständliche und hoffentlich praktikable Pauschalregelung denn nun end- lich kommen soll. Im heute zu behandelnden Entwurf steht nämlich, dass die Entfristung des § 52 a nicht die Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissen- schaftsschranke präjudiziere. Diese Debatte über eine Umgestaltung der Schrankenregelungen, so schreiben die Fraktionen von Union und SPD, erfordere eine inten- sive rechtspolitische Diskussion, die nicht in der Kürze der Zeit zu führen sei. Nur: Wenn Sie so lange für die Vorbereitung einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke brauchen, wann wollen Sie denn damit anfangen? Unsere Fraktion hat eine solche Regelung bereits in der letzten und in der vorletzten Legislaturperiode eingefordert. Es liegen – auch das muss für die Große Koalition offenbar mehr- fach gesagt werden – bereits konkrete Vorschläge für eine solche Regelung vor – unter anderem einer von Frau Professor Durantaye von der Humboldt-Universität im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Es wird Zeit, dass sich die Anwältinnen und Anwälte für einen freieren Umgang mit Wissen in den Koalitions- fraktionen durchsetzen und wir hier im Bundestag end- lich über fortschrittliche Regelungen auf der Grundlage eines Regierungsentwurfes diskutieren können. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Re- formbedarf beim Urheberrecht besteht seit Jahren. Denn durch die zunehmende Digitalisierung haben sich Nut- zerverhalten, Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte und viele Geschäftsmodelle komplett gewandelt. Gerade der Zugang zur wichtigsten Ressource des 20. Jahrhunderts, Wissen, muss durch das Urheberrecht für das digitale Zeitalter geregelt werden. Aber Ihr jetzt vorgelegter Gesetzentwurf zur Ände- rung des Urheberrechtsgesetzes ist bei weitem kein Glanzstück Ihrer Regierungsarbeit, denn er besteht lei- der nur aus der Entfristung der Wissenschaftsschranke. Dabei ist eine Entfristung ja durchaus richtig, aber diese Detailregelung ist bei weitem nicht des Rätsels Lösung zur Modernisierung des Urheberrechts, und sie war darüber hinaus längst überfällig. Wir Grünen for- dern sie schon lange, denn nur durch eine Entfristung der Wissenschaftsschranke kann der wichtige Ausbau von netzgestützten Lehr- und Forschungsstrukturen in Schu- len, Universitäten etc. sichergestellt werden. Bildung und Wissenschaft leben von einem freien Austausch von Informationen und von einem freien Zu- gang zu Informationen. Da viele Werke jedoch urheber- rechtlich geschützt sind, können sie nicht ohne Weiteres im Bildungs- und Wissenschaftsbereich genutzt werden. Deshalb ist eine diesbezügliche Erlaubnis in § 52 a des Urheberrechtsgesetzes inhaltlich ebenfalls richtig. An eine weitere kleine, aber sinnvolle Detailänderung haben Sie sich beim Thema Wissenschaftsschranke schon nicht mehr herangetraut. Aufgrund der sprachli- chen Ungenauigkeiten und der Unstimmigkeiten bei der Rechtsprechung gibt es immer wieder neuen Streit be- züglich des Umfangs der Wissenschaftsschranke. Um diese Widersprüche und auslegungsfähigen Ungenauig- keiten zu beheben, hätte es nur einer kleinen Neuformu- lierung bedurft, wie „zur Veranschaulichung für alle Zwecke des Unterrichts“ statt der derzeitigen „zur Ver- anschaulichung im Unterricht“. Denn für die Lehre ist es immens wichtig, dass digitale Inhalte auch unterrichts- begleitend und zum Selbststudium vorgehalten werden können. Außer der Entfristung enthält Ihr Gesetz leider keine weiteren Neuausrichtungen. Das Urheberrecht zu novel- lieren, ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Denn dem berechtigten Schutz der Rechte der Urheberinnen und Urheber stehen die Anforderungen an eine digitale Rea- lität und neue Nutzungsgewohnheiten gegenüber. Diese in Einklang zu bringen, ist eine große Herausforderung. Aber die Reform, die sowohl den Kreativen als auch den Nutzerinnen und Nutzern entgegenkommt, ist seit Jahren überfällig. Trotz zahlreicher Handlungsempfehlungen der En- quete-Kommission „Internet und Gesellschaft“ und Ih- ren jahrelangen Ankündigungen bezüglich eines dritten Korbes zur Reform des Wissenschaftsbereichs legen Sie mit den jetzigen Minimaländerungen noch immer keine konkreten und visionären Vorschläge vor. Und auch Ihre Digitale Agenda bleibt an dieser Stelle alle Antworten schuldig. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5961 (A) (C) (D)(B) Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsüberein- kommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesord- nungspunkt 22) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 9. Oktober 2014 wurde ohne Debatte der Gesetzesentwurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 20. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De- zember 1957 in erster Lesung beraten. Vorliegend geht es um die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls. Das Europäische Auslieferungsüber- einkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) soll durch das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in bestimmten Punkten ergänzt werden, um das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezi- alitätsgrundsatzes verzichtet hat. Durch das Dritte Zusatzprotokoll soll im Interesse der verfolgten Person die Dauer der Inhaftierung verkürzt und die Effizienz der Strafjustiz in den Vertragsstaaten erhöht werden, so wird in dem Gesetzentwurf ausgeführt. Im Folgenden werde ich einzelne Regelungen der Umsetzung näher vorstellen. Diese sind von besonderer Relevanz, da sie das Auslieferungsverfahren genauer be- schreiben. Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk beschreibt die Ver- pflichtung zur Auslieferung im vereinfachten Verfahren. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, einander die Personen, nach denen gemäß Artikel 1 des Überein- kommens gesucht wird, in dem vereinfachten Verfahren, wie es in diesem Protokoll vorgesehen ist, auszuliefern, sofern diese Personen und die ersuchte Vertragspartei hierzu ihre Zustimmung gegeben haben. Von dieser Verpflichtung gibt es eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahmefällen entscheiden, das nor- male Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersuchens einhalten kann. Die Verpflichtung geht damit nicht über die Regelung des deutschen Rechtes hinaus. § 29 IRG sieht vor, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Akte trotz des Einver- ständnisses der verfolgten Person dem Oberlandes- gericht zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Aus- lieferung vorlegen kann. In Artikel 2 des 3. ZP-EuAlÜbk wird sodann das Verfahren geregelt, dann in den folgenden Artikeln die Unterrichtung der betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung und der Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität. Das Verfahren der vereinfachten Ausliefe- rung nach den Artikeln 2, 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk entspricht dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelun- gen des IRG durch ein Fahndungsersuchen, ein Ersu- chen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungs- ersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzu- führen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Vernehmung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolgten Person zu Protokoll (§ 21 Ab- satz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezialitätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einverständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeitpunkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaats- anwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesge- richt, das über den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vorliegt (§ 17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann anschließend die Generalstaatsanwaltschaft entschei- den, ohne das Oberlandesgericht damit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Absatz 2 IRG bleibt der Generalstaatsan- waltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfah- ren anzuwenden. Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilli- gen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren materiellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1 bis 9, 10 Absatz 2, § 73 IRG aufgezählt sind, sind in jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor- derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie- ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG muss jedoch vorliegen. Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög- lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver- folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu- chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie- fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er- suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Der ersuchte Staat ist auch nach Abgabe einer Zustimmungserklärung der verfolgten Person nicht ver- pflichtet, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen, 5962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) sondern kann am normalen Auslieferungsverfahren fest- halten. Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, gebunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet werden, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung erheblich verkürzt wird. Der Anwendungsbereich des 3. ZP-EuAlÜbk er- streckt sich auf Fälle, in denen die verfolgte Person ihre Zustimmung bis zum Eingang der Unterlagen im Sinne von Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk erteilt hat. Anschlie- ßend ist es entsprechend bis zur Übergabe der verfolgten Person anwendbar. Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk for- dert als formale Voraussetzung einer Auslieferung die Vorlage eines Auslieferungsersuchens, dem eine Reihe von Unterlagen beizufügen sind. Das 3. ZP-EuAlÜbk sieht eine Möglichkeit zur Ver- einfachung des Auslieferungsverfahrens durch Verzicht auf Vorlage des Ersuchens nach Artikel 12 des 3. ZP- EuAlÜbk vor, wenn die verfolgte Person der Ausliefe- rung zustimmt. Für diesen Fall sind in Artikel 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk besondere Regelungen zum Schutz der verfolgten Person aufgenommen worden. Diese be- sonderen Regelungen sind erstens eine umfassende Be- lehrung, zweitens eine Protokollierung der Erklärungen der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten Vertragspartei, drittens die Möglichkeit der Beiziehung eines Rechtsbeistandes und letztens die Hinzuziehung eines Dolmetschers. Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP- EuAlÜbk weiterhin dadurch geschützt, dass die Einwil- ligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen Tragweite zu erfolgen hat. Letztlich folgen noch allgemeine Ausführungen zur Geltung des Zusatzprotokolls wie Geltungsdauer, Kün- digung und Notifikation. Ziel des 3. ZP-EuAlÜbk ist es, das EuAlÜbk in be- stimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Das EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro- päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Das 3. ZP- EuAlÜbk greift nur im Verhältnis zu Staaten, die das EuAlÜbk und das 3. ZP-EuAlÜbk ratifiziert haben (Artikel 12 Absatz 2, Artikel 14 Absatz 1 des 3. ZP- EuAlÜbk). Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Euro- päischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De- zember 1957 effektiv in das nationale Recht um. Dabei wird ein guter Ausgleich zwischen den europäischen Verpflichtungen einerseits und nationalen Anforderun- gen des Strafverfahrensrechts andererseits geschaffen. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent- wurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, 3. ZP-EuAlÜbk, geht es um die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls mit dem Ziel, das EuAlÜbk in bestimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Am 9. Oktober 2014 wurde der Gesetz- entwurf bereits ohne Debatte in erster Lesung beraten. Zum Hintergrund: Das vereinfachte Auslieferungs- verfahren nach deutschem Recht ist in § 41 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG, normiert. Im Jahr 2009 hat in Deutschland mehr als die Hälfte der verfolgten Personen ihrer vereinfachten Aus- lieferung zugestimmt. Auch die Regelungen zum Euro- päischen Haftbefehl sehen die Möglichkeit eines verein- fachten Verfahrens vor. In diesen Verfahren verkürzte sich im Jahr 2012 die durchschnittliche Zeitspanne zwi- schen Festnahme und Auslieferungsentscheidung von durchschnittlich 38,4 Tagen im Normalfall auf 15,2 Tage bei Zustimmung der verfolgten Person. Der Europarat hat mit dem 3. ZP-EuAlÜbk das Mutterübereinkommen (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) ergänzt, um das Ausliefe- rungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzich- tet hat. Es dient damit einerseits den Interessen der ver- folgten Person, indem es die Dauer des Freiheitsentzuges im Ergreifungsstaat reduziert und eine zeitnahe Verteidi- gung im Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermög- licht. Andererseits wird damit die Effizienz der Strafjus- tiz in den beteiligten Staaten erhöht. Deutschland hat sich während der Verhandlungen zum 3. ZP-EuAlÜbk für eine die Grundrechte schonende Gestaltung des Aus- lieferungsverfahrens eingesetzt. Der Gesetzentwurf steht darüber hinaus im Einklang mit den Leitgedanken der Bundesregierung zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, weil die Krimi- nalitätsbekämpfung und die grenzüberschreitende Zu- sammenarbeit der Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Kri- minalitätsbekämpfung verbessert werden. Das EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind allerdings im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro- päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Folgend möchte ich Neuerungen durch das Überein- kommen vorstellen, welches das Auslieferungsverfahren näher beschreibt: Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk verpflichtet den er- suchten Staat zur Durchführung des vereinfachten Aus- lieferungsverfahrens, wenn die verfolgte Person damit einverstanden ist. Von dieser Verpflichtung gibt es aller- dings eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahme- fällen entscheiden, das normale Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersu- chens einhalten kann. Artikel 2 ff. des 3. ZP-EuAlÜbk legen das Grundprin- zip des vereinfachten Verfahrens, die Unterrichtung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5963 (A) (C) (D)(B) betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung und den Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität fest. Das Verfahren der vereinfachten Auslieferung entspricht dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelungen des IRG durch ein Fahndungsersu- chen, ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungsersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzuführen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Verneh- mung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolg- ten Person zu Protokoll (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezia- litätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einver- ständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeit- punkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesgericht, das über den Erlass eines Ausliefe- rungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vor- liegt (§17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann anschließend die Generalstaatsan- waltschaft entscheiden, ohne das Oberlandesgericht da- mit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Ab- satz 2 IRG bleibt der Generalstaatsanwaltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfahren anzuwenden. Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilligen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren ma- teriellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1 bis 9, 10 Absatz 2 und § 73 IRG aufgezählt sind, sind in jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor- derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie- ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG muss jedoch vorliegen. Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP-EuAlÜbk dadurch geschützt, dass die Einwilli- gung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen Tragweite zu erfolgen hat. Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög- lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver- folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu- chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie- fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er- suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Dabei ist der er- suchte Staat auch nach Abgabe einer Zustimmungserklä- rung der verfolgten Person nicht verpflichtet, ein verein- fachtes Verfahren durchzuführen, sondern er kann am normalen Auslieferungsverfahren festhalten. Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, ge- bunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet wer- den, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung er- heblich verkürzt wird. Im Ergebnis lässt sich durch das vereinfachte Verfah- ren der Auslieferungsverkehr im Kreis der Staaten des Europarats insgesamt effektiver gestalten und beschleu- nigen. Es wird kein neues Verfahren eingeführt, sondern das 3. ZP-EuAlÜbk führt dazu, dass die übrigen Ver- tragsstaaten bei Auslieferungen nach Deutschland das vereinfachte Verfahren anwenden können. Ich bin zuver- sichtlich, dass wir dadurch die grenzüberschreitende Zu- sammenarbeit zur Kriminalitätsbekämpfung verbessern können. Dirk Wiese (SPD): Die Hindernisse für die Strafver- folgung und -vollstreckung durch Staatsgrenzen haben in den letzten Jahren durch verschiedene Abkommen deutlich abgenommen. Meilensteine auf dem Weg zu ei- ner besseren Zusammenarbeit sind das Europäische Aus- lieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das mehrmals durch Zusatzprotokolle ergänzt wurde, und der europäische Haftbefehl. Gleichwohl besteht immer noch Optimierungsbedarf, und so liegt uns heute ein Ge- setzesentwurf vor, mit dem die Ratifikation des Dritten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsüber- einkommen vom 13. Dezember 1957 nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vorbereitet werden soll. Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 ergänzt hierbei das Mutterübereinkommen sowie die beiden Zusatzprotokolle vom 15. Oktober 1975 bzw. vom 17. März 1978. Ziel des Dritten Zusatzprotokolls ist vor allem die Vereinfachung und Beschleunigung der Auslieferungs- verfahren. Es profitieren davon sowohl der Beschuldigte als auch der Staat, in dem die Person ergriffen wurde: So wird einerseits das Freiheitsinteresse der verfolgten Per- son gewürdigt, indem die Dauer des Freiheitsentzuges im Ergreifungsstaat deutlich reduziert und eine zeitnahe Verteidigung in dem Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermöglicht wird. Andererseits wird damit die Effi- zienz der Strafjustiz in den beteiligten Staaten erhöht. Besonders betonen möchte ich an dieser Stelle, dass Deutschland sich während der Verhandlungen zum Drit- ten Zusatzprotokoll für eine die Grundrechte schonende und wahrende Gestaltung des Auslieferungsverfahrens eingesetzt hat. Voraussetzung für die Vereinfachung und Beschleuni- gung der Auslieferungsverfahren ist allerdings, dass die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Aus- 5964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) lieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Ge- genstand des Auslieferungsersuchens waren. Um Miss- brauch zu verhindern, bieten Artikel 3 und 4 des Dritten Zusatzprotokolls der verfolgten Person in diesen Fällen besondere Regelungen zum Schutz an. So muss die Ein- willigung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtli- chen Tragweite erfolgen; ferner wird die Erklärung der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten Ver- tragspartei protokolliert, die Person wird umfassend aufgeklärt und vor allem auf die Möglichkeit der Beizie- hung eines Rechtsbeistandes und/oder eines Dolmet- schers hingewiesen. Anzumerken ist, dass die strafrechtliche Verfolgung wegen weiterer Taten eine Zustimmung des ausliefern- den Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersu- chenden Staat voraussetzt. Verzichtet die verfolgte Per- son auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersu- chenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle an- hängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Sie sehen, wie effektiv die Möglichkeit der Verfahrensbe- schleunigung hier ist. Zu beachten ist außerdem, dass das Europäische Aus- lieferungsabkommen und damit auch das Dritte Zusatz- protokoll im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar sind. Hier haben gemäß § 78 IRG die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang. Ferner greift das Zusatzprotokoll nur gegenüber Staaten, die sowohl Auslieferungsübereinkommen als auch das Zusatzprotokoll ratifiziert haben. Einer weiteren gesetz- lichen innerstaatlichen Ausführungsbestimmung bedarf es in Deutschland übrigens nicht. Eine Regelung der ver- einfachten Auslieferung im Falle des Einverständnisses der verfolgten Person enthält bereits § 41 IRG. Die Ratifizierung des Dritten Zusatzprotokolls wird die internationale Strafvollstreckung und -verfolgung weiter optimieren, und zwar sowohl im Sinne der ver- folgten Personen als auch der beteiligten Staaten, in de- nen die Effizienz der Strafjustiz deutlich erhöht wird. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, um die Ratifizierung des Abkommens möglichst schnell auf den Weg zu bringen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heute über das Gesetz zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungs- übereinkommen vom 13. Dezember 1957. Dieses Auslieferungsübereinkommen ist durch das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in be- stimmten Punkten ergänzt worden, um das Auslieferungs- verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. So soll die Inhaftierungsdauer im ausliefernden Staat verkürzt werden, und es sollen Verwaltungs- und Haftkosten gespart werden. Durch den vorliegenden Ge- setzentwurf der Bundesregierung sollen die Vorausset- zungen nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Rati- fikation des Übereinkommens geschaffen werden. Aus Sicht der Linken ist das Dritte Zusatzprotokoll aus verschiedenen Gründen problematisch. Es kann zwar ausnahmsweise auch im Interesse des Beschuldigten liegen, nach seiner Festnahme kein länge- res Auslieferungsverfahren abzuwarten und alsbald in den die Auslieferung ersuchenden Staat zu gelangen, al- lerdings überwiegen regelmäßig die Nachteile eines ver- einfachten Verfahrens. Eine Auslieferung ist immer ein schwerer Eingriff in Rechte von Beschuldigten und kann mit Artikel 16 Absatz 2 GG in Konflikt geraten, der ein grundsätzliches Auslieferungsverbot eigener Staatsbür- ger und Staatsbürgerinnen enthält und nur wenige Aus- nahmefälle zulässt. Eine Auslieferung soll nun aber ohne die Vorlage eines Auslieferungsersuchens und der Unter- lagen nach Artikel 12 des Protokolls möglich sein (Arti- kel 2 Drittes Zusatzprotokoll). Konkret heißt das, dass unter anderem statt der Urschrift oder beglaubigten Ab- schrift eines vollstreckbaren Haftbefehls (Artikel 12, 2. a des Übereinkommens) das Bestehen eines solchen aus- reicht (Artikel 2 Absatz 1 c des Zusatzprotokolls). Statt der genauen Darstellung der vorgeworfenen Hand- lungen, inklusive Zeit und Ort ihrer Begehung, ihrer rechtlichen Würdigung unter Bezugnahme auf die an- wendbaren Gesetzesbestimmungen sowie deren Mit- übersendung (Artikel 12, 2. b, c des Übereinkommens) soll nun allgemein die Art und die rechtliche Würdigung der Straftat ausreichen (Artikel 2 Absatz 1 d des Zusatz- protokolls). Hier wird der Grundsatz verletzt, dass Men- schen wissen müssen, weshalb der Staat wie in Bezug auf ihre Person handelt – auch um sich gegebenenfalls verteidigen zu können. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausliefe- rungsverpflichtung Deutschlands kann so nicht gründ- lich und umfassend geprüft werden. Gerade die Angabe der gesetzlichen Bestimmungen sind für die hiesige Prü- fung wichtig, aber auch eine genaueste Tatbeschreibung sowie die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Haftbe- fehl. Das Protokoll geht implizit davon aus, dass in allen Unterzeichnerstaaten (Staaten des Europarats) ähnliche Standards im Strafverfahren herrschen; davon kann aber selbst innerhalb der EU noch nicht gesprochen werden und schon gar nicht im Rahmen der Europaratsstaaten. Eine Auslieferung wäre so innerhalb weniger Wochen möglich. In dieser kurzen Zeit und mit den niedrigen Informations- und Übermittlungsanforderungen an den die Auslieferung ersuchenden Staat ist ein gleicher- maßen gründliches und rechtsstaatliches Verfahren im sensiblen Bereich des Strafrechts nicht zu gewährleisten. Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab. Nun könnten Sie sagen: Die Einwände sind gut und schön, aber sie laufen ins Leere, denn der Beschuldigte muss ja zustimmen. Doch die Zustimmung zu diesem vereinfachten Verfahren durch den Beschuldigten ändert nichts an unserer Kritik. Er soll sich innerhalb von zehn Tagen entscheiden (Artikel 6 Absatz 1 des Zusatzproto- kolls), was schon einen gewissen Druck entfacht. Diese Zeit reicht häufig nicht aus, alle notwendigen Informa- tionen für eine freiwillige Entscheidung zu erhalten und zu prüfen. Zwar sollen die Staaten sicherstellen, dass die Zustimmung und der Verzicht auf den Spezialitätsgrund- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5965 (A) (C) (D)(B) satz freiwillig erfolgen und ein Rechtsbeistand beigezo- gen werden kann, bei Bedarf soll auch ein Dolmetscher hinzugezogen werden müssen, aber in der Praxis sieht es dann doch häufig anders aus. Denn der bzw. die Betref- fende befindet sich in einer Druck- und eventuell Schocksituation nach der Festnahme. In einer solchen Situation sind unüberlegte oder eben nicht ganz freiwil- lige Entscheidungen nicht selten. Die Folgen der Auslie- ferung werden häufig nicht überblickt. Ein Rechtsbei- stand oder Dolmetscher wird in dieser Situation nicht immer vom Beschuldigten eingefordert. Und ob ein Be- darf für einen Dolmetscher besteht, liegt letztlich im Er- messen der Behörde, die im Zweifel – vor allem, wenn nicht unmittelbar einer zur Verfügung steht – eher davon ausgehen wird, dass ein solcher nicht erforderlich ist. Um einen Anwalt seines Vertrauens um Rat zu ersuchen – in einem dem Beschuldigten eventuell fremdem Staat – und die Entscheidung mit allen Vor- und vor allem Nachteilen in Ruhe abzuwägen, bedarf es wesentlich mehr als zehn Tage. Das Zustimmungserfordernis kann die Bedenken im Hinblick auf ein gründliches und faires Verfahren daher nicht ausräumen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Stellen Sie sich vor, Sie wurden in, sagen wir Al- banien aufgrund eines internationalen Haftbefehls fest- genommen. In Deutschland werden Ihnen verschiedene Taten zur Last gelegt, deshalb verlangt Deutschland Ihre Auslieferung. Bis das Verfahren geklärt ist, sitzen Sie in Albanien in Untersuchungshaft. Sicher nicht das Ange- nehmste. Durch das Dritte Zusatzprotokoll, 3. ZP, vom 10. No- vember 2010 zum Europäischen Übereinkommen vom 13. Dezember 1957 soll das Auslieferungsverfahren ver- einfacht und beschleunigt werden. Um bei meinem Bei- spiel zu bleiben: Ihre Inhaftierungszeit in dem Staat, in dem Sie festgenommen wurden, also Albanien, würde verkürzt und Sie könnten wesentlich schneller in den Staat, der um Auslieferung ersucht – also nach Deutsch- land – gelangen und sich dort um Ihre Verteidigung kümmern. Reguläre Auslieferungsverfahren hingegen können sich mehrere Monate hinziehen; insofern ist die Möglichkeit eines verkürzten Verfahrens durchaus posi- tiv zu bewerten. Allerdings ist dies an einige Voraussetzungen gebun- den: Zunächst müssen Sie als Verfolgter dem vereinfach- ten Verfahren zustimmen; das steht in Artikel 4. Außer- dem können Sie auch noch auf den Grundsatz der Spezialität verzichten. Damit Sie die Auswirkungen dieser Entscheidung besser einschätzen können und sichergestellt ist, dass Sie die Entscheidung völlig freiwillig treffen, ist vorgese- hen, dass Sie umfassend belehrt werden und Anspruch auf einen Rechtsbeistand sowie Dolmetscher haben. Das klingt alles ganz wunderbar. Trotzdem möchte ich an diesem Punkt auf ein paar Probleme hinweisen: Kann das denn so tatsächlich gewährleistet werden? Rei- chen Rechtsbeistand und Dolmetscher dafür aus? Wer garantiert, dass der Rechtsbeistand, der möglicherweise gestellt wird, völlig neutral in dieser Frage ist? Sinnvol- ler erscheint mir, ein Gericht übernähme diese Beleh- rung. Im Zusatzprotokoll in Artikel 4 Absatz 1 steht, dass Zustimmung und/oder Verzicht von der „zuständigen Justizbehörde“ der ersuchten Vertragspartei entgegenzu- nehmen sind. Die Zuständigkeit richtet sich nach den na- tionalen Rechtsvorschriften der jeweiligen Vertragspar- teien. Nach deutschem Recht ist das Gericht für die Entgegennahme der Erklärung zuständig (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 3, § 41 Absatz 4 IRG). Aber wie sieht es in anderen Ländern aus? Diese Frage habe ich am Mittwoch auch im Rechtsausschuss gestellt, wo uns das Gesetz zur Behandlung vorlag. Da- bei antwortete die Bundesregierung, dass die „zustän- dige Behörde“ wohl in der Regel auch in anderen Län- dern ein Gericht sein wird. Dem Punkt sollte man aber nochmals genauer nach- gehen. Eindeutiger wäre wohl gewesen, man hätte im Dritten Zusatzprotokoll festgelegt, dass in jedem mitzeichnen- den Staat grundsätzlich das Gericht für Anhörung, Belehrung und Entgegennahme der Zustimmung zum vereinfachten Verfahren und/oder des Verzicht des Spe- zialitätsgrundsatzes zuständig sein soll. So gäbe es hierzu keine Unklarheit. Die Möglichkeit des vereinfachten Auslieferungsver- fahrens an sich ist nichts Neues und bereits in § 41 IRG geregelt. Für Deutschland muss aufgrund des Dritten Zusatzprotokolls – so geht es auch aus der Denkschrift der Bundesregierung zum Gesetzentwurf hervor – ein neues Verfahren nicht eingeführt werden. Die Ratifika- tion führt hier „nur“ dazu, dass die übrigen Vertragsstaa- ten bei Auslieferungen nach Deutschland das verein- fachte Verfahren anwenden können. Insofern haben wir dem Gesetzentwurf auch schon im Rechtsausschuss unsere Zustimmung geben können. Zu dem genannten Problempunkt – Zuständigkeit der Ge- richte für die Entgegennahme der Zustimmung zum ver- einfachten Verfahren oder des Verzichts auf den Grund- satz der Spezialität, auch in anderen Ländern – werde ich mich eingehender informieren. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurzzei- tig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) Sebastian Steineke (CDU/CSU): Bereits im Jahr 2009 hat die Europäische Union das Haager Überein- 5966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) kommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- barungen gezeichnet. Die Ratifizierung und die damit einhergehende Verbindlichkeit für die EU-Mitgliedstaa- ten werden zeitnah erfolgen. Das heute vorliegende Ge- setz dient der Durchführung des Übereinkommens in un- ser nationales Recht. Das Haager Übereinkommen regelt im Wesentlichen die internationale Zuständigkeit für Streitsachen mit aus- schließlicher Gerichtsstandsvereinbarung sowie die An- erkennung und Vollstreckung der betroffenen Gerichts- entscheidungen. Um die Änderungen so sinnvoll wie möglich in unsere bislang vorhandenen Vorschriften ein- zubetten, haben wir auf ein eigenständiges Gesetz ver- zichtet. Folgerichtig werden die Neuregelungen daher weitgehend in das Anerkennungs- und Vollstreckungs- ausführungsgesetz aufgenommen. Ziel des Übereinkommens ist die Harmonisierung und Vereinfachung der Gerichtszuständigkeitsregelun- gen bei grenzüberschreitenden Rechtssachen. Ausge- nommen sind Verbraucher- und Arbeitsverträge und Ver- sicherungssachen. Besonders unsere mittelständischen Unternehmen werden davon profitieren. Als Wirtschaft einer Exportnation kann unsere Wirtschaft in überdurch- schnittlich vielen Fällen regelmäßig mit grenzüber- schreitenden Streitfällen in Berührung kommen. Daher ist eine Vereinheitlichung des Rechts der Gerichtsstands- vereinbarungen und die Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen im Ausland insbesondere aus Sicht der deutschen Unternehmen zwingend gebo- ten. Dem Übereinkommen kommt zudem eine weitere er- hebliche praktische Bedeutung zu. So kann nach Ratifi- zierung durch die USA die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte per Vereinbarung ausgeschlossen werden. Dies ist im Hinblick auf die bisweilen außergewöhnliche amerikanische Schadensersatzrechtsprechung aus Sicht der Wirtschaft ein wichtiger Aspekt. Zum Inhalt: Zunächst liegt die Zuständigkeit einer Rechtssache bei dem Gericht, das in der ausschließli- chen Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet ist. Ge- richte, die dort nicht benannt sind, erklären sich für un- zuständig. Die Entscheidung des zuständigen Gerichts wird in den anderen Vertragsstaaten des Übereinkom- mens automatisch anerkannt und dort auch vollstreckt. Ein weiterer Vorteil: Gläubiger können entsprechende gerichtliche Bestätigungen aus dem Ursprungsstaat über Vollstreckbarkeiten von Entscheidungen sowie Auskunft über den Inhalt des Verfahrens einholen. Die Regeln der in diesem Jahr bereits auf den Weg gebrachten Umset- zung der Brüssel-1 a-Verordnung bleiben durch den Ge- setzentwurf unberührt, solange keine Partei ihren Auf- enthalt in einem Vertragsstaat außerhalb der EU hat. Neben der Umsetzung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch notwendige Anpas- sungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im Rechtspflegergesetz vornehmen. Im Gerichts- und Notarkostengesetz führen wir eine Regelung über die Gebühr bei vorläufiger Betreuerbe- stellung ein, um die gebotene Gleichstellung mit der Be- stellung eines Betreuers im Hauptsacheverfahren herzu- stellen. Bei einer Dauerbetreuung fallen Gerichtskosten in Form einer Jahresgebühr an, deren Höhe sich nach dem Vermögen des Betreuten richtet. Ob diese Gebühr auch bei der Bestellung eines vorläufigen Betreuers im Rahmen einer einstweiligen Anordnung fällig ist, bleibt in der gerichtlichen Praxis umstritten. Auf die Bestel- lung eines vorläufigen Betreuers kann prinzipiell eine Entscheidung in der Hauptsache fallen, mit der die vor- läufig angeordnete Betreuung in eine endgültige überge- leitet oder aufgehoben wird, weil sich herausgestellt hat, dass sie zu Unrecht angeordnet wurde. In der Praxis kommt es häufig aber nicht zu dieser Hauptsacheent- scheidung, zum Beispiel wenn der Betreute stirbt. Der Betreute wird hierbei kostenrechtlich oft schlechter ge- stellt als ein Betroffener, für den ein Betreuer im Haupt- sacheverfahren bestellt und von dem die Jahresgebühr und nicht die übliche Wertgebühr erhoben wird. Die Än- derungen sollen die Bestellung des vorläufigen Betreu- ers gerichtskostenrechtlich der Bestellung eines Betreu- ers im Hauptsacheverfahren gleichstellen. Die Neuregelung des Rechtspflegergesetzes erfolgt im Rahmen einer notwendigen Korrektur der Verordnungs- ermächtigung für die Länder hinsichtlich der Übertragung von Geschäften der Verfahrenskostenhilfe auf den Rechtspfleger. Die bisherige Vorschrift überträgt dem Rechtspfleger die Verfahrenskostenhilfe, die den ihm übertragenen Aufgaben in Verfahren über die Prozess- kostenhilfe entsprechen, zum Beispiel die Ermittlungen zu persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Antragstellers, wenn der Vorsitzende dies dem Rechts- pfleger überträgt. Das Rechtspflegergesetz enthält für die Prozesskostenhilfe eine Verordnungsermächtigung für die Landesregierungen, die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers vom Rechtspfleger vornehmen zu lassen, wenn der Vorsit- zende das Verfahren dem Rechtspfleger überträgt. Das Gesetz enthält die Möglichkeit, diese Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltungen zu delegieren. Im Gesetz fehlt bislang allerdings der Verweis auf diese Delega- tionsmöglichkeit. Die jetzige Fassung ist nicht eindeutig und birgt die Gefahr einer zu weit gefassten Übertragung von Aufgaben auf den Rechtspfleger. Der jetzige Ver- weis, dass die „entsprechenden Geschäfte übertragen“ werden, impliziert, dass die in § 20 Absatz 2 des Rechts- pflegergesetzes aufgeführten Geschäfte durch die bun- desrechtliche Regelung direkt vom Richter auf den Rechtspfleger übertragen werden, ohne dass noch der Erlass einer entsprechenden Verordnung durch die Län- der gemäß § 20 Absatz 2 Rechtspflegergesetz erforder- lich wäre. Diese Rechtslücke wird durch den vorliegen- den Gesetzentwurf geschlossen. Die mit dem Entwurf vollzogene Umsetzung des Haager Übereinkommens sowie der notwendigen An- passungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im Rechtspflegergesetz ist aus unserer Sicht zielführend und sachgerecht. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Es gibt ein- fach Situationen, in denen muss man Regelungen nur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5967 (A) (C) (D)(B) verlängern, und man tut damit trotzdem etwas Gutes und Richtiges. Diese Situation hier ist eine solche. Mit den Änderungen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch und im Altersteilzeitgesetz, die an diesem Gesetz mit dem wun- derschönen Namen dranhängen, verlängern wir auslau- fende Regelungen, die für die betroffenen Menschen sehr hilfreich sind. Da geht es zum Beispiel um ältere Arbeitsuchende. Zwar hat sich die Beschäftigungssituation in dieser Gruppe in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch ist der Anteil der Arbeitsuchenden bei den über 50-Jähri- gen überproportional hoch. Und auch der demografische Wandel wird dazu führen, dass das Problem nicht ver- schwindet. Um die Eingliederung von älteren Arbeitsu- chenden in Beschäftigung fördern zu können, wurden befristet besondere Eingliederungszuschüsse für ältere Arbeitnehmer eingeführt. Diese Befristung soll bis Ende des Jahres 2019 verlängert werden. Damit setzen wir weiterhin an den richtigen Stellen Anreize, um älteren Menschen, die es sonst sehr schwer auf dem Arbeits- markt haben, eine Beschäftigung zu ermöglichen. Auch die berufliche Weiterbildungsförderung für Ar- beitnehmer unter 45 Jahren in kleinen und mittleren Un- ternehmen wird bis Ende 2019 ausgedehnt. Mit dieser Regelung unterstützen wir den Mittelstand in Deutsch- land bei der so wichtigen Frage der Fachkräftesicherung. Weitere Sonderregelungen betreffen die Gewährung von Zuschuss-Wintergeld für das Gerüstbauerhandwerk und die Verlängerung einer Übergangsvorschrift in der Altersteilzeitregelung. Beides sind keine allgemeinen Regelungen, sondern betreffen nur einen kleinen Perso- nenkreis. Für diesen sind sie aber umso wichtiger. Mir als Kulturpolitikerin liegt die Sonderregelung zur Anwartschaftszeit von überwiegend kurz befristet Be- schäftigten besonders am Herzen. Diese Regelung soll speziellen Erwerbsbiografien, die geprägt sind von vielen kurz befristeten Arbeitsverhältnissen, Rechnung tragen. Das kommt vor allem in der Kunst- und Kulturbranche häufig vor, bei Filmschaffenden und den darstellenden Künstlern. Sie zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, haben durch ihre kurzen Beschäftigungsverhältnisse aber fast nie die Chance, die Leistung in Anspruch zu nehmen. Sozialversicherungsrechtlich sind das struktu- relle Nachteile. Ihnen wird der Zugang zum Arbeitslosengeld I durch die Sonderregelung erleichtert, ja eigentlich überhaupt ermöglicht. Sie haben danach Anspruch auf Arbeitslo- sengeld I, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen. Auch diese Regelung würde Ende des Jahres auslau- fen. Nun wird sie um ein Jahr verlängert. Diese Verlän- gerung ist erst einmal positiv. Sie ist allemal besser als ein Auslaufen ohne Nachfolgeregelung. Denn dann wür- den die Betroffenen faktisch nie die Voraussetzungen für ALG-I-Bezug erfüllen können. Das ist also erst einmal ein gutes Zeichen für alle Betroffenen. Wir haben sie aber nur um ein Jahr verlängert, weil wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, diese Regelung inhaltlich weiterzuentwickeln. Das wollen wir nun im kommenden Jahr tun. Denn wenn nur 200 Men- schen im Jahr von dieser Sonderregelung profitieren, müssen wir uns fragen, ob wir die Zielgruppe, die wir mit dieser Regelung erreichen wollten, auch wirklich er- reichen. Im Koalitionsvertrag ist deshalb angedacht, für die Sonderregelung die Rahmenfrist auf drei Jahre zu er- höhen. So vergrößert sich die Chance, trotz sehr kurz- fristiger Arbeitsverhältnisse Arbeitslosengeld I beziehen zu können. Wir bleiben aber dabei: Wir wollen nur da eine Aus- nahme machen, wo es tatsächlich strukturelle Nachteile auszubessern gilt, und nicht, wie Sie von der Linken es in Ihrem Antrag fordern, die gesamten arbeitsmarktpoli- tischen Reformen der vergangenen Jahre infrage stellen. Die Ausnahme darf nur da gemacht werden, wo sie ge- rechtfertigt ist und wo sie notwendig ist. Deshalb ist eine Definition der Kurzfristigkeit der Arbeitsverhältnisse bei etwa zehn Wochen genauso richtig wie eine Verdienst- obergrenze. Unser Arbeitsmarkt und unsere Sozialversicherungen stehen sehr gut da. Das wollen wir nicht aufs Spiel set- zen. Wir verlängern deshalb die bewährten Regelungen und drehen die Arbeitsmarktpolitik nicht in das vergan- gene Jahrtausend zurück, wie die Linke das fordert. Dr. Matthias Bartke (SPD): Als am 30. Juni 2005 das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsverein- barungen geschlossen wurde, dachte vermutlich nie- mand an Altersteilzeit und das Dritte Buch Sozialgesetz- buch. Und doch werden Änderungen in diesen beiden Bereichen gemeinsam mit dem Haager Übereinkommen in einem Gesetz geregelt. So wichtig das Haager Übereinkommen ist, so drin- gend notwendig sind die Änderungen im Altersteilzeit- gesetz und im Arbeitsförderungsrecht. Konkret handelt es sich um fünf Änderungen. Die erste Änderung ist eine Übergangsregelung der Versicherungspflicht für Beschäftigte in Altersteilzeit. Hintergrund dieser Regelung ist die Anhebung der Ge- ringfügigkeitsgrenze von 400 Euro auf 450 Euro. Vorher war die Altersteilzeitarbeit in diesem Bereich versiche- rungspflichtig. Nun ist die Geringfügigkeitsgrenze aber angehoben. Versicherungspflicht besteht damit erst ab 450,01 Euro. Für all jene, die sich in Altersteilzeit befin- den, ist das ein gehöriger Unterschied. Die Vorausset- zung für Altersteilzeitarbeit ist nämlich eine versiche- rungspflichtige Beschäftigung. Daher wurde eine Übergangsvorschrift geschaffen, die jedoch nur bis zum Ende dieses Jahres gilt. Das ist aber nicht ausreichend. Es gibt noch immer Altersteilzeitbeschäftigte, die von einem Auslaufen der Übergangsvorschrift hart getroffen würden. Für den Einzelnen bedeutet das ein Ende der Altersteilzeitarbeit vor dem Eintritt in die Altersrente. Was heißt das genau? Das heißt: zurück in die Vollzeitar- beit oder Arbeitslosigkeit! Für die Betroffenen ist weder das eine noch das andere attraktiv. Aus diesem Grund wird die Übergangsregelung fortgeführt. Die zweite Änderung verlängert die Regelung zum Eingliederungszuschuss für ältere Arbeitnehmer. Der 5968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Eingliederungszuschuss ist normalerweise auf zwölf Monate beschränkt. Arbeitsuchende, die älter als 50 Jahre sind, können hingegen 36 Monate gefördert wer- den. Das ist dreimal so lang! Damit bedeutet diese För- derung für ältere Arbeitsuchende eine ganz besondere Chance. Eine Chance, die wir ihnen geben müssen. Fast jeder dritte Arbeitslose ist 50 Jahre und älter. Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit ist für sie deutlich höher. Die Neueinstellung eines älteren Arbeitsuchenden ist da- her von ganz besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund wird die längere Förderdauer fünf weitere Jahre fortge- führt. Die dritte Änderung verlängert die Sonderregelung für das Gerüstbauerhandwerk. Winterbauförderung funktioniert nur, wenn Arbeitslosigkeit der Gerüstbauer auch im Winter vermieden wird. Zu diesem Zweck be- kommen Gerüstbauer auch in Zeiten von Überbrü- ckungsgeld einen Winterzuschuss. Ohne diese Regelung ist die Winterbauförderung in Gefahr. Aus diesem Grund wird die Sonderregelung bis März 2018 fortgeführt. Die vierte Änderung verlängert die Weiterbildungs- förderung für Jüngere in kleinen und mittleren Unterneh- men. Durch die Förderung wurden in den letzten Jahren deutlich mehr Weiterbildungen nachgefragt. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Fachkräftesicherung. Aus diesem Grund wird die Förderung bis Ende 2019 fortgeführt. Die fünfte und damit letzte Änderung verlängert die Sonderregelung zur verkürzten Anwartschaftszeit. Kurz befristet Beschäftigte erfüllen ihre Anwartschaftszeit nicht mit zwölf, sondern schon mit sechs Monaten Versi- cherungszeit. Wir sprechen hier vor allem von Erwerbs- biografien in der Kultur. Für diese Gruppe werden wir eine Anschlussregelung finden. Der Diskussionsprozess dazu braucht jedoch Zeit. Aus diesem Grund wird die Sonderregelung bis Ende 2015 fortgeführt. Die Verlängerung der Fristen bedeutet Förderung, Unterstützung und Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Verlängerung der Fristen bedeutet eine Fortsetzung erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik. Dirk Wiese (SPD): Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet die notwendigen nationalen Vorschriften, die zur Durchführung des Haager Überein- kommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- barungen – dem Haager Übereinkommen – erforderlich sind. Worum geht es genau? Das Haager Übereinkommen enthält für internationale Sachverhalte, in denen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung geschlos- sen worden ist, Zuständigkeitsregeln sowie Regeln über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen. So sperrig das klingen mag, vereinfacht es doch den internationalen Handelsverkehr immens, in- dem es rechtlich stabile Rahmenbedingungen schafft. In Zukunft herrscht in Ländern, die Vertragspartei des Ab- kommens sind, damit nun Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. Das heißt in der Praxis vor allen Dingen mehr Rechts- sicherheit für europäische Unternehmen, die außerhalb der EU tätig sind; denn sie können darauf vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen und die entsprechen- den gerichtlichen Entscheidungen in den Ländern, die das Übereinkommen ratifiziert haben, beachtet, aner- kannt und vor allem vollstreckt werden. Damit fällt für viele europäische Unternehmen, die international expan- dieren wollen, ein entscheidendes Rechtsrisiko weg, das in vielen Fällen bislang auch zum konkreten Investi- tionshindernis wurde. Gerade für uns in Deutschland ist dies also ein entscheidender Schritt zur Stärkung unserer internationalen Rolle als Vize-Exportweltmeister. Kurz ein paar Worte zum Aufbau des Abkommens. Es basiert auf drei Grundsätzen: Erstens. Nur das von den Beteiligten vereinbarte Ge- richt soll den Rechtsstreit entscheiden. Zweitens. Alle anderen Gerichte müssen sich für un- zuständig erklären. Drittens. Die Entscheidung des vereinbarten Gerichts soll in den anderen Vertragsstaaten anerkannt und voll- streckt werden. Sie sehen also, dass hier sehr eindeutige und einfach umsetzbare Voraussetzungen geschaffen wurden. Kurz gesagt: Dieses Maßnahmenbündel sorgt für Rechtssi- cherheit und Vorhersehbarkeit. Kurz ein paar Sätze zum Ursprung des Abkommens: Das Gerichtsstandsübereinkommen geht auf eine Initia- tive von Ländern zurück, die alle Mitglieder der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht sind. Die USA, Japan, China, Russland und Kanada seien an dieser Stelle als Beispiele genannt. Gerade der Ursprung in dieser Initiative, also von Mitgliedern der Haager Konferenz, die international mit 76 teilnehmenden Staaten breit gefächert ist, kann weg- weisend sein, und ich sehe ich hier das Potenzial, dass das Abkommen sich in Zukunft zu einer weltweiten Rechts- grundlage für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen entwickeln kann. Wichtig ist dafür natürlich, dass möglichst viele Staaten das Übereinkommen ratifi- zieren. Deshalb sollten wir als europäische Mitgliedstaa- ten mit gutem Beispiel vorangehen und ein starkes Si- gnal an die Mitglieder der Haager Konferenz senden, die noch nicht unterzeichnet haben. Deshalb bitte ich Sie hier und heute um Ihre Zustimmung zu dem vorliegen- den Gesetzesentwurf. Ich bin sicher, dass nach der Zu- stimmung aller europäischen Mitgliedstaaten auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen wird und damit der Beschluss des Rates endgültig erlassen und in der Europäischen Union in Kraft treten wird. Da- mit schaffen wir dann in Europa ein deutliches Mehr an Rechtssicherheit im internationalen Handelsverkehr, von der auch gerade wir in Deutschland deutlich profitieren werden. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Es gibt Hunderttausende Beschäftigte mit kurzfristigen Ar- beitsverträgen. Viele zahlen in die Arbeitslosenversiche- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5969 (A) (C) (D)(B) rung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlustes kein Arbeitslosengeld. Die Vorschläge unseres vorliegenden Antrags zielen darauf ab, dieses Problem anzugehen und mehr Beschäftigten den Zugang zur Arbeitslosenversi- cherung zu eröffnen. Viele der Betroffenen erhalten kein Arbeitslosengeld I, weil sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenfrist von zwei Jahren nicht die erforderliche Versicherungs- zeit von zwölf Monaten erreichen. Zwar gibt es eine Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte; diese ist aber so gestaltet, dass sie einen Großteil der Betroffenen ausschließt. Denn die Sonderregelung gilt nur für Ar- beitslose, deren einzelne Beschäftigungszeiten mehrheit- lich nicht auf mehr als zehn Wochen angelegt waren. Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Ein Leiharbeiter, eine Beschäftigte in der Gastronomie oder dem Handel hatte in den zurückliegenden zwei Jahren drei Jobs. Einmal waren sie oder er für eine Zeit von ei- nem Monat beschäftigt, zweimal für vier Monate. Insgesamt ergibt das eine Versicherungszeit von neun Monaten. Das reicht nicht, um normales Arbeitslosen- geld zu erhalten, denn dafür wären zwölf Versicherungs- monate notwendig. Aber weil zwei der drei Jobs länger als zehn Wochen dauerten, sind sie auch vom Bezug des Arbeitslosengeldes nach der Sonderregelung ausge- schlossen. Gleiches gilt auch für kurzzeitig Beschäftigte, de- ren Bruttoverdienst eine bestimmte Grenze über- schreitet. Im Jahr 2014 liegt diese in den alten Bun- desländern bei 2 765 Euro im Monat, in den neuen Bundesländern bei 2 345 Euro. Diese Einschränkungen sind ein wichtiger Grund da- für, dass es bisher jährlich nur gut 200 Arbeitslosengeld-I- Beziehende nach der Sonderregelung gibt. Dem gegen- über stehen knapp 700 000 kurzzeitige Beschäftigte im Jahr 2010. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Wie aus einer Kleinen Anfrage der Linken zu dem Thema hervorgeht, sind von dem Problem kurzzeitiger Beschäftigung überdurchschnittlich viele junge Men- schen, Migrantinnen und Migranten und Teilzeitarbei- tende betroffen. Ursprünglich wurde die Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte für die Berufe der Kultur- branche geschaffen. Diese nutzen die Regelung auch am stärksten. Mit der ausufernden befristeten Beschäftigung reicht das Problem inzwischen jedoch weit über den Kulturbereich hinaus. Bezogen auf die Branchen trifft man auf das Problem der kurzfristigen Beschäftigung vor allem in der Leihar- beit, im Einzelhandel, in der Gastronomie sowie im Gar- ten- und Landschaftsbau und in der Landwirtschaft. Die Große Koalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich vereinbart, die 2014 auslaufende Sonderrege- lung durch eine Anschlussregelung zu ersetzen, und an- gekündigt, die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu erweitern. Aber sie hat nicht ihre Hausaufgaben gemacht und will nun die bestehende Regelung lediglich um ein Jahr verlängern. Es gibt also keine längere Rahmenfrist, ge- schweige denn eine Änderung der restriktiven Zugangs- bedingungen. Wir als Linke haben rechtzeitig einen Antrag vorge- legt, der heute zur Abstimmung steht. Wir fordern, die Rahmenfrist, innerhalb derer Versi- cherungsansprüche aufgebaut werden können, von zwei Jahren auf drei Jahre zu erweitern. Wir wollen die not- wendige Versicherungszeit auf sechs Monate verkürzen. Das heißt, mit sechs Monaten Versicherungszeit würde man bereits einen Anspruch auf drei Monate Arbeitslo- sengeld erwirken. Und wir wollen die restriktiven Zu- gangsbedingungen aufheben, also keine Vorbedingungen für die Dauer der einzelnen Beschäftigungszeiten oder die Verdienstgrenze nennen. Wäre unser Antrag bereits in Gesetzesform umge- setzt, hätten in der Vergangenheit bis zu 200 000 Be- schäftigte mehr Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten. Das hat das Wissenschaftliche Institut der Bun- desagentur für Arbeit errechnet. Die Regierung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ich fordere die Abgeordneten von Union und SPD auf, im Sinne der Betroffenen dann wenigstens unserem An- trag zuzustimmen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Jus- tizminister der EU-Mitgliedstaaten haben am 10. Okto- ber 2014 den Beitritt der EU zum Haager Übereinkom- men über Gerichtsstandsvereinbarungen beschlossen. Das Übereinkommen vom 30. Juni 2005 regelt die Anwendung von ausschließlichen Gerichtsstandsverein- barungen bei internationalen Rechtsstreitigkeiten. Unter- nehmen können künftig im Rechtsverkehr darauf vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen in Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, auch An- wendung finden. Andere als die vereinbarten Gerichte müssen sich für unzuständig erklären. Außerdem können Urteile aus einem Vertragsstaat nun leichter in einem an- deren Vertragsstaat vollstreckt werden. Verbraucher- und Arbeitsverträge werden davon zu Recht nicht erfasst. Wer einem stärkeren Vertragspartner gegenübersteht, soll nicht gezwungen werden können, auf seinen gesetzlichen Richter verzichten zu müssen. Es fragt sich natürlich, inwieweit dies nicht auch für klei- nere Unternehmen im Verhältnis zu großen Konzernen gelten kann. Zumindest wird man bei international täti- gen Unternehmen eine ausreichende Rechtskenntnis zu- grunde legen dürfen. Ein positiver Aspekt dieses Abkommens ist insbeson- dere, dass die staatliche Justiz gegenüber der privaten Schiedsgerichtsbarkeit gestärkt wird. Ein gern verbreite- tes Argument für Schiedsgerichte ist häufig die leichtere Vollstreckbarkeit der Urteile. An dieser Stelle wird das Haager Übereinkommen die Situation zugunsten der staatlichen Justiz verbessern. Das Übereinkommen schafft Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit so- wie die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. Die Ratifikation des Übereinkommens und die jetzt be- vorstehende Vereinheitlichung sind daher zu begrüßen. 5970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Allerdings dürfen wir uns auch nichts vormachen: Ausreichen wird das nicht. Wir sollten uns bemühen, den Einfluss von Schieds- gerichten, soweit es geht, einzudämmen und nicht durch neue Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA wei- ter zu fördern. Schiedsgerichte formen im Hinterzimmer neues Recht, das der Allgemeinheit weitgehend unbe- kannt bleibt. Die Rechtsfortbildung von Schiedsgerich- ten ist dem kritischen Blick von Öffentlichkeit und Wissenschaft nahezu vollständig entzogen. Das schafft dauerhaft keine Rechtssicherheit und ist daher auch nicht im langfristigen Interesse der Unternehmen. Es geht heute jedoch nicht nur um die Umsetzung des Haager Übereinkommens, sondern wir stimmen über ein sogenanntes Omnibusgesetz ab. Dabei werden mittels eines Änderungsantrages dem Gesetz im Ausschuss noch weitere sachfremde Regelungen angehängt. Auch wenn wir diesen Regelungen am Ende zustimmen, möchte ich doch zum Verfahren grundsätzliche Kritik äußern: Das Omnibusverfahren ist unter Transparenzge- sichtspunkten schwierig zu rechtfertigen; es sollte nur in Ausnahmefällen angewandt werden. Bei diesem Omni- bus geht es überwiegend nicht um plötzlich auftretende, sondern vielmehr um leicht planbare Fristverlängerun- gen für auslaufende Gesetzte. Ob der Griff zum Omni- bus hier wirklich notwendig gewesen ist, ziehe ich in Zweifel. Weihnachten kommt für die meisten von uns ja auch nicht überraschend. In der Sache geht es um Folgendes: Im Koalitionsver- trag haben die Regierungsparteien Verbesserungen beim Zugang zu ALG-I-Leistungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer versprochen, die häufig hintereinan- der auf kurze Zeiträume befristete Arbeitsverhältnisse eingehen und daher Schwierigkeiten haben, die Anwart- schaftszeiten innerhalb der Rahmenfrist zu erfüllen, ob- wohl sie in der Zeit ihrer Beschäftigung regulär in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Wir begrüßen dieses Ziel, halten aber den im Koali- tionsvertrag vorgegebenen Weg für falsch. Danach soll es unter anderem für die Beschäftigten eine von zwei auf drei Jahre verlängerte Rahmenfrist geben, innerhalb de- rer die Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslo- sengeld I erfüllt werden muss. Eine solche Ausweitung der Rahmenfrist innerhalb der Sonderregelung macht es aber für die Antragstellerinnen und Antragsteller im Zweifel schwerer, einen Anspruch zu erwerben. Gutachten haben für einen Dreijahreszeitraum das er- höhte Risiko belegt, dass Beschäftigungsverhältnisse zu lang sind für die Sonderregelung, aber auch nicht ausrei- chen, um einen regulären Leistungsanspruch zu erwer- ben. Die Betroffenen würden dann direkt in Hartz IV landen. Wir halten es daher für besser, wenn Sie Ihren Koali- tionsvertrag so nicht umsetzen, sondern vielmehr die be- reits bestehende Ausnahmeregelung um ein weiteres Jahr verlängern. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 24) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Der vorliegende Ge- setzentwurf zur Änderung des Mikrozensusgesetzes und des Bevölkerungsstatistikgesetzes stieß sowohl im Bun- destag als auch im Internet auf Skepsis. Das ist verwun- derlich, denn weder der Bundesrat noch die Bundesda- tenschutzbeauftragte noch die Datenschutzbeauftragten der Länder haben Kritik daran geäußert. Die Skepsis gegenüber diesem Gesetzentwurf zeugt für mich von einem diffusen Misstrauen gegenüber jegli- cher Datenerhebung durch den Staat. Inhaltliche und so- mit ernst zu nehmende Kritik hat niemand an den kon- kreten Gesetzesänderungen vorgebracht. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass die minimalen Gesetzesänderungen, die wir heute für das Mikrozensusgesetz und das Bevölke- rungsstatistikgesetz beschließen wollen, keinen Anlass zur Sorge bieten. Die Änderungen haben weder die Tragweite noch das Gewicht, um darüber in eine Grund- satzdebatte zum Datenschutz zu verfallen. Die hohen Datenschutzstandards in Deutschland bleiben vollkom- men unberührt. Auch die inhaltliche Ausgestaltung des Mikrozensus und der Bevölkerungsstatistik wird durch die Novellierung nicht tangiert. Die Neuerungen sind rein technischer bzw. redaktio- neller Natur. Wenn man sich näher damit beschäftigt, wird deutlich, dass die Änderungen ziemlich unspekta- kulär sind. Gerne erläutere ich sie noch einmal: Für den Mikrozensus werden insgesamt circa 830 000 Personen in rund 370 000 Haushalten in Deutschland ausgewählt. Das entspricht 1 Prozent der Gesamtbevöl- kerung. Die Auswahl der Personen basiert auf einer ma- thematisch berechneten repräsentativen Stichprobe. Im Gegensatz zum großen Zensus werden die Teil- nehmer des Mikrozensus innerhalb von fünf aufeinan- derfolgenden Jahren bis zu viermal befragt. Pro Jahr gibt es maximal eine Befragung. Die zentrale Gesetzesänderung ist nun die Einführung einer Experimentierklausel, dank der alternative Erhe- bungsmethoden unter realen Bedingungen getestet wer- den können. Vor allem sollen sogenannte unterjährige Befragungen, also mehrfache Befragungen innerhalb ei- nes Jahres, getestet werden. Grund für die Erprobung dieser unterjährigen Befra- gungen ist eine anstehende Reform der EU-Verordnung (EG) Nr. 577/98 von 1998, welche die Erhebung der europäischen Arbeitskräftestichprobe regelt. Diese Ar- beitskräftestichprobe wird in Deutschland zusammen mit dem Mikrozensus erhoben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5971 (A) (C) (D)(B) Während des Experiments sollen die ausgewählten Personen und Haushalte nun innerhalb eines Jahres in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen befragt werden. Insgesamt bleibt es aber auch für die Teilnehmer des Ex- periments bei maximal vier Befragungen. Diese alternativen Befragungsmethoden werden an maximal 2,5 Prozent aller für den Mikrozensus ausge- wählten Personen getestet. Das Experiment betrifft also rund 8 500 Haushalte. Belgien und Deutschland sind die einzigen EU-Staaten, die bisher keine unterjährigen Be- fragungen einsetzen. Es freut mich, feststellen zu können, dass den Teil- nehmern durch das Experiment insgesamt kein Mehrauf- wand entsteht. Mehrere Befragungen kurz hintereinan- der können den Zeitaufwand sogar verringern, da sich Fragen schneller beantworten lassen, wenn die Antwor- ten gleich bleiben. Zudem sollen anstelle der bisherigen Fragebögen und persönlichen Interviews nun Befragungen auch per Tele- fon und Internet ausprobiert werden. Die Nutzung dieser neuen Befragungsinstrumente geschieht auf freiwilliger Basis. Auch eine Befragung per Telefon kann eine Zeit- ersparnis gegenüber dem Ausfüllen eines Fragebogens sein. Mit der Änderung des Mikrozensusgesetzes wollen wir vor allem unseren Statistikern die Möglichkeit ge- ben, die neuen Anforderungen seitens der EU metho- disch frühzeitig vorzubereiten. Im Bevölkerungsstatistikgesetz werden die Anschrift der Betroffenen sowie das Ordnungsmerkmal der Mel- debehörde als Hilfsmerkmal in das Bevölkerungsstatis- tikgesetz aufgenommen. Damit sollen die Plausibili- tätsprüfungen verbessert werden. Wesentliches Ziel dieser Neuerung ist es, die Qualität der Statistik insbe- sondere im Hinblick auf die Einwohnerzahl und deren Fortschreibung zu erhöhen. Zudem wird die Übermittlung von Daten zur Neben- wohnung eingeschränkt, da nicht alle Daten erforderlich sind. Dieser Punkt stellt genau genommen eine kleine datenschutztechnische Verbesserung dar, da die Infor- mationsflut eingeschränkt wird. Zuletzt soll im Bevöl- kerungsstatistikgesetz hinsichtlich der eingetragenen Lebenspartnerschaften eine klarstellende Änderung vor- genommen werden. Nicht nur wir Politiker, sondern alle Teile der Gesell- schaft sind auf valide und zuverlässige Daten angewie- sen, um die gesellschaftlichen Realitäten zutreffend ana- lysieren zu können. Der Mikrozensus als maßgebliche Referenzgröße in der deutschen Statistik schafft eine un- verzichtbare Basis für die Erhebung zahlreicher anderer Statistiken. Die aktuelle Diskussion um den großen Zensus zeigt, welche entscheidende Rolle Statistik in einem demokra- tischen Rechtsstaat spielen kann. Wenn die Einwohner- zahl einer Kommune kleiner oder größer gerechnet wird, als sie tatsächlich ist, werden Gelder falsch verteilt. Von der korrekten Berechnung der Einwohnerzahlen im Rah- men der Volkszählung hängt ab, ob eine Kommune im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs das Geld er- hält, was ihr tatsächlich zusteht. Wir müssen daher unsere Statistiken konsequent prü- fen und weiterentwickeln. Das gilt für den Zensus wie für den Mikrozensus. Die Änderungen, die wir heute be- schließen wollen, sind ein Beitrag dazu. Der Änderungsantrag der Grünen ist aus drei Grün- den abzulehnen. Erstens gilt das Mikrozensusgesetz 2005 nur noch bis Ende 2016. Die Gesetzesnovellierung umfasst ausschließlich kleine technische Änderungen, um das noch zu entwickelnde Mikrozensusgesetz 2017, das andere europarechtliche Bedingungen erfüllen muss, methodisch vorzubereiten. Es macht daher keinen Sinn, kurz vor dem Auslaufen des Gesetzes noch inhaltliche Änderungen vorzunehmen. Zweitens ist der implizierte Vorwurf, gleichge- schlechtliche Lebenspartnerschaften würden im Mikro- zensus nicht abgebildet, nicht korrekt. In Frage 9 und Frage 14 des aktuellen Fragebogens zum Mikrozensus werden Lebenspartnerschaften explizit abgefragt. Ent- sprechend detailliert lassen sich heute schon Rück- schlüsse ziehen. Drittens kann nicht abgefragt werden, was rechtlich nicht möglich ist. Ein gemeinsames Sorgerecht gleichge- schlechtlicher Lebenspartner bei Geburt gibt es nach gel- tendem deutschem Recht nicht. Ein Kind kann erst nach der Sukzessivadoption zwei gleichgeschlechtliche El- ternteile haben. In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: „Ziel ist es, die Haushaltsbefragungen so zu organisieren, dass sie den steigenden Anforderungen an Datenproduktion und -bedarf gerecht werden, die Bürgerinnen und Bürger so wenig wie möglich zusätzlich belasten und möglichst wenig zusätzliche Kosten verursachen.“ Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Bei aller Notwendigkeit einer verlässlichen Datengrund- lage dürfen wir nicht übersehen, dass die Erhebung der Daten eine nicht unerhebliche Belastung für die Betrof- fenen darstellen kann. Ab 2017 benötigen wir ein neues Mikrozensusgesetz, das die Grundlage für ein statistisches Gesamtsystem schaffen soll. Ziel dieses Systems ist es, die Interessen der Befragten zu wahren, die Datenerhebung effizienter zu gestalten und den neuen statistischen Anforderungen seitens der EU rechtzeitig zu begegnen. Vier statistische Erhebungen, die bisher weitgehend getrennt voneinander erfolgen, sollen dazu zusammen- geführt werden. Das ist erstens der Mikrozensus und zweitens die europäische Arbeitskräfteerhebung, die be- reits zusammen erhoben werden. Das System soll drit- tens die Gemeinschaftserhebungen über Einkommen und Lebensbedingungen in Europa, EUSILC, und über die private Nutzung von Informationstechnologien, IKT, sowie viertens die Freiwilligenstichpobe nach § 7 des Bundesstatistikgesetzes umfassen. Dieses System steht aber heute nicht zur Diskussion. Erst wenn substanzielle Ergebnisse über die Weiterent- 5972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) wicklung des Gesamtsystems vorliegen, können wir da- rüber beraten und sie bewerten. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Heute kommen unsere Beratungen zum Mikrozensusgesetz und zum Be- völkerungsstatistikgesetz zum Ende. Wir beschließen damit wichtige und notwendige Änderungen, die einen Fortschritt für die amtliche Statistik bedeuten. Die Ge- schichte der amtlichen Statistik reicht weit zurück und ist vor allen Dingen eines: eine Geschichte der Optimie- rung. Ganz frühe Erfassungen zur Bevölkerung gab es be- reits in der Antike. Die Bibel beschreibt sie an promi- nenter Stelle. Im Mittelalter waren es vor allen Dingen Klöster und Stifte, in denen sich Daten befanden. Sie waren jedoch zu dieser Zeit noch wenig verlässlich. Erst im 18. Jahrhundert erfuhr die Datensammlung eine Pro- fessionalisierung und wurde auch in Preußen zu einem wichtigen Instrument der Staatsführung. „Populations-“ und Wirtschaftstabellen sowie Todesursachenstatistiken entstanden, die dem preußischen König einen Überblick über Bevölkerung und Ressourcen gaben. Das war nicht nur in Kriegszeiten unentbehrlich. Diese Daten waren zumeist streng geheim. Nur der preußische König und seine „Cabinet-Minister“ hatten Zugang. Regelmäßige und vollständige Volkszählungen wur- den in vielen europäischen Ländern erst im 19. Jahrhun- dert vorgenommen. So sollte 1810 in Berlin ein Zensus stattfinden, da man der Meinung war, dass die Bevölke- rungstabellen nicht mehr stimmten. Die Volkszählung konnte nur mit großen Verzögerungen durchgeführt wer- den, da dem Berliner Magistrat Personal dafür fehlte. Man könnte sich an heutige Zeiten erinnert fühlen. 1861 folgte ein weiterer Zensus in Berlin, und dieser verlief bereits deutlich strukturierter. In 40 Polizeirevie- ren wurden Zählbezirke gebildet. In Gegenwart von Dis- triktkommissaren mussten die Formulare ausgefüllt wer- den. Da gab es kein Lamentieren. Die Daten, die erfasst wurden, waren schon qualifi- zierter. So wurden auch soziale Daten zu den Wohnver- hältnissen erhoben, aus denen die ersten Wohnstatistiken entstanden. Auch die Methoden waren inzwischen wis- senschaftlich verfeinert. Die Daten nahmen erheblich zu, was sich an ersten statistischen Jahrbüchern zeigte. 1872 wurde dann das „Kaiserliche Statistische Amt“ gegrün- det, das fortan viele weitere Statistiken, wie die Land- wirtschafts-, die Verkehrs- und sogar eine Bautätigkeits- statistik, betreute. Volkszählungen gehörten mit der Reichsgründung 1871 zur festen statistischen Grundlage in Deutschland. 1910 wurde die letzte vor dem Ersten Weltkrieg und 1917 eine sogenannte Kriegszählung vorgenommen, um die Lebensmittelkarten zu planen. Angestrebt war ei- gentlich ein Fünfjahresrhythmus, der aber immer wieder durch politische Entwicklungen durchbrochen wurde. Während Volkszählungen in der dunklen Zeit des Natio- nalsozialismus menschenverachtenden Maximen folg- ten, wurden sie in der Nachkriegszeit wieder zum wich- tigen Barometer der Bevölkerungsentwicklung. In DDR und Bundesrepublik waren Volkszählungen fester Bestandteil der Verwaltungshoheit. Die Verfahren waren sehr aufwendig und erfolgten bis 1970 noch mit Lochkartentechnik. Die Volkszählung 1987 war in der Bundesrepublik mit heftigen Diskussionen verbunden. Einige von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer- den sich an die Boykottaufrufe erinnern. Ich selber war als Volkszähler unterwegs. Mit Papier und Bleistift aus- gestattet, habe ich in vielen Haushalten geholfen, die umfangreichen Fragen zu beantworten. Allerdings wurde mir auch so manche Tür regelrecht vor der Nase zugeschlagen. Die erste gesamtdeutsche Volkszählung folgte dann erst 2011. Es war eine registergestützte Erhebung, bei der auf Daten aus der Verwaltung, also auf Register, zu- rückgegriffen wurde. Zuvor wurde die Erhebung noch- mal um weitere Angaben erweitert – zum Beispiel um die Zahl der lebend geborenen Kinder. Der Gesetzent- wurf dazu kam 2007 von der damaligen Großen Koali- tion, und auch er qualifizierte die Statistik. Nun wurden Rückschlüsse auf die Anzahl von Kindern pro Frau, auf die Geburtenfolgen und auf den Geburtenabstand mög- lich. Die Daten lieferten eine wichtige Grundlage für eine gezielte Sozial- und Familienpolitik. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte von Optimierungen. Das wurde durch diesen kurzen histori- schen Rückblick deutlich. Und diese Geschichte wollen wir heute fortschreiben. Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf darum, das Mikrozensusgesetz zu ergänzen, womit wir einer EU-Vorgabe folgen. Auf Basis einer Experimentierklau- sel können neue Erhebungsverfahren erprobt werden, um die Qualität der Statistik zu verbessern. Ziel der Er- probung ist auch, die Bürgerinnen und Bürger zu entlas- ten. Darüber hinaus wollen wir eine Korrektur in der Be- völkerungsstatistik vornehmen – auch das mit dem Ziel der Optimierung. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Nach Inkrafttreten des Bevölkerungsstatistikgesetzes am 1. Januar 2014 wurden einige „handwerkliche Män- gel“ offenkundig, die mit dem Gesetzentwurf wieder korrigiert werden müssen. So hat das Fehlen der An- schrift zur Folge, dass zum Beispiel Wanderungsbewe- gungen in der Kommune nicht mehr nachvollzogen wer- den können. Damit fehlen elementare Daten, und das ist natürlich zurückzunehmen. Das tun wir heute und leisten damit einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung unse- rer Statistik. Es sind kleine Änderungen mit viel Ge- wicht, die uns wie vielen anderen Stellen die Arbeit er- leichtern. „Statistik ist das Informationsmittel der Mündigen“, hatte die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demos- kopie, Elisabeth Noelle-Neumann, gesagt. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Lassen Sie uns das Mikro- zensusgesetz und das Bevölkerungsstatistikgesetz heute zu einem guten Abschluss bringen. Jan Korte (DIE LINKE): In der ersten Lesung gab die Kollegin Lindholz zur Erläuterung, worum es bei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5973 (A) (C) (D)(B) Ihrem Gesetzentwurf überhaupt geht, für die Unions- fraktion zu Protokoll, dass „mit der vorliegenden Geset- zesänderung […] nun auch mehrmalige Befragungen einer Person innerhalb eines Jahres eingeführt [werden]. Diese sogenannten unterjährigen Befragungen können einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand für die Teilnehmer bedeuten.“ Damit steht die CSU-Kolle- gin im Widerspruch zu der Behauptung im Gesetzent- wurf, wonach die Änderungen nämlich keinen Mehrauf- wand für die Befragten bedeuten würden. Diesen Mehraufwand in einem Jahr, den im Übrigen auch die Interviewer der Landesämter für Statistik haben, gibt es eben tatsächlich. Und sie versuchen diesen ja eben dadurch zu entkräften, indem künftig auf „einfachere Befragungsmethoden“ mittels Telefon und Internet aus- gewichen wird und die Bürgerinnen und Bürger durch Nutzung eines sogenannten „modular aufgebauten, kohärenten Systems der Haushaltsstatistiken“ entlastet würden. Wie so ein modular aufgebautes, kohärentes System konkret aussehen soll, können sie allerdings noch nicht sagen. Ich halte das für unprofessionell, reichlich problematisch und zudem, was die Ausweitung elektronischer Erhebungsformen angeht, für ziemlich riskant. Doch dazu später mehr. Was kommt also auf uns zu? Beim vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich auf den ersten Blick nur um eine unbedeutende Änderung des bis Ende 2016 geltenden Mikrozensusgesetzes 2005. Durch Ihren Gesetzentwurf soll „nur“ eine kleine Expe- rimentierklausel eingefügt werden, mit der andere Erhe- bungsverfahren getestet werden sollen. Die Einführung dieser Experimentierklausel führt zwar vermutlich tat- sächlich nicht zu einem umfangreicheren Fragebogen, bedeutet für die Auskunftspflichtigen aber, dass diese in einem kürzeren Zeitraum mehrfach befragt werden. Dies betrifft in der Experimentierphase erst einmal nur 8 500 Haushalte, künftig sollen es aber 50 Prozent der zwangs- weise am Mikrozensus Teilnehmenden, also mehr als 400 000 Personen sein. Die Bundesdatenschutzbeauf- tragte hatte angeregt, dass die relativ kleine Testgruppe vollständig freiwillig an der unterjährigen Befragung teilnimmt. Doch selbst diese minimale Freiwilligkeit ging dem Bundesinnenministerium offenkundig schon zu weit. So können die auskunftspflichtigen Probanden entweder das verkürzte Befragungsverfahren durchlau- fen oder die elektronischen Auskunftswege nutzen. Eine unterjährige Erhebung bedingt gegenüber dem bisherigen Verfahren gravierende Veränderungen, die vor allem die Erhebungs- und Ablauforganisation der Statistischen Landesämter betreffen. Die Testerhebung im Rahmen der Mikrozensuserhe- bung 2000 hatte bereits gezeigt, dass durch den mehr- maligen Interviewereinsatz in einem laufenden Erhe- bungsgeschäft verstärkt mit krankheitsbedingten oder sonstigen Ausfällen bei den Interviewern zu rechnen ist. Die Interviewer-Ausfallquote bewegt sich demnach in einem Rahmen von rund 15 Prozent bis etwa 30 Prozent. Angesichts der Erfahrungen aus der Organisationsunter- suchung erscheint eine jährliche Fluktuationsrate der Interviewer/-innen von durchschnittlich 25 Prozent in einem laufenden Erhebungsgeschäft realistisch. Dies macht es erforderlich, dass die Statistischen Landesämter eine ausreichend große Anzahl von Reser- veinterviewern einplanen, was offensichtlich relativ schwierig ist. Darüber hinaus ist nach allem, was man dazu liest, damit zu rechnen, dass für ausfallende Inter- viewerinnen und Interviewer nicht immer Ersatz gefun- den werden kann und die noch ausstehenden Auswahl- bezirke mit großen Problemen sowie hohem Aufwand, vor allem in den Flächenländern, vom jeweiligen Statis- tischen Landesamt aus bearbeitet werden müssen. Insge- samt muss also mit einem erheblichen Mehraufwand in den Statistischen Landesämtern gerechnet werden. Auf grund der durch die Unterjährigkeit bedingten starken regionalen Streuung ist in ländlichen bzw. schwach besiedelten Gebieten der ganzjährige Dauereinsatz der Interviewer/-innen von der Bereitschaft abhängig, große Wegstrecken zu bewältigen. Inwieweit eine ausreichend große Zahl von qualifizierten Interviewern gewonnen werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Um eben diese massiven Probleme zu umgehen, soll künftig verstärkt auf elektronische Befragungsmethoden gesetzt werden. Diese Zusammenhänge werden aber gezielt verschwie- gen. Wie ist es denn nun um die Datensicherheit bei den elektronischen Befragungsmethoden bestellt? Die Internetbefragungen sollen analog zu den Online- erhebungen beim Zensus 2011 durchgeführt werden. Dies hatte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte geprüft und als ausreichend abgesichert angesehen. Nun sind wir aber einige Jahre später und nicht zuletzt durch Edward Snowden etwas schlauer, sodass ich davon aus- gehe, dass es durchaus angebracht wäre, das Konzept noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Nur weil bis- lang, vielleicht ja auch aufgrund der noch nicht so gro- ßen Anzahl an Erhebungen, die auf diesem elektroni- schen Weg erhoben werden, noch kein Datendiebstahl bekannt geworden ist, bedeutet dies ja keineswegs, dass sich dies nicht künftig bei größeren Datenmengen än- dern könnte. Auch ist für mich unklar, wie sichergestellt werden soll, dass Fehler bei der Datenerhebung vermie- den und Missbrauch ausgeschlossen wird. Und mir leuchtet es auch überhaupt nicht ein, wieso es im Jahr eins nach Snowden nicht Standard sein kann, dass sen- sible Datenerhebungen – zumal von solchem Ausmaß! – anonymisiert erfolgen. Erklären Sie doch bitte einmal, warum lediglich eine Pseudonymisierung erfolgt und wieso sie das für ausreichend halten? Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus auch im Widerspruch zum Recht auf infor- mationelle Selbstbestimmung. Bis jetzt sind sie jeden- falls eine befriedigende Antwort auf die Frage, wieso Staat und Statistikämter nicht endlich auf die Mittel Aus- kunftszwang, Zwangsgelder und Drohbriefe verzichten können, wenn sie Informationen für bestimmte Projekte brauchen, schuldig geblieben. Positiv in den Beratungen war immerhin, dass Sie sich auf den Druck der Opposi- tion hin nun endlich dazu bequemt haben, einmal Zahlen zu Zwangsgeldverfahren in den Ländern vorzulegen. 5974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Die nun auf die Schnelle aus vier Bundesländern be- schafften Zahlen zeigen zumindest, dass so eine Abfrage schon viel früher möglich gewesen wäre, aber eben poli- tisch nicht gewollt war. Leider bleibt auch jetzt unklar, um welche Bundesländer es sich dabei eigentlich han- delt. Aber das können Sie ja vielleicht demnächst noch einmal im Zuge einer Aufstellung aller 16 Länder nach- holen. Wenn Ihre Zahlen stimmen, dann verweigern bis zu 2,3 Prozent der Befragten die Auskunft. Das ist viel- leicht in Ihren Augen nicht sonderlich viel, meines Er- achtens angesichts von bis zu 5 000 Euro Bußgeldern aber auch kein Pappenstiel. Dass die „Datenqualität“ bei einer Mikrozensuserhe- bung auf Freiwilligkeit nicht aufrechterhalten werden könnte, konnte bislang auch vor dem Hintergrund, dass 17 von 28 EU-Staaten ihre Erhebungen auf freiwilliger Basis durchführen, nicht schlüssig dargelegt werden. Selbst wenn es bei Freiwilligkeit dazu käme, dass keine validen Ergebnisse erzielt würden und sich dort, wie auch bei Wahlen, der sogenannte „Mittelstands-Bias“ zeigte, sodass die prekären Ränder am oberen und unte- ren Rand der Gesellschaft unterdurchschnittlich in die Ergebnisse einflössen, wäre dies doch kein generelles Argument gegen das Prinzip der Freiwilligkeit. Das wäre nur ein Grund mehr, sich endlich innovativ mit dem Problem fehlender demokratischer Beteiligung aus- einanderzusetzen. Auch auf meine Frage, ob die Bundesregierung mir auch nur einen einzigen politischen Bereich nennen könne, in dem es in letzter Zeit wegen fehlender „Daten“ zu problematischen Entscheidungen gekommen sei, ist sie die Antwort schuldig geblieben. Das ist aber auch nicht wirklich überraschend, denn es fehlt ja eben nicht an Daten, sondern am politischen Willen, bestimmte Probleme, wie beispielsweise die große Zahl nach wie vor fehlender Kitaplätze, zu lösen. Ich zitiere hier erneut Thilo Weichert, den Landesdatenschutzbeauftragten in Schleswig-Holstein: „Politische Fehlplanungen basieren nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der falschen Be- wertung vorhandener Daten.“ Kurz noch ein paar Worte zu den Kosten: Bislang sind Sie die Antwort auf die Frage, wie hoch die jährlichen Mehrkosten beim Bevölkerungsstatistik- gesetz ausfallen werden, schuldig geblieben. Im Gesetz- entwurf heißt es dazu nur: „Für die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die durch dieses Gesetz zu Daten- lieferungen verpflichtet werden, entstehen für die Anpassung von vorhandenen Softwarelösungen gegebe- nenfalls einmalige Kosten, die angesichts der unter- schiedlichen Gestaltung der jeweiligen Fachverfahren nicht beziffert werden können.“ Das ist ja nun nicht ge- rade sehr informativ. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht wenigstens interne Kostenhorizonte existieren. Al- les andere wäre ja noch unverantwortlicher als gedacht. Ein letztes Wort zum ganz nebenbei mitveränderten Bevölkerungsstatistikgesetz: Finden Sie es eigentlich vertrauenerweckend, dass das Bevölkerungsstatistikge- setz, welches in dieser Form ja erst zum 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist, nun durch die vorgesehene eilige Nachbesserung – und hier gibt es zusätzliche Datenerhe- bungen! – geändert werden muss? Ich nicht. Ich komme also zum Schluss: Meine Fraktion hatte das Mikrozensusgesetz 2005 abgelehnt, weil aus unserer Sicht und nach Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, seine Notwendigkeit nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewe- sen ist. Auch dieser Gesetzentwurf reiht sich in die vor- anschreitende Katalogisierung des Bürgers ein. Er setzt auf die Herrschaft der Zahl statt auf Qualitätspolitik. An dieser grundsätzlichen Kritik halten wir fest. Aus unse- rer Sicht öffnet die Experimentierklausel den Weg zu ei- ner Ausweitung der Erhebungen. Wir wollen aber das Gegenteil, nämlich weniger Datenhalden und vor allem weniger Zwangserhebungen. Meine Fraktion plädiert entschieden für das Prinzip der Freiwilligkeit bei Volks- zählungen jeder Art und für den konkreten Nachweis der Erforderlichkeit von Zahlen für nachvollziehbare Zwe- cke. Nur so werden sie die nötige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern bekommen. Deshalb lehnen wir auch heute Ihre Gesetzesände- rung ab. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Zensus 2011 ist gerade erst ausgewertet. Er hat durchaus äußerst kontroverse Reaktionen ausge- löst. Nun steht für fast eine Million Bundesbürgerinnen und -bürger der nächste Zensus bereits vor der Tür. Gerade weil der präventive, der vorsorgende und auch auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über lau- fend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt das Statistikwesen laufend an Bedeutung. Wer wie die Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren mit den Folgen einer schrumpfenden Erwerbsbevölke- rung, der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und einem anhaltendem Kinderschwund zu rechnen hat, kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber besteht Einigkeit. Wir haben uns bereits im vergangenen Jahr hinlänglich im Rahmen der Debatte um den Zensus 2011 darüber austauschen können. Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Er- kenntnisse dar, er ist gewissermaßen der kleine Bruder der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen und von zentraler Bedeutung unter anderem für die For- schung. Alljährlich sehen sich circa eine Million Bun- desbürger, eine durchaus beachtliche Anzahl, mit den umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden konfrontiert, denen sie nicht ausweichen können. Denn die Teilnahme an den Interviews oder die wahlweise Ausfüllung der Fragebögen ist aufgrund einer Aus- kunftspflicht bußgeldbewehrt. Die oft besonders weit das Privatleben der Befragten berührenden Fragen etwa nach dem Einkommen, nach den familiären Verhältnis- sen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel – völlig unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung – aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5975 (A) (C) (D)(B) schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz dar. Und genau dieser Konflikt hat die Volkszählungspro- teste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland. Im Kern geht es dabei um die Sicherung der informationel- len Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und soweit als möglich auch mitentscheiden zu können, wer was wann über einen erfährt und was dann mit diesem Wissen gemacht werden darf, das zählt bis heute zu einer Vorstellung des Datenschutzes, wie ihn auch meine Par- tei gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen erstritten hat. Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsur- teils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben; es dient dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhe- bung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, si- cherzustellen. Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befind- liche, wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozen- susgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern Fragenkomplexe, die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser Verfahrens- weise trotz der teilweisen Zurücknahme des strikten Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse der Flexi- bilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders ziel- gerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können. Lassen Sie mich klarstellen: Das Mikrozensusverfah- ren zählt insgesamt zu den bislang weitgehend geregel- ten und überwiegend zufriedenstellend verlaufenden Datenerhebungen unseres Staates. Allerdings gibt es auch weiterhin eine beständig hohe Zahl von Betroffe- nen, die über die umfassenden Fragebögen so empört sind, dass sie förmlich Beschwerde einlegen oder sich zum Beispiel an die Datenschutzbehörden oder ihre Ab- geordneten wenden. Dies war einer der Gründe, warum wir auf die Durchführung eines erweiterten Bericht- erstattergesprächs gedrungen haben. Die Ergebnisse des kurzen Termins haben die zahlreichen aufgeworfenen Fragen nicht zur Gänze klären können: Zwar wurden uns dankenswerterweise Einschätzungen einiger Bundes- länder vorgelegt, wie viele Bürgerinnen und Bürger ei- nen Mahnbescheid riskieren, wir würden es aber für sinnvoller erachten, dass die Akzeptanz dieses Verfah- rens systematischer und bei allen Bundesländern ab- gefragt würde. Dies geschieht bislang nicht. Noch weit- gehend ungeklärt blieb auch die Frage nach den zugrunde liegenden Rechenverfahren. Wir haben derzeit eine Situation, in der eine sehr große Zahl von Kommu- nen Gerichtsverfahren gegen die Ergebnisse des Zensus 2011 aufgenommen hat. Im Rahmen dieser Verfahren wurden bereits erste eingehende gutachterliche Stellung- nahmen bekannt. Diese werfen, ganz unabhängig von der Differenz zwischen den Zwecksetzungen und Durchführungsverfahren des Zensus 2011 und des Mik- rozensus, grundlegende Fragen nach den mathematisch- statistischen Verfahren der Statistikämter auf, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese auch Fol- gen für den Mikrozensus haben werden. Hier wird es ei- ner weiteren, intensiven Beobachtung der Entwicklung auch seitens des Deutschen Bundestages bedürfen. Auch wegen der Eingriffstiefe der bußgeldbewehrten Auskunftspflicht dürfen wir nicht nachlassen zu fragen, auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der Umfang der Fragen weiter reduziert werden können, damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung weiter reduziert werden kann. Der uns jetzt vorliegende Entwurf gibt dazu bedauerlicherweise kaum Antworten. Die Experimentierklausel scheint vielmehr noch weniger Rechtssicherheit für Betroffene zu bieten als zuvor, so- weit es um die beabsichtigte Reduzierung der Grund- rechtseingriffe geht. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, zukünftig werde sich der Mikrozensus über das ganze Jahr verteilen und immer wieder auskunftspflich- tige Situationen erzeugen. Die unterjährige Kontaktauf- nahme der Verpflichteten bedeutet erneute pflichtige Zugriffe auf die Privatheit. Es war deshalb richtig, diese Kontaktaufnahmen unter die Bedingung der Freiwillig- keit für die Betroffenen zu stellen. Gleichwohl ist die insgesamt weiter gefasste und damit in ihren Auswirkun- gen nicht vollständig determinierte Experimentierklausel angesichts des gerade für das Grundrecht auf informatio- nelle Selbstbestimmung geltenden Bestimmtheitsgebo- tes eine durchaus problematische Vorgehensweise. Vor dem Hintergrund der nach wie vor offenen Fragen und der rechtsstaatlich problematisch gewählten Lösung einer Experimentierklausel, bei der gleichwohl versucht werden soll, die Anzahl der Betroffenen und den Umfang möglichst gering zu halten, werden wir uns bei der heutigen Abstimmung enthalten. Das Verspre- chen der Bundesregierung, in 2017 eine endgültige ge- setzliche Klärung zum Mikrozensusverfahren vorzule- gen, werden wir erinnern. Wir erwarten dann allerdings eine erneute, eingehende parlamentarische Auseinander- setzung über Zukunft und Inhalt dieses Verfahrens. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchfüh- rung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaß- nahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge- richtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vor- liegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umset- 5976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord- nung sowie der Durchführung der Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi- vilsachen. Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutz- maßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mit- gliedstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt wor- den sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden, wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körper- liche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Si- cherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die ge- richtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der ge- fährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu be- treten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten. Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zu- kunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitglieds- land verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesent- liche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen ist. Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtli- nie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutz- maßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutzmaß- nahme muss also nach einer strafrechtlichen Entscheidung bzw. in einem Strafverfahren angeordnet worden sein. Ausschlaggebend für die Anordnung einer nationalen Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass nach dem natio- nalen Recht strafbares Verhalten vorliegt. Das deutsche Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrechtlicher Grund- lage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist berechtigt, einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen. Dies kann sowohl in einem Verfahren der einstweiligen Anordnung als auch in einem Hauptsacheverfahren ge- schehen. Die strafrechtlichen Schutzmaßnahmen sind folglich dem deutschen Recht fremd und können auf diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund der Richtli- nie kommt Deutschland daher lediglich als vollstrecken- der Staat in Betracht. Die Verordnung hingegen vervoll- ständigt die Richtlinie und regelt die Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen, sodass die in Deutschland erlassenen Maßnahmen in anderen Mit- gliedsländern einen ähnlichen Schutz genießen. Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäi- sche Union die Richtlinie über die Europäische Schutzan- ordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnah- men in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegen- seitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven, europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleis- ten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzu- setzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung. Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchfüh- rung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs- bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenstän- digen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrens- gesetz, normiert. Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in ei- nen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entste- hen. Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staa- tes ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des ent- sprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung. Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU- Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzan- ordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme. Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtli- chen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat anzuerkennen ist. Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderli- che Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats aus- gestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefähr- dete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass keine erneute Sachprüfung stattfindet. Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperli- che und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Beson- dere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen so- zialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer sol- cher Taten effektiv und schnell schützen zu können. Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional belastend und entsprechend aufwendig für die Beteilig- ten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der ge- fährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte des- halb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen EU-Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerken- nung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen. Um diesem notwendigen Schutz der EU-Bürgerinnen und -Bürger gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim Anerkennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5977 (A) (C) (D)(B) durch die Richtlinie und die Verordnung von unserer Fraktion befürwortet. Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbund- verfahren betrifft. Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abge- schnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken. Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits ge- nannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015. Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und ab- schließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versor- gungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichver- fahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwer- derecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist. Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Mög- lichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechts- kraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allge- meinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Ge- fahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf ver- hindern. Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vor- sieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für die- sen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die Gefahr der Doppelehe vermieden; das Gesamtkonstrukt des Verbundes Ehescheidung bestehend aus Versor- gungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehe- gattenunterhalt könnte aber in Schieflage geraten. Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesa- chen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, nämlich den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das Gesamte unausgeglichen werden. Für den Fall der nachträglichen Einlegung eines Rechtsmittels des Versorgungsträgers müssen die Beteiligten also die Möglichkeit haben, die anderen Folgesachen auch zu ändern. Sie müssen daher die Möglichkeit der Anschlussbeschwerde behalten. Die Rechtskraft der Ehescheidung soll unangetastet bleiben. Sie sehen, die Sache ist kompliziert. Es besteht aus unserer Sicht weiterer Diskussionsbedarf, den wir inner- halb der Umsetzungsfrist der Gewaltschutzanordnung nicht sachgerecht bewältigen können. Deshalb hält es meine Fraktion für notwendig, den Artikel 5 des Gesetz- entwurfs abzutrennen. Dennis Rohde (SPD): Der heute in erster Lesung beratene Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer euro- päischen Richtlinie. Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, dass uns dies sozusagen unvermittelt von außen herein- schneien würde. In diesem Hause wurde schon in der letzten Wahlperiode über die Europäische Schutzanord- nung debattiert; schon damals hat sich die SPD-Fraktion mit deutlichen Worten für diese neue Richtlinie ausge- sprochen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament haben tatkräftig an ihrer Ausgestaltung mitgewirkt. Nun, da es um die Umset- zung in deutsches Recht geht, gehen wir diesen Kurs weiter. Das Prinzip der Europäischen Schutzanordnung ist einfach: Es gibt nun ein unkompliziertes, unbürokrati- sches Verfahren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor Gefährdung grenzübergreifend anerkannt werden können. Ich will ein Beispiel nennen: Man stelle sich vor, eine Frau in Frankreich wird Opfer von Nach- stellung. Es gelingt ihr, zu erwirken, dass ihr Stalker sich ihr nicht mehr nähern darf. Damit ist ein gewisser Schutz geschaffen. Wenn sie nun aber eine neue Arbeit in Berlin annimmt und deswegen nach Deutschland zieht, so geht sie das Risiko ein, dass die gefährdende Person ihr nach- zieht und sie in Deutschland ungeschützt ist. Sie musste nach bestehender Rechtslage entsprechende Maßnahmen wieder von Grund auf beantragen, sozusagen bei null be- ginnen. Das ist eine reelle Einschränkung der Freizügig- keit gerade für schutzbedürftige Personen. Künftig hingegen soll die Anwendung ausländischer Schutzmaßnahmen in Deutschland ganz einfach werden: Die geschützte Person stellt einen Antrag beim für sie zuständigen örtlichen Familiengericht. Daraufhin wird eine europäische Schutzanordnung erlassen, mit der die Vorkehrungen des ersten Landes, in unserem Beispiel also Frankreich, nun auch in Deutschland gelten. Dies kann das Familiengericht ausschließlich aus formellen Gründen ablehnen, weil beispielsweise wichtige Infor- mationen fehlen oder es gar keine Schutzmaßnahme im ersten Land gibt. Ist dies nicht der Fall, so soll die An- passung zügig erfolgen. Gegenüber den Vorschlägen, mit denen sich dieses Haus zuletzt im Jahr 2010 befasst hat, erhält die jetzt umzusetzende Richtlinie erhebliche Verbesserungen. Sollte damals noch die geschützte Person in ihrem eige- nen Land den Antrag stellen, so geschieht dies nun am neuen Wohnort und wird vom örtlichen Familiengericht behandelt; es sind damit allerlei Zwischenschritte, die dem Prinzip „schnell und unbürokratisch“ zuwidergelau- fen wären, entfallen. Zudem haben die Fraktionen der SPD und der CDU/CSU beantragt, dass die gefährdende Person nicht mehr angehört werden muss, ehe die An- passung erfolgt. Der Schutz des Opfers muss hier deut- lich vorgehen. Die europäische Einigung muss sich auch und gerade daran messen lassen, was sie für schutzbedürftige Men- schen erreicht. Solange beispielsweise Frauen bei einem Umzug in ein anderes europäisches Land befürchten müssen, ihr gesetzlicher Schutz vor Nachstellung falle weg, so lange gibt es eben noch reale Hindernisse, die der Freizügigkeit im Wege stehen. Um es klar zu sagen: Eine europäische Einigung, die nur der Wirtschaft und dem Handel dient, verdient ihren Namen nicht. Erst die 5978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Sicherung der Freiheiten des Einzelnen über die Staaten- grenzen hinaus – und das schließt den europaweiten Schutz vor Nachstellung und Gewalt ein – macht die eu- ropäische Einigung zu einer wirklichen, zu einem Zu- sammenwachsen, bei dem der einzelne Mensch an erster Stelle steht. Ursprünglich sollte mit diesem Gesetz eine Änderung in § 145 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensa- chen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge- richtsbarkeit, FamFG, verbunden werden. Es geht dabei darum, eine Lücke im Scheidungsrecht zu schließen, bei der durch Verwaltungsfehler Ehescheidungen potenziell nicht rechtskräftig werden und so die Gefahr einer Dop- pelehe entsteht. Wir nehmen diesen Abschnitt per Ände- rungsantrag aus dem Gesetzentwurf heraus – nicht etwa, weil wir die Gesetzesänderung für unnötig hielten, sondern vielmehr, um Zeit für weitere Beratungen zu gewinnen, so- dass am Ende auf jeden Fall eine gute, wasserdichte Lö- sung erarbeitet wird. Gründlichkeit vor Schnelligkeit: Das ist eine Maxime der SPD-Bundestagsfraktion, die wir in die große Koalition getragen haben. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion begrüßen es aus- drücklich, dass die europäische Schutzanordnung nun- mehr deutsches Recht wird. Wir sorgen damit dafür, dass das europäische Versprechen der Freizügigkeit, Gleich- heit und Sicherheit weiter verwirklicht wird. Es ent- spricht unserem Selbstverständnis, dass wir reelle Hin- dernisse der Freizügigkeit erkennen und gesetzliche Abhilfe schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auch über den breiten Konsens, den die europäische Schutz- anordnung erfahren hat, und die konstruktive Kritik, mit der auch der Bundestag erhebliche Verbesserungen be- wirkt hat. Ich würde mich – und dies richte ich auch an die Oppositionsfraktionen – darüber freuen, wenn diese sachorientierte konstruktive Zusammenarbeit auch in Bezug auf andere Gesetzesvorhaben zum Regelfall wer- den könnte. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Europäische Union hat 2011 die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung und 2013 die Verordnung über die ge- genseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi- vilsachen verabschiedet. Beide Rechtsakte sollen sich gegenseitig ergänzen und zusammen einen effektiven, europaweiten Schutz der Opfer von Gewalt gewährleis- ten. Zu diesem Zweck sehen sowohl die Richtlinie als auch die Verordnung Systeme vor, wonach sowohl straf- rechtliche als auch zivilrechtliche Gewaltschutzanord- nungen der Mitgliedstaaten auch in den anderen Mit- gliedstaaten der EU anerkannt und die den Opfern gewährten Schutzmaßnahmen auf einen anderen Mit- gliedstaat ausgedehnt werden können. Für die Umset- zung der Richtlinie und für die Durchführung der Ver- ordnung bedarf es Umsetzungs- bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften. Die Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzusetzen. Ab diesem Tag gilt auch die Verordnung. Der vorliegende Entwurf beinhaltet die erforderlichen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und zur Durchführung der Verordnung. Die Vorschriften werden danach in einem eigenständigen Gesetz zusammenge- fasst. Die gemeinsame Umsetzung und Durchführung erscheint angezeigt, weil beide Rechtsakte sich gegen- seitig vervollständigen sollen und dieselbe Zielsetzung haben. Außerdem erfolgt sowohl die Umsetzung der Richtlinie als auch die Durchführung der Verordnung im Zivilrecht anknüpfend an das Familienverfahrensrecht und das materielle Gewaltschutzrecht. Eine VO dieser Vorschriften in einem bereits bestehenden Gesetz er- scheint dagegen nicht sachgerecht, da insbesondere im FamFG bisher keine Vorschriften zur Umsetzung bzw. Durchführung internationaler Rechtsakte enthalten sind. Der Gesetzentwurf beinhaltet zum einen Regelungen, die die Anerkennung von Schutzmaßnahmen ermögli- chen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU in Strafsachen erlassen worden sind. Zum anderen regelt er die Ausstellung der Bescheinigung über inländische Ge- waltschutzanordnungen, die in anderen Mitgliedstaaten ohne Vollstreckbar-Erklärungsverfahren vollstreckt wer- den sollen. Darüber hinaus enthält er Vorschriften zur Anerkennung und Vollstreckung von zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen aus anderen Mitgliedstaaten. Außerdem wird eine Änderung des FamFG aufgenom- men, die das Scheidungsverbundverfahren betrifft. Mit einer Änderung im Rechtsmittelrecht in Ehesachen sol- len falsche Rechtskraftzeugnisse zur Ehescheidung ver- mieden werden. Da Intention und Inhalt sowohl der Richtlinie als auch der Verordnung zu begrüßen sind und eine EU-rechtliche Pflicht zu deren Umsetzung bzw. Durchführung besteht, ist die Gesetzinitiative grundsätzlich zustimmungsfähig. Da zudem nach bisheriger Prüfung auch keine gravieren- den handwerklichen oder inhaltlichen Kritikpunkte of- fensichtlich erkennbar sind, dürften sich die Beratungen dazu im Ausschuss als nicht sonderlich konträr erwei- sen. Mit anderen Worten: sachlich und rechtlich geprüft und bislang für gut befunden. Erforderliche marginale Änderungen, die sich möglicherweise noch als notwen- dig erweisen, können in den anstehenden Beratungen durchgeführt werden. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ge- waltschutzgesetz war ein Meilenstein rot-grüner Rechts- und Frauenpolitik. Heute sprechen wir über eine euro- päische Dimension des Themas. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben in ihren Rechtsordnungen unterschiedlich ausgeprägte Schutzmechanismen gegen häusliche Gewalt. Bei der Europäischen Schutzanord- nung geht es darum, den Schutz aus dem Heimatland ge- wissermaßen mit über die Grenze nehmen zu können. Dafür war ein Instrument gegenseitiger Anerkennung nötig. Hierzu ist eine EU-Richtlinie beschlossen worden. Diese Richtlinie ist jetzt in nationales Recht umzusetzen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu ei- nige Anpassungen vor. Die Koalition hatte ursprünglich vorgesehen, diesen Gesetzentwurf ohne Debatte in die erste Lesung zu ge- ben. Das wird dem Thema aus unserer Sicht allerdings nicht gerecht, zumal sich doch einige Fragen stellen hin- sichtlich der gesetzlichen Änderungen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5979 (A) (C) (D)(B) Eine dieser Fragen betrifft die vorgesehene Verkür- zung des Rechtsschutzes im Scheidungsverfahren. Wenn ein Träger der Altersvorsorge Rechtsmittel einlegt gegen die Entscheidung des Familiengerichts, sollen die ge- schiedenen Ehegatten künftig kein Anschlussrechtsmit- tel mehr einlegen können, damit die Rechtskraft der Ver- bundentscheidung und damit der Ehescheidung nicht nachträglich aufgehoben werden kann. § 145 FamFG – Gesetz über das Verfahren in Famili- ensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – bedeutet damit eine teilweise Aufhe- bung des Verbundes zwischen der Ehesache und dem Versorgungsausgleich. Dieser Verbund hat aber eine Schutzfunktion gerade gegenüber dem wirtschaftlich schwächeren Ehegatten. Deswegen sehen unter anderem der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsan- waltskammer die Aufhebung an dieser Stelle sehr kri- tisch. Hier würde mich schon interessieren, wie die Bun- desregierung zu diesen Bedenken steht? Ein anderer Aspekt betrifft das Gewaltschutzgesetz selbst. Der Deutsche Juristinnenbund hält es für falsch, in dem Gesetzentwurf eine mit § 4 Gewaltschutzgesetz parallel laufende Strafvorschrift – § 23 des neuen EU- Gewaltschutzverfahrensgesetzes – einzufügen, ohne da- bei das Gewaltschutzgesetz selbst zu ändern. Eine Dopp- lung von gleichlautenden Strafvorschriften entspricht si- cherlich nicht der Rechtsklarheit. Ich möchte daher die Chance dieses Gesetzgebungs- verfahrens nicht ungenutzt lassen, um darauf hinzuwei- sen, dass wir in der Tat über Reformbedarf beim Gewalt- schutzgesetz diskutieren sollten. Man kann sich beispielsweise fragen, ob wir nicht eine strafrechtliche Schutzlücke haben, wo keine gerichtliche Anordnung nach § 1 Gewaltschutzgesetz erging, weil sich die Par- teien auf einen Vergleich geeinigt haben, dieser Ver- gleich aber nicht eingehalten wird. Diese und weitere Fragen sollten wir in der Aus- schussberatung gründlich beraten. Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Ihnen liegt heute der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutz- anordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nummer 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vor. Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei EU-Rechtsakte umgesetzt werden, die die grenzüberschreitende Wir- kung von nationalen Gewaltschutzanordnungen inner- halb der EU gewährleisten sollen. Diese Rechtsakte sind im Kontext der Bestrebungen des Rates und der Europäi- schen Kommission zu sehen, EU-weit einen besseren Schutz der Opfer von Gewalt zu bewerkstelligen. Deutschland hat dieses Bestreben stets unterstützt, und die Bundesregierung schlägt daher vor, die Richtlinie jetzt umzusetzen und dafür Sorge zu tragen, dass auch die durch die Verordnung bedingten nationalen Durch- führungsvorschriften bis zu dem Tag, ab dem die Ver- ordnung gilt, also bis zum 11. Januar 2015, in Kraft sind. Dieses Ziel soll mit dem vorliegenden Entwurf erreicht werden. Kernstück des Entwurfs ist dabei Artikel 1, der das Gesetz zum Europäischen Gewaltschutzverfahren, kurz EU-Gewaltschutzverfahrensgesetz, einführt. In Deutschland ist der Gewaltschutz durch das Ge- waltschutzgesetz zivilrechtlich geregelt. Wer sich Nach- stellungen, Belästigungen oder tätlichen Angriffen aus- gesetzt sieht, kann eine gerichtliche Anordnung erwirken, die es dem Täter zum Beispiel verbietet, sich dem Opfer auf einen geringeren als den in der Anord- nung vorgesehenen Mindestabstand anzunähern, oder die es ihm untersagt, das Opfer telefonisch oder auf an- dere Weise zu belästigen. Bislang reicht die Wirksamkeit einer solchen Anordnung geografisch bis zu Deutsch- lands Grenzen. Im Ausland entfaltet sie keine Wirkung, Umgekehrt gilt dies für vergleichbare Gewaltschutzan- ordnungen aus dem Ausland. Die durch eine solche An- ordnung geschützte Person kann sich, wenn sie sich au- ßerhalb der Grenzen des Anordnungsstaates aufhält, nicht auf den Schutz der Anordnung berufen. Für den Bereich der EU wird dies jetzt mit der Umset- zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord- nung und der neuen Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen verbessert. Künftig wird die „Reisefähigkeit“ nationaler Gewaltschutzanordnungen in der gesamten Europäi- schen Union gewährleistet sein, dies insgesamt mit Aus- nahme Dänemarks und teilweise mit Ausnahme Irlands. Es bedurfte hierfür auf europäischer Ebene zweier Rechtsakte. Denn das Gewaltschutzrecht innerhalb der Europäischen Union ist nicht einheitlich zivilrechtlich geregelt. Etwa in Spanien und Portugal ergehen Gewalt- schutzanordnungen als Nebenfolge im Strafverfahren. Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung betrifft allein solche, dem deutschen Recht zunächst fremde Schutzanordnungen. Demgegenüber erfasst die Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen solche Anordnungen wie die nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz, näm- lich zivilrechtliche Schutzanordnungen. Richtlinie und Verordnung ergänzen sich also und sorgen gemeinsam für einen umfassenden EU-weiten Opferschutz im Be- reich des Gewaltschutzrechts. Es ist nun aber nicht so, dass die Richtlinie uns zwin- gen würde, in Zukunft auch in Deutschland ein straf- rechtlich ausgestaltetes Gewaltschutzsystem vorzuhal- ten. Und demgemäß bleibt es auch zukünftig dabei, dass Gewaltschutz in Deutschland allein zivilrechtlich er- folgt. Der vorliegende Entwurf ändert hieran nichts. Dies bedingt aber ein rechtstechnisches Novum, nämlich die Transformation strafprozessualer Anordnungen aus dem Ausland in unser zivilrechtliches System. Der vorlie- gende Entwurf enthält die hierzu erforderlichen gesetzli- chen Maßgaben in den §§ 1 bis 11. Danach erlässt das angerufene deutsche Gericht auf der Grundlage der aus- ländischen Ausgangsmaßnahme eine vergleichbare An- 5980 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) ordnung nach dem Gewaltschutzgesetz, aus der das Op- fer dann in Deutschland vollstrecken kann. Darüber hinaus und für Deutschland von größerer Be- deutung führt der Entwurf die zivilrechtliche Verord- nung durch. Ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt ist hier die Abschaffung des sogenannten Exequaturverfahrens. Nach der Verordnung können EU-Bürger dann im EU- Ausland unmittelbar aus jeder nationalen zivilrechtli- chen Gewaltschutzanordnung vollstrecken, ohne dass es dort noch eines zwischengeschalteten Anerkennungsver- fahrens bedürfte. Dies gilt auch umfassend für alle Ge- waltschutzanordnungen nach dem deutschen Gewalt- schutzgesetz. Ein deutscher Bürger kann sich etwa bei spanischen Behörden unmittelbar auf die Geltung einer solchen deutschen Anordnung berufen, aus der dann nach spanischem Recht vollstreckt und Opferschutz her- gestellt wird. Die Artikel 2 bis 4 enthalten notwendige Folgeände- rungen in bereits bestehenden Gesetzen, so insbesondere im Kostenrecht. Ich bitte Sie nun um Ihre Zustimmung. Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versi- cherungen (Tagesordnungspunkt 26) Anja Karliczek (CDU/CSU): Mit der heutigen Le- sung beginnt die Umsetzung der europäischen Richtlinie Solvency II in nationales Recht. Der Entwurf der Bun- desregierung für das Gesetz zur Modernisierung der Fi- nanzaufsicht liegt vor. Im März kommenden Jahres wer- den die Beratungen im Plenum und den Ausschüssen abgeschlossen sein. Dann haben wir ein Mammutprojekt bewältigt, denn mit Solvency II wird die Versicherungs- aufsicht in Europa grundlegend reformiert. Die einheitliche europäische Aufsicht über Versiche- rungsunternehmen ist für uns hier in Deutschland ein Wechsel der Aufsichtsphilosophie und damit eine He- rausforderung, die nur mit gemeinsamen Anstrengungen bewältigt werden kann. Sie trägt veränderten Rahmenbedingungen in der Fi- nanzindustrie Rechnung und führt in einer hochregulier- ten Branche Entscheidung und Verantwortung weiter zu- sammen. Worüber reden wir im Detail? Das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht in der Versicherungswirtschaft besteht aus drei Säulen: ei- ner quantitativen, einer qualitativen und einer aufsichts- rechtlichen. Die quantitativen Anforderungen legen eine Eigen- mittelunterlegung der Anlagen nach Risikoaspekten fest. Die qualitativen Anforderungen fordern den Nach- weis der Unternehmen, dass Schlüsselpositionen funk- tionell vorhanden und mit der notwendigen fachlichen Qualifikation besetzt sind. Drittens legen die aufsichtsrechtlichen Anforderun- gen erhöhte Berichtspflichten an die BaFin fest. Die Zu- sammenarbeit der Unternehmen mit der Aufsicht wird gestärkt und schafft dadurch Möglichkeiten einer enge- ren Kontrolle. Schon im Jahr 2009 hat die EU-Kommission die Richtlinie verabschiedet. Die Arbeiten daran hatten schon vor der Finanz- und Währungskrise begonnen. Dennoch hat die Krise der Richtlinie in ihrer Entwick- lung ihren Stempel aufgedrückt. Solvency II wird heute in einem Atemzug genannt mit den europäischen Finanzmarktreformen von Basel II und III. Die Finanzkrise hatte weitaus weniger Auswirkun- gen auf die Versicherungswirtschaft als auf den Banken- sektor. Die Versicherungskonzerne haben aus der Er- fahrung vergangener Zeiten eine sehr konservative Anlagestrategie gefahren. Dies hat dazu geführt, dass heute viele Versicherer überwiegend Anleihen in ihren Depots haben. Eine einseitige Anlagestrategie ist aber auch eine Form von hohem Risiko, da Marktveränderun- gen voll auf die komplette Anlage durchschlagen. Dieses Risiko wird unter Solvency II neu bewertet werden können. Mit der Risiko- und Prinzipienbasiertheit des novel- lierten Aufsichtsgesetzes werden diese Schwächen der heutigen Anlageverordnung ausgemerzt. Deswegen ist es richtig, mit Solvency II analog zu den Banken auch die Versicherer zu verpflichten, sich mit den zukünftigen Risiken ihrer Bilanzen stärker aus- einanderzusetzen. Die Perspektive verändert sich. Sol- vency II fordert die Versicherungsunternehmen auf, ihre Bilanzen mit Blick darauf zu betrachten, was zukünftige Marktveränderungen für ihre Kapitalanlage bedeuten. Wir wollen mit Solvency II für die Versicherungsunter- nehmen mehr Stabilität schaffen; denn Versicherungen als Kapitalsammelstellen sind für unsere Volkswirtschaft von immenser Bedeutung. Allein die Lebensversicherer ha- ben im letzten Jahr 900 Millionen Euro Anlagevermögen eingesammelt. Die Versicherungswirtschaft insgesamt hat 2013 fast 1,4 Billionen Euro an Kapital angelegt. Dies erklärt auch den hohen Regulierungsgrad der Branche durch das Versicherungsaufsichts- und Versi- cherungsvertragsgesetz. Er ist Ausdruck des gesamtge- sellschaftlichen Stellenwertes der Branche für unsere Volkswirtschaft. Neben den wirtschaftlichen und finanzpolitischen As- pekten hat diese Reform aber auch eine gesellschafts- politische Aufgabe: Wir wollen sicherstellen, dass die Versicherten Vertrauen haben in die Garantien, die ihnen seitens der Versicherungsunternehmer gegeben wurden. Fast jeder Bürger hat eine Versicherung. Sie dienen der Absicherung von Lebensrisiken oder der Vorsorge auf das Alter. So sollen über 90 Millionen Lebensversi- cherungsverträge auch dafür sorgen, dass Einkünfte in der Zeit nach dem Erwerbsleben gesichert bleiben. Die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5981 (A) (C) (D)(B) Menschen werden glücklicherweise immer älter. Die Absicherung im Alter erhält damit aber eine immer grö- ßer werdende Bedeutung. Die Finanz- und Schuldenkrise hat Vertrauen in Kapi- talanlagen zerstört. Mit Solvency II machen wir nun weitere Schritte, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Wir tun dies, indem wir mit Solvency II den Fokus auf die langfristige Tragfähigkeit von Risiken durch Versi- cherungsunternehmen legen. Solvency II ist ein völlig neues Modell. Wurden die Eigenmittelanforderungen der Versicherer bislang pau- schal bestimmt und die Risiken begrenzt, so folgt Sol- vency II einem risiko- und prinzipienorientierten Ansatz. Die Versicherer werden künftig frei entscheiden können, worin sie investieren. Sie müssen aber im Gegenzug alle eingegangenen Anlagerisiken adäquat mit Eigenmitteln unterlegen. Zudem müssen sie regelmäßig prüfen, ob sie ihr Risiko auch angemessen abbilden. Das ist ein grund- sätzlich neues Modell der Versicherungsaufsicht. Natürlich bedeuten die neuen Eigenmittelvorschriften für die Unternehmen eine große Herausforderung. Auch die qualitativen Anforderungen sind nicht einfach umzu- setzen. Gleiches gilt für die neuen Berichtspflichten. Mit ihnen ist viel Aufwand verbunden. Doch ich bin sicher: Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Große, weltweit agierende Versicherungsunterneh- men brauchen stabile Strukturen. Deshalb führt an die- sen Maßnahmen kein Weg vorbei. Welche Ziele verfolgen wir im Einzelnen mit Sol- vency II? Grundsätzlich wollen wir mit Solvency II den Schutz der Versicherten in Europa stärken. Wir wollen einheitli- che Regeln für den Wettbewerb und für die Aufsicht schaffen. Die aufsichtsrechtlichen Bestimmungen werden er- weitert, um Risiken und Missstände frühzeitig zu erken- nen und gegen sie einschreiten zu können. Strengere Anforderungen an das Risikomanagement der Versicherer erhöhen die Sicherheit. Anlagen werden künftig nach ihrem Risiko bewertet und die Versiche- rungskunden erhalten mehr Transparenz. Zurück zu den drei Säulen: Säule I regelt die quantitativen Anforderungen. Die Kapitalausstattung eines Versicherungsunternehmens wird nach mathematischen Kriterien über die Risiko- struktur errechnet und damit dessen Risikotragfähigkeit ermittelt. Die Bewertung von Aktiva und Passiva orien- tiert sich künftig am Markt und dessen Risiken und nicht mehr an der HGB-Bilanz. So ist eine Anleihe – wie wir in der Vergangenheit festgestellt haben – ja nicht immer risikolos. Andersherum ist ein kleines Investment einer großen Kapitalanlagegesellschaft in einen Investment- fonds junger Unternehmen kein unüberschaubares Ri- siko. Auf die Diversifizierung der Anlage kommt es an. Wir wissen, dass diese grundlegende Änderung in der Bewertung von Bilanzpositionen einhergehend mit den daraus entstehenden Kapitalbedarfen eine Herausforde- rung ist, die nicht mal eben hopp, hopp zu erfüllen ist. Deshalb sieht das Gesetz eine Übergangszeit von 16 Jah- ren vor, um diese Anforderungen zu erfüllen. Die neuen Anforderungen – das betone ich ausdrücklich und gehe davon aus, dass Sie es genauso sehen – sind ein wichti- ger Beitrag zur Stabilität der Finanzbranche insgesamt. Mit den qualitativen Anforderungen der zweiten Säule erhält die Geschäftsorganisation der Unternehmen neue Regeln. Bestimmte Schlüsselfunktionen wie Risi- kocontrollingfunktionen, Compliance-Funktionen, versi- cherungsmathematische Funktion und interne Revision sind von den Unternehmen einzurichten und zu unterhal- ten. Dazu zählt auch ein adäquates Risikomanagement- system. Kern des Riskomanagementsystems ist die Ri- siko- und Solvabilitätsbeurteilung der Unternehmen, kurz ORSA. Durch die Kalkulation des eigenen Risikos werden Risiko- und Kapitalmanagement miteinander verknüpft. Die Inhaber der entsprechenden Schlüssel- funktionen werden ihre Eignung mit der Einführung von Solvency II nachweisen müssen. Säule III schließlich umfasst die Berichtspflichten ge- genüber der Versicherungsaufsicht und der Öffentlich- keit. Einmal pro Jahr erhält die Aufsicht im sogenannten Regular Supervisory Report, RSR, qualitative und quan- titative Informationen zur Geschäftstätigkeit, Gover- nance und Risikolage des Unternehmens. In einem Sol- venz- und Finanzbericht, dem Solvency and Financial Condition Report, SFCR, wird außerdem die Öffentlich- keit über die Risikosituation und das Kapitalmanage- ment sowie zur Geschäftstätigkeit informiert. Dies alles steht detailliert auf den vor uns liegenden 362 Seiten. Die werden wir nun in die Ausschüsse über- weisen. Bis zum März des kommenden Jahres liegen da- mit intensive Beratungen vor uns, in denen die noch of- fenen Fragen erörtert werden. Die Versicherungswirtschaft ist ein tragender Teil des Finanzsystems unserer Volkswirtschaft. Gute Lösungen für eine moderne Aufsicht sind deshalb im Sinne jedes einzelnen Bürgers. Der Aspekt der Altersvorsorge treibt mich in diesem Zusammenhang sehr um. Die neue Aufsicht ist ein komplexes Gesetzeswerk. Deshalb wünsche ich mir eine konstruktive Zusammen- arbeit zwischen allen Beteiligten. Uns alle eint das Ziel, die Stabilität der Versicherungsunternehmen und damit das Vertrauen der Versicherten zu stärken. Ich denke, das ist aller Mühe wert. Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben heute Vormittag das BRRD-Umsetzungsgesetz verabschiedet, das eine wichtige Säule der Bankenunion mit seinem Restruktu- rierungs- und Abwicklungsregime darstellt. Die europäi- sche Bankenunion ist ein Quantensprung, was Aufsicht und Abwicklung angeht, und Ergebnis einer Lehre aus der globalen Finanzkrise. Die Lehren aus der Finanzkrise haben uns aber auch gezeigt, dass nicht nur von Banken eine Gefahr ausgeht, wenn sie im Zweifel zu groß sind, um zu scheitern, son- dern auch von Versicherungsunternehmen. Es gibt auch 5982 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) in Europa systemrelevante Versicherungsunternehmen. „Too big to fail“ gilt auch für sie. Wir erinnern uns, dass nicht nur Banken durch den Steuerzahler gerettet werden mussten, sondern der ame- rikanische Steuerzahler musste mit 182 Milliarden Dol- lar für den Versicherungsgiganten American Internatio- nal Group, AIG, einspringen. Die Schulden hat dieser Versicherungskonzern zwar inzwischen zurückgezahlt, aber die Grundproblematik einer wirksamen und auch strengeren Finanzaufsicht für Versicherer bestand. Vor uns liegt nun ein Gesetzentwurf, der eine Ver- schärfung der nationalen Versicherungsaufsicht vorsieht. Damit wird die sogenannte Solvency-II-Richtlinie der EU in nationales Recht gegossen. Jahrelang ist über Details intensiv diskutiert worden. Nun liegt ein über 360 Seiten starkes Mammutwerk vor uns. Die wichtigste Neuregelung im Gesetzentwurf ist eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften für Versi- cherungen. Diese orientieren sich nicht mehr allein an der Größe eines Versicherers, sondern berücksichtigen auch andere Risikofaktoren wie etwa Kapitalmarkt- und Kreditrisiken, die ebenfalls die Existenz eines Unterneh- mens bedrohen könnten. Diese neuen Eigenkapitalvorschriften sollen das „operationelle Risiko“ eines Versicherungsunterneh- mens berücksichtigen. Das ist das Verlustrisiko, das sich aus der Unangemessenheit oder dem Versagen von inter- nen Prozessen, Mitarbeitern oder Systemen oder durch externe Ereignisse ergeben kann. Die Versicherungen werden mit dem Gesetz zukünftig verpflichtet sein, auch für diese Risiken Kapital bereitzuhalten. Dies ist ein sehr wichtiger Schritt zur Stabilität innerhalb der Versiche- rungsbranche. Ferner erfolgt im Gesetz eine Überarbeitung der Be- wertungsvorschriften. Vermögenswerte und Verbindlich- keiten der Versicherungen sollen stärker an Marktwerten gemessen werden. Die Tochterunternehmen von großen Versicherern werden sich zusätzlichen Aufsichtspflich- ten unterziehen müssen, bei denen die Finanzlage der gesamten Versicherungsgruppe berücksichtigt wird. Mit dem Gesetz wird auch eine bessere Zusammenar- beit mit anderen nationalen Aufsichtsbehörden der EU auf den Weg gebracht. Das Aufsichtsrecht im europäi- schen Binnenmarkt wurde harmonisiert. Damit wird be- rücksichtigt, dass viele Versicherer grenzüberschreitend tätig sind. Beispielsweise müssen Erstversicherer zu- künftig ihre gebuchten Prämienbeträge, die Höhe der Er- stattungsleistungen und Rückstellungen nach Mitglied- staaten aufgeschlüsselt mitteilen. Mit dem Gesetz soll auch eine gewisse Abhängigkeit von Ratings zurückgedrängt werden, um letztlich wei- tere Gradmesser für die Solvenz eines Unternehmens zu finden. Wie bei jedem Gesetzentwurf gibt es auch beim aktuel- len bereits jetzt einige Kritikpunkte, die wir uns im Ver- lauf des Gesetzgebungsverfahrens genauer anschauen und die Gegenstand der Sachverständigenanhörung Anfang Dezember sein werden. Dabei geht es etwa um Aspekte der Testierfähigkeit der Solvabilität, die Umsetzung von Leitlinien der EIOPA oder Übergangsfristen. Manche Kritik scheint berechtigt, bei mancher scheint die Idee vorzuherrschen, mit Einführung von Solvency II würden langjährig etablierte nationale Standards kom- plett aufgegeben. Man wird nicht langgehegte Rege- lungswünsche quasi durch die Hintertür verwirklichen können. Andererseits scheint manche Befürchtung grö- ßer zu sein als die tatsächliche gesetzgeberische Auswir- kung. Insgesamt werden wir darauf achten müssen, dass Maß und Mitte, also in diesem Fall insbesondere Ver- hältnismäßigkeit und Proportionalität, gewahrt bleiben. Neue Anforderungen sollten beispielsweise kleine Un- ternehmen nicht überlasten, weil etwa Berichtspflichten einen kaum zu erfüllenden bürokratischen Aufwand be- deuten. Die Größe der Versicherer und ihre jeweiligen Risiken müssen wir beachten und entsprechend bewer- ten – vergleichbar der Systemrelevanz bei den Banken. Die neuen Regelungen sollen zum 1. Januar 2016 in Kraft treten. Bis 31. März 2015 muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt sein. Dies ist ehrgeizig aber zu schaffen. Mit diesem Gesetzesvorhaben wird die Regulierung der Versicherungsbranche harmonisiert, die Branche ri- sikofester gemacht, und insgesamt schaffen wir damit mehr und notwendiges Vertrauen. Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit der vor- liegenden Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, geht die Umsetzung des neuen europäischen Auf- sichtsrechts, Solvency II, in die vorerst letzte Runde. Es wird zweifelsohne ein Epochenwechsel eingeleitet. Aber dieser muss auch zwingend eingeleitet werden, damit der Versicherungsmarkt nicht zum Ursprung der nächs- ten großen Finanzkrise wird. Umso unverständlicher ist, dass die Versicherungs- branche und ihre Lobby schon wieder das große Klage- lied anstimmen. Rechtzeitig dafür hat ja der Gesamtver- band der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, seine Medienabteilung entsprechend aufgerüstet. Das wäre aber gar nicht nötig gewesen. Denn ohne Zweifel gibt es für die Versicherungsbranche viel zu tun, es wird ihr schon einiges abverlangt. Vielleicht wird an einigen Stellen auch zu viel abverlangt, wenn man zum Beispiel an die umfänglichen formalen Anforderungen, die Be- richtspflichten denkt, die Kosten mit sich bringen. Ge- rade kleinere Versicherungen kann dies vor größere He- rausforderungen stellen, weswegen man über geringere formale Anforderungen nachdenken sollte, solange we- der die angestrebte systemische Risikobegrenzung gelo- ckert wird noch der Verbraucherschutz bzw. Versicher- tenschutz leidet. Dies sind zugleich die beiden Begriffe, die nach Auf- fassung der Linken als Fixpunkte zur Beurteilung der VAG-Novelle herangezogen werden sollten. Aus dieser Perspektive bleiben dann doch einige Unklarheiten und Kritikpunkte bestehen. Ich möchte im Folgenden exem- plarisch auf ein paar Probleme eingehen: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Gesetze/2014-09-03-FAG.pdf?__blob=publicationFile&v=3 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5983 (A) (C) (D)(B) Zum einen enthält der Gesetzentwurf nun die Rege- lungen, die bereits vor einiger Zeit mit dem Lebensversi- cherungsreformgesetz an den Start gebracht wurden. Ins- besondere habe ich die §§ 139 und 145 des Entwurfs zu der Überschussbeteiligung vor Augen. Sie können nun sagen, dass es da doch gar nicht um die Aufsicht gehe, dass dies doch kalter Kaffee sei, aber dennoch ist für die Versicherten an dieser Stelle ein nochmaliger Hinweis wichtig: Mit dieser Regelung können ihnen die Bewer- tungsreserven gekürzt werden. Vertraglich zustehende Ansprüche an Überschüssen verbleiben so in den Versi- cherungsunternehmen. Die Versicherten sind die Ge- lackmeierten. Dass dies ungerecht ist, kann man nicht oft genug wiederholen. An dieser Stelle muss man zudem die freien Rückstel- lungen für Beitragsrückerstattung, freie RfB, erwähnen. Sie gehören zu dem großen Überschusstopf, aus dem an die Versicherten ausgeschüttet werden soll. Doch der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt, dass diese freien RfB als Eigenmittelersatz missbraucht werden. Eigen- mittel werden schlichtweg durch Kundengelder ersetzt, dadurch sinkt zugleich die Überschussbeteiligung der Versicherten. Auch dies ist höchst ungerecht. Taschenspielertricks sind aus meiner Sicht absolut fehl am Platze, wenn es darum geht, den Versicherungs- sektor auf Jahre zu stabilisieren und risikofester zu ma- chen. Während die beiden eben genannten Fälle eher den Verbraucher- bzw. Versichertenschutz betreffen, bezie- hen sich folgende Punkte auf die Frage, ob im Gesetz- entwurf tatsächlich für eine ausreichende systemische Risikobegrenzung gesorgt wird. Kritisch ist, dass sich durch die angestrebten Neure- gelungen der Derivatehandel ausweiten kann, weil auf- grund der Risikosensitivität von Solvency II die Nach- frage nach Derivaten zur Absicherung eben dieser Risiken steigen wird. In § 15 Absatz 1 und § 124 Absatz 1 Nummer 5 VAG-E ist eine Begrenzung des Deriva- tehandels kaum gegeben, wenn derartige Finanzinstru- mente schon zur „Erleichterung einer effizienten Portfo- lioverwaltung“ in großem Umfang Verwendung finden dürfen. Die Finanzkrise hat gezeigt, wozu der blauäu- gige Umgang mit Derivaten führen kann. Hier sollten also aus Sicht der Linken noch Regelungen eingebaut werden, um die gesamtwirtschaftliche Stabilität nicht zu gefährden. Des Weiteren sind die internen Modelle nicht unpro- blematisch, welche von Versicherungen anstelle eines Standardmodells zur Berechnung der aufsichtsrechtli- chen Eigenmittelanforderungen – in Abhängigkeit vom Risiko der Vermögensanlagen – genutzt werden dürfen. Der Grundsatz bei Solvency II lautet: „Mehr Risiko er- fordert mehr Sicherheiten“. Doch dieser Grundsatz wird öfter durchbrochen. Nicht nur dadurch, dass Staatsanlei- hen aus dem europäischen Wirtschaftsraum per se als ri- sikolos angesehen werden. Gerade interne Modelle sind problematisch, weil sie die Möglichkeit bieten, eigene Risiken klein zu rechnen. Erst recht, wenn aufgrund sehr langer Übergangsfristen genug Zeit zum kreativen Trick- sen bleibt. Ferner werden Kontrolle sowie Vergleichbar- keit zwischen den Versicherungen erschwert, wenn zig Modelle zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderun- gen nebeneinander existieren. Dies erschwert letztlich die Arbeit der Aufsicht, was insgesamt die Finanzmarkt- stabilität beeinträchtigen kann. Hier setzt nun gleichsam eine grundsätzliche Kritik an: Die Eigenmittelanforderungen sind schon von der Versicherungslobby in Brüssel Stück für Stück nach unten gedrückt worden. Dadurch behalten die Versicherungsun- ternehmen höhere ausschüttungsfähige Gewinne – zulas- ten ihrer Kunden. Alles in allem werden die in Solvency II zugrunde gelegten Eigenmittelanforderungen die Versi- cherungen nicht schützen und festigen können, wenn es mal zu einem wilden Sturm statt zu einem lauen Lüft- chen kommt. Es besteht aus unserer Sicht tatsächlich die Gefahr, dass derart Versicherungen zu einem Ursprung für eine kommende Finanzkrise werden können. Auch weil die Regulierungsvorschriften gleichgerichtet zu de- nen im Bankensektor wirken, was im Krisenfall verstär- kend wirken kann. Die Gelackmeierten wären dann nicht nur die Versicherten, sondern gleich alle Steuerzahlerin- nen und Steuerzahler, wenn sie zur Rettung maroder In- stitute herangezogen werden. Ganz zu schweigen von den immensen Gefahren für die Altersvorsorge der Menschen, was uns Linke nur da- rin bestärkt, die Altersvorsorge von den Risiken des Kapitalmarktes zu entkoppeln und statt Versicherungs- unternehmen durch die Propagierung privater, kapitalge- deckter Altersvorsorge zu mästen, endlich wieder die ge- setzliche Rente entscheidend zu stärken. Es führt kein Weg daran vorbei, aus Gründen der ge- samtwirtschaftlichen Stabilität und des Versicherten- schutzes beim Gesetzentwurf nachzubessern. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Solvency II betreten wir bei der Regulierung der Versicherungen eine neue Welt. Der Systemwechsel ähnelt dem des Übergangs von Basel I zu Basel II im Bereich der Bankenregulierung. Wie bei den Regeln von Basel II den Banken wird nun den Versicherungsunter- nehmen die Möglichkeit eingeräumt, ihre Anlagerisiken mit mehr Eigenverantwortung selbst einzuschätzen und diese Einschätzungen als Grundlage für die Berechnung ihres regulatorischen Eigenkapitals zu verwenden. Beide Systemwechsel lehnen wir ab. Im Bankbereich hat sich inzwischen gezeigt, dass ein höheres Maß an Komplexität der Regeln keineswegs zu mehr Effizienz führt, wie anfangs behauptet wurde, und schon gar nicht zu mehr Stabilität. Im Gegenteil: In der Summe führte der Systemwechsel dazu, dass die Banken weniger Eigenkapital vorgehalten haben. Es ist nicht erkennbar, warum die gleichen Hoffnungen im Versicherungssektor nun erfüllt werden sollten. Mehr Freiheiten zur Selbstre- gulierung durch das selbstständige Einschätzen der Risi- ken, sogenanntes ORSA: Own Risk Solvability Assess- ment, führen nicht zu stabileren Unternehmen und schon gar nicht zu stabileren Finanzmärkten. Doch damit nicht genug: Versicherungsunternehmen haben auch mehr Freiraum, zu entscheiden, in welche Anlagen sie inves- tieren. Die Begrenzung auf bestimmte Anlageformen wird aufgehoben, die Anlageverordnung fällt ersatzlos 5984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) weg. Es müssen lediglich Prinzipien der unternehmeri- schen Vorsicht eingehalten werden und die Anlage- risiken angemessen berücksichtigt werden. Was ange- messen ist, so befürchte ich, wird in Hinterzimmern der Aufsichtsbehörden ausgehandelt. „Prinzipienbasiert anstatt regelbasiert“ ist das Stichwort. Im Sinne einer einfachen, transparenten und nachvollziehbaren Regu- lierung ist das garantiert nicht, und ob es im Sinne der Versicherungsnehmer ist, muss sich erst noch zeigen, es darf jedoch zumindest bezweifelt werden. Schon die zahlreichen Auswirkungsstudien zur ver- meintlich richtigen Kalibrierung der Modellparameter sowie die wiederholte Verschiebung des Inkrafttretens des neuen Aufsichtssystems zeigen, wie komplex dieses System ist. Schon die Rechtssetzung auf europäischer Ebene hat sich immer wieder verschoben. Dann sollte Solvency II 2012 in nationales Recht umgesetzt werden. Auch daraus wurde nichts. Inzwischen sind fünf Auswir- kungsstudien durchgeführt, die Parameter wurden unter Lobbyeinfluss immer wieder verändert, und Solvency ist Ende 2014 immer noch nicht in Kraft. Einfache Regulie- rung sieht anders aus. Da die Bewertung der Anlagen zwingend dem Fair- Value-Prinzip folgt, bringt das neue Regulierungssystem zudem erhebliche Risiken prozyklischer Wirkungen mit sich. Das gesamte Finanzsystem wird in der Folge dadurch noch volatiler. Denn wenn im Finanzmarkt die Kurse fallen, werden die Versicherungen nun mehr da- von betroffen sein. Versicherungen, die ja in der Regel ein sehr langfristiges Geschäftsmodell haben, werden künftig eher im Gleichlauf mit den Banken handeln und ihr Verhalten den Risikomodellen anpassen. Für den Finanzmarkt als Ganzen sind solche parallelen Entschei- dungen im Versicherungs- wie im Bankbereich fatal. Eine mögliche Abwärtsspirale verschärft sich schneller und tiefer. Zwar werden Unternehmen weitgehend freie Hand haben, ihren Kapitalbedarf selbst zu ermitteln. Aller- dings legt der Gesetzgeber wichtige Parameter, Rahmen- daten und Aufsichtsprozesse fest. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle dem Parlament zukommt. Die entscheidenden Fragen und Kennzahlen der künftigen Regulierung werden auf die Fachebene delegiert. Im deutschen Umsetzungsgesetz gibt es zu diesem Zweck insgesamt 14 Verordnungsermächtigungen. Wir werden als Parlament lediglich über die leere Hülle Versiche- rungsaufsichtsgesetz abstimmen. Die diese Hülle ausfül- lenden Normen und Vorschriften werden von der BaFin bzw. dem BMF und auf europäischer Ebene von Kommission oder EIOPA erlassen. Nicht selten unter er- heblichem Einfluss von Lobbygruppen, aber jeweils ohne Diskussion im Parlament. Das Parlament ist aus diesen Diskussionen, die letztendlich entscheidend für die Regulierungsziele sind, komplett ausgeschlossen. Die Struktur des deutschen Versicherungsmarkts ist traditionell sehr kleinteilig. Dies muss sich auch in der Regulierung widerspiegeln. Auch die kleinen Unterneh- men müssen zwar strengen Regeln unterliegen in Bezug auf ihre Solvabilität. Allerdings dürfen sie nicht durch überzogene regulatorische Anforderungen wie Berichts- pflichten oder Organisationserfordernisse überfordert werden. Wie bereits bei Basel II profitieren von den schönen neuen Freiheiten in erster Linie die großen Ver- sicherungsunternehmen. Als besonderes Schmankerl können sie sogar wählen, für welche Risikoklassen sie ein internes Modell verwenden und für welche sie ihre Risiken mit dem Standardmodell bewerten. Eine Einla- dung zum Rosinenpicken, um die Kapitalanforderungen noch weiter herunterzurechnen. Kleine Unternehmen kommen zwar in den Genuss aller Nachteile einer über- komplexen Regulierung, sie können sie jedoch nicht in dem Maße nutzen, wie es die Großunternehmen tun können. So müssen nach dem aktuellen Entwurf des Ver- sicherungsaufsichtsgesetzes auch kleine Unternehmen ihre Solvabilitätsübersicht von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen. Die Solvabilitätsübersicht ist eines der Kernstücke der neuen Aufsicht. Die Prüfung dieses Kernstücks sollte eigentlich Sache der Aufsicht sein. Es ist schon falsch, dass die BaFin diese Kernaufgabe an private Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auslagert. Noch falscher ist es allerdings, dass es für kleine Unter- nehmen keine Ausnahmen von der Vorschrift der Zertifi- zierung gibt. Hier könnte die BaFin ohne Probleme ihren Job selbst erledigen. Am Ende will ich einen positiven Punkt setzen: Aus unserer Sicht ist es gut, dass weiterhin an dem deutschen Konzept der Missstandsaufsicht festgehalten wird. Dies geht zwar über eine reine eins-zu-eins-Umsetzung hi- naus, lässt der Aufsicht aber den nötigen Entscheidungs- spielraum zum Eingreifen, wenn sie Missstände erkennt. Gut ist auch, dass künftig das Hauptziel der Beaufsichti- gung durch die BaFin der „Schutz der Versicherten und der Begünstigten von Versicherungsleistungen“ sein wird. Dieses Ziel muss die BaFin erfüllen und die Auf- gabe der Missstandsaufsicht endlich ernst nehmen! Der- zeit scheint es allerdings so zu sein, dass die BaFin ihren gesetzlichen Auftrag, Missstände bei Versicherungsun- ternehmen zu vermeiden oder zu beseitigen, nicht erfüllt. Dafür gibt es viele Beispiele wie Debekas jahrzehntelan- gen illegalen Kauf von Daten, Ergos Lustreisen, Infinus’ Insolvenz oder den Fall Mehmet Göker mit seiner MEG. Nach den Bankenskandalen waren sich alle einig, dass es eine Neuaufstellung der Bankenaufsicht braucht. Eine solche Neuausrichtung muss es nun auch für die Versi- cherungsaufsicht geben. Wir haben als Gesetzgeber die Aufgabe, die umfassende Reform des Versicherungsauf- sichtsgesetzes zu nutzen, um neben der Einführung der neuen Regeln auch dafür zu sorgen, dass diese adäquat umgesetzt werden. Dafür werden wir Grüne im Parla- ment uns mit aller Kraft einsetzen. Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll- kodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs- punkt 27) Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers- ter Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgabenord- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5985 (A) (C) (D)(B) nung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Auch wenn der sperrige Titel etwas anderes suggerie- ren will, maßgeblich ist, dass mit diesem Gesetz über- wiegend steuerrechtliche Anpassungen und einige tech- nische Änderungen vorgenommen werden sollen, die in der Vergangenheit jeweils mit Jahressteuergesetzen ge- regelt wurden. Wir sind verpflichtet, mit diesem Gesetzentwurf ins- besondere die betroffenen Regelungen der Abgabenord- nung rechtzeitig an den neuem Zollkodex der Union an- zupassen. Warum dies in diesem Jahr nicht in einem einzigen einheitlichen Gesetzentwurf erfolgen konnte – welcher vor allem zeitlich weit genug vor dem vorgesehenen In- krafttretenszeitpunkt beraten und abgeschlossen werden kann –, müssen wir im Rahmen der Gespräche nochmals genauer eruieren. Für die Beraterbranche und die Steuerpflichtigen ist es sehr unbefriedigend, dass ein Gesetz mit wichtigen steuerrechtlichen Anpassungen nur wenige Tage nach seiner Verkündung in Kraft treten soll. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden uns daher dafür einsetzen, nur diejenigen Regelungen zum 1. Januar 2015 in Kraft treten zu lassen, die absolut notwendig sind. Alle weiteren Regelungen sollten wir im Interesse der Genauigkeit und auch im Interesse der Steuerpflichtigen und deren Berater nochmals auf den Prüfstand stellen. Ob die zwischenzeitlich vorgelegten weiteren Maßnahmen, welche die Empfehlungen des Bundesrechnungshofes aufgreifen und der Sicherung des Steueraufkommens oder der Verfahrensvereinfachung im Besteuerungsverfahren dienen, unbedingt jetzt mit diesem Gesetz in dieser verfahrenstechnischen Eile be- schlossen werden müssen, ist fraglich. Inhaltlich sind insbesondere folgende steuerliche Än- derungen hervorzuheben: Erster Punkt: Mit der Erweiterung der Mitteilungs- pflichten der Finanzbehörden an die zuständigen Ver- waltungsbehörden wollen wir die Geldwäsche weiter be- kämpfen. Zweiter Punkt: Wir definieren mit diesem Gesetz den Begriff der Erstausbildung. Mit der Neuregelung liegt eine – bis zu einem Betrag von maximal 6 000 Euro im Kalenderjahr – als Sonderausgabe absetzbare Erstausbil- dung nur dann vor, wenn die Ausbildung mindestens 18 Monate in Vollzeit dauert und mit einer Abschluss- prüfung abschließt. Wir wollen mit dieser Maßnahme Rechtsklarheit schaffen und verhindern gleichzeitig er- hebliche Steuermindereinnahmen. Dritter Punkt: Geldwerte Vorteile, die ein Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer im Rahmen von Betriebsveranstal- tungen, zum Beispiel durch Weihnachtsfeiern gewährt, bleiben bis zu einem Betrag von 150 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei. Die bisher geltende Verwaltungs- vorschrift wird insoweit in Gesetzesform übernommen und der Betrag von 110 Euro auf 150 Euro angehoben. Auch mit dieser Regelung wollen wir Gestaltungsmög- lichkeiten entgegenwirken, indem alle Aufwendungen des Arbeitgebers anteilig beim Arbeitnehmer berück- sichtigt werden müssen. Vierter Punkt: Wir erweitern den Kindergeldanspruch während einer Zwangspause von höchstens vier Mona- ten, die zwischen einem Ausbildungsabschnitt und Zei- ten der Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes liegen. Fünfter Punkt: Besonders erwähnenswert ist die Ein- führung einer Verordnungsermächtigung als Schnellre- aktionsmechanismus zur vorübergehenden Einführung neuer Tatbestände in das Reverse-Charge-Verfahren zur Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug. Diese Maßnahme ist als Umsetzung von Unionsrecht zunächst auf einen Zeitraum von neun Monaten beschränkt. Auch bei der Steuergesetzgebung gilt der bekannte Satz, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht worden ist. Allein die Bundesländer werden – das zeigen die Erfahrungen aus den vorangegangenen Steuergesetzen – eine Vielzahl von Forderungen, teils technischer Natur, aber auch politisch umstrittene Rege- lungen in das Verfahren einbringen wollen. Ein Punkt, den wir bei den Beratungen nochmal auf- greifen sollten, ist das mit dem Kroatiengesetz eingeführte Reverse-Charge-Verfahrens bei Metalllieferungen. Hier haben sich in der Praxis erhebliche Abgrenzungspro- bleme ergeben, die in der Folge auch auf andere Bran- chen abstrahlen. In den Beratungen können wir auch die vielfältige Kritik, vor allem der Familienunternehmen, an der Än- derung der Wegzugsbesteuerung nach § 50 i EStG auf- greifen. Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver- ständigenanhörung und auf gute Beratungen in den nächsten Wochen. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zum Zollkodexanpassungsgesetz werden vornehmlich die notwendigen Anpassungen der Abga- benordnung an die EU-Verordnung zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union umgesetzt. Außer- dem werden weitere steuerliche Regelungen getroffen, die unser Steuerrecht an Recht und Rechtsprechung der Union anpassen und Empfehlungen des Bundesrech- nungshofes und Verfahrensvereinfachungen im Besteue- rungsverfahren umsetzen. Vonseiten der Länder wurden bisher weitere 72 Rege- lungen gefordert, die rein technischer Natur sind, aber auch politisch umstrittene Sachverhalte umfassen. Ich halte es aber für mehr als bedenklich, wenn eine solche Vielzahl von Steueränderungen kurz vor Jahresende ver- abschiedet werden soll, sind doch die bereits jetzt vorge- sehenen Gesetzesänderungen sehr umfangreich und von weitreichender Bedeutung. Den Steuerpflichtigen und ihren Beratern entsteht dadurch ein erheblicher Mehrauf- wand, der so kurz vor dem Jahreswechsel wirklich unzu- mutbar ist. Wir sollten uns als Gesetzgeber im Interesse unserer Bürger dagegen wehren, Gesetze, insbesondere auf dem 5986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Gebiet des Steuerrechtes, zu verabschieden, deren An- wendung in der Praxis zu diesen Belastungen führt. So- wohl der einzelne Steuerpflichtige wie auch sein Berater sollten ausreichend Zeit im Kalenderjahr haben, um sich mit den durch das jeweilige Gesetz veränderten Verhält- nissen ausführlich zu beschäftigen und vertraut zu ma- chen. Von besonderer Bedeutung erscheint mir, dass wir un- ter anderem neben einigen Erleichterungen und Verein- fachungen im Einkommensteuerrecht, Änderungen in der Abgabenordnung und bei der Grunderwerbsteuer, eine Verordnungsermächtigung zur Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug mit diesem Gesetzentwurf einfüh- ren. Mit der Einfügung einer Ermächtigungsklausel zum § 13 b UStG erhält Deutschland die Möglichkeit, schnell auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der Umsatz- steuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreaktionsmecha- nismus, der auf der Grundlage einer EU-Richtlinie beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zustim- mung des Bundesrates schnell einen neuen Tatbestand in den § 13 b UStG einfügen und damit in der gebotenen Kürze Umsatzsteuerbetrug in bestimmten Fällen unter- binden. Im Rahmen der Beratung des Gesetzentwurfs besteht die Möglichkeit, auch noch weitere, wichtige Änderun- gen im Steuerrecht vorzunehmen. Ich denke hier insbesondere an den § 50 i EStG, der dringend einer Änderung bedarf. Wir haben diese Vor- schrift durch das Kroatien-Gesetz vor kurzem geändert. Leider stellt sich nun heraus, dass nicht nur diese Ände- rung, sondern bereits die ursprüngliche Fassung das deutsche Steuerrecht wieder einmal wesentlich kompli- zierter macht, und darüber hinaus auch noch die Um- wandlung von Unternehmen im In- und Ausland drama- tisch erschwert bzw. ganz verhindern wird. Faktisch wird durch diese Vorschrift nun auch noch ein wesentli- cher Teil des Umwandlungssteuerrechts ausgehebelt. Wirtschaftlich notwendige unternehmensinterne Um- strukturierungen und Übertragungen sind in vielen Fäl- len nur noch unter Aufdeckung und Versteuerung der stillen Reserven möglich. Dies trifft in erster Linie Fami- lienunternehmen, deren Mitglieder zumindest teilweise im Ausland, hier in Staaten mit Doppelbesteuerungs- abkommen, wohnen, zum Beispiel wegen der Ausbil- dung der schon geringfügig beteiligten – mindestens 1 Prozent – Kinder oder aber auch, um ausländische Ak- tivitäten des Betriebes zu leiten. Das betrifft auch Schen- kungen und Erbschaften, selbst bei einem inländischen Nachfolger. Die Tragweite der Gesetzesänderung, die letztlich auf einer Regelung zur Lösung eines Einzelfalles beruht, ist bei den damaligen Beratungen wohl übersehen worden. Deshalb sollten wir jetzt die Gelegenheit nutzen und die- sen Fehler korrigieren. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die notwendigen Schritte bei der Beratung dieses Gesetzentwurfes vornehmen würden und die dringend notwendige Korrektur des § 50 i EStG im Zuge der Beratungen dieses Gesetzentwurfes be- schließen könnten. Ich wünsche uns bei diesem Gesetzentwurf noch wei- tere gute Ideen und kluge Beratungen in allerdings sehr kurzer Zeit. Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgaben- ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, das nichts anderes ist als das Jahressteuergesetz 2015. Ich freue mich, als Berichterstatter für die SPD-Bundestagsfraktion das Zollkodexanpassungsgesetz im Gesetzgebungsverfah- ren begleiten zu dürfen. Wie das Jahressteuergesetze so an sich haben, finden wir hierin eine Reihe an redaktio- nellen Änderungsvorschlägen quer durch das deutsche Steuerrecht, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb nicht erforderlich, auf jeden einzelnen Änderungsvor- schlag einzugehen. Viele Änderungen sind nötig, um das deutsche Steu- errecht an Recht und Rechtsprechung der Europäischen Union anzupassen. Weitere Änderungen berücksichtigen Empfehlungen des Bundesrechnungshofes oder dienen dazu, die Besteuerungsverfahren zu vereinfachen. Gleichwohl möchte ich betonen, dass es sich hierbei vielleicht um unstrittige, aber keineswegs um unwich- tige Änderungen handelt. Wir sind uns hier mit unserem Koalitionspartner einig: Diese Änderungen erleichtern den Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in den Fi- nanzbehörden für ihre immens wichtigen Aufgaben ihre tägliche Arbeit. Auch wenn wir in den Beratungen noch ganz am An- fang stehen: Es zeichnet sich ab, dass es neben vielen technischen Änderungen durchaus auch einige wichtige inhaltliche Punkte gibt, über die im Gesetzgebungspro- zess diskutiert werden wird. Lassen Sie mich also die Gelegenheit nutzen, einige dieser Punkte anzusprechen. Ich denke hier unter ande- rem an den Vorschlag, der den Begriff einer Erstausbil- dung gesetzlich definieren soll. Bisher waren die Krite- rien einer Erstausbildung nicht gesetzlich geregelt. Von der Frage, ob jemand eine Erstausbildung abgeschlossen hat, hängt allerdings ab, ob die Kosten einer weiteren Ausbildung steuerlich als Werbungskosten oder Be- triebsausgaben absetzbar sind. Der Bundesfinanzhof hat die bisherige Verwaltungspraxis in einem Urteil von 2013 kritisiert. Eine klare gesetzliche Definition, wann eine Erstaus- bildung vorliegt, ist durchaus sinnvoll. Für die Betroffe- nen und die Finanzbehörden gleichermaßen. Denn eine Skilehrer-Lizenz ist nicht das Gleiche wie eine dreijäh- rige Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Die jetzt im Entwurf vorgesehene Mindestdauer von 18 Monaten, die für eine Einstufung als Erstausbildung vorliegen muss, scheint allerdings zu lang. Wir werden uns hier gemein- sam mit unserem Koalitionspartner für eine Verkürzung der Mindestdauer einsetzen. Gleichzeitig werden wir in den Beratungen im Finanzausschuss intensiv prüfen, ob Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5987 (A) (C) (D)(B) für bestimmte Berufsgruppen Ausnahmen sinnvoll sein können. Ich freue mich außerdem, dass eine Änderung in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde, bei der es um den 2013 eingeführten INVEST-Zuschuss geht. Momentan wird der aus Bundesmitteln gezahlte Zuschuss besteuert. Der Zuschuss verliert damit natürlich einen Teil seiner Wirkung. Es ist deshalb nur sinnvoll und konsequent, dass hier eine Steuerbefreiungsvorschrift verabschiedet wird, die rückwirkend auch für 2013 gilt. Die SPD-Bun- destagsfraktion möchte die Gründerszene in Deutsch- land stärken und die Rahmenbedingungen für Beteili- gungskapital verbessern. Noch zu klären ist hierbei allerdings, ob diese Rege- lung in diesem Gesetzentwurf gut aufgehoben ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat in letzter Zeit oft deutlich gemacht, dass er die deutsche Gründerszene mit einem umfassenden Maßnahmenpaket beleben möchte. Es wird deshalb noch zu diskutieren sein, ob sich die rückwir- kende Steuerbefreiung für den INVEST-Zuschuss nicht noch besser in einen kommenden Gesetzentwurf des Bundeswirtschaftministeriums für ein Venture-Capital- Gesetz fügt, in dem ein ganzes Bündel an ähnlichen Maßnahmen enthalten sein wird. Natürlich werden wir bei dieser Regelung auch die Verbesserungsvorschläge aus den Ländern aufmerksam prüfen. Als Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion für das Thema Geldwäscheprävention begrüße ich aus- drücklich eine Regelung, die bereits im Entwurf zum Kroatien-Gesetz enthalten war, den Weg in das Gesetz allerdings nicht gefunden hat. Die vorgesehene Ände- rung des Paragrafen 31b der Abgabenordnung soll die Mitteilungspflichten der Finanzbehörden zur Bekämp- fung der Geldwäsche erweitern. Ein effizienterer Austausch zwischen den Finanzbehörden und den Er- mittlungsbehörden ist ein richtiger Schritt und ein wich- tiges Zeichen gegen Geldwäsche. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ge- hört seit Jahrzehnten zum Markenkern der SPD. Als Bundestagsfraktion begrüßen wir deshalb selbstver- ständlich die Maßnahme im Gesetzentwurf, die be- stimmte Serviceleistungen des Arbeitgebers und kurz- fristige Betreuungskosten für Pflegebedürftige und Kinder bis zu einem bestimmten jährlichen Betrag steu- erfrei stellen soll. Die Regelung im Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Sie muss aber jenen nützen, die es wirklich brauchen. Wir begrüßen deshalb die Empfeh- lung der fachlich zuständigen Ausschüsse des Bundes- rates, durch die die Steuerbefreiung auf Kindergärten und Horte eingegrenzt werden soll. Wir werden uns aber mit einigen Vorschlägen im Ge- setzentwurf auch kritisch auseinandersetzen müssen. Dies betrifft unter anderem die Anhebung der Förder- höchstgrenze von 20 000 auf 24 000 Euro bei der Basis- versorgung im Alter. Uns erscheinen nicht nur die be- rechneten Mindereinahmen von 20 Millionen Euro jährlich als zu niedrig. Wir sehen hier außerdem eine Ungleichbehandlung der Rentensysteme, weil beispiels- weise der Förderhöchstbetrag der Riesterrente unverän- dert bleibt. Wir teilen hier die Auffassung der Länder: Der bestehende Höchstbetrag von 20 000 Euro reicht völlig aus, um eine angemessene Förderung der Alters- vorsorge bei Selbstständigen herbeizuführen. Zumal diese Regelung nur einen Bruchteil aller Versicherten beträfe. Wir begrüßen deshalb die Empfehlung der Län- der, diese Regelung aus dem Gesetzentwurf zu streichen. Wir haben bereits in den Verhandlungen zum Kroati- enanpassungsgesetz (dem Jahressteuergesetz 2014) und in den aktuellen Verhandlungen zur strafbefreienden Selbstanzeige gezeigt, dass wir es auch bei einem ande- rem Thema ernst meinen: Wir wollen den Missbrauch des Steuerrechts verhindern und der Ausnutzung von Re- gelungslücken im – bekanntermaßen sehr komplexen – deutschen Steuerrecht einen Riegel vorschieben. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine faire und leistungsgerechte Besteuerung ein, die für Privatper- sonen ebenso gelten muss wie für Unternehmen. Hierbei gibt es drei Punkte, die in den Verhandlungen zu diesem Gesetz eine wichtige Rolle für uns spielen werden. Denn solche fragwürdigen Steuersparmodelle kosten nicht nur den Staat Steuereinnahmen und schaden damit der Ge- meinschaft: Jeder einzelne ehrliche Steuerzahler wird damit verhöhnt. Ein Paradebeispiel für solche Steuervermeidungsstra- tegien ist der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche- Deal“. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil- hersteller Porsche übernommen. Erworben hat die Volkswagen AG die Porsche Holding SE dadurch, dass sie eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding SE übertragen hat. Der Erwerb wurde durch das Finanz- amt Stuttgart nicht als Kauf bewertet, bei dem die üblichen Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde dies als Umstrukturierung nach dem Umwandlungsge- setz eingestuft, mit der Folge, dass eine Steuerbefreiung eingesetzt hat. Diese Konstruktion war nach geltendem Recht zwar legal, gewünscht ist sie allerdings nicht. Denn hierbei handelt es sich ohne Frage um eine zielgerichtete Steuer- vermeidung, die dem Staat geschätzte Steuereinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro vorenthalten hat. Wir als SPD-Fraktion begrüßen deshalb ausdrücklich, dass die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung in den Empfehlungen der damit befassten Fachausschüsse des Bunderates zum Zollkodexanpassungsgesetz einem Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland- Pfalz zugestimmt haben, der diese unglückliche Rege- lungslücke schließen soll. Meine Erwartung ist, dass es bei der Änderung des Umwandlungssteuerrechts nur um Detailfragen gehen wird, die hier mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU zu klären sind. Ich gehe davon aus, dass wir uns mit der CDU/CSU in der Sache einig sind. Deshalb haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir prüfen werden, wie ein solcher Anteilstausch nicht mehr sys- temwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich freue mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlungen. Denn wir können hier – Bund und Länder gemeinsam – ein weiteres wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung setzen. Je früher, desto besser. 5988 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Wir als SPD-Fraktion unterstützen außerdem zwei wei- tere Äntrage, die die gleiche Stoßrichtung haben. Ein An- trag widmet sich der Verhinderung sogenannter Hybrider Finanzierungen. Was mysteriös klingt, ist eigentlich ganz einfach: Es gibt global agierende Unternehmen, die be- wusst die Unterschiede in der steuerlichen Einstufung von Unternehmensformen oder Finanzierungsinstrumenten in verschiedenen Staaten ausnutzen, um davon zu profitie- ren. Steuern können dadurch gespart werden, dass es ent- weder zu einer doppelten Nichtbesteuerung oder zu einem doppelten Betriebsausgabenabzug kommt. Der Bundesrat hat hier die Bundesregierung bereits im Mai aufgefor- dert, beides unmöglich zu machen. In der Sache stimmen wir innerhalb der Bundesregie- rung überein. Der Bundesregierung möchte ich für ihren Einsatz auf internationaler Ebene im Rahmen der soge- nannten BEPS-Initiative der OECD ausdrücklich dan- ken. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den Abschluss an den Arbeiten zur BEPS-Initiative im nächsten Jahr abzuwarten, bis wir hier konkrete gesetz- geberische Maßnahmen ergreifen. Der Bundesrat aber argumentiert, dass die Arbeiten in dem Bereich Hybrider Finanzierungen weitgehend abgeschlossen sind. Wir tei- len die Auffassung der Länder im Wesentlichen; denn auch hier gilt die Devise: Je früher und schneller wir diese Lücke internationaler Steuervermeidung schließen, desto besser. Ein weiteres Abwarten können wir uns in beiden Fäl- len eigentlich nicht leisten. Wir werden deshalb hier in den Verhandlungen mit den Unionskollegen die Argu- mente für und gegen die Aufnahme dieser Regelungen in den Gesetzentwurf intensiv diskutieren. Einen weiteren Prüfauftrag aus den Ausschüssen des Bundesrates, bei dem es um die Besteuerung von Streu- besitzdividenden geht, sehen wir positiv. Die Umsetzung eines EuGH-Urteils 2011, mit dem die vorherige Steuer- freistellung von Streubesitzdividenden eingeschränkt wurde, hat zu einer Ungleichbehandlung von Dividen- den und Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteili- gungen geführt. Die Folge: Seither werden Erträge aus der Veräußerung gegenüber Dividenden bevorzugt, was zu unerwünschtem steuerlichem Gestaltungsspielraum geführt hat. Wir wollen aber Anpassungen vermeiden, die zu Steuerausfällen führen. Hier wird zu diskutieren und zu prüfen sein, ob diese Regelung in dieses Gesetz aufgenommen wird. Ich glaube, obige Aufzählung hat deutlich gemacht, dass es einigen Gesprächsbedarf in den Verhandlungen geben wird. Ich jedenfalls freue mich auf eine Beratung des Gesetzentwurfs und der Länderempfehlungen im Fi- nanzausschuss des Deutschen Bundestages und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit mit allen Berichterstattern der anderen Fraktionen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute Abend das „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Einfacherer Titel war nicht zu finden. Wie wäre es einfach mit „Jahressteuergesetz 2014 – Teil 2“? Warum dieser Etikettenschwindel? Das erste Jahressteuergesetz hieß Kroatiengesetz, das zweite heißt jetzt Zollkodexanpassungsgesetz. Aber was in die- sen beiden Gesetzen steht, hat wenig mit der Überschrift zu tun. Warum darf denn ein Jahressteuergesetz nicht Jahressteuergesetz heißen, Herr Schäuble? Was ist daran Verwerfliches, meine Damen und Herren? Jedes Jahr gibt es Änderungen und Anpassungsbedarf im Steuer- recht, sei es aufgrund der Rechtsprechung der Gerichte, sei es aufgrund geänderter EU-Vorgaben oder sei es we- gen entdeckter Steuerlücken. Selbst die Regierung spricht in ihrem Gesetzentwurf von einem fachlich not- wendigen Gesetzgebungsbedarf in verschiedenen Berei- chen des Steuerrechts. Das reicht doch für ein eigenstän- diges Jahressteuergesetz und zwar auch dann, wenn man berücksichtigt, dass die Regierungskoalition steuerpoli- tischen Stillstand bis 2017 vereinbart hat. Doch auch wenn die Bundesregierung in den nächsten drei Jahren steuerpolitisch in ihrem Koalitionsvertrag nichts geplant hat, dreht sich die Erde trotzdem, und das Steuerrecht schreitet weiter voran. Gerade bei Jahressteuergesetzen, egal wie sie von Ih- nen auch genannt werden mögen, gibt es im parlamenta- rischen Ablauf viele Änderungen. Das wird auch bei die- sem Gesetz so sein. Wir haben auch eine längere Liste an Änderungswünschen, zum Beispiel bei der kleinlichen Regelung der Obergrenze von 150 Euro pro Jahr, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Betriebsveran- staltungen teilnehmen. Mit den vorgesehenen steuerfreien Serviceleistungen des Arbeitgebers wird das Problem der Rückkehr von Beschäftigten nach der Elternzeit oder der Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die pflege- bedürftige Angehörige betreuen, nicht wirklich adres- siert. Ein Freibetrag von 600 Euro je Kalenderjahr und Arbeitnehmer, also monatlich durchschnittlich 50 Euro, wird den hohen Belastungen nicht gerecht. Die behaup- tete bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss woanders ansetzen. Die Schwierigkeiten bei der Verein- barkeit von Beruf und Familie haben gesellschaftliche und ökonomische Ursachen. Einige Ihrer geplanten Änderungen werden unter der Überschrift „Steuervereinfachungen“ verkauft. Doch der Arbeitsaufwand für die Steuerzahlerin und den Steuer- zahler bleibt bestehen, denn er wird genau nachrechnen müssen, ob er mit seinen Ausgaben unter der Pauschal- grenze bleibt oder doch nach Einzelbelegen abrechnen muss. Interessant ist aber auch, was nicht im Gesetzentwurf steht beziehungsweise wieder nicht angegangen wird. Aber das ist bei einer Bundesregierung, die erklärterma- ßen in der Steuerpolitik nichts ändern will, nicht überra- schend. Schon aus dem Vorschlag des Bundesrates ist sehr viel herausgestrichen worden. Die Frage nach der Verzinsung von Steuernachzah- lungen hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen, ob- wohl das höchste Gericht, der Bundesfinanzhof, den der- zeitigen Zinssatz von 6 Prozent nur bis zum März 2011 für rechtens erklärt hatte. Die Europäische Zentralbank hat mitgeteilt, dass sie auch in den nächsten Jahren eine absolute Niedrigzinspolitik verfolgt. Daran zweifelt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5989 (A) (C) (D)(B) auch keiner. Inzwischen müssen Banken sogar Strafzin- sen zahlen, wenn sie bei der Europäischen Zentralbank Geld deponieren – erst waren es 0,1 Prozent, das ist in- zwischen aber verdoppelt worden auf 0,2 Prozent. Viele Unternehmen müssen ebenfalls ihren Banken Zinsen zahlen, wenn sie ihr Geld kurzfristig bei ihnen stehen lassen. Inzwischen hat die erste Bank auch ihren Sparern einen negativen Einlagenzinssatz für Tagesgeldkonten aufgedrückt. Der Staat finanziert sich zu fast 0 Prozent, greift aber trotzdem bei Steuernachzahlungen mit 6 Prozent gierig zu. Hier hätte ich von Ihnen eine Re- aktion erwartet, zumal wir Ihnen im Rahmen unserer Kleinen Anfrage Anfang Oktober dieses Problem bereits detailliert erläutert hatten. Existenzgründern, die voraussichtlich nicht mehr als 17 500 Euro Bruttoumsatz im ersten Geschäftsjahr er- wirtschaften werden, also Kleinunternehmer sind, wollen wir eine Alternative bei ihren Umsatzsteuervor- anmeldungen eröffnen. Sie müssen jetzt ihre Umsatz- steuervoranmeldungen monatlich abgeben, statt wie sonst üblich je nach Umsatzhöhe quartalsweise. Diese Ausnahme von der Regel hat nicht zu einer Verringerung des Umsatzsteuerbetruges beigetragen, wie vom Gesetz- geber ursprünglich gedacht. Wir schlagen alternativ da- her vor, Existenzgründern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Umsatzsteuererklärung auf Wunsch quartalsweise abgeben zu können. Über die seit fast 50 Jahren unveränderte Betrags- grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter, das sind 410 Euro, könnte man auch mal nachdenken – in Verbin- dung mit dem Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpos- tens für alle Wirtschaftsgüter mit Anschaffungs- oder Herstellungskosten zwischen 150 und 1000 Euro. Wie bereits gesagt: Gerade bei Jahressteuergesetzen gibt es besonders viele Änderungen im parlamentari- schen Prozess. Ich freue mich auf die Diskussionen mit Ihren Fachpolitikern. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Unsere Bundesregierung weigert sich beharrlich, ein Jahressteuergesetz vorzulegen, und denkt sich für ihre Gesetze möglichst trivial klingende unpolitische Namen aus. Nun also zunächst einmal Glückwunsch an die Öffentlichkeitsarbeit des BMF zur tollen Wortschöp- fung: „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“ und zu dem Debattenbeitrag um drei Uhr nachts im Deutschen Bundestag. Das ist aber auch die einzige Anerkennung an die Regierung, die ich hier zollen kann. Denn mit der Vorlage dieses Gesetzes beweisen Herr Schäuble und die Regierungs- fraktionen, welchen Stellenwert sie ihrer Steuerpolitik beimessen – nämlich gar keinen. Das ist eine nicht ak- zeptable, verantwortungslose Verweigerungshaltung! Denn es gibt steuerpolitisch durchaus Handlungsbe- darf. Ich will hier nur zwei Beispiele aufführen: Nach wie vor gibt es vollkommen irrationale Regelungen beim verminderten Mehrwertsteuersatz. Nach wie vor haben wir mit der bürokratielastigen Abschreibungsvorschrift für geringwertige Wirtschaftsgüter eine Regelung, die gerade für den Mittelstand dringend einer Überarbeitung bedarf. Würde die Bundesregierung ihre Verantwortung wahrnehmen, würden wir heute ein Jahressteuergesetz beraten, das zum Beispiel diese beiden Fehlregulierun- gen in der Steuergesetzgebung korrigiert. Das hätte dann eine Bedeutung, und wir würden heute zu prominenterer Zeit die Debatte führen. Aber ein wichtiges Thema wird doch in dem Gesetzentwurf angesprochen: Wirtschafts- minister Sigmar Gabriel erwähnt in jedem zweiten State- ment die Bedeutung der Förderung von Wagniskapital, und in diesem Gesetz befindet sich seine zentrale Maßnahme, mit der er dies erreichen will, nämlich die Freistellung der Zuschüsse aus dem INVEST-Programm von der Einkommensteuer. Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung des Themas Wagniskapitalfinanzierung annimmt. Aber dann muss man doch fragen, ob mit der vorgeschlagenen Maßnahme, mit einem Entlastungsvolumen von 10 Mil- lionen Euro, überhaupt ein Effekt erzielt werden kann. Zudem wirft der Vorschlag bei mir einige Fragen auf. Zuschüsse sind grundsätzlich steuerpflichtige Einkünfte, und die Steuerfreistellung eines einzigen Zuschusspro- gramms ist ordnungspolitisch zumindest fragwürdig. Eine ordnungspolitisch saubere Lösung wäre, das För- derprogramm aufzustocken und so die Steuerpflicht zu kompensieren. Diese Maßnahme hätte zudem die Wir- kung, dass finanziell nicht so erfolgreiche Beteiligungen ihre Risiken stärker abgefedert bekommen, weil bei ih- nen die Steuerpflicht schlicht geringer ist, sie aber poten- ziell höhere Zuschüsse erhalten würden. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir an dieser Stelle gemeinsam im Gesetzgebungsprozess den Vorschlag der Bundesregie- rung nochmals kritisch hinterfragen. Die Stellungnahme der Fachausschüsse des Bundesrates untermauert meine Einschätzung, zumal hier vorgeschlagen wird, auch andere Zuschussprogramme ähnlich dem INVEST- Zuschuss von Wagniskapital steuerfrei zu stellen und das vorher vom Wirtschaftsministerium bescheinigen zu las- sen. Mein Credo wäre hier: Nein, wir brauchen keine Ausnahmen, sondern müssen ordnungspolitisch sauber arbeiten und so Bürokratie vermeiden. Auch würden wir die Intransparenz von Förderprogrammen weiter erhö- hen, wenn wir steuerfrei gestellte Zuschüsse von ande- ren Förderungen unterscheiden müssten. Das Thema Bürokratie ist auch für die Vorschläge zur Betrugsbekämpfung bei der Umsatzsteuer von hoher Be- deutung. Die Bundesregierung will einen nationalen Schnellreaktionsmechanismus zur punktuellen Einfüh- rung neuer Reverse-Charge-Tatbestände einführen und die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung auch bei Firmenübernahmen einführen. Diese Pflicht hatten bis- her nur neu gegründete Unternehmen. Letztlich ist eine wirklich objektive Bewertung beider Maßnahmen kaum möglich, schlicht weil der Bundestag als Legislative über keinerlei Informationen über aufgetretene Betrugs- fälle und Umfang dieses Betruges verfügt. Wenn ich davon ausgehe, dass Betrug in relevantem Maß stattge- funden hat und weiter stattfindet, dann sind beide Ände- rungen wohl geboten. Dennoch sehe ich beim nationalen Schnellreaktions- mechanismus, wie er vom BMF vorgeschlagen wird, 5990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) Nachbesserungsbedarf. Das BMF will sich selbst dazu ermächtigen, mit Zustimmung des Bundesrates neue Reverse-Charge-Tatbestände per Verordnung zu erlas- sen. Dabei wird der Deutsche Bundestag völlig übergan- gen und kann nur zusehen, welche Regelungen per BMF-Schreiben verkündet werden. Erst nach einer Ge- nehmigung durch die EU-Kommission für den neuen Ausnahmetatbestand soll der Bundestag für einen nor- malen Gesetzesänderungsprozess beteiligt werden. Der Bundestag sollte schon früher in den Entscheidungs- prozess eingebunden werden, dies schon allein deshalb, um die hinter einer solchen Entscheidung stehenden objektiven Daten öffentlich zu machen. Die Praxis, dass per BMF-Schreiben Steuerrecht materiell geändert wird, ist generell höchst fragwürdig und sollte nicht weiter be- fördert werden. Die Bundesländer haben in ihrer ersten Stellung- nahme über den Bundesrat deutlich gemacht, dass sie anders als Herr Schäuble und die Bundesregierung durchaus Bedarf an größeren steuerlichen Änderungen sehen. Dabei haben sie insbesondere Steuervereinfa- chungen und den Schluss bestehender Steuergestaltungs- optionen im Visier. Hier müssen Sie sich in den Regie- rungsfraktionen und in der Bundesregierung schon fragen lassen, warum Sie nicht selber tätig werden. Die vom Bundesrat vorgelegten Vereinfachungsvor- schläge verdienen zumindest eine kritische Würdigung. Letztlich soll insbesondere durch höhere Pauschal- beträge und der Einschränkung von Mitnahmeeffekten an anderer Stelle eine aufkommensneutrale Vereinfa- chung des Steuerrechts erreicht werden. Natürlich müs- sen wir uns genau ansehen, wer von diesen Vorschlägen potenziell schlechter- und bessergestellt wird. Aber eine substanzielle Vereinfachung des Steuerrechts wäre eine ausgiebige und ernsthafte Prüfung sicher wert. Da die Bundesregierung sich hier schon mehrfach verweigert hat, bin ich aber eher skeptisch. Darüber hinaus haben die Ausschüsse des Bundes- rates einige Vorschläge im Unternehmensteuerbereich gemacht. Ich begrüße, dass man sich mit der Besteue- rung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitz befasst. Hier war schon im Gesetzgebungsprozess 2013 klar, dass ein Steuerschlupfloch offengelassen wird, wenn Dividenden aus Streubesitz besteuert werden, Veräuße- rungsgewinne aber nicht. Deswegen hätten wir Grünen uns damals auch eine andere Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes gewünscht; leider konnte sich dieser Vorschlag bisher nicht durchsetzen. Die beste Lösung für die Besteuerung von Streubesitzdividenden wäre gewesen, eine Veranlagungsoption für ausländi- sche Gesellschaften in Deutschland zu schaffen. Schon bei anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten im Binnenmarkt hat Deutschland Regelungen getroffen, die es dem Ausländer erlauben, sich voll wie ein Inländer besteuern zu lassen, zum Beispiel bei der Erbschaft- steuer. Eine analoge Regelung wäre auch bei der Divi- dendenbesteuerung möglich. In Deutschland würden die ausländischen Gesellschaften mit ihren Dividenden von Inländern dann zu Körperschaftsteuer und Gewerbe- steuer veranlagt. Damit würde in Deutschland die glei- che Steuerbelastung hergestellt wie bei einer inländi- schen Gesellschaft. Ich begrüße ebenfalls, dass der Bundesrat konkrete Vorschläge macht, wie hybride Steuergestaltungen noch besser einzudämmen sind. Hier muss man sich die Details sicher nochmal ansehen, aber die grundsätzliche Richtung stimmt. Das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften steht an der Stelle eines Jahres- steuergesetzes, das an vielen Stellen dringend notwen- dige Korrekturen an der bestehenden Gesetzgebung hätte vornehmen müssen. Die Bundesregierung hat sich dieser Verantwortung nicht gestellt. Ich kann nur hoffen, dass es im Zuge der jetzt anstehenden Beratungen in den Ausschüssen und im Bundesrat gelingen wird, doch noch dringende Änderungen in das Gesetz einzubringen. Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von der Bundesregierung zu dem Europäischen Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) (Tages- ordnungspunkt 28) Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte eu- ropäische Übereinkommen über die Adoption von Kin- dern unterzeichnet. Ziel des Übereinkommens ist die Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften der Mitglied- staaten des Europarats bezüglich der Adoption von Kin- dern. Nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes ist die Mitwirkung oder Zustimmung an völkerrechtlichen Ver- trägen durch Bundesgesetz erforderlich. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nun also die Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Überein- kommen ratifizieren zu können. Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass unser deutsches Recht dafür nur in einem einzigen Punkt an das Übereinkommen ange- passt werden muss: Die Frist zur Aufbewahrung der Ver- mittlungsakten ist anders zu berechnen, als es der § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes derzeit vorsieht. Dieser geringe Anpassungsbedarf zeigt: Die Bundesre- publik Deutschland hat hohe Standards, wenn es um die Adoption von Kindern geht. Mit der Zeichnung und Ra- tifikation unterstützt Deutschland nun auch die Durch- setzung dieser Standards in den Mitgliedsländern des Europarats. Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen bislang unterzeichnet. Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäi- sche Übereinkommen von 1967 über die Adoption von Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tief- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5991 (A) (C) (D)(B) greifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 60er-Jahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war. Um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erwei- tert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das Europäische Übereinkommen von 1975 über die Recht- stellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom November 1989 über die Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammen- arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und das Europäische Übereinkommen von 1996 über die Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden. Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nicht- ehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vie- len Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen le- ben, füreinander Verantwortung übernehmen und sogar eine Familie gründen wollen. In Deutschland können zwei gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine einge- tragene Lebenspartnerschaft begründen. Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig not- wendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr 1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenar- beit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkom- mens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde es 2008 zur Zeichnung aufgelegt. Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittel- punkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig, wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls – das regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkommens – ist das Kind dennoch, soweit möglich, anzuhören, und seine Meinung und Wünsche sind zu berücksichtigen. Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird eben- falls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adop- tion erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter an- derem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- hofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptions- recht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsre- form von 1997 wesentlich gestärkt. Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Überein- kommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidier- ten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen, das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterose- xuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kin- der adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Ein- gehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für He- terosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutsch- land nicht. Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon ver- muten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967 nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben – die Regelungen sind inner- halb der Mitgliedstaaten des Europarats sehr verschieden –, Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entschei- dende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Suk- zessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben, zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umset- zung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom 20. Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in Kraft getreten. Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidier- ten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop- tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzulassen. So weit geht der hier vorliegende Gesetzentwurf nicht. Das dürfte auch für niemanden, der die erst vor wenigen Monaten geführte Debatte zur Sukzessivadop- tion verfolgt hat, eine große Überraschung sein. Die Dis- kussionsgrundlage hat sich seitdem nicht entscheidend verändert. Im vorliegenden, durch die Bundesregierung eingebrachten Entwurf wird von der Option, im nationa- len Adoptionsrecht die gemeinsame, simultane Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen, kein Ge- brauch gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt dies. Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Eines vorweg: Wir, die Sozialdemokraten, wollen endlich die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften auch bei uns. Bei uns in Deutschland. Alles, was auf diesem Weg erreicht werden kann, ist gut. Auch das Europäische Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern bringt uns diesem Ziel einen wichtigen Schritt näher. Mit einer Verzögerung von sechs Jahren – spät, aber es kommt. Das revidierte Über- einkommen überlässt es den Mitgliedstaaten, die Voll- adoption für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen, was sein Vorgänger von 1967 noch ausschloss. Unser Ziel ist es, die Unterschiede zwischen eingetra- gener Partnerschaft und Ehe zu beseitigen; so steht es im Koalitionsvertrag, und so ist es auch gut. Schön, dass wir diese Aufgabe nun angehen. Zugegeben, nicht alle ganz freiwillig und noch nicht alle frohen Herzens. Doch das EU-Übereinkommen und die Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Februar 2013 stärken uns. Sie sind nicht nur ein klares Signal, sondern ein Handlungsauftrag. Durch den Entwurf des Vertragsgesetzes soll das Übereinkommen ratifiziert werden. Damit kommen wir der Gleichstellung näher. Die rechtliche Grundlage für ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Le- benspartnerschaften schaffen wir damit leider noch 5992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (D)(B) nicht. Denn wir haben das Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts zur Sukzessivadoption zwar umgesetzt, mehr jedoch leider noch nicht. Die gemeinsame Adop- tion durch die Lebenspartner ist immer noch verwehrt. Und dies nicht aus Gründen des Kindeswohls, wie uns die öffentliche Anhörung dazu bestätigt hat. Daher ist es längst überfällig, dass wir Kindern die Rechte, die ihnen zustehen – Eltern zu haben, gleich welchen Geschlechts –, nicht länger verwehren. Oder einfach gesagt: Die soge- nannte Volladoption muss endlich Gesetz werden. Warum sollen konkurrierende Elternrechte bei Le- benspartnern eine Gefahr für das Kindeswohl sein, bei Ehepartnern jedoch nicht? Sind das nicht vorgeschobene Argumente, Rechte zu verwehren? Eine Adoption durch den eingetragenen Lebenspartner unterscheidet sich nicht von der durch den Ehepartner. Wo soll also der Un- terschied liegen? Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist, wie die Ehe, auf Dauer angelegt und durch eine ver- bindliche Verantwortungsübernahme geprägt. Sie bedeu- tet, ebenso wie die Ehe, Solidarität und Zusammenhalt. Werte, die gut sind, die wir in unserem Land brauchen. Das Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung el- terlicher Pflege und Erziehung, das Elterngrundrecht und das Familiengrundrecht werden gestärkt. Was will man mehr? Eine dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Klage zur gemeinsamen Adoption eines fremden Kindes wurde im Januar 2014 wegen Unzulässigkeit nicht zur Ent- scheidung angenommen. Es ist allerdings zu erwarten, dass auch über das generelle Adoptionsrecht gleichge- schlechtlicher Lebenspartnerschaften früher oder später durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden wird. Dem müssen wir doch zumindest in der politischen Debatte zuvorkommen und uns nicht ständig im Kreis drehen. Sehr verehrte Damen und Herren, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Lassen Sie uns nicht wieder warten, bis das Bundesverfassungsge- richt die Richtung vorgibt. Lassen Sie uns diesen wichti- gen Schritt in Richtung absolute Gleichstellung tun. Die Eltern, die Kinder, ja unser Land haben es ver- dient! Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Das Europäische Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) ist am 1. September 2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und modernisiert das Europäische Übereinkommen vom 24. April 1967 über die Adoption von Kindern, dessen Vertragsstaat auch die Bundesrepublik Deutschland ist, unter stärkerer Berück- sichtigung des Kindeswohls und insbesondere im Hin- blick auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und das Europäi- sche Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten. Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderli- chen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Über- einkommens geschaffen werden. Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Un- terzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüber- schreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu er- möglichen. Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbe- wahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei, als es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVermiG, derzeit vorsieht. Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Überein- kommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindes- wohls in den Unterzeichnerstaaten. Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2 des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei, den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinan- der verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft mit- einander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens auf verschiedengeschlechtliche Paare und gleichge- schlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen Beziehung zusammenleben.“ Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetz- bar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglich- keit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unter- zeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fort- schritt ist. Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichti- gung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Überein- kommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop- tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspart- ner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen Gebrauch machen.“ Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Fa- milienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und an- erkennen und Kindern dieser Familien gesicherte Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird die Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unter- stützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten will, kann oder darf. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion hat bereits zu Jahresbeginn einen Ge- setzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5993 (A) (C) (D)(B) hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch ab- gelehnt. In dem Übereinkommen ist festgehalten, dass grund- sätzlich allen verheirateten und gegebenenfalls verpart- nerten Paaren, auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaf- ten sowie Alleinstehenden ein Adoptionsrecht eröffnet wird. Die Adoption für gleichgeschlechtliche, verpart- nerte Paare ist allerdings als Opt-Out-Option formuliert, das heißt, es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie diese Möglichkeit nutzen. Neben verheirateten und verpartnerten Paaren besteht auch die Möglichkeit, in- formell lebenden Paaren, die sich in stabilen und lang- fristigen Beziehungen befinden, das gemeinschaftliche Adoptionsrecht einzuräumen. Das Übereinkommen in der Fassung von 1967 sah die gemeinschaftliche Adop- tion für Verheiratete und durch Ehegatten vor. Es war Ausrede für SPD und Union, eine gemeinschaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen. Schweden und das Vereinigte Königreich haben aus die- sem Grund das Übereinkommen vor einigen Jahren ge- kündigt, um nicht gegen diese Passage zu verstoßen. Seit 2008 ist nun die revidierte Fassung verabschiedet und seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit, dass auch Deutsch- land das Abkommen endlich ratifiziert. Jetzt fragt man sich also, ob die Bundesregierung in der Sache zur Einsicht gekommen ist und einen längst notwendigen Schritt in Sachen Gleichberechtigung ma- chen will. Der Haken findet sich dann aber in der Be- gründung, in der die Bundesregierung ihre vorgestrigen Ansichten deutlich werden lässt. Dort heißt es: „Von der in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im na- tionalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner möglich zu machen, wird die Bun- desregierung keinen Gebrauch machen.“ Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer gesetzgeberischen Apathie nicht folgen und sich den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Herzen neh- men. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass es keine relevanten Unterschiede zwischen Ehe und Le- benspartnerschaften gibt, die es rechtfertigen würden, Adoptionsmöglichkeiten unterschiedlich auszugestal- ten. In der Urteilsbegründung hält das Gericht wortwört- lich fest: „Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal- tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, bestehen nicht.“ Genau das wird hier allerdings – mal wieder – ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschä- mend, sondern auch gleich doppelt verfassungswidrig. Nicht nur werden Menschen in Lebenspartnerschaften benachteiligt, sondern auch die betroffenen Kinder. Während Ehepaare gemeinschaftlich adoptieren können, bleibt das Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern ver- wehrt. Den Kindern fehlt es dadurch an Sicherheit: Sie leben nicht in einer rechtlich anerkannten Familie, und sie werden im Unterhalts- und Erbrecht benachteiligt. Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in Regenbo- genfamilien weniger gut gehe, längst ausgeräumt. Sämt- liche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, keinen Nachteil davon haben. Wenn also sowohl Studien zu Regenbogenfamilien und Anhörungen von Experten immer wieder zu dem Schluss kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogen- familien nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird, dann ist es doch absurd, dass CDU/CSU immer wieder diesen ideologischen Zombie aus der Argumentekiste holen. Ganz offensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/ CSU immer noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Res- sentiments zu bedienen, und um die Zustimmung von ho- mophoben Stammtischen. Aus Angst vor den Rechts- populisten der AfD wird hier auf dem Rücken von Kindern verfassungsfeindliche Politik gemacht! Ginge es wirklich um den Schutz der Familie und um das Kin- deswohl, dann würden Sie sich dafür einsetzen, diese El- tern-Kind-Beziehungen rechtlich abzusichern. Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbaucher- schutz: Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte Europäische Übereinkommen vom 27. No- vember 2008 über die Adoption von Kindern unterzeich- net. Endlich, möchte ich hinzufügen. Sechzehn andere Mitgliedstaaten des Europarates hatten das Übereinkom- men schon vor uns unterzeichnet. Sie wissen, warum Deutschland mit der Unterzeich- nung so zögerlich war: Das revidierte Übereinkommen gestattet den Vertragsstaaten erstmals, in ihrem nationa- len Adoptionsrecht die Adoption durch Personen glei- chen Geschlechts zuzulassen. Die Sukzessivadoption durch Lebenspartner ist in Deutschland inzwischen zulässig. Das allein ist Grund genug, das revidierte Übereinkommen zu ratifizieren: Es gilt, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden, der darin besteht, dass die jetzige – durch das Bundesverfas- sungsgericht gestaltete und nunmehr auch gesetzlich ge- regelte – Rechtslage dem „alten“ Übereinkommen von 1967 widerspricht, an das Deutschland derzeit noch ge- bunden ist. Das Übereinkommen von 1967 erlaubte die Sukzessivadoption nur Ehegatten. Das Übereinkommen von 2008 erlaubt die Sukzessivadoption auch für Le- benspartner. Die gemeinsame Adoption bleibt in Deutschland da- gegen Ehegatten vorbehalten, und ich möchte eines sehr deutlich klarstellen: Das revidierte Übereinkommen zwingt uns keineswegs, diese Rechtslage zu ändern! Es eröffnet den Vertragsstaaten im Wege einer Öffnungs- klausel nur Spielraum, den sie nutzen können, aber nicht müssen. Ich möchte daher nicht weiter auf die Frage ein- gehen, ob Deutschland die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zulassen sollte oder nicht. Die unter- schiedlichen Ansichten hierzu sind hinreichend bekannt. Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass der Schwer- punkt des revidierten Europäischen Adoptionsüberein- kommens nicht in der soeben angesprochenen Öffnungs- klausel liegt. Das Übereinkommen von 1967 ist in mehrfacher Hinsicht veraltet und musste deshalb grund- legend überarbeitet werden. Die Neufassung berücksichtigt diverse internationale Übereinkommen, wie zum Beispiel das Übereinkommen 5994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 (A) (C) (B) der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes. Entsprechend wird die Rechts- stellung der Kinder verbessert, unter anderem dadurch, dass sie im Adoptionsverfahren grundsätzlich anzuhören sind. Das Kind wird damit zum selbstständigen Verfah- rensbeteiligten. Das ist für unsere Rechtstradition selbst- verständlich. Für andere Staaten des Europarates ist das aber Neuland. Die Rechtsstellung nichtehelicher Väter wird eben- falls verbessert, da nach der Neufassung nun auch ihre Zustimmung zur Adoption erforderlich ist. Damit werden für Deutschland schon vorhandene Standards übernommen. Anpassungsbedarf im deut- schen Recht besteht nur im Hinblick auf die Frist zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten für die Adoption. Der Blick auf unser eigenes Adoptionsrecht würde aber zu kurz greifen: Außerhalb Deutschlands wird das revidierte Übereinkommen zu einer Stärkung der Kin- derrechte beitragen. Wir sollten durch die Ratifizierung ein gutes Beispiel geben und andere Staaten ermutigen, mit der Ratifizierung des Abkommens die Kinderrechte in ihrem Land zu stärken. (D) 63. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Regierungserklärung zur Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht TOP 5, ZP 1 Europäische Bankenunion TOP 6 Flüchtlingspolitik der Europäischen Union TOP 36 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 37, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 3 Aktuelle Stunde zu den Ergebnissen des Weltklimaberichts TOP 7 Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU TOP 8 Asylbewerberleistungsgesetz TOP 9 Gleichstellung im Kulturbetrieb TOP 10 Flüchtlingsunterbringung TOP 11 Pkw-Maut TOP 12 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS) TOP 13 Atomabkommen mit Brasilien TOP 14 Bundeswehreinsatz in Dafur (UNAMID) TOP 15 Beitragssätze in der Rentenversicherung TOP 18 Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings TOP 17 Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs TOP 20 Änderung des Agrarstatistikgesetzes TOP 19 Bekämpfung von Doping im Sport TOP 21 Änderung des Urheberrechtsgesetzes TOP 22 Zusatzprotokoll zum Auslieferungsübereinkommen TOP 23 Gerichtsstandsvereinbarungen und Arbeitsmarktpolitik TOP 24 Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 TOP 25 EU-Richtlinie über Europäische Schutzanordnung TOP 26 Finanzaufsicht über Versicherungen TOP 27 Anpassung der Abgabenordnung an Zollkodex der EU TOP 28 Europ. Übereinkommen über Adoption von Kindern Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 63. Sitzung des Deutschen Bun-
destages.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kol-
legen Klaus Ernst gratulieren, der in den zurückliegen-
den Tagen seinen 60. Geburtstag gefeiert hat.


(Beifall)


Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre.

Wir müssen dann noch eine Wahl durchführen. Die
Fraktion Die Linke schlägt vor, dass in das Kuratorium
der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland der Kollege Matthias Birkwald als
Nachfolger für den Kollegen Dr. Alexander Neu als or-
dentliches Mitglied berufen wird und der Kollege Neu
dem Kollegen Birkwald als stellvertretendes Mitglied
nachfolgt, mit anderen Worten, dass sie ihre jeweiligen
Positionen tauschen. Hat dagegen jemand schwerwie-
gende Bedenken? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Risiko und Haftung zusammenführen –
Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-
test sicherstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-
nen einheitlichen europäischen Restruktu-
rierungsmechanismus

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung einheitlicher Vorschriften
und eines einheitlichen Verfahrens für die
Abwicklung von Kreditinstituten und be-
stimmten Wertpapierfirmen im Rahmen
eines einheitlichen Abwicklungsmechanis-
mus und eines einheitlichen Bankenab-
wicklungsfonds sowie zur Änderung der
Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates

KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13

hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes

Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzel-
interessen – Für eine echte Europäische
Bankenunion

Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088

ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp-
fen – Stopp des Programms MobiPro-EU so-
fort aufheben

Drucksachen 18/1343, 18/1531





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 3 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zu den alarmie-
renden Ergebnissen des Weltklimaberichts
und dem Handlungsbedarf für mehr Klima-
schutz

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 16 soll abgesetzt werden.
Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rü-
cken entsprechend vor.

Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einver-
ständnis feststellen? – Das ist der Fall. Dann können wir
so verfahren.

Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:

a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

Verbesserter automatischer Informationsaus-
tausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur
Bekämpfung von Steuerflucht

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Abgabenordnung und des Einfüh-
rungsgesetzes zur Abgabenordnung

Drucksache 18/3018
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-
hält nun der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang
Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in der letzten Woche hier in Berlin
zusammen mit den Vertretern von 51 weiteren Staaten
und Gebieten eine multilaterale Vereinbarung über den
automatischen Informationsaustausch über Finanzkon-
ten unterzeichnet. Danach werden ab 2017 die Steuer-
behörden in Deutschland und in den anderen Unter-
zeichnerstaaten in einem automatisierten Verfahren
Kontoinformationen von den in ihrem Staat oder Gebiet
ansässigen Banken und Finanzdienstleistern erhalten,
und sie werden diese Daten untereinander austauschen.
Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen internatio-
nale Steuerhinterziehung.
Wer sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daran
erinnert, wie langwierig und wie mühsam die Verhand-
lungen allein zur EU-Zinsrichtlinie in den letzten 15 Jah-
ren gewesen sind, der wird um die Tragweite des jetzt
beschlossenen automatischen Informationsaustausches
wissen. Wenn man außerdem bedenkt, dass wir vor mehr
als zwei Wochen in demselben Finanzministerrat, in dem
wir 15 Jahre mit der EU-Zinsrichtlinie nicht so richtig
vorangekommen sind, einstimmig beschlossen haben,
dass wir den automatischen Informationsaustausch ab
2017 über die sogenannte Amtshilferichtlinie in europäi-
sches Recht umsetzen, erkennt man, was hier in kurzer
Zeit an Veränderungen doch möglich geworden ist.

Mit dem Inkrafttreten dieses Informationsaustausches
stehen die Länder, die sich daran beteiligen, als Fluchtort
für Kapitalvermögen nicht mehr zur Verfügung. Somit
wird es schwieriger – unmöglich wird es nie, aber hof-
fentlich schwieriger –, Kapitaleinkünfte vor der recht-
mäßigen Besteuerung zu verbergen. Steuerhinterziehung
wird unattraktiver.

Dieser internationale Informationsaustausch geht auf
eine gemeinsame Initiative von Frankreich, Großbritan-
nien, Italien, Spanien und Deutschland zurück. Wir
haben uns früh für diese umfassende internationale Ko-
operation eingesetzt. In der immer unübersichtlicher
werdenden Welt des 21. Jahrhunderts können ja kleine,
vor allem aber große Vermögen per Knopfdruck im
Internet auf der ganzen Welt hin- und hergeschoben wer-
den. In einer solchen Welt reichen die bisherigen bilate-
ralen Doppelbesteuerungs- und Informationsaus-
tauschabkommen nicht mehr aus. Wir brauchen einen
internationalen Ordnungsrahmen, in dem einheitliche
Standards gelten. Diesen multilateralen Ansatz treiben
wir jetzt voran.

Wir haben jetzt 52 Unterzeichnerstaaten. Es werden
sich aber weitere Staaten dem Abkommen anschließen.
Insgesamt bekennen sich bereits rund 100 Staaten und
Gebiete zu diesem Abkommen, darunter auch so wich-
tige Finanzzentren wie die Schweiz und Singapur. Ich
bin sicher, dass in kurzer Zeit weitere Staaten folgen
werden.


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Und Luxemburg?)


– Luxemburg hat unterzeichnet. Luxemburg ist schon
bei den Unterzeichnerstaaten der vergangenen Woche.
Auch in Luxemburg haben sich die Dinge geändert. Da
bleibt zwar noch viel zu tun, wie wir in den Zeitungen
lesen können. Das ist wahr. Wobei es da, wenn ich es in
den Zeitungen richtig lese – zu dem Thema komme ich
auch noch –, nicht nur illegale Steuerhinterziehung gibt,
sondern eben auch die Ausnutzung von legalen Gestal-
tungsmöglichkeiten.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist wohl wahr!)


Dagegen etwas zu unternehmen, ist der nächste Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Neben der Verringerung legaler Gestaltungsmöglich-
keiten ist natürlich zunächst vor allem wichtig, dass wir
dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Bekämpfung der illegalen Steuerhinterziehung ist des-
wegen also nicht weniger wichtig. Aber wir haben jetzt
eine neue Phase internationaler Steuerkooperation, weil
alle eingesehen haben, dass es so nicht weitergehen
kann. Das hat auch Konsequenzen für das Bankgeheim-
nis. Das drückt in vielen Ländern ja ein wichtiges
Grundverständnis zwischen Staat und Bürgern aus. Das
hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Men-
schen nicht gegenüber jedermann alles offenlegen wol-
len. Das Recht auf Privatheit verstehen wir ja auch vor
dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbst-
bestimmung im Datenschutz in seiner Bedeutung immer
besser. Es geht also auch um das Bankgeheimnis. Das
Bankgeheimnis besteht mit diesem automatischen Infor-
mationsaustausch jedenfalls gegenüber den Steuerver-
waltungen – das muss man sagen – nicht mehr fort. Aber
es bleibt ja Aufgabe des Datenschutzes, dafür zu sorgen,
dass die Bürger nicht gegenüber jedermann ihre privaten
Verhältnisse offenlegen müssen. Wir legen jedenfalls
auch bei dieser Steuerkooperation hohen Wert auf den
Datenschutz. Es müssen auch beim automatischen Infor-
mationsaustausch die höchsten Standards gelten. Wir ha-
ben dafür eine eigene Datenschutzklausel bei der OECD
hinterlegt.

Diese Form von Steuerpolitik ist im Übrigen ein zen-
traler Baustein einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik.
Wir brauchen in Deutschland nachhaltiges wirtschaftli-
ches Wachstum, und das erreichen wir nur, wenn wir
Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern schaffen
bzw. erhalten. Investoren brauchen Planungssicherheit
und gute Rahmenbedingungen, um weiter am Wirt-
schaftsstandort Deutschland zu investieren, um For-
schung zu betreiben, um Innovationen zu entwickeln,
um gute Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei spielen zuver-
lässige steuerpolitische Rahmenbedingungen eben eine
große, wichtige Rolle. Dazu gehört auch die Zusage,
dass wir in dieser Legislaturperiode keine Steuern erhö-
hen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen will ich in dem Zusammenhang die Be-
merkung machen: Unser finanzpolitischer Spielraum ist
bei der Fortsetzung dieser richtigen Finanzpolitik be-
grenzt. Umgekehrt ist die Bereitschaft des Bundesrats,
einnahmemindernden Gesetzesvorschlägen zuzustim-
men – die Zustimmung des Bundesrats zu solchen Ge-
setzen ist notwendig, wie wir spätestens seit dem ge-
scheiterten Gesetz zum Abbau der kalten Progression
wissen –, nicht vorhanden. Deswegen rate ich dazu,
nicht allzu viel Kreativität bei Steuersenkungsvorschlä-
gen zu entwickeln. Denn da sie kurzfristig nicht zu reali-
sieren sein werden, können sie im Zweifel nur Verunsi-
cherung schüren.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja einmal eine interessante Ansage!)


Das können wir wirtschaftlich überhaupt nicht gebrau-
chen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kerstin Andreae: Das ist interessant: Wir machen nichts, weil der Bundesrat blockiert! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir können euch auch bitten, mitzumachen, wie beim Asyl!)


Es wäre wünschenswert, die Auswirkungen der kalten
Progression endlich zu beseitigen.


(Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Herr Präsident, ich bekomme hier ein Zeichen, dass
Sie mir etwas sagen wollen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300100

Nein, das war versehentlich.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Dann bitte ich um Nachsicht.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300200

Weil wir bei Regierungserklärungen, Herr Kollege

Gambke, üblicherweise keine Zwischenfragen zulassen,
bitte ich, das gegebenenfalls zu einem späteren Zeit-
punkt zu tun.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Also erinnere ich nur noch einmal daran – wahr-
scheinlich wäre das auch die Zwischenfrage gewesen –:
Wir haben 2012 ein Gesetz zum Abbau der kalten Pro-
gression verabschiedet. Es ist aber leider vom Bundesrat
blockiert worden, und bis heute hat sich daran nichts ge-
ändert. Aber wir versuchen, in den laufenden Verhand-
lungen mit den Ländern darüber eine Einigung zu erzie-
len, damit wir das endlich schaffen können.

Jetzt haben wir im Zusammenhang mit dem automati-
schen Informationsaustausch, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, eine Diskussion über die Abgeltungsteuer. Ich
erinnere wieder und wieder daran: Die Abgeltungsteuer
ist mit dem Argument eingeführt worden – es war in sei-
ner kommunikativen Wirkung schwer zu übertreffen –:
25 Prozent von X ist mehr als 45 Prozent von nix. – So-
lange man die Informationen nicht hat, ist eine Abgel-
tungsteuer in der Abwägung der Argumente – pro und
kontra – zumindest eine mit guten Argumenten verse-
hene Lösung. Wenn der automatische Informationsaus-
tausch eingeführt ist, kann man noch einmal überprüfen,
ob die Argumente dann noch so gelten. Aber ich rate
dazu, dass wir jetzt zunächst einmal warten, bis der auto-
matische Informationsaustausch eingeführt ist. Wir ha-
ben jetzt seine Einführung vereinbart. Ab 2017 soll er
funktionieren, und dann können wir es tun. Es ist immer
so: Wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten geht,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Fällt man auf die Schnauze!)


gerät man leicht ins Stolpern. Deswegen gehen wir
Schritt für Schritt voran. Das ist sehr viel besser.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Im Übrigen will ich angesichts öffentlicher Debatten,
die einen manchmal schon amüsieren können, sagen:
Unser Steuersystem ist im Hinblick auf unseren moder-
nen Industriestandort international wettbewerbsfähig.
Wir haben keine höhere Unternehmensbesteuerung als
vergleichbare Industriestaaten. Die Unternehmensbe-
steuerung in Deutschland ist etwa im Vergleich zu den
Vereinigten Staaten von Amerika spürbar niedriger. Wir
bieten attraktive Rahmenbedingungen für Investitionen
und Innovationen. Wir sollten das weder leichtfertig ge-
fährden noch leichtfertig zerreden.

Aber natürlich ist entscheidend, dass die bestehenden
Steueransprüche auch konsequent durchgesetzt werden.
Dazu ist der automatische Informationsaustausch ein
wichtiger Schritt, indem er illegale Steuerflucht für die
Zukunft erschwert und im Ausland lagernde Kapitalver-
mögen einer korrekten Besteuerung im Inland zuführt.
Damit bekämpfen wir das Problem, dass den öffentli-
chen Haushalten durch Steuerflucht Steuereinnahmen in
Milliardenhöhe fehlen.

Indem wir bestehende Steueransprüche durchsetzen
– auch daran muss man erinnern –, sichern wir die
Grundlagen unseres Gemeinwesens. Unser Bildungswe-
sen, unsere Verkehrsinfrastruktur, unsere innere Sicher-
heit, unsere hohe soziale Absicherung – all das und noch
viel mehr hängt davon ab, dass die öffentlichen Haus-
halte zuverlässig und auskömmlich finanziert sind. In
diesem Land ist Konsens, dass dabei die Besteuerung an
der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszurich-
ten ist. Deswegen dürfen die Bezieher höherer Einkom-
men und die Besitzer größerer Vermögen nicht größere
Möglichkeiten haben, sich der legalen Besteuerung zu
entziehen. Niemand soll sich auf Kosten der Allgemein-
heit seiner Steuerpflicht entziehen können. Dieses Prin-
zip wird durch illegale Steuerflucht infrage gestellt.

Da natürlich die Menschen nicht ganz ohne Grund
den Eindruck haben, dass Steuerflucht überwiegend bei
größeren Vermögen stattfindet, handelt es sich um ein
Problem, das mit Fairness und Gerechtigkeit zu tun hat.
So verbessern wir mit dem automatischen Informations-
austausch Fairness und Gerechtigkeit in unserem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun müssen wir auch – damit komme ich zum zwei-
ten Thema – im Bereich der Unternehmensbesteuerung
auf die Sicherung der Einnahmebasis und auf höhere
Steuergerechtigkeit achten. International tätige Kon-
zerne haben mehr Möglichkeiten – dazu nutzen sie un-
terschiedliche Steuerregelungen im In- und Ausland
aus –, um ihre Steuerbelastung zu minimieren. Das ist
legal, aber im Übermaß betrieben ist das ein Problem für
die Steuergesetzgebung und für die internationale Zu-
sammenarbeit.

In der globalisierten Welt werden Waren- und Kapi-
talströme immer mobiler; und damit auch die maßgebli-
chen Einkunftsquellen. Das ist das objektive Problem.
Einkünfte stammen zunehmend aus immateriellen Wer-
ten, die steueroptimiert ins Ausland verlagert werden
können. So transferieren international tätige Konzerne
ihre Einkunftsquellen wie Patente und Lizenzen auf
Tochterunternehmen im Ausland, um von niedrigeren
Steuersätzen zu profitieren. Das führt dann zu Wettbe-
werbsverzerrungen im Verhältnis zu Unternehmen, die
überwiegend im Inland operieren. Anders als bei multi-
nationalen Konzernen sind die Strukturen und Geschäfts-
modelle kleiner und mittlerer Unternehmen wenig dafür
geeignet, die Möglichkeiten der international unter-
schiedlichen steuerlichen Regulierung auszunutzen.

Deswegen müssen unsere steuerlichen Regelungen an
die höhere Internationalität, Komplexität und auch an
die neue Wirtschaftswelt der digitalen Dienstleistungen
angepasst werden. Leider steigen übrigens dabei
zwangsläufig auch die Anforderungen an Umsetzung
und Vollzug der Regulierung. Einfacher wird es dadurch
nicht.

Wir haben in den letzten Jahren auch bei der Gestal-
tung der internationalen steuerlichen Bedingungen für
Unternehmen eine Menge erreicht. Wir haben – das ge-
schah wiederum maßgeblich auf unser Betreiben hin –
im Rahmen der G 20 und im Rahmen der OECD Pro-
jekte gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung
initiiert. Das ist die sogenannte BEPS-Initiative. BEPS
steht für Base Erosion and Profit Shifting, also für die
Erosion der steuerlichen Bemessungsgrundlage und die
Verlagerung der Profite. Ziel dieses BEPS-Projekts ist
es, international abgestimmte Standards zu vereinbaren,
um die Möglichkeiten multinational tätiger Unterneh-
men zur kreativen Steuergestaltung zu begrenzen. Wir
wollen den internationalen Steuerwettbewerb nicht ab-
schaffen, aber wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb
für alle. Gewinne sollen dort besteuert werden, wo die
zugrundeliegende unternehmerische Aktivität und die
tatsächliche Wertschöpfung stattfinden. Wir wollen
Doppelbesteuerung – das war schon immer so – verhin-
dern, aber wir wollen auch zunehmend verhindern, dass
es doppelte Nichtbesteuerung gibt. Beides führt nämlich
zu Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Behinderun-
gen von marktwirtschaftlichen Prozessen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen sollen sich international tätige Konzerne
genau wie andere Unternehmen auch angemessen an der
Finanzierung der öffentlichen Haushalte beteiligen. Es
kann nicht sein, dass sich wenige auf Kosten vieler be-
reichern. Das gilt übrigens für Staaten wie für Unterneh-
men, und es gilt in beiden Fällen für kleine wie für
große.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Im Rahmen dieses Projekts hat die OECD in einer be-
merkenswert kurzen Zeit – mein britischer Kollege und
ich haben die Initiative vor drei Jahren in Mexiko gestar-
tet – wirklich enorme Fortschritte auf diesem Gebiet zu-
stande gebracht. Das muss man mit großem Respekt und
voller Dankbarkeit sagen.

Wir haben jetzt im September in Australien im Kreise
der G-20-Finanzminister die ersten 7 von insgesamt
15 Aktionspunkten in Vorbereitung auf den G-20-Gipfel
gebilligt. Die sollen in der kommenden Woche in Bris-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

bane begrüßt werden. Im kommenden Jahr erwarten wir
internationale Verständigung zu weiteren Punkten. Mit
diesen konkreten und umsetzbaren Empfehlungen kön-
nen die beteiligten Staaten dann den Gesetzgebungspro-
zess beginnen.

Ich will das wichtigste Beispiel kurz erläutern. Im Be-
reich der Patent- und Lizenzboxen können international
agierende Unternehmen ihre Patent- und Lizenzeinnah-
men an konzerninterne Tochterunternehmen, die ihren
Sitz in Ländern mit einem niedrigeren Steuersatz haben,
verschieben und damit die Besteuerung minimieren.
Deswegen ist der Inhalt der, dass die steuerliche Begüns-
tigung solcher Aktivitäten in Mitgliedsländern nur inso-
weit noch erlaubt ist, als sie auf eigenen Forschungs-
und Entwicklungsarbeiten gründen. So können wir den
Missbrauch durch Briefkastenfirmen in Zukunft verhin-
dern. Darauf haben wir uns mit Großbritannien geeinigt.
Wir besprechen im Moment die technischen Fragen für
eine Übergangslösung, und die Vereinbarung soll dann
auf der G-20-Ebene eingebracht werden. Danach werden
wir sie in europäisches Recht überführen. Im Zuge des-
sen können wir in Deutschland ohne Verstoß gegen euro-
päisches Recht eine Gesetzgebung auf den Weg bringen,
gemäß der die Abzugsfähigkeit in Deutschland nur noch
zugelassen ist, wenn die Regelungen in dem jeweils an-
deren Staat dieser Vereinbarung entsprechen.

Im Übrigen hat die irische Regierung, wie Sie mitver-
folgen konnten, angekündigt – auch dazu haben wir sehr
viel beigetragen –, dass sie das als „Double Irish“ be-
kannte Schlupfloch für Unternehmen – es besteht im
Wesentlichen darin, dass man rechtlich in Irland ansässig
sein kann, ohne dort und damit auch in der Europäischen
Union steuerpflichtig zu sein – abschaffen will. Das ist
ebenfalls ein wichtiger Schritt.

Schließlich wollen wir auch in der nationalen Steuer-
politik für mehr Gerechtigkeit und Fairness sorgen. Des-
wegen bringen wir den Gesetzentwurf zur Änderung der
Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Ab-
gabenordnung ein, mit dem die Regelungen zur strafbe-
freienden Selbstanzeige weiterentwickelt werden sollen.

Wir haben uns intensiv mit den Ländern abgestimmt
– Steuerverwaltung ist ja Sache der Länderverwaltungen –
und sind uns einig, dass wir das Rechtsinstitut der straf-
befreienden Selbstanzeige grundsätzlich beibehalten,
aber die Bedingungen ab kommendem Jahr deutlich ver-
schärfen wollen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Richtig!)


Im Wesentlichen soll die Grenze für die strafbefrei-
ende Selbstanzeige von jetzt noch 50 000 Euro auf
25 000 Euro abgesenkt werden. Bis zu diesem Betrag
bleibt sie straffrei, und es wird auch kein Strafzuschlag
erhoben. Ab 25 000 Euro werden in Zukunft bei einer
Selbstanzeige nach dem jeweiligen Hinterziehungsbe-
trag gestaffelte Strafzuschläge erhoben. Bei einem Hin-
terziehungsbetrag von 25 000 Euro bis 100 000 Euro
soll ein Zuschlag von 10 Prozent gezahlt werden, ab
100 000 Euro bis zu 1 Million Euro 15 Prozent und über
1 Million Euro 20 Prozent.
Des Weiteren soll der Berichtigungszeitraum von bis-
her fünf auf zehn Jahre ausgedehnt werden. Das heißt,
Steuerhinterzieher, die von der Selbstanzeige Gebrauch
machen wollen, müssen zu allen Steuerstraftaten einer
Steuerart die Angaben in vollem Umfang berichtigen,
ergänzen oder nachholen, und zwar für den Zeitraum der
letzten zehn Jahre.

Wir haben zugleich Wünsche aus der Praxis nach
mehr Rechtssicherheit im Bereich der Umsatzsteuervor-
anmeldung und der Lohnsteueranmeldung aufgegriffen
und setzen sie mit dem Gesetzentwurf um. Wir stellen
den Rechtszustand, wie er vor dem Schwarzgeldbe-
kämpfungsgesetz galt, wieder her, sodass künftig erneut
mehrfache Korrekturen bei den Voranmeldungen im
Laufe eines Jahres möglich sein werden. Das ist sicher-
lich richtig. Diesbezüglich sind wir damals bei der
Schwarzgeldbekämpfung ein Stück zu weit gegangen.
Die Abgabe einer Selbstanzeige in Form der Umsatz-
steuerjahreserklärung für ein abgelaufenes Jahr soll wie-
der unabhängig davon erfolgen können, ob die Umsatz-
steuervoranmeldungen für das laufende Jahr fehlerhaft
waren.

Mit diesen Neuregelungen haben wir einen ausgewo-
genen Kompromiss von Verschärfung der Folgen einer
Steuerhinterziehung und notwendigen Korrekturmög-
lichkeiten bei komplexen Voranmeldungen erarbeitet.
Die strafbefreiende Selbstanzeige bietet Steuerhinterzie-
hern weiterhin einen Weg zurück in die Steuerehrlich-
keit. Zugleich tragen wir mit der Verschärfung der Be-
dingungen dem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung.

Mit dem automatischen Informationsaustausch, den
internationalen Standards gegen Steuergestaltung und
Steuervermeidung und mit der Neuregelung der strafbe-
freienden Selbstanzeige unternehmen wir wichtige
Schritte in Richtung von mehr Steuergerechtigkeit. Wir
erhöhen die Steuergerechtigkeit im In- wie im Ausland,
tragen zur Sicherung der Finanzierungsbasis der öffentli-
chen Haushalte bei und stärken damit das Vertrauen der
Menschen ebenso wie die Rahmenbedingungen für Un-
ternehmer und Investoren. Wir handeln im Sinne des Ge-
dankens der Generalprävention, demzufolge Gesetze
und Regelungen dem Schutz der Allgemeinheit dienen
und das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsord-
nung, in diesem Fall die Steuerordnung, stärken, sei es
durch mehr Transparenz, durch einheitliche Standards
oder durch strengere Regeln.

Wir haben nun die Chance, einen internationalen Ord-
nungsrahmen in Steuerfragen zu schaffen, der unserer
Gesellschaft und unserer Wirtschaft nachhaltigen Nut-
zen und damit Wohlstand sichern kann, in Deutschland
und weit darüber hinaus. Diese Chance, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, sollten wir nutzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300300

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der

Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806300400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Schäuble,
hört sich natürlich alles sehr eindrucksvoll an.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist es auch! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist auch so! Sie kapieren es nur nicht!)


Das Problem ist nur, dass die Geschichte des Kampfes
gegen die Steuerhinterziehung von Millionären und
Konzernen leider eine Geschichte eindrucksvoller An-
kündigungen ist, denen in der Regel nichts als heiße Luft
gefolgt ist.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehen Sie das nicht?)


Herr Schäuble, Sie haben vorhin selbst kurz auf
Luxemburg verwiesen. Es geht heute durch alle Medien,
wie Luxemburg – das ist nicht ganz neu und nicht ganz
unbekannt – den Konzernen in großem Stil durch das
Bereitstellen von Konstruktionen geholfen hat, ihre
Steuerquote legal auf etwa 1 Prozent ihrer Gewinne
– teilweise vielleicht sogar 0 Prozent – herunterzudrü-
cken. Das ist passiert unter Federführung Ihres Kommis-
sionspräsidentenkandidaten, der inzwischen Präsident
der Europäischen Kommission ist, des Herrn Juncker.
Ich muss sagen: Ich finde es schon bemerkenswert, dass
Beihilfe zur Steuerhinterziehung, dass Beihilfe daran,
dass große Konzerne die Allgemeinheit in Europa in
Milliarden- und Billionenhöhe schädigen können,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine Sauerei!)


in diesem Europa offensichtlich für höchste Funktionen
prädestiniert.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dieses Geschäftsmodell ist jetzt vorbei!)


Allein das ist ein riesiger Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Umso wichtiger ist, dass wir etwas tun!)


Herr Schäuble, Wenn Sie sagen, es handele sich um
legale Möglichkeiten, erwidere ich Ihnen: Es gibt natür-
lich genauso legale Möglichkeiten, hier in Deutschland
diese Art der Steuerhinterziehung von Konzernen zu
verhindern. Sie brauchen nur dafür zu sorgen, dass Li-
zenzgebühren, Patentgebühren und Zinsen, die in Länder
fließen, die bekanntermaßen solche Modelle anbieten
und genau diese Gebühren und Zinsen eben nicht besteu-
ern, hier nicht mehr abzugsfähig sind. Natürlich wäre
das möglich.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann es nicht mehr hören, dass man sich hinstellt und
sagt: Wir können da nichts tun.

Schauen Sie sich Europa an: Was wurde den Krisen-
ländern alles diktiert? Die Löhne mussten sinken, die öf-
fentliche Beschäftigung musste abgebaut werden. Aber
wer hat auch nur einmal Irland darauf hingewiesen, dass
dieser unsäglich niedrige Unternehmensteuersatz ein
Problem ist?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir! Das haben wir jedes Mal! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die SPD hat darauf hingewiesen! Ganz klar!)


Sie berufen sich jetzt darauf, dass das Double-Irish-
Modell abgeschafft sei. Der irische Finanzminister hat
aber gleich hinzugefügt, dass er großzügige Patentboxen
einführen wird. Das heißt, das, was Sie hier machen, ist
nichts anderes, als die Öffentlichkeit für dumm zu ver-
kaufen. Natürlich kann die Politik das verhindern. Der
Wille fehlt. Das ist das zentrale Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


„Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorüber.“ Genau
dieser Satz stand übrigens schon einmal im Abschluss-
kommuniqué eines Weltfinanzgipfels, und das war im
April 2009. Seitdem sind die Auslandsvermögen in der
Schweiz um über 14 Prozent gewachsen, die in anderen
Steueroasen sogar noch mehr. Wir erinnern uns auch gut,
Herr Schäuble, dass Sie noch 2012 ein Abkommen mit
der Schweiz abschließen wollten, das genau dieses
Bankgeheimnis für alle Ewigkeit garantiert und allen
Steuerhinterziehern mit Schweizer Konten eine Weißwä-
sche garantiert hätte.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann hätte man aber nicht die vielen, vielen Verjährungen gehabt!)


Da war bei Uli Hoeneß & Co. wahrscheinlich schon der
Champagner kalt gestellt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass Sie sich da-
mals heftig beschwert haben, als dieses Abkommen im
Bundesrat gescheitert ist. Wäre es nicht gescheitert, gäbe
es das jetzige, das Sie gerade so sehr feiern, überhaupt
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie reden gerne vom Rechtsstaat. Aber in Wahrheit
gibt es doch längst zweierlei Recht in diesem Land. Ein
Schwarzfahrer kann im Knast landen, wenn er ein paar-
mal ohne Ticket in der S-Bahn erwischt wird. Ein Klein-
betrieb, der mit der Zahlung seiner Mehrwertsteuer im
Rückstand ist, wird unter massiven Druck gesetzt und
nicht selten in den Konkurs getrieben. Großen Konzer-
nen dagegen werden Scheunentore an Möglichkeiten er-
öffnet, Steuern ganz legal nach unten zu drücken.
Gleichzeitig: Wer als Privatperson die Allgemeinheit um
Millionen prellt, soll auch in Zukunft die Chance haben,
sich bei Witterung von Gefahr durch Selbstanzeige
Straffreiheit zu erkaufen. Das ist doch ein einziger Skan-
dal!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn ein reuiger Bankräuber seine Beute irgendwann
zurückgibt, kann auch er nicht als unbescholtener Bürger
das Haus verlassen. Bankraub bleibt auch dann strafbar,





Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)

wenn man ihn aus Angst vor Aufdeckung selbst zur An-
zeige bringt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tätige Reue gibt es aber auch!)


Da muss man Sie von CDU und CSU, aber auch Sie von
der SPD natürlich fragen: Finden Sie das Ausrauben der
Allgemeinheit wirklich so viel harmloser als das Ausrau-
ben einer Bank?


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Lesen Sie im Strafrecht noch mal nach! Keine Ahnung vom Strafrecht!)


Wir als Linke sehen das nicht so, zumal es sich beim
Raub an der Allgemeinheit um weit größere Summen
handelt: Allein in Deutschland schätzt man die Ausfälle
durch Steuerbetrug und Steuertricks auf etwa 100 Mil-
liarden Euro jährlich. 100 Milliarden Euro sind fast ein
Drittel des Bundeshaushaltes. Und da behaupten Sie,
ohne rot zu werden, es sei kein Geld da für menschen-
würdige Pflege, für ordentliche Bildung, für eine ausrei-
chende Zahl von Kitaplätzen, für armutsfeste Rente?
Was ist denn das für eine Heuchelei? Natürlich ist das
Geld da. Es wird nur mithilfe von Banken und Finanz-
kriminellen in den Steueroasen dieser Welt versteckt.
Das Problem ist doch, wo das Geld bleibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass Poli-
tiker, die so gern über Schuldenbremsen und schwarze
Nullen philosophieren, erkennbar so wenig Ehrgeiz zei-
gen, wenn es darum geht, dieses riesige schwarze Loch
in den öffentlichen Finanzen irgendwann einmal zu stop-
fen.

Nun weiß man zwar, dass die CDU selbst einschlä-
gige Erfahrungen mit Schwarzgeldkonten und Schatten-
finanzen hat,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, na, na!)


Umstände, die nicht zuletzt aufgrund des Schweizer
Bankgeheimnisses nie restlos aufgeklärt werden konn-
ten. Aber man muss natürlich sagen: Auch den SPD-
Finanzministern Eichel und Steinbrück fiel zum Thema
Steuerhinterziehung nicht viel mehr ein als großzügige
Amnestien und die Einführung dieser unsäglichen Ab-
geltungsteuer, die dazu führt, dass Menschen, die hart ar-
beiten, per se höhere Steuersätze haben als Menschen,
die von ihren Vermögenseinkommen leben. Auch das
gehört schleunigst abgeschafft.


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, so ist das falsch!)


Wenn Sie von der SPD das wollen, dann bringen Sie
doch einen Antrag ein. Wir werden dafür stimmen. Sie
haben doch eine Mehrheit dafür.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Noch mal: So ist das falsch! Eine einfache Rechnung zeigt das!)

Keine Bundesregierung hat auch nur das Mindeste an
der skandalösen Situation geändert, dass heute, wie in al-
ten feudalen Zeiten, die Reichsten der Reichen kaum
noch Steuern zahlen, während der Fiskus bei denjenigen,
die hart arbeiten und oft viel zu wenig dafür bekommen,
gnadenlos zugreift. Das wird auch das neue Abkommen
nicht ändern.

„Offshore-Leaks“ hat vor einiger Zeit aufgedeckt,
wer so alles Briefkastenfirmen im Steuerparadies Pa-
nama unterhält. Die Liste las sich wie das „Who is
who?“ der deutschen Wirtschaft. Da finden wir all Ihre
Freunde und Geldgeber, also die Familien Quandt,
Porsche, Piëch, die Kaffeedynastie Jacobs und viel alten
Adel wie Finck, Habsburg und Wittgenstein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und wo ist das SED-Vermögen?)


Panama dürfte sich in Zukunft eines weiter wachsen-
den Zuspruchs erfreuen; denn es gehört zu den Ländern,
die dieses Abkommen nicht unterschrieben haben. Auch
die Schweiz lässt sich Zeit. Da sagen Sie aber nicht: Da
können wir nichts machen. – Wo gutes Zureden nicht
hilft, muss man eben ein bisschen ruppiger werden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh, linke Taktik! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Aha! Und wie? – Sollen wir aufrüsten?)


Ich garantiere Ihnen: Würden Sie alle Zinsen und Divi-
denden, die aus Deutschland oder vielleicht sogar aus
der gesamten EU in solche Steueroasen fließen, mit ei-
ner Quellensteuer von, sagen wir, 50 Prozent belegen,
würde die Gesprächsbereitschaft dieser Steueroasen ra-
sant zunehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss sich natürlich schon fragen, warum Sie die
eigentlichen Organisatoren dieser Steuerflucht, nämlich
die Banken, nach wie vor unbehelligt lassen. Warum
schaffen Sie kein Gesetz, dass die Banklizenz in
Deutschland daran geknüpft ist, dass keine Tochterfir-
men in Steueroasen unterhalten werden? Finden Sie es
wirklich normal, dass allein die Deutsche Bank
970 Tochterfirmen in Ländern unterhält, die das Netz-
werk Steuergerechtigkeit als Schattenfinanzplätze be-
zeichnet? Was meinen Sie, was die da machen? Die Süd-
seesonne genießen?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das machen Sie am liebsten!)


Es waren übrigens genau diese Hebel, nämlich Quel-
lensteuern und Druck auf die Banken, mit denen die
USA weltweit Abkommen erzwungen haben, die ihnen
jetzt gewährleisten, dass die Kontodaten amerikanischer
Staatsbürger an sie gemeldet werden. Das Pikante an
diesem Fall ist aber, dass sich die USA am Abkommen
über gegenseitigen Informationsaustausch, das Sie hier
beschrieben haben, nicht beteiligen wollen. Das heißt,
die US-Steueroase Delaware ist nach wie vor ein super-
attraktiver Standort für ausländische Steuerflüchtlinge
weltweit. Ich stelle fest, dass die Bundesregierung auch
das anscheinend demütig hinnehmen wird.





Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)

Insoweit muss man schon sagen: Dieses Abkommen
hat erstens zu wenig Unterzeichner. Zweitens beinhaltet
es Regeln, die große Scheunentore an Umgehungsmög-
lichkeiten öffnen. So werden beispielsweise alte Konten
gar nicht gemeldet. Gemeldet wird auch nicht, wer An-
teile eines Unternehmens von weniger als 25 Prozent
hält usw.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300500

Frau Kollegin!


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806300600

Ich komme zum Schluss. – Das heißt, das Ganze ist

eher ein Konjunkturprogramm für die Nadelstreifenma-
fia der auf Steuerflucht- und Steuerhinterziehungsbera-
tung spezialisierten Firmen und Banken. Die müssen
sich jetzt ein paar zusätzliche Kniffe ausdenken, um ih-
rer vermögenden Klientel weiterhin das begehrte Pro-
dukt „steuerfreie Millionen“ anbieten zu können.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300700

Und Sie, Frau Wagenknecht, müssen nun zum

Schluss kommen.


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806300800

Was wir wirklich brauchen in Deutschland, ist endlich


(Das Mikrofon wird abgeschaltet – Zuruf von der CDU: Jetzt ist es vorbei!)


eine Politik, die nicht mehr vor der geballten Macht des
Geldadels kapituliert. Dafür steht die Linke, und dafür
werden wir weiter kämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806300900

Frau Wagenknecht, bei aller Liebe: Bei einem 20-pro-

zentigen Redezeitzuschlag des Präsidenten ist irgend-
wann dann auch der Toleranzrahmen erschöpft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider
für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1806301000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden heute über zwei Aspekte der Gesetzgebungsmaß-
nahmen, die markant sind im Hinblick auf die Frage, wer
diesen Staat eigentlich finanziert.

Der erste Aspekt ist, dass wir, wie von Minister
Schäuble schon angesprochen wurde, die legale Steuer-
gestaltung von Großkonzernen einschränken wollen. In
dem Land, in dem die Umsätze erwirtschaftet werden,
müssen die Gewinne auch versteuert werden. Ich werde
darauf noch zu sprechen kommen.

Der zweite Aspekt ist die Abschaffung des Bankge-
heimnisses innerhalb der Europäischen Union, wobei
sich viele weitere Staaten und internationale Finanz-
plätze daran beteiligen. Dass das gelingt, hätte ich mir
vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. Deswegen
ist das heute ein großer Schritt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir machen Gesetze, die sichern sollen, dass unser
Staat von den Bürgerinnen und Bürgern und von den
Unternehmen finanziert wird. Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zahlen ihre Steuer, die Lohnsteuer wird
direkt abgeführt. Der Rentner zahlt seine Steuern. Alle
zahlen Mehrwertsteuer an der Kasse. Unternehmen ha-
ben ein wenig mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber im
Prinzip zahlen auch sie Steuern, zumindest die kleinen
und mittelständischen Unternehmen.

Ein Problem ist dann gegeben, wenn Kapital flexibel
ist und sich verstecken kann. Das betrifft diejenigen, die
über sehr viel Geldvermögen verfügen und es in den ver-
gangenen Jahrzehnten quasi als Sport betrieben haben,
es in die Schweiz, nach Luxemburg, Liechtenstein und
in andere Steueroasen zu schaffen und dort anzulegen.
Das Ganze geschah unter dem Deckmantel des Daten-
schutzes und der Autonomie des jeweiligen Ziellandes.
Jemand, der arbeitet, muss seine Steuern hier in
Deutschland zahlen. Im Gegensatz dazu haben manche,
die über sehr viel Geld verfügen, keinen einzigen Cent
Steuern auf ihre Kapitalerträge gezahlt. Das war ein aso-
ziales Verhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, von Günter Grass stammt der Spruch „Der
Fortschritt ist eine Schnecke“. Das trifft hierauf zu: Die
Vorarbeiten für dieses Abkommen laufen seit 2002.
Hans Eichel hat damals die EU-Zinsrichtlinie auf den
Weg gebracht. Es hat sehr lange gedauert, bis sie be-
schlossen wurde. Österreich, Luxemburg haben sich da-
gegen gewehrt. Hier haben wir jetzt insbesondere durch
das Entdeckungsrisiko und auch – da gebe ich Ihnen
recht, Frau Wagenknecht – durch die Drohung der ame-
rikanischen Regierung, den europäischen Banken die Li-
zenz zu entziehen, wenn sie die Kontodaten amerikani-
scher Staatsbürger nicht herausrücken – das sogenannte
FATCA-Abkommen –, Fortschritte erzielt. Ich hätte mir
nicht vorstellen können, dass die Schweiz – mit ein biss-
chen Verzögerung, aber sie werden es tun – die Daten
von bisher anonymen Kontoinhabern herausrückt. Das
ist ein großer und wichtiger Schritt.

Was hat der Deutsche Bundestag dazu getan? Ich
glaube, schon einiges. Wir Sozialdemokraten haben im-
mer in den Mittelpunkt gestellt, dass die Finanzierung
dieses Staates fair sein muss. Aus diesem Grund haben
wir das Abkommen, das Sie, Herr Minister Schäuble,
zur Zeit der vorigen Koalition mit der Schweiz schließen
wollten und welches die Anonymität derjenigen, die ihr
Geld dort haben, sichern sollte, im Bundesrat abgelehnt,
und nur weil wir es abgelehnt haben, sind Fälle von be-
rühmten Fußballmanagern öffentlich geworden, die sich
schon gefreut hatten, in der Anonymität bleiben zu kön-
nen.





Carsten Schneider (Erfurt)



(A)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Deswegen werden wir die Bedingungen für eine straf-
befreiende Selbstanzeige deutlich verschärfen. Der auto-
matische Informationsaustausch – dafür haben Sie die
volle Unterstützung der Großen Koalition – ist der rich-
tige Schritt. Ich wünschte mir, die Amerikaner machten
da auch noch mit, überhaupt keine Frage. Ich hoffe, dass
ein solcher Informationsaustausch weltweit eingeführt
wird. Aber es ist überhaupt schon einmal ein großer
Schritt – und dafür will ich mich auch bedanken –, dass
Sie 51 Staaten davon überzeugt haben – Singapur, die
Schweiz etc. –, dieses Abkommen hier in Berlin zu un-
terzeichnen und sich gläsern zu machen. Das ist ein gro-
ßer Fortschritt, und dafür sage ich auch: Herzlichen
Dank!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Abgeltungsteuer werden wir uns – die Vorar-
beiten müssen vorher laufen – spätestens dann, wenn der
automatische Informationsaustausch funktioniert, wie-
der beschäftigen. Unser Ziel als Sozialdemokraten ist,
dass Einkommen aus Vermögen genauso besteuert wer-
den muss wie Einkommen aus Arbeit.


(Beifall bei der SPD)


Der zweite Aspekt, den Sie angesprochen haben, ist
die scheinbar legale Steuergestaltung von Großkonzer-
nen. Legal ist, was im jeweiligen Staat vom Parlament
beschlossen wurde. Was „legal“ ist, ist aber noch lange
nicht moralisch korrekt. Ich habe heute die Süddeutsche
Zeitung gelesen; darin ging es auch um die Datengrund-
lage des Tax Justice Network. Dieses Tax Justice Net-
work hat für die Aufklärung von Steuerbetrug viel mehr
getan als viele Regierungen in den vergangenen Jahr-
zehnten. Dafür muss man einmal Danke sagen: dass eine
zivilgesellschaftliche Organisation und auch der Journa-
lismus hier vorangehen und etwas aufdecken, was uns
hilft, gegen Steuerbetrug vorzugehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Hinsicht wünschte ich mir von der Steuerver-
waltung und auch von den politischen Akteuren in den
jeweiligen Ländern viel mehr Initiative.

Damit komme ich zu Luxemburg. Man muss sich
schon wundern, warum seit den 80er-Jahren Finanzkon-
zerne ihre Zentralen in Luxemburg haben. Luxemburg
ist ein schönes Land; aber so groß und mächtig ist es ei-
gentlich nicht, und so viele produzierende Unternehmen
sind da eigentlich nicht ansässig, um den Staat zu finan-
zieren. Man muss sich schon fragen, warum Amazon
dort seinen Europasitz hat. Man muss sich ebenfalls fra-
gen, warum Länder wie die Niederlande und Irland sehr
hart an der Grenze dessen, was moralisch vertretbar ist
– ich meine, diese Grenze wurde bereits überschritten –,
durch Steuerdumpinggesetze dafür gesorgt haben, dass
Gewinne aus Deutschland, aus dem Vereinigten König-
reich, aus anderen Ländern der EU in ihre Länder trans-
feriert wurden, wo sie marginal besteuert werden. Das ist
nicht akzeptabel. Dem müssen wir einen großen Riegel
vorschieben. Gewinne müssen dort besteuert werden, wo
sie entstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erwarte, dass der aktuelle Kommissionspräsident,
Herr Juncker, der 20 Jahre lang Finanzminister und Pre-
mierminister von Luxemburg war, über die Handlungs-
weisen der Luxemburger Steuerbehörden Auskunft gibt.
Denn jetzt hat er in seiner Funktion als Präsident der
Europäischen Kommission eine andere Aufgabe.

Es kann nicht sein, dass wir Deutsche immerzu in
Brüssel Kompromisse suchen und Geld geben. Stich-
worte sind hier ESM und Bankenrekapitalisierung, über
die wir hier später noch sprechen. Bei all diesen Dingen
wird von Deutschland Solidarität erwartet. Das ist die
eine Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Staats-
einnahmen, um eine ordentliche und gerechte Besteue-
rung, was in der Autonomie der Nationalstaaten liegt.
Ich sage hier für die SPD: Wir erwarten innerhalb der
Europäischen Union deutliche Fortschritte in Richtung
einer Fiskalunion, einer gemeinsamen Steuer- und
Finanzpolitik. Nur dann sind wir bereit, uns auf der Aus-
gabenseite stärker zu engagieren. Beides gehört zusam-
men.


(Beifall bei der SPD)


Es wird spannend werden, zu sehen, ob dies die Euro-
päische Kommission mit Herrn Juncker an der Spitze
wirklich vorantreibt. Unsere Erwartungshaltung ist klar.
Wenn hier nichts passiert, ist das nicht nur ungerecht,
sondern es führt zu extremen Wettbewerbsverzerrungen.
Ein Unternehmen mit 20 Mitarbeitern in meinem Wahl-
kreis Erfurt wird normal besteuert. Es hat überhaupt
keine Chance, seinen Steuersatz von knapp 30 Prozent
auf unter 1 Prozent zu drücken. Dieses Unternehmen
steht natürlich im Wettbewerb mit anderen Unterneh-
men, die keine oder wenig Steuern zahlen. Das ist unge-
recht, das ist unfair.

Wir sollten diejenigen schützen, die sich an die Ge-
setze in Deutschland halten. Dafür, Herr Finanzminister,
haben Sie unsere volle Unterstützung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806301100

Kerstin Andreae ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806301200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

2. April 2009 haben die Mitglieder der G 20, also auch
Bundeskanzlerin Merkel, die Ära des Bankgeheimnisses
für beendet erklärt. Das hat aber den Finanzminister an-
scheinend nicht beeindruckt; denn als wäre nichts gewe-
sen, hat er mit der Schweiz darüber verhandelt, Steuer-
betrügern weiterhin Anonymität zu gewähren. Nichts

(C)






Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

anderes hätte das deutsch-schweizerische Steuerabkom-
men bedeutet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was wäre das für ein verheerendes Signal gewesen:
Der Ehrliche zahlt Steuern, dem Unehrlichen wird Ano-
nymität gewährt. Fragen Sie doch einmal die Bürgerin-
nen und Bürger in diesem Land: Steuerhinterziehung un-
tergräbt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist
wahrlich kein Kavaliersdelikt, sondern dieses Verhalten
führt dazu, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft
auseinanderbricht, dass sich die Menschen nicht mehr
ernst genommen fühlen und dass die einen für die Infra-
struktur und das Gemeinwesen zahlen, die anderen nicht.
Es darf nicht sein, dass aus dem Gefühl eine Tatsache
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rot-Grün hat diese Pläne im Bundesrat gestoppt und
damit diese Ewigkeitsgarantie für Steuersünder glückli-
cherweise – so muss man sagen – verhindert. Seither er-
leben wir eine Rückkehr in die Steuerehrlichkeit, die
sich in diesem Ausmaß keiner hätte vorstellen können:
32 000 Selbstanzeigen von Januar bis September 2014.
Das sind 3 500 pro Monat oder 120 pro Tag. Wenn es
noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass dieses ge-
plante Steuerabkommen in der Grundkonzeption falsch
war, dann ist er hiermit erbracht. Anonymität ist keine
Alternative zum Informationsaustauch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Viele haben lange dafür gekämpft, innerhalb und au-
ßerhalb der Parlamente. Mein besonderer Dank, mein
Respekt und meine Anerkennung gelten Attac, die die
Aufhebung des Bankgeheimnisses seit jeher zum Thema
gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gemeinnützigkeit im besten Sinne, so möchte ich das
einmal nennen. Danke an Attac!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie wissen, ich bin Schwäbin.


(Christian Freiherr von Stetten: Badenerin!)


– Nein, ich bin gebürtige Schwäbin; darauf bestehe ich. –
Umsonst gibt es nichts, auch kein Lob. Dass das Bank-
geheimnis jetzt fällt, ist richtig. Dafür verdienen Sie un-
ser Lob. Es ist richtig, dass das jetzt geschieht. Aber wir
brauchen ein paar weitere nächste Schritte, und zwar
nicht irgendwann, sondern jetzt und mit klaren Signalen.

Erstens muss dieser Datentausch sofort in alle – vor
allem auch in alle neuen – Doppelbesteuerungsabkom-
men aufgenommen werden. Zweitens muss die Abgel-
tungsteuer abgeschafft werden. Wir müssen aus der
Anonymität herauskommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum soll der Informationsfluss international erfolgen,
aber auf nationaler Ebene nicht? Jetzt müssen die Vorbe-
reitungen dafür getroffen werden – das wäre ein Signal –,
dass die Abgeltungsteuer abgeschafft wird. Das wäre in
diesem Zusammenhang richtig.

Außerdem müssen – das ist der dritte Punkt – unfaire
Steuerpraktiken beendet werden. Herr Schneider, ich
habe aufmerksam zugehört, als Sie die legalen Steuerge-
staltungsmöglichkeiten der Konzerne angesprochen und
gesagt haben: Wir gehen es an. – In Ihrer Rede habe ich
dann aber nichts dazu gehört. An der Stelle bleibt für
mich ein großes Fragezeichen.

Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, dass Kapitalanle-
ger nicht anders behandelt werden als Arbeitnehmer.
Wer von seinem Vermögen lebt, soll nicht anders, ge-
schweige denn besser gestellt werden als jemand, der ei-
ner Arbeit nachgeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei diesem ist dem Fiskus bekannt, wie hoch sein Ein-
kommen ist. Bei Zinsen, Dividenden und Veräußerungs-
gewinnen greift jedoch die Abgeltungsteuer. Mit dem In-
formationsaustausch, der jetzt verabredet wurde, wird
die Situation paradox: Zinsen in Liechtenstein, in Me-
xiko oder auf den Cayman Islands sind bekannt, Zinsen
innerhalb Deutschlands aber nicht. Das heißt, es braucht
auch über die Zinsen und Vermögenserträge auf deut-
schen Konten einen Informationsaustausch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber auch bei der gerade noch legalen Steuervermei-
dung muss gehandelt werden. Deutschland entgehen
Milliardeneinnahmen. Im Schnitt zahlt ein Mittelständ-
ler 30 Prozent mehr Steuern als ein international agie-
render Konzern. Mitverantwortlich dafür sind die soge-
nannten Lizenz- und Patentboxen. Auf internationaler
und vor allem auf europäischer Ebene wird versucht, da-
gegen anzugehen. Die Lizenzboxen locken in verschie-
denen EU-Ländern mit niedriger Besteuerung.

Was erleben wir jetzt? Statt für ein europaweites Ver-
bot zu streiten, liebäugelt der Finanzminister offen da-
mit, diese Lizenzboxen auch in Deutschland einzufüh-
ren. Damit gefährden Sie zum einen den internationalen
Einigungsprozess, und zum anderen schaffen Sie wiede-
rum ein Steuerschlupfloch für Großkonzerne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass Sie vorangehen, auch in Europa, und
sich gegen Lizenzboxen hier und in anderen Ländern
aussprechen.

Ich halte den Vorschlag aus Hessen für eine ganz gute
Idee: Patent- und Lizenzausgaben werden nur dann aner-
kannt, wenn im Empfängerland mindestens 25 Prozent
Steuern darauf gezahlt werden. Was wäre das Signal?
Gewinnverlagerung würde unattraktiver. Die anderen
Länder wüssten, dass wir es mit der Bekämpfung von in-
ternationaler Steuergestaltung ernst meinen, und mit den
Mehreinnahmen könnten Sie den Mittelstand entlasten.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

Es wird immer gesagt, für die degressive AfA und die
steuerliche Forschungsförderung sei kein Geld da. Nun
bietet sich die Möglichkeit, die Finanzierung zu sichern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen einen umfassenden Informationsaus-
tausch gewähren. Sie müssen jetzt die Voraussetzungen
schaffen, dass die Abgeltungsteuer fällt, und Sie müssen
verhindern, dass neue Steuergestaltungsmöglichkeiten
für Großkonzerne geschaffen werden. Wenn Sie das ma-
chen, dann kommen wir zusammen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806301300

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Ralph

Brinkhaus das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1806301400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

zum wiederholten Mal ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Oppo-
sition bemüht sich krampfhaft, irgendetwas zu kritisie-
ren. Aber so richtig gelingt das nicht; denn anscheinend
ist das, was wir hier vollbracht haben, ziemlich gut.

Frau Andreae, ich konnte Ihren Ausführungen an der
einen oder anderen Stelle nicht mehr folgen. Ich glaube,
da ist auch einiges durcheinandergegangen. Sie haben
gesagt, dass Menschen, die über Kapitaleinkünfte verfü-
gen, nicht besser behandelt werden sollen als andere.
Das stimmt, aber man sollte sie auch nicht schlechter be-
handeln. Sie möchten mit Ihrer Vermögensteuer bzw.
Vermögensabgabe insbesondere den Menschen, die Ka-
pitaleinkünfte erzielen, ganz tief in die Tasche greifen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das sind die Steuererhöher à la Trittin!)


Eigentlich ist heute ein Tag großer Freude. Alle Steu-
erpolitiker müssten eigentlich vor Begeisterung platzen;
denn das, was in der letzten Woche hier in Berlin er-
reicht wurde, ist in der Tat ein Meilenstein. Ich möchte
meine Rede dazu nutzen, meine Begeisterung als Steuer-
politiker mit Ihnen allen zu teilen. Der Austausch von
Steuerdaten gehört zu den sensibelsten Bereichen in den
Beziehungen zwischen Staaten. Das hat damit zu tun,
dass jeder eifersüchtig auf seine Steuergesetzgebung
achtet. Bekanntlich sind die Steuergesetzgebung und das
Budgetrecht die Königsrechte eines jeden Parlaments.
Hier lässt man sich ungern in die Karten schauen.

Es ist sicherlich richtig – das wurde bereits von meh-
reren Rednern angesprochen –, dass es einige Staaten
gab und gibt, die Steuerhinterziehung und Steuervermei-
dung als Geschäftsmodell entwickelt haben. Insofern ist
es umso erstaunlicher, dass in der letzten Woche über
50 Staaten – weitere werden folgen – ein Abkommen
unterschrieben haben, das vorsieht, dass freiwillig und
automatisch Steuerdaten an andere Staaten weitergege-
ben werden. Das ist ein riesiger Sprung. Den bisherigen
Informationsaustausch haben wir durch viele Doppelbe-
steuerungsabkommen organisiert. Hier geschah der Aus-
tausch aber nur auf Anfrage. Das war ein fürchterlich an-
strengender Prozess, der dazu beigetragen hat, dass
Steuervermeidung und Steuerhinterziehung fröhliche
Urständ gefeiert haben.

Vor diesem Hintergrund ist das, was geschehen ist,
wirklich beeindruckend. Dahinter steckt sehr viel Arbeit.
Frau Andreae und Frau Wagenknecht, ich glaube, dass
Sie das unterschätzen. Mit den Steuern verhält es sich so
wie beim Fußball: Jeder meint, davon Ahnung zu haben.
Wir haben in Deutschland ein paar Millionen Bundes-
trainer und wahrscheinlich genauso viele Finanzminis-
ter, die davon überzeugt sind, zu wissen, wie das Steuer-
system gestaltet werden muss. Je nach Blickwinkel sind
die Steuern zu hoch oder zu niedrig. Auf jeden Fall sei
das System viel zu kompliziert. Viele meinen, dass an-
dere zahlen müssten, nur sie selber nicht. Jeder hat also
eine Meinung dazu und ist überzeugt, dass das ganz ein-
fach sei.

Die Vorschläge, die durch das Land geistern, sind Le-
gion. So hieß es einst – durchaus sympathisch –, das
Steuersystem werde so stark vereinfacht, dass man seine
Steuererklärung auf einem Bierdeckel machen könne.
Dann wurde von Stufentarifen gesprochen und davon,
die Zahl der Steuerparagrafen zu halbieren. Das alles
führt nur nicht weiter. Das möchte ich Ihnen anhand des
automatischen Informationsaustausches, des von Herrn
Schäuble angesprochenen BEPS-Abkommens und der
strafbefreienden Selbstanzeige beispielhaft erläutern.

Wir alle sind uns, glaube ich, einig, dass das Steuer-
system ergiebig sein soll, damit der Staat seine Aufgaben
erfüllen kann. Es soll zudem einfach und gerecht sein.
Aber es muss auch fair sein. Ein Steuersystem ist dann
fair, wenn jeder, dem das Gesetz die Last der Steuerzah-
lung auferlegt, seine Steuern tatsächlich zahlt. Man muss
ehrlich sagen: Da waren wir in der Vergangenheit nicht
immer ganz so gut.

Blicken wir auf die 80er- und 90er-Jahre zurück. Da-
mals waren die Steuersätze sehr hoch. Gleichzeitig gab
es sehr viele Möglichkeiten, sich von der Steuerlast zu
befreien, legal durch Abschreibungsmodelle und Ver-
lustzuweisungsgesellschaften, translegal durch eine
weite Dehnung der Gesetze und auch illegal. Es stimmt,
dass damals viele Menschen ihr Geld in die Schweiz ge-
bracht haben, weil sie sich dem deutschen Steuersystem
entziehen wollten. Deshalb haben alle Bundesregierun-
gen, egal von welcher Partei sie gestellt wurden, daran
gearbeitet, die entsprechenden Schlupflöcher zu schlie-
ßen. Das war nicht immer einfach. Zuerst haben wir die
deutsche Steuergesetzgebung sukzessive verschärft. Des
Weiteren haben die Finanzgerichte entsprechende Ur-
teile gefällt. Auf internationaler Ebene wurden Doppel-
besteuerungsabkommen geschlossen. Hier ist sehr viel
kleinteilige Kärrnerarbeit geleistet worden.

Deswegen finde ich es bedauerlich, dass das alles
quasi mit einem Federstich weggewischt und behauptet
wird, nichts sei passiert. Tatsächlich ist sehr viel passiert.
Aber wir müssen auch sehen: Wir sind immer wieder im
wahrsten Sinne des Wortes an unsere Grenzen gestoßen,





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

nämlich an die Grenzen unseres Landes; denn uns fehl-
ten die Informationen über das Geld, das auf irgendeine
Weise ins Ausland gebracht wurde. Deswegen konnten
wir es nicht besteuern. Es ist daher sehr wichtig, dass der
nun vereinbarte automatische Informationsaustausch tat-
sächlich umgesetzt wird. Die Grundlage für eine faire
Besteuerung ist, dass wir wissen, wer wo sein Geld lie-
gen hat.


(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


– Danke, Lothar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das haben wir jetzt erreicht. Carsten Schneider hat es
gesagt: Das ging nicht innerhalb von anderthalb Jahren,
sondern das ist ein Prozess, der seit mindestens 2002 an-
dauert. Wolfgang Schäuble hat jetzt den Ball ins Tor ge-
schossen. Wir sind nun so weit, dass wir auf einem Stand
sind, den wir uns vor wenigen Jahren wirklich nicht zu
erträumen gewagt haben. Das ist gut und richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen können wir uns heute einmal so richtig da-
rüber freuen.

Natürlich sind wir mit der ganzen Aktion noch nicht
fertig. Wir werden andere Staaten integrieren müssen.
Ich bin übrigens sehr optimistisch, dass beispielsweise
die Schweiz sehr schnell nachfolgen wird und dass auch
andere Länder nachfolgen werden. Aber wir müssen
auch an anderen Stellen arbeiten.

Ich habe gerade gesagt, dass wir ein faires Steuersys-
tem haben wollen. Ein faires Steuersystem bedeutet
auch, dass derjenige, der auf Einkommen in Deutschland
keine Steuern zahlt, diese Steuern in anderen Ländern
zahlt. Das Problem, das sich entwickelt hat – die Namen
der Firmen, die das in einer großen Extensität betrieben
haben wie Google und Amazon, sind genannt worden –,
ist die doppelte Nichtbesteuerung. Doppelte Nichtbe-
steuerung heißt, dass Einkommen weder in Deutschland
noch in einem anderen Staat versteuert werden.

Das ist in der Tat nicht nur ein Gerechtigkeitspro-
blem, sondern das ist auch – das ist mehrfach angespro-
chen worden – ein Wettbewerbsproblem, weil ein Mittel-
ständler in Erfurt, dem Wahlkreis von Carsten Schneider,
nicht die Chance hat, die doppelte Nichtbesteuerung zu
organisieren. Das ist vielmehr ein zweifelhaftes Privileg
von großen Konzernen. Deshalb müssen wir dagegen
vorgehen.

Auch da hat sich unser Bundesfinanzminister sehr
verdient gemacht, indem er vor zwei Jahren mit seinem
britischen Kollegen George Osborne die sogenannte
BEPS-Initiative angestoßen hat. Die BEPS-Initiative be-
deutet, dass sich alle OECD-Staaten darauf einigen, dass
man nach gleichen Standards arbeitet und eines nicht
mehr passiert, nämlich die doppelte Nichtbesteuerung.
Auch da sind wir schon sehr weit. Man hat dieses Mam-
mutprojekt in 15 Teilprojekte aufgeteilt. Sieben davon
sind schon abgeschlossen, acht werden im nächsten Jahr
folgen. Wir werden das gemeinsam mit unserem Koali-
tionspartner sehr zügig in nationales Recht umsetzen.
Auch das ist ein Meilenstein, der von diesem Bundes-
finanzminister und dieser Bundesregierung gesetzt wor-
den ist. Auch darüber können wir uns freuen. Darauf
können wir sehr stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich von Fairness im Steuersystem rede, dann
gehört dazu auch, dass derjenige, der in diesem Steuer-
system Fehler macht, die Möglichkeit hat, diese Fehler
zu korrigieren, und zwar zu korrigieren, ohne dass er
gleich kriminalisiert wird.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!)


Wir sprechen heute über die strafbefreiende Selbstan-
zeige. Die Regelungen für die strafbefreiende Selbstan-
zeige, die es seit Jahrzehnten gibt, sind in der letzten Le-
gislaturperiode von der christlich-liberalen Koalition
maßgeblich verschärft und stark eingeengt worden. Es
ist nach diesem Gesetz der christlich-liberalen Koalition
nicht mehr möglich, mit der strafbefreienden Selbstan-
zeige zu zocken.

Dabei sind wir allerdings ein wenig über das Ziel hi-
nausgeschossen; denn es gibt einen Bereich, in dem
Fehler gemacht werden, die aus dem ganz normalen
wöchentlichen oder monatlichen Geschäftsbetrieb her-
rühren. Das geschieht dann, wenn ich monatlich eine
Umsatzsteuervoranmeldung abgeben oder wenn ich
Lohnsteueranmeldungen vornehmen muss. Die Men-
schen, die dabei vielleicht einen Fehler gemacht haben
und diesen korrigieren müssen, sind durch die Verschär-
fung, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht
haben, in einen Bereich gerutscht, in dem es nicht mehr
klar ist, ob es sich um eine Korrektur von Fehlern oder
einen Hinterziehungsakt handelt.

Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
zur strafbefreienden Selbstanzeige ändern. Das heißt,
wir werden das erreichen, was wir immer erreichen
wollten: Die gewerbliche Wirtschaft, die Steuern zahlt,
kann Fehler korrigieren – das muss auch möglich sein –,
aber diejenigen, die bewusst Steuern hinterziehen, kön-
nen das nicht mehr, weil man mit dem Instrument der
strafbefreienden Selbstanzeige nicht mehr zocken kann.
Auch das ist gut und richtig, und das ist der zweite
Punkt, den wir heute auf den Weg bringen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zur Fairness im Steuersystem gehört aber auch, dass
ich nicht 99,9 Prozent der Steuerpflichtigen unnötig be-
laste, um 0,1 Prozent der Steuerhinterzieher zu erwi-
schen. Deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein und
dürfen den normalen und ehrlichen Steuerpflichtigen
nicht mit Bürokratie belasten und ihm Dokumentations-
pflichten auferlegen, die ihm das Leben und die tägliche
Arbeit unglaublich schwer machen und die nur dazu die-
nen, dass man einen minimalen Prozentsatz von Steuer-
hinterziehern tatsächlich aufdeckt.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Beim BEPS-Projekt und bei vielen anderen Projekten
stellt sich die Frage, ob wir nicht an der einen oder ande-
ren Stelle über das Ziel hinausschießen. Wenn wir das
Ganze wirklich ernst nehmen und wenn wir sagen:
„Keine zusätzlichen Belastungen für die Wirtschaft,
keine zusätzliche Bürokratie, keine zusätzlichen Doku-
mentationspflichten“, dann müssen wir das, was wir hier
im steuerlichen Bereich beschließen, sehr genau dahin
gehend überprüfen, ob es am Ende des Tages stimmt. Ich
sage Ihnen auch: Mir ist es lieber, in Kauf zu nehmen,
dass der eine oder andere einmal „durchrutscht“, als dass
man die gesamte Wirtschaft mit unzumutbaren Bürokra-
tie- und Informationspflichten belastet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Insofern werden wir diesen Punkt sehr genau im Auge
behalten.

Wenn man einmal einen Strich unter die drei Aspekte,
die ich gerade genannt habe – unter den automatischen
Informationsaustausch, unter dieses BEPS-Projekt, das
eine internationale Nichtbesteuerung vermeidet, und un-
ter die Verschärfung der strafbefreienden Selbstanzeige –,
zieht, dann muss man eins sagen: Steuerpolitik ist Kärr-
nerarbeit, ist kleinteilig, dauert lange und geht nicht
schnell. Deswegen kann ich allen nur sagen: Glauben
Sie niemandem, der behauptet: Ich habe im steuerpoliti-
schen Bereich den großen Wurf in der Tasche. Ich kenne
den grünen Knopf, auf den man nur drücken muss, und
dann haben wir ein supereinfaches Steuersystem, das
völlig gerecht ist, das es vermeidet, dass international an
irgendeiner Stelle Steuern hinterzogen werden. – Das
Ganze ist harte Arbeit.

Wir in dieser Koalition und insbesondere unser Fi-
nanzminister haben uns auf den Weg gemacht, diese
harte Arbeit zu leisten. Wir haben heute ein wichtiges
Etappenziel erreicht. Wir werden in der nächsten Zeit
weitere Etappenziele erreichen. Ich denke, dass wir dann
ein viel besseres Steuersystem haben, als wir es vorher
gehabt haben.

Jetzt vielleicht noch einige Sätze zu dem Thema Steu-
ervereinfachung. Das, was ich gerade im Hinblick auf
das internationale Steuerrecht ausgeführt habe – dass es
in diesem Zusammenhang viele kleine Projekte und
viele kleinteilige Maßnahmen gibt, die das Ganze besser
machen –, gilt auch für die Steuervereinfachung. Auch
daran werden wir uns im nächsten Jahr machen. Wir
werden ein Verfahrensvereinfachungsgesetz auf den
Weg bringen, und wir werden mit Hunderten kleinerer
Maßnahmen versuchen, das Steuerrecht unbürokrati-
scher zu machen, Dokumentationspflichten abzuschaf-
fen, das Ganze gerechter und fairer zu machen. Ich
denke, das wird uns auch gelingen. Wir haben mit unse-
rem Koalitionspartner verabredet, dass wir das zustande
bringen. Da ziehen wir an einem Strang; da sind wir uns
total einig.

Ein Steuersystem muss nicht nur dafür sorgen, dass
genügend Steuern da sind, dass der Staat finanziert wer-
den kann, sondern es muss auch handhabbar sein, muss
verlässlich sein, muss fair sein und muss partnerschaft-
lich sein. Dafür zu sorgen, das ist das, was wir uns in
dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Das ist
viel ambitionierter als Versprechungen, das Steuersys-
tem mit einem großen Wurf komplett zu reformieren
oder zu revolutionieren. Insofern freue ich mich auf die
Arbeit in dieser Legislaturperiode.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806301500

Lothar Binding ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1806301600

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Carsten
Schneider und Ralph Brinkhaus haben sehr gut auf den
Punkt gebracht, worum es heute geht: Letztendlich geht
es um international gerechte und faire Besteuerung der
Unternehmen und darum, dass Arbeitnehmer, Konzerne
und auch alle anderen fair besteuert werden und keiner
mehr belastet wird, als es ihm, bezogen auf die gesell-
schaftlichen Leistungen, zugemutet werden kann. Der
heutige Beschluss ist ein riesiger Schritt in diese Rich-
tung.

Sahra Wagenknecht hat uns die Steuersätze in Irland
vorgeworfen. Das hat mich ein bisschen irritiert. Sie hat
uns auch das Verhalten von Luxemburg vorgeworfen.


(Zurufe von der SPD: Wo ist sie denn?)


Auch das hat mich ein bisschen irritiert; schließlich
könnte sie ja wissen, dass wir weder in dem einen noch
in dem anderen Land regieren.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Es geht natürlich darum, mit diesen Ländern zu verhan-
deln; das stimmt. Aber auch da wäre Sahra Wagenknecht
gut beraten gewesen, uns zu helfen; denn gerade sie ver-
fügt über ein besonderes Insiderwissen bezüglich Irland:


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist denn Sahra Wagenknecht? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ha, ha, ha! Können Sie nicht sachlich diskutieren?)


Sie hat lange dort in einer Weise gelebt, die es ihr er-
möglicht, genau zu wissen, wie internationale Steuer-
politik funktioniert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich will das nicht näher ausführen. Interessanterweise
fehlen bestimmte Aspekte in den Ausführungen zu ihrer
Biografie. Vielleicht sollten Sie darüber einmal genauer
nachdenken.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] Aber wenn man einen Bayern heiratet, möchte man auch nicht unbedingt nur Leberkäse essen!)






Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

Im Rahmen des Global Forum, einer von der OECD
initiierten Vereinigung, der 122 Länder angehören, ist
ein Steuerabkommen vereinbart worden. Das ist ein Rie-
senprojekt. Wir wissen, 122 Länder miteinander verhan-
deln zu lassen, ist keine ganz leichte Aufgabe.

Die Schweiz ist unter diesen 122 Ländern. Aber sie
unterzeichnet das Abkommen noch nicht; vielleicht un-
terzeichnet sie es im nächsten Jahr. Wir sehen, wie
schwer es ihr fällt, von der Hoffnung auf das Deutsch-
Schweizer Steuerabkommen zum automatischen Infor-
mationsaustausch und zur Aufgabe des Bankgeheimnis-
ses zu kommen. Das ist für die Schweiz, glaube ich, ein
unendlich langer Weg. Wenn sie den jetzt zu Ende geht,
haben wir sehr viel erreicht, haben wir international gut
verhandelt. Das gilt – das muss man sagen – sowohl für
unseren Minister. Unterstützt wurde das Ganze aber auch
– da schließe ich mich den Aussagen der Grünen an – von
Attac


(Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


und vom Tax Justice Network. Es war sehr wichtig, dass
die uns geholfen haben. Sie haben uns im internationalen
Diskussionszusammenhang den Rücken sehr gestärkt.
Wir sind uns sicherlich einig, dass sie es verdient haben,
den Status der Gemeinnützigkeit zu behalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen.
Das Wort „Ordnung“ müssen wir genauer hinterfragen,
wenn wir nach Luxemburg schauen. Wer heute die
Süddeutsche gelesen hat, der weiß: Wer unter dem Stich-
wort „Ordnungsrahmen“ nach Luxemburg schaut, er-
schreckt. Es gibt dort keine international erträgliche
Ordnung. Die SPD-Arbeitsgruppe – das will ich berich-
ten – war vor längerer Zeit einmal in Luxemburg und hat
auch mit Jean-Claude Juncker gesprochen. Er hat uns
Deutschen vorgeworfen, dass wir relativ bürokratisch
und unflexibel seien, und erklärt, dass man das in
Luxemburg sehr viel leichter handhaben könne. Er
sagte: Ich brauche nur über diesen Platz zu gehen; dann
bin ich Finanzminister, und dann kann man die Dinge
flexibel regeln. Ich muss sagen: Diese Aussage erscheint
heute in einem anderen Licht. Sie lässt mich fragen, ob
es wirklich gut war, Juncker als konservativen Kommis-
sionspräsidenten zu wählen. Ich glaube, er muss eine
Verantwortlichkeit entwickeln, die ihre Europakonfor-
mität noch beweisen muss.


(Beifall bei der SPD)


Der automatische Informationsaustausch wird immer
als Überschrift genannt. Ich frage: Ist er eigentlich wirk-
lich geeignet, die Probleme, die wir haben, zu lösen?
Was passiert heute? Minister Schäuble hat es schon et-
was ausgeführt: Heute werden die Gewinne verlagert, im
Wesentlichen durch grenzüberschreitende Verlagerung
der immateriellen Werte wie Patente und Lizenzen. Es
gibt das sogenannte Hybrid Mismatch, bei dem über
Rechtsformgestaltungen und Umwandlungen Gewinne
verlagert werden. Es gibt Zinstricks durch Finanzie-
rungsgesellschaften im Ausland. An Tochterunterneh-
men werden Zinsen überwiesen, um Gewinne aus
Deutschland zu transferieren. Eine sehr alte Methode
funktioniert über Verrechnungspreise. Das alles ist be-
kannt.

Es gibt eine zweite Ebene. Neuerdings fangen be-
stimmte Länder an, zur Gestaltung einzuladen. Ich er-
wähne noch einmal die niederländische Patentbox, in die
man Patente legt, um anschließend Gewinne in diese
Box zu überweisen – dort steuerfrei, hier gewinn-
mindernd, sodass man in Deutschland Steuern spart und
in den Niederlanden nicht zahlen muss.

Die Frage ist, ob das, was wir jetzt machen, eigentlich
hinreichend ist, um hierfür Lösungen zu finden. Ich
sage: Ja, wir sind einen sehr großen Schritt weiterge-
kommen.

Ich will ein bisschen genauer erklären, was eigentlich
die Meldestandards sind. Die Meldestandards umfassen
zum Beispiel Finanzinformationen. Was sind Finanzin-
formationen? Dies sind alle Kapitalerträge, also Zinsen,
Dividenden, Einkünfte aus Versicherungsverträgen,
Kontenguthaben, Erlöse aus der Veräußerung von Fi-
nanzvermögen. Es wird also ein großes Spektrum von
Informationen geliefert, die einen sehr genauen Blick
auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse derje-
nigen bieten, die verlagern. Ein großer Schritt!

Was sind die Meldestandards hinsichtlich der melde-
pflichtigen Finanzinstitute? Schauen wir nach: Die Ban-
ken sind angesprochen, die Verwahrstellen, auch die
Makler, das, was wir Organismen für gemeinsame Anla-
gen in Wertpapiere nennen, die OGAW-Einrichtungen,
und bestimmte Versicherungsgesellschaften. Wir sehen:
Ein breites Spektrum von Instituten wird in den Blick
genommen. Wer weiß, wie auch bisher schon zwischen
diesen Entitäten hin und her jongliert wurde, um interna-
tional Steuern zu sparen, erkennt, wie wichtig dieser
Schritt ist.

Was wird eigentlich an meldepflichtigen Konten an-
gesprochen? Erst einmal sind es die Konten der natürli-
chen Personen. Da denken wir an spezielle; das ist klar.
Ein großer Schritt! Es sind aber auch die Konten von
Rechtsträgern, also insbesondere von Trusts und Stiftun-
gen. Auch die werden in den Blick genommen. Es gibt
außerdem eine Pflicht zur Prüfung der passiven Rechts-
träger und – so steht es in der Verabredung – der Perso-
nen, die diese beherrschen. Die Möglichkeit zu Tricks
mit Briefkastenfirmen, um sich als Person mit einer ent-
sprechenden Hinterziehung hinter solchen Formen zu
verstecken, wird jetzt genommen. Wir merken, dass wir
auf dem Weg zu einem Maß an internationaler Transpa-
renz sind, das wir uns bisher nicht haben träumen lassen.
Deshalb ist dieser Schritt so bedeutend.

Man geht sogar noch weiter. In diesem 45-seitigen
Papier wird auch definiert, welche Sorgfaltspflichten je-
weils einzuhalten sind, wird definiert, wie man mit die-
sen Meldepflichten umzugehen hat. Das geschieht in ei-
ner Weise, wie das bisher noch nicht gemacht wurde.
Jetzt besteht natürlich die Aufgabe, diese Meldestan-
dards in jeweiliges nationales Recht umzusetzen.





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

Ich will mit einer kleinen Warnung schließen. Die
Idee unseres Ministers ist, Steuernachlässe nur noch in
dem jeweiligen Land zu gewähren – auch europäisch –,
in dem die Wertschöpfung eines Unternehmens entsteht.
Ein Land, in dem eine solche Wertschöpfung entstanden
ist, kann also sagen: Ich erlasse euch die Steuern. – Das
ist ein großer Schritt zur Vereinheitlichung und besser
als alles, was wir bis jetzt haben, weil es international
vereinbart ist. Es führt in Richtung Level Playing Field.

Ich meine aber trotzdem: Wir müssen stark überle-
gen –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806301700

Herr Kollege Binding.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1806301800

– eine Sekunde, ich bin sofort fertig –, ob wir uns da-

mit nicht doch dem Geleitzug des internationalen Steuer-
wettbewerbs und des Race to the Bottom anschließen.
Das müssen wir sicher noch diskutieren. Aber insgesamt
ist das eine sehr positive Entwicklung.

Vielen Dank, auch für die kleine Zugabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806301900

Richard Pitterle ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806302000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich habe nach den heutigen Meldun-
gen ernsthafte Zweifel, ob jemand an der Spitze der
EU-Kommission sitzen kann, der als Regierungschef
Steuervermeidungsstrategien der Konzerne in Europa
zulasten der europäischen Staaten organisiert hat.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir in Thüringen auch!)


Aber ich will nicht zu diesem Thema sprechen.

Wir diskutieren heute auch den Koalitionsvorschlag
für die Reform der strafbefreienden Selbstanzeige. Ich
will gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass meine
Fraktion hier einen weiter gehenden Antrag eingebracht
hat, der die gänzliche Abschaffung der Selbstanzeige
vorsieht. Viel zu lange konnten Wohlhabende ihre riesi-
gen Vermögen vor dem Fiskus verstecken. Sie mussten
keine ernsthaften Konsequenzen fürchten. Sie wogen
das Entdeckungsrisiko ab und stellten eine Selbstan-
zeige, wenn sie der Meinung waren, dass dieses zum
Beispiel aufgrund des Ankaufs einer Steuer-CD zu groß
war. Das ging zulasten der Allgemeinheit und der vielen
ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Ich finde es daher gut, dass die Regelungen zur straf-
befreienden Selbstanzeige aufgrund des Drucks der Öf-
fentlichkeit ein weiteres Mal verschärft werden; denn of-
fensichtlich war die Geldgier noch immer größer als die
Angst vor der Strafe.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist schlimm genug, dass der Reichtum in unserem
Land so ungleich verteilt ist. Genauso schlimm ist es,
dass viele derjenigen, die viel haben, dem Staat nicht das
geben wollen, was ihm zusteht. Es wird endlich Zeit,
dass die Steuergesetze für alle Menschen, auch die Rei-
chen und Superreichen, gelten.


(Beifall bei der LINKEN)


Folgende Ansätze des Entwurfs will ich hervorheben:
zuerst einmal die deutliche Anhebung und Staffelung
des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen von der
Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenordnung. In
jenen Fällen konnten sich Steuerhinterzieherinnen und
Steuerhinterzieher bisher für eine im Vergleich lächerli-
che Zusatzzahlung von 5 Prozent der hinterzogenen
Steuer quasi freikaufen. Das war mit dem Gerechtig-
keitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger nun wirklich
nicht mehr in Einklang zu bringen. Denn am Ende kam
folgende Botschaft bei den Menschen in diesem Land
an: Wer mehrmals schwarzfährt, wird gleich bestraft;
wenn aber Superreiche Steuern in Millionenhöhe hinter-
ziehen und damit allen schaden, dann wird ein Auge zu-
gedrückt. Das hat zu Recht zu Empörung geführt. Daher
ist es richtig und wichtig, dass die Zusatzzahlungen, die
Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher leisten
müssen, zukünftig auch wehtun.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wichtig ist auch, dass die Problematik von Umsatz-
steuervoranmeldung und Lohnsteueranmeldung berück-
sichtigt wurde, wie es die Linke kürzlich in ihrem
Antrag gefordert hat. Ich bin seit vielen Jahren als
Rechtsanwalt im Bereich Wirtschaftsrecht tätig. Aus
meiner Erfahrung kann ich Ihnen daher versichern, dass
man sich zum Beispiel als Kleinunternehmerin oder
Kleinunternehmer gerne mal im tiefen Meer des Steuer-
rechts verlieren kann. Wenn die Bäckermeisterin, wenn
der Bäckermeister morgens früh aufsteht, um Brot und
Brötchen zu backen, und dann abends nach einem lan-
gen Arbeitstag noch den sogenannten Schreibkram erle-
digen muss, kann sich schon mal der eine oder andere
Fehler einschleichen. Es ist daher gut, dass zukünftig
nachträglich korrigierte oder verspätete Umsatzsteuer-
voranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen wieder
als wirksame Teilselbstanzeige gelten. Mit einer Krimi-
nalisierung solcher menschlichen Fehler ist nämlich nie-
mandem gedient.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Muss man abschaffen!)


Wer aus Unachtsamkeit oder Überforderung eine falsche
oder verspätete Angabe macht und diese dann korrigiert
oder nachholt, darf nicht denen gleichgestellt werden,
die ihr Geld absichtlich verstecken und ihren Beitrag der
Allgemeinheit bewusst vorenthalten.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU])






Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)

Zuletzt einen Gedanken, den ich als Rechtspolitiker,
der ich auch bin, einbringe: Ich halte es für vernünftig,
dass bei der Strafverfolgung die Verjährungsfristen ent-
gegen den ursprünglichen Plänen nun doch nicht ausge-
dehnt worden sind; denn bei aller Notwendigkeit eines
schärferen Vorgehens gegen Steuerhinterziehung darf
man auch hier das Verhältnis zu vergleichbaren Delikten
nicht außer Acht lassen. Wenn für den einfachen Betrug
eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, so sollte das
auch bei der einfachen Steuerhinterziehung beibehalten
werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806302100

Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806302200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

puncto Steuergerechtigkeit und Steuerwahrheit hat un-
sere Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanz-
minister Dr. Wolfgang Schäuble, nun erfolgreich Mei-
lensteine gesetzt. Das ist eine Tatsache, über die wir uns
heute wirklich freuen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD])


Dies gilt sowohl national wie auch international.

Drei Bereiche sind dabei hervorzuheben: erstens die
Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige, zwei-
tens der automatische Austausch von Steuerdaten und
drittens die BEPS-Initiative gegen internationale Ge-
winnverlagerungen.

Zunächst zur Klarstellung: Es ist natürlich nicht ver-
boten, wie es hier nach den Beiträgen der Linken den
Anschein haben muss, Geld im Ausland anzulegen. Es
ist auch nicht verboten, mit diesen Geldanlagen im Aus-
land Gewinne zu erzielen;


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber es ist verboten, sie zu verstecken, wie es die Linke macht!)


aber diese Gewinne müssen ordnungsgemäß versteuert
werden. Darauf hat der Staat, darauf hat unsere Gesell-
schaft einen Anspruch. Deshalb ist die Schließung von
Steuerschlupflöchern ein zentrales Anliegen von CDU
und CSU – und das nicht erst seit dieser Legislaturpe-
riode. Denn Steuerhinterziehung, meine Damen und
Herren, ist gemeinschaftsschädlich und muss deshalb
geahndet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da ist zum einen der Gesetzentwurf, mit dem die
Wirksamkeitsvoraussetzungen bei der strafbefreienden
Selbstanzeige neu geregelt werden. Die Berichtigungs-
pflicht erstreckt sich künftig in allen Fällen der Steuer-
hinterziehung auf einen Zeitraum von mindestens zehn
Jahren, und es wird für Steuersünder deutlich teurer,
wenn das Hinterziehungsvolumen mehr als 25 000 Euro
beträgt.

Ebenso wichtig ist: Das Instrument der strafbefreien-
den Selbstanzeige bleibt erhalten. Ich sage, das ist auch
gut so; denn es hat sich bewährt und es muss Korrektur-
möglichkeiten im Steuerrecht geben. Ohne die strafbe-
freiende Selbstanzeige wären die vielen Fälle in der Ver-
gangenheit gar nicht erst ans Licht gekommen. Daher
wird im Bereich der Anmeldesteuern für eine gesetzliche
Klarstellung gesorgt, um praktische und rechtliche Ver-
werfungen zu beseitigen. Zudem ist ein steuerartenüber-
greifendes Vollständigkeitsgebot nicht vorgesehen; denn
dieses könnte kaum klar und rechtssicher ausgestaltet
werden. Ebenso wird von der Einführung einer Ober-
grenze bei der Wirksamkeit der Selbstanzeige abgese-
hen.

Auch wir wollen nicht – das ist ein wichtiger Punkt –,
dass bloße Arbeitsfehler kriminalisiert werden. Insbe-
sondere mit Blick auf den Unternehmensbereich besteht
die Notwendigkeit, steuerliche Korrekturmöglichkeiten
zuzulassen. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Sperr-
wirkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang be-
grenzt und die Wirksamkeit von Teilselbstanzeigen für
die Korrektur von Umsatzsteuervoranmeldungen und
Lohnsteueranmeldungen wieder eingeführt wird. Aller-
dings möchten wir diesen sinnvollen Schritt auch noch
auf die Jahreserklärungen erweitern, weil die beabsich-
tigte Neuregelung sonst nach Abgabe der Jahreserklä-
rung ins Leere laufen würde.

Wir sind also dabei, diesen Gesetzentwurf sachlich
angemessen zu beraten und auch noch rechtzeitig in die-
sem Jahr zu verabschieden. Das sorgt für Klarheit. Da-
mit ist Rechtssicherheit gegeben. Dieses Gesetz ist dann
für den Steuerpflichtigen handhabbar und transparent.
Das gehört zur Steuerklarheit, Steuerwahrheit und Steu-
ergerechtigkeit, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber noch viel wichtiger für die Bekämpfung der
Steuerhinterziehung ist das Abkommen über den auto-
matischen Informationsaustausch in Steuersachen, das
auf der Jahrestagung des Globalen Forums zu Transpa-
renz und Informationsaustausch für Besteuerungszwe-
cke hier in Berlin unter Federführung unseres Bundes-
finanzministers Dr. Wolfgang Schäuble geschlossen
wurde. 50 Finanzminister haben dieses Abkommen auf
Initiative Deutschlands unterzeichnet. Schon bald wer-
den weitere Staaten folgen. Das ist ein starkes Koopera-
tionsinstrument für die Steuerbehörden international.
Das Geschäftsmodell der Steuerlockvogelangebote ge-
hört der Vergangenheit an. Das ist auch gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Übrigen waren meiner Ansicht nach die Verhand-
lungen mit der Schweiz über ein Abkommen – das ist
hier angeklungen – damals richtig, weil es viele Verjäh-
rungen von Steuerhinterziehungen verhindert hätte. Sie
müssen sich immer fragen – denn Sie haben es damals
verhindert –, wie viele Steuern dem Fiskus aufgrund die-





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

ses Steuerschlupflochs verloren gegangen sind. Dies
müssen Sie verantworten. Deswegen wäre schon damals
ein erster Schritt richtig gewesen, der dazu geführt hätte,
dass es zu Besteuerungen gekommen wäre, die es heute
nicht gibt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806302300

Lieber Herr Kollege Michelbach, darf der Kollege

Gambke Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806302400

Sehr gerne, Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806302500

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Kollege Michelbach, dass Sie die
Frage zulassen. – Das geht jetzt ein Stück zu weit. Sie
können nicht auf der einen Seite den automatischen In-
formationsaustausch loben und auf der anderen Seite die
Tatsache kritisieren, dass wir als Opposition das Schwei-
zer Steuerabkommen verhindert haben. Herr Kollege
Schneider und Frau Andreae haben sehr schön dargelegt,
warum dies geschehen ist. Unsere Ablehnung hat im Üb-
rigen dazu geführt, dass es zum automatischen Informa-
tionsaustausch kommen wird und die Amerikaner
FATCA durchgesetzt haben. Beides werfen Sie der da-
maligen Opposition vor.

Ich frage Sie in diesem Zusammenhang – Herr Kol-
lege Brinkhaus hat dazu keine Stellungnahme abgege-
ben, aber wir haben es in der Debatte mehrfach gehört –:
Wie verhalten sich die Regierungsfraktionen, wie verhält
sich die Union zum Thema Lizenzbox? Ich hoffe, dass
Sie in Ihrer Rede darauf eingehen; denn das ist ein kriti-
scher Punkt. Wir haben heute in der Zeitung gelesen, wie
Steuern umgangen werden. Das, was Herr Schäuble mit
Herrn Osborne bezüglich der Lizenzbox verabredet hat,
wird dazu führen – das sagen die Experten; das sagen
nicht diejenigen, die, wie Herr Brinkhaus sagt, ober-
flächlich darüber schweben –, dass Konzerne weitere
Gestaltungen vornehmen können. Ich bitte Sie, dazu
Stellung zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806302600

Herr Gambke, ich tue das sehr gern. Es waren meh-

rere Fragen; ich fange zunächst hinten an. Es ist ganz
klar – das hat der Bundesfinanzminister in seiner Rede
deutlich gemacht –: Die Steuern gehören dem Staat, in
dem die Gewinne erwirtschaftet wurden, und nicht dem
Staat, der den höchsten Steuerrabatt gewährt. Deswegen
ist der Ansatz bezüglich der Patente bzw. der Lizenzbo-
xen richtig, letzten Endes so zu verfahren, bei der Be-
steuerung von der in einem Land entstandenen Wert-
schöpfung auszugehen. Es gibt überhaupt keinen
Zweifel daran, dass der Bundesfinanzminister hier den
richtigen Weg einschlägt und versucht, andere Länder
auf den Pfad der Tugend zu führen und zu sagen: Diese
Steuerlockvogelangebote, bei denen keine Wertschöp-
fung in dem jeweiligen Land dahintersteckt, gehören der
Vergangenheit an. Das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der letzte Punkt.


(Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)


– Ich bin noch nicht fertig, Herr Gambke. Sie haben mir
sehr viele Chancen gegeben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806302700

Aber ich bin damit fertig, Herr Kollege Michelbach,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)


weil der Versuch zu durchsichtig ist, bei solchen Gele-
genheiten die Redezeit zu verdoppeln. Also, Herr
Gambke, Sie dürfen sich setzen, und der Kollege
Michelbach ist nicht daran gehindert, entweder das zu
sagen, was er ohnehin sagen wollte, oder sich weiterhin
intensiv mit Ihnen zu beschäftigen.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806302800

Herr Präsident, wenn Sie in Ihrer unermesslichen

Weisheit sprechen, höre ich natürlich sofort zu.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich mache das natürlich gerne.

Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass die
Steuer- und Finanzschlupflöcher im Ausland für die
Steuerbehörden bisher kaum auffindbar waren. Insofern
wird hier jetzt mit dem Informationsaustausch der glor-
reiche Endpunkt erreicht. Wir befinden uns in einer opti-
malen Situation, um dieses Kooperationsinstrument der
Steuerbehörden auf den Weg zu bringen.

Da nützt es gar nichts, meine Damen und Herren von
der Opposition, Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung
immer geradezu mit Schaum vor dem Mund zu kritisie-
ren. Über sachliche Überzeugungsarbeit kann ich mich
natürlich freuen. Aber ich habe heute in dieser Debatte
bei Frau Wagenknecht wieder die Attitüde des Klas-
senkampfes erlebt. Ich frage mich: Wo ist Frau
Wagenknecht? –


(Zuruf von der LINKEN: Hier!)


Sie hat hier wieder eine Rundum-Schimpfkanonade ge-
gen alle Steuerzahler vorgeführt und sich dann vom
Acker gemacht, meine Damen und Herren.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Da ist sie wieder. Wunderbar! Dann nehme ich das zu-
rück.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber sie hatte sich kurz vom Acker gemacht!)


Aber meine Äußerung zur Schimpfkanonade war trotz-
dem richtig.





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Ich darf Ihnen sagen: Das Abkommen über den auto-
matischen Steuerdatenaustausch ist kein Grund, sofort
die Abgeltungsteuer zu schleifen und eine Steuererhö-
hung durch die Hintertür einzuführen; das ist meine feste
Überzeugung. Die Abgeltungsteuer bleibt ein wesentli-
ches Mittel zur Steuervereinfachung. Auch darüber muss
man nachdenken. Man kann nicht immer nur Steuerver-
einfachung fordern und dann letzten Endes ein Instru-
ment wie die Abgeltungsteuer sofort schleifen wollen.
Die Leute, die damals schon Steuerpolitik gemacht ha-
ben – etwa meine Kollegin Gerda Hasselfeldt –, wissen,
welche Probleme wir mit dem alten Halbeinkünftever-
fahren hatten. Das ist doch keine Lösung mehr. Die Ab-
geltungsteuer sorgt seit 2009, seit ihrer Einführung
durch Peer Steinbrück, für eine gut kalkulierbare und
nachvollziehbare Besteuerung von Zinsen, Dividenden
und Veräußerungsgewinnen und für einen einheitlichen
Steuersatz von 25 Prozent. Die Kreditinstitute erledigen
die steuerlichen Formalitäten für ihre Kunden. – Herr
Präsident?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806302900

Jetzt möchte der Kollege Ernst noch mal was fragen,

und so, wie ich Sie kenne, lassen Sie das auch zu.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806303000

Ja. Sie kennen mich gut.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806303100

Bitte schön.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806303200

Danke, Herr Dr. Michelbach. Ich entnehme Ihren

Ausführungen bezüglich der Abgeltungsteuer, dass Sie
der Auffassung sind: Sie sollte so bleiben, wie sie ist,
weil die Steuer sonst so kompliziert zu erheben wäre. –
Vorher habe ich von Herrn Schneider gehört, der eben-
falls einer Partei angehört, die zurzeit die Regierung
trägt, dass man die Besteuerung nach seiner Auffassung
ab 2017, wenn der Datenaustausch funktioniert, ändern
sollte. Kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, dass es
zwischen den Koalitionsfraktionen keinesfalls eine
Einigung darüber gibt, dieses aus meiner Sicht absolut
inakzeptable Recht aufrechtzuerhalten, nach dem
Kapitalerträge bei weitem geringer besteuert werden als
die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern?


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1806303300

Herr Kollege Ernst, Sie müssen davon ausgehen, dass

wir uns in dieser Koalition immer einigen.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, ja! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist nur eine Frage der Zeit!)


Natürlich gibt es unterschiedliche Argumente. Gerade
mit den Kollegen Carsten Schneider und Lothar Binding
und anderen Kollegen einigen wir uns immer. Wir haben
eine hervorragende Zusammenarbeit in der Steuer- und
Finanzpolitik. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen:
Steuerrecht ist kein Ersatztummelplatz für den Klassen-
kampf, sondern man muss Argumente austauschen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage ist nicht beantwortet! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist überhaupt nicht beantwortet! Ja oder nein? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir lassen uns gar nicht auf so etwas ein!)


Es ist nun einmal so, dass ein einheitlicher Steuersatz
von 25 Prozent im Hinblick auf Unternehmensbeteili-
gungen und die Aktienkultur sehr transparent ist; er ist
kalkulierbar. Deswegen ist zu hinterfragen, ob man solch
ein Steuervereinfachungsmodell, das von der SPD feder-
führend eingeführt wurde, letzten Endes schleifen sollte.
Wir müssen die Argumente austauschen. Es ist ganz nor-
mal, dass wir uns nach der Beratung darüber einigen
werden. – Jetzt steht der Herr nicht mehr. Ich mache
dann weiter, Herr Präsident.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Frage war sehr einfach, die Antwort kompliziert!)


– Ja, die Frage war einfach. Ich habe sie auch gut beant-
wortet, Herr Kollege Ernst.

Meine Damen und Herren, es steht außer Zweifel:
Der Kampf gegen Steuerhinterziehung kann nur in enger
Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg zum nach-
haltigen Erfolg führen. Deshalb muss es unser Ziel sein,
weitere Staaten von der Unterzeichnung des Abkom-
mens zu überzeugen.

Wir müssen aber auch an anderer Stelle Steuer-
schlupflöcher schließen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)


Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen:
Die Steuergestaltung durch grenzüberschreitende Ge-
winnverlagerungen und willkürliche Gewinnkürzungen
mancher internationaler Konzerne muss ein Ende haben.

Mein Unternehmen steht mit internationalen Konzer-
nen im Wettbewerb. Ich ärgere mich natürlich maßlos,
wenn wir die Steuern in voller Höhe zahlen, sich Kon-
kurrenten andererseits in Deutschland einen schlanken
Fuß machen. Das ist Wettbewerbsverzerrung zulasten
des Mittelstandes. Das wird von uns nachhaltig be-
kämpft werden, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass transnatio-
nale Konzerne ihre Gewinne dort versteuern, wo sie sie
erwirtschaften. Ich glaube, die G-20-Länder haben vor
einem Jahr einen Aktionsplan beschlossen, mit dem
Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne ge-
stopft werden sollen.

Ich freue mich, dass Wolfgang Schäuble diese Auf-
gabe mit großem Engagement weitergetragen hat und
dass es hierfür letztlich Lösungen geben wird. Es muss
Schluss damit sein, dass internationale Großkonzerne
ihre Steuerlast kleinrechnen können.


(Beifall der Abg. Ulli Nissen)






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Es ist schließlich nicht hinnehmbar, dass manche inter-
national agierenden Konzerne Gewinne und Verluste so
lange grenzüberschreitend hin- und herschieben, bis
praktisch keine Steuerlast mehr übrigbleibt. Deswegen
müssen wir dieses Hin- und Herschieben letztlich ver-
hindern. Das ist die Aufgabe.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie einmal den Anträgen der Grünen zu! Da steht das alles drin!)


Wir haben natürlich gleichzeitig die Frage zu beant-
worten: Wie können wir in dieser Zeit durch eine aktive
Steuerpolitik Investitionsförderung betreiben? Wir ha-
ben – das muss man erkennen – eine Investitionslücke in
Deutschland. Zur Schließung dieser Lücke sind zusätzli-
che Investitionen von Unternehmen und Staat in einem
Umfang von etwa 3 Prozent des BIP erforderlich. Das
entspricht etwa 80 Milliarden Euro. Deswegen ist die
richtige Steuerpolitik wichtig.

Jetzt haben wir den großen Erfolg, dass wir keine
Nettoneuverschuldung haben und einen ausgeglichenen
Haushalt verabschieden. Dies wird neue Spielräume er-
öffnen, weil es natürlich nach wie vor Wachstum in
Deutschland gibt. Diese Spielräume werden wir nutzen
müssen, insbesondere beim Thema Abschreibungen. Es
kann nicht sein, dass der Werteverzehr und die Abschrei-
bungen zulasten der Liquidität in den Unternehmen
gehen und damit die Unsicherheit bezüglich der Investi-
tionen steigt. Man muss insbesondere berechenbare, kos-
tengünstige und investitionsfreundliche Rahmenbedin-
gungen schaffen. Daran wollen wir weiterhin arbeiten.
Das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: bei For-
schung und Entwicklung sowie bei den Abschreibungen.

Natürlich haben unsere Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer auch einen Anspruch darauf, dass wir uns
mit dem Thema „Kalte Progression“ befassen – ob das
allen gefällt oder nicht. 1 Prozent Lohnerhöhung bedeu-
tet 1,9 Prozent Steuermehreinnahmen beim Staat. Das ist
ein Thema. Es ist nicht richtig, dass alle Mehreinnahmen
durch die Steigerungen der Leistungskraft nur beim
Fiskus landen. Vielmehr gehört das Geld, das von den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet
wird, zunächst einmal den Arbeitnehmern, also den
Steuerzahlern. Dann erst kommt der Fiskus. So wird ein
Schuh daraus. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns
damit befassen.

Dann werden wir weiterhin Arbeitsplätze schaffen,
und dann werden wir auch in den Bereichen des interna-
tionalen Wettbewerbs weiterhin vorankommen.

Ich bin froh, dass wir diese Erfolge heute feiern kön-
nen, dass wir damit letzten Endes einen Erfolgsweg ge-
hen und unserem Land dienen: den Steuerzahlern, der
Steuerwahrheit und der Steuergerechtigkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806303400

Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806303500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist

nicht einmal zwei Jahre her – es war Dezember 2012 –,
als das von Herrn Schäuble ausgehandelte Steuerabkom-
men mit der Schweiz – ein echter Persilschein für Steu-
erhinterzieher – endgültig scheiterte, und das war gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wolfgang Schäuble warf uns Grünen damals billige Po-
lemik vor. Er behauptete, wer beim Schweizer Steuerab-
kommen wirklich der Meinung sei, man könne da mehr
rausverhandeln, der sei nicht von dieser Welt.

Heute, zwei Jahre nachdem Grüne und SPD im
Bundesrat das Steuerabkommen verhindert haben, Uli
Hoeneß wegen Steuerhinterziehung in der Schweiz
rechtskräftig verurteilt ist


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


und sein Banker in Polen verhaftet worden ist, erhalten
Deutsche mit einem Bankkonto in der Schweiz von ihrer
jeweiligen Schweizer Bank Post mit Informationen über
die neue Weißgeldstrategie der Schweizer Regierung.

In einem solchen Schreiben, das mir vorliegt, heißt es
zum Beispiel – ich zitiere –:

Die Schweizer Regierung hat sich zum automati-
schen Informationsaustausch bekannt.

Weiter:

Für die Finanzinstitute wurde in der Schweiz zu-
dem ein neues Bundesgesetz in die Vernehmlassung
gegeben. Es sieht vor, dass Schweizer Banken die
Steuerkonformität der Vermögen ihrer bestehenden
Kunden abklären müssen. Sollten die Gelder im
Land des Kunden nicht ordnungsgemäß versteuert
sein, ist die Bank gezwungen, die Geschäftsbezie-
hungen mit dem Kunden abzubrechen.

Und schließlich:

Unsere Bank handelt stets gesetzeskonform. Bitte
beachten Sie, dass wir deshalb nächstens eine
Offenlegung oder Bestätigung der ordentlichen
Versteuerung Ihrer Gelder in Ihrem Domizilland
von Ihnen verlangen müssen.

Das ist die Schweiz im Jahr 2014. Ich bin stolz da-
rauf, Herr Schäuble, dass wir Grünen damals in dieser
Frage standhaft geblieben sind und dass es Ihnen auch
nicht gelungen ist, die SPD-geführten Bundesländer
herauszukaufen, obwohl Sie es, wie wir alle wissen, ver-
sucht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn so wurde in der Schweiz ein Wandel möglich, und
so war der Weg frei für das internationale Abkommen
für automatischen Informationsaustausch, unterzeichnet
von 51 Staaten, das Sie heute zu Recht als Meilenstein
im Kampf gegen Steuerhinterziehung bezeichnen.

Die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige,
die heute auch zur Debatte steht, gibt es in Deutschland





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)

seit über 100 Jahren. Die Zahl der Selbstanzeigen war in
den letzten 100 Jahren dennoch durchaus überschaubar.
Das lag aber nicht an der großen Steuerehrlichkeit in un-
serem Lande, sondern an dem sehr geringen Entde-
ckungsrisiko. Das hat sich inzwischen geändert: Der
Aufkauf von Steuer-CDs, das gescheiterte Steuerab-
kommen mit der Schweiz und der nun vereinbarte flä-
chendeckende automatische Informationsaustausch der
Steuerbehörden aus über 50 Ländern haben das Entde-
ckungsrisiko stark erhöht. Umso wichtiger war es, diese
Entwicklung mit einer Verschärfung der Voraussetzun-
gen für eine strafbefreiende Selbstanzeige zu flankieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn nach der derzeit geltenden Regelung ist es immer
noch so, dass sich das Zuwarten bei der Selbstanzeige fi-
nanziell lohnen kann. Lassen Sie mich das an einem Bei-
spiel deutlich machen.

Alice Schwarzer hat nach eigenen Angaben mehr als
20 Jahre lang Steuern hinterzogen, muss aber nach gel-
tender Gesetzeslage nur für maximal zehn Jahre nach-
zahlen und für fünf Jahre einen fünfprozentigen Straf-
zins zahlen. Das heißt, sie ist mit ihrer Selbstanzeige nach
geltender Gesetzeslage nicht nur einem Strafverfahren
entgangen – das ist der Sinn des Gesetzes –, sondern sie
hat gegenüber dem Steuerehrlichen immer noch viel
Geld gespart. Das darf nicht sein! Das muss aufhören!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der vorliegende Gesetzentwurf ändert das. Im Rah-
men der Finanzministerkonferenz sind Verschärfungen
erarbeitet worden, die zu den neuen Rahmenbedingun-
gen passen und die sicherstellen, dass der Steuerehrliche
in Deutschland eben nicht mehr der Dumme ist.

Die Ankündigung der Verschärfung hat auch schon
sichtbare Effekte: Waren es 2013 mit 25 000 Selbstan-
zeigen schon dreimal so viel wie 2012, so ist die Zahl im
Jahr 2014 noch einmal deutlich angestiegen und lag im
Oktober bereits bei knapp 32 000 Selbstanzeigen mit
Mehreinnahmen für den Fiskus in Milliardenhöhe.

Die Reformvorschläge, an denen auch die Finanz-
ministerinnen von den Grünen aus Schleswig-Holstein
und Bremen, Monika Heinold und Karoline Linnert, mit-
gewirkt haben, tragen eine deutlich grüne Handschrift.
Die Absenkung der Grenze hin zu schwerer Steuerhin-
terziehung von bisher 50 000 Euro auf 25 000 Euro, die
deutliche Anhebung und Staffelung des Geldzuschlages,
der bei hinterzogenen Steuern anfällt, und die Verdoppe-
lung der Nacherklärungsfrist von fünf auf zehn Jahre –
das sind wichtige Punkte. Wir setzen uns dafür ein, dass
an ihnen am Ende, nachdem das Gesetz das Parlament
passiert hat, auch festgehalten wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine besondere Schwierigkeit gab und gibt es bei den
sogenannten Anmeldesteuern, also bei der Lohn- und
der Umsatzsteuer, insbesondere bei der Umsatzsteuer.
Derzeit können Vorsteueranmeldungen, die um wenige
Tage verspätet eingereicht werden, als vollendete Steuer-
hinterziehung bewertet werden. Das will aber tatsächlich
niemand, weil das offensichtlich lebensfremd ist. Mittel-
ständische Unternehmen erreichen die Grenze von
25 000 Euro, ab der eine Umsatzsteueranmeldung not-
wendig ist, schnell, zumal bei der Berechnung, ob diese
Grenze erreicht wurde, auf den zu spät deklarierten Um-
satzsteuerbetrag und nicht auf den tatsächlich entstande-
nen Steuerschaden abgestellt wird. Deswegen sind wir
froh, dass in dem Gesetzentwurf jetzt eine gute Formu-
lierung gefunden worden ist. Allerdings ist zu fragen
– diesbezüglich sehen wir für die Anhörung noch Dis-
kussionsbedarf –, inwieweit das vollständig gut geregelt
ist und ob es bei der Jahreserklärung vielleicht doch
noch Anpassungen geben sollte. Hier sehen wir tatsäch-
lich noch Prüfungs- und Änderungsbedarf.

Ich fasse aus Sicht der Grünen zusammen: Wir sind
Schritte vorangekommen. Wichtige Bausteine liegen
vor. Finanzminister Schäuble kann in gewisser Weise für
sich in Anspruch nehmen, international vom Saulus zum
Paulus geworden zu sein.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur da!)


Aber es müssen noch weitere Schritte folgen, und zwar
die, die auf nationaler Ebene möglich sind: Die Abgel-
tungsteuer gehört abgeschafft. Die Argumente dafür
wurden heute schon mehrfach genannt. Wir brauchen sie
jetzt nicht mehr. Es macht einfach keinen Sinn, Kapital-
einkommen geringer zu besteuern als Arbeitseinkom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wenn der Austausch dann läuft! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steuerkomplizierung lässt grüßen! Steuerbürokratie lässt grüßen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806303600

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806303700

Ich komme zum Schluss. – Auch das Thema Steuer-

gestaltung müssen wir noch stärker angehen. Auch da
kann man auf nationaler Ebene etwas machen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zum Abschluss den Minister loben, und dann ist Schluss!)


158 Milliarden Euro gehen dem deutschen Fiskus jedes
Jahr verloren, nicht nur wegen Steuerhinterziehung, son-
dern auch wegen Steuergestaltung. Das ist eine große
Summe. Das kann so nicht bleiben. Deswegen brauchen
wir dringend eine effizientere und transparentere Steuer-
verwaltung, die mit den internationalen Konzernen auf
Augenhöhe operieren kann. Deswegen fordern wir Sie
erneut auf: Machen Sie es mit uns zusammen, richten
Sie eine Spezialeinheit auf Bundesebene ein, die auf
Steuerhinterziehung und Steuergestaltung reagieren
kann. Wir brauchen eine solche Spezialeinheit – Stich-
worte „hohe Einkommen“ und „international agierende
Unternehmen“ –






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806303800

Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806303900

– Entschuldigung –, damit wir endlich dazu kommen,

dass die Finanzämter in diesem Land mit den Steuerge-
staltern in den großen Steuerabteilungen der großen in-
ternationalen Konzerne auf Augenhöhe operieren kön-
nen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806304000

Ich bitte sehr um Nachsicht. Ich lege die Redezeiten

nicht fest. Ich muss nur darauf achten, dass das, was wir
selbst beschlossen haben, auch einigermaßen eingehal-
ten wird. Es erleichtert uns die Arbeit sehr, wenn sich
alle darum bemühen, sich an die Vorgaben zu halten.

Der Kollege Andreas Schwarz ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andreas Schwarz (SPD):
Rede ID: ID1806304100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der spätere
langjährige Präsident des Deutschen Reichstages, der
Sozialdemokrat Paul Löbe, hat am 17. Dezember 1919
in der verfassunggebenden Nationalversammlung in ei-
ner bemerkenswerten Rede unter anderem Folgendes
ausgeführt – ich zitiere –:

Gerade im letzten Jahr hat sich das öffentliche Ge-
wissen und die öffentliche Stimme immer lauter ge-
gen diejenigen gekehrt, die als Steuerschieber oder
-flüchtlinge einen Teil ihres Vermögens vor der all-
gemeinen Not des Volkes in Sicherheit gebracht ha-
ben. Es liegt keinerlei Anlass vor, über sie die
schützenden Hände zu erheben.

Zitatende.


(Beifall bei der SPD)


Man sieht, die Bekämpfung der Steuerhinterziehung
war und ist für die SPD immer auch eine Frage der Ge-
rechtigkeit. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt
man laufen“, so lautet ein bekanntes Sprichwort.

Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten
nach der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuer-
flucht den Eindruck gewonnen, dass sich Wohlhabende
vom Tatbestand der Steuerhinterziehung freikaufen kön-
nen. Der Schaden, den Steuerbetrug anrichtet, ist also
nicht nur fiskalischer Natur. Nein, er hat auch eine ge-
sellschaftspolitische Dimension. Das Gerechtigkeitsge-
fühl der Menschen in diesem Lande wird erschüttert.
Hier können und dürfen wir nicht tatenlos bleiben. Des-
halb handeln wir.
Steuerbetrug ist Betrug an der Allgemeinheit und ver-
baut Zukunftschancen. Daher ist es richtig und wichtig,
dass wir die Regelungen für die strafbefreiende Selbst-
anzeige verschärfen. Wir wollen, dass der Staat die Steu-
ern erhält, die ihm zustehen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und wir wollen das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölke-
rung wieder ins Lot bringen.

Der vorliegende Gesetzentwurf gibt darauf überzeu-
gende Antworten und findet daher die volle Unterstüt-
zung der SPD-Bundestagsfraktion. Wir schaffen die
Selbstanzeige ausdrücklich nicht ab. Ja, die Hand des
Staates bleibt ausgestreckt, aber – das ist für uns ent-
scheidend – zu deutlich erschwerten Bedingungen. Der
amtierende thüringische Finanzminister Wolfgang Voß
hat das im April 2014 überzeugend zusammengefasst
– ich zitiere –:

Die Selbstanzeige wird für Steuerhinterzieher unbe-
quemer, bleibt aber weiterhin handhabbar.

Steuerbetrug darf sich niemals lohnen. Deshalb ist es
richtig, dass wir die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
nicht verbauen, aber eben deutlich erschweren und vor
allen Dingen teurer machen.

Es ist kein Geheimnis, dass es innerhalb der SPD zu
Beginn durchaus auch kontroverse Ansichten zur Beibe-
haltung der Selbstanzeige gab. Dass wir die Selbstan-
zeige am Ende aber sogar vor dem bayerischen Finanz-
minister Markus Söder retten mussten, ist schon ein
Novum. Herr Söder wollte im Frühjahr 2014 eine Ober-
grenze diskutieren lassen, ab der eine Selbstanzeige ge-
nerell unwirksam sein sollte. Aber so ist es nach langen,
sehr konstruktiven Gesprächen und Verhandlungen nicht
gekommen. Von Beginn an wurde von der Bund-Länder-
Arbeitsgruppe und der Finanzministerkonferenz partei-
übergreifend eine ganz klare Botschaft ausgesendet:
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird
konsequent bekämpft und bestraft.


(Beifall bei der SPD)


Bund und Länder haben – bei durchaus unterschiedli-
chen Auffassungen im Detail – an einem Strang gezo-
gen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung setzt die gemeinsam verabredeten Beschlüsse
überzeugend um. Für die geleistete Arbeit sprechen wir
Herrn Bundesfinanzminister Dr. Schäuble, dem Vor-
sitzenden der Finanzministerkonferenz, Dr. Walter-
Borjans, und allen Beteiligten unseren herzlichen Dank
aus. Das Ergebnis bei der Abstimmung des Finanzaus-
schusses des Bundesrates vorletzte Woche spricht eben-
falls für sich: Bei 15 Jastimmen und einer Enthaltung
durch Brandenburg wurde beschlossen, diesen Gesetz-
entwurf dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorzule-
gen – ohne Änderung.

Am 8. Oktober 2014 erklärte der hessische Finanz-
minister, Herr Schäfer:

Die Selbstanzeige bleibt ein wirksames Instrument
zur Bekämpfung von Steuerkriminalität. Dass der





Andreas Schwarz


(A) (C)



(D)(B)

Bund zum 1. Januar 2015 unter aktiver Mitarbeit
Hessens eine Verschärfung der Bedingungen für
eine Selbstanzeige plant, zeigt bereits jetzt Wir-
kung.

Recht hat er. Man muss ja oft Jahre warten, bis sich
ein Gesetz als erfolgreich herausstellt. Manchmal, so
hört man, wird nie etwas daraus. Welcher Gesetzentwurf
bringt hingegen bereits Milliarden an Mehreinnahmen,
bevor er überhaupt verabschiedet ist? Keine Frage, ein
solch erfolgreiches Gesetz ist ein gutes Gesetz. Den
Druck auf Steuerbetrüger zu erhöhen, hat sich unbe-
streitbar als der richtige Weg erwiesen. Bis dato gingen
in diesem Jahr schon 32 000 Selbstanzeigen bei den
Steuerbehörden ein, und im vergangenen Jahr waren es
rund 24 000 Anzeigen – ein toller Erfolg. Diesen Weg
werden wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzent-
wurfes konsequent weitergehen.

Wir begrüßen ebenfalls, dass die Straffreiheitsgrenze
auf 25 000 Euro abgesenkt wird. Wer im Bereich von
Kapitalerträgen 25 000 Euro an Steuern hinterzieht, hat
100 000 Euro an Zinsen nicht angegeben und somit bei
einem unterstellten Zinssatz von 2 Prozent 5 Millionen
Euro vor dem Fiskus versteckt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Diese Armut!)


Hier geht es nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, hier geht
es um massiven Steuerbetrug. Deshalb ist die Absen-
kung der Straffreiheitsgrenze wohl sehr begründet.

Noch ein Wort zu den Anmeldesteuern. Das Schwarz-
geldbekämpfungsgesetz von 2011 hat die Problematik
im Hinblick auf die Anmeldesteuern der Unternehmer ja
erst geschaffen. Deshalb begrüßen wir, dass die Teil-
selbstanzeige bei der Lohn- und Umsatzsteuervoranmel-
dung wieder möglich ist. Dieser Gesetzentwurf hat also
nicht nur Verschärfungen und strenge Regelungen zum
Inhalt, sondern er bietet auch praxisorientierte Verbesse-
rungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir,
dass ich diese Rede mit einem Zitat des großen Sozialde-
mokraten Paul Löbe schließe – seine Worte vom 17. De-
zember 1919 sind fast 100 Jahre alt, haben aber an Ak-
tualität nichts eingebüßt. Ich zitiere:

Gleiches Recht für alle, besonders aber gleiches
Recht dem ehrlichen Steuerzahler, der es nicht ver-
dient, dass diejenigen geschont werden, die in den
vergangenen Jahren ihrer Pflicht gegenüber der All-
gemeinheit nicht nachgekommen sind.

Dieser Aufforderung kommt der vorgelegte Gesetzent-
wurf in vollem Umfang nach.

Deshalb kann man auf die Unterstützung der SPD-
Bundestagsfraktion zählen. Wir freuen uns auf weiterhin
gute Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen der
Union und gute Debatten im Finanzausschuss und im
Parlament.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806304200

Bettina Kudla ist die nächste Rednerin für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1806304300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich zunächst einmal auf das Steuerabkommen mit
der Schweiz eingehen, weil dies hier mehrfach kritisch
angesprochen wurde. Ich wundere mich, wie Politiker
stolz darauf sein können, dass sie verhindert haben, dass
aus der Schweiz Milliarden an Steuern nach Deutschland
fließen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!)


Deshalb muss man einmal fragen, wer denn die Verant-
wortung dafür trägt, dass dem deutschen Staat Milliar-
den an Steuereinnahmen entgehen. Mit der Unterzeich-
nung des Abkommens wären 2 Milliarden Euro sofort
geflossen.


(Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Steuereinnahmen in Höhe von 10 Milliarden Euro sind
prognostiziert worden. Wer die harte Nuss Schweiz kna-
cken will, der muss erst einmal ein unterschriebenes Ab-
kommen vorlegen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schweizer sind viel weiter! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da hat uns FATCA geholfen, nicht dieses Abkommen!)


Momentan beteiligt sich die Schweiz noch nicht an
dem automatischen Informationsaustausch. Nach dem
ursprünglich vorgesehenen Abkommen wären künftige
Kapitalerträge genauso wie in Deutschland besteuert
worden. Es hätte also gar keinen Sinn mehr gemacht,
Geld in die Schweiz zu transferieren.

Hinsichtlich der Abgeltungsteuer wurde hier gesagt,
man wolle das genauso wie mit der Lohnsteuer handha-
ben. Das macht aber doch gar keinen Sinn. Es hat seinen
guten Grund, dass die Abgeltungsteuer nicht so behan-
delt wird wie die Lohnsteuer, weil man Kapitaleinkünfte
nicht so einfach greifen kann wie die Steuer des Arbeit-
nehmers. Deswegen hat die Abgeltungsteuer durchaus
ihren Sinn.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Nun zum Gesetzentwurf zur strafbefreienden Selbst-
anzeige. Zunächst zur Ausgangslage. Die Bekämpfung
der Steuerhinterziehung ist ein wesentliches Ziel der Ko-
alition. Die Selbstanzeige als Fall der Straffreiheit nach
Beendigung des Delikts ist daher immer wieder rechtfer-
tigungsbedürftig. Mit dem Schwarzgeldbekämpfungsge-
setz wurden die Voraussetzungen für eine strafbefrei-
ende Selbstanzeige im Jahr 2011 deutlich verschärft. Der
aktuelle Gesetzentwurf setzt die Eckpunkte der Be-
schlüsse der Finanzministerkonferenz vom Mai 2014
um.





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)

Kern des Gesetzes ist, dass das Instrument der Selbst-
anzeige beibehalten wird. Folgende Leitplanken dienen
dem Gesetz als Grundlage: Es wird immer die Abwä-
gung getroffen zwischen dem Gebot der gerechten Be-
strafung und der pragmatischen Ermöglichung der Rück-
kehr in die Legalität. Die strafbefreiende Selbstanzeige
soll dem Steuerpflichtigen den Weg in die Steuerehrlich-
keit eröffnen, sofern dieser Steuern hinterzogen hat. Der
strafrechtliche Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accu-
sare“, wonach niemand an seiner eigenen Überführung
mitwirken muss, muss trotz der erheblichen Mitwir-
kungspflichten des Steuerpflichtigen auch im Steuer-
strafrecht Geltung behalten.

Die Öffentlichkeit ist durch die Diskussion der ver-
gangenen Monate erheblich sensibilisiert worden. Es ist
ein stärkerer Verfolgungsdruck entstanden, und die Zahl
der strafbefreienden Selbstanzeigen hat sich deutlich er-
höht. Das ist zu begrüßen.

Ich möchte aber auch betonen, gerade was die Sensi-
bilisierung der Öffentlichkeit betrifft: Das Recht des
Bürgers auf die Wahrung des Steuergeheimnisses besteht
nach wie vor.

Im Einzelnen zum Gesetz. Wie im Koalitionsvertrag
vorgesehen, wird – wir haben es jetzt schon mehrfach
gehört – der Nacherklärungszeitraum auf zehn Jahre aus-
gedehnt. Das schafft mehr Rechtssicherheit. Bisher
mussten fünf Jahre nacherklärt werden, und für weiter
zurückliegende Zeiträume wurde geschätzt. Es tritt ein
Sperrgrund ein: Nur wer den Strafzuschlag bezahlt,
bleibt straffrei. Die Staffelung des Zuschlags führt zu ei-
ner deutlichen Verschärfung bei der strafbefreienden
Selbstanzeige. Wichtige neue Voraussetzung für die
Wirksamkeit ist, dass die Hinterziehungszinsen sofort
mit Abgabe der Selbstanzeige entrichtet werden; aller-
dings ist es auch hier gängige Praxis, dass die Finanzäm-
ter eine angemessene Frist setzen. Das ist auch notwen-
dig; denn die Belange der kleinen und mittelständischen
Betriebe müssen berücksichtigt werden. Das Gesetz soll
dazu dienen, dem Steuerpflichtigen zu mehr Steuerehr-
lichkeit zu verhelfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Bereich der Anmeldesteuern wird eine Teilselbstan-
zeige ermöglicht, damit Korrekturen – Fehler passieren
nun einmal im betrieblichen Alltag – nicht kriminalisiert
werden. Die Berichtigungsvorschrift bzw. die ausdrück-
liche Berichtigungsmöglichkeit des § 153 AO gilt nach
wie vor. Das ist wichtig für die Rechtssicherheit der Un-
ternehmen. Wir haben ferner in dem Gesetz vorgesehen,
dass eine Anlaufhemmung der steuerrechtlichen Festset-
zungsverjährung eintritt bei Kapitalerträgen aus Län-
dern, die am automatischen Informationsaustausch nicht
teilnehmen. Das ist ein deutliches Signal an diejenigen
Steuerpflichtigen, die ihr Geld in Steueroasen anlegen
und dem Fiskus die Einnahmen verschweigen.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung findet einen angemessenen
Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und
beendet vorhandene Missstände. Das Gesetz wird dazu
beitragen, dass die Zahl der Fälle von Steuerhinterzie-
hung, insbesondere großen Ausmaßes, zurückgehen
wird.


(Beifall der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU] und Lothar Binding [SPD])


Gleichzeitig bleiben die positiven Wirkungen der Selbst-
anzeige erhalten. Das wären insbesondere die Möglich-
keit der Rückkehr in die Legalität, die Stabilisierung der
Steuereinnahmen, die Vermeidung des verfassungsrecht-
lich schwierigen Aufeinanderprallens von Selbstbelas-
tungsfreiheit im Strafrecht und weitreichender Mitwir-
kungspflicht im Steuerrecht.

Es liegt ein wirksamer Gesetzentwurf gegen Steuer-
hinterziehung vor, der in einigen wenigen Details noch
auf seine Praxistauglichkeit, insbesondere im Hinblick
auf anschlussgeprüfte Unternehmen, überprüft werden
muss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806304400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Carsten Sieling,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU])



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1806304500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich
kann man – erstens – die Debatte heute zusammenfassen
unter der Überschrift: Am Ende wird alles gut.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee! Wir sind noch auf dem Weg!)


Nach vielen Jahren der Debatte haben wir hier jetzt ei-
nen Konsens, der am Ende doch relativ breit ist, einen
Konsens dahin gehend, dass Selbstanzeigen zu einem
wirklich wirksamen Schwert gemacht werden müssen
und so ausgestaltet werden müssen, dass sie einen wirk-
sameren Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterzie-
hung bieten. Das ist der Kern dessen, was wir heute be-
schließen. Punkt zwei: Das Bankgeheimnis wird mit
dem Informationsaustausch wegfallen. Auch hierüber
herrschte nicht immer Konsens. Das Dritte: Auch die
Steuerschlupflöcher von Konzernen sollen und müssen
international bekämpft werden.


(Beifall bei der SPD)


Es ist gut, dass wir hierbei einer Meinung sind. Man
hat aber an dem einen oder anderen Redebeitrag ge-
merkt, dass der Weg dahin steinig und ein bisschen holp-
rig war. Frau Kollegin Kudla hat eben deutlich gemacht,
welche Schwierigkeiten es manchen Abgeordneten berei-
ten kann, diesen Punkten zuzustimmen. An dem Versuch,
das geplante deutsch-schweizerische Steuerabkommen
zu rechtfertigen, hat man das gesehen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da haben wir auch nicht geklatscht!)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

Ich will an dieser Stelle auch sagen, Herr Bundes-
finanzminister: Sie haben sich mit Ihrer ganzen Hartnä-
ckigkeit für den Abschluss des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens eingesetzt. Man muss aber doch am
Ende feststellen, dass es gut gewesen ist, dass wir Ihnen
in den vergangenen Jahren mit dem Scheitern des Steu-
erabkommens den Weg eröffnet und die Möglichkeit ge-
geben haben, Ihre ganze Hartnäckigkeit dafür einzuset-
zen, den richtigen Weg einzuschlagen: gegen das
Bankgeheimnis und für den Informationsaustausch. Ich
finde es gut, dass wir dafür jetzt gemeinsam stehen und
Fehler beseitigt haben.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich die Angelegenheit mit dem Bankge-
heimnis etwas genauer betrachten. Ich will hier im
Hause daran erinnern, dass es Anfang dieses Jahrtau-
sends in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung Fi-
nanzminister Eichel war, der einen Gesetzesvorschlag
gemacht hat, das Bankgeheimnis aufzuheben. Dieser
Vorstoß ist damals an einer Bundesratsmehrheit unter
der Führung eines Ministerpräsidenten gescheitert, der
seinen Weg in die Wirtschaft gefunden hat und diesen
Weg jetzt auch schon wieder verlassen musste, nämlich
von Herrn Koch aus Hessen.

Die Einführung des Informationsaustausches hätte
zehn Jahre früher kommen können. Aber auch da will
ich sagen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Vielleicht sollten wir froh sein, dass wir
das heute zusammen beschließen. Uns Sozialdemokra-
ten gibt das an dieser Stelle ein gewisses Gefühl der
Selbstzufriedenheit, weil wir mit den heutigen Beschlüs-
sen in der Steuerpolitik einen richtig großen Schritt vo-
rankommen werden.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder: Mit der Deutschland AG haben Sie alles falsch gemacht!)


Ein paar Dinge sind noch anzugehen. Ich will nur eine
Sache herausgreifen, die Abgeltungsteuer. Auch hier
vernehme ich einen großen Konsens darüber, dass wir
dieses Thema weiter bearbeiten müssen. Bei allen unter-
schiedlichen Akzenten und Betonungen, die es an dieser
Stelle gibt, scheint mir auch die Frage wichtig zu sein:
Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt, sich damit
auseinanderzusetzen?


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt!)


– Der richtige Zeitpunkt kann nicht erst 2017 sein. Wir
und auch Sie, Frau Kollegin Andreae, argumentieren,
dass die Geschäftsgrundlage für die Abgeltungsteuer
durch den automatischen Informationsaustausch entfal-
len sei. Der richtige Zeitpunkt für die Überführung der
Abgeltungsteuer zurück in die Einkommensteuer ist der
Tag, an dem der automatisierte Informationsaustausch
beginnt. Das wird entweder 2017 oder 2018 sein. Wenn
man das erreichen will – das ist der wesentliche Punkt –,
dann muss man jetzt mit der Arbeit anfangen.

2017 liegt noch in dieser Legislaturperiode – 2018
liegt außerhalb dieser Legislaturperiode –, sodass wir es
uns als Große Koalition mit Handlungsverantwortung
und mit einem Bundesfinanzminister, der hier sehr oft
deutlich gemacht hat, dass es systematisch richtig wäre,
die Abgeltungsteuer wieder in die Einkommensteuer zu
überführen, gar nicht erlauben können, uns nicht auf den
Weg zu machen.

Dies ist auch deswegen so wichtig, weil es viele
schwierige Fragen zu klären gibt. Stichwort Zinsein-
künfte: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang damit
um? Wollen wir wieder zurück zur Anrechnung von tat-
sächlichen Werbungskosten, oder erhalten wir weiterhin
die Freibeträge aufrecht? Stichwort Veräußerungsge-
winne: Die Spekulationsfrist ist abgeschafft worden.
Diese Regelung müssen wir meines Erachtens beibehal-
ten. Auch bei den Dividenden gibt es wichtige Fragen,
die sachpolitisch zu klären sind.

Heute ist der Tag, an dem vieles gut wird. Aber das
heißt nicht, dass es in Zukunft nicht noch besser werden
darf. Es gibt viele Aufgaben, an die wir politisch heran-
gehen wollen. Wir Sozialdemokraten werden das tun.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806304600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Uwe Feiler, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Feiler (CDU):
Rede ID: ID1806304700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung der Abgabenordnung und des Einfüh-
rungsgesetzes zur Abgabenordnung, den wir heute in
erster Lesung miteinander diskutieren, knüpfen wir an
eine durchaus kontroverse und lange öffentliche Debatte
an, die wir nun auch parlamentarisch zum Abschluss
bringen werden.

Der etwas sperrige Titel des Gesetzentwurfs sollte uns
dennoch nicht daran hindern, diesen Baustein zur Be-
kämpfung von Steuerhinterziehung durch die Weiterent-
wicklung des Instruments der strafbefreienden Selbstan-
zeige zu würdigen. Aus meiner Sicht lohnt es sich, noch
einmal deutlich zu machen, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige nicht nur eine Möglichkeit für Steuerhin-
terzieher darstellt, unter nunmehr verschärften Bedin-
gungen wieder zurück in die Gemeinschaft der ehrlichen
Steuerzahler zu finden, die wir bis auf verhältnismäßig
wenige Ausnahmen in Deutschland ja auch haben. Sie
ist vielmehr auch im Interesse des ehrlichen Steuerzah-
lers und der Finanzverwaltung.

Meine Damen und Herren, wer die Abschaffung der
strafbefreienden Selbstanzeige fordert, verkennt, dass in
kaum einem anderen Rechtsgebiet eine derart umfas-
sende Mitwirkung verlangt wird wie im Steuerrecht.
Umgekehrt fordert die Tatentdeckung nirgendwo einen
derartigen Einsatz an hochqualifiziertem Personal und
vor allem Zeit. Der Einsatz von mehr Steuerfahndern in
den Finanzämtern reicht hierbei allerdings nicht aus. Wir





Uwe Feiler


(A) (C)



(D)(B)

müssen den Finanzbehörden auch die nötigen Werk-
zeuge an die Hand geben.

Die Tatentdeckung im Steuerrecht ist deutlich schwie-
riger als in anderen Rechtsgebieten. Beim Bankraub
merkt der Filialdirektor spätestens am Montagmorgen,
wenn er den Tresorraum aufschließt, dass der Tresor leer
und irgendetwas nicht in Ordnung ist. Das Konto in der
Schweiz, in Liechtenstein oder anderswo finden Sie so
schnell nicht, und wir brauchen in der Finanzverwaltung
die entsprechenden Werkzeuge, um derartige Konten zu
finden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD])


Wer die Politik der Bundesregierung und der Regie-
rungskoalition aufmerksam verfolgt, muss bei objektiver
Betrachtung feststellen, dass große Anstrengungen un-
ternommen wurden, um Steuerhinterziehung wirksam zu
bekämpfen. Deshalb ist es wichtig, den Blick nicht nur
auf das Instrument zu richten, sondern auch zu beurtei-
len, wie sich die strafbefreiende Selbstanzeige in den ge-
samten Instrumentenkasten einfügt.

Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche
haben sich in Berlin auf Einladung von Bundesfinanz-
minister Schäuble die Finanzminister von 51 Staaten da-
rauf verständigt, ab September 2017 den automatischen
Informationsaustausch für Besteuerungszwecke einzu-
führen. Jeder, der mit politischen Prozessen vertraut ist,
weiß, welches Verhandlungsgeschick, aber auch welche
Durchsetzungsstärke vonnöten ist, um die divergieren-
den Interessen von 51 Staaten unter einen Hut zu brin-
gen. Wir haben eben schon von einem Meilenstein ge-
hört. Für mich als ehemaligen Angehörigen der
Steuerverwaltung ist es ein Felsblock. Herr Bundes-
minister, vielen Dank, dass Sie diesen Felsblock gesetzt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutschland gehört damit gemeinsam mit anderen
Staaten zu den Vorreitern dabei, Steuerhinterziehung ef-
fizient und effektiv zu bekämpfen und im Interesse des
ehrlichen Steuerzahlers Einnahmen für den Staat zu si-
chern. Ich bin mir sicher, dass den 51 Staaten, die sich
bisher schon beteiligen, noch weitere Staaten folgen
werden.

Fest steht aber auch, dass es bei 194 Staaten, die es
weltweit gibt, und 51 teilnehmenden Staaten auch in Zu-
kunft weiterer Instrumente bedarf, um Steuerhinterzie-
hung und Steuerflucht wirksam zu verhindern. Das von
der OECD angestoßene BEPS-Projekt wird dazu beitra-
gen, dass dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt. Ich
freue mich bereits auf die Debatten zu diesem Thema im
kommenden Jahr.

Deshalb ist es im Zusammenspiel mit dem oben ge-
nannten Abkommen in der EU auch richtig, dass der au-
tomatische Informationsaustausch weiter verbessert wird
und auch Dividenden, Veräußerungsgewinne aus Wert-
papieren, andere Finanzprodukte, sonstige Finanzerträge
und Kontoguthaben mit einbezogen werden sollen.
Meine Damen und Herren, der zunehmende Verfol-
gungsdruck wird zu einer weiteren Erhöhung der Anzahl
der Selbstanzeigen führen. Steuersünder werden diese
Kronzeugenregelung dafür nutzen, sich ehrlich zu ma-
chen, um wieder in die Gemeinschaft der ehrlichen
Steuerzahler zurückzufinden. Ohne die Möglichkeit der
Selbstanzeige würden wir aufgrund der steuerlichen Ver-
jährungsfristen auf Einnahmen verzichten. Das führt
ebenfalls zu weniger Steuergerechtigkeit.

Hier sind natürlich auch die Länder gefragt und in die
Pflicht genommen, ihre Finanzämter mit ausreichend
Personal auszustatten, um die gewonnenen Erkenntnisse
entsprechend verarbeiten zu können. Hier bleibt für
mich festzustellen, dass auch mein Heimatland Branden-
burg mit einem Personalbesatz von circa 85 Prozent der
Personalbedarfsberechnung nicht gerade positiv hervor-
tritt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist besser als Bayern!)


In der öffentlichen Diskussion wird die strafbefrei-
ende Selbstanzeige oft lediglich im Zusammenhang mit
hinterzogenen Steuern bei Kapitalerträgen betrachtet.
Bei den beispielhaft genannten prominenten Einzelfällen
wird aber vollkommen außer Acht gelassen, dass weitere
Steuerverkürzungen zum Beispiel bei anderen Ein-
kunftsarten oder bei den Anmeldesteuern für eine Selbst-
anzeige infrage kommen können. Die strafbefreiende
Selbstanzeige soll und darf jedoch kein Wellnessangebot
für Steuerhinterzieher darstellen. Deshalb wird – ge-
nauso wie bisher – eine umfassende Mitwirkungspflicht
dem Steuerpflichtigen abverlangt, gerade um eine ver-
meintliche Besserstellung gegenüber dem ehrlichen
Steuerzahler zu unterbinden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Konkret soll künftig die strafbefreiende Wirkung der
Selbstanzeige nur noch bei hinterzogenen Beträgen bis
zu 25 000 Euro statt wie bisher bis zu 50 000 Euro ein-
treten. Hinzu kommt, dass bei hinterzogenen Steuern auf
Kapitalerträge, die nicht automatisch übermittelt wer-
den, die Anlaufhemmung bei der steuerrechtlichen Fest-
setzungsverjährung ab dem 1. Januar 2015 bis zu zehn
Jahre betragen kann. In Verbindung mit der generellen
Ausdehnung des Berichtigungszeitraums auf zehn Jahre
wird deutlich, dass wir fest entschlossen sind, dieses In-
strument zu behalten, aber auch Anpassungen vorzuneh-
men, die deutlich machen, dass Steuerhinterziehung kein
Kavaliersdelikt darstellt.

Richtig finde ich auch, zukünftig Anstifter und Gehil-
fen in den Kreis derjenigen aufzunehmen, die einer
Sperre nach § 371 Absatz 2 AO unterliegen und von der
Strafbefreiung ausgenommen werden. Das schließt im
Übrigen Amtsträger, die ihre Position missbrauchen, ein.
Wichtig ist mir an dieser Stelle, zu unterstreichen, dass
wir in § 371 aber auch die Möglichkeit der Korrektur
von Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueran-
meldungen verbessert haben, sodass sich Betriebe nicht
dem Verdacht der Steuerhinterziehung ausgesetzt sehen





Uwe Feiler


(A) (C)



(D)(B)

müssen. Das Gleiche gilt für anschlussgeprüfte Betriebe,
die nunmehr für nicht auf einer Prüfungsanordnung auf-
geführte Steuerarten und Zeiträume zum Mittel der
Selbstanzeige greifen können. Wie wir bereits gehört ha-
ben, bleibt uns § 153 AO in der bisherigen Form erhal-
ten. Der Unterschied liegt hier in der Strafbarkeit und
der Nichtstrafbarkeit. Wer also eine berichtigte Steuer-
erklärung abgibt, kann auch zukünftig darauf hoffen,
nicht mit einem Strafverfahren konfrontiert zu werden.
Das ist bislang in der Praxis leider ein wenig anders. Ich
freue mich, dass es uns in der Fraktion gelungen ist, mit
dem Bundesfinanzministerium übereinzukommen, dass
wir zu § 153 eine klarstellende Regelung in Form eines
Erlasses erhalten werden.

Die zu leistenden Geldbeträge nach § 398 a AO wer-
den angepasst und zukünftig gestaffelt. 10 Prozent der
hinterzogenen Steuern werden bei Beträgen bis zu
100 000 Euro fällig, 15 Prozent bei Beträgen bis zu
1 Million Euro und 20 Prozent bei darüber hinausgehen-
den Beträgen. Damit wird dem Umstand Rechnung ge-
tragen, dass sich die Schuld des Straftäters bei der zu
vermeidenden Strafbemessung an der Höhe der hinterzo-
genen Steuern orientiert.

Noch ein kurzes Wort zur Abgeltungsteuer. Solange
der vereinbarte Informationsaustausch nicht funktio-
niert, brauchen wir weiterhin eine Abgeltungsteuer. Des-
wegen ist es falsch, bereits über ihre Abschaffung zu
diskutieren. Ebenso falsch ist, ein wahres Bürokratie-
monster wie das Halbeinkünfteverfahren wiederzubele-
ben. Wir müssen schauen, was wir hier in Zukunft ma-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss
und die dazugehörigen Anhörungen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806304800

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3018 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu weitere Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie
Zusatzpunkt 1 auf:

5 a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt-
linie 2014/59/EU des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 15. Mai 2014
zur Festlegung eines Rahmens für die Sa-
nierung und Abwicklung von Kreditinsti-
tuten und Wertpapierfirmen und zur Än-
derung der Richtlinie 82/891/EWG des
Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/
47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/
36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und
2013/36/EU sowie der Verordnungen

(EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/

2012 des Europäischen Parlaments und
des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz)


Drucksachen 18/2575, 18/2626

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über
die Übertragung von Beiträgen auf den
einheitlichen Abwicklungsfonds und
über die gemeinsame Nutzung dieser
Beiträge

Drucksachen 18/2576, 18/2627

Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-
nanzausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/3088

b) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des
ESM-Finanzierungsgesetzes

Drucksachen 18/2577, 18/2629

– Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung der Fi-
nanzhilfeinstrumente nach Artikel 19
des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur
Einrichtung des Europäischen Stabili-
tätsmechanismus

Drucksachen 18/2580, 18/2628

Beschlussempfehlung und Bericht des Haus-
haltsauschusses (8. Ausschuss)


Drucksache 18/3082

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des

(8. Ausschuss)

riums der Finanzen

Durchführungsbestimmungen zum Instru-
ment der direkten Bankenrekapitalisierung
durch den Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus; Einholung eines zustimmenden
Beschlusses des Deutschen Bundestages
nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungs-
gesetzes

Drucksachen 18/2669, 18/3082

ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Risiko und Haftung zusammenführen –
Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-
test sicherstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-
nen einheitlichen europäischen Restruktu-
rierungsmechanismus

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung einheitlicher Vorschriften
und eines einheitlichen Verfahrens für die
Abwicklung von Kreditinstituten und be-
stimmten Wertpapierfirmen im Rahmen
eines einheitlichen Abwicklungsmechanis-
mus und eines einheitlichen Bankenab-
wicklungsfonds sowie zur Änderung der
Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates

KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13

hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes

Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzel-
interessen – Für eine echte Europäische
Bankenunion

Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088

Zu dem BRRD-Umsetzungsgesetz der Bundesregie-
rung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus-
Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1806304900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir werden heute eines der wichtigsten Ge-
setze der europäischen Finanzgeschichte verabschieden.
Wir diskutieren seit dem Jahr 2008 über Hilfsmaßnah-
men des Staates für Kommunen, über Konjunkturpakete,
über Hilfen für Staaten und Banken in Form von Ret-
tungsschirmen, und wir haben uns unserer Verantwor-
tung gestellt, hier im Deutschen Bundestag dafür zu sor-
gen, dass bei Krisen wieder Haftung und Verantwortung
zusammengebracht werden und nicht der Staat für Leute
haften muss, die in diesem System Fehler machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit Mitte 2012 beraten wir über das Thema der Ban-
kenunion. Was verstehen wir unter Bankenunion? Es
geht im Wesentlichen um zwei Bereiche: einmal eine ge-
meinsame Aufsicht in Europa für die Banken zu schaf-
fen, nicht nur eine nationale Aufsicht, zum anderen geht
es um die Frage: Was passiert, wenn Banken in eine
Schieflage geraten? Wie kann hier abgewickelt oder sa-
niert werden?

Wir haben im Jahr 2012 erlebt, dass viele europäische
Staaten der Meinung waren, eine gemeinsame Aufsicht
zu schaffen, aber dann, wenn eine Bank in Schieflage
gerät, an europäisches Geld kommen wollten, nämlich
an den Rettungsschirm ESM. Deshalb war es uns im
Deutschen Bundestag wichtig, ein Stoppsignal zu setzen
und zu sagen: Das ist mit uns so einfach nicht zu ma-
chen.

Wir haben deshalb hier im Deutschen Bundestag da-
mals eine Entschließung verabschiedet und unserer Bun-
desregierung Vorgaben gemacht, wie die Verhandlungen
zu führen sind und vor allen Dingen welche Merkmale in
den Verhandlungen nach vorne gestellt werden sollten.
Wir sind der Meinung, dass in Europa alle großen Ban-
ken europäisch kontrolliert werden müssen und nicht
mehr national. Aber wir sind genauso der Meinung, dass
kleine Banken, kleine Institute, Sparkassen und Volks-
banken, die gewisse Grenzen nicht überschreiten, nicht
europäisch kontrolliert werden müssen, sondern dass
hier proportional gehandelt werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])


Denn es darf nicht sein, dass kleine Banken dem glei-
chen Regime unterliegen wie die großen. Ich habe als
unsere wichtigste Verantwortung unter anderem gese-
hen, dass wir Proportionalität gewährleisten und dass
wir uns für die kleinen Institute einsetzen, die gerade in
der Finanzkrise immer dafür gesorgt haben, dass die
Geld- und Kreditversorgung in Deutschland gewährleis-
tet war. Das ist unsere besondere Verantwortung.

Es gab natürlich auch den Wunsch, Banken möglichst
auf die europäische Ebene zu schieben, ohne sie zu prü-
fen, damit anschließend eine europäische Haftung greift.
Wir als Deutscher Bundestag haben gesagt: Wir sind für
die europäische Aufsicht, aber wir sind nur dann für die
europäische Aufsicht, wenn sich alle großen Banken, die
in Zukunft europäisch kontrolliert werden sollen, einer
Prüfung, einem Stresstest unterziehen, damit nicht
kranke Banken auf der europäischen Ebene abgelagert
werden können.

Diese Prüfung ist soeben erfolgt. Vor gerade zehn Ta-
gen sind die Ergebnisse herausgekommen. Die 130
größten europäischen Banken sind kontrolliert worden.
Von diesen haben 25 die Bedingungen nicht erfüllt; zum
heutigen Zeitpunkt sind es noch 13 Banken. Diese
13 Banken müssen selbst oder mithilfe ihrer Staaten das





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

Geld aufbringen, damit sie in die europäische Aufsicht
kommen. Es ist eben nicht Angelegenheit der gemeinsa-
men Haftung, sondern der Banken und der betreffenden
Staaten, dafür zu sorgen, dass diese Banken liquide sind
und keine Gefahr für den Finanzmarkt darstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben auch deutlich gemacht, dass wir dafür sind,
dass Banken, die in eine Schieflage geraten, gemeinsam
gerettet werden können. Dafür haben wir das Gesetz, das
wir heute hier vorlegen, das Abwicklungs- und Sanie-
rungsgesetz, geschaffen. Wir in Deutschland haben zwar
bereits seit dem Jahre 2010 ein nationales Gesetz zu die-
sem Thema gehabt, aber wir gehen mit diesem Gesetz
doch deutlich weiter, als wir es national getan haben.
Wenn Banken in die Schieflage geraten, wenn sie saniert
oder abgewickelt werden müssen, dann wird zum ersten
Mal nicht der Steuerzahler herangezogen.

Wie schaffen wir das? Wenn jemand in die Schieflage
gerät, wird zuerst der Eigentümer herangezogen. Natür-
lich haben viele Eigentümer von Bankaktien in der Krise
Geld verloren. Wer auf dem Höhepunkt im Jahre 2008
eingestiegen ist, hat mit Commerzbank-Aktien über
90 Prozent verloren. Aber hier geht es darum, dass dem
Eigentümer, dem Aktionär, Geld entzogen wird. Er ver-
liert eventuell sein gesamtes Geld. Wenn das nicht aus-
reicht, dann werden die Gläubiger herangezogen, und
zwar nicht die kleinen Gläubiger, die wir als Eigentümer
von Einlagen bis 100 000 Euro definieren, sondern die
Eigentümer, deren Einlagen darüber hinausgehen. Ihr
Guthaben bei einer Bank wird in haftendes Eigenkapital
der Bank umgewandelt. Das heißt, jeder ist selbst dafür
verantwortlich, wem er sein Geld anvertraut. Wenn er es
einer Bank anvertraut hat, die ihm hohe Zinsen geboten
hat, aber hinterher nicht liquide ist, dann muss er mit da-
für haften. Eigentümer und Gläubiger müssen in Zukunft
haften, wenn eine Bank in Schieflage gerät.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass wir uns
für den Fall, dass das alles nicht ausreichen sollte, das
Modell einer gemeinsamen Haftung in Form eines ge-
meinsamen Fonds vorstellen können. Wer die Anhörun-
gen in der letzten Zeit, die Fachgespräche, die Gespräche
mit der Europäischen Kommission, mit der Bundesbank
verfolgt hat, wird doch als Ergebnis mitnehmen, dass der
Chef des Euro-Rettungsschirmes ESM, Herr Regling,
gesagt hat: Wenn wir diese Gesetzeslage im Jahre 2008
gehabt hätten, dann wären nicht Hunderte von Banken
europaweit in die Schieflage geraten, sondern es wären
nur zwei oder drei Banken gewesen, und die Schieflage
hätte im einstelligen Milliardenbereich gelegen. – Das
heißt, wenn wir das schon damals gehabt hätten, wäre es
eine völlig andere Situation gewesen. Deswegen sollten
wir stolz darauf sein, dass wir dieses Gesetz heute verab-
schieden, das die Steuerzahler wirklich von der Haftung
befreit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nutzt doch gar nichts!)


Wir haben zur Absicherung noch einen europäischen
Fonds geschaffen. Wir haben natürlich darüber disku-
tiert: Wie kann ein solcher Fonds finanziert werden? Er
wird 1 Prozent der gedeckten Einlagen umfassen müs-
sen. Er wird nicht vom Staat, sondern von den Banken
finanziert. Die Banken müssen dafür in den nächsten
acht Jahren 55 Milliarden Euro bereitstellen.

Unsere zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist:
Wer finanziert einen solchen Fonds? Wer bezahlt das
Ganze? – Natürlich müssen die Großen, von denen die
Risiken ausgehen, den Hauptteil tragen. Aber wir disku-
tieren immer auch über die Frage: Wie gehen wir mit
kleinen Banken, mit Sparkassen und mit Volksbanken
um? Wir haben damals in Deutschland einen Freibetrag
für kleinere Banken durchsetzen können, weil wir es
selbst entscheiden konnten. Auf europäischer Ebene mit
nahezu 6 000 Banken ist es natürlich schwieriger, Ent-
scheidungen dieser Art zu treffen, weil sich jedes Land
in einer unterschiedlichen Situation befindet. Auch hier
muss ich dem Finanzminister Schäuble dafür danken,
dass sich die deutsche Bundesregierung immer wieder
dafür eingesetzt hat, dass gerade die Kleinen nicht so be-
lastet werden wie die Großen. Herr Schäuble, ich danke
Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass Sie zu dieser
Forderung des Deutschen Bundestages immer wieder
gestanden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Opposition wird natürlich darauf hinweisen, dass
das alles nicht ausreicht, dass die Kleinen trotzdem wie-
der zu stark belastet werden.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja auch!)


Wir haben auch bei kleinen Banken gesehen – übrigens
auch bei Sparkassen im Verbund mit der Westdeutschen
Landesbank –, wo überall Risiken stecken. Insofern
glaube ich, wir haben hier eine sehr gute Lösung gefun-
den.

Meine Damen und Herren, auch in Zukunft wird im-
mer wieder die Diskussion geführt werden, ob der Staat
nicht doch irgendwo haften muss. Wenn diese drei Maß-
nahmen – Eigentümer, Gläubiger und Fonds – nicht aus-
reichen sollten, sind Länder selbst verpflichtet, die Fi-
nanzierung der Banken vorzunehmen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!)


Wenn sie das dann immer noch nicht können, können sie
Hilfe aus dem Rettungsschirm beantragen. Sie bekom-
men eine Unterstützung, aber natürlich, wie wir es ken-
nen, in Verbindung mit einem vollen Programm. Damit
geben sie ein Stück ihrer Eigenständigkeit auf.

Es wird auch die direkte Bankenrekapitalisierung dis-
kutiert, die im Jahr 2012 natürlich von großer Bedeutung
war. Sie müssen bedenken, dass Kommission, Regling
und Bundesbank sagen: Das wäre damals nicht passiert. –





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

An fünfter Stelle ist jetzt also auch eine Rekapitalisie-
rung möglich, aber nur, wenn alle auf der europäischen
Ebene zustimmen und auch wir als Deutscher Bundes-
tag, die wir das Haushaltsrecht haben. Wer heute be-
hauptet, es gebe eine direkte Bankenrekapitalisierung in-
sofern, als wir es zulassen, dass auf europäisches Geld
zurückgegriffen wird, der stellt die Dinge falsch dar und
dem werden wir so nicht zustimmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, in den letzten sechs Jahren
haben wir 30 Gesetze verabschiedet, um Stabilität auf
den Finanzmärkten herzustellen. Denken Sie nur an das
große Abkommen Basel III: mehr Eigenkapital für die
Banken, mehr Liquidität, eine andere Liquidität in den
Banken. Wir haben die Testamente gefordert. Wir haben
Trennbankensysteme eingeführt. Wir haben außerbörsli-
che Derivate geregelt. Wir haben im Grunde eine euro-
päische Aufsicht auch im Systemrisikobereich geschaf-
fen. Wir haben also die Jahre genutzt, um auf vielfältige
Weise dafür zu sorgen, dass wir wieder einen stabilen
Finanzmarkt in Europa bekommen.

Wir verabschieden heute gemeinsam mit der Bundes-
regierung ein Gesetz, das genau das abschließt, was wir
sechs Jahre lang in Teilschritten betrieben haben. Wir er-
leben heute sicherlich den Höhepunkt. Es ist eines der
wichtigsten europäischen Finanzgesetze, mit dem Haf-
tung und Verantwortung wieder zusammengeführt wer-
den, mit dem erreicht wird, dass dann, wenn Banken in
eine Schieflage geraten, nicht die Steuerzahler, sondern
die Banken selbst herangezogen werden.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305000

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt

das Wort Alexander Ulrich.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806305100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am heutigen Tag kann man sagen: versprochen – gebro-
chen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)


Nach der verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise
hatte die Bundeskanzlerin versprochen, dass nie wieder
der Steuerzahler für marode Banken haften soll. Aber
spätestens am heutigen Tag ist klar, dass auch zukünftig
die Steuerzahler dafür haften werden – wir werden das
heute noch einmal klarlegen –; wir als Linke lehnen das
ab.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Super! – Johannes Kahrs [SPD]: Nichts Neues!)

Hätte es die Bankenunion schon 2007 gegeben, Herr
Flosbach, hätte es also das, was uns heute vorliegt, da-
mals schon gegeben, so hätte uns das gegen die Finanz-
krise nicht geschützt. James White von der Europäischen
Finanzmarkt-Assoziation hat die Bankenunion als ein
entscheidendes Projekt bezeichnet, das die Marktinte-
gration voranbringt, die Finanzmärkte stärkt und Ver-
trauen in die europäische Wirtschaft schafft. Kollegin-
nen und Kollegen, wenn die Interessenvertreter der
Großbanken über ein Regulierungsprojekt derart ins
Schwärmen kommen, dann muss sich die Politik fragen,
was sie falsch gemacht hat. Dazu fällt mir eine Menge
ein:

Zuerst haben Sie Eigenkapitalregeln festgelegt, die
viel zu schwach sind. Lehman hatte kurz vor der Pleite
noch 11 Prozent Kernkapital. Sie haben sich in der EU
auf 8 Prozent verständigt, und diese 8 Prozent sind nicht
nur Mindest-, sondern zugleich auch Höchstgrenze. Das
ist keine Finanzregulierung. Das ist Deregulierung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Unfug!)


Dann haben Sie die Aufsicht über die Großbanken an die
EZB übertragen, eine Institution, die kraft ihrer Statuten
frei von demokratischer Kontrolle ist und die aufgrund
ihrer geldpolitischen Rolle ganz offenkundig in einen In-
teressenkonflikt gerät. Und nun beschließen Sie einen
Abwicklungsmechanismus, der festlegt, dass die Gläubi-
ger und Eigentümer von Pleitebanken künftig mit 8 Pro-
zent der Bilanzsumme an den Kosten beteiligt werden
sollen. Danach ist der Steuerzahler wieder dran.

Das gleiche Schonprogramm gegenüber den Banken
legen Sie beim Abwicklungsfonds an den Tag. 55 Mil-
liarden Euro sollen sie einzahlen – bis 2024. Das ist viel
zu spät und viel zu wenig. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, die Bankenrettungen der letzten Jahre haben uns
1 700 Milliarden Euro gekostet. Riskiert wurden sogar
über 4 000 Milliarden Euro. Nun sollen 55 Milliarden
Euro dafür sorgen, dass die Steuerzahler nie wieder für
marode Banken haften müssen? Das ist wirklich ein
schlechter Witz.

Aber noch schlimmer als das, was Sie im Rahmen
dieser Bankenunion gemacht haben, ist, was Sie nicht
machen: Sie geben keine Antwort auf die enorme Kon-
zentration im Finanzsektor, die einzelne Institute in die
Lage versetzt, Staaten zu erpressen. Sie geben auch
keine Antwort auf das Problem des riesigen Einflusses
der Finanzlobbys. Allein in Brüssel sind 1 700 Finanz-
lobbyisten beschäftigt.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Man muss ja nicht mit denen reden!)


Es ist kein Wunder, dass die Finanzjongleure ins
Schwärmen kommen. Diese Bankenunion ist für sie
maßgeschneidert.

Wenn Sie es ernst damit meinen, die Steuerzahler zu
schützen, dann lehnen Sie die Richtlinien und Verord-
nungen zur Bankenabwicklung ab.


(Beifall bei der LINKEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was machen wir stattdessen?)






Alexander Ulrich


(A) (C)



(D)(B)

Wir brauchen diese Bankenunion nicht.


(Zurufe von der SPD: Ah ja!)


Wir brauchen eine strenge Regulierung, eine Entflech-
tung und Schrumpfung des Finanzsektors. Wir brauchen
ein Trennbankensystem und eine Zerlegung der Groß-
banken in kleinere Einheiten. Es muss sichergestellt
werden, dass nie wieder die Steuerzahler für die perverse
Zockerei der Finanzmafia haften müssen.


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wie?)


Zudem brauchen wir eine demokratische Kontrolle und
ein Ende des enormen Einflusses der Bankenlobbys.

Über all das wird heute aber nicht abgestimmt. Diese
Bankenunion kratzt nicht einmal an der Oberfläche der
eigentlichen Probleme im Finanzsektor. Wir werden ihr
daher nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Johannes Kahrs,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1806305300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Kollege Flosbach hat hier ausgeführt, wie
der Vorgang vonstattengehen soll. Der Kollege Ulrich
hat aber leider nicht zugehört. Hätte er zugehört, hätte er
seine Rede gar nicht so halten können, wie er sie gehal-
ten hat,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Sehr richtig!)


oder er hat sie nicht verstanden; man soll aber nicht
gleich das Schlimmste annehmen.

Im Kern wird von der Linken hier wieder an einer al-
ten Legende gestrickt: Die fiesen Banken werden vom
Steuerzahler finanziert; damit werden nur Lobbys be-
dient.


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: So ist es ja auch!)


Wer braucht überhaupt Banken? – Sie zielen damit auf
eine gewisse Zielgruppe ab, darauf, 10 bis 12 Prozent
der Bevölkerung in Verwirrung zu stürzen, damit diese
Menschen glauben, dass ihre Steuergelder ausgegeben
werden, um Lobbys, Verbände und andere zu retten.


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Gehen Sie doch mal auf die Argumente ein!)


Ehrlich gesagt: Das ist doch etwas schlicht, selbst für die
Linke. Ich meine, Sie mögen zwar schlichte Strickmus-
ter; aber das muss doch nicht immer so sein.
Hier liegen mehrere Gesetzentwürfe vor, mit denen
dafür gesorgt werden soll, dass die Verfahren vernünftig
ablaufen. Das ist Ihnen eben alles erklärt worden. Aber
wenn Sie im Kern sagen, dass hier der Steuerzahler wie-
der die Banken finanzieren soll, die nichts geregelt krie-
gen, dann muss ich Ihnen doch einmal sagen, wozu wir
die Banken brauchen: Die Bürger haben eine enge Ver-
bindung zu den Banken. Die Banken finanzieren den
Mittelstand, und jeder, der eine Lebensversicherung hat,
braucht eine Bank. Die Wirtschaft, die Unternehmen, die
ihre Geschäfte abwickeln, brauchen die Banken eben-
falls.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist jetzt aber auch schlicht!)


– Na, ich versuche, Ihnen das so zu erklären, dass Sie es
auch verstehen. Dazu muss ich mich leider auf Ihr Ni-
veau begeben; das ist mein Problem.


(Beifall und Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das heißt, wenn Sie hier schlicht argumentieren, müssen
wir auch schlicht darauf antworten. Sonst geht es mir
wie dem Kollegen Flosbach, der Ihnen das hier erklärt
hat, aber Sie haben es nicht verstanden. Das ist doch je-
des Mal das gleiche Strickmuster. So kommen wir doch
nicht miteinander klar.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe mich deswegen entschieden, meine Rede zur
Seite zu legen und zu versuchen, Ihnen das auf Ihrem
Niveau zu erklären.

Erstens. Die Menschen, die Industrie und der Mittel-
stand brauchen ein funktionierendes Bankensystem.

Zweitens. Wir wollen, dass dieses funktionierende
Bankensystem Bestand hat.

Drittens. Wir alle sind überzeugte Europäer. Wir wol-
len, dass das auch in Europa funktioniert.

Viertens. Wir wissen, dass in anderen europäischen
Staaten – ob in Griechenland, Spanien oder anderswo –
ein Aufschwung nur möglich ist und eine Wirtschaft nur
funktionieren wird, wenn auch sie ein funktionierendes
Bankensystem haben.

Fünftens – das kann man alles weiter herunterdekli-
nieren – brauchen auch diese Staaten Banken, wenn die
Wirtschaft dort funktionieren soll; denn wir müssen am
Ende doch klarkommen.

Zu der dümmlichen Argumentation, mit der Sie hier
aufgetreten sind, hier würden wieder Lobbys und Ban-
ken versorgt, kann ich nur sagen:


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch so!)


Die Banken sind ein integraler Bestandteil unseres Wirt-
schaftssystems. Wenn diese Banken ausfallen, dann geht
noch sehr viel mehr den Bach runter. Viel schlichter
kann ich das nicht erklären.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben keine Lehren aus 2007/2008 gezogen!)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)

– Wenn Sie sagen, wir hätten keine Lehren gezogen,
dann frage ich Sie, warum wir hier eine Debatte über
zwei von uns vorgelegte Gesetze führen, in denen wir
genau diese Lehren durchdeklinieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Was soll man denn in diesem Hohen Hause sonst
noch machen? Man stößt doch an die Grenzen von Ra-
tionalität, wenn nicht zugehört oder verstanden wird.
Das ist doch die Grundlage eines parlamentarischen Sys-
tems. Wenn Sie sich das Ganze anschauen, dann werden
Sie feststellen, dass wir der Meinung sind, dass dieser
europäische Bankensektor sicherer gemacht werden
muss. Das haben wir auch vor. Deswegen stehen wir
hier.

Wir als Sozialdemokraten haben einer direkten Ban-
kenrekapitalisierung immer kritisch gegenübergestanden
und stehen ihr auch heute noch kritisch gegenüber.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wolltet es ablehnen, habt ihr gesagt!)


– Lesen bildet, denken hilft; Herr Kollege, ich schätze
Sie sehr. – Deswegen haben wir – wenn man in den Ge-
setzentwurf schaut, wird man das erkennen – sehr viele
Hürden aufgebaut, die dazu führen sollen, dass eben
nicht der Steuerzahler gefordert wird, sondern, wie vom
Kollegen Flosbach mehrfach ausgeführt wurde, zunächst
die Eigentümer, die Unternehmen und die Aktionäre ge-
fordert werden, bevor wir an der Reihe sind. Wir haben
auf europäischer Ebene verhandelt, um den Zugang zu
ESM-Hilfen so anspruchsvoll zu gestalten, wie es hier
dargestellt worden ist, damit das der absolute Notfall ist,
damit es eine Haftungskaskade gibt. Das ist Ihnen doch
alles mehrfach erklärt worden.

Im Sommer 2012 haben einige gedacht, dass das ein
Weg für die maroden europäischen Banken wäre, schnell
an ESM-Geld zu kommen. Das wollten wir nicht. Es
darf keinen schnellen Zugang zu diesem Geld geben; das
muss im Rahmen der Haftungskaskade in sehr vielen
Stufen ausgeschlossen werden. Das ist Ihnen hier klar
gesagt worden.

Gleichzeitig sorgen wir mit den hier vorgelegten Ge-
setzen dafür, dass der Deutsche Bundestag beteiligt
wird, dass der Haushaltsausschuss beteiligt wird, dass
das nicht in irgendwelche Untergremien geschoben wird,
weil wir keine Lust haben, wieder von irgendwem vor
dem Verfassungsgericht verklagt zu werden. Wir wollen,
dass der Bundestag beteiligt wird. Wir wollen, dass der
Bundestag entscheidet. Wir wollen, dass der Bundestag
mitreden kann; denn es geht um das Geld der Steuerzah-
ler. Das ist hier alles, glaube ich, klar erläutert worden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn man das der Linken noch einmal sagen darf: Es
bringt überhaupt nichts, hier irgendwelche großen Theo-
rien in die Welt zu setzen und zu versuchen, die Bevöl-
kerung zu verunsichern. Das führt im Ergebnis nicht zu
dem, was nicht nur wir, sondern auch Sie wollen: dass es
einen vernünftigen Umgang mit den Banken gibt. Wir
wollen, dass der Bankensektor vernünftig reguliert wird.
Eine Bank muss auch einmal pleitegehen können, aber
so, dass die Spareinlagen von Privatpersonen nicht be-
troffen sind. Das ist jetzt hier alles geregelt worden. Da-
für haben wir Sozialdemokraten uns lange eingesetzt,
schon als wir in der Opposition waren. Jetzt, wo wir mit-
regieren, läuft das alles sehr viel besser. Dem Kollegen
Flosbach konnte man ja anhören, dass vieles aus sozial-
demokratischer Feder stammt. Insofern wirkt diese
Große Koalition. Sie funktioniert, und das ist gut. Nur
die Linke hat es nicht verstanden. Das ist aber nichts
Neues.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aus dieser Rede zitieren wir in der nächsten Krise!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sven-Christian

Kindler, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den etwas schlichten Reden, sowohl des
Kollegen Ulrich als auch des Kollegen Kahrs, will ich
wieder zum Thema der Debatte zurückkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir heute über die Bankenunion und den ESM
reden, dann dürfen wir, finde ich, nicht vergessen, was
der Hauptgrund für die immer noch andauernde Finanz-
krise in Europa war. Hauptgrund waren und sind die ho-
hen Schulden des Bankensystems. Bis 2008 hatten Län-
der wie Irland oder Spanien zum Beispiel deutlich
bessere Haushaltszahlen als Deutschland. Aber in diesen
Ländern gab es einen überbordenden Banken- und Im-
mobiliensektor. In der Krise sind dann aus diesen Bank-
schulden Staatsschulden geworden. Nach Angaben der
Europäischen Kommission haben die europäischen Staa-
ten von 2008 bis 2012 rund 600 Milliarden Euro für den
Bankensektor bereitgestellt; rund 80 Prozent davon ent-
fielen auf Griechenland, Irland, Spanien und Portugal.
Dieses Geld fehlt uns heute für den Kampf gegen die Ju-
gendarbeitslosigkeit. Dieses Geld fehlt uns heute für In-
vestitionen. Wir Grüne sagen klar für die Zukunft: Es
muss in Europa endlich Schluss damit sein, dass Bank-
schulden in Staatsschulden umgewandelt werden, dass
die Staatshaushalte und die Steuerzahler für die Banken-
rettung aufkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen nicht vergessen: Woran lag diese falsche
Krisenpolitik in den letzten Jahren in Europa? Das lag
auch daran, dass wir keinen Lösungsmechanismus hat-
ten für stark vernetzte Banken in Europa, für die Ab-
wicklung und die Kontrolle. Die Bundesregierung, vor
allen Dingen Bundesfinanzminister Schäuble, hat das in
den letzten Jahren auf europäischer Ebene immer blo-
ckiert und torpediert; sie hat immer nur die nationale





Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)

Karte gespielt. Dass die Krise im Bankensektor die Staa-
ten in Europa so viel Geld gekostet hat, dass sie sich so
verschärft hat, dafür ist auch die deutsche Bundesregie-
rung verantwortlich. Das war nicht pro-europäisch, das
war national borniert. Und: Das war und ist am Ende
ganz teuer für Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Unsinn!)


Dieser Logik der nationalen Bankenrettung mit Steu-
ergeldern folgt leider auch die Umsetzung der BRRD-
Richtlinie in Deutschland. Auf europäischer Ebene soll
ein Rechtsrahmen bezüglich der Bankenunion geschaf-
fen werden. Trotzdem will die Bundesregierung mit dem
SoFFin nationale Steuermittel weiter ins Schaufenster
stellen. Wir Grüne beantragen heute, dass der SoFFin
nicht um ein weiteres Jahr verlängert wird. Das wäre das
falsche Signal und würde auch dem Grundgedanken der
europäischen Lösung widersprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne haben von Anfang an eine europäische
Bankenunion gefordert. Wir brauchen eine gemeinsame
Kontrolle, ein gemeinsames Abwägen, auch harte Rege-
lungen, damit Eigentümer und Gläubiger in der Krise
zahlen und nicht wieder die Steuerzahler für die Banken-
rettung eintreten müssen. Wir sollten aber auch nicht
vergessen, wer die entscheidenden Fortschritte auf euro-
päischer Ebene durchgesetzt hat. Das war nicht die Bun-
desregierung. Im Gegenteil: In der entscheidenden
Nacht hat sich das Europäische Parlament bei den zen-
tralen Fragen wie einer effektiven Bankenabwicklung
ganz klar gegen den Europäischen Rat und Wolfgang
Schäuble durchgesetzt. Das war auch dringend notwen-
dig und gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Leider hat sich an einer anderen entscheidenden Stelle
die deutsche Bundesregierung durchgesetzt, und zwar
bei der Frage des intergouvernementalen Übereinkom-
mens, kurz: IGA.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hat sie oder hat sie nicht?)


– Ja, bei einem ganz zentralen, europapolitisch bedenkli-
chen Punkt, nämlich bei der IGA. – Was heißt IGA? Es
geht darum, dass bis 2024, was viel zu lange ist, die na-
tional erhobenen Bankenbeiträge für den Abwicklungs-
fonds in einem zwischenstaatlichen Vertrag geregelt
werden sollen. Das heißt, das europäische Recht wird
hier ausgehebelt; das Europäische Parlament wird in sei-
nen Rechten beschnitten. Die deutsche Bundesregierung
war mit dieser Haltung in Europa isoliert. Kein anderer
Mitgliedstaat und nicht das Europäische Parlament oder
die Europäische Kommission haben diese Rechtsauffas-
sung geteilt. Denn was innerhalb des europäischen
Rechts geregelt werden kann, darf nicht in zwischen-
staatliche Verträge zulasten des Europäischen Parla-
ments outgesourct werden. Dieser Vorfall – das sage ich
ganz deutlich – ist ein Präzedenzfall für die europäische
Demokratie. Er untergräbt die europäische Demokratie.
Gerade in der Krise brauchen wir aber keine weitere
Schwächung, sondern eine Stärkung des europäischen
Parlaments. Darum geht es.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Europäische Kommission hat doch zugestimmt!)


Weil wir Grüne die Bankenunion mit der gemeinsa-
men Abwicklung immer gefordert haben, werden wir
heute trotz unserer Kritik am SoFFin für die BRRD-
Richtlinie stimmen. Bezogen auf IGA, das intergouver-
nementale Übereinkommen, werden wir uns enthalten
und es deshalb nicht ablehnen, weil wir zum Ausdruck
bringen wollen, dass wir die Bankenunion und die Ab-
wicklung unterstützen. Gleichzeitig wollen wir klarstel-
len, dass sich eine solche Umgehung der europäischen
Demokratie nicht wiederholen darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das neue Instrument der direkten Bankenrekapitali-
sierung beim ESM lehnen wir Grüne ab; denn hier wird
wieder Steuergeld ins Schaufenster gestellt und eine Pa-
rallelstruktur zur europäischen Bankenunion aufgebaut.
Es ist hochproblematisch, dass der gemeinsame Abwick-
lungsfonds erst 2024 eingerichtet werden soll. Das heißt,
für diese Zeit braucht man einen Letztsicherungsmecha-
nismus, einen sogenannten Common Backstop. Das
kann der ESM aber nicht leisten, jedenfalls nicht mit der
direkten Bankenrekapitalisierung. Der ESM hat nicht die
Kapazität und nicht die Expertise beim Management von
maroden Banken. Gleichzeitig sind die Steuerzahler wie-
der in der Haftung. Deswegen sagen wir: Wir wollen
eine Kreditlinie vom ESM als Common Backstop, weil
klar ist, dass der Abwicklungsfonds die Banken abwi-
ckelt und restrukturiert und die Kredite außerdem zu-
rückgezahlt werden müssen. Das heißt, nicht die Steuer-
zahler, sondern die Banken sind nachher in der
Verantwortung. Das ist die richtige Lösung. Deswegen
lehnen wir heute die Einführung der direkten Bankenre-
kapitalisierung beim ESM klar ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist schon angesprochen worden: Natürlich ist die
Einführung der Bankenunion ein wichtiger Schritt für
die Regulierung des Bankensektors. Das reicht aber
nicht. Wir haben immer noch ein Problem mit Großban-
ken in Europa. Wir haben das Problem, dass es immer
noch eine implizite Staatsgarantie für Großbanken gibt.
Großbanken können am Finanzmarkt spekulieren und
zocken, ohne dass sie reguliert werden. Leider ist es
auch so, dass die Bankenabgabe das Problem nicht löst.
Mit der Einführung eines Risikofaktors geht man völlig
unzureichend auf das Problem Großbanken ein. Die Ri-
siken, das systemische Risiko und die Too-big-to-fail-
Problematik, werden nicht angemessen berücksichtigt.
Nachher werden wahrscheinlich mittelgroße Banken mit
einem risikoarmen Geschäftsmodell die Zeche zahlen.

Ich finde aber, dass es noch nicht zu spät ist. Die Eu-
ropäische Kommission hat einen Vorschlag vorgelegt.
Im Europäischen Parlament kämpft man jetzt darum, das
zu stoppen und Änderungen einzubringen. Ich fordere
die Bundesregierung und auch die Parlamentarier von
CDU/CSU und SPD auf, hier Änderungen herbeizufüh-
ren. Großbanken müssen bei der Bankenabgabe den





Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)

Hauptbeitrag leisten – das wäre nur fair und gerecht –,
nicht kleine und mittlere Banken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen das Großbankenproblem angehen; es ist
weiterhin nicht gelöst. Es müssen weitere Schritte fol-
gen. Wir brauchen ein echtes, hartes Trennbankensys-
tem. Wir brauchen ein scharfes Wettbewerbsrecht mit ei-
ner Bankenfusionskontrolle. Wir brauchen eine höhere
Leverage Ratio, damit nachher nicht wieder die Steuer-
zahler die Verluste von Großbanken ausgleichen müs-
sen. Die Schaffung der Bankenunion ist nur der erste
Schritt; es müssen weitere wichtige Schritte und Refor-
men für eine konsequente Regulierung des Bankensek-
tors folgen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305500

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Bundesminister

Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Gesetzespaket zur Schaffung der Banken-
union, das wir heute verabschieden, ist ein wichtiger
Schritt auf dem Weg, den Euro, die europäische Wäh-
rung, nach der infolge der Finanz- und Bankenkrise ent-
standenen Euro-Krise zu stabilisieren. Wir waren in den
letzten Jahren mit der Schaffung des Rettungsschirms
und den Programmen für die Länder sehr erfolgreich.
Die Finanzmärkte vertrauen der europäischen Währung
bei allen konjunkturellen Schwierigkeiten in einem star-
ken Maße. Bei der Schaffung einer Bankenunion ist die
Trennung der Risiken im Bankensektor, die in der Ent-
stehungsphase dieser Krise im Hinblick auf die Staats-
verschuldung in der Tat eine Rolle gespielt haben – Herr
Kollege Kindler, Ihre Äußerungen waren ein bisschen
widersprüchlich –, ein zentrales Anliegen. Deswegen ist
das, was wir heute schaffen, ein wichtiger Schritt. Ich
habe noch nicht ganz verstanden, was Sie daran kritisie-
ren. Es war völlig widersprüchlich, wie Sie hier argu-
mentiert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir ziehen zwei Lehren. Erstens: Mit der Schaffung
der Bankenunion, mit der Schaffung einer Bankenauf-
sicht, die für die grenzüberschreitend agierenden, sys-
temrelevanten Institute zuständig ist, machen wir den
Euro stabil. Wir tun das übrigens im europäischen
Rechtsrahmen; denn, Herr Kollege Kindler, mit der De-
mokratie ist es so: Sie macht nur Sinn, wenn sie mit dem
Rechtsstaatsprinzip einhergeht. Deswegen müssen wir
uns in Europa im Rahmen der Verträge an komplizierte
rechtliche Grundlagen halten. Deswegen gibt es keine
andere europäische Institution als die Europäische Zen-
tralbank, die eine Bankenaufsicht machen kann, solange
wir nicht eine Vertragsänderung zustande bringen. Das
ist Tatsache; deswegen geht es nicht anders.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!)


Wir müssen im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht
darauf achten, dass bei der Europäischen Zentralbank
die klare Trennung zwischen der Wahrnehmung der
geldpolitischen Verantwortung, bei der sie unabhängig
ist, auf der einen Seite und der Bankenaufsicht auf der
anderen Seite erhalten bleibt, so wie es auf nationaler
Ebene bei der bewährten Arbeitsteilung zwischen BaFin
und Bundesbank immer der Fall war.

Zweitens: Wir können die Haftung in Europa nur in-
soweit vergemeinschaften, wie wir auch die Entschei-
dungszuständigkeit vergemeinschaftet haben. Auch da
werden wir durch die europäischen Verträge begrenzt. In
diesem Rechtsrahmen wäre es falsch, bei der Schaffung
der Bankenabgabe einen anderen Weg als den zu gehen,
den wir mit dem intergouvernementalen Abkommen ge-
gangen sind. Wir wären übrigens bei der ersten Klage
beim ersten Gericht in Europa damit gescheitert. Die
Schaffung von Rechtsgrundlagen, die nicht rechtssicher
sind, ist keine Lösung für Probleme, die Stabilität und
Rechtssicherheit schaffen sollen. Deswegen – Herr
Kollege Kindler, möglicherweise haben Sie es nicht
verstanden – war es wichtig, dass es uns gelungen ist, si-
cherzustellen, dass das Werk, das wir heute für die Ban-
kenunion zustande bringen, auf einer sicheren Rechts-
grundlage steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU])


– Herr Kollege Kauder, die Wahl lasse ich Ihnen, ob er
es nicht verstanden hat. Wenn er wider besseres Wissen
die Dinge falsch darstellt, ist es schlimmer.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben ihn ja geschützt!)


– Ich habe ihn noch geschützt? Also gut, das ist mir ge-
rade egal.

Ich muss nur für den Rest des Hauses und für diejeni-
gen, die uns von außerhalb zuhören, ein Stück weit klar-
stellen, warum wir das so machen. Die Europäische Ban-
kenaufsicht funktioniert seit dem 4. November. Wir
hatten den Stresstest. Die Banken, die in die Aufsicht
übernommen worden sind, sind durch die Bilanzprüfung
und den Stresstest – das war eine gewaltige Anstrengung –
sicherer geworden. Sie haben sehr viel mehr Kapital als
während der Bankenkrise. Das ist ein wichtiger Erfolg.
25 Banken haben den Stresstest nicht bestanden. Davon
hatten 12 – darunter die einzige deutsche betroffene
Bank –, weil sich der Stresstest auf die Bilanzzahl Ende
2013 bezogen hat, auf Anordnung der nationalen Ban-
kenaufsicht – bei uns: die BaFin – bereits das Notwen-
dige veranlasst, sodass lediglich 13 Banken in Europa ei-
nen zusätzlichen Bedarf haben.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Das Zweite, was wir mit diesem Gesetzespaket errei-
chen, ist, dass wir sicherstellen, dass in Zukunft nicht
mehr der Steuerzahler haftet, dass also das, was man in
der internationalen Sprache „Moral Hazard“ nennt, dass
die einen die Geschäfte machen und die anderen nachher
die Haftung dafür tragen, beendet wird. Deswegen haben
wir die klare Haftungskaskade, wie es der Kollege
Flosbach dargestellt hat: Zunächst haften die Eigentü-
mer. Wenn die Eigentümer nicht ausreichen, dann haften
die Anleger, die höhere Renditen und höhere Zinsen be-
kommen haben. Höhere Renditen haben etwas mit höhe-
rem Risiko zu tun. Wenn sich das Risiko einmal ver-
wirklicht, ist das eben die Gegenseite. Deswegen ist
diese 8-prozentige vorrangige Beteiligung von Eigentü-
mern und Gläubigern der entscheidende Schritt sowohl
in der europäischen Regelung, die für alle 28 Mitglieds-
länder gilt, als auch in der Bankenunion für die Europäi-
sche Bankenaufsicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darüber hinaus haben wir Regelungen. National ha-
ben wir schon einen Vorgriff gemacht: Seit 2011 haben
wir das Gesetz. Jetzt schaffen wir es als eine Rechtsver-
pflichtung für alle europäischen Länder, dass die Banken
selber Fonds aufbauen müssen, sodass dann, wenn eine
Bank in Notlage ist, wenn die Bail-in-Fähigen, also die
Beteiligungen von Eigentümern und bestimmten Anle-
gern, nicht mehr ausreichen, ein Solidarfonds der Ban-
ken die Haftung übernimmt. Für die Europäische Ban-
kenunion machen wir das mit einem gemeinsamen
Fonds, der im Wesentlichen durch die systemrelevanten
großen Banken bezahlt wird. Deswegen haben wir er-
reicht, dass die Großzahl der Sparkassen und der Kredit-
genossenschaften nur mit einer Pauschalsumme ihren
Beitrag zu diesem Fonds leistet und dass dies eben nicht
entsprechend den Regeln der Proportionalität wie bei
den großen systemrelevanten Banken geschieht. Bis zu
einer Bilanzsumme in Höhe von 1 Milliarde Euro müs-
sen sie nur eine Pauschalsumme zahlen. Wir haben auch
ein Optionsrecht eingeführt. Wir werden davon Ge-
brauch machen – darüber ist sich die Bundesregierung
einig –, dass man die Grenze bis 3 Milliarden Euro anhe-
ben kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])


Das heißt: Wir haben die Interessen der Kleinbanken ge-
schützt.

Jetzt kommt der Punkt: Nach dem Bail-in haftet der
Fonds. Nun bleibt die Frage: Was ist, wenn der Fonds
das Geld noch gar nicht hat? Mit Ihrer These, nach der
wir die intergouvernementale Abgabe und all die schö-
nen Dinge nicht machen sollten, hätten Sie vom ersten
Tag an, weil es den Fonds noch gar nicht gibt, die Haf-
tung der Staaten vergemeinschaftet und vom Tage des
Inkrafttretens an bei jeder anderen Regelung die Situa-
tion gehabt, dass der deutsche Steuerzahler am Ende für
die Banken aller anderen europäischen Länder die Risi-
ken getragen hätte. Deswegen haben wir darauf bestan-
den, dass die Haftung erst im Rahmen des Bankenfonds
vergemeinschaftet wird, wenn die Beiträge eingezahlt
sind, und nicht schon zuvor. Denn dann hätten wir er-
reicht, dass Sie hinterher wieder kritisiert hätten – –


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und genau da sind Sie widersprüchlich, Herr Schäuble, weil das den Teufelskreis von Bankenschulden und Staatsschulden immer noch aufrechterhält! Das ist der Widerspruch, den Sie nicht auflösen!)


– Herr Kollege Schick, vielleicht machen Sie von den
Regeln der Geschäftsordnung Gebrauch.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Zwischenruf!)


– Ja gut, dann will ich darauf antworten, wenn Sie mir
die Chance dazu geben. Solange in den Fonds nicht ein-
bezahlt ist, hat der Fonds keine schützende Wirkung.
Das ist immer so im Leben. Erst müssen die Mittel in
den Fonds einbezahlt werden; denn sonst bleibt das Pro-
blem: Wer haftet?

Wir haben gesagt: Solange die Mittel nicht einbezahlt
sind, bleibt die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten.
Deswegen haben wir auch gesagt: So lange brauchen wir
notfalls noch den SoFFin, damit jede Beunruhigung,
jede Destabilisierung, jede Sorge in einer möglicher-
weise krisenhaften Situation von vornherein ausge-
schlossen ist. Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum
Sie jetzt dafür plädieren, den SoFFin zu schließen. Das
ist reine Polemik und sachlich überhaupt nicht zu be-
gründen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Kollege Schick, sobald wir die Mittel in den eu-
ropäischen Fonds – ich bin jetzt wieder im Bereich der
Bankenunion – einbezahlt haben, gibt es eine solidari-
sche Haftung aller Banken, die der Bankenunion ange-
hören, für die Risiken aller Banken. Es ist eben nicht
mehr eine solidarische Haftung der Steuerzahler in Eu-
ropa für die Fehler, die in anderen europäischen Ländern
gemacht wurden; das ist der Unterschied. Die Solidarität
im europäischen Bankensektor ist Teil der Bankenunion,
aber eine Vergemeinschaftung der Haftung über das hi-
naus, was wir im Zuge des europäischen Rettungssys-
tems vereinbart haben, ist das nicht.

Zur Frage der direkten Bankenrekapitalisierung. Sie
haben uns, insbesondere mich, kritisiert. Das war, ehr-
lich gesagt, vom Niveau her auch nicht besser, Herr
Kahrs – das war ein bisschen vornehmer daherge-
schwätzt –, als das, was der Kollege von der Linkspartei
zunächst gesagt hatte.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Man kann sich auch gegenseitig ernst nehmen!)


Bei allem Respekt: Das war ohne Sinn und Gehalt. Wir
haben es doch nicht blockiert, wir haben es vorangetrie-
ben.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht! Das ist die Unwahrheit!)






Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben darauf geachtet, dass die direkte Bankenreka-
pitalisierung nicht zum Einfallstor wird, um durch die
Hintertür doch die Haftung für die Bankschulden zu ver-
gemeinschaften. Genau das war der Punkt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sechs Jahre verschlafen! Die Banken haben auf eine andere Karte gesetzt!)


– Sie müssen mir schon die Chance geben, ein paar
Sätze ohne Unterbrechung zu sagen. – Deswegen haben
wir eine klare Haftungskaskade vereinbart. Sie funktio-
niert so: Wenn eine Bank notleidend wird, dann stehen
zunächst Eigentümer und Gläubiger in der Pflicht. Da-
nach kommt der Fonds, in den die Bankenindustrie, ent-
weder die Mitgliedstaaten oder die Bankenunion, einbe-
zahlt. Wenn das auch nicht reicht, dann haftet am Ende
der einzelne Staat.

Wenn ein Staat aber nicht in der Lage ist, die Mittel
dafür aufzubringen – auch diese Situation gab es in den
letzten Jahren –, dann kann dieser Staat beim europäi-
schen Rettungsschirm ein Hilfsprogramm beantragen.
Es gelten die üblichen Regelungen, die Vereinbarung
von Anpassungsprogrammen mit Überwachung und
Ähnlichem mehr. Erst wenn auch das gar nicht mehr
funktioniert, käme als allerletzte Möglichkeit theoretisch
auch in Frage, dass sich der europäische Rettungsschirm
selbst – aber dann immer noch unter der Verantwortung
des Mitgliedstaats – mit den entsprechenden Anpas-
sungsprogrammen an der Bank beteiligen würde in dem
Sinne, dass er übergangsweise Eigentümer wird. Die
Kaskade ist eindeutig so geregelt, dass der Haftungsfall
sehr unwahrscheinlich wird; um es vorsichtig zu formu-
lieren. Aber ohne die Möglichkeit, dass dies zumindest
theoretisch enthalten ist, Herr Kollege Kindler – und das
ist der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe, weil Sie es
besser wissen –, hätte es in Europa unter gar keinen Um-
ständen eine Einigung über eine Bankenunion gegeben.

Ich gebe zu: Die Erwartungen der Kollegen in Europa
waren sehr viel weitgehender. Deswegen ist es Unsinn,
dass Sie uns auf der einen Seite vorwerfen, wir hätten
die Verhandlungen auf europäischer Ebene erschwert,
und auf der anderen Seite gegen die direkte Bankenreka-
pitalisierung polemisieren. Entweder das eine oder das
andere.

Wir haben im Zuge der direkten Bankenrekapitalisie-
rung gesagt: Wir gestalten das so schwierig und unwahr-
scheinlich wie nur irgend möglich. Darauf haben wir in
den Verhandlungen geachtet. Wenn wir das geländegän-
giger gemacht hätten und mit den Geldern der Steuer-
zahler so umgegangen wären wie Rot-Grün, dann wäre
es auf europäischer Ebene einfacher gewesen; das ist
wahr. Aber wir haben es anders gemacht.

Ich sage es noch einmal: Wir haben ein sehr ausgewo-
genes Paket. Wir machen damit die Euro-Zone stabiler.
Wir sorgen dafür, dass die Steuerzahler nicht mehr die
Haftung für die Banken übernehmen. Wir schonen bzw.
schützen die Besonderheit des deutschen Finanzsektors,
die ihn stark macht. Es ist nämlich gut, dass wir nicht
nur große Banken, sondern auch leistungsfähige Spar-
kassen und Kreditgenossenschaften haben. Wir tragen
den Eigenheiten des deutschen Finanzsektors Rechnung.
Wir sorgen damit insgesamt dafür, dass die Vorausset-
zungen erfüllt sind, damit der Steuerzahler nicht mehr
die Haftung für Risiken übernehmen muss, mit denen
andere ihre Geschäfte gemacht haben. Deswegen bitte
ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzespaket. Wir
machen Europa stabiler. Wir stärken Europa. Wir brin-
gen Europa voran und sichern den Steuerzahler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305600

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ich würde gerne eine Kurzintervention machen!)


– Entschuldigung, Herr Kollege Troost. Die Kollege
Wagenknecht würde gerne eine Kurzintervention ma-
chen.


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806305700

Eigentlich wollte ich noch eine Frage stellen. Herr

Schäuble war aber so schnell vom Rednerpult weg. Des-
wegen sage ich das jetzt in Form einer Kurzintervention
– ich denke, auch Axel Troost wird darauf noch einmal
hinweisen –: Ich finde es merkwürdig, wie die Haftungs-
kaskade dargestellt wird. Es wird nicht erwähnt, dass die
Verträge eine Klausel enthalten, mit der die Haftungs-
kaskade ausdrücklich ausgesetzt wird. Dort heißt es
wörtlich, dass bei einer schweren Störung der Finanz-
marktstabilität eben keinerlei Haftungskaskade gilt, son-
dern unmittelbar Steuergeld fließen kann. Ich finde wirk-
lich, dass man das einfach so wegredet, ist ein Für-
dumm-Verkaufen der Öffentlichkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305800

Herr Kollege Schäuble, möchten Sie antworten? –

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Kollegin Wagenknecht, es bleibt dabei: Die Re-
gelungen sind so – die kann jeder nachlesen –, wie wir
sie dargestellt haben. Natürlich gibt es auch Situationen,
in denen in Europa gesagt wird: Ja, und was ist, wenn
überhaupt nichts mehr geht? Kann dann auch eine an-
dere Situation eintreten? – Aber die Regeln für die Inan-
spruchnahme von Mitteln des europäischen Rettungs-
schirms sind eindeutig. Sie stehen auch nicht unter dem
Vorbehalt. Das haben Sie nicht richtig dargestellt; tut mir
leid. Die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln
aus dem europäischen Stabilisierungssystem stehen
nicht unter irgendeiner generalklauselartigen Ausnahme-
bestimmung. Das ist nicht zutreffend. Das Gegenteil ist
die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806305900

Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Axel Troost

das Wort, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806306000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es bleibt dabei: Wir haben massive Kritik an dem vorge-
legten Gesetzentwurf, an dem vorgeschlagenen Banken-
rettungsfonds. Gestern im Finanzausschuss wurde das
als Meilenstein dargestellt. Kollege Brinkhaus hat von
einem Dach gesprochen, das das Haus zusammenhält.
Aber die grundlegenden Probleme sind für meine Be-
griffe hier nicht angesprochen worden bzw. wurden har-
monisiert.

Das erste Problem ist: Man hat die EZB mit dieser
Aufgabe betraut, wohlwissend, dass dadurch ein Ziel-
konflikt entsteht, der ungeheuer groß ist. Die beschwo-
rene chinesische Mauer zwischen Geldpolitik und
Bankenaufsicht wird es so nicht geben. Bei jeder geld-
politischen Entscheidung, zum Beispiel hinsichtlich des
Aufkaufs von Papieren, wird man fragen müssen:
Könnte das auch aus der Abteilung Bankenaufsicht kom-
men, weil bestimmte Banken bestimmte Probleme ha-
ben?


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Mit der Zuständigkeit der EZB ist klar, dass
man sich auf die Euro-Zone begrenzt hat. Damit ist Lon-
don – jeder weiß, dass London der größte Finanzplatz
Europas ist – eben nicht Teil des Regulierungsbereichs.
Das heißt, bei jeder Art von Bankenabwicklung – gleich
ob es um deutsche Banken oder Banken aus anderen eu-
ropäischen Ländern geht – wird es eine Schnittstelle mit
der britischen Aufsicht geben, und keiner weiß, ob das
wirklich funktionieren wird, ob die Mechanismen grei-
fen werden, wie das ausgelegt wird. Das Gleiche gilt na-
türlich auch für die Schnittstelle New York/USA. Inso-
fern sollte man hier nicht so tun, als würde man etwas
wirklich Stabiles schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Man ist nicht in Ansätzen – das ist für mich
das Zentrale – an die Frage „too big to fail“ herangegan-
gen. Das Bankensystem und die einzelnen Banken wer-
den nicht massiv verkleinert. Ich will das verdeutlichen:
Zehn Banken in der EU haben ein Geschäftsvolumen,
das größer ist als die jährliche Wirtschaftsleistung, also
das Bruttoinlandsprodukt, von Spanien.

Alleine die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen,
das so groß ist wie die gesamte Wirtschaftsleistung Itali-
ens. Solche Banken wollen Sie regulieren? Solche Ban-
ken wollen Sie – Stichwort: 8 Prozent – wie auch immer
abwickeln, wenn es hier zu Schieflagen kommt? Ich
glaube, nicht einmal eine relativ kleine Bank wie die
Commerzbank ist in diesem Regime wirklich abwickel-
bar. Deswegen geht es schon darum, die Banken zu ver-
kleinern.

Kollege Kahrs, Ihren arroganten Vortrag hätten Sie
sich sparen können. Denn wir sind diejenigen, die sagen:
Wir müssen die Rolle der Kreditinstitute wieder auf ihre
Kernfunktion, nämlich auf eine der Realwirtschaft die-
nende Funktion, beschränken.


(Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten Sie mal was dafür tun und nicht nur Unsinn reden!)


Aber diese Situation haben wir ja nicht. Die Banken-
landschaft ist so groß geworden, weil die Banken im Zo-
ckergeschäft tätig sind, und nicht, weil sie die Realwirt-
schaft finanzieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen muss genau dies angegangen werden.


(Johannes Kahrs [SPD]: So wird das garantiert nichts!)


Wenn man das systematisch nicht angeht, dann verfehlt
man letztlich das eigentliche Ziel.


(Johannes Kahrs [SPD]: Getretener Quark wird breit, nicht stark!)


Aber das heißt natürlich, sich auch mit den Mächtigen
anlegen zu müssen. Das ist in diesem Fall nicht passiert.

Kommen wir zu einem Punkt, der für uns zentral ist:
zum Bankenrettungsfonds. Minister Schäuble hat eben
dargestellt, es gehe dabei um einen Solidarpakt und um
die solidarische Haftung für gemeinsame Risiken. Das
hört sich gut an. In der Tat sind wir der Ansicht, dass die
Branche sowohl zur Begleichung der bisherigen Kosten
als auch zur Begleichung zukünftiger Kosten in einen
solchen Fonds einzahlen muss. Er müsste viel größer
sein. Aber einzahlen müssten diejenigen, die wirklich
Risiken erzeugen und mit den Mitteln aus einem solchen
Fonds gerettet werden können. Wenn man mit einem sol-
chen Fonds aber letztlich die Bankenlandschaft Deutsch-
lands plattzumachen versucht, indem man deutsche
Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Zahlung
der Beiträge massiv mit heranzieht, dann geht das voll
am Thema vorbei,


(Beifall bei der LINKEN)


weil diese erstens regional organisiert sind, diese Risi-
ken also gar nicht erzeugen, und weil sie zweitens ein je-
weils eigenes Sicherungssystem haben. Die retten sich
selber; die brauchen keinen Bankenrettungsfonds. Also
ergibt es auch überhaupt keinen Sinn, dass sie in einen
solchen Bankenrettungsfonds einzahlen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Warum wollt ihr denn, dass noch mehr eingezahlt wird?)


Jetzt wird gesagt: Na ja, da haben wir im Prinzip ein
Problem. Es gibt eine Kleinbankenregelung, also eine
Regelung für Banken mit einer Bilanzsumme von unter
1 Milliarde Euro. – Das hört sich erst einmal gut an,
wenn man nicht Bescheid weiß. Wenn man weiß, dass
nur 20 Prozent der Sparkassen darunterfallen, heißt das:
80 Prozent liegen darüber. Diese Banken müssen nicht
nur einen Beitrag von 1 000 bis 50 000 Euro pro Jahr
zahlen, sondern sie müssen deutlich mehr bezahlen.
Eben haben wir vom Minister gehört: Es gibt eine Über-
gangsregelung – diese will man auch in Anspruch neh-
men –, die Banken mit einem Bilanzvolumen von 1 bis





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

3 Milliarden Euro etwas Erleichterung bringt. – Wir ha-
ben das einmal im Einzelnen nachgerechnet. Das sind
maximal 10 Prozent Ersparnis, und das gegenüber viel,
viel höheren Beiträgen, die gezahlt werden müssen.

Damit das nicht so abstrakt bleibt, mache ich das ein-
mal ganz konkret mit Blick auf einige mir nachfolgende
Redner deutlich. Wir haben in Bad Tölz – das ist der
Wahlkreis des CSU-Debattenredners Alexander Radwan –
eine Sparkasse mit einem Bilanzvolumen von 2 Milliar-
den Euro. Sie wird, so ist uns im Finanzausschuss vorge-
rechnet worden, zwischen 240 000 und 300 000 Euro
jährlich in diesen Fonds einzahlen müssen, ohne jemals
gerettet werden zu können. Nehmen wir die Sparkasse
Wuppertal – Kollege Manfred Zöllmer spricht als
Nächster –, die Sparkasse einer Stadt, die völlig pleite
ist, kein Geld mehr für Schulen, Schwimmbäder, Theater
und anderes mehr hat. Diese Sparkasse wird keine
Chance mehr haben, Geld gemeinnützig auszuschütten,
wenn sie denn Gewinne macht. Sie muss jedes Jahr
900 000 Euro an den Fonds abführen, ohne jemals etwas
davon zu haben.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist doch gelogen!)


Wir können aber auch – Kollege Brinkhaus, gut, dass du
gerade etwas sagst –


(Heiterkeit des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


die Volksbank Bielefeld-Gütersloh oder, Kollege Schick,
die Volksbank Rhein-Neckar heranziehen. Beide Volks-
banken werden entsprechend ihrer Größe jeweils um die
0,5 Millionen Euro jährlich in diesen Fonds einzahlen
müssen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Das stimmt nicht!)


Dabei ist klar, dass noch niemals eine Volksbank
gerettet werden musste, weil die eigenen Sicherungs-
systeme immer ausgereicht haben.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber vielleicht die Spitzenverbände! Jetzt sei mal ehrlich!)


– Nein, es bleibt dabei. Das sind alles Beträge, die der
Gemeinnützigkeit entzogen werden. Deshalb ist das in
dieser Übergangsregelung nicht vernünftig geregelt.


(Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Es ist falsch, was du da sagst!)


Deswegen kann ich nur sagen: Gerade bei der Ban-
kenregulierung zeigt sich das gleiche Muster wie bei der
Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung der
vergangenen 20 Jahre. Auch in diesem Fall findet eine
Umverteilung von unten nach oben statt, in diesem Fall
von den Sparkassen hin zu den Großbanken. Das lehnen
wir ab. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf auf
keinen Fall zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806306100

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Manfred Zöllmer,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1806306200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Dienstag dieser Woche war wirklich ein historischer
Tag. Die Europäische Zentralbank hat an diesem Tag die
Aufsicht über die großen Banken in den meisten
Ländern in Europa übernommen. Damit ist die erste
Säule der Bankenunion sozusagen in Betrieb gegangen.
Dies ist ein ganz wichtiger Schritt zur Stabilisierung der
Finanzmärkte in Europa, aber auch zur Stabilisierung
der Euro-Zone; denn die Finanzmarktkrise war letztlich
die zentrale Ursache der Staatsschuldenkrise in Europa.
Das wird leider häufig vergessen.

Mit der Bankenunion wird ein Geburtsfehler der
Euro-Zone behoben. Es gab eine ganze Reihe von Ge-
burtsfehlern der Euro-Zone, damals von Bundeskanzler
Kohl und Finanzminister Waigel so verhandelt. Diese
Geburtsfehler sind die Ursache für viele Probleme, mit
denen wir zu kämpfen haben. Ich betone das deshalb,
weil der von mir soeben angesprochene ehemalige
Bundeskanzler Kohl nun in einem Buch versucht, Ge-
schichtsklitterung zu betreiben. Er war unbestreitbar ein
großer Europäer, aber die Fehler bei der Einführung des
Euro muss er, muss die damalige Bundesregierung ver-
antworten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit der Einführung der Bankenunion gehen wir einen
wichtigen Schritt in Richtung einer europäischen
Finanzmarktunion. Dies tun wir in einer Zeit, in der se-
paratistische und nationalistische Strömungen in Europa
in vielen Ländern hoffähig geworden sind, in einer Zeit,
in der viele sagen, Europa sei in einer veritablen Krise.

Die erste Säule ist also die Bankenaufsicht, die es seit
Dienstag gibt. Die zweite Säule betrifft die Restrukturie-
rung und Abwicklung. Das ist das, was wir heute
beschließen werden.

Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: In Zukunft sollen
die Steuerzahler nicht mehr für die Zockereien von
Banken bluten müssen. Auch systemrelevante Banken
sollen in einem geordneten Verfahren abgewickelt wer-
den können. Im Insolvenzfall sollen Eigentümer und
Gläubiger haften. Damit wollen wir auch auf den
Finanzmärkten wieder marktwirtschaftliche Verhältnisse
einführen. Risiko und Haftung müssen wieder zusam-
mengehören.

Mit diesem Gesetz setzen wir eine europäische Richt-
linie um. Dies ist sehr komplex, aber wir haben das sehr
gründlich diskutiert. Allein 47 Änderungsanträge haben
wir im Finanzausschuss beschlossen.

Es gab eine Vorbedingung, die wir an die Verabschie-
dung dieses Gesetzentwurfs gestellt haben: Wir wollten
vor dem Beschluss den Vorschlag der Kommission zur
europäischen Bankenabgabe kennen. Diese Banken-
abgabe speist einen europäischen Abwicklungsfonds.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)

Kollege Troost hat vorhin Ausführungen zu diesem
Thema gemacht. Das war uns deshalb wichtig, weil wir
unser bewährtes dreigliedriges Bankensystem mit der
Vielzahl kleiner und sehr kleiner Institute, das in dieser
Form einzigartig in Europa ist, erhalten wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt kennen wir diesen Vorschlag. Er ist aus unserer
Sicht nicht optimal, aber akzeptabel, weil er die Interes-
sen der kleinen Institute – im Gegensatz zu dem, was du
hier gesagt hast – berücksichtigt. Wir haben es hier mit
einem Solidarsystem des Finanzsektors zu tun. Deswe-
gen müssen wir sagen: Der Finanzminister hat gut
verhandelt. Es gibt zukünftig einen nationalen Spiel-
raum, um kleinere Institute noch weiter zu schonen. Von
dem Wahlrecht zur Entlastung kleinerer und mittlerer
Banken will die Bundesregierung Gebrauch machen; das
begrüßen wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung
dieses Wahlrecht auch nach 2016 zugunsten der kleinen
Institute nutzt.

Lassen Sie mich einfach einmal feststellen: Lösungen
auf europäischer Ebene, bei denen viele Staaten betrof-
fen sind, deren Bankensysteme extrem unterschiedlich
sind, müssen notwendigerweise ein Kompromiss sein.
So muss auch die Ausgestaltung der Bankenabgabe vor
dem Hintergrund von 6 000 europäischen Instituten im-
mer ein Kompromiss sein.

Steuersystematisch wäre die Bankenabgabe übrigens
eine Betriebsausgabe, und Betriebsausgaben sind, das
wissen wir, steuerlich absetzbar. Wir haben es hier aber,
das hatte ich gesagt, nicht mit einer normalen Betriebs-
ausgabe zu tun – die Bankenabgabe ist ein Beitrag des
Bankensystems zur Finanzierung zukünftiger Krisen.
Deshalb wollen wir Sozialdemokraten nicht, dass auf
diesem Weg, quasi durch die Hintertür, die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler wieder an den Kosten einer
möglichen Bankenrettung oder -abwicklung beteiligt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In vielen europäischen Ländern – ich weiß das – wird
das anders gesehen. Wir setzen uns auch ein für ein, wie
das auf Englisch heißt, „level playing field“, also für ei-
nen gemeinsamen Wettbewerbsrahmen, und bitten die
Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene für eine
einheitliche Lösung einzusetzen, damit es nicht zu
Wettbewerbsverzerrungen kommt. Eine Lösung kann
aus unserer Sicht aber nur die Nichtabsetzbarkeit der
Bankenabgabe bei den Steuern zur Folge haben.

Ein weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzesvorha-
bens war die Umsetzung der Haftungskaskade. Die
Umsetzung der Forderung, dass im Falle einer Insolvenz
Eigentümer und Gläubiger ab einer bestimmten Höhe
haften müssen, führt dazu, dass, wenn der Worst Case ei-
ner Insolvenz eintritt, letztendlich auch bei Sparkassen
ein Rechtsformwechsel notwendig wird; sonst wäre die-
ses Haftungsverfahren bei einer öffentlich-rechtlichen
Körperschaft so nicht umzusetzen. Die Sparkassen
haben aber deutlich gemacht: Diese Situation wird nie
eintreten. – Sparkassen haben ein Institutssicherungssys-
tem, das im Krisenfalle in Not geratene Sparkassen auf-
fangen wird; das ist in der Vergangenheit auch schon ge-
schehen. Der Rechtsformwechsel ist von daher nur ein
theoretischer Fall, der nach den Aussagen der Sparkas-
sen so niemals eintreten wird. Für die Umsetzung der
Richtlinie ist es allerdings notwendig, im Gesetz Rege-
lungen für den Worst Case zu implementieren.

Wir lassen den Bundesländern nun ein Wahlrecht, wie
sie mit einer Änderung der Sparkassengesetze umgehen
wollen. Sie haben dann die Möglichkeit, alternative
Wege zu gehen.

Ein weiterer Diskussionspunkt in diesem Zusammen-
hang war die Umsetzung des Trennbankengesetzes, das
die schwarz-gelbe Bundesregierung in der letzten Legis-
laturperiode verabschiedet hat.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Pseudo-Trennbankengesetz! Seien Sie doch mal ehrlich!)


– Sie kommen doch gleich dran; dann können Sie or-
dentlich draufhauen. – Gleichzeitig gibt es auf europäi-
scher Ebene Vorschläge zu Trennbanken. Wir haben uns
im Koalitionsvertrag auf den Report von Herrn Liikanen
bezogen, der auf europäischer Ebene eine Kommission
geleitet und entsprechende Vorschläge gemacht hat.

Deutsche Banken haben gefordert, dass man die deut-
schen Regelungen, deren Umsetzung nun beginnen
muss, aufweichen solle. Wir Sozialdemokraten haben
dieses abgelehnt, weil „too big to fail“ – die Problema-
tik, dass von den Spareinlagen der Kunden Zockereien
finanziert werden – für uns auf Dauer nicht haltbar ist.
Wir brauchen eine vernünftige gesetzliche Regelung im
Trennbankengesetz. Wir wollen deswegen das deutsche
Recht nicht aufweichen, sondern wir wollen uns im
nächsten Jahr mit dieser Frage und der Umsetzung inten-
siv beschäftigen.

Die Aufsicht über die europäischen Großbanken wird
nun von der EZB ausgeübt. Wir wollen aber, dass dies
nur übergangsweise der Fall ist. Insofern hat der Kollege
Troost in diesem Punkt völlig recht. Die Sache mit der
chinesischen Mauer ist eher eine Fiktion. Auf Dauer
muss der mögliche Konflikt zwischen Aufsicht und
Geldpolitik durch eine Trennung beider Funktionen auf-
gelöst werden.

Die EZB arbeitet eng mit den nationalen Aufsehern
zusammen, also Bundesbank und BaFin. In der letzten
Legislaturperiode wollte die schwarz-gelbe Bundesre-
gierung die Bankenaufsicht allein auf die Bundesbank
übertragen. Dies hat die Bundesbank abgelehnt. Wir
stellen fest, dass auch in Zukunft die bewährte Aufga-
benteilung zwischen BaFin und Bundesbank bei der
deutschen Bankenaufsicht erhalten bleibt. Wir erwarten,
dass die entsprechenden Informationskanäle so gestaltet
werden, dass beide Institute von der Aufsicht der EZB
profitieren und dass es klare Verantwortlichkeiten gibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Geset-
zespaket sind noch nicht alle Probleme einer neuen Fi-
nanzmarktarchitektur in Europa gelöst.






(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806306300

Herr Kollege Zöllmer, denken Sie an Ihre Redezeit?


Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1806306400

Ja, natürlich. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von

den Linken, es gibt diesen grünen Knopf eben nicht. Wir
haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen.
Aber es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, es sei noch
nichts geschehen, wie es einige Ideologen von links und
rechts in Politik und Medien immer wieder versuchen.
Wir machen heute einen großen Schritt in die richtige
Richtung zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist
ein wichtiger Integrationsschritt, und das ist gut so.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806306500

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Gerhard

Schick, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will noch einmal kurz auf die Debatte eingehen, die
sich zwischen Herrn Schäuble und uns ergeben hat. Herr
Schäuble, ich weiß, dass Sie das verstehen, und Sie
wissen, dass ich das verstehe: Auf diese Debattenebene
müssen wir nicht gehen, sondern wir können klar-
machen, wo die Unterschiede liegen und worin wir uns
einig sind.

Bei folgendem Thema sind wir uns doch völlig einig:
Wir wollen das, was man als den Teufelskreis zwischen
Banken und Staaten bezeichnet, durchbrechen. Das steht
in Ihren Texten, das steht in unseren Texten; darin sind
wir uns einig. Das heißt, wenn eine Bank in eine Schief-
lage gerät, dass sie also zu hohe Bankschulden hat, dann
soll nicht nachher der Steuerzahler die Last tragen. So
weit herrscht Einigkeit.

Jetzt gibt es aber in zwei Punkten Unterschiede, die
dazu führen, dass wir heute nicht dem gesamten Paket
zustimmen, sondern zu einzelnen Punkten Nein sagen.
Der erste Punkt ist der hypothetische Fall, dass eine por-
tugiesische, spanische oder italienische Bank in eine
Schieflage gerät. Was würde dann passieren? Jetzt sagt
Herr Schäuble, er habe so verhandelt, dass die ESM-
Mittel, also die vom europäischen Steuerzahler bereit-
gestellten Mittel, nur im äußersten Extremfall genutzt
werden. Deswegen lässt er den jeweiligen Mitgliedstaat
sehr lange in der Verantwortung für die Bank. Das haben
Sie verhandelt, und das haben Sie gerade so dargestellt.

Das führt dazu, dass der jeweilige Nationalstaat für
eine sehr lange Zeit noch in der Verantwortung ist, wenn
eine Bank auf seinem Territorium kippen sollte. Da sa-
gen wir: Genau das ist die Weiterführung des Teufels-
kreises zwischen Bankschulden und Staatsschulden, den
wir durchbrechen wollen. An dieser Stelle ist das, was
Sie sagen, widersprüchlich. Wir haben an dieser Stelle
einen anderen, besseren Vorschlag, mit dem diese Tren-
nung wirklich erreicht würde.

Wenn man es nämlich in dem Fall, dass in der Über-
gangszeit, solange der Fonds durch die Bankenabgabe
noch nicht genügend aufgefüllt ist, noch Geld benötigt
wird, so wie in den USA macht, dann ist das die bessere
Lösung. Was wird in den USA gemacht? Wenn der Ban-
kenfonds, den die Banken befüllen, noch nicht genügend
Geld enthält, dann kann er einen Kredit aufnehmen, den
nachher die Banken wieder zurückzahlen müssen. Die
Verpflichtung bleibt bei den Banken. So hat das während
der Krise die Federal Deposit Insurance Corporation in
den USA gemacht. Das wäre auch für Europa die rich-
tige Lösung. Dann bleibt es nämlich dabei, dass Banken-
probleme bei den Banken bleiben und nicht die Steuer-
zahler einspringen. Das ist unser Vorschlag, und er ist
besser als Ihrer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806306600

Herr Kollege Schick, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wolfgang Schäuble?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich würde dem Abgeordneten Schäuble gerne die Ge-
legenheit zu einer Zwischenfrage geben.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1806306700

Vielen Dank. – Herr Kollege Schick, würden Sie mir

bitte bestätigen, dass der europäische Restrukturierungs-
fonds die Möglichkeit der Kreditaufnahme hat? Sie ha-
ben gerade gesagt, der amerikanische Bankenfonds
könne einen Kredit aufnehmen. Das kann auch der euro-
päische Restrukturierungsfonds. Er kann aber den Kredit
nicht unter Vergemeinschaftung der Haftung der Mit-
gliedstaaten aufnehmen. Dies war der Streitpunkt in den
Verhandlungen; denn wir haben abgelehnt, dass man
über die Kreditaufnahme des Restrukturierungsfonds
doch eine Vergemeinschaftung der Mitgliedstaatenhaf-
tung in der Aufbauphase vornimmt. Darum ging es. In-
sofern haben Sie es gerade falsch dargestellt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke für die Zwischenfrage. Das ist genau der
Punkt: Warum muss dann noch der Steuerzahler bei dem
ESM-Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung
nach wie vor in der Haftung sein? Ich glaube, dass in ei-
nem wirklichen Krisenfall tatsächlich eine Kreditaufnah-
memöglichkeit wie in den USA – dort ist sie nämlich ge-
genüber dem Finanzministerium möglich, aber es bleibt
ein Kredit, der von den Banken gezahlt werden muss; so
ist es auch mit einem Volumen von mehreren Milliarden
US-Dollar in den USA passiert – auch für Europa die
bessere Lösung wäre.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wer haftet denn dann?)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

Sie stellen nach wie vor an dieser Stelle Steuerzahlergeld
ins Schaufenster. Wir befürchten, dass der Steuerzahler
erneut in die Haftung gerät, und das wollen wir nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt, in dem es ebenfalls um Steuerzah-
lergeld geht, bezieht sich auf die Rolle des Soffin in Ih-
rem Gesetzentwurf. Warum soll, wenn eine deutsche
Bank in Schwierigkeiten gerät, jetzt noch einmal über
den Soffin, den deutschen Finanzmarktstabilisierungs-
fonds, Steuerzahlergeld angeboten werden? Entweder
vertraut man auf die Gesetze, die Sie mit vorangetrieben
haben, zum Beispiel das Restrukturierungsgesetz, und
sieht das Ganze in der Verantwortung der Gläubiger –
dann braucht man das nicht –, oder man hat Angst, dass
es nicht funktioniert; dann soll man es aber auch sagen.
Wir meinen, dass es notwendig ist, diesen Teufelskreis
zwischen Bankenproblemen und Steuerzahler wirklich
zu durchbrechen. Deswegen sagen wir zu der Verlänge-
rung des Finanzmarktstabilisierungsfonds in Deutsch-
land Nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will aber auch noch auf das eingehen, was in Zu-
kunft notwendig ist. Denn bei dem, was wir jetzt auf den
Weg bringen und bei dem wir in Bezug auf den europäi-
schen Abwicklungsmechanismus einer Meinung sind,
nämlich dass er jetzt vorangetrieben werden sollte, bleibt
zu sagen: Bei wirklich großen Banken funktioniert das
nicht. Banken wie Barclays und die Deutsche Bank sind
zu groß und komplex. Das zeigt auch die Erfahrung in
den USA, dass die wirklich großen Banken im Ernstfall
nicht durch einen solchen Abwicklungsmechanismus ab-
gewickelt werden können. Deswegen ist es notwendig,
dass diese großen Banken kleiner und in der Struktur
einfacher werden.

An der Stelle war ich sehr überrascht – Herr Kollege
Zöllmer hat es schon angesprochen –, dass die Union
jetzt ausgerechnet bei dem Thema Trennbankensystem
noch einmal hinter die wachsweiche Formulierung Ihres
Gesetzes zurückgehen wollte. Ich habe den Eindruck,
dass Sie nach wie vor, wenn die Deutsche Bank signali-
siert, dass sie etwas nicht will, auf Zuruf schnell das Ge-
setz ändern. So geht das nicht. Man braucht dabei schon
eine gewisse Autorität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt beim Blick auf die Zukunft ist: Mit
dem Bankenstresstest ist sichergestellt worden, dass die
meisten Banken in Europa grob überleben können. Das
ist aber nicht genug. Wenn die Wirtschaft in Europa sta-
bilisiert werden und sich in der nächsten Zeit gut entwi-
ckeln soll, dann brauchen wir nicht nur Banken, die ir-
gendwie überleben, sondern es muss endlich eine
wirkliche Stabilität geschaffen werden. Im internationa-
len Vergleich ist es nach wie vor so, dass europäische
Banken zu wenig eigenes Kapital haben, zu wenig stabil
sind und die Risiken im Ernstfall immer noch zu leicht
auf andere verlagert werden können. Deswegen bleibt es
auch nach dem Bankenstresstest Aufgabe, das Eigenka-
pital der Banken zu stärken. Wir brauchen eine Leverage
Ratio, eine Schuldenbremse, für Banken, die deutlich
höher ist als das, was bisher als grobe Beobachtungs-
größe von 3 Prozent festgelegt ist.

Wirkliche Stabilität im Finanzsektor ist durch das
heutige Gesetz noch nicht erreicht. Wir kommen einen
Schritt weiter. Aber es bleiben große Aufgaben. Große
Banken müssen kleiner werden, und sie brauchen deut-
lich mehr Kapital als bisher.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806306800

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt

das Wort Norbert Barthle.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1806306900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer der Rede
unseres Bundesfinanzministers genau zugehört hat, ist
eigentlich umfänglich informiert über die Inhalte des
vorliegenden Pakets. Aber ich vermute, dass manche da
draußen auch dem Kollegen Schick zugehört haben.
Deshalb ist es mir wichtig, Herr Kollege Schick, zur Er-
klärung Ihrer Position festzustellen: Sie waren schon im-
mer für die Vergemeinschaftung der Verschuldung und
gemeinsame Haftung bei der Verschuldung.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völliger Quatsch!)


Sie gehörten zu denjenigen, die einen gemeinsamen
Schuldentilgungsfonds gefordert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind dafür, dass die EZB es macht!)


Genau das ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffas-
sung und unserer, die der Minister dargelegt hat.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht der Unterschied!)


Das müssen die Menschen wissen. Dann erklärt sich die
Unterschiedlichkeit Ihrer Position.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!)


Was das gesamte Paket angeht, haben meine Vorred-
ner die notwendigen Details bereits dargelegt. Ich will
mich daher beschränken auf die direkte Bankenrekapita-
lisierung durch den ESM. Ich betrachte dieses neue In-
strument als sinnvoll. Es rundet das Gesamtpaket ab.
Ganz so neu ist es nicht; denn eigentlich haben die
Staats- und Regierungschefs bereits im Jahr 2012 verein-
bart, dies zu machen, allerdings unter der Voraussetzung,
dass es einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus
und eine einheitliche Bankenaufsicht gibt. Das wurde als
Voraussetzung immer genannt. Diese haben wir nun er-
füllt. Deshalb ist es sinnvoll, diesen letzten Baustein
vollends zu beschließen. Ich werbe daher um Zustim-
mung zum gesamten Paket.





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

Erinnern wir uns daran: Die grundsätzliche Funktion
des ESM ist eigentlich, Staaten in massiven Finanzie-
rungsschwierigkeiten mit Hilfskrediten im Rahmen ei-
nes Anpassungsprogramms beizustehen, um damit die
Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone zu wahren.
Nun hat sich im Zuge der 2010 begonnenen Staatsschul-
denkrise gezeigt, dass es durchaus zu negativen Wech-
selwirkungen zwischen der Schieflage der öffentlichen
Haushalte und den Störungen in den jeweiligen Finanz-
sektoren kommen kann. Im Extremfall ist es möglich,
dass ein Staat die benötigten Finanzhilfen nicht mehr in
voller Höhe bereitstellen kann, ohne seine eigene Schul-
dentragfähigkeit zu überdehnen und den Zugang zum
Kapitalmarkt zu verlieren. Wenn eine betroffene Bank
systemrelevant ist, also das Finanzsystem in der Euro-
Zone insgesamt gefährdet, kann unter Umständen eine
direkte Rekapitalisierung dieser Bank durch den ESM
tatsächlich anstehen, allerdings – darauf hat der Finanz-
minister deutlich hingewiesen – anders, als es sich 2012
viele im europäischen Raum vorgestellt haben. Damals
dachten manche, man könne mit diesem Instrument die
nationalen Bankprobleme aus der Vergangenheit beim
ESM abladen. Dem ist nicht so. Das läuft nicht; denn
dem haben wir einen klaren Riegel vorgeschoben. Die
direkte Rekapitalisierung durch den ESM steht immer
am Ende einer langen Haftungsabfolge, wie sie der Fi-
nanzminister dargelegt hat. Die Risiken bleiben bei den-
jenigen, die zuvor Gewinne eingestrichen haben. Das ist
richtig so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass wir diesem Prinzip europaweit Gültigkeit verschaf-
fen, ist eine der zentralen Errungenschaften der Banken-
union. Darauf können wir zu Recht stolz sein.

Wenn wir zurückblicken, was wir alles zur Bekämp-
fung der aktuellen Krise und im weiteren Verlauf zur
Vorbeugung getan haben, dann müssen wir feststellen,
dass das, was wir bisher geleistet haben, durchaus er-
folgreich war. Von den fünf Ländern, die unter den Ret-
tungsschirm gegangen sind, nehmen noch zwei Länder,
Griechenland und Zypern, Hilfsprogramme in Anspruch.
Griechenland wird bereits Ende 2014 aus dem Pro-
gramm aussteigen. Ich frage die Kritiker: Was haben wir
also falsch gemacht? Es funktioniert doch, auch wenn
ein bekannter deutscher Verfassungsrechtler, der schon
einmal in Karlsruhe gescheitert ist, erneut meint, dass
wir dieses Paket ablehnen sollten. Er führt dafür Begrün-
dungen auf, die aus meiner Sicht eher juristisch-sophis-
tisch als tragfähig sind.

Für mich ist klar: Diese direkte Bankenrekapitalisie-
rung kommt nur als allerletztes Instrument infrage und
steht am Ende einer langen Haftungskette, und – das ist
mir wichtig – sie erhöht nicht das gesamte Risiko, das
wir mit dem ESM übernommen haben. Das ist und bleibt
Teil des gesamten ESM-Volumens, auch wenn klar ist,
dass am Ende, wenn dieses Instrument angewendet wer-
den sollte, tatsächlich der ESM und die Kapitalgeber des
ESM, also die einzelnen Mitgliedstaaten, dafür haften.
Das ist keine Frage, und das ist nie bestritten worden.

Aber es gibt auch für die Anwendung dieses Instru-
ments klare Leitlinien. Der Haushaltsausschuss hat ih-
nen gestern zugestimmt. Diese Leitlinien legen für die
Anwendung sehr hohe Hürden fest. Ich will ganz kurz
daran erinnern:

Es muss der Antrag eines Mitgliedstaats erfolgen.
Eine Bank kann sich nicht direkt an den ESM wenden,
sondern nur ein Mitgliedstaat. Es entsteht damit eine
Rechtsbeziehung zwischen dem Mitgliedstaat und dem
ESM.

Eine direkte Rekapitalisierung ist nur dann möglich,
wenn die indirekte Rekapitalisierung nicht mehr möglich
war.

Sie ist immer mit Auflagen verbunden, entweder ins-
titutsspezifischen, sektorspezifischen oder gesamtwirt-
schaftlichen Auflagen. Das ist das, was man als MoU,
Memorandum of Understanding, kennt.

Schließlich steht dieses Mittel im Rahmen der Haf-
tungskaskade erst ganz am Ende, als allerletztes Mittel
zur Verfügung.

Überdies ist es so, dass der beantragende Mitglied-
staat auch bei der direkten Rekapitalisierung dafür sor-
gen muss, dass eine minimale Kapitalquote der Bank
von 4,5 Prozent erreicht wird. Das bedeutet in der Folge,
dass die direkte Rekapitalisierung nicht bei Banken zum
Tragen kommt, die nicht überlebensfähig sind, sondern
nur Banken gerettet werden, die aufgrund dieser Min-
destkapitalquote eine Überlebensperspektive haben. Das
wiederum sichert die Rückzahlung der vergebenen Kre-
dite.

Mit dieser Abfolge ist sichergestellt, dass ein Miss-
brauch dieses Instruments ausgeschlossen ist. Man kann
sogar annehmen – darauf hat Herr Regling in der Anhö-
rung, die wir durchgeführt haben, hingewiesen –, dass
dieses Instrument vermutlich nie zur Anwendung kom-
men wird, weil die Hürden für die Anwendung sehr hoch
sind.

Ein wichtiger Punkt, den ich noch erwähnen möchte,
ist die Parlamentsbeteiligung. Wir haben bei all diesen
Maßnahmen immer großen Wert darauf gelegt, dass das
Parlament, der gesamte Deutsche Bundestag oder zu-
mindest der Haushaltsausschuss, in die Entscheidungen
eingebunden wird. Auch bei diesem Instrument ist das
so.


(Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


– Danke, lieber Kollege Johannes Kahrs. – Es ist sogar
so, dass nicht nur die Einführung dieses Instruments,
sondern auch jede einzelne Anwendung zunächst vom
Deutschen Bundestag beschlossen werden muss. Ande-
renfalls müssten der Finanzminister oder die Bundes-
kanzlerin Nein sagen. Sie können sich auch nicht der
Stimme enthalten. Wir müssen einen positiven Be-
schluss herbeiführen, und damit ist der gesamte Bundes-
tag involviert.

Wir haben nach intensiven Beratungen die ursprüng-
lich vorgesehene Regelung, dass gegebenenfalls, wenn
es sich um vertrauliche Informationen handelt, nur das
sogenannte Neunergremium informiert werden sollte,
aus dem Gesetzentwurf wieder herausgenommen. Auf





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

die rechtlichen Bedenken hat unser Bundestagspräsident
Norbert Lammert schon sehr frühzeitig hingewiesen.
Deshalb haben wir diese Regelung herausgenommen.
Damit sind wir verfassungsrechtlich auf dem sicheren
Weg. Wir haben dies also nicht auf die leichte Schulter
genommen.

Wir wissen, dass damit eine große Verantwortung für
das gesamte Hohe Haus einhergeht; denn im Zweifels-
fall müsste der gesamte Deutsche Bundestag die Sach-
lage beurteilen. Das geht dann, wenn man die notwen-
dige Vertraulichkeit wirklich herstellt; aber die müsste
dann auch gewährleistet sein.

Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei, drei Anmer-
kungen zu der gesamten Situation, in der wir uns befin-
den, machen. Wir beschließen dieses Paket zur Banken-
union in einer Zeit, in der die Staatsschuldenkrise noch
nicht so richtig überwunden ist. Wenn man sich die
Staatsschuldenquoten der einzelnen Euro-Länder genau
anschaut, stellt man fest, dass sie seit Ausbruch der Krise
nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen sind.

Also darf man die Frage der Staatsverschuldung nicht
auf die leichte Schulter nehmen. Anders ausgedrückt:
Wir haben einen Stabilitätspakt beschlossen. Wir haben
einen Fiskalvertrag geschlossen. Wir haben die Ver-
schärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts be-
schlossen. Derzeit wird auf europäischer Ebene vorwie-
gend über Wachstumsimpulse und weniger über die
Frage der Stabilität diskutiert. Das ist etwas, was uns mit
Sorge erfüllt; denn wir sind der Auffassung, dass das
eine nicht ohne das andere zu denken ist und dass man
die Balance zwischen Wachstumsimpulsen und Stabili-
tätsbemühungen wahren muss. Wer den Wachstumspakt
genau studiert und wer den Fiskalvertrag genau liest, der
stellt sehr schnell fest, dass es dort vorwiegend um Sta-
bilität, um Defizitreduzierung und nicht um Konjunktur-
programme und Ähnliches geht.

Defizitabbau ist der Kernpunkt all dieser vertragli-
chen Vereinbarungen. Das sollten wir im Auge behalten,
insbesondere dann, wenn in den kommenden Wochen
und Monaten die Europäische Kommission die vorge-
legten Haushalte anderer Mitgliedstaaten beurteilen
muss. Wir sind sehr gespannt, wie dies erfolgt, und hof-
fen, dass damit der Wachstums- und Stabilitätspakt nicht
beschädigt, sondern gestärkt wird.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806307000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Lothar Binding,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1806307100

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute
Vorlagen zur Schaffung der Europäischen Bankenunion
im Wesentlichen, um künftig Krisen abzuwenden oder
für den Fall der Krise gewappnet zu sein. Bei den Vorträ-
gen von Manfred Zöllmer, von Vertretern der CDU/
CSU-Fraktion und von Bundesminister Schäuble gab es
immer eine gewisse Nervosität auf der ganz linken Seite
dieses Hauses. Man forderte, irgendwie mehr zu ma-
chen; schließlich ist geregelt, dass auf „schwere wirt-
schaftliche Störungen“ reagiert werden muss, um zu ver-
hindern, dass allzu viel schiefgeht.

An dieser Stelle geht mir ein Bild durch den Kopf,
das vielleicht nicht in allen Punkten zutrifft: Sahra
Wagenknecht und ich wandern in einem Gebirge,


(Heiterkeit – Olav Gutting [CDU/CSU]: Im Odenwald! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Das würde ich nie machen!)


und ich habe mein Geld vergessen.


(Zurufe von der LINKEN)


– Das diskutieren wir ein andermal. – Sie bezahlt mein
Frühstück. Wir wandern weiter und stürzen ab. Wir sind
im freien Fall – stellen Sie sich das vor: der Binding und
die Wagenknecht im freien Fall! –, und dann sagt Sahra
Wagenknecht zu mir: Lass uns einmal über die Verzin-
sung der 10 Euro reden, die ich für dein Frühstück aus-
gegeben habe. Ich antworte: Nein, es ist viel besser, da-
rüber zu reden, ob man nicht rechtzeitig an ein Netz
hätte denken sollen oder an einen Zaun, der verhindert,
dass wir abstürzen. – Wenn man jedenfalls im freien Fall
ist, dann muss man mehr machen, als über die Zinsen für
die 10 Euro, die sie mir für das Frühstück ausgelegt hat,
zu diskutieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist die Basis, auf der wir heute diskutieren.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die hätte Ihnen das Frühstück spendiert!)


– Wir waren preiswert unterwegs, und die Sahra ist si-
cher sparsam.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie hätte Ihnen das aber spendiert!)


– Da bin ich mir nicht ganz so sicher.

Eine weitere Frage ist, ob es eigentlich gut ist, zu sa-
gen: Wir wollen die Risiken vom Steuerzahler abwen-
den. Das sagen wir ja alle, und eigentlich ist das auch
gut. Die Frage ist nur – einmal angenommen, wir hätten
es wirklich geschafft, dogmatisch vom Steuerzahler die
Lasten abzuwenden –: Wie ist es eigentlich, wenn plötz-
lich der Familienvater die Last trägt oder die Familien-
mutter oder der Sparer oder jemand, der für seine Alters-
vorsorge Geld angelegt hat, oder die Alleinerziehende,
die zur Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder ein
Sparbuch angelegt hat? Wenn wir nur über den Steuer-
zahler reden, dann ist es sicher gefährlich, nicht auch alle
anderen in den Blick zu nehmen. Bei schwerer wirt-
schaftlicher Störung genügt es eben nicht, allein den
Steuerzahler zu schützen; dann müssen wir die Gesamt-
gesellschaften vor solchen Risiken schützen. Deshalb ist
es wichtig, dass die entsprechende Klausel vorhanden ist





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

und dass die Europäische Bankenunion so beschlossen
wird, wie wir es heute tun wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Ausgangslage war recht gefährlich: Wir mussten
Sorge haben, dass eine private Bank in irgendeinem eu-
ropäischen Land relativ leichtfertig in einen öffentlich
gespeisten Topf greifen kann. Das wäre die Finanzierung
der Mittel zur Deckung der Kosten privater Risiken über
öffentliche Steuern, über Steuern der Bürger. Dieser Idee
wollten wir uns natürlich nicht anschließen, und deshalb
war es klug, sich verstärkt Gedanken zu machen und zu-
nächst die Lage der Banken ein bisschen genauer zu un-
tersuchen. Da gibt es zwei Sachen. Bei der AQR, der As-
set Quality Review, guckt man ein bisschen, wie die
Aktiva in den Banken sind, ob sie risikoreich sind oder
nicht. Beim Stresstest guckt man: Wie ist die Entwick-
lung, wenn eine Bilanz unter Druck gerät?

Meines Erachtens ist nach dem Stresstest bei den
Banken ein bisschen zu viel Selbstzufriedenheit aufge-
kommen. Ich habe gelesen, dass die Banken, die durch
den Stresstest gefallen sind, gesagt haben: Das war 2013.
Wir haben inzwischen Eigenkapital aufgebaut und sind
jetzt so ausgestattet, wie es der Stresstest verlangt hat.
Eigentlich sind die meisten jetzt auf der sicheren Seite. –
Da bin ich mir nicht ganz so sicher; denn das reduziert
die Lösung unserer Probleme auf das Eigenkapital.
Gerhard Schick hat gesagt: Wir brauchen eine Leverage
Ratio, um das Risiko unabhängig noch etwas abzusi-
chern. – Aber auch dazu sage ich: Wer nur an das Eigen-
kapital denkt, ist für die Zukunft nicht nachhaltig aufge-
stellt.

Was meine ich damit? Ich nehme einmal an, alle Ban-
ken hätten genügend Eigenkapital in unserem Sinne.
Dann muss man sich überlegen, wie das Verhalten der
Banker ist, ob die Selbstbeschränkung bezogen auf ganz
bestimmte Geschäftsmodelle funktioniert, ob die Verant-
wortung, die sie zu übernehmen bereit sind, ausreicht, ob
– ich benutze einmal den Begriff, der im Bankwesen
heute häufig zu finden ist – es eine neue Kultur gibt.
Gibt es keine neue Kultur im Verhalten der Banker, dann
kann das Eigenkapital so hoch sein, wie es will, es wird
immer wieder zu Problemen kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/ CSU]: Da hat er recht!)


Die Bankenunion als großes Projekt mit ihren drei
Teilen – Aufsicht, Abwicklungsregime, Notfallabwick-
lungsfonds – ist eine gute Idee. Trotzdem ist sie keine
abschließende Lösung. Ich glaube, damit müssen wir uns
noch befassen. Wir sind uns wahrscheinlich in den meis-
ten Punkten einig. Was noch fehlt, ist zum Beispiel die
Besteuerung von Finanztransaktionen. Es gibt im Bank-
wesen Modelle wie den Hochfrequenzhandel und andere
Geschäfte, die besteuert gehören, um die Risiken, die
dort erzeugt werden, in einer Abgabe abzubilden, um
den Steuerzahler zu schützen. – Ich freue mich, dass du
nickst, Hans Michelbach, denn ich weiß, dass das nicht
hundertprozentig deine Meinung ist. Mit dem Nicken si-
gnalisierst du aber, dass wir darüber nachdenken kön-
nen.

So ähnlich ist es natürlich auch mit dem Trennban-
kensystem für große Banken. Auch da sind wir noch
nicht am Ende. Wir müssen die Risiken im Spekulati-
onsgeschäft von den Risiken, die das Realgeschäft be-
treffen, abtrennen; denn sonst wird die Realwirtschaft
immer wieder unter Druck geraten, induziert durch Spe-
kulanten, und das wollen wir natürlich vermeiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist sicher auch zu fragen, ob die Ausstattung des
Fonds mit 55 Milliarden Euro genügt. Wenn wir einmal
an die Fonds denken, die die öffentliche Hand, die europäi-
sche Staaten aufgebaut haben, dann erkennen wir: Da be-
steht wenigstens eine Differenz um den Faktor 10 bis 20.
Wir wollen die Banken nur so weit belasten, dass sie es
überleben – das ist klar –, aber 55 Milliarden Euro sind
zu wenig. Diese Größenordnung ist jetzt der Konsens.
Ich will den ersten Schritt in die richtige Richtung nicht
ablehnen, bloß weil wir noch nicht gleich am Ziel an-
kommen, aber zum Ziel ist es noch ein ganz schön wei-
ter Weg.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Bail-in!)


– Ja; darauf komme ich noch. – Trotzdem ist die Größe
des Topfes möglicherweise nicht hinreichend.

Es gibt viele Dinge, die noch zu verbessern sind. Wir
haben schon öfter über die EZB und darüber gesprochen,
dass sie eigentlich die falsche Aufsichtsbehörde ist.
Trotzdem sind wir dankbar, dass sie die Aufgabe über-
nimmt. Warum? Wir haben keine andere Behörde. Wir
wissen, dass es falsch ist, weil Geld- und Währungspoli-
tik von der Aufsichtsfunktion natürlich abzutrennen ist,
aber wir haben keine andere Behörde. Deshalb sind wir
erst einmal dankbar, dass die EZB das macht; aber wir
sprechen ja von der Sunset Clause.

Wir würden gern in einigen Jahren eine eigene Be-
hörde gründen, die für die Aufsicht zuständig ist, die
auch institutionell von der EZB, die für das Geld zustän-
dig ist, abgetrennt ist. Dann wäre das nicht mehr in einer
Hand. Geldpolitik und Aufsicht in einer Hand, das ist
nämlich schwierig. Das wäre ein großer Schritt. Ich bin
nicht sicher, ob das hier im Haus konsensfähig ist, aber
zumindest in Europa wird es schwierig sein, das zu ver-
handeln. Dennoch sollten wir uns diesem Verhandlungs-
auftrag stellen.

Es gibt ein weiteres Problem – darauf hat Axel Troost
schon hingewiesen –, bei dem sicher noch etwas zu tun
ist: Die Bankenunion, wenn auch mit einer Öffnungs-
klausel, umfasst nur die Euro-Zone. Die Euro-Zone ist
aber nicht Europa; London wurde schon erwähnt. Das ist
sicherlich ein großes Problem. Wir müssen uns verge-
genwärtigen, was passiert, wenn es Krisen innerhalb
oder außerhalb der Bankenunion gibt, inwieweit es In-
fektionskanäle hinein oder heraus gibt. Natürlich haben
wir keine Lust, zu erleben, dass über solche Kanäle die
Bankenunion oder überhaupt Europa infiziert wird. Des-





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

halb ist es wichtig, zur Begrenzung künftiger Krisen da-
rüber noch einmal nachzudenken.

Mit Sicherheit ist später auch noch einmal über den
Grundsatz „too big to fail“ nachzudenken. Eine Bank,
die zu groß ist, darf – das sagt schon der Name – nicht
scheitern. Aber wir müssen auch darüber nachdenken,
was eigentlich passiert, wenn es zu Schwarmeffekten
kommt. Denn Kleinheit an sich ist ja noch kein Pro-
blem – Größe auch nicht. Auch eine kleine Bank kann
große Sauereien treiben. Insofern müssen wir schauen,
ob wir Schwarmeffekte, die sich aus dem gleichen Ver-
halten vieler Gleiche ergeben, nicht besser regulieren
sollten. Das ist sicherlich eine sehr offene Frage.

Zur Bankenabgabe an sich und der damit verbunde-
nen Gewinnminderung in der eigenen Bilanz hat
Manfred Zöllmer schon etwas gesagt. Steuersystema-
tisch ist eine Bankenabgabe ja eine Ausgabe. Und Aus-
gaben sind natürlich kein Gewinn. Das heißt also, ei-
gentlich müsste man diese Ausgabe – die Bankenabgabe –
als Betriebsausgabe abziehen dürfen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist das Nettoprinzip!)


– Ja, das Nettoprinzip.

Jetzt machen wir aber an der Stelle eine Ausnahme,
und das können wir auch sehr gut erklären. Denn wir
richten diesen Topf ja zur Abschirmung von Risiken für
die Steuerzahler ein, und wenn wir gleichzeitig einen
Betriebsausgabenabzug zulassen, dann beteiligen wir
den Steuerzahler an dieser für ihn gedachten Abschir-
mung mit 30 Prozent. Diesen Widersinn kann man nicht
erklären. Vor diesem Hintergrund ist diese Ausnahme-
regelung notwendig.

Die Schwierigkeit ist – du hast darauf hingewiesen,
Manfred –: In Europa sehen das manche anders. Da
spürt man auch zum Teil eine etwas andere Kultur. Es
gibt durchaus Länder, die zwar meinen, der Steuerzahler
sollte vielleicht, eventuell – vermeintlich – ein wenig ge-
schützt werden, aber in Wahrheit soll er es selber bezah-
len. Das wollen wir natürlich nicht. Wir wollen den Steu-
erzahler wirklich schützen.


(Beifall bei der SPD)


Diese Abschirmwirkung soll letztendlich vergrößert
werden. Darüber international zu verhandeln, ist sicher-
lich noch eine Aufgabe für Minister Schäuble – wenn
auch keine beneidenswerte Aufgabe; das wissen wir alle.

Warum spreche ich das an? Diese Ausnahmeregelung
ist keine schöne Lösung; denn es werden in Europa
Wettbewerbsverzerrungen erzeugt, wenn die deutschen
Banken diesen Betriebsausgabenabzug nicht machen
können, während andere, ausländische Banken die Mög-
lichkeit dazu haben. Auf diesen Punkt wollen wir
schauen; unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist hier
noch sehr viel zu tun.

Schließlich wollen wir einen weiteren Punkt genauer
in den Blick nehmen: Diese Abgabe richtet sich ja heute
im Wesentlichen nach der Größe. Wir glauben, dass sie
sich im Wesentlichen nach der Risikobelastung richten
muss. Denn die Risikobelastung ist ja der eigentliche Pa-
rameter, wenn es um eine Gefährdung in der Zukunft
geht.

Ich will noch etwas zu den Anträgen der Linken und
der Grünen sagen, die in wesentlichen Teilen zustim-
mend formuliert sind.

Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht ganz gut
gelungen. Es steht aber auch wieder ein typisches K.-o.-
Argument drin: Ihr wollt die Großbanken vergesell-
schaften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dann
besser zurechtkommen würden als heute. Wahrschein-
lich würden dann alle Fehler in wenigen Händen kumu-
liert. Das wollen wir natürlich nicht.

Auch im Antrag der Grünen gibt es einen kleinen
Pferdefuß. Wir haben den Soffin ja gerade um ein Jahr
verlängert. Sie wollen diese Verlängerung rückgängig
machen. Das ist für uns natürlich ein widersinniger Vor-
schlag, dem wir nicht folgen wollen.

Ich möchte auch noch ein Wort zur Haftungskaskade
sagen. Denn die Haftungskaskade – Sie können es viel-
leicht erkennen – ist ziemlich lang. Die Kaskade verläuft
zwischen dem Risiko und der letztendlichen Belastung
des Steuerzahlers. Und wenn man sieht, wie lang sie ist
– ich zitiere das ganz kurz – –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806307200

Herr Kollege Binding, aber bitte wirklich ganz kurz –

und nicht die ganze Kaskade!


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1806307300

Dann zitiere ich das auch nicht ganz kurz, sondern be-

ende meine Rede lieber mit folgender Bemerkung: Die
Haftungskaskade ist lang, und diese Länge ist ein Zei-
chen dafür, wie stark wir den Steuerzahler vor den Haf-
tungsrisiken der Banken schützen wollen. Deshalb ist
die Bankenunion eine sehr gute Lösung, ein wichtiger
erster Schritt in die richtige Richtung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806307400

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt

der Kollege Alexander Radwan das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Radwan (CSU):
Rede ID: ID1806307500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Minister! Als letzter Redner zu diesem Thema möchte
ich gleich dort anschließen, wo der Herr Kollege
Binding aufgehört hat. Denn das ist eigentlich die rich-
tige Formulierung: Die Bankenunion ist ein weiterer
Schritt in die richtige Richtung, um die Finanzmärkte
stabiler zu machen.

Zunächst haben wir den Euro eingeführt. In den letz-
ten Jahren haben wir die Regeln für den europäischen
Binnenmarkt kreiert. Jetzt sind wir dabei, durch die Ban-
kenunion die Aufsicht zu vollziehen. Wie gesagt: Das ist
ein wichtiger, richtiger Schritt. Die Stabilität der Finanz-





Alexander Radwan


(A) (C)



(D)(B)

märkte steht im Vordergrund; der Steuerzahler soll durch
eine lange Haftungskaskade geschützt werden, wie der
Herr Kollege Binding ausgeführt hat.

Heute entscheiden wir darüber. Ein Ziel von uns war,
erst zu wissen, was die Bankenabgabe auf europäischer
Ebene bewirken soll. Wir haben dazu einen Vorschlag
bekommen, und ich möchte mich hier beim Finanz-
minister bedanken, der sich massiv für die deutschen In-
teressen eingesetzt hat. Wir hoffen, dass diese Banken-
abgabe nach der Prüfung das Europäische Parlament und
den Rat passieren wird, damit das, was uns wichtig ist,
für unsere regionalen Banken umgesetzt wird, nämlich
die Annehmung der Institutssicherung, der verbundinter-
nen Verbindlichkeiten und das Wahlrecht über 2016 hi-
naus bis 2023. Wenn es uns ermöglicht wird, gehen wir
natürlich davon aus, dass diese Option auch gezogen
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich habe versucht, die Argumente der Opposition
nachzuvollziehen und mir vorzustellen – meine Gedan-
ken dazu will ich jetzt einmal darstellen –, wo wir heute
wären, wenn sie umgesetzt würden.

Zum einen ging es um den Vorwurf, IGA, also das In-
tergovernmental Agreement, abzuschließen, sei unde-
mokratisch. Ich kann nur sagen – ich gehe jetzt nicht so
weit wie das Bundesverfassungsgericht in der Beurtei-
lung der Demokratie auf europäischer Ebene in Bezug
auf das EP –: Wir entscheiden heute darüber. Das Glei-
che gilt auch für den ESM. Da entscheiden die nationa-
len Parlamente. Darum kann ich daran nichts Undemo-
kratisches finden, sondern es ist eher eine Stärkung der
Demokratie auf nationaler Ebene, hier entsprechend ein-
bezogen zu sein. Insofern sollten wir unsere Rechte
wahrnehmen und über den Bundestag hinaus artikulieren
und hochhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum anderen geht es um eine ganz besondere Kon-
stellation – das betrifft Herrn Troost, den ich persönlich
sehr schätze –, nämlich die immer wiederkehrende Dis-
krepanz, einerseits zu fordern: „Wir müssen in Europa
schneller werden, wir müssen schneller integrieren und
Aufsicht sicherstellen“, aber gleichzeitig andererseits die
europäischen Entscheidungen zu kritisieren nach dem
Motto: „Das, was die Bankenabgabe jetzt für die kleinen
Banken bedeutet, ist zu wenig“. Sie haben ja das Bei-
spiel aus Wahlkreisen von Kollegen gebracht, in meinem
Fall das Beispiel der Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshau-
sen. Ich danke dafür. Normalerweise wurde ich in den
letzten Monaten auf eine andere Sparkasse angespro-
chen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ist schon einmal ein kollegialer Zug, dass wir jetzt
über die Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen reden.
Also, auf der einen Seite zu fordern, dass wir schneller
integrieren müssen – Sie kritisieren aber zugleich, dass
inzwischen die Europäische Zentralbank diese Aufgaben
wahrnimmt; da frage ich mich: Wenn sie sie nicht wahr-
nehmen würde, wo wären wir dann heute? –, und auf der
anderen Seite, wenn Integration stattgefunden hat, zu
kritisieren, dass das Ergebnis nicht ausreichend ist nach
dem Motto: „Europa ist ein Wunschkonzert, und meine
Vorgaben sollen eins zu eins umgesetzt werden“, reicht
mir nicht. Ich werde mit großer Aufmerksamkeit verfol-
gen, wie der Thüringer Landtag unter dem zukünftigen
Ministerpräsidenten Beschlüsse zur europäischen Fi-
nanzmarktregulierung – Sie haben ja sogar New York
genannt – fasst und diese dann global eins zu eins um-
setzt.

Europa ist das zähe Ringen, auf der einen Seite Schritt
für Schritt die europäische Integration und die Kapitel-
marktaufsicht voranzubringen und auf der anderen Seite
gleichzeitig deutsche Interessen zu wahren und durchzu-
setzen. Und das ist Finanzminister Schäuble in den Run-
den hervorragend gelungen. Dafür ein herzliches Danke-
schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben bei der Umsetzung der Richtlinie aus mei-
ner Sicht die Möglichkeiten genutzt, die diese an Flexi-
bilität bietet. Ich nenne hier die Diskussion um den
Rechtsformwechsel. Das ist ja auch ein klassisches Bei-
spiel im Rahmen des Drei-Säulen-Modells mit Genos-
senschaftsbanken und öffentlich-rechtlichen Banken.
Wir haben jetzt das Modell, dass auf nationaler Ebene
bei Bail-in der Rechtsformwechsel vorgesehen ist, aber
es besteht auch die Möglichkeit, dass die Länder, wenn
sie ein entsprechend gleichwertiges Bail-in regeln, in ih-
ren Sparkassengesetzen Ausnahmen machen. Das zeigt
für mich – das ist auch gelebte Subsidiarität –: Es ist
wichtig, dass wir auf nationaler Ebene das, was wir auf
europäischer Ebene jahrzehntelang zu Recht verteidigt
und hochgehalten haben, auch auf nationaler Ebene be-
hüten und nicht preisgeben. Hier haben wir also die Fle-
xibilität der Richtlinie entsprechend ausgenutzt.

Die Europäische Zentralbank hat jetzt die Aufsicht
übernommen. Herr Troost, ich habe Sie so verstanden,
dass Sie das für falsch halten. Möglicherweise habe ich
Sie falsch verstanden. Das ist jedenfalls ein richtiger
Schritt. Er ist nicht ideal, aber es ist ein richtiger Schritt.
Das sollte man in diesem Zusammenhang auch von Ihrer
Seite betonen. 120 Banken in Europa werden direkt be-
aufsichtigt. Auch bei diesem Punkt sage ich: Es ist ein
Schritt. Wir werden zukünftig darauf achten müssen, wie
diese Aufsicht funktioniert und wie sie sich entwickelt.

Ein weiterer Kritikpunkt, der genannt wurde, ist, in
einem Haus zusammen Geldpolitik und Aufsicht zu
kombinieren. Auch ich halte das für problematisch. Aber
wenn man das für problematisch hält, muss man auch sa-
gen: Um das auszuschließen, bedarf es einer Änderung
der Verträge. Wenn die Verträge geändert werden, dann
ist der Weg frei. Ich kann mir nicht vorstellen, so wie ich
Finanzminister Schäuble bisher verstanden habe, dass er
diesen Weg nicht gehen will. Aber wir müssen auch
pragmatisch herangehen und fragen: Was ist auf der eu-
ropäischen Agenda als Nächstes möglich?





Alexander Radwan


(A) (C)



(D)(B)

Eine weitere Frage neben der nach der Aufsicht auf
europäischer Ebene ist: Wie gehen wir in der EZB zu-
künftig mit den Regionalbanken um? Hier sehe ich
durchaus auf Level 2 von Normierung und Aufsicht die
Problematik, dass wir die Besonderheiten der Regional-
banken durch die Hintertür Stück für Stück zwar nicht
preisgeben, aber den Kampf, den wir auf europäischer
Ebene führen, dorthin verlagern. Denn die Europäische
Zentralbank hat nicht nur unmittelbare Aufsicht über die
Großbanken, sondern auch mittelbare Aufsicht über alle
Banken. Über 40 Prozent der Regionalbanken, die nicht
unmittelbar beaufsichtigt werden, befinden sich nun in
Deutschland.

Erster Ansatzpunkt ist hier das Meldewesen. Ich halte
es – das muss ich ganz klar sagen – für falsch, dass im-
mer mehr IFRS-Anforderungen durchgereicht werden.
Daher bedarf es hier einer entsprechenden Governance
und Vorgabe, wie es sich weiterentwickeln soll. Unter
diesem Gesichtspunkt halte ich die Lösung – ich habe
mit mir gerungen über das Verhältnis von BaFin und
Bundesbank zueinander; dabei gibt es gute Argumente
für die eine wie für die andere Seite –, die wir gefunden
haben, für gut: BaFin ist jetzt Ansprechpartner, aber wir
betonen zugleich, dass das System der kollegialen Auf-
sicht durch Bundesbank und BaFin sich bewährt hat.
Das sollte auch für die europäische Ebene eine Blau-
pause sein, indem wir uns dagegen wenden, dass alles
auf einen Bereich konzentriert wird, und vielmehr die
Splittung als Modell auf europäischer Ebene voranbrin-
gen.

Wir wissen, dass wir uns bei den Trennbanken weiter-
entwickeln müssen. Wir haben auf nationaler Ebene eine
Lösung. Wir haben auf europäischer Ebene einen Ver-
ordnungsvorschlag. Es ist umso wichtiger, dass dieser
Vorschlag auf europäischer Ebene sich an den Kriterien
und den Prioritäten, die wir in Deutschland haben, orien-
tiert. Ich muss allerdings sagen: Die europäische Vorgabe
ist für mich nicht ganz konsistent. Die Zeitvorgaben, die
hier genannt werden, halte ich für bemerkenswert. Ein-
mal habe ich einen Verordnungsvorschlag, der unmittel-
bar gilt, aber gleichzeitig können auf nationaler Ebene
mithilfe von Regelungen, die einen gewissen Rahmen
haben, Ausnahmen gemacht werden. Das ist für mich ein
Widerspruch in sich. Das wird sicher eine ganz wichtige,
aber auch langwierige Diskussion werden.

Zum Thema Steuern – das hat auch der Kollege
Binding angesprochen –: Ich halte es für richtig, dass wir
zwischen den Staaten auf europäischer Ebene für Wett-
bewerbsgleichheit sorgen, dass wir versuchen, systema-
tisch korrekt zu arbeiten. Darum werden wir dieses sicher
in den nächsten Wochen und Monaten auf europäischer
Ebene nicht nur verfolgen, sondern auch versuchen, die
Mitgliedstaaten für unsere Haltung zu gewinnen.

Letztendlich haben wir es auf europäischer Ebene ge-
schafft, deutsche Standards entsprechend weiterzuentwi-
ckeln. Es ist auch wichtig, die Entscheidungen rechtzei-
tig richtig zu treffen. Vor diesem Hintergrund kann ich es
mir nicht verkneifen, nachdem Sie, Herr Kollege
Zöllmer, vorhin das Thema Griechenland angesprochen
haben, noch ganz kurz zu sagen – das brauchen wir nicht
zu sehr vertiefen –: Ich habe zumindest zu dem Zeit-
punkt, als eine andere Bundesregierung zugestimmt hat,
im Europäischen Parlament dagegen gestimmt. Ich war
gegen die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums-
paktes. – Wir sollten daraus jedenfalls gemeinsam ler-
nen, dass wir uns rechtzeitig mit den richtigen Wei-
chenstellungen in Europa befassen müssen. Wir müssen
rechtzeitig unsere Stimme erheben, um die Weichen
richtig zu stellen. Das schaffen wir heute mit dem Be-
schluss zur Bankenunion.

Ich danke Minister Schäuble, dass er hier mit Augen-
maß vorgegangen ist. Er sollte nicht dafür kritisiert wer-
den, deutsche Interessen zu vertreten und trotzdem die
Aufsicht in Europa zu europäisieren.

Herzlichen Dank. Wir werden zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806307600

Ich schließe die Aussprache.

Tagesordnungspunkt 5 a: Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Umsetzung einer Richtlinie des Euro-
päischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung ei-
nes Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von
Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Ände-
rung weiterer Richtlinien und Verordnungen des Euro-
päischen Parlaments und des Rates – BRRD-Umset-
zungsgesetz.

Hierzu liegen mehrere Erklärungen gemäß § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vor.1)

Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3088, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2575 und 18/2626 in der Ausschussfassung anzuneh-
men.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
getrennt abzustimmen: zum einen über Artikel 5 Num-
mern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a,
Nummer 15 sowie Artikel 7 und zum anderen über den
Gesetzentwurf im Übrigen.

Ich rufe zunächst auf Artikel 5 Nummern 6 bis 11,
Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 so-
wie Artikel 7 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejeni-
gen, die zustimmen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Artikel 5 Nummern 6 bis
11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15
sowie Artikel 7 sind mit den Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke in
der Ausschussfassung angenommen.

Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um ihr Stimmzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind die übrigen

1) Anlage 2 bis 4





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion, den Stimmen der SPD-Fraktion und den
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und eine Stimme aus der
CDU/CSU-Fraktion so beschlossen.

Alle Teile des Gesetzentwurfes sind damit in zweiter
Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Frak-
tion und die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men worden.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3091. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim-
men der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung durch die
Fraktion Die Linke abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3092. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkom-
men über die Übertragung von Beiträgen auf den ein-
heitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame
Nutzung dieser Beiträge. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3088, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 18/2576 und 18/2627 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen
die Stimmen der Linken und bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes. Der Haus-
haltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/2577 und 18/2629 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann
ist der Gesetzentwurf angenommen worden mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und den Stimmen der
SPD-Fraktion gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-
Fraktion und die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen worden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion dann so angenom-
men worden.

Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzhil-
feinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags zur Einrich-
tung des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2580 und 18/2628 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Fraktion Die Linke, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie
gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 5 c: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zum Antrag des Bundesministe-
riums der Finanzen mit dem Titel „Durchführungsbestim-
mungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisie-
rung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus;
Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deut-
schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzie-
rungsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082,
dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf
Drucksache 18/2669 zuzustimmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.

Zusatzpunkt 1. Wir setzen die Abstimmung zu den
Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses auf
Drucksache 18/3088 fort.





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/97
mit dem Titel „Risiko und Haftung zusammenführen –
Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstel-
len“. Wir stimmen also über die Beschlussempfehlung
des Finanzausschusses ab. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen worden.

Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/98
mit dem Titel „Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitli-
chen europäischen Restrukturierungsmechanimus“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen worden.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/774 mit dem Titel „Zum Schutz der Allgemein-
heit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische
Bankenunion“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.

Damit sind wir am Ende dieser Reihe von Abstim-
mungen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Das Massensterben an den EU-Außengrenzen
beenden – Für eine offene, solidarische und
humane Flüchtlingspolitik der Europäischen
Union

Drucksachen 18/288, 18/2946

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor ich die Aussprach eröffne, warten wir viel-
leicht noch einen Moment, bis alle ihren Platz gefunden
haben. Diejenigen, die eine Aussprache über indivi-
duelle Themen wünschen, bitte ich, den Plenarsaal hier-
für zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort dem Abgeordneten Wolfgang
Bosbach.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1806307700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Neben dem Kampf gegen den Terror des sogenann-
ten Islamischen Staates ist die Bewältigung der ja welt-
weiten Flüchtlingskrise und -problematik sicherlich die
größte internationale und europäische Herausforderung
sowie auch innenpolitische Herausforderung bei uns in
Deutschland. Über 50 Millionen Menschen sind welt-
weit auf der Flucht, rund 33 Millionen sind Binnenver-
triebene, an die 18 Millionen sind über Grenzen geflo-
hen.

Was sich wenige Flugstunden von uns entfernt ab-
spielt, ist eine wahre Tragödie. Menschen fliehen vor
brutalen Diktatoren, vor brutalen Diktaturen, sie fliehen
vor Hungersnot, vor Epidemien und vor dem Terror der
IS-Truppen. Wir erleben gerade eine Tragödie im Grenz-
gebiet der Länder Syrien/Irak/Türkei. Hunderttausende
campieren dort unter freiem Himmel. Der Winter steht
vor der Tür. Zuerst kommt der Regen, dann kommt die
Kälte, dann kommt der Schnee, dann kommt der Tod.
Wir wissen von den Tragödien im Mittelmeer. Wir wis-
sen, dass Schlepper und Schleuserbanden mit der Not
vieler Menschen brutale Geschäfte machen.

Um einen Punkt in dieser Debatte gleich abzuräumen:
Wenn Menschen in Not sind, wenn sie zu ertrinken dro-
hen, dann fragen wir nicht nach der Staatsangehörigkeit,
wir fragen nicht nach der Religion, wir fragen nicht nach
der Rechtslage, sondern wir retten sie, wir werfen ihnen
Rettungsringe zu. Dazu müssen wir vorher auch in kei-
nem Gesetzesbuch nachlesen. Das ist eine Selbstver-
ständlichkeit. Alles andere wäre im Übrigen unterlas-
sene Hilfeleistung.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir auch so!)


Ich glaube, da gibt es einen großen Konsens über Par-
tei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der Lin-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen geht allerdings
weit darüber hinaus. Im Grunde genommen ist es eine
Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der Bundes-
republik Deutschland seit Jahrzehnten.


(Beifall bei der LINKEN – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Aber der Inhalt dieser Anklageschrift wird den Realitä-
ten in keiner Weise gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Von den 700 000 Flüchtlingen aus dem Balkan, zum
Beispiel aus Bosnien-Herzegowina, hat Deutschland al-
lein 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland
also die Hälfte, alle anderen Länder der Welt zusammen
die andere Hälfte. Wir haben über 40 Prozent der Flücht-
linge aus dem Kosovo aufgenommen. Zurzeit nimmt
kein Land in der Europäischen Union mehr Flüchtlinge
auf als die Bundesrepublik Deutschland. Richtig ist: Es





Wolfgang Bosbach


(A) (C)



(D)(B)

gibt Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Flücht-
linge als Deutschland aufnehmen, darunter auch sehr
kleine Staaten, zum Beispiel die Insel Malta, wo sich
aber auch nur sehr kleine Zahlen ergeben. Es gibt aber
auch große Länder, die sich bei der Aufnahme von
Flüchtlingen – je nach Betrachtungsweise – vornehm zu-
rückhalten oder schäbig verhalten; jeder mag das anders
bewerten. Deutschland alleine wird in diesem Jahr mehr
Flüchtlinge aufnehmen als Portugal, Spanien, Italien und
Griechenland zusammen. In einer solchen Situation
kann man ruhig einmal, wenn auch nur in einem Neben-
satz, anerkennen, was Deutschland in der Vergangenheit
bereits geleistet hat, was Deutschland heute leistet und
auch in Zukunft leisten wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Situation in al-
len anderen Büros anders aussieht als bei mir. Alle Ge-
spräche, alle Zuschriften sind angesichts der derzeitigen
Lage von zwei Argumentationslinien geprägt. Die einen
sagen: „Seht ihr nicht die Not der Menschen in der Welt,
die Not der Menschen, die fliehen müssen? Kann ein rei-
ches Land wie Deutschland nicht mehr tun?“, und die
anderen sagen: „Seht ihr nicht, dass unsere Städte und
Gemeinden an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit an-
gekommen sind? Viel mehr können wir nicht leisten.“
Für beide Haltungen gibt es übrigens gute Argumente.

Angesichts der dramatischen Situation, wie ich sie
eingangs geschildert habe, ist die Frage: „Kann Deutsch-
land nicht noch mehr tun?“, oder: „Müsste Deutschland
nicht noch mehr tun?“, legitim. Es gibt im Übrigen eine
enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung jenen ge-
genüber, die tatsächlich verfolgt sind, die tatsächlich
politisch Verfolgte sind, die tatsächlich vor Krieg oder
Bürgerkrieg fliehen. Unser Problem ist aber doch, dass
wir jedes Jahr auch sehr viele Menschen aufnehmen, die
nicht politisch verfolgt sind, die nicht vor Krieg oder
Bürgerkrieg fliehen, die keinen Rechtsanspruch auf ei-
nen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
haben. Die allermeisten Menschen von denen werden
das auch wissen.

Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung
der Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass
nicht alle, aber viele Städte und Gemeinden unseres Lan-
des an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt
sind. Eine Schlagzeile von heute Morgen in einer Kölner
Zeitung: „Roters will keine weiteren Flüchtlinge“. Zur
Vermeidung möglicher Missverständnisse: Es handelt
sich nicht um einen CDU-Oberbürgermeister oder um
einen CSU-Oberbürgermeister, sondern es handelt sich
um den SPD-Oberbürgermeister der Stadt Köln. Die
Stadt Köln wird von einer rot-grünen Ratsmehrheit re-
giert. Ist Herr Roters xenophob? Ist er ausländerfeind-
lich?


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch keiner gesagt!)


Ist er ein latenter Rassist? Nein, er hat Not. Er weiß nicht
mehr, wo er die vielen Flüchtlinge unterbringen kann.
Und das führt zu Spannungen. Das führt zu Spannungen
in der Gesellschaft, das führt zu Spannungen vor Ort.
Wenn wir Politiker, die wir unmittelbar politische
Verantwortung tragen, den Menschen draußen signali-
sieren, dass uns die Probleme vor Ort nicht interessieren,
dass wir uns gar nicht damit beschäftigen, dass wir sie
ignorieren in der Hoffnung, dass den Menschen gar nicht
auffällt, dass es diese Probleme gibt, dann werden sie
sich anderen politischen Kräften zuwenden, die heute
– darüber sind wir froh – nicht im Deutschen Bundestag
vertreten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben auch, aber nicht nur eine Verantwortung
gegenüber den bedrängten Menschen in der Welt. Dieser
Verantwortung wird Deutschland gerecht; wobei ich
nicht sagen würde, dass man nicht noch mehr tun
könnte. Mir fällt in der Politik überhaupt kein Thema
ein, zu dem ich sagen könnte: Da könnte man nicht noch
mehr tun.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Aber warum machen Sie dann nicht mehr?)


Wir werden hier auch mehr tun müssen; aber wir können
nicht diejenigen aufnehmen, die politisch verfolgt sind,
und diejenigen, die es nicht sind, auch. Wir können nicht
diejenigen aufnehmen, die vor Krieg fliehen, und dieje-
nigen, die nicht vor Krieg fliehen, auch.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wer sind denn „diejenigen“?)


Deswegen ist es wichtig, dass wir die Fluchtursachen
vor Ort bekämpfen, damit die Menschen sich erst gar
nicht auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Clemens Binninger [CDU/ CSU]: Sehr richtig!)


Deshalb ist es wichtig, dass wir die Schlepper- und
Schleuserkriminalität bekämpfen.

Ein letzter Punkt: Europa kümmert sich sonst um al-
les: um Glühbirnen und neuerdings auch um die Saug-
kraft von Staubsaugern; sie muss europaweit einheitlich
geregelt werden. Es wäre schön, wenn wir uns auch oder
wenigstens darüber einig wären, dass Europa sich auch
darum kümmern muss, dass wir einheitliche Mindest-
standards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asyl-
bewerbern in allen Ländern der Europäischen Union be-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass humanitäre Mindeststandards eingehalten wer-
den, ist übrigens nicht nur eine völkerrechtliche Ver-
pflichtung; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Das schulden wir denjenigen, die wirklich bedrängt sind,
die wirklich in Not sind. Denen wird in Deutschland nie-
mals nicht geholfen werden. Da sind wir aufnahmebereit
wie kaum ein anderes Land in der Welt. Auch das könnte
man im Rahmen der Beschreibung der großen Probleme,
die wir haben, ruhig einmal anerkennen. Wir dürfen un-
ser eigenes Land ruhig einmal loben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806307800

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806307900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Bosbach, kein Mensch flieht ohne Not, verlässt
sein Land ohne Not und möglicherweise auch seine Fa-
milie.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt halt nicht so!)


Anlass für den Antrag der Linksfraktion, über den wir
heute hier reden, waren die Tragödien, die sich im
Herbst vorigen Jahres im Mittelmeer vor der Insel Lam-
pedusa ereigneten. Dort sind 400 Menschen ertrunken.
Eine Woche später gab es ein weiteres Unglück mit
250 Toten. Ich möchte hier einmal die Bürgermeisterin
von Lampedusa, Giusi Nicolini, zitieren, die damals von
einem regelrechten Massaker an den Flüchtlingen ge-
sprochen hat. Es sei wie im Krieg, sagte sie, und weiter:

Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die
europäische Einwanderungspolitik diese Men-
schenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse
einzudämmen …, dass ihr Tod für Europa eine
Schande ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Genau das ist der Grund, warum die europäische
Flüchtlingspolitik grundlegend geändert werden muss.
Das UNO-Flüchtlingswerk bzw. der UNHCR führt eine
grausame Statistik über die Menschen, die seit Jahren im
Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Fast 2 Prozent
aller Flüchtlinge im Mittelmeer sind darin ertrunken. In
diesem Jahr gab es allein bis Ende August mindestens
3 200 Tote. Je dichter die Abschottung, desto gefährli-
cher werden die Fluchtrouten. Das treibt die
Todeszahlen in die Höhe. Dieser grausamen Logik muss
man endlich ein Ende bereiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch leider kommt von den für diese Flüchtlingspoli-
tik Verantwortlichen, Herr Bosbach, außer Betroffen-
heitsfloskeln überhaupt nichts. Es heißt einfach: Weiter
so! An diesem Montag zum Beispiel sind 24 Flüchtlinge
im Bosporus ertrunken; sie wollten über das Schwarze
Meer, um nach Rumänien, also nach Europa, zu gelan-
gen. Das ist das Ergebnis der Politik der Abschottung an
den EU-Außengrenzen. Das Massaker, von dem Frau
Nicolini sprach, fordert jeden Tag neue Opfer. Einzig
Italien hat noch im Oktober vorigen Jahres eine Aktion
unter dem Titel Mare Nostrum gestartet. Wir alle wissen,
dass Italien ein Asylsystem mit schweren Mängeln hat.
Aber für diese Rettungsaktion verdient das Land Aner-
kennung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Italien hat die EU um Unterstützung gebeten.
Deutschland und auch kein anderer EU-Staat waren aber
bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, Herr Kollege
Bosbach. Diese Aktion kostet in der Tat monatlich
9 Millionen Euro; diese Kosten könnten aber auf viele
EU-Staaten verteilt werden.

Statt Mare Nostrum und Seenotrettung hat die EU am
Montag dieser Woche mit einem Einsatz zur Grenzüber-
wachung begonnen, den sie Triton nennt. Er bedeutet
noch mehr Abschottung, kostet aber nur 3 Millio-
nen Euro im Monat. Man stellt sich hier doch ernsthaft
die Frage: Ist es billiger, die Menschen ertrinken zu las-
sen, als sie zu retten und sich auch für Rettungsaktionen
einzusetzen? Für solch einen Zynismus können wir nur
abgrundtiefe Verachtung empfinden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Bundesinnenminister hat vor einigen Wochen mit
anderen Kollegen aus EU-Staaten einen Brief an das
EU-Innenkommissariat gesandt. Was steht in dem Brief?
Ehrlich gesagt, nur die alte Leier: dichtere Überwachung
der EU-Außengrenzen, engere Zusammenarbeit mit
Transitstaaten, um Flüchtlinge schon in Afrika aufzuhal-
ten, verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, aber
kein Wort zur Rettung von Flüchtlingen. Auch der
Innenminister hat meiner Meinung nach aus den Tragö-
dien, die wir im vergangenen Jahr im Mittelmeer erlebt
haben, überhaupt nichts gelernt.

Stattdessen pflegt er eine absolut unangemessene
bürokratische Kleinkariertheit, wenn er etwa darüber do-
ziert, im Rahmen von Frontex dürfe nur Grenzüberwa-
chung durchgeführt werden und Frontex habe für See-
notrettung – ich zitiere ihn – „weder das Mandat noch
die erforderlichen Ressourcen“. Ich sage Ihnen: Für die
Rettung aus Seenot braucht man kein Mandat. Im Ge-
genteil: Das ist eine Pflicht. Wer sich dieser Pflicht be-
wusst verweigert, macht sich an weiteren Massakern
mitschuldig. Ich gebe Herrn Bosbach recht, dass hier et-
was passieren muss und nicht nur geredet werden darf.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch etwas. Wenn Frontex nicht dafür geschaffen ist,
Flüchtlinge zu retten, dann, so sagt die Linke, muss
Frontex eben abgeschafft und durch ein effektives See-
notrettungssystem ersetzt werden.

Was die Bekämpfung von Schleusern angeht, will ich
die Frage aufwerfen: Haben Sie sich eigentlich schon
einmal überlegt, dass es Schleuser nur deswegen gibt,
weil sich die EU weigert, dafür zu sorgen, dass Flücht-
linge auf legalem Wege nach Europa kommen können?
Es ist doch die EU selbst, die die Flüchtlinge damit re-
gelrecht in die Hände von Schleusern treibt. Die richtige
Antwort, die wir in unserem Antrag beschreiben, lautet
deswegen nicht: „Noch mehr Repression und noch mehr
Abschottung“, sondern: Menschen in Not muss, ohne
dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, ermög-
licht werden, in Europa Asyl zu beantragen. Das könnte
ganz einfach durch eine Liberalisierung der Visapolitik
geschehen.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN)


Statt mit Staaten wie Libyen zu kooperieren, wo
Flüchtlinge eingesperrt sind – übrigens zurzeit 100 000 –
oder einfach in der Wüste ausgesetzt werden, gilt es,
Kapazitäten für Aufnahmeprogramme zu schaffen, die in
akuten Lagen wie etwa jetzt in der Syrien-Krise auch
kurzfristig greifen. Es ist doch ein Trauerspiel – ich sage
ja nicht, dass wir nichts tun –, dass es Monate und Jahre
dauert, bis wir in Deutschland ein paar Tausend Flücht-
linge aus Syrien aufnehmen, nur weil wir dabei eine un-
glaubliche Bürokratie an den Tag legen.

Meine Damen und Herren, es muss endlich das un-
würdige Dublin-System abgeschafft werden, mit dem
Schutzsuchende gezwungen werden, in dem Land Asyl
zu beantragen, das sie zuerst betreten haben. Für die
Flüchtlinge bedeutet es eine inhumane und zudem völlig
nutzlose Schikane, wenn sie in Deutschland noch vor der
Prüfung ihres Asylantrages festgenommen und zum Bei-
spiel nach Italien abgeschoben werden.

Übrigens hat erst gestern der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte wieder festgestellt, was vielen
Flüchtlingen in Italien blüht – das ist vielen immer noch
nicht klar –: Entweder sie bleiben ganz ohne Unterkunft,
oder sie werden in überfüllte Lager mit – so das Ge-
richt – gesundheitsgefährdenden und gewalttätigen
Zuständen gesteckt. – Es ist wesentlich humaner – es
spricht überhaupt nichts dagegen –, sie dorthin gehen zu
lassen, wo sie Verwandte haben, wo sie die Sprache be-
herrschen, wo sie besser integrierbar sind. Innerhalb der
EU könnte das auch mit einem Finanzausgleich geregelt
werden.

Meine Damen und Herren, zum Schluss kann ich nur
an das Haus appellieren: Die europäische Flüchtlings-
politik tötet. Deswegen ist es an der Zeit, sie radikal zu
ändern. Mit noch mehr Abschottung wird nur noch mehr
Tod und Leid provoziert. Ein Weiter-so in der europäi-
schen Flüchtlingspolitik darf es einfach nicht geben.
Deswegen werden wir noch weitere Anträge einbringen,
zumal Sie diesen Antrag heute ablehnen werden. Es
muss endlich etwas passieren, damit Menschen nicht
mehr ums Leben kommen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806308000

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Christina Kampmann, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Kampmann (SPD):
Rede ID: ID1806308100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am
17. Januar dieses Jahres habe ich meine erste Rede im
Deutschen Bundestag zu genau diesem Antrag und zu
genau diesem Thema gehalten. Seitdem ist rund ein
Dreivierteljahr vergangen. Insofern ist es jetzt an der
Zeit, die Frage zu stellen, was seitdem eigentlich passiert
ist.

Den Bürgerkrieg in Syrien gab es damals schon, und
er hat nichts von seiner Brutalität und Grausamkeit
verloren. Der Konflikt in Syrien ist aber nur einer von
vielen, der in diesem Jahr täglich Menschenleben kostet.
Seit einiger Zeit erschüttern uns auch die Gräueltaten
einer Terrorgruppe namens „Islamischer Staat“, die mit
einer Gewalttätigkeit und Grausamkeit agiert und überall
dort, wo sie auftaucht, solch unfassbares Leid hinter-
lässt, dass die Nachvollziehbarkeit derartigen Handelns
längst an ihre Grenzen gestoßen ist.

Das sind aber nur zwei Konflikte zusätzlich zu denen,
die tagtäglich stattfinden, weil Menschen Hunger leiden,
weil Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden
oder schlichtweg keine Perspektive mehr für sich und
ihre Familie sehen. Dies sind Gründe genug, um sich
heute die Frage zu stellen: Was ist seitdem eigentlich
passiert? Was haben wir getan, um unseren Worten vom
17. Januar Taten folgen zu lassen?

Da sei zunächst die finanzielle Unterstützung von
rund 520 Millionen Euro genannt, die wir Syrien haben
zukommen lassen und die vor allem der humanitären
Hilfe dient. Aber auch das THW leistet vor Ort und in
den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak vor
allem durch die Bereitstellung der Wasserversorgung je-
den Tag eine immens wichtige Hilfe.

Im Juni haben wir uns auf ein weiteres Aufnahme-
programm geeinigt, sodass wir insgesamt 20 000 syri-
sche Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen werden. Bei
der Syrien-Flüchtlingskonferenz in der vergangenen
Woche hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier
deutlich gemacht, dass wir uns über die humanitäre Ver-
sorgung der Flüchtlinge hinaus auch um die Stabilität
der Aufnahmeländer kümmern müssen, die schon jetzt
an ihre Grenzen gekommen sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der
Tatsache, dass sich weltweit über 50 Millionen Men-
schen auf der Flucht befinden, ist das vielleicht nicht
viel. Angesichts dessen, was andere europäische Länder,
insbesondere wenn es um die Aufnahme syrischer
Flüchtlinge geht, beigetragen haben, ist das aber eine
ganze Menge. Wir können uns gewiss nicht darauf aus-
ruhen, wir können es aber als Basis für unser weiteres
Handeln nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber blicken wir auf die europäische Ebene. Da
macht in diesen Tagen ein Einsatz namens Triton von
sich reden. Wir müssen uns die Frage stellen: Hilft
Triton weiter, wenn es darum geht, das in dem Antrag
formulierte Ziel der Rettung von in Seenot geratenen
Menschen zu erreichen? Die Zweifel, die daran aufkom-
men, sind berechtigt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])






Christina Kampmann


(A) (C)



(D)(B)

Das italienische Programm Mare Nostrum durch ein
europäisches zu ersetzen, ist zunächst einmal richtig.
Wir haben uns dazu entschlossen, gemeinsame Außen-
grenzen zu haben; deshalb ist es auch unsere gemein-
same europäische Aufgabe, für das, was an diesen Gren-
zen passiert, Verantwortung zu übernehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Verantwortung bedeutet nicht nur, aber auch, diese
Grenzen zu schützen. Deshalb lehnen wir die im Antrag
der Linken formulierte Forderung nach der Auflösung
von Frontex entschieden ab.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die sind für Abschottung zuständig!)


Verantwortung bedeutet aber vor allem, die Men-
schen, die ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich unter
Gefährdung ihres eigenen Lebens und oft auch des Le-
bens ihrer Kinder auf einem überfüllten Boot auf den
Weg nach Europa zu machen, zu retten, wenn sie in See-
not geraten sind. Darüber sollten wir nicht diskutieren;
denn das ist unsere elementarste menschliche Pflicht,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Bosbach, es ist gut, wenn wir uns in diesem Ziel
einig sind; aber Rettung fällt eben nicht vom Himmel –
dafür muss auch die entsprechende Infrastruktur bereit-
gestellt werden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und es hilft nicht, da auf Europa zu zeigen; denn wir sind
ein Teil von Europa. Wir müssen uns gemeinsam dafür
starkmachen, dass wir genau dieses Ziel erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir fordern deshalb: Triton muss mindestens genauso
gut ausgestattet sein wie Mare Nostrum; das bezieht sich
sowohl auf den Umfang des Mandats als auch auf die fi-
nanzielle Ausstattung. Alles andere ist eine Farce, die in
keiner Weise nachvollziehbar ist und die für uns auch
nicht akzeptabel ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Rettung
von in Seenot geratenen Menschen, wenn wir ein weite-
res Unglück, wie es sich vor Lampedusa ereignet hat,
verhindern wollen, dann brauchen wir für Frontex ein
eindeutiges Mandat, das über den Grenzschutz hinaus-
geht und sich in aller Deutlichkeit auch zur Seenot-
rettung bekennt. Dann brauchen wir auch eine bessere
finanzielle Ausstattung als die rund 3 Millionen Euro,
die derzeit vorgesehen sind. Wenn wir es wirklich ernst
meinen mit den europäischen Werten, die wir jeden Tag
aufs Neue verteidigen, dann müssen wir hier noch eine
Schippe drauflegen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Europäische Flüchtlingspolitik darf sich aber nicht
nur auf die beschränken, die über das Mittelmeer auf
dem Weg zu uns sind. Wenn Europa es ernst meint mit
Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlich-
keit, dann müssen wir auch über eine Reform des
Dublin-Systems reden. Dublin III funktioniert nämlich
so, wie es derzeit ausgestaltet ist, nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist zum einen unsolidarisch, weil die Länder, die an
den Außengrenzen sind, stärker belastet werden als an-
dere; das ist ein eindeutiger Fakt, der sich nicht wegdis-
kutieren lässt.


(Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Die Zahlen sprechen dagegen!)


Es ist zum anderen ungerecht gegenüber den Flüchtlin-
gen; denn wenn Länder wie Griechenland und Italien
stärker belastet werden als andere, dann ist es für diese
natürlich auch schwieriger, angemessene Unterkünfte,
Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und alles, was
man für ein einigermaßen menschenwürdiges Existenz-
minimum braucht, zur Verfügung zu stellen. Deshalb
muss Dublin III besser heute als morgen reformiert wer-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Linken sage ich mit Blick auf Alternativen: Das
von Ihnen vorgeschlagene Free-Choice-Verfahren, wo-
nach sich jeder das Aufnahmeland selbst aussuchen
kann,


(Dr. Eva Högl [SPD]: Das geht nicht!)


stellt nur vordergründig eine wirklich gute Alternative
dar; denn das – dessen bin ich mir sicher – würde in ei-
nem Wettbewerb um die niedrigsten Standards enden.
Das kann nicht in Ihrem Sinne sein und ist auch nicht im
Sinne der Flüchtlinge.


(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Unser Vorschlag dazu ist ein Quotensystem, das sich
an Kriterien wie zum Beispiel Wirtschaftswachstum, Be-
völkerungszahl und Arbeitslosigkeit orientieren könnte
und damit zu einer gesamteuropäischen Lösung beiträgt,
die solidarisch und gerecht gegenüber den Flüchtlingen
ist, weil sie – da bin ich mir sicher – zu besseren Stan-
dards in den Aufnahmelagern und während des Asylver-
fahrens führen wird, auch dann, wenn es darum geht,
dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilha-
ben können. Das ist aus unserer Sicht die beste Alterna-
tive. Für diese werden wir uns weiterhin starkmachen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, tote Menschen vor
den Küsten Europas sind längst zur Alltäglichkeit ge-





Christina Kampmann


(A) (C)



(D)(B)

worden. Mehr als 3 000 Menschen sind seit Anfang die-
ses Jahres im Mittelmeer ertrunken. Ich wünsche mir,
dass wir uns jeden einzelnen Tag vor Augen führen, wie
beschämend allein diese Tatsache ist. Ich wünsche mir,
dass wir uns jeden Tag die Frage stellen: Was treibt ei-
nen Menschen an, sein Zuhause zu verlassen, mehr Geld
zu zahlen, als er sich eigentlich jemals hätte leisten kön-
nen, seine Familie zurückzulassen oder auf einen Weg
mitzunehmen, dessen Ziel er nicht kennt und von dem er
noch nicht einmal weiß, ob er es jemals erreichen wird,
und das alles in dem Wissen, dass dieser Weg vielleicht
das eigene Leben und auch das Leben der eigenen Kin-
der kosten könnte? Ich frage Sie ehrlich: Könnte irgend-
jemand von Ihnen sich das vorstellen? Kann sich irgend-
jemand vorstellen, wie verzweifelt ein Mensch sein
muss, um diesen Weg dennoch zu gehen? Ich sage ehr-
lich: Ich kann es mir nicht vorstellen.

Gerade weil dieser Schritt alles übersteigt, was ich
mir vorstellen kann, sage ich: Egal, worüber wir in Eu-
ropa diskutieren, egal, welche Pläne die neue Kommis-
sion hat: Die menschliche Tragödie, die sich täglich an
den Küsten Europas abspielt, muss ihre Grenze in dem
finden, was unser Dasein als Menschen ausmacht: in
Mitmenschlichkeit, in Achtung voreinander und in ei-
nem Minimum an Respekt vor dem Leben jedes einzel-
nen Menschen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806308200

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806308300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrter Kollege Bosbach, ich muss zwei Punkte in Ih-
rer Rede klarstellen. Der eine Punkt ist, dass der vorlie-
gende Antrag nur von der Linken und nicht von uns Grü-
nen ist, wie Sie gesagt haben. Der andere Punkt ist, dass
wir mitnichten irgendjemandem in den Kommunen un-
terstellt haben, rassistisch zu sein, nur weil er deutlich
macht, dass die derzeitige Situation in den Kommunen
schlichtweg nur noch mit „Überforderung“ zu beschrei-
ben ist.

Deshalb haben wir als Grünenfraktion gesagt: Wir
wollen einen nationalen Asylgipfel, bei dem die Interes-
sen des Bundes, der Länder und der Kommunen harmo-
nisiert werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung,
diesen Gipfel vorzubereiten. Es muss auch um eine stär-
kere finanzielle Beteiligung des Bundes und eine Entlas-
tung der Kommunen gehen. All diese Punkte haben wir
angeführt. Auch heute Nachmittag bei der Debatte um
das Thema Unterbringung von Flüchtlingen gehen wir
auf die Kommunen zu und sagen: Ja, in bestimmten
Ausnahmefällen muss es möglich sein, Flüchtlinge in ei-
nem Gewerbegebiet unterzubringen, wenn gewisse Stan-
dards erfüllt werden. Da können Sie uns nicht vorwer-
fen, dass wir uns der Debatte verweigern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir nehmen die Sorgen vor Ort ernst. Aber heute geht
es um die europäische Flüchtlingspolitik. „Wir können
nicht zulassen, dass das Mittelmeer ein Meer des Todes
ist.“ Das war die Antwort des italienischen Ministerprä-
sidenten Letta auf die Tragödie, die Katastrophe von
Lampedusa. Noch im selben Monat startete Italien die
Militäroperation Mare Nostrum. Verehrte Kolleginnen
und Kollegen, ich muss einräumen, dass wir von den
Grünen zu Beginn dieser Operation sehr skeptisch wa-
ren. Wir haben nicht daran geglaubt, und es war für uns
schlichtweg unvorstellbar, dass die italienische Marine
tatsächlich ein Programm auf den Weg bringt, das aus-
schließlich auf die Rettung von Menschenleben abzielt.
Ich muss sagen: Ich habe mich damals getäuscht. Mare
Nostrum hätte von Anfang an ein europäisches Pro-
gramm sein müssen. Es hätte unsere gemeinsame Ant-
wort auf das Sterben im Mittelmeer sein müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wurde schon gesagt: In wenigen Wochen wird das
Programm Mare Nostrum eingestellt, weil es die euro-
päischen Staaten nicht über das Herz brachten, dieses
Programm zu finanzieren. Im Gegenteil: Auch auf Be-
treiben der Bundesregierung haben sich die Staaten da-
für eingesetzt, dass Mare Nostrum eingestellt wird. Da-
für hat die EU – auch das wurde schon erwähnt – die
Frontex-Mission „Triton“ ins Leben gerufen, die vor we-
nigen Tagen anlief und Mare Nostrum zwar zeitlich ab-
löst, aber ganz bestimmt nicht in dem Ziel, Menschenle-
ben im Mittelmeer zu retten. Das geht auch gar nicht;
denn Triton steht nur ein Drittel der finanziellen Res-
sourcen zur Verfügung. Im Gegensatz zur italienischen
Marine, die auch auf hoher See gerettet hat, überwacht
Triton lediglich einen Küstenstreifen. Damit ist die Ret-
tung von Flüchtlingen auf hoher See leider nicht gewähr-
leistet. Deshalb frage ich mich ernsthaft: Wer soll diese
Aufgabe in Zukunft übernehmen?

Italien hat dieses Jahr 112 Millionen Euro in die
Flüchtlingsrettung investiert, und das Einzige, was uns
dazu einfällt, ist, nackte Zahlen gegeneinanderzustellen
und uns dafür zu feiern, dass wir mehr Flüchtlinge auf-
nehmen als Italien oder Portugal. Wir sind die viert-
stärkste Wirtschaftsnation in der Welt. Wir haben mit
dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wan-
del, der ganze Gegenden aussterben lässt, zu kämpfen.
Aber bei der Flüchtlingsaufnahme machen wir eine zah-
lenmäßige Spitz-auf-Knopf-Abrechnung mit Ländern
wie Bulgarien und Portugal. Ich finde nicht, dass uns das
gut steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Inhaltlich ist festzustellen: Wir haben zu Triton nach-
gefragt und sind erst einmal davon ausgegangen, dass
diese Mission tatsächlich ein Ersatz für Mare Nostrum
ist. Uns wurde aber relativ schnell klar, dass dies kein
Ersatz dafür ist. Das Kuriose ist, dass die Bundesregie-
rung der Frontex-Mission Triton zugestimmt hat und im





Luise Amtsberg


(A) (C)



(D)(B)

Nachgang dazu in den Ausschüssen, aber auch im Ple-
num nicht in der Lage war, unsere Fragen dazu zu beant-
worten: Welche konkreten Aufgaben wird Triton haben?
Wie hoch ist die finanzielle Beteiligung der Bundesrepu-
blik? Wie gedenkt man, die Mission menschenrechts-
konform zu gestalten, wenn jetzt schon klar ist, dass eine
ihrer Aufgaben sein wird, Flüchtlingen bereits an Bord
Fingerabdrücke abzunehmen, und zwar im Zweifel auch
gegen ihren Willen?

Alles, was Sie auf diese vielen Fragen entgegnen kön-
nen, ist die zynische Rationalisierung des eigenen Versa-
gens, Menschenleben zu retten. Das wird aus den Reihen
der Union ganz deutlich. So wollen Sie die Abschaffung
von Mare Nostrum, weil es angeblich Wasser auf die
Mühlen der Schleuser ist. Was Schleusern aber tatsäch-
lich zugutekommt, sind abgeschottete Land- und See-
grenzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das ist auch absolut klar. Denn je schwieriger es für
Menschen wird, an den Zäunen vorbei über das Mittel-
meer zu gelangen, desto lukrativer wird das Geschäft für
diejenigen, die es betreiben, und desto gefährlicher und
teurer wird es für die, die es in Anspruch nehmen müs-
sen. Ich sage bewusst „müssen“, weil es kaum Möglich-
keiten gibt, legal in die Europäische Union einzureisen,
um hier Schutz zu beantragen.

Man kann es noch plastischer machen. Unser Innen-
minister hat seine Amtskollegen überzeugt, Libyen beim
Aufbau eines Grenzsystems zu unterstützen – welche
Staatlichkeit gibt es dort eigentlich? –, obwohl man
weiß, dass die libyschen Grenzbeamten schon seit lan-
gem mit Schleusern zusammenarbeiten. Aber Mare Nos-
trum soll Wasser auf die Mühlen von Schleusern sein?
Das ist eine Verdrehung von Tatsachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806308400

Denken Sie bitte an die Redezeit, Frau Kollegin. Sie

haben sie schon überschritten.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806308500

Ich komme zum Schluss. – Lassen Sie mich noch

zwei Punkte ansprechen. Sie haben immer betont, dass
man Menschen vor Ort helfen und die Situation in den
Heimatländern verändern muss. Auch das ist richtig,
aber dann frage ich mich, warum die humanitäre Hilfe so
drastisch gekürzt wird,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dass das Welternährungsprogramm seine Programme in
Syrien um 40 Prozent kürzen muss. Das fehlt den Men-
schen vor Ort.

Ich sage abschließend noch etwas zu unserem Ab-
stimmungsverhalten. Auch wir haben nicht auf alles eine
Antwort. Aber wir wollen konstruktiv an Lösungen ar-
beiten, Herr Bosbach, auch in der Frage legaler Einreise-
möglichkeiten und einer anderen Verteilung innerhalb
Europas.

Wir haben Vorschläge gemacht. Unser Wunsch ist es,
darüber zu einem Austausch zu kommen. Wir sind nicht
mit der Linken einer Meinung, wenn sie einfach fordert,
Frontex bzw. den Grenzschutz abzuschaffen, weil das
eine unrealistische Forderung ist. Aber man kann Grenz-
schutz auch menschenrechtskonform gestalten, und das
muss unsere Aufgabe sein. Bitte lasst uns uns in die
Mitte bewegen und endlich daran arbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806308600

Als Nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten

Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1806308700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der
Linken, um den es in der heutigen Debatte geht, blendet
sämtliche Fortschritte der europäischen Asylpolitik aus,
die in jüngster Vergangenheit erzielt wurden. Dazu zäh-
len die Schaffung von gemeinsamen Standards für eine
menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von
Asylbewerbern in Europa sowie Maßnahmen zur Besei-
tigung von Fluchtursachen und zur Bekämpfung von
Schleuserkriminalität.

Gefordert werden von den Linken stattdessen die
Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex, die Einfüh-
rung eines sogenannten humanitären Visums, sodass
Asylbewerber ihr Aufnahmeland frei wählen können,
sowie ein Freizügigkeitsrecht für alle Asylberechtigten
innerhalb der EU. Die Annahme dieser Forderungen
würde nicht nur die Fortschritte der europäischen Asyl-
politik zunichtemachen, sondern sie wäre auch keine Lö-
sung für die Situation im Mittelmeer und damit ein völ-
lig falsches Signal.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Auflösung der europäischen Grenzschutzagentur
Frontex würde das Ende jeglicher Grenz- und Migra-
tionskontrolle bedeuten, was im Hinblick auf illegale Ein-
reisen, Menschenhandel und Drogenkriminalität schlicht-
weg eine Katastrophe wäre, ganz zu schweigen von den
zurückkehrenden Dschihadisten.

Mit der Einführung eines sogenannten humanitären
Visums könnte jeder, der auch nur vorgibt, schutzbedürf-
tig zu sein, problemlos in die EU einreisen. Die Folge
für uns in Deutschland wäre eine Vielzahl von Personen,
denen unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht
in der EU zusteht. Auch sie landen letztlich in unserem
Asylsystem, wo sie die Kapazitäten in Anspruch neh-
men, die eigentlich für Menschen gedacht sind, die in ih-
rer Heimat systematisch verfolgt werden und die tatsäch-
lich jeden Tag um ihr Überleben bangen müssen. Auch
die Bundeskanzlerin hat in diesem Zusammenhang am
vergangenen Wochenende betont, es sei weniger christ-





Nina Warken


(A) (C)



(D)(B)

lich, „wenn wir zu viele aufnehmen und dann keinen
Platz mehr finden für die, die wirklich verfolgt sind“.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Eine „tolle“ Argumentation!)


Eine Auflösung von Frontex und die Einführung ei-
nes sogenannten humanitären Visums würden das schon
heute vorhandene Problem des Asylmissbrauchs noch
verstärken. Leittragende wären dann in erster Linie die
tatsächlich Schutzbedürftigen.

Hinzu kommt die Situation in unseren Kommunen. Es
ist leicht, die Aufnahme von mehr und mehr Menschen
zu fordern, wenn man sich keinerlei Gedanken darüber
macht, wie die Konsequenzen vor Ort aussehen. Die Be-
richte aus unseren Landkreisen, Städten und Gemeinden
sind schon jetzt alarmierend und häufen sich. Bei den
Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen stehen viele
Landkreise schon heute – ich zitiere mehrere Landräte –
„mit dem Rücken zur Wand“. Daher dürfen wir die Fol-
gen, die eine Annahme des Antrags der Linken hätte, un-
seren ohnehin mit der Unterbringung und Versorgung
überforderten Kommunen nicht zumuten.

Noch, meine Damen und Herren, noch herrscht bei
uns in der Bevölkerung weitestgehend Solidarität mit
den Flüchtlingen, die zu uns kommen. Das ist gut so;
denn das ist wichtig. Auch ohne den Antrag der Linken
müssen wir leider davon ausgehen, dass der Flüchtlings-
strom durch die vielen gewaltsamen Konflikte weltweit
nicht so schnell abreißen wird. Wenn wir aber diese Soli-
darität nicht gefährden wollen, dann muss die Politik be-
rechenbar und verlässlich bleiben. Dazu gehört auch,
dass wir gewährleisten, dass bei abgelehnten Asylbewer-
bern der Aufenthalt zügig beendet wird.

Der Antrag der Linken verfehlt das eigentliche Ziel
einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik voll-
kommen. Es kann uns doch nicht darum gehen, so viele
Flüchtlinge wie möglich nach Europa zu holen. Stattdes-
sen sollten wir uns darum bemühen, dass wir durch eine
verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und
Transitstaaten die Fluchtursachen durch die Verbesse-
rung der Bedingungen vor Ort beseitigen.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie da?)


Beschlossene Maßnahmen wie die zusätzlichen Hilfs-
mittel von rund 640 Millionen Euro für die Anrainerstaa-
ten Syriens, in denen viele Flüchtlinge Schutz gefunden
haben, sind hier der richtige Weg. Nur so packen wir im
Endeffekt das Problem bei der Wurzel.

Die ganze Absurdität sieht man schon daran, dass in
dem vorliegenden Antrag von „humanitär handelnden
Fluchthelfern“ gesprochen wird. Das ist in meinen Au-
gen geradezu zynisch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn die Schleuser handeln keineswegs aus humanitä-
ren Gründen, sondern aus reiner Profitgier.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es gibt solche und solche! Das sollten Sie eigentlich wissen!)


Wer das nicht sieht oder nicht sehen will, kann in der
Asylpolitik nicht ernst genommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Linke spricht weiter von eklatanten Mängeln im
gemeinsamen europäischen Asylsystem, fordert die Ab-
schaffung des Dublin-Systems und stattdessen für jeden
Asylbewerber die freie Wahl des Aufnahmestaates und
ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Eine gute Forderung!)


Auch diese Forderungen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Linken, gehen völlig an der Realität vorbei;
denn das Problem sind nicht – damit möchte ich zum
Ende kommen – die bestehenden gemeinsamen Rege-
lungen und Standards, sondern deren Umsetzung durch
alle Mitgliedstaaten. Es kann doch nicht sein, dass von
28 EU-Mitgliedstaaten nur 10 überhaupt Asylbewerber
aufnehmen. Hierunter sind es gerade die nördlichen Mit-
gliedstaaten – allen voran Deutschland –, wohin die
Asylsuchenden gezielt weiterreisen.

Die freie Wahl des Aufnahmelandes und die Freizü-
gigkeit innerhalb der EU würden diesen Effekt der ein-
seitigen Belastung einzelner Länder verstärken. Die
Folge wäre, dass in einem solchen Fall die Hauptaufnah-
meländer die Standards ihrer Asylsysteme deutlich redu-
zieren werden, um weniger Asylbewerber aufnehmen zu
müssen. Es würde hier zu einem fatalen Abwärtswettlauf
kommen. Dies wäre weder im Sinne einer gemeinsamen
europäischen Asylpolitik noch im Sinne der Betroffe-
nen.

Für ein gerechtes Asylsystem brauchen wir wirksame
Grenzkontrollen, um die tatsächlich Schutzbedürftigen
zu identifizieren und gleichzeitig zügig diejenigen in
ihre Herkunftsländer zurückzuführen, denen kein Auf-
enthaltsrecht in Europa zusteht.

Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag, der in die völ-
lig falsche Richtung geht, mit breiter Mehrheit ablehnen
und damit dem Bundesinnenminister bei seiner Initiative
auf europäischer Ebene für eine bessere Kontrolle der
EU-Außengrenzen, für die Einhaltung der vereinbarten
Regeln des gemeinsamen Asylsystems, für die Bekämp-
fung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel so-
wie für eine bessere Verzahnung der europäischen Au-
ßen-, Flüchtlings- und Entwicklungspolitik gegenüber
den Herkunfts- und Transitländern den Rücken stärken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806308800

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806308900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Bosbach – er ist jetzt schon nicht mehr da –
hat vorhin gesagt


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Er kommt gleich wieder!)






Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)

– na wunderbar –: Die Tragödie im Mittelmeer muss
aufhören; das ist hier Konsens. – Das müsste auch Kon-
sens sein, ist es aber nicht. Sie reden so – auch Frau
Kampmann hat so geredet –, als wären Sie nicht in der
Regierung. Die Italiener haben mit der Aktion Mare
Nostrum etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unter-
nommen. Sie haben gesagt, dass sie europäische Hilfe
brauchen; aber diese europäische Hilfe haben sie nicht
bekommen. Jetzt sagt Herr Bosbach: Europa muss sich
kümmern. – Ja, die Mitgliedstaaten müssen sich küm-
mern und sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wo war denn die deutsche Initiative, um die Dublin-Re-
geln abzuschaffen oder zu verbessern, Frau Kampmann?
Das lag offenbar nicht im Interesse der deutschen Vertre-
tung, und da wird dann nichts gemacht. Genau das ist
das Problem.

Und dann wird Frontex Plus erfunden. Als Ersatz für
Mare Nostrum. Frontex ist in der Tat ein bürokratisches
Monster. Dagegen tun Sie nichts. Das ist ein technisches,
bürokratisches, militärisches Verfahren, das gleichzeitig
die Flüchtlinge abschrecken und retten soll. Das geht
nicht, und das wissen Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Am vergangenen Montag hat es der Generaldirektor
der Internationalen Organisation für Migration, IOM,
wieder gesagt: Keine Grenzschutzmission wird die
Flüchtlinge dieser humanitären Katastrophen in der Welt
aufhalten. Angesichts solcher Notlagen wie in Syrien,
wie in Somalia, wie in Eritrea und wie im Irak wird es
keinen geben, der diese Flüchtlinge aufhält. Es ist eine
Illusion, zu glauben, irgendjemanden abschrecken zu
wollen oder zu können.

Deshalb stimmt es einfach nicht, dass Dublin II alter-
nativlos ist. Kein bisschen! Meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, aber auch von der SPD, Sie sollten
nicht glauben, dass das, was wir da machen, nur auf die
Flüchtlinge wirkt. Das wirkt auch auf uns, das wirkt
auch auf die Bürgerinnen und Bürger der EU. Wo blei-
ben wir denn mit unserem Glauben an die europäischen
Werte, mit unserem Glauben an die Menschenrechte?

Triton ist nicht billig, Triton ist sehr teuer und kostet
mehr als Geld. Wir können uns doch ein Beispiel an den
Nachbarländern der Krisenherde nehmen. Die haben die
Grenzen nicht zugemacht. Libanon hat die Grenzen
nicht zugemacht, auch Irak macht die Grenzen nicht zu,
Jordanien macht die Grenzen nicht zu. Auch in der
schlimmsten Zeit haben Tunesien und Ägypten die
Grenzen nicht zugemacht, obwohl dort ganz andere Zah-
len von Flüchtlingen zu verzeichnen waren und obwohl
diese Länder unter ganz anderen Verhältnissen Flücht-
linge aufnehmen müssen. Daran sollten wir uns ein Bei-
spiel nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Abschließend: Wenn wir schon so kleinmütig sind,
dass wir keinen Konsens finden, wie wir das Sterben im
Mittelmeer beenden, wenn wir uns schon nicht trauen,
irgendetwas an dem heiligen, alternativlosen Unwort des
Jahres „Dublin-System“ zu ändern, dann sollten wir we-
nigstens die Nachbarstaaten der Krisenherde, die anders
herangehen, großzügig durch humanitäre Hilfe unter-
stützen und nicht die entsprechenden Haushaltstitel kür-
zen bzw. schmälern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier ist eine Führungsrolle angesagt. Wenn wir eine
solche einnehmen wollen, wie es der Bundespräsident,
die Verteidigungsministerin und der Außenminister im-
mer wieder sagen, dann sage ich: Bei den Flüchtlingen
könnten wir anfangen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806309000

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1806309100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, wir brauchen eine europäische Antwort; denn die Au-
ßengrenzen Europas liegen in europäischer Verantwor-
tung. Als Menschenrechtspolitiker sage ich: Es besteht
Handlungsbedarf. Daher freue ich mich, dass wir heute
über europäische Flüchtlingspolitik diskutieren.

Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr An-
trag enthält mehrere Vorschläge, die zur Verbesserung
der europäischen Flüchtlingspolitik beitragen können.
Die Gemeinsamkeiten hat heute meine Kollegin der SPD
Christina Kampmann und haben in der ersten Lesung
mein SPD-Kollege Rüdiger Veit und meine SPD-Kolle-
gin Sabine Bätzing-Lichtenthäler deutlich gemacht. Be-
züglich der Probleme und des Handlungsbedarfs besteht
ohne Zweifel über alle Fraktionen hinweg Einigkeit. Das
Ziel einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik
teilen wir alle hier im Hause.

Wir, die SPD-Fraktion, sind aber anderer Auffassung,
was die Lösung dieser Probleme angeht. Der Antrag der
Linken enthält neben einigen guten Ansätzen auch Vor-
schläge, die das Ziel verfehlen, wie beispielsweise die
Forderung zur Abschaffung von Frontex. Sie stehen al-
leine mit dieser Forderung.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nur hier! Außerhalb des Parlaments stehen wir damit nicht alleine!)


Schließlich hat Frontex im Auftrag der EU eine wichtige
ordnungspolitische Funktion. Daher unterstützt meine
Fraktion Ihren Antrag nicht.

Lassen Sie mich nun zu den diskussionswürdigen An-
sätzen kommen. Wir brauchen für in Europa Asylsu-
chende Möglichkeiten der legalen und sicheren Einreise,
damit sie nicht lebensgefährliche Wege gehen müssen.





Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(D)(B)

Ja, wir brauchen neben der Möglichkeit, als Hochqualifi-
zierte nach Deutschland zu kommen, auch andere legale
Wege. Ob wir dafür nun ein humanitäres Visum, wie die
Grünen es vorschlagen, brauchen oder ob wir andere
Wege gehen müssen, ist noch offen.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann es auch anders nennen! Kein Problem!)


Die Richtung stimmt aber. Im Gespräch zwischen dem
Bundesinnenminister und dem Generaldirektor der Inter-
nationalen Organisation für Migration kam die Frage
auf, ob es möglich sei, ein Willkommenszentrum in
Nordafrika aufzubauen. Das ist keine neue Idee. Die
Vorschläge zeigen aber, werte Kolleginnen und Kolle-
gen, dass wir gemeinsam ernsthaft und konstruktiv an
Möglichkeiten der legalen Einreise Asylsuchender arbei-
ten müssen.

Damit komme ich zum Aspekt der Verantwortungs-
teilung innerhalb der Europäischen Union. Das Dublin-
System ist dringend reformbedürftig; darin sind wir uns
fast alle einig. Wir brauchen eine Flexibilisierung, um
die Verantwortung für die Flüchtlinge fair und solida-
risch in der Europäischen Union zu teilen. Bislang trägt
Deutschland einen Löwenanteil, und das ist gut so. Auch
die anderen europäischen Länder müssen ihrer Verant-
wortung nachkommen.

Wir kennen die Vorschläge, wie eine solidarische Ver-
antwortungsteilung in Europa aussehen könnte. Dabei
können ähnlich dem Königsteiner Schlüssel Quoten für
jedes Mitgliedsland berechnet werden. Die Einwohner-
zahl, die Wirtschaftskraft, teilweise auch die Flächen-
größe und die Arbeitslosenquote werden einbezogen.
Dabei dürfen wir die Erfahrung der Länder mit Vielfalt
und Einwanderung nicht vergessen.

Neben angemessenen Quoten für die europäischen
Staaten dürfen wir die Wünsche der Flüchtlinge nicht
ignorieren. Aspekte wie Verwandtschaftsbeziehungen,
Sprachkompetenzen und Ähnliches erleichtern die Teil-
habe und Integration vor Ort. Auch das sollte in diesem
Prozess berücksichtigt werden.

Wir brauchen natürlich auch vergleichbare Standards
in allen europäischen Ländern, was die Verfahren angeht
– das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern
gesagt –, angefangen bei der Registrierung über die Ver-
fahrensdauer bis hin zu den Schutzquoten. So wie es
jetzt ist, darf es nicht bleiben:


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


unterschiedliche Schutzquoten, je nachdem, wo der
Asylantrag gestellt werden kann, wohlgemerkt bei glei-
chen Herkunftsländern.

Wir dürfen in Europa keine Anreize für die Mitglied-
staaten schaffen, ihre Standards in der Asylpolitik zu
senken. Ansonsten wird der Druck auf die Länder stei-
gen, die ein hohes Niveau an Schutzquoten und Sozial-
standards bieten, und das ist nicht mein Verständnis von
einem solidarischen Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen: Nur ein Bruchteil der Rückführungen
von Flüchtlingen kann stattfinden; denn noch immer gibt
es Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen
in den europäischen Grenzstaaten. Hier spreche ich vor
allem von Griechenland und Italien; das ist nicht neu.
Gerade erst hat der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte geurteilt, dass Flüchtlinge nur dann nach
Italien zurückgeschickt werden dürfen, wenn das Land
eine menschenrechtskonforme Unterbringung und So-
zialleistungen gewährleistet.


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dieses Urteil wird weitreichende Konsequenzen haben:
für das italienische und das europäische Asylsystem.
Das Urteil legt den Finger in die Wunde.

Nächster Aspekt, meine Damen und Herren: Das
deutsche Resettlement-Programm für Flüchtlinge aus
dem syrischen Krisengebiet ist gut. Die Bundesländer
und der Bund haben in gemeinsamer Anstrengung mehr
als 20 000 Flüchtlinge zusätzlich zu den normalen Asyl-
verfahren aufgenommen, und das ist gut so. Ralf Jäger,
Vorsitzender der Innenministerkonferenz, hat recht,
wenn er sagt:

Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brau-
chen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmepro-
gramm, das den Menschen schnell und wirksam
hilft.

Den Appell von dort möchte ich wiederholen:

Auch die anderen europäischen Länder sollten sich
stärker für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge enga-
gieren.

Der Bürgerkrieg in Syrien, meine Damen und Herren, ist
eine der größten humanitären Krisen unserer Zeit.

Syriens Nachbarstaaten bieten Flüchtlingen in bemer-
kenswerter Zahl Schutz und vorübergehend Heimat. Da-
für brauchen sie unsere Unterstützung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daher ist es gut, dass wir bislang etwa 130 Millionen
Euro an humanitärer Hilfe leisten und perspektivisch
500 Millionen Euro insgesamt in den nächsten drei Jah-
ren für die Region bereitstellen.

Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich
Danke sagen. Ich freue mich über die große Hilfsbereit-
schaft in Deutschland. Es gibt unzählige Ehrenamtliche,
die Verantwortung übernehmen und den traumatisierten
Flüchtlingen das Ankommen erleichtern. Ich möchte ih-
nen danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806309200

Das wäre an sich ein sehr schöner Schluss, Herr Kol-

lege, zumal die Zeit schon weit überschritten ist.


Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1806309300

Mein letzter Satz, Herr Präsident. – Wir in diesem

Hause können zwar politische Rahmenbedingungen set-
zen; das Miteinander lebt aber von der aktiven Bürgerge-
sellschaft.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806309400

Ab und zu ein Blick auf die Zeit, das wäre solidarisch

mit allen Anwesenden.

Ich rufe als nächste Rednerin die Kollegin Andrea
Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, auf.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806309500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Das Grundanliegen des vorliegen-
den Antrags ist absolut richtig: Das Sterben im Mittel-
meer muss beendet werden. Trotzdem lehne ich den
Antrag ab; denn er basiert auf einer falschen Problem-
analyse, er ignoriert die tatsächlichen Fluchtursachen,
und er zieht kurzsichtige Schlussfolgerungen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch besser!)


Ein Großteil der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer
nach Europa strömen, stammt aus Syrien und Eritrea.
Aus diesen Ländern stammt ein Drittel der Asylanträge
in Deutschland. Die Menschen fliehen vor Krieg, vor
dem IS-Terror, vor Diktatoren wie Assad in Syrien und
Afewerki in Eritrea. Diese zentralen Fluchtursachen er-
wähnt der Antrag aber mit keinem Wort. Stattdessen
werden der Freihandel, die EU und vor allen Dingen die
Bundesregierung als Problem hingestellt. Diese Problem-
analyse des Antrags kann nur zu falschen Schlussfolge-
rungen führen.


(Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]: So ist es!)


In diesem Jahr werden voraussichtlich über
200 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Die Schutz-
quote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge be-
trägt derzeit fast 30 Prozent. Angesichts dieser Fakten
wirkt der Vorwurf einer Abschottungspolitik in Deutsch-
land absurd. Allein 60 000 Flüchtlinge aus Syrien wur-
den bereits aufgenommen, Tendenz stark steigend.

Die Bundesregierung engagiert sich zudem massiv
mit Blick auf die Fluchtursachen vor Ort. Deutschland
hat allein in den letzten zwei Jahren 635 Millionen Euro
bereitgestellt, um die Flüchtlingskrise rund um Syrien
einzudämmen. Weitere 500 Millionen Euro wurden zu-
gesagt.
Der UNO-Flüchtlingskommissar Guterres lobte
Deutschland kürzlich – ich zitiere ihn –:

Deutschland spielt eine führende Rolle beim
Flüchtlingsschutz und dient als positives Beispiel,
dem andere europäische Staaten folgen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das sagen nicht wir, das sagt nicht die Bundesregierung.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806309600

Frau Kollegin, Kollege Liebich von der Fraktion Die

Linke möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Mögen
Sie sie zulassen, oder möchten Sie weitersprechen?


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806309700

Bitte.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806309800

Herr Abgeordneter Liebich.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806309900

Vielen Dank. – Frau Kollegin, dass Sie uns nicht recht

geben, ist sehr bedauerlich.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nachvollziehbar!)


Deswegen möchte ich auf eine Äußerung einer Ihrer
Kolleginnen verweisen. Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl
hat kürzlich ein Flüchtlingslager in Nürnberg besucht.
Sie hat gesagt, sie schäme sich für die Politik der Bayeri-
schen Staatsregierung, weil die Bayerische Staatsregie-
rung nicht rechtzeitig verantwortungsbewusst gehandelt
habe.

Am Mittwoch war Bundesentwicklungsminister Gerd
Müller im Auswärtigen Ausschuss zu Gast. Auch er hat
gesagt, Deutschland müsse mehr tun. Er hat auf eine
Stadt in Jordanien verwiesen, die er kürzlich besucht hat,
die 60 000 Einwohner hat und 100 000 Flüchtlinge auf-
genommen hat.

Wenn Sie also unsere Vorschläge nicht teilen, dann
möchte ich gerne wissen, was Sie auf diese Hinweise hin
tun möchten.


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806310000

Sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich Ihnen dazu ant-

worten darf: Mit Blick darauf, was unsere bayerischen
Kommunen derzeit leisten – und als ehemalige stellver-
tretende Landrätin weiß ich das –, kann ich Ihnen nur
sagen: Bayern tut viel, und Bayern tut mehr als alle an-
deren Bundesländer.


(Lachen des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dieser massive Zustrom, der insbesondere auch da-
durch bedingt ist, dass die Flüchtlinge von Italien unge-
hindert nach Bayern durchgewunken werden, war so
nicht absehbar. Nichtsdestotrotz gab es Missstände, die
eingeräumt wurden, die aber auch ausgeräumt werden.
Wir in Bayern tun sehr viel für die Flüchtlinge.





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber was denn?)


– Ich habe es gerade dargestellt. Es geht nicht einfach
nur darum, die Menschen vor Ort unterzubringen; es
geht zum Beispiel auch darum, die Kinder einzuschulen.
Die Menschen werden bei uns in Bayern aufgenommen
und ordnungsgemäß untergebracht, und zwar in vielen
bayerischen Kommunen.

Wenn Sie hier sagen, die bayerische Politik wäre ver-
antwortungslos hinsichtlich der Aufnahme von Flücht-
lingen,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Frau Wöhrl hat das gesagt!)


dann weise ich das mit aller Entschiedenheit zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist ein Schlag gegen alle ehrenamtlichen Helfer, alle
Bürgermeister, alle Landräte, alle Stadträte und alle, die
mit dieser Problematik befasst sind.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war Frau Wöhrl!)


Ich stehe heute für die CSU hier, die Sie angegriffen
haben. Ich nehme das, was Dagmar Wöhrl gesagt hat,
zur Kenntnis. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Mängel,
die es in Bayern gab, abgestellt wurden bzw. noch wer-
den. Ich hoffe, dass das auch in allen anderen Bundes-
ländern der Fall ist.

Zu Ihrer zweiten Bemerkung, zu Herrn Müller: Ich
weiß, dass wir noch mehr tun müssen. Aber vielleicht
lassen Sie mich meine Rede erst einmal zu Ende brin-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Antwort?)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806310100

Noch eine Zwischenfrage, eine Zwischenfrage des

Kollegen Max Straubinger.


(Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] erhebt sich)


– Moment, wir müssen erst fragen, ob sie sie zulässt.


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806310200

Ja, ich lasse sie zu.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806310300

Das weiß man unter Parteifreunden nicht immer.


(Heiterkeit)


Bitte schön.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1806310400

Frau Kollegin Lindholz, würden Sie bestätigen


(Heiterkeit bei der SPD)

oder können Sie bestätigen, dass die Bayerische Staats-
regierung im Gegensatz zur Landesregierung in Nord-
rhein-Westfalen die Kommunen nicht hängen lässt,


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


sondern deren Kosten voll übernimmt?


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806310500

Lieber Kollege Straubinger, ich habe in meiner Ant-

wort gerade schon versucht, zu sagen, dass Bayern mehr
tut als viele andere. Ich hoffe, dass auch andere Länder,
in denen noch Defizite bestehen, nachziehen. Aber es
geht heute meines Erachtens nicht darum, irgendwelche
Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern darum, uns
der Lösung der Probleme zu widmen.

Ich merke, jetzt rennt mir die Redezeit davon. Ich
fahre jetzt mit meiner Rede fort.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806310600

Frau Kollegin, ich hatte vergessen, die Uhr anzuhal-

ten. Sie bekommen für Straubinger gleich noch eine Mi-
nute extra.


(Heiterkeit)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806310700

Ich möchte an dieser Stelle das Lob und den Dank des

UNO-Flüchtlingskommissars, den ich gerade zitiert
habe, an die Menschen vor Ort weitergeben, an die Hel-
fer in den Flüchtlingslagern, aber auch bei uns in den
Kommunen, an die Organisationen und vor allem auch
an die vielen ehrenamtlich Engagierten.

Es ist eine großartige Leistung, die die Menschen in
Deutschland derzeit vollbringen. Es ist unsere Aufgabe,
die Akzeptanz für unser Asylsystem und diese überwäl-
tigende Hilfsbereitschaft der Menschen zu erhalten, um
anderen am rechten Rand keine Chance zu geben. Wir
müssen daher alles daransetzen, damit unsere Kräfte
nicht überstrapaziert werden. Es geht, sehr geehrte Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken, nicht nur darum,
einfach Menschen in einer großen Vielzahl zu uns zu ho-
len, sondern es geht auch um eine gute Versorgung und
Unterbringung vor Ort. Dazu gehört mehr als ein Dach
über dem Kopf. Dazu gehören Beschulung, Integration,
Sprachkurse und vieles mehr.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprachkurse, ganz genau!)


Ihr Antrag fordert, Europa solle die Steuerung von Mi-
gration aufgeben, seine Grenzen öffnen und jedem ein
Visum gewähren. Das können wir nicht leisten. Die
Fluchtursachen würden damit auch nicht behoben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt heute so viele Flüchtlinge auf der Welt wie
seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die UN rechnen
mit über 50 Millionen Vertriebenen. Europa verspricht
den Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Na-
türlich versuchen daher viele, zu uns zu kommen. Die
italienische Marine hat laut der Internationalen Organi-
sation für Migration innerhalb eines Jahres rund 150 000





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Flüchtlinge mit militärischen Mitteln gerettet. Im glei-
chen Zeitraum wurden aber auch 3 200 Todesfälle regis-
triert. Das sind fünfmal so viele Fälle wie im Jahr vor
Mare Nostrum. Auch diese Mission konnte das Sterben
nicht verhindern.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und deshalb stellen wir sie ein?)


Laut Frontex steigen allein in Libyen jede Woche bis
zu 4 000 Flüchtlinge in ein Boot nach Europa. Eine flä-
chendeckende Überwachung ist trotz der militärischen
Mittel von Mare Nostrum angesichts der riesigen Fläche
nicht möglich. Mare Nostrum wird zurückgefahren, und
wir müssen genau beobachten, ob Frontex im Rahmen
der Mission Triton unsere humanitären Verpflichtungen
auf dem Mittelmeer erfüllen kann. Können sie nicht er-
füllt werden, müssen wir meines Erachtens nachsteuern.

Letztendlich kann das Sterben auf dem Mittelmeer
aber nur beendet werden, wenn wir verhindern, dass die
Menschen überhaupt in Boote steigen. Dabei stellen sich
für uns drei zentrale Herausforderungen:

Erstens müssen wir Transitländer wie Libyen und
Ägypten unterstützen, um den menschenverachtenden
Schleuserbanden das Handwerk zu legen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da geht es ja auch so menschlich zu!)


Der italienischen Marine fehlen die dafür notwendigen
polizeilichen Befugnisse, die Frontex hat.

Zweitens muss Europa seine Mittel stärker bündeln,
um die Fluchtursachen effektiver zu bekämpfen. Unsere
Innenpolitik muss stärker mit der Außen- und Entwick-
lungspolitik der EU verknüpft werden. Die EU ist mit
Abstand der weltweit größte Geldgeber bei der Entwick-
lungshilfe. Ein gezielter Einsatz dieser Mittel kann
substanziell zur Stabilisierung der Anrainerstaaten, wie
zum Beispiel Libanon, beitragen; denn die meisten dort
untergekommenen Flüchtlinge wollen zurück in ihre
Heimat, sobald es ihnen möglich ist.

Drittens muss endlich die Blockade im europäischen
Asylsystem gelöst werden. Wir brauchen ein faires und
solidarisches Asylsystem in Europa, das diesen Namen
auch verdient. Es gibt dafür bereits alle erforderlichen
Regelungen. Europa muss das bestehende Regelwerk
nur richtig umsetzen und praxistauglich machen.

Länder wie Italien und Griechenland fordern unsere
Unterstützung beim Schutz der Außengrenzen. Gleich-
zeitig ignorieren sie aber zentrale Regeln des Asylsys-
tems. Auf Deutschland entfallen heute über 30 Prozent
aller Asylanträge in Europa, während auf Italien trotz
des großen Zustroms nur rund 10 Prozent entfallen. Wa-
rum ist das so? Italien ignoriert zum Beispiel zentrale
Regeln und europäische Standards für die humanitäre
Versorgung von Flüchtlingen. Das können und dürfen
wir nicht zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Solidarität in der EU darf keine Einbahnstraße sein.
Alle Flüchtlinge müssen direkt nach der Einreise in die
EU registriert werden, so wie es die Dublin-Verordnung
festlegt. Erst dann kann, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, die es schon angesprochen haben, ein notwendiges
europäisches Quotensystem installiert werden, an dem
sich alle EU-Staaten solidarisch beteiligen müssen.

Deutschland hat bereits Sonderprogramme für syri-
sche Flüchtlinge aufgelegt. Diesem Beispiel sollte
Europa endlich folgen. Mit der EU-Richtlinie zum vo-
rübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms
von Vertriebenen gibt es dafür in Europa bereits eine
Rechtsgrundlage. Alle EU-Staaten müssen sich der lang-
fristigen Folgen der Fluchtursachen bewusst werden und
den Sinn eines praxistauglichen europäischen Asylsys-
tems anerkennen. Deutschland alleine als mahnende
Stimme reicht hierfür nicht aus. Die komplette Auflö-
sung der bestehenden Regelungen des Asylsystems, sehr
geehrte Damen und Herren von der Linken, wie sie Ihr
Antrag fordert, bietet keine Lösung. Sie wäre ein klarer
Rückschritt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806310800

Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich

das Wort dem Abgeordneten Frank Heinrich, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1806310900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen es
unterstützen, dass in dieser Debatte, die eine innenpoliti-
sche Debatte ist, auch die menschenrechtlichen Aspekte
eine große Rolle spielen. Die letzte Stunde hat das sehr
deutlich gemacht.

Ich habe ein Symbol mitgebracht, ein Symbol für
mich: ein Liederbuch aus dem Norden Nigerias. Vor
14 Tagen fand ich es in einer zerstörten Kirche in einem
zerstörten Dorf in einem Haufen von Müll. Die Bewoh-
ner wurden am 24. und 26. August vertrieben. Das letzte
Mal war dort Gottesdienst Ende August.

Warum dieses Symbol und die Erinnerung an dieses
Erlebnis? Es steht dafür, dass ganz viele Menschen – ei-
nige Kollegen haben es gesagt – vor realen, lebens-
bedrohlichen Gefahren auf der Flucht sind. In Nigeria ist
es zumeist Binnenflucht; das ist nur ein Beispiel. Wir
kennen die Folgen des IS und wissen von den vielen
Vertriebenen. Wir wissen von den Krisen in anderen
Staaten. Herr Bosbach hat es gerade gesagt: Terror, bru-
tale Verhältnisse, Tragödien, Dinge, die uns zum Weinen
bringen müssen, sind Ursachen, warum sich Menschen
auf den Weg, auch auf den Weg nach Europa, machen.

Eine humane und dem Grundgesetz entsprechende
Flüchtlingspolitik darf Menschen allerdings nicht ein-
fach unter den Generalverdacht stellen, dass sie Wirt-
schaftsflüchtlinge seien. Humanität ist mehr, als nur
Grenzen zu ziehen. Allerdings darf ein verantwortungs-
voller Antrag – das geht an die Adresse der Linken, die
den Antrag eingebracht hat – auch nicht die EU oder die





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

Bundesrepublik einfach unter Generalverdacht stellen
und kritisieren, dass sie Ignoranz und Ablehnung an den
Tag legen würden.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was ist denn mit Mare Nostrum?)


Das Wort „Massensterben“ in der Überschrift Ihres
Antrages ist für mich billige Polemik, und das ist nicht
hilfreich für diejenigen, über die wir heute sprechen.

Massen sterben in Kriegen und humanitären Katastro-
phen, zum Beispiel – das wurde gerade gesagt – in
Syrien, im Norden des Iraks, in Liberia, in Zentralafrika
und in vielen anderen Krisengebieten. Nicht die EU-
Politik, wie Sie es gesagt haben, Frau Jelpke, treibt die
Menschen in den Tod. Ganz im Gegenteil: Die Hilfe für
Flüchtlinge rettet Leben.

Dennoch sind die Flüchtlingszahlen – wir haben es
gehört – gestiegen und werden angesichts der Weltlage
wahrscheinlich weiter steigen. Die italienische Regie-
rung spricht von 150 000 Bootsflüchtlingen allein in die-
sem Jahr. Das Bootsunglück von Lampedusa im Oktober
letzten Jahres, das schon angesprochen wurde, bei dem
390 Tote zu beklagen waren, hat die Debatte ausgelöst.
Auch aktuell gab es Meldungen bei Spiegel Online – Sie
haben es wahrscheinlich verfolgt –: im Schwarzen Meer
Dutzende Flüchtlinge, 24 Leichen, einige davon Kinder.
Am 10. September sind in der Nähe von Malta rund
500 Menschen ertrunken. Seit Jahresbeginn kamen je
nach Schätzung 2 500 bis 3 000 Menschen bei ihrer
Flucht über das Mittelmeer ums Leben.

Aber auch auf anderen Fluchtwegen sind Todesfälle
zu verzeichnen, zum Beispiel auf den Wegen durch die
Sahara.

Deshalb müssen wir – das haben alle betont – die
Anstrengungen erhöhen. Jeder einzelne Tote an den
Grenzen der EU und auf dem Mittelmeer ist einer zu
viel. Wir wollen und wir werden – einige Begründungen
haben Sie schon gehört – unsere Verantwortung wahr-
nehmen. Dies ist in letzter Zeit in Deutschland, auch in
der Gesetzgebung, schon passiert. Neben den genannten
Einsätzen des THW und der Erhöhung der Mittel – Frau
Kampmann, Sie haben darauf hingewiesen – gibt es Be-
strebungen, das Asylrecht zu verändern. Die Residenz-
pflicht wird gelockert, Asylbewerber dürfen früher ar-
beiten, es gibt den Vorrang von Geldleistungen.

Was ist noch passiert? Es wurde vorhin das Lob des
Flüchtlingskommissars Guterres zitiert, das er uns
ausgesprochen hat, was insbesondere die Aufnahme von
syrischen Flüchtlingen angeht. Wir haben die Quote weit
übererfüllt. Das muss uns nicht nur mit Stolz erfüllen.
Aber, wie mein Kollege Bosbach gesagt hat, man darf
im Nebensatz auch einmal sagen, was hier schon alles
passiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Allerdings sind wir in diesem Konzert nicht alleine;
wir sind als EU unterwegs. Hier müssen schon noch
einige Dinge getan werden, zum Beispiel ein besseres
Programm zur Rettung der Seeflüchtlinge. Dass Mare
Nostrum in Triton übergeht, ist ein guter Schritt. Aber
Aufstockung, Verifizierung und Ausweitung sind not-
wendig. Schleuserbanden muss das Handwerk mit all
unseren Möglichkeiten gelegt werden. An dieser Stelle
kann ich es nicht anders sagen: Es kommt mir hoch,
wenn ich höre, dass auf dem Rücken der Verletztesten in
unserer Welt Geld gemacht wird und Sie diese Personen
auch noch als Helfer bezeichnen.

Eine Vereinheitlichung der humanitären Standards,
etwa bei der Unterbringung und den Rechtsverfahren,
halte ich für eine Selbstverständlichkeit.

Ich bin sehr nah bei Ihrem Vorschlag, liebe Kollegen
von der SPD, eine feste EU-Quote für die Aufnahme von
Flüchtlingen in Verbindung mit einem möglichen Fi-
nanzausgleich einzuführen.

Darum werden wir den Antrag ablehnen: rein sach-
lich wegen der Polemik, die weit über das vernünftige
Maß in einer Auseinandersetzung hinausgeht, und we-
gen der unsinnigen Schuldzuweisungen darin, wegen der
Verknüpfung mit Kritik an der allgemeinen Wirtschafts-
politik der Bundesrepublik,


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Schicken Sie keine Waffen in die ganzen Krisenländer?)


nicht zuletzt, weil wir der Abschaffung von Frontex
nicht zustimmen können, da dies die Sicherheit an den
Grenzen tatsächlich beeinträchtigen würde, die gerade
von mir emotional angesprochene Tätigkeit der Schleu-
ser eher begünstigen und eine Kontrollierbarkeit aus-
schließen würde.

Zum Ende noch einmal zum Symbol dieses Lieder-
buchs. Das vorrangige Ziel von Politik, auch bei uns,
muss sein, dass Menschen – in diesem Fall in Nigeria,
aber auch in vielen anderen Ländern – in Frieden ihre
Lieder singen und ihre Gebete sprechen können, sei es in
einer Synagoge, in einer Moschee oder in einer Kirche.
Dafür stehen wir unter anderem: für Humanität. Wir en-
gagieren uns mit humanitärer Hilfe vor Ort und in der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit; Sie haben es genannt.
Solidarität und Humanität müssen sich am Schluss in
der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und der Über-
nahme von Verantwortung in Krisen erweisen. Da bin
ich ganz bei dem Satz, den Sie, Frau Kampmann, gesagt
haben: Lassen Sie uns da noch die eine oder andere
Schippe drauflegen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806311000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Das Massensterben an den EU-Außengrenzen be-
enden – Für eine offene, solidarische und humane
Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/2946, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/288 abzulehnen. Wer für die Be-





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

schlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für einen Beschluss des Rates über ei-
nen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum
und Beschäftigung und zur Aufhebung des
Beschlusses 2003/174/EG

Drucksache 18/2953
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Strafgesetzbuches – Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht

Drucksache 18/2954
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss Digitale Agenda

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Artikel 36 der Istanbul-Konvention umset-
zen – Bestehende Strafbarkeitslücken bei se-
xueller Gewalt und Vergewaltigung schließen

Drucksache 18/1969
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 i sowie
den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 37 a:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung mautrechtlicher Vor-
schriften hinsichtlich der Einführung des
europäischen elektronischen Mautdienstes
Drucksache 18/2656
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur

(15. Ausschuss)


Drucksache 18/2988
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)


gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/2991
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2656 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. – Wer dagegen stimmt, möge bitte aufste-
hen. – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Frak-
tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 37 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 15
vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konven-
tion zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten
Drucksache 18/2847
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/3072
Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3072, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/2847 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Frak-
tion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke ohne Enthaltung ange-
nommen worden.





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Tagesordnungspunkt 37 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss) zu der Verordnung
der Bundesregierung

Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Ver-
ordnung zur Durchführung des Bundes-Immis-

(Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV)


Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3065, auf eine Änderung oder
Ablehnung der Verordnung auf Drucksache 18/2849 zu
verzichten. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen ohne Enthaltung angenommen wor-
den.

Tagesordnungspunkt 37 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Übersicht 3

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

Drucksache 18/2921

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit Zustimmung aller Fraktionen
ohne Gegenstimme oder Enthaltung angenommen wor-
den.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 37 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 103 zu Petitionen

Drucksache 18/2889

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 103 mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 37 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 104 zu Petitionen

Drucksache 18/2890

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 104 mit Zu-
stimmung der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 105 zu Petitionen
Drucksache 18/2891

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist diese Sammelübersicht 105 mit den
Stimmen aller Fraktionen ohne Gegenstimmen und Ent-
haltungen angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 106 zu Petitionen
Drucksache 18/2892 (neu)


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 106 mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 37 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 107 zu Petitionen
Drucksache 18/2893

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 107 ist damit ange-
nommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ohne Enthaltung.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp-
fen – Stopp des Programms MobiPro-EU so-
fort aufheben
Drucksachen 18/1343, 18/1531

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/1531, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1343 abzu-
lehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen –


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so was von!)






Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
worden.

Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zu den alarmie-
renden Ergebnissen des Weltklimaberichts
und dem Handlungsbedarf für mehr Klima-
schutz

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-
ordnete Oliver Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806311100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

wenigen Tagen hat der Weltklimarat seinen zusammen-
fassenden Bericht vorgelegt, der zwei zentrale Botschaf-
ten enthält.

Die eine Botschaft ist: Der Klimawandel schreitet vo-
ran, und zwar viel stärker, als es die Forscher noch vor
wenigen Jahren erwartet hätten. Es ist längst klar: Wir
können eigentlich nicht mehr, wie es auf dem Bericht
vorne draufsteht, vom Klimawandel reden, sondern wir
müssen von der Klimakatastrophe sprechen.

Diese Katastrophe findet nicht nur irgendwo in der
Arktis statt. Sie findet ganz real auch bei uns hier in
Deutschland statt. 2014 wird wahrscheinlich das Jahr
werden, das als das wärmste in die Geschichte der Wet-
teraufzeichnung eingeht. Die sogenannten Jahrhundert-
fluten kommen inzwischen alle fünf Jahre, also in immer
schnellerer Folge, und verursachen Milliardenschäden.

Die zweite Botschaft des Weltklimarates ist positiv.
Wir können, wenn wir wollen, das Schlimmste noch ver-
hindern, wenn wir konsequent handeln, wenn die Welt-
gemeinschaft etwas unternimmt. Das Allerbeste ist: Sie
muss dafür weniger als 0,1 Prozent des Weltbruttoin-
landsprodukts, der Wertschöpfung, aufwenden, um den
Klimawandel aufzuhalten. Das bietet eine riesige
Chance für Entwicklung und Wohlstand auf der ganzen
Welt. Diese positive Botschaft sollten wir aufgreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass es bis heute noch kein globales Klimaschutzab-
kommen gibt, liegt daran, dass es viele nationale Egois-
men gibt. Wenn wir endlich vorankommen wollen, dann
braucht es Vorreiter, die die Sache in die Hand nehmen.
Man kann es nicht anders sagen: Deutschland war über
viele Jahre hinweg Vorreiter, angefangen – und ich hätte
nicht gedacht, dass ich das hier einmal sage – bei Helmut
Kohl über die rot-grüne Bundesregierung bis hin zur
letzten Großen Koalition.


(Frank Schwabe [SPD]: Sigmar Gabriel!)


Wir erinnern uns alle daran, wie Angela Merkel und
Sigmar Gabriel in schönen roten Anoraks vor Gletschern
standen. Von da an ging es mit dem Klimaschutz in
Deutschland nur noch bergab. Die Anoraks sind längst
in der Abfallmitverbrennung in einem Braunkohlekraft-
werk zu CO2 verbrannt worden; diese Geschichte ist vor-
bei.

Deutschland ist schon lange kein Vorreiter mehr. Wir
haben Jahre des Nichthandelns, des Stillstandes und des
Rückschrittes erlebt. Die Bundesregierung steht vor dem
Scherbenhaufen ihrer Klimapolitik. Es sieht ganz so aus,
dass wir das Klimaschutzziel, die Verringerung der
Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent, kra-
chend verfehlen werden. Das liegt vor allen Dingen da-
ran, dass die Emissionen aus dem Energiesektor immer
weiter steigen, weil Uraltkraftwerke und Kohlekraft-
werke rund um die Uhr laufen, weil wir im Wärmebe-
reich nur in Trippelschritten vorankommen. Mit Klima-
schutz in der Verkehrspolitik haben wir noch gar nicht
angefangen. Mit der Industrialisierung der Landwirt-
schaft steigen auch die Emissionen in diesem Sektor im-
mer weiter.

Hätten wir nicht die Wall-Fall-Profits – das ist der
Rückgang der CO2-Emissionen durch den Niedergang
der DDR-Wirtschaft, Stichwort „25 Jahre Mauerfall“ –
und hätten wir nicht das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
das Sie vor der Sommerpause noch verstümmelten, dann
wären Deutschlands Emissionen gegenüber 1990 noch
gestiegen. Das ist die Bilanz. Wir stehen vor einer
schwierigen Situation. Aber Sie liefern keine Antworten
auf die drängenden Fragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Ich kann nur sagen: Ich finde es absolut zynisch, dass
Sie trotz der schlechten Bilanz und der vor uns stehen-
den Herausforderungen die Vorlage des Weltklimabe-
richtes dafür nutzen, eine Debatte darüber anzustoßen,
ob man das Ziel nicht streichen solle nach dem Motto
„Wir schaffen es nicht, dann canceln wir das ganze
Ziel“. Nun schicken Sie Herrn Homann, den Präsidenten
der Bundesnetzagentur, vor, um die Reaktion der Öffent-
lichkeit auf einen solchen Vorschlag zu testen. Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, liebe Frau
Hendricks, ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn Sie
das Klimaschutzziel 2020 beerdigen, dann ist das nicht
nur der Abschied von der Vorreiterrolle – die ist schon
lange weg –, dann ist das das Ende jeder Klimaschutzpo-
litik in Deutschland. Das müssen Sie sich dann ins
Stammbuch schreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eines ist klar: Man könnte handeln. Es gäbe in
Deutschland die Möglichkeit, das Klimaschutzziel bis
2020 noch zu erreichen. Dazu müsste man das „dreckige
Dutzend“, die schmutzigsten Kohlekraftwerke aus den
1960er-Jahren, die im Moment rund um die Uhr laufen,
abschalten. Die Möglichkeiten dazu haben Sie. Das wäre
im Sinne der Energiewende und im Sinne eines moder-
nen Strommarktes erforderlich, um der klimafreundli-
chen Kraft-Wärme-Kopplung, den Gaskraftwerken und
dem Bereich der erneuerbaren Energien eine Chance zu
geben. Diesbezüglich kommt von Ihnen aber gar nichts.





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

Ich erwarte, dass das Maßnahmenprogramm, das
einst mittelfristiges Sofortprogramm hieß, das dann den
Namen geändert hat und vielleicht irgendwann im De-
zember kommt, klare Vorschläge enthält. Ich erwarte,
dass wir in diese Richtung gehen und die schmutzigsten
Kohlekraftwerke endlich vom Markt nehmen.


(Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Vor allen Dingen – das ist das Allerwichtigste – soll-
ten Sie Klimaschutz endlich als Chance begreifen. Es
geht um Effizienz, Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaft.
Mit grüner Wirtschaft schwarze Zahlen schreiben, das ist
die Zukunft. Der Klimaschutz liefert uns die richtige
Vorlage dafür. Darauf müssen Sie sich einstellen. Auf
diesem Gebiet müssen Sie Maßnahmen liefern. Frau
Hendricks, ich erwarte, dass das, was am 3. Dezember
2014 endlich vorgelegt werden soll, mit konkreten Maß-
nahmen hinterlegt ist, damit wir das Klimaschutzziel er-
reichen. Eine Aufgabe des Klimaschutzziels wäre eine
Versündigung am Weltklima.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806311200

Herr Kollege.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806311300

Das wäre eine Versündigung an der nachhaltigen

Wirtschaft. Das wäre eine Versündigung an unseren Kin-
dern und Enkeln.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806311400

Das Präsidium hat Milde walten lassen, aber es wäre

ganz gut, wenn wir alle darauf achten würden, die Ver-
einbarungen zur Aktuellen Stunde, auch was die Rede-
zeiten angeht, liebevoll und solidarisch einzuhalten.

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja
Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Anja Weisgerber (CSU):
Rede ID: ID1806311500

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Als Umweltpolitikerin bin auch ich der Mei-
nung, dass Klimaschutz ein sehr wichtiges Thema ist.
Aber ich halte es nicht für zielführend – das möchte ich
an dieser Stelle auch ganz klar sagen –, dass das Thema
in jeder Sitzungswoche auf die Tagesordnung gesetzt
wird, heute unter dem Motto: Haltung der Bundesregie-
rung zu den alarmierenden Ergebnissen des IPCC-Rates.
Dazu muss ich erst einmal Folgendes sagen: Das ist kein
neuer IPCC-Bericht, sondern das ist eine Zusammenfas-
sung für die Entscheidungsträger,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch gesagt! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind aber die Entscheidungsträger!)

und die Haltung der Bundesregierung ändert sich nicht
von Woche zu Woche.

Derzeit arbeitet die Bundesregierung mit uns zusam-
men an einem Klimaschutz-Aktionsprogramm. Dieses
Klimaschutz-Aktionsprogramm wird am 3. Dezember
2014 im Kabinett verabschiedet, rechtzeitig vor der
Lima-Konferenz. Darin werden CO2-Minderungspoten-
ziale in allen Sektoren aufgezeigt und konkrete Hand-
lungsmaßnahmen vorgeschlagen. Das ist doch nicht
mehr lange hin. Warten Sie das doch erst einmal ab. Das
sind unsere Antworten auf den IPCC-Bericht.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt viel zu tun! Warten wir es ab!)


Seit der letzten Debatte ist etwas Positives passiert:
Ende Oktober haben die Staats- und Regierungschefs der
EU-Mitgliedstaaten verbindliche Klimaziele beschlos-
sen. Die Tatsache, dass sich 28 EU-Mitgliedstaaten auf
ambitionierte Klimaziele einigen, ist einzigartig in der
Welt. Wir sind damit die Ersten. Was wurde erreicht? Es
wurde beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis
2030 um mindestens 40 Prozent im Verhältnis zu 1990
zu reduzieren, den Anteil der erneuerbaren Energien EU-
weit auf mindestens 27 Prozent auszuweiten und den
Gesamtenergieverbrauch in der EU um mindestens
27 Prozent zu senken.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverbindlich!)


Damit sendet Europa ein klares Signal: Schaut her, wir
sind bereit. Das ist unser Beitrag zur internationalen Kli-
mapolitik. Nun seid ihr an der Reihe.

Es ist kein Geheimnis – das sage ich an dieser Stelle
auch ganz klar –, dass Deutschland gerne weitergegan-
gen wäre. Wir wollten zum Beispiel, dass das Ziel be-
züglich der erneuerbaren Energien und der Energieeffi-
zienz, das auf EU-Ebene verbindlich verabredet wurde,
auf die nationale Ebene heruntergebrochen wird. Das
sage ich ganz ehrlich an dieser Stelle. Wir wollten auch
30 Prozent als Ziel; das sage ich auch ganz klar. Aber die
Verhandlungen waren schwierig. Polen, Tschechien, Un-
garn und die Slowakei wollten nicht mitmachen, haben
auf die Bremse gedrückt. Es war nicht klar, ob es über-
haupt gelingen würde, verbindliche Klimaziele zu verab-
reden. Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Das
ist ein Erfolg. Es steht jeweils das Wörtchen „mindes-
tens“ drin. Das heißt, es sind Mindestziele. Wir können
weitergehen, wenn die äußeren Umstände, etwa die wirt-
schaftliche Lage, es zulassen. Also: Es gibt wirklich kei-
nen Grund, in die Defensive zu gehen. Die Bundeskanz-
lerin hat ein gutes Ergebnis erzielt. Wir können mit
diesem Ergebnis selbstbewusst und mit Rückenwind
nach Lima und Paris reisen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Trotzdem sage ich: Wir dürfen uns auf diesem Zwi-
schenerfolg nicht ausruhen. Wir müssen mit diesem Er-
gebnis im Rücken jetzt den Druck auf internationaler
Ebene erhöhen, die anderen Staaten mitreißen und auch
von anderen Ländern, egal ob es Industrieländer oder





Dr. Anja Weisgerber


(A) (C)



(D)(B)

Entwicklungs- und Schwellenländer sind, einen Beitrag
einfordern – wir alleine können das Klima nicht retten –;
sonst können wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen. Wir
brauchen dafür alle Staaten der Welt.

Auch der Stern-Bericht besagt ganz klar: Wenn wir es
schaffen, gerade in den Entwicklungs- und Schwellen-
ländern die Weichen von Anfang an in Richtung einer
kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologie zu
stellen, dann haben wir viel gewonnen.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann machen Sie es mal!)


Deswegen müssen wir in diesen Ländern massiv anset-
zen, auch mit Geldern, die zum Beispiel wir Deutsche
zur Verfügung zu stellen bereit sind.

Außerdem geben auch die Äußerungen vonseiten der
USA und Chinas Anlass zu leiser Hoffnung. Diesen
Worten müssen jetzt allerdings Taten folgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Bravo!)


– Das war auch an diese Länder gerichtet. Wir haben mit
den europäischen Beschlüssen schon Taten geliefert,
meine Damen und Herren.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch diese anderen Länder, nämlich die USA und
China, müssen jetzt liefern, und zwar bis zu den Klima-
konferenzen in Lima und Paris.

Zuallerletzt möchte ich noch sagen: Mir ist ganz
wichtig, dass es uns gelingt, ein verbindliches Abkom-
men hinzubekommen, das transparent ist und überprüf-
bare Kriterien enthält, die auch kontrolliert werden kön-
nen


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, klar! Genau das heißt ja „verbindlich“!)


und es ermöglichen, andere Länder, die diese Ziele nicht
einhalten, an den Pranger zu stellen bzw. zu ermutigen,
die Erreichung dieser Ziele wirklich ehrgeizig anzustre-
ben. Denn nur ein ehrgeiziges, beherztes Handeln aller
Länder der Welt führt letztendlich zu einem Erfolg beim
internationalen Klimaschutz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806311600

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806311700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich mit einer guten Nachricht beginnen:
Der Kohleausstieg, den die Linke schon lange fordert, ist
endlich in trockenen Tüchern.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer in Brandenburg! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Regierung hat am Wochenende angekündigt, dass
Strom aus Kohle 2025 Geschichte sein wird. Jetzt will
man sich mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Gesell-
schaft an einen Tisch setzen, um die schrittweise Ab-
schaltung der Kohlekraftwerke in die Tat umzusetzen.
Ausschlaggebend waren die Erkenntnisse der Klimafor-
schung bzw. die Handlungsempfehlungen dazu. Der
letzte Bericht des Weltklimarats gibt der Politik einen
klaren Auftrag: Es muss endlich Schluss sein mit der
Stromproduktion aus fossilen Energieträgern, und zwar
ohne Wenn und Aber,


(Beifall bei der LINKEN)


oder, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Weltklima
fliegt uns um die Ohren, mit allen uns bekannten Folgen.

Jetzt die schlechte Nachricht, die leider lautet: Nicht
Deutschland hat hier seine Klimahausaufgaben erledigt,
sondern unser Nachbar Dänemark hat den Kohleausstieg
beschlossen. Die dortige Mitte-Links-Regierung hat, wie
ich finde, eine reife politische Entscheidung getroffen,
statt nur darauf zu warten, dass der Energiemarkt das
Kohleproblem löst. Im Übrigen funktioniert das sowieso
nicht. In Schweden gibt es ähnliche Entwicklungen. Da
frage ich mich natürlich: Warum hören die Skandinavier
auf die Wissenschaft, während in Deutschland Monat für
Monat neue Rekorde bei der Stromgewinnung aus Kohle
aufgestellt werden? Die Linke sagt: Der Bund muss end-
lich eine klare Entscheidung treffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl)


Nur mit einem Kohleausstiegsgesetz, das den Firmen
Planbarkeit ermöglicht, wird die Energiewende zu einem
Erfolg; da bin ich mir sicher, meine Damen und Herren.

Gerade die Landesregierungen brauchen eine Vorgabe
vom Bund für diesen klimapolitisch notwendigen Schritt
nicht nur, sondern sie fordern diese sogar immer öfter
ein.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Manche!)


Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, und lassen Sie uns gemeinsam
dem Beispiel der Dänen folgen. Im Übrigen ist im Staate
Dänemark nichts faul. Im Gegenteil, das Beispiel zeigt
uns, dass Klimaschutz im nationalen Alleingang mach-
bar ist. Die Wärmewende hat Dänemark auch schon ge-
schafft, weil Dänemark gleich nach der Ölkrise Ende der
70er-Jahre fleißig auf Effizienzsteigerung gesetzt hat,
während in der Bundesrepublik Doppelfenster eingebaut
wurden.

Beklagenswerterweise funktioniert Politik hierzu-
lande noch immer nach dem Schwarzer-Peter-Prinzip:
Regt sich Protest gegen ein Kohlekraftwerk oder einen
Tagebau, dann zeigt der Bürgermeister mit dem Finger
auf die Landesregierung. Die Landesregierung wiede-
rum zeigt mit dem Finger auf den Bund. Das Umweltmi-





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

nisterium klagt dann über das Wirtschaftsministerium.
Berlin verweist auf Brüssel. Ähnlich wie beim Emis-
sionshandel fielen in Brüssel die Entscheidungen. – Da-
ran sind Sie aber eigentlich maßgeblich beteiligt. – Bei
der EU heißt es dann, in Zeiten der Globalisierung
schwäche mehr Klimaschutz Europas Wettbewerbsfä-
higkeit gegenüber China oder den USA. – Das ist übri-
gens ein Ball, der oft und gerne über Bande gespielt
wird. Wir kennen diese Argumentation ja von der Lohn-
drückerei und vom Sozialabbau.

Nein, meine Damen und Herren, wo kommen wir
denn da hin? Wir brauchen ein schlagkräftiges Klima-
schutz-Aktionsprogramm, das seinen Namen wirklich
verdient. Alle Sektoren müssen einen Beitrag zur Schlie-
ßung der Klimaschutzlücke leisten. Um 7 bis 9 Prozent
werden wir bei einem Weiter-so die Marke verfehlen.
Ein Verschlafen des 40-Prozent-Ziels bis 2020 wäre ein
schlimmer Rückschlag.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei ist der Energiesektor in der Bringschuld. Die
EU-Kommission hat es vorgerechnet: Deutschland ist
das EU-Land mit der größten Fördersumme für Kohle.
Von 1970 bis 2007 wurden EU-weit 380 Milliarden Euro
Steuergelder zur Förderung des Kohlestroms ausgege-
ben, der Großteil davon in Deutschland. In 37 Jahren
macht das einen Jahresschnitt von über 10 Milliarden
Euro aus. Zudem verursacht dieser Marshallplan für die
Energieriesen immense Folgekosten. Allein 2012 sind
durch die Nutzung fossiler Energien 42 Milliarden Euro
Folgekosten für Mensch, Umwelt und Klima entstanden.
Darüber reden Sie aber nicht.

Die Fakten liegen auf dem Tisch, auch dem Wirt-
schaftsministerium: Zurzeit liegen 8 Tonnen Kohle von
Greenpeace vor dem Wirtschaftsministerium.

Ich finde, wir brauchen mutige Entscheidungen. Ich
wünsche der Koalition den Mut, den wir für eine mutige
Politik brauchen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1806311800

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für die

Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Barbara
Hendricks.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bekämpfung des Klimawandels – wir wissen es alle – ist
die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Die Genera-
tionen, die nach uns kommen, werden uns dafür danken,
dass wir sie bewältigt haben, oder sie werden uns fragen,
warum wir nicht den Mut gefunden haben, uns der Zer-
störung unseres Planeten in den Weg zu stellen.

Der IPCC-Bericht, der am Wochenende vorgelegt
worden ist, ist aus meiner Sicht erschreckend und ermu-
tigend zugleich. Er ist erschreckend, weil der Klimawan-
del keine ferne Bedrohung ist, sondern bereits stattfin-
det. Das wird auch von niemandem mehr ernsthaft
bestritten. Das war vor einigen Jahren – auch in man-
chen Wissenschaftskreisen – noch anders. Dies hat sich
jetzt auch in Wissenschaftskreisen erledigt. Es gibt aller-
dings noch einzelne Regierungen, wie zum Beispiel die
neue Regierung in Australien, die anderer Auffassung
sind. Im Prinzip wird das aber nicht mehr bestritten.

Der nun vorliegende IPCC-Bericht ist aber zugleich
ermutigend, weil wir noch ein wenig Zeit haben, den
Klimawandel in den Grenzen zu halten, in denen er noch
beherrschbar ist. Der Bericht macht ganz klar: Die Be-
grenzung der Erwärmung auf 2 Grad im Verhältnis zur
vorindustriellen Zeit ist noch möglich; aber dafür ist ent-
schlossenes und schnelles Handeln natürlich die Voraus-
setzung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das benötigt ein wenig Zeit!)


– Ja, wir haben nicht mehr viel Zeit; das ist gar nicht zu
bestreiten.

Es muss gelingen, den Ausstoß der Treibhausgase bis
2050 gegenüber 2010 global um 40 bis 70 Prozent zu
senken; bis 2100 müssen es 100 Prozent sein. Deutsch-
land muss Europa mitreißen und wird dies auch weiter
tun,


(Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und Europa muss die Welt mitreißen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wahr ist: In Deutschland hat sich schon viel bewegt.
Wir verfügen über die notwendigen technischen Mittel,
um den Energiesektor schrittweise zu dekarbonisieren,
die Energieeffizienz deutlich zu steigern und ehrgeizige
Einsparungen in privaten Haushalten, in der Industrie,
im Gebäude- und Transportbereich und bei der Landnut-
zung zu erzielen; auch das ist uns möglich.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun es nicht!)


Jetzt, in diesem Jahr, haben die erneuerbaren Energien
bei uns einen Anteil an der Stromerzeugung von fast
30 Prozent: Aktuell sind es etwa 28,5 Prozent, und wir
sind noch nicht am Ende dieses Jahres. Damit liegt der
Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeu-
gung erstmals vor dem Anteil von Kohle. Das war bisher
noch nie der Fall. Das ist ein Erfolg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegenüber Kohle insgesamt? Steinkohle und Braunkohle zusammen haben immer noch einen größeren Anteil!)


Wahr ist aber auch: Die Anstrengungen sind seit einer
Reihe von Jahren – unabhängig davon, wer die politi-
sche Verantwortung getragen hat – zu keinem Zeitpunkt





Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

ausreichend gewesen. Deswegen gibt es eine prognosti-
zierte Lücke bei der Erreichung unseres Minderungsziels
von 40 Prozent bis 2020 von 5 bis 8 Prozent. Die Ziel-
erreichung ist keineswegs trivial, sondern durchaus
schwierig. Das heißt aber nicht, dass ich mich etwa da-
von verabschieden wollte, Herr Krischer. Wir werden
vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen, und wir werden
unsere Ansprüche nicht relativieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erzählen jetzt bestimmt, wie!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein
Zweifel: Das Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zen-
trale Herausforderung für mich als Bundesumweltminis-
terin und eines der wichtigsten Projekte dieser Bundesre-
gierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich einmal gespannt!)


Deswegen werden wir am 3. Dezember im Kabinett un-
ser Aktionsprogramm verabschieden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat keiner geklatscht! – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Doch. – Wir werden damit rechtzeitig vor der in Lima
beginnenden Konferenz ein Signal geben. Die Eck-
punkte sind klar: Wir müssen den Anteil fossiler Ener-
gieträger reduzieren. Das Ziel ist, den CO2-Ausstoß bis
2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Das macht
deutlich: Das Zeitalter der fossilen Energie wird sich
– natürlich muss das in einem planmäßigen Prozess ge-
schehen – Stück für Stück dem Ende nähern.

Natürlich brauchen wir auch noch größere Anstren-
gungen im Gebäudebereich und bei der Energieeffi-
zienz; das liegt auf der Hand. Auch dazu werden wir die
notwendigen Aussagen in unserem Aktionsprogramm
„Klimaschutz 2020“ und auch im „Nationalen Aktions-
plan Energieeffizienz“, der verschränkt mit unserem
Aktionsprogramm zeitgleich in der Verantwortung des
Bundeswirtschaftsministers erarbeitet wird, zum 3. De-
zember vorlegen. Nach dem Aktionsprogramm, das in
der Verantwortung meines Hauses liegt, werden wir
dann weitere konkrete Schritte angehen, um Maßnah-
men für die Zeit zwischen 2020 und 2050 zu entwickeln,
mit überprüfbaren Zwischenzielen, etwa – das liegt ja
auf der Hand – in Zehnjahresmargen.

Meine Damen und Herren, die entscheidende Phase
der Klimaschutzpolitik haben wir jetzt vor uns, insbe-
sondere im Hinblick auf die Ende des nächsten Jahres in
Paris stattfindende internationale Konferenz. Die Bun-
desregierung – das wissen Sie – engagiert sich gerade im
Hinblick auf diese international notwendigen Abstim-
mungen Ende des nächsten Jahres mit aller Kraft.

In diesem Zusammenhang möchte ich mich sehr herz-
lich bei der Bundeskanzlerin bedanken für die Verhand-
lungen im Europäischen Rat vor knapp zwei Wochen.
Das war ein großer Erfolg, und es ist nicht zuletzt der
Beharrlichkeit der Bundeskanzlerin zu verdanken – ne-
ben den guten Vorarbeiten –, dass dies gelingen konnte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist kein Geheimnis: Wir hätten uns, insbesondere
in den Bereichen „Energieeffizienz“ und „erneuerbare
Energien“, noch etwas ehrgeizigere Ziele gewünscht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie wie wild gekämpft!)


Das ist keine Frage. Aber der Beschluss ist ein großer
Schritt nach vorne. Europa hat damit Handlungsfähig-
keit und Weitsicht unter Beweis gestellt. Dies wird auch
international durchaus anerkannt. – Ich weiß, Herr Kol-
lege Krischer, wenn man das aus dem Blickfeld des
Aachener Reviers sieht, guckt man vielleicht nicht ganz
so weit.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn?)


Aber zum Beispiel Ban Ki-moon, der die Welt im Blick
hat, hat uns dazu beglückwünscht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer: Was soll das denn?)


Erstens. Wir in Europa sind die Ersten, die einen Bei-
trag zum neuen Klimaschutzabkommen vorlegen kön-
nen und eben vorgelegt haben. Wir werden unsere Emis-
sionen um 40 Prozent absenken können. Das ist ein sehr
deutliches Signal. Das Ziel ist selbstverständlich ver-
bindlich. Es ist nicht an irgendwelche Bedingungen ge-
knüpft. Jeder Investor in Europa weiß jetzt, worauf er
sich in den nächsten 16 Jahren einstellen muss und wel-
che Investitionen sich langfristig lohnen und welche
nicht. Das Ganze ist also auch ein Modernisierungspro-
gramm für unsere Volkswirtschaften.

Zweitens. Der Beschluss enthält das Wörtchen „min-
destens“. Andere Staaten müssen jetzt nachziehen. Wir
haben im Rahmen des Petersberger Klimadialogs von
China gehört, dass es einen Beitrag leisten wird. Wir
sind gespannt, wie dieser Beitrag aussehen wird, aber
zugleich zuversichtlich, dass er weit über das hinaus-
geht, was wir von China bisher gesehen haben.

Wie ich höre – man wird sehen, wie das nach den
„midterm elections“ weitergeht –, wollen auch andere
Schwellenländer und nicht zuletzt auch die USA Anfang
2015 ihre Beiträge vorlegen. Ich weiß, dass es für Präsi-
dent Obama schwer wird. Deswegen arbeitet die ameri-
kanische Administration an einer Lösung, die man auch
dann umsetzen kann, wenn man keine Mehrheit im Re-
präsentantenhaus hat.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie nicht so viel über Obama! Was machen Sie denn?)


Wenn sich diese Dynamik fortsetzt – da bin ich zuver-
sichtlich –, dann werden wir in Paris erfolgreich sein und
ein gutes Abkommen erreichen. Dann sollte die EU be-
reit sein, noch einmal nachzulegen, wenn denn auch an-
dere Länder ehrgeizige Pläne vorlegen. Dann können





Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

auch wir in der Tat noch einmal nachlegen; das Wört-
chen „mindestens“ bedeutet nicht zuletzt dies.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Drittens. Der Rat hat sich eindeutig zu einem funktio-
nierenden und reformierten Emissionshandel bekannt.
Wir werden weiterhin darauf achten, dass dies so bald
als möglich, nämlich 2017, geschieht. Das gibt Rücken-
wind. Zugleich bedeutet das natürlich auch, dass die
900 Millionen Zertifikate, die sich im Prozess des Back-
loadings befinden, sofort in die Stabilitätsreserve über-
führt werden müssen; denn wir müssen natürlich den
Emissionshandel wieder auf Kurs bringen.

Der nächste Schritt ist die Klimakonferenz in Lima;
das wissen wir. Das Aktionsprogramm und die europäi-
schen Klimaziele unterstreichen die Vorreiterrolle, die
wir einnehmen wollen und die von uns erwartet wird.

Der Wandel in eine Zeit ohne fossile Energieträger
hat längst begonnen: Windräder werden gebaut, Solar-
panels installiert, energieneutrale Gebäude geplant und
errichtet. Die Aussage, Klimaschutz schade der Wirt-
schaft, haben wir längst in die Märchenwelt verbannt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon hat Herr Gabriel aber noch nichts gehört!)


Klimaschutz lohnt sich; nicht zu handeln, kostet – das
macht auch der IPCC-Bericht klar.

Wir brauchen einen langen Atem. Wir werden das
Problem des Klimawandels nicht allein in dieser Legis-
laturperiode lösen und auch nicht in diesem Jahrzehnt.
Vielleicht wird es länger dauern, als dass meine Genera-
tion die Früchte dieser Politik wird ernten können. Wir
werden diesen Weg entschlossen gehen, und zwar in der
Zeit unserer jeweiligen Verantwortung, so wie es nötig
ist und unseren Möglichkeiten entspricht – und die sind
umfangreich. Darauf kann man sich verlassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Wort über konkrete Maßnahmen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806311900

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Thomas

Gebhart das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1806312000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Temperaturen steigen, der Meeresspiegel
steigt, Wetterextreme häufen sich: Der Klimawandel ist
da. Dieser Klimawandel wird aller Wahrscheinlichkeit
nach – dies zeigt uns der Bericht, der jetzt auf dem Tisch
liegt – weitergehen, wenn es uns nicht gelingt, die Emis-
sionen von Treibhausgasen erheblich zu senken.

Wir müssen dazu beitragen – das ist Teil unserer Ver-
antwortung, und es ist auch eine ethische Pflicht und ent-
spricht der ökonomischen Vernunft –, dass es gelingt;
denn viele Untersuchungen zeigen inzwischen ganz klar,
dass es günstiger ist, weltweit jetzt entschieden gegen
den Klimawandel vorzugehen, als einfach alles laufen zu
lassen und zum Schluss für die Schäden und die Folge-
kosten zu bezahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die spannende Frage wird sein, wie es uns gelingt.
Wir müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass
es sich um ein weltweites Problem handelt. Auf
Deutschland kommen gut 2 Prozent der weltweiten
Emissionen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt wieder der Fingerzeig auf andere!)


Deutschland wird dieses Problem nicht allein lösen kön-
nen. Auch Europa wird dieses Problem nicht allein lösen
können. Was wir brauchen, sind weltweite Anstrengun-
gen, und genau aus diesem Grund sind die Weltklima-
konferenzen der Vereinten Nationen so wichtig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie mal was zur deutschen Vorreiterrolle!)


Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie zäh
und schwierig die Verhandlungen sind und dass es im-
mer nur in kleinen Schritten vorangeht. Aber diejenigen,
die jetzt die Konsequenz ziehen und sagen, wir sollten es
besser sein lassen, irren gewaltig. Denn letzten Endes
gibt es keine vernünftige Alternative dazu, dass wir auf
dieser Ebene miteinander sprechen, verhandeln, koope-
rieren und möglichst gemeinsame Lösungen finden.

Deswegen brauchen wir auch einen Erfolg. Wir müs-
sen im nächsten Jahr in Paris zu einem Ergebnis kom-
men. Wir brauchen ein weltweites Abkommen über den
Klimaschutz, und in wenigen Wochen bei der nächsten
Konferenz in Lima müssen wir den Weg dazu bereiten.
Genau darauf müssen wir hinarbeiten, mit Nachdruck
und möglichst alle gemeinsam.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, Europa hat vorgelegt.
Europa hat beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis
zum Jahr 2030 um mindestens 40 Prozent zu senken.
Europa geht voran. Dies ist ambitioniert, und Deutsch-
land geht nochmals darüber hinaus, indem wir sagen:
40 Prozent nicht erst 2030, sondern bereits bis zum Jahr
2020.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht ambitioniert! Das ist viel weniger als nötig!)


Wir wissen auch: Dies reicht noch nicht. Es gibt eine Lü-
cke. Wir müssen noch erhebliche Anstrengungen unter-
nehmen. Deswegen wird es – die Ministerin hat es ange-
sprochen – ein Aktionsprogramm geben. Ich bin sehr
dafür, dass wir in diesem Aktionsprogramm den Fokus
auch auf Bereiche lenken, die bislang noch nicht so im
Mittelpunkt standen.

Ich nenne das Beispiel Kreislaufwirtschaft. Unser
Ziel ist es, aus Abfällen mehr Rohstoffe zu gewinnen,
mehr Recycling zu betreiben und den Rohstoffverbrauch





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

zu senken. Dies ist ein effektiver Beitrag zum Klima-
schutz, und es ist vor allem eine Frage technologischer
Innovation. Hier haben wir noch erhebliche Potenziale,
die wir in den nächsten Jahren nutzen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auf einem wichtigen Feld ist Deutschland vorange-
gangen: bei der Energiewende. Wir haben enorm viel ge-
macht. Das zeigen die Zahlen. Im Jahr 2005, vor neun
Jahren, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien bei
der Stromerzeugung 10 Prozent. Wir sind heute bei
25 Prozent. Dies ist eine rasante Entwicklung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie beendet haben!)


Es wird international sehr genau beobachtet – das er-
leben wir auch auf den Klimakonferenzen –, was wir in
Deutschland machen. Man spricht von der „German
Energiewende“. Aber es wird auch immer klar: Ob die
deutsche Energiewende zu einem Modell wird, ob uns
andere folgen und diese Energiewende nachahmen, was
wir uns wünschen, hängt letztlich davon ab, ob die Ener-
giewende bei uns, im eigenen Land, gelingt.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun alles dafür, dass das nicht klappt!)


Die Frage, ob die Energiewende gelingt, bedeutet im
Klartext: Sie muss unter ökologischen Gesichtspunkten
gelingen; sie muss aber auch in der Weise gelingen, dass
die Preise bezahlbar bleiben und die Wirtschaft und die
Industrie am Ende damit klarkommen.

Es geht also darum, die richtige Balance zu halten. Es
geht darum, eine nachhaltige Politik zu betreiben. Des-
wegen sage ich gerade auch an die Adresse der Grünen:
Wer an dieser Stelle überzieht und die Wettbewerbsfä-
higkeit einseitig über Gebühr belastet,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausnahmen gibt es doch schon!)


der schadet nicht nur der Energiewende, sondern auch
dem Klimaschutz.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie wollen die Kohlekraftwerke weiterlaufen lassen!)


Sie erweisen ihm einen Bärendienst, weil uns nämlich
niemand in der Welt folgen wird. Das müssen wir beach-
ten. Es bleibt dabei: Die Energiewende muss gelingen.
Das ist unsere Aufgabe. Sie muss unter ökologischen,
ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten gelingen.
Das ist unsere Herausforderung und zugleich unsere
Chance. Diese müssen wir nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806312100

Als nächster Redner spricht Ralph Lenkert.


(Beifall bei der LINKEN)


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806312200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und

Herren! Täglich prasseln Schlagzeilen zu den Folgen des
Klimawandels hernieder. Beklemmung macht sich breit,
genauso wie ein Ohnmachtsgefühl. Trotz der vielen Kli-
magipfel steigt der weltweite CO2-Ausstoß. Die schlech-
ten Nachrichten über einen abrutschenden Eisschild in
der Antarktis und über Kiribati, einen Inselstaat, der im
Pazifik versinkt, bereiten Sorgen. Aber wie kommt es,
dass bei Menschen trotz der Kenntnis der zukünftigen
riesigen Probleme durch den Klimawandel ein kollekti-
ver Verdrängungsmechanismus einsetzt? Wie kommt es,
dass diese Bundesregierung weitermacht wie bisher?
Laut Soziologen liegt die Ursache darin, dass sowohl das
Problem als auch die Lösung für einen einzelnen
Menschen schwer fassbar sind. Sie sind einfach zu gi-
gantisch. Deshalb wird Handeln unterlassen, auch von
dieser Bundesregierung. Berichte über vertagte Klima-
schutzverhandlungen und angekündigte Vorhaben gibt
diese Bundesregierung ständig ab. Doch bei all dem gilt:
Außer Spesen bisher nicht viel gewesen!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Betrachten Sie neben dem globalen Klimaschutz un-
sere Region; das ist greifbar. Das Klima in Deutschland
verändert sich. Die Wettergrenze zwischen dem maritim
beeinflussten Süden und Westen der Republik und dem
kontinental geprägten Nordosten verschärft sich. Im
Südwesten steigt die Anzahl heftiger Gewitter mit Ha-
gelschlag und lokalen Überschwemmungen. Im Osten
wird es im Sommer immer trockener und wärmer. Wenn
es regnet, dann gibt es zumeist Unwetter. Im Morgen-
magazin der ARD lautete die heutige Zahl des Tages:
635 000. Das ist die Anzahl der in diesem Jahr durch
Hagel und Unwetter beschädigten Pkw. Der Schaden be-
läuft sich auf 1,5 Milliarden Euro. Das ist ein Allzeitre-
kord. Hinzu kommen – für mich viel gravierender – Tote
und Verletzte, zerstörte Häuser, beschädigte Infrastruktur
und nicht arbeitsfähige Firmen.

All diese Auswirkungen der Unwetter könnten wir
mit Maßnahmen vor Ort verhindern oder verringern.
Hier lässt sich das eine mit dem anderen verbinden. Für
die Linke ist das Prinzip klar. Der Natur muss man mög-
lichst viel Raum zurückgeben, und das dauerhaft. Die
Renaturierung und Wiederbelebung von Feuchtgebieten
wirken der Austrocknung von Böden entgegen, dienen
gleichzeitig dem Hochwasserschutz bei Starkregen und
verbessern das Mikroklima. Es wird regional im
Sommer etwas kühler. Zusätzliche Grünanlagen in städ-
tischen Bereichen fungieren als Wasserspeicher bei
Starkregen und Trockenheit. Sie können Innenstädte an
heißer werdenden Sommertagen abkühlen, senken damit
sogar den Energiebedarf von Klimaanlagen und dienen
gleichzeitig dem Staub- und Lärmschutz. In Thüringen
werden wir zukünftig mehr Flächen entsiegeln und rena-
turieren. Ehemalige Militärflughäfen und alte Indus-
triebrachen werden grün, speichern Wasser im Boden,
und die optischen Schandflecken verschwinden. Das
verringert zudem die Hochwassergefahr. Ganz nebenbei
bindet die zusätzliche Grünmasse CO2, was wiederum
dem Klimaschutz dient.





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

All diese Maßnahmen kann man im kleinen Maßstab
beginnen. Es sind Mosaiksteinchen bei der Lösung des
großen Klimaproblems. Aber, meine Damen und Herren
von der Koalition, Sie behaupten, Deutschland allein
könne beim Klimaschutz nichts bewirken. Das ist der
Klassiker: Verdrängung. Beginnen Sie im Kleinen! Le-
gen Sie Klimaschutz- und Klimaanpassungsprogramme
langfristig an! Es ist Schwachsinn, wenn man bei der
Jahrhundertaufgabe Klimaschutz Projekte nach wenigen
Jahren auslaufen lässt. Viele Kommunen, ob im Ruhr-
gebiet oder in Ostdeutschland, können sich Klima-
schutzmaßnahmen nicht leisten, weil sie nicht in der
Lage sind, die benötigten Eigenmittel aufzubringen.
Deswegen fordern wir Förderprogramme, die ohne Ei-
genmittel auskommen.

Gehen wir die kleinen Schritte zum Klimaschutz vor
Ort. Das gibt vielleicht auch Ihnen die Kraft, die großen
Schritte international zu gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Bundesregierung hat genug geredet. Lassen Sie
uns im Bundestag mit Handeln anfangen, zuerst im Klei-
nen, im Greifbaren, und dann mit Mut zum Großen. Wir
Abgeordnete, wir bestimmen die Gesetze, wir machen
den Haushalt, wir können entscheiden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806312300

Als nächster Redner spricht Dr. Matthias Miersch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1806312400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es ist richtig, dass die Grünen diese Aktuelle
Stunde nutzen, um den Bericht des Weltklimarats zum
Thema zu machen. Es ist gut, dass wir immer wieder
über dieses Thema reden. Wenn man die Gazetten richtig
wahrnimmt, dann ist es auch in Deutschland immer noch
so, dass an einigen Stellen gezweifelt wird.

Deswegen will ich am Anfang für meine Fraktion
sehr deutlich machen: Es geht nicht nur um Klima-
schutz, sondern es geht auch darum, weitaus höhere
volkswirtschaftliche Folgekosten – nach Sir Nicholas
Stern das Fünffache – zu vermeiden. Klimaschutz ist
auch eine wirtschaftliche Frage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Oft wird ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und
Ökologie gesehen. Dazu muss man aber sagen: Es geht
letztlich auch um das Verhindern von Abhängigkeiten
von anderen Staaten; denn die Ressourcen sind endlich,
sie sind begrenzt. Auch deswegen ist Klimaschutz mehr
als eine ökologische Frage, es ist ein urökonomisches
Erfordernis, in den Klimaschutz zu investieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie es auch!)


Herr Krischer, seien Sie beruhigt. Herr Homann ist
nun wirklich alles andere als von uns vorgeschickt wor-
den. Ich will an der Stelle sagen – ich finde es richtig,
dass auch die Bundesumweltministerin das hier gesagt
hat –: Herr Homann, die 40 Prozent sind unverhandel-
bar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nehmen Sie beim Wort!)


Kümmern Sie sich um gute Netzplanung, aber nicht um
das Klimaschutzziel!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde es richtig, dass Sie, Herr Lenkert, die Frage
stellen, wie wir das hier im Parlament machen. Aber ich
fände es gut, erst einmal hinzuhören. Wir haben eine
Bundesumweltministerin, die sich hier eindeutig zum
Klimaschutz und zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt hat.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat sie nicht!)


– Das hat sie. Das können Sie im Protokoll von heute
nachlesen. Sie hat es gerade eben an diesem Pult gesagt.


(Klaus Mindrup [SPD]: Schwerhörig!)


Es gehört schon zur Redlichkeit, zuzuhören. – Sie hat
seit ihrer Amtseinführung gesagt, dass wir bis jetzt ein
Defizit haben und uns 7 bis 8 Prozent fehlen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zweifelt niemand an!)


Deswegen finde ich es richtig, dass wir, die wir alle
einer Meinung sind – ich hoffe es jedenfalls –, sie in die-
sem Vorhaben unterstützen und sagen: Ja, es ist richtig
gewesen, alle Ressorts aufzufordern. Denn es darf nicht
nur die Aufgabe des Bundesumweltministeriums in die-
ser Regierung sein, die Klimaziele zu erreichen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Sigmar Gabriel?)


Wir hatten in den letzten Jahren eine Blockade zwi-
schen Wirtschafts- und Umweltministerium. Die wei-
chen wir auf. Wir haben jetzt, glaube ich, eine Allianz
zwischen dem Umweltressort, dem Wirtschaftsressort
und auch der Bundeskanzlerin. Das sage ich hier ganz
deutlich. Ich bin mir sehr sicher, dass diese drei auch
ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett mitnehmen
und wir am 3. Dezember beginnen können, über ein
Maßnahmenpaket zu reden. Ich finde, ein Vorlauf von
einem Jahr für eine neue Bundesregierung ist recht und
billig.

Aber wir müssen als Parlament auch schauen, ob das
ausreicht. Insofern bin ich der Bundesumweltministerin





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

genauso dankbar dafür, dass sie am Montag die Frage
gestellt hat, wie es mit der Versorgung mit fossiler Ener-
gie weitergeht. Frau Bulling-Schröter, das alles ist nicht
einfach. Das wissen auch Sie. In Brandenburg ist das
Verhältnis der Linken zur Kohle auch nicht so ganz ein-
fach.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch nicht in NRW!)


– Ja, Herr Krischer, auch in NRW ist das nicht so einfach
mit den Grünen. Danke für den Zwischenruf. – Ich will
damit sagen: Dass die Bundesumweltministerin dieses
Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist richtig. Wir
sollten sie dabei unterstützen; denn es kann nicht sein,
dass hochflexible Gaskraftwerke vom Netz gehen und
alte Kohlemöhren sich rechnen. Dabei müssen wir sie
unterstützen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Partei sind Sie denn?)


Deswegen, Herr Hofreiter, glaube ich, sollten wir
noch einmal Luft holen und schauen, was die Bundes-
regierung im Dezember vorlegt. Wir sollten – da bin ich
mir ganz sicher – diese Bundesumweltministerin unter-
stützen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Sigmar Gabriel, oder wie?)


im Einsatz dafür, dass das eintritt, was wir wollen, näm-
lich die Vorreiterrolle Deutschlands in der Europäischen
Union und die Vorreiterrolle der Europäischen Union im
UN-Konzert. Unsere Glaubwürdigkeit wird sich letztlich
an der Vorreiterrolle messen lassen müssen. – In der
Aktuellen Stunde gibt es leider nicht die Möglichkeit
nach einer Zwischenfrage; deswegen kann ich sie nicht
zulassen.

Frau Umweltministerin, Sie werden mit Sicherheit in
den nächsten Monaten viel Kraft brauchen; denn das,
was Sie angestoßen haben, war in den letzten Jahren
nicht durchsetzbar. Das muss man hier immer wieder
sagen. Sie haben uns und, ich hoffe, das ganze Haus an
Ihrer Seite.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806312500

Als nächste Rednerin spricht Annalena Baerbock.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Da Matthias Miersch gleich losmuss, fange
ich gleich mit Ihnen an: Wir würden die Bundesumwelt-
ministerin ja gerne unterstützen. Liebe Frau Hendricks,
dann müssen Sie aber auch ehrlich sein. Sie haben groß
angekündigt: Wir wollen eine Reform des ETS, am bes-
ten 2017. – Das wird nicht eintreten, und jetzt sagen Sie
hier: Die Ergebnisse sind ein großer Erfolg. – Das passt
vorne und hinten nicht zusammen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben groß angekündigt: Wir wollen aus der
KfW-Finanzierung für Kohlekraftwerke aussteigen. Jetzt
ist relativ klar, dass das nicht die IPEX-Projekte betref-
fen wird. Auch das kann man nicht als Erfolg verkaufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben außerdem groß angekündigt: Kohlekraft-
werke müssen vom Markt. – Wir wollen Sie da unter-
stützen. Aber darum haben wir gehofft, dass Sie jetzt
hier das tun, was Herr Miersch mittlerweile gemacht hat,
nämlich zu sagen: Wir halten an dem 40-Prozent-Ziel
fest.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das hat sie gesagt!)


– Nein, sie hat gesagt: Wir halten am 2-Grad-Ziel für
2050 fest.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nein! – Frank Schwabe [SPD]: Nein! Nachlesen, Leute!)


Außerdem hätten Sie Herrn Homann eine deutliche
Absage erteilen sollen und hätten sagen sollen, dass es
nicht sein kann, dass wir dieses Klimaziel aufkündigen.
Wenn Sie das täten, unterstützen wir Sie dabei; aber
dann kämpfen Sie auch dafür.

Lieber Herr Miersch, kämpfen Sie in der SPD dafür,
dass das auch im Wirtschaftsministerium so gesehen
wird. Es ist ja nicht so, dass es von irgendeiner anderen
Partei geführt wird. An dessen Spitze sitzt die SPD, und
aus diesem Hause wird dieses Ziel infrage gestellt. Des-
wegen ist es Ihre Verantwortung, für die Erreichung die-
ses Ziels ordentlich zu kämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Was klar ist: Mit den Zielen, die beim EU-Gipfel fest-
gelegt wurden, erreichen wir das 2-Grad-Ziel eben nicht.
Daher kann es doch nicht richtig sein, die Ergebnisse des
EU-Gipfels hier als Erfolg zu verkaufen. Wir müssen
eine Schippe oben drauflegen. Wenn Sie, wie hier immer
propagiert, die Vorreiterin sind, warum machen Sie es
dann nicht wie Dänemark? Frau Weisgerber, Dänemark
hat nach dem Gipfel verkündet: Das reicht uns nicht;
deswegen legen wir eine Schippe oben drauf und sagen:
Wir wollen nicht erst 2030 aus der Kohle aussteigen,
sondern schon 2025. – Solche Worte kamen aus
Deutschland nicht. Man stellt hier eher das Klimaziel
infrage. So etwas macht doch kein Vorreiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ CSU])


– Frau Weißgerber, ich weiß, Sie wollen darüber nicht
reden; Sie haben ja eben noch einmal offiziell zu Proto-
koll gegeben, dass es Sie nervt, alle zwei Wochen über





Annalena Baerbock


(A) (C)



(D)(B)

Klimafragen zu reden. Wir aber wollen darüber reden.
Weil es ja viel zu tun gibt, legen wir nicht die Hände in
den Schoß; vielmehr müssen wir Antworten geben, und
genau das erwarten wir auch von Ihnen als Regierungs-
fraktionen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen wir auch! Aber wir reden nicht nur, sondern wir machen!)


– Ja, dann machen Sie mal.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Weisgerber, was machen Sie denn? Nichts!)


Der IPCC hat uns klar gesagt, wir müssen jetzt und
nicht irgendwann in 20 Jahren mit dem Klimaschutz an-
fangen. Das sagt nicht nur der IPCC, sondern das sagen
auch große Wirtschaftsunternehmen. Sie haben Ihnen
vor dem EU-Ratsgipfel doch einen Brief geschrieben
und haben gesagt: Wir brauchen ambitionierte 2030-
Ziele, weil wir sonst im internationalen Vergleich nicht
mehr wettbewerbsfähig sind. Ignorieren Sie doch nicht
einfach, was Ihnen die Wirtschaft da rät.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ CSU])


Andere Länder wie Schweden gehen voran. Schwe-
den sagt: Unser Staatskonzern Vattenfall soll aus der
Kohleverstromung aussteigen. Was ist die Antwort aus
Deutschland? Die SPD-Linken-Regierung in Branden-
burg sagt – man muss es leider so klar feststellen –: Oh,
mein Gott, die Schweden wollen aus der Kohleverstro-
mung aussteigen; dann steigen wir als Land Branden-
burg am besten ein. – Das würde das nur künstlich
verlängern. Weil sich aus wirtschaftlichen Gründen kein
Unternehmen findet, das dieses Risiko eingehen will,
erwägt jetzt der neue Ministerpräsident Woidke sogar,
öffentliche Bürgschaften auszureichen, damit es einen
neuen Betreiber von Kohleverstromung gibt. Das ist
mehr als absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Wir fordern Sie daher noch einmal eindringlich auf:
Machen Sie als Bundesumweltministerin, als SPD-Frak-
tion, als Klimapolitiker innerhalb der CDU/CSU deut-
lich: Hände weg vom Klimaziel! Wir müssen bei dem
40-Prozent-Ziel für 2020 bleiben. Wir müssen dabei
bleiben, den Wandel im fossilen Kraftwerkspark einzu-
leiten, und zwar nicht nur aus ökologischen, sondern
auch aus ökonomischen Gründen; denn wir wissen: So
kann es im Strommarkt nicht weitergehen. Wenn Sie am
3. Dezember nicht zu dieser Erkenntnis kommen sollten,
dann können Sie gleich die Hotelbuchungen für Lima
stornieren; denn wir brauchen gar nicht nach Lima zu
fahren, wenn Deutschland dort nichts vorzutragen hat.

Wenn Sie sagen: „Wir wollen da nichts weiter tun“,
dann schlagen Sie doch einmal im IPCC-Report nach! In
dem Bericht steht deutlich: Wenn wir so weitermachen
wie bisher, wenn wir an die fossilen Energien nicht her-
angehen, dann wird es zu einer Erderwärmung um mehr
als 4 Grad Celsius kommen. Wenn es zu einer Erderwär-
mung um mehr als 4 Grad Celsius kommt, dann steigt
der Meeresspiegel um mindestens 80 Zentimeter. – Sie
können in Ihre zukünftigen Haushalte schon einmal die
Milliarden einstellen, die wir brauchen, um Deutschland
davor zu schützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806312600

Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas

Jung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1806312700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Debatte vor dieser Aktuellen Stunde ging es um
Flüchtlingsfragen, um die Frage, wie Flüchtlinge gerettet
werden können, und um die Frage der Aufnahme von
Flüchtlingen. Natürlich wurde dort wieder darauf hinge-
wiesen, dass wir eine besondere Verantwortung haben,
dazu beizutragen, dass Menschen ihre Heimat erst gar
nicht verlassen müssen. Dabei ging es angesichts der ak-
tuellen Krisen natürlich um sicherheitspolitische Fragen.
Ich will die Debatte jetzt aber nutzen, um noch einmal
darauf hinzuweisen: Das ist selbstverständlich auch ein
Thema für die Klimapolitik. Auch bei dieser Frage ent-
scheidet sich, ob Menschen ihre Lebensgrundlage, ihre
Heimat verlieren oder ob sie in ihrer Heimat bleiben
können.

Ich erinnere mich an die Weltklimakonferenz in Bali.
Dort hat der Umweltminister von Papua-Neuguinea ge-
sagt: Bei der Frage des Klimaschutzes geht es für mein
Land, für meine Insel, für die Menschen in meiner Hei-
mat nicht um irgendeine politische Frage; es geht um Le-
ben und Überleben. – Er hat an die Weltgemeinschaft ap-
pelliert, diese Verantwortung für die Menschen in seiner
Heimat und für die Menschen überall auf der Welt wahr-
zunehmen. Das führt uns der IPCC-Bericht erneut vor
Augen. Er zeigt uns nochmals und noch eindringlicher
das, was in den letzten Jahren und in den vorausgegan-
genen Berichten schon herausgearbeitet wurde. Es gibt
keine Ausreden, und es darf keine Ausreden geben. Wir
brauchen ein gemeinsames, international abgestimmtes
Vorgehen. Wir brauchen ein wirksames Klimaschutzab-
kommen auf internationaler Ebene.


(Beifall der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ CSU])


Weil die Debattenbeiträge hier durchaus differenziert
waren, will ich darauf hinweisen, dass die letzten Klima-
konferenzen doch nie daran gescheitert sind, dass
Deutschland oder die Europäische Union nicht bereit ge-
wesen wäre, mitzumachen. Wir haben immer anderes si-
gnalisiert. Wir haben dafür gekämpft, wir haben darauf
gedrungen, dass es ein Klimaabkommen gibt. Wir waren
bereit, zu unterschreiben. Wir haben versucht, andere





Andreas Jung


(A) (C)



(D)(B)

mitzunehmen. Wir haben auch schon wichtige Schritte
unternehmen können. Deutschland ist hier über viele
Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer
Prägung hinweg immer treibender Motor gewesen und
ist es auch weiterhin. Wir stehen dazu und stehen auch
zu dieser Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist so, und das bleibt so, jetzt vor Lima und dann
auch vor der Konferenz im nächsten Jahr in Paris.

Wenn ich sage: „Es gibt keine Ausreden“, dann will
ich gleichzeitig sagen: Es gibt gar kein Vertun; die Kli-
maziele bleiben. – Sie haben sich teilweise auf einen De-
battenbeitrag von Herrn Homann gestern bezogen. Ich
glaube, es ist in dieser Aktuellen Stunde deutlich gewor-
den: Das ist nicht die Haltung der Bundesregierung. Das
ist nicht die Haltung der Koalition. Das ist nicht die Hal-
tung der Unionsfraktion. In dieser Debatte sprechen von
unserer Seite fünf Redner; alle bekennen sich zu diesem
Klimaziel.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier redet nicht Herr Fuchs! Hier redet nicht Herr Bareiß!)


Sie haben die Bundesumweltministerin gehört; auch sie
hat sich klar dazu geäußert. Sie hat darauf hingewiesen,
dass es eine enge Abstimmung zwischen ihr und der
Bundeskanzlerin gibt. Es ist klar: Niemand wird vorge-
schickt; das wird entschieden zurückgewiesen. Die Kli-
maziele bleiben bestehen.

Wir diskutieren jetzt darüber, wie wir auch in der
Europäischen Union zu ambitionierten Klimazielen
kommen können. Wir haben in Brüssel einen ersten
Schritt machen können. Es ist doch wahr – das ist auch
von der Bundesregierung so vertreten und öffentlich
kommuniziert worden –: Wir Deutsche wären auch be-
reit gewesen, darüber hinauszugehen. Deshalb war es
uns wichtig, dass formuliert wurde, dass der CO2-Aus-
stoß in der EU bis 2030 um mindestens 40 Prozent sin-
ken soll. Mindestens – das heißt, da ist Spielraum nach
oben. Wir als Deutsche haben für diesen Spielraum ge-
worben. Aber andere wollten noch nicht einmal das mit-
machen. Deshalb war es ein Verhandlungserfolg der
Kanzlerin und der Bundesregierung, dass das erreicht
wurde.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gesehen!)


Darauf gilt es jetzt bei den nächsten Schritten aufzu-
bauen; denn unsere besondere Verantwortung besteht
nicht nur darin, Ziele zu formulieren, sondern auch da-
rin, diese zu erreichen.

Es wurde gefragt: Wo bleibt denn die Ehrlichkeit? –
Ich finde, es ist schon eine besondere Form von Transpa-
renz, wenn Ziele dargestellt werden und gleichzeitig ge-
sagt wird, dass es im Moment noch eine Lücke gibt und
wir etwas tun müssen, um sie zu schließen. Genau da-
rüber wird jetzt nicht nur diskutiert, sondern das wird im
Dezember vom Bundeskabinett entschieden. Dann wer-
den wir im Bundestag darüber entscheiden und damit
unseren Beitrag dazu leisten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, der Bundestag entscheidet darüber?)


Das klare Signal ist: Deutschland hat ehrgeizige Ziele
und ergreift ehrgeizige Maßnahmen, um sie umzusetzen.
Wir stehen zur Reform des Emissionshandels, die wir
brauchen, damit der CO2-Ausstoß von Kohlekraftwer-
ken reduziert wird, und wir sind uns sicher, dass die G 7
dabei eine wichtige Rolle übernehmen müssen. Das ha-
ben die Kanzlerin und die Bundesumweltministerin an-
gekündigt. Deutschland und die Bundesregierung wer-
den weiter eine drängende Rolle, eine Vorreiterrolle in
der Klimapolitik spielen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Jung!)


– Herr Krischer, Sie haben gesagt, Sie hätten sich nicht
vorstellen können, dass Sie die Regierung Kohl einmal
als Vorreiter bezeichnen würden. Möglicherweise kom-
men Sie in einigen Jahren auch zu einem milderen Urteil
über diese Bundesregierung. Ich bin mir sicher, wir kön-
nen die Weichen dafür in den nächsten Wochen stellen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umso schlimmer, was Sie jetzt machen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806312800

Als nächster Redner hat der Kollege Frank Schwabe

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1806312900

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und

Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben
beim Thema Klimaschutz eigentlich zwei Probleme. Das
erste Problem ist die Ungleichzeitigkeit von Handeln
und Wirkung. Wenn CO2 in die Atmosphäre gelangt,
dauert es, bis wir sehen, welche Auswirkungen das hat.
Das ist, glaube ich, ein gravierendes Problem. Das
zweite gravierende Problem ist – der Kollege Lenkert
hat ja dargestellt, welche Probleme mittlerweile auch in
Deutschland sichtbar sind –, dass wir und andere in der
Welt leider für den Klimawandel verantwortlich sind,
aber zuerst andere in der Welt die Auswirkungen zu tra-
gen haben. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn das anders
wäre, würde man weltweit anders über Klimaschutz re-
den, und dann wären wir deutlich weiter.

Trotzdem will ich optimistisch sein. Der Weg ist in-
ternational eigentlich durchaus klar. Ich sehe auch gute
Entwicklungen: weg von fossilen Energien, hin zu er-
neuerbaren Energien, hin zur Energieeinsparung. Die
Welt ist zwar zum Teil durchaus indifferent, aber es gibt
auch Fortschritte. Deswegen bin ich auch optimistisch,
dass wir 2015 in Paris ein gutes Abkommen erreichen
werden.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Wahr ist – das ist hier mehrfach betont worden –: Die
Welt schaut beim Ausbau der erneuerbaren Energien auf
Deutschland. Wir waren diejenigen, die aus Deutschland
heraus die Energierevolution – so muss man das, glaube
ich, benennen – weltweit ermöglicht haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren!)


– Ja, natürlich: zunächst einmal „waren“. Wir haben ei-
nen Anstoß gegeben, sodass die Preise weltweit deutlich
gefallen sind. – Man schaut aber auch auf das, was bei
uns „Energiewende“ genannt wird, und darauf, wie wir
das in Deutschland organisieren.

Ich will deutlich machen, dass der Beschluss zu den
Klimazielen für 2030 für Europa ein Kompromiss war.
Wir hätten uns in der Tat mehr gewünscht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der Kanzlerin bin ich nicht so sicher!)


Aber am Ende müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
mit Blick auf eine Einigung der 28 Staaten zurzeit nicht
mehr möglich ist. Das betrifft die drei Ziele, über die wir
reden. Das betrifft aber auch den Sektor des Emissions-
handels. Auch dort ist viel zu wenig passiert. Deswegen
ist es richtig und notwendig, dass das, was wir hier ver-
abredet haben, über alle Fraktionen hinweg eingehalten
wird.

Ich schätze ja vieles an den Grünen, und Sie müssen
uns treiben – das ist auch richtig so –; aber es geht natür-
lich nicht, dass Sie der Ministerin Falsches unterstellen.
Ich habe noch einmal den Redetext der Ministerin durch-
gesehen. Wenn dort steht: „Es besteht kein Zweifel: Das
Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Heraus-
forderung für mich als Bundesumweltministerin“ – ich
zitiere Frau Hendricks; das hat sie so gesagt – „und eines
der wichtigsten Projekte dieser Regierung“, dann ist das
doch, glaube ich, nicht in Zweifel zu ziehen


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und dann sollten Sie das an dieser Stelle auch nicht tun.
Sie sollten sich auch nicht an Herrn Homann orientieren,
der vielleicht eher im Nachklang seines ehemaligen
Wirtschaftsministers bestimmte private Philosophien
vertritt. Ich finde, man kann ihm sagen, dass er das ei-
gentlich nicht tun sollte. Er muss wissen, dass Dinge an-
ders einsortiert werden, wenn er sich in irgendwelchen
Diskussionsrunden dahin gehend äußert. Aber das gilt
ganz gewiss nicht für diese Bundesregierung. Das gilt
auch für uns alle nicht. Das gilt im Übrigen auch nicht
für den Bundeswirtschaftsminister.

Ich habe gerade noch einmal Revue passieren lassen,
wie es eigentlich zu dem Reduktionsziel von 40 Prozent
gekommen ist. Wenn man das einmal historisch einord-
net, war es Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der
in den Jahren 2005 bis 2009 dafür gekämpft hat, dieses
Ziel bei uns in Deutschland festzuschreiben. Insofern
wäre es natürlich völlig absurd, ihm zu unterstellen, dass
er dieses Ziel unterminieren möchte.

(Lachen des Abg. Oliver Krischer)


Ganz im Gegenteil: Er wird in der Tat gemeinsam mit
Barbara Hendricks dafür sorgen, dass dieses Ziel auch
eingehalten werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Obwohl ich es hier schon mehrfach gesagt habe, will
ich es noch einmal betonen: Das große Verdienst von
Barbara Hendricks ist, dass wir uns ehrlich machen in
der Debatte; denn in den letzten Jahren haben wir uns in
die Tasche gelogen. Ich muss leider auch noch einmal
sagen: Insbesondere in den letzten vier Jahren gab es
eher Rückschritte als Fortschritte.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fortschritte sehe ich nicht!)


In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch darüber
zu diskutieren, dass es im Jahr 2016 einen Klimaschutz-
plan gibt, weil wir endlich, wie ich finde, gesetzlich
überprüfbar deutlich machen müssen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesetzlich überprüfbar?)


welche Schritte wir im Klimaschutz gegangen sind und
welche wir noch gehen müssen. Deswegen ist es wich-
tig, dass wir am 3. Dezember 2014 ein solches Klimaak-
tionsprogramm präsentiert bekommen.

Eines bleibt, auch nach dem 3. Dezember: Wir wer-
den hoffentlich ein gutes Programm – ich kenne es auch
noch nicht – für den Bereich der nichtemissionshandels-
pflichtigen Sektoren sehen. Was problematisch bleibt, ist
der Bereich der emissionshandelspflichtigen Sektoren;
gar keine Frage. Wir werden Antworten finden müssen,
was passiert, wenn der Emissionshandel auf europäi-
scher Ebene nicht ausreichend funktioniert. Das hat dann
auch etwas mit Kraftwerksparks in Deutschland zu tun.
Diese Frage werden wir miteinander diskutieren müssen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ansonsten wird das 40-Prozent-Ziel in der Tat nicht zu
erreichen sein. Das ist die Diskussion, die wir in den
nächsten Monaten gemeinsam zu führen haben.


(Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich hätte jetzt gerne zitiert, was Sigmar Gabriel bei
der Klimakonferenz in Bali 2007 gesagt hat. Zeit dafür
habe ich leider nicht mehr. Ich kann das irgendwann ein-
mal nachliefern. Dort hat er nämlich deutlich gemacht,
dass es genau darum geht, dass am Ende die Energiever-
sorgungsunternehmen in Deutschland begreifen, dass
wir weg müssen vom herkömmlichen Kraftwerkspark
hin zu erneuerbaren Energien.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie das 2014 noch einmal sagen, ist es gut!)


Mein Eindruck ist, dass viele Unternehmen auf einem
guten Weg sind. Unternehmen wie Eon und andere lob-





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

byieren mittlerweile für einen höheren CO2-Preis im
Emissionshandel. Wer hätte das vor ein paar Jahren ge-
dacht? Insofern bin ich optimistisch. Wir sollten Ver-
trauen in die Bundesregierung haben und abwarten, was
am 3. Dezember auf den Tisch kommt. Dann werden wir
hier sicherlich wieder zusammenkommen und das disku-
tieren.

Ein herzliches Glückauf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806313000

Als nächster Redner spricht der Kollege Matern von

Marschall.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1806313100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn wir im Dezember nach Peru fahren,
dann werden Deutschland und auch die Staaten der
Europäischen Union deutlich machen: Wir stehen zu un-
seren auf dem Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober
2014 eingegangenen Verpflichtungen, und wir stehen zu
unserer globalen Verantwortung. Wir können klar und
deutlich sagen, wohin die Reise geht. Mit Blick auf die
Konferenz in Paris müssen wir einen klaren und verbind-
lichen Fahrplan vorlegen. Einen Streik können wir uns
in diesem Zusammenhang nicht mehr leisten. Die Bun-
deskanzlerin – das ist gesagt worden – hat diese ambitio-
nierten Ziele auf dem Europäischen Rat durchgesetzt.
Dafür sind wir ihr sehr dankbar; Ministerin Hendricks
hat es ausgeführt, und ich möchte das auch noch einmal
sehr ausdrücklich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass Europa solche ambitionierten Ziele vorträgt,
entspricht auch der besonderen Verantwortung Europas.
Bei einem Blick in die Geschichte Europas müssen wir
nämlich sagen: Die industrialisierten Länder sind maß-
geblich verantwortlich für die Schädigung des Klimas,
die wir heute sehen. Das bedeutet auf der anderen Seite
aber nicht, dass weniger industrialisierte Länder keine
Anstrengungen unternehmen müssen. Im Gegenteil, sie
müssen es sehr wohl. Wir wollen und werden ihnen da-
bei helfen, und zwar unter anderem mit dem Green Cli-
mate Fund, der, wie Sie wissen, bis zum Jahr 2020 mit
100 Milliarden Dollar aufgestockt werden muss. Auch
diese Verpflichtung wollen wir gegenüber den weniger
industrialisierten Ländern eingehen.

Eine Klimapolitik, die erfolgreich sein will, ist aber
eine Klimapolitik – davon bin ich ganz fest überzeugt –,
die nicht anklagen und nicht verurteilen darf, sondern
die praktisch und verbindlich vorangehen muss. Darum
geht es in Lima, und darum geht es dann in Paris.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Frage, wie wir diese ambitionierten Klimaziele
vor Ort erreichen, bezieht sich auf ein riesiges Themen-
feld. Vieles davon ist heute angesprochen worden. Ich
glaube, wir sollten eine Thematik ganz genau in den Fo-
kus nehmen: Forschung und Entwicklung. Wir haben die
deutsche Hightech-Strategie, wir haben nationale Pro-
gramme angehängt, wir haben ein Horizon-2020-Pro-
gramm in Europa. Wir müssen diese Programme verstär-
ken und verstetigen. Es geht im Wesentlichen darum,
dass Unternehmen und Forschung den Weg in eine
marktreife Technologieentwicklung CO2-armer Pro-
dukte gemeinsam gehen. Das ist von ganz außerordentli-
cher Bedeutung.

Frau Staatssekretärin Bär, wir hatten vorgestern
– jetzt kommt ein Punkt, den ich ganz besonders betonen
möchte – eine Veranstaltung in der amerikanischen Bot-
schaft – manche wird das wundern –, bei der wir uns die
dies- und jenseits des Atlantiks befindliche Entwicklung
der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie ange-
schaut haben. Kalifornien – für sich genommen die acht-
größte Volkswirtschaft der Welt – ist dabei, ein Wasser-
stofftankstellennetz aufzubauen, das bis zum Jahr 2021/
2022 fertiggestellt sein soll. Dann können in diesem gro-
ßen amerikanischen Bundesstaat die Menschen CO2-frei
mobil unterwegs sein. Weil wir gerade über die Vorrei-
terrolle diskutieren, will ich schon deutlich sagen, dass
wir uns in Europa und in Deutschland auch aus wirt-
schaftlicher und technologischer Perspektive anstrengen
müssen, unsere technologische Vorreiterrolle zu halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiederzubekommen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben keine Vorreiterrolle mehr!)


Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: In Kalifor-
nien steht das Silicon Valley. Es stellt sich die Frage, was
von dort in Zukunft an technologischer Vorreiterrolle
noch zu erwarten ist. Die Amerikaner sind eben nicht
hinter dem Mond, wie Sie es von den Grünen immer
meinen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behauptet keiner!)


Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass das TTIP, das Sie
so kritisieren, in dieser Hinsicht schädlich ist. Ganz im
Gegenteil, es wird den Wettbewerb auch um diese he-
rausragenden neuen Technologien beflügeln. Dann wer-
den wir sehen, ob Amerika bei dieser modernen CO2-ar-
men Technologie nicht plötzlich vor uns ist. Wir müssen
uns anstrengen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube daher, dass wir auf europäischer Ebene be-
sonders stark in Forschung und Entwicklung investieren
müssen.

Gehen wir also mit Freude, aber auch mit Ehrgeiz und
Kraft an diese Herkulesaufgabe! Glauben wir im Übri-
gen an das Machbare und weniger an die Katastrophe!
Gehen wir nach Peru mit folgender Einstellung: Prima
Klima in Lima.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806313200

Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Nina

Scheer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Nina Scheer (SPD):
Rede ID: ID1806313300

Liebe Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der IPCC-Report verlangt die vollstän-
dige Dekarbonisierung in allen Sektoren bis spätestens
zum Jahr 2100. Daraus folgt zuallererst für uns in
Deutschland, dass wir natürlich nicht das Minderungs-
ziel von 40 Prozent bis 2020 infrage stellen. Ich bin froh,
dass das hier so deutlich klargestellt wurde. Zu den Äu-
ßerungen von Herrn Homann ist alles gesagt worden.
Man sollte sie nicht mit der Bundesregierung in Verbin-
dung bringen. Darüber hinaus – das wurde auch gesagt –
müssen wir uns für die Schlussfolgerungen einsetzen,
die der IPCC-Report nahelegt, um daraus in Paris ent-
sprechende Handlungserfordernisse zu beschließen.

Wenn wir uns die Chronologie der Klimareporte der
letzten Jahre anschauen, so erkennen wir, dass die Re-
porte stets eine eindeutige Aussage enthalten: Ein Nicht-
handeln ist auf jeden Fall viel teurer als ein Handeln, als
eine engagierte Klimapolitik.


(Beifall bei der SPD)


Bereits heute können wir sehen: Die Vollkosten neuer
Wind- und Solaranlagen sind auf dem gleichen Niveau
wie die Vollkosten neuer Steinkohle- und Gaskraft-
werke. Die emissionsarmen Technologien verursachen
somit heute schon keine höheren Kosten mehr als die
fossilen Energieträger, die einen großen Rucksack an ex-
ternen Kosten mit sich schleppen. Insofern ist es jetzt
wichtig, in den Bereichen der Erneuerbare-Energien-
Technologien, der Effizienzsteigerungsmöglichkeiten
und der Wärmeenergiewende endlich auf die Chancen
zu blicken und, wenn wir uns diesen neuen Technolo-
gien widmen, nicht so sehr die damit einhergehenden
Belastungen in den Fokus zu nehmen. Die Erneuerbare-
Energien-Technologien, durch deren Anwendung wir
den Ausbau in den letzten Jahren erfolgreich hinbekom-
men haben – darauf ist hingewiesen worden –, zeigen
uns auf, welche wirtschaftlichen Chancen in ihnen ste-
cken; wir müssen sie einfach nur besser wahrnehmen.

Die im Bericht dargestellten Herausforderungen lie-
gen also darin, endlich die Chancen einer nachhaltigen
Wirtschaftspolitik und einer nachhaltigen Wirtschafts-
weise zu erkennen und uns auf eine zukunftsfeste Wirt-
schafts- und Industriepolitik einzuschwören. Die Energie-
wende ist der Schlüssel zu ebendieser Industriepolitik.
Das ist eine Erkenntnis, die wir aus dem Report zu zie-
hen haben.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat von
Ban Ki-moon, dem UN-Generalsekretär, anbringen. Er
sagte auch in Richtung großer Investoren, dass sie mehr
Geld in erneuerbare Energien als in fossile Brennstoffe
stecken sollen. Damit sagt er nicht nur, dass wir die er-
neuerbaren Energien voranbringen sollen, sondern auch,
dass wir etwas abbauen sollen, dass wir aussteigen sol-
len.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


Es geht um die Debatte über das sogenannte Devest-
ment. Das hört sich ein bisschen rückwärtsgewandt an;
es ist aber vorwärtsgewandt. Das genau ist der Anknüp-
fungspunkt. Ban Ki-moon weist richtigerweise darauf
hin, dass es nicht nur um den Ausbau erneuerbarer Ener-
gien geht, sondern auch um einen Strukturwandel, um
den Ausstieg aus veralteten Energiegewinnungsformen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] und Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dieser Herausforderung müssen wir uns natürlich
auch in Deutschland stellen, gerade vor dem Hinter-
grund der immensen Überkapazitäten am Strommarkt.
Ich finde es richtig, dass unsere Umweltministerin genau
dieses Themenspektrum benannt hat. Angesichts der
Überkapazitäten bedarf es eines klimaschutzgerechten
Abbaus, und zwar nur eines solchen. Dafür müssen wir
aber einen Perspektivwechsel vornehmen. Jetzt werde
ich vielleicht etwas philosophisch. Aber wenn es um ei-
nen Perspektivwechsel geht, müssen wir uns vergegen-
wärtigen, dass eine Belohnung von Nachhaltigkeitspoli-
tiken in vielen Bereichen nicht angezeigt ist. Wenn wir
schauen, wie Ratingagenturen aufgestellt sind, wie das
Handeln nicht nur von Investoren, sondern auch von
Staaten bewertet wird, dann sehen wir, dass die Bewer-
tungen häufig nicht an Zukunftsfestigkeit und Nachhal-
tigkeit ausgerichtet sind. Vielleicht wäre es eine Idee, die
Entlastungseffekte, die Investitionen in Zukunftstechno-
logien mit sich bringen, sowie die Langfristigkeit und
Zukunftsfestigkeit dieser Investitionen in der Bewertung
des Staatshandelns abzubilden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles super! Hat nur nichts mit der Politik der Bundesregierung zu tun!)


Ich sehe, ich bin schon am Ende meiner Redezeit. In-
sofern möchte ich an dieser Stelle nur einen letzten As-
pekt nennen – das wäre eine weitere Forderung an uns
selbst –: Bei internationalen Verhandlungen sollten wir
im Blick behalten, dass im Hinblick auf das internatio-
nale Verständnis von Klimaschutzpolitik Korrekturbe-
darf besteht. Ich finde es nicht gut, dass die Atomenergie
dort nach wie vor – das ist ja nicht erst seit heute so – als
eine klimafreundliche Technologie angesehen wird. Das
ist eine Hausaufgabe, die Deutschland hat; denn wir sind
mit diesem Gedanken schon weit fortgeschritten. Wir
müssen das auch international auf die Beine stellen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806313400

Als letzter Redner in der Debatte spricht der Kollege

Carsten Müller.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Carsten Müller (CDU):
Rede ID: ID1806313500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde ist
eine abermalige gute Möglichkeit, die Haltung der Bun-
desregierung zu einem Thema zu unterstreichen, das sie
sehr ernst nimmt, nämlich dem Klimaschutz. Ich will da-
für gerne einige wenige Belege anführen: Wir haben uns
verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr
2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Dazu stehen wir
ohne Wenn und Aber. Mit dem „Aktionsplan Klima-
schutz 2020“, an dem intensiv gearbeitet wird und der in
allernächster Zeit sehr scharfe Konturen annehmen wird,
leiten wir die entscheidenden Schritte ein. Wir denken
auch darüber hinaus; denn das große Ziel, das über allem
steht, ist eine Absenkung der klimaschädlichen Emissio-
nen bis zum Jahr 2050 um rund 95 Prozent.

In Ihrem recht maßvoll gehaltenen Beitrag, Herr Kol-
lege Lenkert, haben Sie an sich die zentrale Frage der
heutigen Debatte gestellt, nämlich: Warum macht die
unionsgeführte Bundesregierung in der Klimaschutz-
politik so weiter wie bisher? – Sie haben leider keine
Antwort gegeben. Ich will sie Ihnen gern geben: weil wir
uns grundsätzlich auf dem richtigen Weg befinden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb verfehlen wir die Ziele, oder wie?)


– Herr Krischer, zu Ihnen komme ich gleich noch. –
Deswegen ist es gut, dass Deutschland entgegen Ihren
Behauptungen nach wie vor eine Vorreiterrolle in Eu-
ropa spielt, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach wie
vor Klimakanzlerin ist


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klimakanzlerin a. D.!)


und weltweit mit ihren Äußerungen intensiv beobachtet
wird.

Meine Damen und Herren, das Ziel steht fest: Bis
2030 sollen die CO2-Emissionen um 40 Prozent redu-
ziert werden.


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis 2020! Nicht bis 2030!)


Ich will mit Blick auf die europäische Ebene etwas Was-
ser in den Wein geben und einräumen, dass ich mir bei
der Frage des Anteils der erneuerbaren Energien durch-
aus ambitioniertere Ziele bei der Festlegung hätte wün-
schen können. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für
die Energieeffizienz.

Herr Krischer, jetzt sind Sie dran.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!)


Sie haben mit der Kollegin Baerbock in dieser Diskus-
sion mächtig auf den Eimer gehauen, und zwar so mäch-
tig, dass ich noch einmal nachschauen musste, aus wel-
chem Heimatbundesland Sie eigentlich stammen. Ich
habe nachgeschaut: Sie kommen aus Nordrhein-Westfa-
len. Sie waren sogar eine Zeit lang in der Landtagsfrak-
tion tätig; bei der einen oder anderen Gelegenheit ist das
immer einmal angesprochen worden. Das Land Nord-
rhein-Westfalen hat nun ein Klimaschutzgesetz be-
schlossen. Ich weiß nicht, ob Sie an den ersten Vorläu-
fern beteiligt waren. Aber ehrlich gesagt ist das eine
herbe Enttäuschung – leider haben Sie es aus unserer
Sicht völlig unterlassen, Frau Baerbock, sich dazu einzu-
lassen –: Leider steht in diesem Klimaschutzgesetz, das
von einer rot-grünen Landesregierung auf den Weg ge-
bracht und verabschiedet wurde und das von einem
grünen ressortzuständigen Minister ganz wesentlich in
die Wege geleitet wurde, ein CO2-Minderungsziel von
25 Prozent.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste Klimaschutzgesetz in Deutschland! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Herr Krischer, ehrlich gesagt: Nutzen Sie Ihre künfti-
gen Redezeiten, um diese Peinlichkeiten zu erklären!


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch albern! Das ist völlig albern, was Sie hier machen!)


Ich mache etwas anderes, weil die Zeit voranschreitet.
Ich erspare Ihnen die Peinlichkeit, die von der Landesre-
gierung im Internet eingestellte Sprachregelung, wie
man am besten antworten soll, wenn man diese kritische
Frage gestellt bekommt, in der Langversion vorzulesen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Ich gebe Ihnen die Antwort, die richtig ist: weil es die
rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nicht
kann und – das befürchte ich – weil sie das nicht will.


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen Sie mal ein Bundesland mit einer schwarzen Regierung! – Zuruf von der SPD: Vorsicht! Vorsicht!)


Am besten verwenden Sie, wie gesagt, beim nächsten
Mal etwas Redezeit darauf.

Meine Damen und Herren, Klimaschutzpolitik ist
sehr konkret. Dazu müssen alle Bereiche ihren Beitrag
leisten. Ich will im Wesentlichen einen Beitrag heraus-
greifen, damit es auch konkret wird, nämlich den Be-
reich des Verkehrs. Zwischen 1999 und 2012 haben wir
in der Bundesrepublik – das untermauert die Vorreiter-
rolle – die CO2-Emissionen um 31 Millionen Tonnen ge-
senkt. Wir haben das mit einem ganzen Bündel an Maß-
nahmen erreicht, die auch weitergeführt werden sollen,
beispielsweise zum Thema „Elektromobilität“. Da sind
wir mit der Bundesregierung auf einem klugen Weg. Das
Elektromobilitätsgesetz ist mit einer Vielzahl von Anrei-
zen auf den Weg gebracht worden und wird intensiv dis-
kutiert. Ich finde das richtig. Ich finde es auch richtig,
dass wir zu intelligenten Verkehrsverlagerungen gekom-
men sind.

Angesichts der aktuellen Situation muss ich aller-
dings anmerken, dass bei diesem Ziel, das so wichtig ist,
der aktuelle Streik der Lokführer in der Bundesrepublik
durchaus kontraproduktiv ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bitte Sie!)






Carsten Müller (Braunschweig)



(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein Ansatz, wie man Klimapolitik mit kleinen
und insofern auch unrichtigen Maßnahmen unterminie-
ren kann.

Ich will allerdings gern noch einige Hinweise geben,
was aus meiner und aus unserer Sicht in Angriff genom-
men werden sollte, beispielsweise ein stärkeres Setzen
auf alternative Antriebe und alternative Treibstoffe. Die
steuerliche Begünstigung von Autos mit Gasantrieb
muss weiterhin gewährleistet sein, und auch Rußparti-
kelfilter – das habe ich mehrfach gesagt, auch im Koali-
tionsvertrag steht das eindeutig – sollten weiterhin steu-
erlich gefördert werden. Frau Hendricks, hier müssten
Sie bitte noch nachbessern und auch schneller liefern.

Gestatten Sie mir zum Schluss, damit es konkret wird,
eine Bemerkung zu einem Bereich, der mir sehr am Her-
zen liegt. Klimaschutz wird nur dann für alle besonders
gut nachvollziehbar und umsetzbar, wenn wir uns ge-
meinsam um die steuerliche Förderung von energeti-
scher Gebäudesanierung kümmern. Ich hoffe, dass wir
hier in diesem Hause sehr schnell einen breiten Konsens
herstellen können. Wenn wir hier in diesem Hause Kon-
sens erreichen, dann werden wir auch die Bundesregie-
rung dazu bewegen, dieses wichtige Thema künftig
schneller und entschlossener anzugehen, als sie es bisher
getan hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806313600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich

die Aktuelle Stunde.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/
EU und weiterer Vorschriften

Drucksachen 18/2581, 18/3004

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/3077

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/3083

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Änderungsantrag und ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat der Staatssekretär Dr. Günter Krings das
Wort.
D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1806313700


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der heutigen Sitzung liegt dem Deutschen
Bundestag der Entwurf eines Gesetzes der Bundesregie-
rung zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und
weiterer Vorschriften zur abschließenden Beratung vor.
Grundlage dieses Gesetzentwurfs – das wissen wir – ist
der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses der
Bundesregierung, der sich mit „Rechtsfragen und He-
rausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen
Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitglied-
staaten“ – so der ausführliche Titel – befasst hat.

Der Ausschuss war notwendig und richtig, weil es
zwei bewussten oder auch unbewussten Fehlbewertun-
gen der Armutszuwanderung innerhalb der EU entge-
genzutreten galt. Es war und ist nicht klug, diese Zuwan-
derungsprobleme innerhalb der EU zu überschätzen.
Aber es war und ist mindestens ebenso gefährlich für die
Akzeptanz der europäischen Integration, wenn Politiker
die damit zusammenhängenden Probleme ignorieren
oder die Belastungen für Bürger und Städte gar tabuisie-
ren.

Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung
zentrale Vorschläge des Ausschusses zur Unterbindung
von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügig-
keitsrecht sowie zur Entlastung betroffener Kommunen
konsequent um. Verschiedene Kommunen und kommu-
nale Spitzenverbände haben in dringlichen Appellen
wiederholt auf die Belastungen hingewiesen, die mit ei-
ner steigenden Zuwanderung aus der EU verbunden
sind.

Die Berichte der Kommunen zeigen aber auch: Es
gab und es gibt hier kein flächendeckendes Problem.
Eine Reihe von Kommunen, in erster Linie einige Groß-
städte, sieht sich aber zu Recht durch die Folgen eines
stetig wachsenden Zuzugs aus anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union belastet. Die Bundesregierung
hat hier einen Handlungsbedarf erkannt. Die Bundesre-
gierung hat mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz-
entwurf einen Handlungsvorschlag gemacht.

Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten bringt für
unser Land und auch für die zuziehenden Menschen in
erster Linie viele Vorzüge mit sich. Der weit überwie-
gende Teil der Zuwanderer kommt zu uns, um eine Ar-
beit oder eine Ausbildung aufzunehmen. Ich will es
deshalb noch einmal sehr deutlich betonen: Die Freizü-
gigkeit in Europa ist eine der bedeutendsten Errungen-
schaften des europäischen Einigungsprozesses und einer
der sichtbarsten Vorzüge Europas für seine Bürger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU hat sich zum Schluss auch noch zum Klatschen entschlossen!)


Die europäische Freizügigkeit hat aber klare rechtli-
che Voraussetzungen. Sie gilt insbesondere für die Auf-
nahme einer Ausbildung oder einer Arbeit oder zu einer





Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

konkreten Suche nach einem Arbeitsplatz. Es gibt kei-
nen europarechtlichen Grundsatz, wonach zum Beispiel
nur die Mehrheit der Zuwanderer, die aus einem Mit-
gliedstaat nach Deutschland kommt, die rechtlichen Vo-
raussetzungen der Freizügigkeit erfüllen muss. Die Vo-
raussetzung für dieses Recht muss jeder Einzelne
erfüllen. Gerade weil die Europäische Union mehr ist als
ein Staatenbund, gerade weil sie eine Union der Bürger
ist, müssen die Voraussetzungen der Freizügigkeit bei je-
dem einzelnen Zuwanderer, in seiner Person, vorliegen.
Darauf bestehen wir.

Wir dürfen nicht so tun, als ob mit einem steigenden
Zuzug von Menschen aus anderen Mitgliedstaaten vor
Ort, in den Städten und Gemeinden, nicht auch Probleme
verbunden sein könnten. Betroffene Städte und Gemein-
den berichten von einer steigenden Belastung ihrer Sys-
teme der kommunalen Daseinsvorsorge und von einer
Verschärfung sozialer Probleme. Dabei geht es etwa um
den Bereich der Schule, um die Versorgung mit Wohn-
raum, um die unberechtigte Inanspruchnahme sozialer
Leistungen oder um die Gesundheitsversorgung.

Aktuell sehen sich Städte und Gemeinden zusätzlich
belastet, weil sie eine stetig steigende Zahl von Flücht-
lingen und Asylbewerbern aufnehmen sollen; darüber
haben wir heute Mittag in diesem Hause debattiert. Auch
diesbezüglich will der Bund im Rahmen seiner Möglich-
keiten dazu beitragen, rasch Lösungen zu finden. Das
letztgenannte Thema ist zwar nicht das Thema dieser
Debatte, man muss aber sehen, dass diese beiden zusätz-
lichen Aufgaben viele Kommunen vor große Herausfor-
derungen stellen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir
zwei zentrale Ziele:

Erstens. Wir wollen die betroffenen Kommunen sub-
stanziell entlasten.

Zweitens. Wir wollen die Akzeptanz in unserer Ge-
sellschaft für die Freizügigkeit in Europa nachhaltig si-
chern. Gerade deshalb ist es wichtig, gegen Missbrauch
im Zusammenhang mit diesem Recht gezielt vorzuge-
hen.

Lassen Sie mich kurz einen Blick auf die Hilfen für
unsere Kommunen werfen: Wir stocken die Bundesbe-
teiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung
nach dem Sozialgesetzbuch II um 25 Millionen Euro
auf. Das Geld kann, so wir das hier beschließen, noch in
diesem Jahr an die Länder fließen, in denen die beson-
ders involvierten Städte und Gemeinden liegen, damit es
dann möglichst umgehend – hoffentlich – an die betrof-
fenen Kommunen zielscharf weitergegeben werden
kann. Künftig sollen durch eine Änderung im Sozialge-
setzbuch V die Impfkosten für Kinder und Jugendliche
mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus übernom-
men werden.

Zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammen-
hang mit dem Freizügigkeitsrecht sieht der vorliegende
Gesetzentwurf eine Reihe von Maßnahmen vor: Im Frei-
zügigkeitsrecht sollen befristete Wiedereinreisesperren
im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug ermöglicht
werden. Das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche soll in
Übereinstimmung mit dem Europarecht befristet und die
Erschleichung von Aufenthaltsbescheinigungen durch
falsche Angaben konsequent unter Strafe gestellt wer-
den. Beim Kindergeld wollen wir wirksam Doppelzah-
lungen unterbinden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das jetzt mit EU-Freizügigkeits-Berechtigung zu tun?)


Künftig wird die Kindergeldzahlung von der eindeutigen
Identifikation von Antragstellern und Kindern durch An-
gabe der steuerlichen Identifikationsnummer abhängig
sein. Ferner wollen wir entschieden gegen Scheinselbst-
ständigkeit und Schwarzarbeit vorgehen. Dazu sieht der
vorliegende Gesetzentwurf eine Regelung vor, mit der
die Zusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzar-
beit intensiviert wird.

Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung können je-
doch in keinem Fall allein zu einer Lösung der anstehen-
den Probleme beitragen. Wir wollen den betroffenen
Menschen, die sich mit Recht hier aufhalten, die Integra-
tion erleichtern. Wir werden Integrationskurse in beson-
ders betroffenen Kommunen stärker auf den Bedarf von
zuziehenden EU-Bürgern zuschneiden und gezielt spezi-
fische Hemmnisse für eine Teilnahme an Integrationsan-
geboten abbauen. Damit unterstützen wir nicht nur zu-
ziehende EU-Bürger, sondern wir leisten hiermit auch
einen Beitrag zur Entlastung der Kommunen bei der In-
tegration vor Ort.

Meine Damen und Herren, die Zuwanderung nach
Deutschland ist nicht statisch, sondern ein Prozess, der
in seiner Form, seinem Ablauf und seinen Gründen ei-
nem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Damit
verändern sich auch die sich daraus ergebenden politi-
schen Herausforderungen. Der Gesetzentwurf, den wir
heute beraten, kann auch aus diesem Grund keine Ant-
wort auf alle Probleme im Zusammenhang mit dem Zu-
zug aus anderen EU-Staaten geben. Er ist aber ein wich-
tiger Schritt zur Entlastung der Kommunen und zur
Unterbindung von Missbrauch. Damit wollen wir zu-
gleich die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft
insbesondere für Menschen erhalten, die zu uns kommen
und unserer Hilfe in besonderer Weise bedürfen.

Diese Koalition bleibt dabei: Wir treten für Freizügig-
keit, aber auch gegen den Missbrauch von Rechten ein.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Missbrauch wird ausdrücklich nicht im Staatssekretärsbericht bestätigt!)


Genau das schaffen wir hiermit. Außerdem ist dies ein
großer Beitrag zur Entlastung der Kommunen. Wir zei-
gen, dass diese Koalition auch die kommunalen Pro-
bleme ernst nimmt und sie nicht unter den Teppich kehrt.
Diese Koalition sorgt sich um die Städte und Kommunen
in unserem Land und arbeitet daran mit, dass die Pro-
bleme, die dort entstehen, gelöst werden. Aus diesem
Grunde bitte ich Sie ganz herzlich um Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806313800

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806313900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man

muss hier deutlich sagen: Vor einem Jahr wurde mit dem
Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ insbesondere von der
CSU eine doch recht populistische Debatte befeuert, die
vor allen Dingen darauf aus war, Menschen aus Bulga-
rien und Rumänien und insbesondere Roma, die hierher
zuwandern, auszugrenzen und zu treffen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! Es geht um den sozialen Missbrauch!)


Bis heute hat es keinen einzigen Beleg gegeben, dass
es diesen Missbrauch ernsthaft gibt. Natürlich gibt es
Einzelfälle.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha! Die Stadt Duisburg schön also, ja?)


Aber dass über 400 000 Menschen aus Bulgarien und
Rumänien eingewandert sind, hier arbeiten, Steuern zah-
len, in die Sozialsysteme einzahlen und die deutsche Ge-
sellschaft davon im Grunde genommen auch profitiert,
hört man hier nie. Es wird immer auf die Minderheit ab-
gestellt, von der der eine oder andere im Hinblick auf
den Sozialhilfebedarf vielleicht einmal falsch vorgegan-
gen ist. Ich will hier ganz deutlich sagen: Die Linke ist
dafür, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger ihre sozialen
Rechte wahrnehmen können und vor allen Dingen der
Bund Unterstützung leisten muss, wenn es in den Kom-
munen der Hilfe bedarf, insbesondere was Ausbildung
und Fortbildung angeht.

Meine Damen und Herren, die sozialen Rechte der
Unionsbürgerinnen und -bürger werden von dieser Bun-
desregierung unter Vorbehalt gestellt. Laut Gesetzent-
wurf soll sein Aufenthaltsrecht verlieren, wer nach sechs
Monaten noch keine Arbeit gefunden hat. Diese Rege-
lung ist pauschal und sehr restriktiv. Mir soll einmal je-
mand zeigen, wie das gehen soll, wenn man in einem an-
deren EU-Staat völlig neu anfängt.

Damit nicht genug: In Zukunft sollen auch Kinder-
geldstellen, Jobcenter und Krankenkassen prüfen, ob
Unionsbürger und -bürgerinnen möglicherweise länger
als ein halbes Jahr in Deutschland verbleiben können,
weil sie die Voraussetzungen erfüllen müssen. In der
Sachverständigenanhörung, die wir im Innenausschuss
durchgeführt haben, haben wir einige Beispiele gehört,
die gezeigt haben, wie absurd die Folgen sein können.

Ein Beispiel: Eine EU-Bürgerin aus Dänemark, die
mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Deutschland ge-
kommen ist, wird von ihrem Mann verlassen. Sie hat die
Kinder inzwischen aber gut integriert; sie gehen in den
Kindergarten, sie haben Freunde, sie sprechen die deut-
sche Sprache. Deshalb möchte die Frau gerne hierblei-
ben. Aber wenn sie nicht schnell genug Arbeit findet,
kann ihr Folgendes passieren: Die Kindergeldstelle lehnt
ihren Kindergeldantrag ab, die Krankenkasse verweigert
den Versicherungsschutz, das Jobcenter lehnt den Antrag
auf Hartz IV und Qualifikationsmaßnahmen ab. Am
Ende kommt die Ausländerbehörde aber zu einem ganz
anderen Ergebnis und bestätigt ihr Aufenthaltsrecht. Die
Familie darf bleiben, verliert aber ihre sozialen Rechte.
Wie perfide ist denn das? Was ist denn das für ein Büro-
kratiekram?


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, Sie wollen wieder Einreisesperren einführen, wie
wir eben schon gehört haben, beispielsweise dann, wenn
ein EU-Bürger die Behörden getäuscht hat.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh, wie furchtbar! Das ist ja unglaublich!)


Doch den Unionsbürgerrechten zufolge sind Einreise-
sperren nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung erlaubt. Der Gesetzentwurf geht also weit über
das Erlaubte hinaus und setzt eine Täuschung der Behör-
den mit einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit
gleich; auch das ist doch völlig absurd. In Sonntagsreden
betonen wir hier immer wieder, wie wichtig die Freizü-
gigkeit der EU ist; das haben wir eben auch wieder ge-
hört. Aber hier schaffen Sie Regelungen, die dieses
Recht aushöhlen. Das nenne ich eindeutig Heuchelei.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch kurz auf den vermeintlichen sozialen
Missbrauch eingehen. Ich habe es eben schon einmal ge-
sagt: Im vergangenen Jahr gab es 91 Fälle, in denen der
Verdacht bestand, dass Sozialhilfemissbrauch bzw. -be-
trug begangen wurde. Wie gesagt, dem steht gegenüber,
dass über 400 000 Menschen hier arbeiten.

Man fragt sich also wirklich: Warum dieser Auf-
wand? Warum diese Einschränkung bei einem ganz
wichtigen Recht der EU, nämlich bei der Freizügigkeit?

Dazu hat zu der Anhörung eine zuständige Bezirks-
stadträtin aus Berlin-Neukölln in ihrer Stellungnahme
geschrieben, dass europäische Unionsbürger lediglich
ihr Recht auf Freizügigkeit nutzten und die damit ver-
bundenen Sozialleistungen in Anspruch nähmen. Dabei
könne nicht automatisch von einem Missbrauch oder
Sozialleistungsbetrug gesprochen werden, sondern in
vielen Fällen lediglich von einer Wahrnehmung von
Rechten.

Man kann es auch anders ausdrücken: Sie stellen mit
diesem Gesetz und Ihrem weiteren Vorhaben das Frei-
zügigkeitsrecht infrage, weil es vereinzelte Fälle von
Missbrauch geben mag. Das nenne ich, mit Kanonen auf
Spatzen zu schießen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Linke nimmt den
Grundgedanken der Europäischen Union ernst. Wir sind
dafür, dass alle Unionsbürger und -bürgerinnen die
gleichen Rechte haben. So sollte man es auch weiter





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

praktizieren. Das Gesetz ist völlig überflüssig und reine
Schikane.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806314000

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Castellucci

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Lars Castellucci (SPD):
Rede ID: ID1806314100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst einmal zwei Feststellungen: Deutschland
braucht Zuwanderung, und Deutschland profitiert von
Zuwanderung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland braucht Zuwanderung, weil wir in eini-
gen Jahren, in einigen Jahrzehnten auch noch Leute
haben müssen, die die Steuern zahlen, die wir für den
Erhalt unserer Infrastruktur brauchen, weil wir Leute
brauchen, die in die Sozialversicherungssysteme einzah-
len, damit unter anderem die Renten meiner Generation
auch noch finanziert sind, damit die Angehörigen meiner
Generation und der vielen Generationen, die hoffentlich
noch nachkommen, gepflegt werden können, und wir
brauchen Leute für andere Bereiche, in denen Fachkräf-
temangel herrscht.

Außerdem profitieren wir von Zuwanderung. So ist es
im Bericht des Staatssekretärs eindeutig festgehalten.
Das gilt insbesondere – darum ging es ja – für die Men-
schen, die aus Europa zu uns kommen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragt sich, was Sie bei dieser Begründung mit dem Gesetzenwurf wollen!)


Gleichzeitig – das ist ja kein Wunder – ist Zuwande-
rung bzw. das Zusammenleben insgesamt immer mit
Problemen behaftet. Das will ja niemand in Abrede
stellen.

Wo stellen sich diese Probleme? Sie stellen sich bei
den Kommunen; denn da kommen die Menschen an, und
da brauchen sie im Zweifel Wohnraum. Ferner müssen
die Kinder in die Schule gehen; denn für sie gilt die
Schulpflicht. Außerdem stellt sich die Frage von Arbeit.
Da stellt sich die Frage, was passiert, wenn jemand
krank wird, usw.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das sind die Probleme, die aber nicht angegangen werden!)


Deswegen ist es gut – und das ist auch für uns der
zentrale Inhalt dieses Gesetzesvorhabens –, dass wir die
Kommunen entlasten und mit 25 Millionen Euro für
Kosten der Unterkunft unterstützen

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie glauben nicht, dass das reicht, oder? Nicht ernsthaft!)


und dass Impfkosten für Kinder von EU-Bürgerinnen
und -Bürgern übernommen werden.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist das Einzige!)


Zuwanderung ist nicht nur selbst gut, sondern man
muss sie auch gut machen. Was heißt steuern und gestal-
ten?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiedereinreisesperre!)


Man könnte in Abwandlung eines alten Spruches sagen:
Wer morgen sicher leben will, der muss heute Zuwande-
rung nicht nur zulassen, sondern er muss sie steuern und
gestalten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Rechtsanspruch auf Integrationskurse?)


Wer nicht immer nur in kurzfristigen Zeiträumen
denkt, der weiß, dass wir in den vergangenen Jahren
– nehmen wir einfach das abgelaufene Jahrzehnt – nicht
nur Jahre mit steigenden Zuwanderungszahlen hatten,
sondern sogar Minuszahlen. Wir sind also weit entfernt
von der Zuwanderung, die wir brauchen für den Infra-
strukturerhalt, für die Sozialversicherungsbeiträge und
für Steuern in der Zukunft. Wir machen die Zuwande-
rung nicht gut genug, damit sich diese Versprechen in
Steuern, in Sozialversicherungsbeiträgen und in Integra-
tion einlösen können.

Wir haben hier wirklich noch eine große Gemein-
schaftsaufgabe vor uns. Es gibt eine Fülle von legalen
Zugangswegen. Diese Fülle von legalen Zugangswegen
ergibt aber noch kein Gesamtkonzept. Daran müssen wir
weiter arbeiten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat wenig mit EU zu tun!)


Jetzt zur EU-Freizügigkeit. Das ist eine große Errun-
genschaft. Das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich
finde, das ist fantastisch. Für mich – dabei denke ich an
Sonntag – wächst da ein Stück weit zusammen, was in
Europa zusammengehört. Ich habe das Fernziel, dass wir
irgendwann einmal eine vollständige Freizügigkeit in
Europa haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu leisten Sie aber keinen Beitrag!)


Ich weiß nicht, ob ich das jemals erleben werde.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Regierung so weitermacht, sicher nicht!)


Aber vielleicht kann ich ein Stück weit dafür arbeiten.

In jedem Fall wird es eine Zeit mit einem Übergang
geben, und es ist nicht richtig, wenn wir Übergänge dif-





Dr. Lars Castellucci


(A) (C)



(D)(B)

famieren, die wir doch brauchen, weil die Zuwanderung
auch gestaltet und geregelt werden muss. Zu einer Rege-
lung können, wie es hier vorgesehen ist, auch Elemente
von Befristung oder Wiedereinreisesperren gehören. Bei
Letzteren geht es um Einzelfälle, um schwerwiegende
Einzelfälle. Wir haben zugesagt, dass wir in zwei Jahren
ganz sachlich und nüchtern analysieren werden, ob da
weiterer Steuerungsbedarf besteht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur konnten Sie die Einzelfälle im Ausschuss auf Nachfrage nicht beschreiben!)


Ich möchte gerne etwas aufgreifen, was häufig ge-
nannt wird: dass wir die Ängste der Menschen ernst neh-
men sollen. Das finde ich richtig.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie sollten sie nicht schüren!)


Gleichzeitig muss man fragen: Was heißt es denn, die
Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Nehmen wir
einmal an, jemand hat Angst vorm schwarzen Mann –
bitte nicht politisch verstehen!


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie meine Ängste bitte ernst!)


Dann nehme ich das vielleicht erst einmal ernst; aber
man kann ja nicht regieren, indem man einen schwarzen
Mann,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kann auch eine schwarze Frau sein!)


den es gar nicht gibt, ausweist oder mit einer Wiederein-
reisesperre belegt, sondern müsste an die Wurzeln der
Ängste herangehen. Die Wurzeln von Ängsten stehen
aus meiner Sicht gar nicht unbedingt eng mit der Frage
der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern
in Zusammenhang, sondern haben etwas damit zu tun,
dass die Menschen selbst keinen sicheren Stand haben.
Es ist die Frage, ob sie mithalten können in einer Gesell-
schaft, die so extrem auf Konkurrenz, auf Leistungs-
druck aufbaut, wie wir das in den letzten Jahren zugelas-
sen haben. Wir müssen also die Menschen ernst nehmen
in ihren Ängsten; aber wir dürfen die Ängste nicht zum
Maßstab unserer Politik machen, sondern müssen an den
Wurzeln ansetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt nicht nur Menschen mit Ängsten, es gibt auch
die andere Seite: Fast die Hälfte der Menschen sagt, wir
sollten sogar mehr tun, wenn es um Flüchtlinge, bei-
spielsweise aus dem Irak oder aus Syrien, geht. Ich will,
dass wir hier als Politikerinnen und Politiker Unterstüt-
zer und Ermöglicher sind für alle die, die sich für dieses
Miteinander in Deutschland einsetzen. Darüber, wie das
gelingen kann, würde sich eine Debatte wahrlich lohnen.

Anfang der Woche ist der Deutsche Dialogpreis ver-
liehen worden. Das war eine ganz wunderbare Veranstal-
tung, bei der unter anderem Dr. Navid Kermani ausge-
zeichnet worden ist, der im Mai dieses Jahres hier eine
beeindruckende Rede gehalten hat. Das sind Menschen,
die sich für interreligiösen Dialog, für interkulturellen
Dialog einsetzen, Menschen, die sich anderen, die fremd
sind, nähern und dadurch sich selbst ein Stück weit bes-
ser kennenlernen, Menschen, die in vielen Projekten für
ein gutes Miteinander arbeiten. Mein Wunsch ist, dass
wir in unserem Reden und unserem Tun uns diese Men-
schen, diese Brückenbauerinnen und Brückenbauer, zum
Vorbild nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich schließe mit einem der Preisträger, dem Rabbiner
Ben-Chorin. Er hat an dem Abend gesagt:

Mauern, die wir nicht sehen, sind gefährlicher als
die, die wir sehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Brett vor dem Kopf der Koalition!)


Mit Blick auf die morgige Feierstunde will ich sagen:
Lassen Sie uns weiter gemeinsam daran arbeiten, Mau-
ern abzutragen: um Europa, in Europa und in unseren
Köpfen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie bauen Mauern! Sie bauen Mauern!)


So tragen wir die Fackel der friedlichen Revolution wei-
ter.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806314200

Als nächster Redner hat der Kollege Volker Beck das

Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806314300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Castelluci, Sie haben zu vielem gesprochen, aber nicht
zu dem Gesetzentwurf, um den es heute geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Hat mich das Ziel verlassen!)


Ich kann das in gewisser Weise verstehen: Es war Ihnen
schon im Ausschuss anzumerken, dass Ihnen ziemlich
unwohl ist bei diesem Gesetzesvorhaben.

Ich bin mit Ihnen von der Koalition einig: Wo Sozial-
betrug stattfindet, müssen wir ihn bekämpfen. Deshalb
stimme ich der Regelung, als Voraussetzung für das Kin-
dergeld die Steueridentifikationsnummer zu verlangen,
auch vollkommen zu. Niemand soll für seine Kinder
doppelt Kindergeld beziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Das ist richtig und unterstützenswert, hat mit der EU-
Freizügigkeit aber überhaupt nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es waren 2 400 deutsche Beamte, die doppelt Kinder-
geld bezogen haben. Ihr Staatssekretärsbericht weist
nicht einen einzigen doppelten Kindergeldbezug von
Bulgaren oder Rumänen nach.

Sie haben von Ängsten gesprochen. Schüren Sie
keine Ängste! Erfinden Sie keine Ängste in der Bevölke-
rung! Reden Sie den Menschen nicht ein, es gäbe bei
Bulgaren und Rumänen Sozialbetrug, den es in Wirk-
lichkeit bei den deutschen Beamten gegeben hat, wie der
Bundesrechnungshof festgestellt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Auch sehr pauschal!)


So betreiben Sie nämlich gemeinsam mit Ihrer Kampa-
gne „Wer betrügt, fliegt“ das Geschäft der AfD und nicht
das Geschäft eines demokratischen, friedlichen und
rechtsstaatlichen Europas.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Auch die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die
bessere Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die
Impfaktionen für Kinder aus Europa – ich finde, man
könnte auch die Kinder aus Staaten der EWR impfen,
wenn der Krankenversicherungsstatus nicht geklärt ist –,
all das unterschreiben wir. Die Entlastung der Kommu-
nen durch die Übernahme von 25 Millionen ist nicht ge-
nug, aber besser als nichts. Darüber gibt es keinen Streit.

Aber was Sie dann bei der EU-Freizügigkeit machen,
wird durch keine Tatsache in Ihrem Staatssekretärs-
bericht gedeckt. Das machen Sie nur, um der CSU sagen
zu können: Für eure Kampagne gab es tatsächlich einen
Grund. Es gab dafür keinen Grund; das haben Sie selber
aus dem Staatssekretärsbericht richtig zitiert. Es ist in-
fam, jetzt die EU-Freizügigkeit einzuschränken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin da näher bei der Kanzlerin als bei der Koali-
tion. Die Mitglieder dieser Koalition und die Kanzlerin
sind heute Gott sei Dank kaum da.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Uli Grötsch [SPD]: Sehen Sie uns nicht?)


Die Kanzlerin hat gesagt:

Deutschland wird an dem Grundprinzip der Bewe-
gungsfreiheit in der EU nicht rütteln.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir auch nicht!)


Die Abgeordneten der Koalition, die heute da sind, wer-
den nachher, wenn sie dem Gesetzentwurf zustimmen,
sehr wohl an der Freizügigkeit rütteln.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein! Wir tun etwas gegen Sozialmissbrauch!)


Sie regeln Wiedereinreisesperren für EU-Freizügigkeits-
Berechtigte über das vorhandene Maß hinaus, das wir
heute schon haben – für Menschen, die eine Gefahr für
die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in
Deutschland sind, haben wir diese Regelung schon –, für
Fälle, bei denen das nicht zulässig ist.

Es kann schon sein, dass einmal ein EU-Bürger, nicht
nur ein Deutscher, einen Fehler beim Ausfüllen eines
Antrags beim Jobcenter macht. Das ist nicht okay, egal
ob es vorsätzlich oder fahrlässig ist. Aber dann zu sagen,
dieser Bürger dürfe nicht wieder einreisen, ist eindeutig
europarechtswidrig.


(Dr. Lars Castellucci [SPD]: Das ist Quatsch! Weil es nicht drinsteht!)


Auch den Fall, dass jemand zum Beispiel vortäuscht, er
habe einen 400-Euro-Job, den er gar nicht hat, um als
Aufstocker sein Freizügigkeitsrecht zu untermauern und
seine Sozialbezüge zu erhalten, kann man sich ausden-
ken und könnte es theoretisch geben. Nachgewiesen,
dass das in relevanter Zahl vorkommt, haben Sie nicht.

In diesen Fällen wäre auch eine Wiedereinreisesperre
rechtlich nicht zulässig.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Doch!)


Sie können ihn rausschmeißen. Aber wenn er zwei Jahre
später – die Einreisesperre soll fünf Jahre dauern – einen
Deutschen oder einen in Deutschland lebenden Auslän-
der heiratet oder sich verpartnern lässt, dann darf er
natürlich wieder einreisen. Dass Sie das hier verbieten
wollen, verstößt gegen die Richtlinie zur Freizügigkeit
der Europäischen Union. Ich garantiere Ihnen: Früher
oder später wird Sie der Europäische Gerichtshof darauf
hinweisen, und zwar zu Recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist klar – da lag Frau Jelpke nicht ganz richtig –:
Natürlich ist die Freizügigkeit zur Arbeitsaufnahme im
europäischen Recht auf sechs Monate begrenzbar; da-
rüber darf man auch reden. Jetzt steht noch eine Begren-
zung von drei Monaten im Gesetz. Bloß, bislang haben
wir gesagt: Es reicht aus, wenn sich die hier lebenden
EU-Bürger ernsthaft um Arbeit bemühen. Sie wollen
jetzt, dass dies mit „Aussicht auf Erfolg“ geschieht; auch
darüber könnte man reden. Aber das soll jetzt auf einmal
das Ausländeramt beurteilen. Mit welcher Expertise sol-
len die Mitarbeiter das denn machen? Wenn diese Men-
schen keine Sozialleistungen beanspruchen: Warum
wollen Sie sie dann rausschmeißen? Das ist eine Begren-
zung der EU-Freizügigkeit, wie wir sie politisch nicht
wollen und wie wir sie auch nicht brauchen, weil die
Möglichkeiten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen ein-
zuleiten, schon nach jetzigem Recht bestehen.

Aber bürokratisieren Sie diesen Quatsch nicht da-
durch, indem Sie Ämtern Aufgaben zuweisen, die diese
aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht bewältigen
können. Dabei kommen falsche Entscheidungen heraus.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Das geht zulasten der Freizügigkeit. Deshalb lehnen wir
diese Regelung ab.

Wir schlagen Ihnen vor: Beschließen Sie die Entlas-
tung der Kommunen. Beschließen Sie die Regelung zum
Kindergeld, und nehmen Sie den Artikel 1 mit der Be-
schränkung der EU-Freizügigkeit einfach wieder aus
dem Gesetzentwurf heraus. Sie haben eine letzte Chance,
bevor der Gesetzentwurf in den Bundesrat geht. Sie kön-
nen das heute durch Zustimmung zu unserem Ände-
rungsantrag korrigieren. Ich weiß, Herr Castellucci, im
Herzen sind Sie auf jeden Fall dabei, wenn wir nachher
darüber abstimmen. Ich wünschte mir, es wäre dann
auch in der Realität so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806314400

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea

Lindholz das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806314500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der
zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen
Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportna-
tion besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Pro-
zent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent
unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind so-
wohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwan-
kungen befreit.

Die europäische Integration fördert aber nicht nur den
deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert
auch von den vielen qualifizierten und motivierten Mi-
granten aus der EU. Angesichts unserer überalternden
Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran
auch kein Zweifel bestehen.

Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in
Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet.
Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in
Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EU-
Bürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozial-
abgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten.

Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EU-
Verträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügig-
keit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes
bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb
Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den
EU-Verträgen heißt es wörtlich:

Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich … vorbe-
haltlich der … in den Durchführungsvorschriften
vorgesehenen … Bedingungen frei zu bewegen und
aufzuhalten.
Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem
die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorga-
ben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf
nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicher-
heiten gibt.

Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse
Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit
auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kom-
mission immer wieder hingewiesen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie trotzdem Artikel 15! Das ist zwar ein bisschen verworren geschrieben, aber ziemlich rechtsklar!)


– Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich
glaube, Sie kennen sie nicht alle. – Artikel 35 der Freizü-
gigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrück-
lich, Herr Kollege Beck,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßnahmen!)


Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu
bekämpfen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass
speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht
arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie weit reicht es?)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bun-
desregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht we-
sentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekre-
tärsausschusses zur Armutsmigration.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806314600

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck zu?


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806314700

Ich glaube, ich komme noch zu dem Punkt. Aber wir

können es gerne schon vorher diskutieren. Die Zeit wird
ja angehalten.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806314800

Ja. Gut.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806314900

Würden Sie mir zustimmen, dass in Artikel 35 der

Freizügigkeitsrichtlinie, auf die Sie sich gerade bezogen
haben, anders als in Artikel 15 das Wort „Wiedereinrei-
sesperren“ nicht vorkommt? Dort heißt es nämlich:

Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlas-
sen, die notwendig sind, um die durch diese Richtli-
nie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmiss-
brauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung
von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder
zu widerrufen.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Das ist eine abschließende Aufzählung. Dann heißt es
weiter, „solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig
sein“ und sich „nach den Artikeln 30 und 31“ im Verfah-
rensrecht richten.

Damit ist eindeutig klar, dass Artikel 15 die Spezial-
regelung ist, und diese regelt die Wiedereinreisesperren
abschließend aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Si-
cherheit oder Gesundheit. Das, was Sie vorgetragen ha-
ben, betrifft aber nicht öffentliche Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1806315000

Herr Kollege Beck, Sie wissen doch, dass wir dazu

eine völlig andere Rechtsauffassung haben. Sie sprechen
jetzt schon konkret die Wiedereinreisesperren an, die wir
in § 7 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes betreffend die
Fälle des § 2 Absatz 7 des Freizügigkeitsgesetzes regeln.
Da ist bereits festgestellt, dass keine Freizügigkeit mehr
besteht. Die Rechtsexperten, die nach unserer Auffas-
sung die korrekte Rechtsauffassung vertreten, sehen Ar-
tikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie als Lex specialis zu
Artikel 15 der Freizügigkeitsrichtlinie, den Sie gerade so
schön zitiert haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber leider ist es gerade umgedreht! Das ist kabarettreif: Artikel 35 als Lex specialis zu Artikel 15?!)


Da steht ausdrücklich, dass wir die Konsequenzen da-
raus ziehen dürfen. Das tun wir in § 7 Absatz 2, Herr
Kollege Beck, indem wir Wiedereinreisesperren gegen
diejenigen verhängen, die nach § 2 kein Freizügigkeits-
recht mehr haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Ich gehe davon aus, dass wieder Professoren oder mögli-
cherweise auch Richter darüber zu befinden haben wer-
den, wer nun am Ende recht hat.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel Spaß bei den Verhandlungen!)


Wir sind der Auffassung: Unsere Regelungen sind euro-
parechtskonform.

Herr Beck, Sie haben sich schon mit meinem Vorgän-
ger, Herrn Geis, immer auseinandergesetzt. Ich sage im-
mer wieder: Dass wir diese Tradition fortsetzen, freut
zumindest die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahl-
kreis.

Ich setze nun meine Rede fort. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtli-
chen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus
dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armuts-
migration. Sie setzt ein wichtiges Signal, indem sie sagt:
Betrug und Missbrauch werden nicht toleriert. Darüber
hinaus greift die Bundesregierung den Kommunen bei
den Kosten unter die Arme. Das geschieht im Wesentli-
chen mit fünf Maßnahmen.

Erstens werden im Falle von Betrug und Rechtsmiss-
brauch Wiedereinreisesperren ermöglicht.

Zweitens wird das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern
zur Arbeitsuche auf sechs Monate befristet. Warum?
Weil auch hier Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie nur
die ersten drei Monate regelt. Danach werden sehr
strenge Anforderungen gestellt, wann und unter welchen
Voraussetzungen jemand in einem Land bleiben darf. Er
muss nämlich seinen Lebensunterhalt weitestgehend
selbst sicherstellen. Indem wir die Geltungsdauer des
Merkmals der Arbeitsuche von drei auf sechs Monate
verlängern, kommen wir den Menschen sogar entgegen.
Dass eine begründete Aussicht auf Arbeit bestehen
muss, ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, genauso wie
die Tatsache, dass darüber verschiedene Stellen zu befin-
den haben. Denn es gibt unterschiedliche Anspruchs-
grundlagen: Möchte jemand Arbeitslosengeld beziehen,
oder bezieht er nur Kindergeld, oder braucht er nur Un-
terstützung von der Krankenkasse? Wir werden sehen,
sehr geehrter Herr Kollege Castellucci, ob sich die Rege-
lungen in der Praxis bewähren oder ob Nachbesserungs-
bedarf besteht. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für
richtig.

Drittens sorgen wir dafür, dass Doppelzahlungen
beim Kindergeld vermieden werden. Indem bei jedem
Kindergeldantrag die steuerliche Identifikationsnummer
angegeben werden muss, geben wir den Behörden die
Möglichkeit, leichter Überprüfungen vorzunehmen.

Viertens wird die Bekämpfung von Schwarzarbeit
und Scheinselbstständigkeit verbessert, indem die zu-
ständigen Behörden besser vernetzt werden. Die Gewer-
beämter sollen künftig schon beim ersten Verdacht auf
Scheinselbstständigkeit prüfen und Verdachtsfälle direkt
an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden.

Fünftens werden die Kommunen mit zusätzlichen
35 Millionen Euro unterstützt. Diese Unterstützung er-
gänzt das bereits im März in Folge des Zwischenberichts
beschlossene Entlastungspaket für die Kommunen in
Höhe von über 200 Millionen Euro. Dazu wurde das
Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgestockt so-
wie Programme des Europäischen Sozialfonds und ein
EU-Hilfsfonds so zugeschnitten, dass vor allem die stark
belasteten Kommunen von diesen Programmen in den
nächsten Jahren profitieren können.

Die Bundesregierung und der Bundestag packen mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf offensichtliche Pro-
bleme im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an.
Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen ausdrück-
lich, dass wir uns endlich mit den Problemen der Ar-
mutszuwanderung aus der EU befassen. Die Kommunen
werten unsere Initiative als wichtigen ersten Schritt in
die richtige Richtung. Auch das haben uns die Sachver-
ständigen von der kommunalen Ebene in der Anhörung
am 13. Oktober bestätigt.

Der Gesetzentwurf kann nur ein erster Schritt sein.
Wir alle wissen, dass es unklar ist, ob und unter welchen
Bedingungen ein EU-Bürger, der sich zur Arbeitsuche in





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland aufhalten darf, in dieser Zeit Anspruch auf
Hartz-IV-Leistungen hat. Deutsche Gerichte haben in
dieser Frage aufgrund widersprüchlicher Vorgaben in
den Richtlinien unterschiedlich geurteilt. Das Urteil des
EuGH im Dano-Fall wird am 11. November wohl für et-
was mehr Klarheit sorgen.

Gerichte sollten allerdings nicht die Rolle des Gesetz-
gebers übernehmen. Die demokratisch legitimierten In-
stitutionen in Europa sind gefordert, in so weitreichen-
den Fragen Rechtssicherheit zu schaffen. Auf nationaler
Ebene unternehmen wir heute einen ersten Schritt im
Rahmen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und
schaffen etwas mehr Rechtssicherheit. Nach dem Dano-
Urteil müssen weitere Schritte folgen.

Wir wollen und brauchen die Freizügigkeit in Europa.
Die öffentliche Akzeptanz dieses Rechts ist aber keine
Selbstverständlichkeit. Es steht außer Frage, dass wei-
tere Schritte kommen müssen. Auch die offene Frage, ob
EU-Bürger in Deutschland für ihre im Ausland lebenden
Kinder Kindergeld in voller Höhe wie in Deutschland
bekommen sollen, gehört für mich dazu. Die Politik auf
europäischer und nationaler Ebene trägt Verantwortung
dafür, dass eine Akzeptanz sichergestellt wird. Mit die-
sem Gesetzentwurf tragen wir dazu bei. Ich bitte Sie da-
her heute um Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806315100

Als nächster Redner hat der Kollege Josip Juratovic

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1806315200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Kürzlich bei der Anhörung der Sach-
verständigen zum geplanten Freizügigkeitsgesetz hat
Frau Dr. Giffey, Bezirksstadträtin von Neukölln, einen
entscheidenden Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Frau
Giffey begrüßte viele der neuen Regelungen, betonte
aber auch, dass in Neukölln nicht der Missbrauch die
größten Schwierigkeiten bereitet. Kommunen brauchen
vor allem Unterstützung, um mit legaler und gerechtfer-
tigter Zuwanderung zurechtzukommen. Ich kann Frau
Giffey nur zustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist entscheidend, dass wir die Kommunen ausrei-
chend unterstützen, und wir haben mit den geplanten
Entlastungen einen wichtigen Schritt dafür geleistet.

Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich müssen
wir Gesetze auf den Weg bringen, die sich auch um
Missbrauchsfälle kümmern. Daher finde ich die neuen
Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der Arbeitssuche
oder zum Kindergeldmissbrauch gerechtfertigt. Es ist
aber auch entscheidend, dass wir dem Missbrauch nicht
mehr Aufmerksamkeit schenken, als er verdient.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die meisten Menschen, die zu uns kommen, missbrau-
chen nicht die Freizügigkeit, sondern machen nur von
ihrem Recht Gebrauch. Dieses hohe Gut wollen und
müssen wir schützen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe offen zu,
dass ich verärgert bin angesichts des bewussten Spiels
mit Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung, zu dem
sich mancher Kollege auch aus diesem Haus im vergan-
genen Jahr hat hinreißen lassen. Es kann nicht sein, dass,
wenn grenzüberschreitende Mobilität im Einzelfall zu
gesellschaftspolitischen Problemsituationen führt, wie es
in manchen deutschen Kommunen tatsächlich der Fall
ist, statt Unterstützung zu bieten, reflexartig nach Ab-
schottung gerufen wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist die hohe Aufgabe der Politik, nicht dem Reiz zu
erliegen, selbst populistische Meinungsmache zu betrei-
ben.

Kolleginnen und Kollegen, es ist unmoralisch, die
Zuwanderung nur auf wirtschaftliche Nützlichkeit zu re-
duzieren. Deshalb sollten wir gemeinsam ein positives
Bild der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union
prägen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Art und Weise, wie wir das Thema Freizügigkeit be-
handeln, gibt nämlich Aufschluss darüber, was für ein
Europa wir haben wollen. Was macht uns als Europa
aus? Freizügigkeit darf nicht nur eine Freizügigkeit der
Waren und Dienstleistungen sein, sondern sie ist vor al-
lem das demokratische Grundrecht der Menschen in Eu-
ropa.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Es gibt keine gute und schlechte Zuwanderung, es
gibt aber sehr wohl eine gute oder schlechte Aufnahme.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb danke ich den vielen Menschen bei uns, den
Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen, die die
Willkommenskultur in Deutschland pflegen. Die Freizü-
gigkeit ist ein Zugewinn für alle und fördert den Zusam-
menhalt Europas und die gegenseitige Solidarität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, Zuwanderung muss
selbstverständlich auch politisch gesteuert werden, wie
mit dem aktuellen Gesetz geplant. Auch in Zukunft





Josip Juratovic


(C)



(D)(B)

bleibt es entscheidend, die Menschen zu schützen und
das Miteinander zu erleichtern. Wir müssen Willkom-
menscenter stärken und Anlaufstellen für Arbeitsmi-
granten ausbauen, die den Migranten den Einstieg in den
Arbeitsmarkt erleichtern.

Besonders wichtig: Missbrauch der Arbeitsmigranten
durch Schwarzarbeit muss verhindert werden. Es darf
aber nicht sein, dass wir uns darauf konzentrieren,
diejenigen zu bestrafen, die aus Not handeln, während
diejenigen, die diesen Missstand ausnutzen, unbestraft
davonkommen. Deshalb gilt auch weiterhin: Je besser
und sicherer die Bedingungen für Arbeitsmigrantinnen
oder -migranten auf unserem Markt gesetzlich geregelt
werden, desto weniger Missbrauchsfälle wird es geben.
Der vorliegende Kompromiss geht aus meiner Sicht in
die richtige Richtung, hindert uns aber nicht daran, wei-
terzudenken und zu handeln.

Übrigens, wir dürfen nicht der Illusion erliegen, das
alles sei einfach. Bundespräsident Gauck hat es treffend
formuliert: „Offen sein ist anstrengend.“

Ich bitte um Ihre Zustimmung für das geplante Gesetz
zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806315300

Damit schließe ich die Debatte zu diesem Tagesord-

nungspunkt.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer
Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3077, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2581 und 18/3004 anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3079 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? – Das
ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-
gegen? – Das ist die Koalition. Wer enthält sich? – Die
Fraktion Die Linke. Damit ist der Änderungsantrag mit
den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt für
den Gesetzentwurf? – Das ist die Koalition. Wer stimmt
dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wer
enthält sich? – Das ist niemand. Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
angenommen worden.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen worden.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.

Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3080. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Koalition. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/3080 mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt worden.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3081. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Opposi-
tion. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Gibt es je-
manden, der sich enthält? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abge-
lehnt worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Asylbewer-
berleistungsgesetzes und des Sozialge-
richtsgesetzes
Drucksachen 18/2592, 18/3000
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11. Ausschuss)


Drucksache 18/3073

(8. Aus schuss)


Drucksache 18/3084
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-

ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise
Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsge-
setzes
Drucksache 18/2736
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


Drucksache 18/3073
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Sozialrechtliche Diskriminierung beenden –
Asylbewerberleistungsgesetz aufheben
Drucksachen 18/2871, 18/3073

(A)






Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Hierzu liegen mir mehrere Erklärungen zur Abstim-
mung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die-
ser Debatte hat die Kollegin Daniela Kolbe das Wort,
das sie dann sofort bekommt, wenn die Kolleginnen und
Kollegen ihre Plätze gewechselt haben. – Das ist jetzt
der Fall.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1806315400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir leben in beunruhigend unruhigen Zeiten.
Weltweit gibt es derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr: mehr als 50 Millionen
Menschen – Tendenz steigend. Natürlich ist das auch in
Deutschland spürbar, hier bei uns. In diesem Jahr rech-
nen wir mit etwa 200 000 Asylanträgen. Ich denke, dass
ich für das gesamte Haus spreche, wenn ich sage: Wir
wollen und wir werden dieser Verantwortung gerecht
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie groß diese Verantwortung ist, kann man erleben,
wenn man derzeit ein Asylbewerberheim besucht. Dort
trifft man eigentlich immer auf erschütternde Geschich-
ten, gerade von Menschen aus Syrien. Meine letzte Be-
gegnung war mit einer Familie: ein Handwerker, seine
Frau, ein Kleinkind und ein Säugling. Ihre Geschichte
war, dass der Mann sich mit seinem zweijährigen Kind
und der hochschwangeren Frau am Mittelmeer in ein
Boot gesetzt hat in dem Wissen, dass das Boot vor die-
sem gesunken war. – Solche Geschichten gibt es zu
Zehntausenden. Sie lassen uns nachvollziehen und spü-
ren, wie groß die Verantwortung ist, die wir hier zu erfül-
len haben.

Wir wissen auch, wie groß die Herausforderung in
den Kommunen ist, wie dort geächzt wird, wie dort nach
Unterbringungsmöglichkeiten gesucht wird. Wir ver-
schließen vor der Verantwortung in beiden Bereichen die
Augen nicht. Wir wissen: Es ist eine gemeinsame
Verantwortung, und der einzig mögliche Weg hier ist,
akzeptable Bedingungen für alle Flüchtlinge zu organi-
sieren. Nur so werden wir auch die Akzeptanz in der Be-
völkerung erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir machen heute den ersten Schritt, allerdings nur
den ersten Schritt in einer ganz schön langen Etappe.
Wir setzen das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Juli
2012 eins zu eins um –


(Widerspruch bei der LINKEN)


nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Berechnung der
Leistungen wird endlich transparent und rechtssicher.

Wir sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche, die
als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, Leistungen
aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten können.
Das hilft diesen Kindern enorm.

Es wird erstmals einen kleinen Vermögensfreibetrag
und einen höheren Einkommensfreibetrag geben. Das
hilft natürlich den Betroffenen, aber auch den Verwal-
tungen.

Wir verkürzen die Dauer des Bezugs von Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 48 Monaten
auf 15 Monate. Das ist einfach nur sachgerecht.

Wir nehmen einige Gruppen aus dem Leistungsbezug
nach diesem Gesetz heraus: Opfer von Menschenhandel
und Arbeitsausbeutung sowie solche Menschen, deren
Abschiebung schon seit mehr als anderthalb Jahren aus
rechtlichen oder humanitären Gründen ausgesetzt ist.
Durch diesen letzten Schritt entlasten wir unsere Kom-
munen jährlich um mehr als 40 Millionen Euro.

Außerdem wird es einen Nothelferparagrafen geben,
der sicherstellt, dass Asylbewerber definitiv Nothilfe er-
halten und die Helfer eine Vergütung dafür bekommen.

Ich finde gut, dass wir dieses Urteil im Gesetzentwurf
jetzt eins zu eins umsetzen. Mein Dank gilt dem Ministe-
rium und der Ministerin. Ich finde es gut, dass diese
Regierung dieses Urteil so zügig umgesetzt hat. Das ist
etwas, was der letzten Regierung nicht so schnell von
der Hand gehen wollte.

Aber es ist nur der erste Schritt. Weitere Schritte sind
bereits in der Vorbereitung oder in der Umsetzung – ich
mache das jetzt einmal im Stakkato, weil das schon recht
viel ist –: Wir werden im BAMF mehr Mitarbeiter ein-
stellen, um eine kürzere Antragsbearbeitungsdauer hin-
zubekommen. Wir werden die Residenzpflicht weitge-
hend abschaffen. Seit heute können Asylsuchende, wenn
sie drei Monate in Deutschland sind, eine Arbeit aufneh-
men. Ab nächster Woche wird, wenn die Menschen
15 Monate in Deutschland sind, auch die Vorrangprü-
fung wegfallen. Wir werden das Sachleistungsprinzip
weitgehend abschaffen.

Es gibt auch noch einige wenige Punkte, an denen wir
weiterhin hart arbeiten und die wir noch klären müssen.
Es bleibt die große Frage der Entlastung der Länder und
Kommunen – diese Frage ist eminent wichtig; darüber
müssen wir, glaube ich, nicht diskutieren –, und es bleibt
die Frage der Gesundheitsversorgung; das ist definitiv
verbesserungsbedürftig, wie unsere Anhörung gezeigt
hat. Das Bremer Modell, das auch in Hamburg und in
abgewandelter Form in Berlin angewandt wird, weist
uns hier womöglich den richtigen Weg.

Zusammengefasst: Diese Koalition wird ihrer Verant-
wortung gerecht: gegenüber den Flüchtlingen, gegen-
über den Kommunen und gegenüber der Gesellschaft.
Das Gesetz ist ein erster großer Schritt in die richtige
Richtung, und es setzt das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts eins zu eins um. Insofern bitte ich um Zu-
stimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806315500

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806315600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem

vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes will die Koalition an der sozial-
rechtlichen Sonderbehandlung von Asylsuchenden,
Flüchtlingen und geduldeten Menschen festhalten.
Dagegen fordert die Linke, dass diese Menschen wie alle
anderen auch Zugang zu regulären Sozialleistungen
erhalten und dass Beschränkungen – egal welcher Art –
beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung unbedingt abge-
schafft werden müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Soziale Rechte dürfen nicht unter aufenthaltsrechtlichen
Vorbehalt gestellt werden.

Meine Damen und Herren, das Asylbewerberleis-
tungsgesetz besteht seit über 20 Jahren. Keine Bundes-
regierung wollte daran rütteln. Geboren ist es übrigens
aus dem Gedanken der Abschreckung von Flüchtlingen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 klarge-
stellt, dass auch Asylsuchende ein Recht auf ein men-
schenwürdiges Existenzminimum haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der zentrale Satz des Urteils lautet: Die Menschenwürde
ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sollte auch die Koalition in diesem Haus endlich
einmal ernst nehmen.


(Kerstin Griese [SPD]: Tun wir! – Daniela Kolbe [SPD]: Tut sie!)


Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem ge-
fordert, das Asylbewerberleistungsgesetz nur auf jene
anzuwenden, die sich voraussichtlich nur vorübergehend
in Deutschland aufhalten. Doch wenn man sich den vor-
liegenden Gesetzentwurf genau anschaut, muss man
feststellen, dass auch Menschen mit humanitären
Aufenthaltstiteln aus den regulären sozialen Sicherungs-
systemen herausgehalten werden.

Das betrifft zum Beispiel die syrischen Flüchtlinge.
Über drei Jahre dauert dieser Krieg inzwischen an, und
leider ist nicht abzusehen, wann er beendet wird. Und
trotzdem unterliegen diese Flüchtlinge dem Asylbewer-
berleistungsgesetz, als könne man davon ausgehen, dass
sie spätestens nächste Woche das Land wieder verlassen
können. Das ist doch schlicht Realitätsverweigerung und
obendrein zynisch gegenüber diesen Menschen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Asylbewerberleistungsgesetz soll auch weiter für
Menschen gelten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, de-
ren Aufenthalt in Deutschland aber weiter geduldet wird,
weil sie auf längere Sicht nicht abgeschoben werden
können. Auch deren Aufenthalt ist weder kurzzeitig
noch vorübergehend. Deswegen müssen auch sie aus
diesem Gesetz herausgenommen werden.

In einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales wurden von einer Reihe von Sachverständigen
Verbesserungen – das ist ein ganz wichtiges Thema – bei
der Gesundheitsversorgung angemahnt. Derzeit erhalten
Menschen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz
fallen, allenfalls Hilfe in akuten Notsituationen. Chroni-
sche Erkrankungen werden nicht behandelt; die Folgen
sind oft Verschlimmerungen der Erkrankung bis hin zu
schweren Behinderungen. Auch Todesfälle hat es schon
gegeben. In der Expertenanhörung des Sozialausschus-
ses wurden schlimme Beispiele geschildert. In einem
Fall verweigerte das Sozialamt die Operation von
Augenkrebs bei einem Kind. In einem anderen Fall
wurde die medizinisch notwendige Nachsorge einfach
nicht geleistet, weil das Sozialamt Rechnungen nicht be-
zahlt hatte. Das Recht auf Gesundheit und körperliche
Unversehrtheit darf nicht von einem Aufenthaltsstatus
abhängig gemacht werden, meine Damen und Herren.
Deswegen darf es so nicht weitergehen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Deswegen verbessern wir ja auch die Gesundheitsversorgung!)


Meine Damen und Herren, besonders eklatant ist,
dass die Bundesregierung daran festhalten will, gedulde-
ten Flüchtlingen das Taschengeld zu streichen, wenn sie
an ihrer Abschiebung angeblich nicht mitwirken. Dieses
Strafregime verletzt ganz klar das Recht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum. Sie müssen sich
vorwerfen lassen, die Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts nicht ernst genommen zu haben.


(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für den Vor-
rang von Sachleistungen vor Bargeld. Die Asylsuchen-
den erhalten fertig gepackte Esspakete, die oft nur man-
gelhafte Waren enthalten. Diese Form der Versorgung ist
absolut entmündigend.


(Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir doch!)


Auch hier wird die Würde der Betroffenen mit Füßen ge-
treten. Damit muss endlich Schluss sein!


(Daniela Kolbe [SPD]: Wird es ja auch!)


Deshalb fordert die Linke, das System der sozialen
Diskriminierung von Flüchtlingen endlich zu beenden
und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz
abzuschaffen. Auch das hat das Bundesverfassungsge-
richt als Option durchaus im Sinn gehabt, und das wäre
eigentlich auch das Richtige.

Schönen Dank.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806315700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-

rin hat jetzt Jutta Eckenbach das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1806315800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich glaube, dass wir – hier möchte ich an das an-
schließen, was meine Kollegin Frau Kolbe vorhin ausge-
führt hat – uns wieder ins Bewusstsein rufen müssen, mit
wem wir es letztendlich zu tun haben. Wer jemals in ein
Übergangsheim gegangen ist, mit den Menschen dort
gesprochen hat, in die Kinderaugen gesehen hat und
festgestellt hat, wie traumatisiert manche Kinder waren,
der wird zustimmen, dass wir unserer Verantwortung in
Deutschland gerecht werden und diesen Menschen hel-
fen müssen. Das tun wir mit voller Überzeugung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme darauf, weil gerade das Wort „Strafre-
gime“ gefallen ist. Es ist unangebracht. Es trifft keines-
falls auf das zu, was wir hier in Deutschland vorfinden.
Ich weise diesen Vorwurf mit aller Schärfe zurück.
Deutschland hat kein Strafregime, und so etwas gibt es
auch nicht in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Anhörung der Sachverständigen am Montag hat
ergeben, dass die Umsetzung des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts rechtlich nicht zu beanstanden ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Ebenso ist das Festhalten am Asylbewerberleistungsge-
setz notwendig. Da ja nicht alle bei dieser Anhörung an-
wesend waren, will ich Ihnen auch sagen, warum.

Der Grundgedanke des sogenannten Asylkompromis-
ses von 1992/1993 war, dass unser Sozialleistungssys-
tem keinen Anreiz für Zuwanderung bieten sollte.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist verfassungswidrig!)


Wie die Zahlen zeigten, gingen die Anträge auf Asyl da-
mals schlagartig zurück. Also gab es offensichtlich einen
Zusammenhang zwischen der Wahl des aufnehmenden
Landes und den dort angebotenen Leistungen. Dass es
diesen Zusammenhang immer noch gibt, wird auch
durch die neueren Zahlen des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge bestätigt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das darf hier keine Rolle spielen!)

So war, unmittelbar nachdem das Bundesverfassungs-
gericht im Juli 2012 das Urteil verkündet hatte, über das
wir heute reden und das die Grundlage für das heute vor-
gelegte Gesetz ist, wieder ein Anstieg der Anzahl der
Anträge zu verzeichnen. Während noch im Juni 2012,
also vor Verkündung des Urteils, 770 Anträge gestellt
wurden, wurden im August bereits 1 163, im September
2 257 und im Oktober 4 303 Anträge gestellt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist respektlos gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, was Sie hier sagen!)


Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich im Rah-
men des Verfahrens herausgestellt hatte, war die Frage
der Gesundheitsversorgung nach den §§ 4 und 6 Asylbe-
werberleistungsgesetz. In einigen Stellungnahmen der
Sachverständigen klang immer wieder an, dass die Ge-
sundheitsversorgung nicht ausreichend sei, es ein Marty-
rium sei, medizinische Hilfe zu erhalten, und der Bund
seiner Fürsorgepflicht nicht nachkomme.

Ich will nur der Ordnung halber darauf hinweisen,
dass die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes
nicht allein in der Zuständigkeit des Bundes liegt, son-
dern dass hierfür auch die Länder zuständig sind. Genau
das ist in der Anhörung ja auch noch einmal am Beispiel
des Landes Bremen deutlich geworden, das hier ander-
weitig tätig wird. Das machen übrigens auch andere
Länder, indem sie eine Krankenversorgung, wie sie im
Rahmen der normalen gesetzlichen Krankenversiche-
rung üblich ist, gewährleisten. Dort gibt es eine Kran-
kenkassenkarte. Ich wünsche mir natürlich, dass alle
Länder dieses Modell übernehmen, auch im Interesse
der Gesundheitsversorgung. Die Länder haben es also
selbst in der Hand, die gesundheitlichen Versorgungs-
leistungen für Asylbewerber zu regeln.

Egal wie die aktuelle Ausgestaltung aussehen wird:
Ich will, weil das von den Linken gerade beanstandet
wurde, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich beto-
nen, dass der Bundesregierung aus der Zeit von 2004 bis
2014 offiziell kein Fall bekannt ist, bei dem das angebli-
che Vorenthalten bzw. Verzögern einer medizinischen
oder psychotherapeutischen Behandlung bei einer Per-
son, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen
war, zu körperlichen Schäden oder gar zum Tod geführt
hätte, wie das von den Linken gerade behauptet wurde.

Die Opposition malt an dieser Stelle immer wieder
den Teufel an die Wand und stellt irgendwelche Schre-
ckensbilder dar, was meinem Erachten nach völlig unbe-
gründet ist. Es sei auch noch einmal erwähnt, dass sich
zahlreiche Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge wie auch der Aufnahmeeinrichtungen
vor Ort tagtäglich um die Bedürftigen kümmern. Dass
diese Arbeit immer nur zum Nachteil der Asylbewerber
sei, kann und will ich hier nicht gelten lassen. Deswegen
wollen wir auch heute an diese Menschen denken und
ihnen herzlich danken; denn ihre Aufgabe in diesen Ein-
richtungen vor Ort ist nicht einfach.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einmal auf die Forderung der Opposition
eingehen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz in die
Leistungssysteme des SGB II und XII einzubetten sei.
Dies ist nicht möglich, da die Zielrichtungen andere
sind; denn während das Asylbewerberleistungsgesetz
auf Hilfen für einen vorübergehenden Aufenthalt gerich-
tet ist, haben das SGB II und XII dauerhaft in Deutsch-
land lebende Personen im Blick. Insofern machen zum
Beispiel arbeitsmarktpolitische Instrumente in den Erst-
aufnahmeeinrichtungen wenig Sinn.

Meine Damen und Herren, dass wir alle Fragen der
Asylpolitik allein mit den Änderungen, die für das Asyl-
bewerberleistungsgesetz anstehen, nicht bewältigen wer-
den, ist mir bewusst. Ich glaube, wir sind uns einig, dass
wir alle helfen wollen. Jedoch muss die Hilfe auch
machbar sein.

Ich danke zum Abschluss all denen herzlich, die sich
ehrenamtlich bemühen, in den Einrichtungen für Ruhe
und Frieden zu sorgen, die dort tagtäglich ein- und aus-
gehen und für die Menschen in den Asylbewerberein-
richtungen und -heimen da sind.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806315900

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Kollegin Eckenbach, ich bitte doch um ein biss-
chen mehr Respekt gegenüber dem Bundesverfassungs-
gericht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie haben eben schon wieder – Kollegin Jelpke hat auf
den Satz im Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinge-
wiesen – versucht, einen Zusammenhang zwischen der
Leistung im Asylbewerberleistungsgesetz und der Zahl
der Menschen, die hierhinkommen, herzustellen. Man
kann darüber streiten. Meines Erachtens ist das, was in
der Anhörung genannt worden ist, methodisch angreif-
bar. Aber selbst wenn es so wäre: Das Bundesverfas-
sungsgericht hat eindeutig gesagt, dass migrationspoliti-
sche Argumente bei der Menschenwürde keine Rolle
spielen dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das heißt, diese Argumente dürfen hier im Bundestag in
der Debatte, die wir führen, überhaupt nicht verwendet
werden. Sie haben es aber in der Ausschussanhörung ge-
tan. Herr Kollege Stracke, das gehört sich nicht. Es geht
hier um die Verfassung, die Menschenwürde und um ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bitte unterlassen
Sie das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber auch nicht der offensichtliche Missbrauch des Asylrechts!)


– Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Straubinger,
wenn Sie darüber etwas mehr erfahren wollen.

Ich finde es grundsätzlich problematisch, dass wir
hier häufig Gesetzentwürfe besprechen, die an der
Grenze der Verfassungsmäßigkeit sind, und wir auf die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten
müssen, ob sie verfassungsgemäß sind oder nicht. Bei
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist das schon
wieder so. Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens ist
dieser Entwurf gerade eben noch verfassungsgemäß.
Aber wir haben in der Ausschussanhörung diverse Argu-
mente von den Expertinnen und Experten gehört, die
aufzeigten, wo es verfassungsrechtliche Probleme gibt.
Ich habe dazu in der Ausschusssitzung etwas länger Stel-
lung genommen und die Punkte noch einmal erwähnt.
Hier habe ich nicht die Zeit dazu, weil ich dann meine
Redezeit um ein Vielfaches überschreiten würde. Ich
fände es schön, wenn wir mehr Gesetze verabschieden
würden, bei denen von vornherein klar ist, dass sie der
Verfassung entsprechen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir machen es!)


Ein weiterer wichtiger Punkt. Wir finden es wichtig,
dass es endlich eine einheitliche Grundsicherung gibt
und keine Dreiklassengrundsicherung, wie wir sie der-
zeit vorfinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Anknüpfend an die letzte Debatte sage ich: Unionsbür-
ger, die zu uns kommen, verlieren irgendwann ihren An-
spruch auf Grundsicherung, ein Teil ist davon ausge-
schlossen. Asylbewerber erhalten zwar eine Leistung,
aber sie liegt unterhalb der Leistung, die andere Men-
schen in diesem Lande erhalten.


(Daniela Kolbe [SPD]: Aber nur geringfügig!)


Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Wir wollen
da eine Vereinfachung.

Ihre Vorlage offenbart das Menschenbild der Großen
Koalition: Es gibt die guten Menschen, die hier länger
leben, und es gibt die schlechten Menschen; das sind
diejenigen, die aus der EU oder von weiter weg zu uns
kommen.


(Kerstin Griese [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie wissen genau, dass das nicht stimmt!)


Wir finden: Alle Menschen müssen und sollten gleich
behandelt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich komme ganz kurz auf ein paar wichtige Probleme
zu sprechen. Es wird hier behauptet, die Urteile des Bun-
desverfassungsgerichts zum Existenzminimum würden





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)

hier eins zu eins umgesetzt. Das Existenzminimum ist
ein Grundrecht nach Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.“ Es umfasst ein physi-
sches Existenzminimum und ein gewisses Maß an sozia-
ler Teilhabe. Und dann gibt es § 1 a Asylbewerberleis-
tungsgesetz, den Frau Jelpke als Strafregime bezeichnet
hat. Unabhängig davon, wie man es bezeichnet,


(Kordula Kovac [CDU/CSU]: Aber nicht als „Strafregime“!)


besagt § 1 a, dass Leistungskürzungen möglich sind. Es
ist überhaupt nicht festgelegt, in welcher Größenord-
nung sie erfolgen können. Das ist auch in der Ausschuss-
anhörung kritisiert worden. Diese Leistungskürzungen
können auch dauerhaft vorgenommen werden. Leis-
tungskürzungen, die dauerhaft eine Senkung unter das
Existenzminimum bewirken, widersprechen eigentlich
ganz eindeutig dem Grundrecht auf eine existenz-
sichernde Leistung.

Im Asylbewerberleistungsgesetz sind, anders als im
SGB II und im SGB XII, keine Mehrbedarfe, zum Bei-
spiel für Alleinerziehende und Schwangere, vorgesehen.
Das ist schon ein Problem. Die Regelleistung selber ist
10 Prozent niedriger als die Leistung für Menschen, die
Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung im Alter
beziehen. Begründet wird dies damit, dass bestimmte
Leistungen als Sachleistungen bereitgestellt werden,
zum Beispiel Hausrat und Gesundheitsleistungen.

Teilweise ist es ziemlich absurd, was in der Begrün-
dung steht. Zum Beispiel wird ein Teil dieser Differenz
damit begründet, dass Asylbewerber keine Praxisgebühr
zahlen müssen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt’s doch gar nicht mehr!)


– Richtig. – Wie auch Sie von der Koalition wissen soll-
ten, gibt es die Praxisgebühr gar nicht mehr. Das macht
zwar nur 2,64 Euro der Differenz zwischen SGB-II-
Leistungen und den Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz, wie Sie es vorgelegt haben, aus; aber
es zeigt, wie Sie an dieses Gesetz herangegangen sind,
nämlich korinthenkackerisch, sehr kleinlich, nicht wirk-
lich fundiert und auch nicht transparent. Offensichtlich
ist es Ihnen nicht einmal aufgefallen, dass die Ausgaben
für die Praxisgebühr herausgerechnet wurden. Deswe-
gen gibt es keinen Grund, Asylbewerbern 2,64 Euro we-
niger zu geben als anderen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Daniela Kolbe [SPD]: Sollen wir die Hartz-IV-Leistungen jetzt deswegen senken? Das ist lächerlich!)


Für uns ist wichtig, die Selbstbestimmung und Frei-
heit der Menschen zu stärken. An der Stelle sind die
Sachleistungen ein Riesenproblem. Auch Asylbewerbe-
rinnen und Asylbewerber sollten eine Geldleistung krie-
gen, mit der sie selbstbestimmt entscheiden können, wie
sie ihr Leben gestalten. Die Ausschussanhörung hat
deutlich gemacht, dass das Existenzminimum auch an
dieser Stelle nicht unbedingt gesichert ist,

(Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir doch!)


weil die Sachleistungen möglicherweise nicht existenz-
sichernd sind; das ist schwer zu kontrollieren. Auch an
der Stelle wären Geldleistungen sehr viel sinnvoller als
Sachleistungen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806316000

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie denken an die

vereinbarte Redezeit?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gut. Dann komme ich zum Schluss. – Leider kann ich
zum Punkt Gesundheit nicht mehr viel sagen; aber er ist
schon genannt worden. Auch beim Thema Gesundheit
gibt es ein zentrales Problem; auch hier ist das physische
Existenzminimum gefährdet. Ich wünsche der Kollegin
Kolbe viel Glück dabei, an der Stelle Veränderungen zu
erreichen. Es gibt da auch einen Beschluss des Bundes-
rates, der einen Weg aufzeigt. Ich finde, das Gesetz, wie
es jetzt vorliegt, ist nicht christlich; Sie sollten vielleicht
einmal über den Begriff „christlich“ in Ihren Parteina-
men nachdenken.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die
Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor-
sieht und eine Gleichstellung schafft. Er ist im Bundesrat
von allen Ländern unterstützt worden, in denen Grüne
und SPD zusammen regieren.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806316100

Herr Kollege, der letzte Satz war schon längere Zeit

angekündigt. Er muss jetzt auch erfolgen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ja. – Deswegen bitten wir Sie: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu. Denn nur so kriegen wir wirklich ein
Gesetz, das der Verfassung entspricht, Bürokratie abbaut
und die entwürdigende Diskriminierung von Asylbewer-
berinnen und Asylbewerbern tatsächlich abschafft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806316200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für

die Sozialdemokraten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1806316300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meinem Vorredner will ich zum Thema „Respekt“ Fol-
gendes sagen: Ich verstehe, dass man immer noch mehr
wollen kann. Auch ich kann mir noch viele Dinge vor-





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

stellen, was wir tun können, um die soziale Situation von
Flüchtlingen in unserem Land zu verbessern. Aber ich
fände es auch ein Zeichen von Respekt, wenn Sie aner-
kennen, dass wir die Bedingungen des Bundesverfas-
sungsgerichts umgesetzt haben, dass wir jetzt einen rich-
tig großen Schritt machen und an sechs Punkten die
Situation von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in
unserem Land deutlich verbessern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die Anhörung am Montag hat eindeutig ergeben, dass
wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu
eins umgesetzt haben. Die Experten haben gesagt, das
sei angemessen und richtig umgesetzt. Die Sätze sind
nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermit-
telt worden.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Inklusive Praxisgebühr?)


Das ist ein wichtiger erster Schritt, dieses Urteil umzu-
setzen.

Die Anhörung hat auch ergeben – den Punkt will ich
noch einmal aufgreifen –, dass wir uns beim Thema Ge-
sundheitsleistungen – da sind wir uns sicherlich einig –
in der Tat Verbesserungen vorstellen können. Wir haben
darüber sehr konkret mit dem Experten der AOK Bre-
men diskutiert. Dazu gehört etwa die Idee, dass die Ge-
sundheitsleistungen von Asylbewerberinnen und Asyl-
bewerbern über Krankenkassen abgerechnet werden.
Diese Sache finden wir gut. In diese Richtung müssen
wir gemeinsam mit den Ländern gehen.


(Beifall bei der SPD)


Ich muss aber auch deutlich sagen: Wir verbessern
jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz die Notfallhilfe,
indem wir für Notfallsituationen regeln, dass die Träger
das Geld für die entstandenen Kosten direkt an Kranken-
haus oder Arzt überweisen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Ich will aber auch deutlich sagen – das habe ich in der
ersten Lesung schon einmal getan –: Was an schreckli-
chen Fällen in Flüchtlingsheimen passiert ist – da wurde
kein Arzt gerufen –, ist auch schon nach heutiger Geset-
zeslage rechtswidrig. In Notfallsituationen haben selbst-
verständlich Flüchtlinge Anrecht auf medizinische Be-
handlung in Deutschland.

Ein dritter Punkt aus der Anhörung ist mir wichtig; er
betrifft das, was wir aus der Stadt Dortmund gehört ha-
ben. Die Stadt Dortmund zählt sicherlich nicht zu den
reichsten Städten.


(Zustimmung des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Der Kollege darf zustimmend nicken, weil er von dort
kommt. – Diese Stadt verfolgt seit vielen Jahren die
Politik, die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen.
Sie hat damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Dort
gibt es keine Konflikte, weil die Privatsphäre gewahrt
wird und weil Gemeinschaftsaktivitäten auf freiwilliger
Basis angeboten werden.
Diese Unterbringung in Wohnungen ist ein erstre-
benswertes Ziel, weil es damit auf der kommunalen
Ebene so positive Erfahrungen gibt. Jetzt braucht man
sicherlich noch eine Zeit lang Gemeinschaftseinrichtun-
gen, da die Zahl der Flüchtlinge höher ist. Die Unterbrin-
gung in Wohnungen ist aber ein ganz entscheidender
Schritt in Richtung einer positiven Integration.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806316400

Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischen-

frage oder eine Anmerkung des Kollegen Kurth?


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1806316500

Ja, selbstverständlich.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806316600

Liebe Kerstin Griese, es freut mich, dass das Beispiel

Dortmund genannt wurde. Die Stadt versucht in der Tat,
Flüchtlinge nicht in Sammelunterkünften, sondern in
Wohnungen unterzubringen.

Allerdings muss ich dann doch die Frage stellen, wa-
rum denn zum Beispiel die Kosten für die Unterbringung
weiterhin als Sachleistungen erbracht werden sollen.
Können Sie das einmal begründen? Wenn die Unterbrin-
gung in Wohnungen in Ihren Augen eine so vorbildliche
Praxis ist, müsste doch der gesetzliche Rahmen entspre-
chend gestaltet werden.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1806316700

Herr Kollege Kurth, herzlichen Dank für diese Frage;

denn sie gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass
wir noch die Protokollerklärung des Bundesrates umset-
zen werden. Diese sieht vor, dass wir dort Geldleistun-
gen explizit vor Sachleistungen verankern werden, dass
wir dort die Residenzpflicht aufheben werden – das ist
eine ganz wichtige Sache für das praktische Leben der
Asylbewerberinnen und Asylbewerber in unserem Land –
und dass wir außerdem mit einer Verwaltungsverord-
nung die sogenannte Vorrangprüfung bei einem Arbeits-
platz abschaffen werden.

Das werden ganz wichtige Dinge sein, um das Leben
der Flüchtlinge im Alltag bei uns zu verbessern. Es geht
immer um zwei Dinge: darum, dass sie gut und anstän-
dig wohnen können, und darum, dass sie möglichst früh
anfangen können, sich einen Arbeitsplatz zu suchen und
zu arbeiten. Denn das ist das Wichtigste, um sich in die-
sem Land zu integrieren. Mit Arbeit kann man seinen
Unterhalt sichern, was sich positiv auf das Selbstbe-
wusstsein auswirkt. Insofern sind das richtige Schritte.

Ich möchte Ihnen noch Folgendes kurz zu Dortmund
sagen: Ich bin sehr froh, dass das Land Nordrhein-West-
falen auf seinem Flüchtlingsgipfel beschlossen hat, die
Landespauschale für die Leistungen zu erhöhen. Damit
werden die Kommunen in ihren Bemühungen unterstützt
– gerade Kommunen wie Dortmund brauchen das –, um
die Flüchtlinge ordentlich unterzubringen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das reicht hinten und vorne nicht! In Bayern übernimmt das die Kerstin Griese Landesregierung! Nordrhein-Westfalen zahlt nur 20 Prozent!)





(A) (C)


(D)(B)


Dafür wird die Pauschale jetzt erhöht. Das ist ein ganz
wichtiger Schritt. Der Flüchtlingsgipfel, der dort abge-
halten wurde, war ein wichtiges Vorbild, wie man das in
anderen Bundesländern machen könnte.


(Beifall bei der SPD)


Ich will noch einen weiteren Punkt aus der Anhörung
deutlich machen. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz
ist nicht dafür da, Migration zu steuern – weder nach
oben noch nach unten. Das Asylbewerberleistungsgesetz
ist für die individuellen Leistungen und die individuellen
Bedarfe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber da.
Es ist aber nicht dazu da, Migration zu regulieren.

Dass es Veränderungen bei den Wanderungsbewegun-
gen und Fluchtbewegungen auf dieser Welt gibt, hat mit
den schlimmen weltweiten Krisen zu tun. Das sieht man
allein daran, dass die meisten Flüchtlinge derzeit aus Sy-
rien kommen. Die Veränderungen sind auch durch den
Jahresverlauf bedingt. Mir ist wichtig, festzuhalten: Mit
dem Asylbewerberleistungsgesetz machen wir keine Mi-
grationspolitik, indem wir Zuwanderung regeln, sondern
wir regeln die soziale Situation und die Absicherung der
Flüchtlinge in unserem Land.


(Beifall bei der SPD)


Wir verbessern die Situation in sechs Bereichen: Wir
heben die Bedarfssätze an, wir verkürzen die Wartefrist,
Kinder und Jugendliche werden Bildungs- und Teilhabe-
leistungen erhalten, sie werden nicht mehr sanktioniert,
wenn ihre Eltern Verstöße begehen, und wir nehmen Op-
fer von Menschenhandel und bestimmte Gruppen, die
geduldet werden, aus dem Gesetz heraus, sodass sie
heute schon Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII er-
halten. Dadurch entlasten wir die Kommunen erheblich.
Wir führen außerdem eine Regelung ein, die in medizini-
schen Notfällen sehr schnell die Finanzierung sichert.

Das sind gute Schritte. Es werden noch weitere fol-
gen. Die wichtigsten sind für mich, dass wir ermögli-
chen, dass Flüchtlinge bei uns schneller arbeiten können.
Auch die Unterbringung in guten Wohnungen hatte ich
erwähnt. Wir werden außerdem die Residenzpflicht ab-
schaffen und den Vorrang von Geldleistungen vor Sach-
leistungsbezug ermöglichen. Das ist eine ganze Menge.
Damit zeigen wir, dass wir ein Land sind, das Flücht-
linge, die aus Situationen schwerster Bedrohung zu uns
kommen, willkommen heißt. In diesem Zusammenhang
danke ich allen, die sich ehrenamtlich vor Ort engagie-
ren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806316800

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus

Strebl.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1806316900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir beraten heute abschließend über den Ge-
setzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsge-
setzes und des Sozialgerichtsgesetzes. Wir befassen uns
des Weiteren mit einem Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der Fraktion
Die Linke, in denen die Aufhebung des Asylbewerber-
leistungsgesetzes gefordert wird.

Seit der ersten Beratung haben wir eine Reihe von
Fachleuten zurate gezogen. Die öffentliche Anhörung
mit den Sachverständigen am vergangenen Montag hat
vor allem eines bestätigt: Wir müssen die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Gewähr-
leistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum, die Anhebung der Geldleistungen
und die Erhöhung der Transparenz bei der Berechnung
von Leistungen, zeitnah umsetzen. Mit der heutigen Ver-
abschiedung werden wir das auch tun. Dieser Verpflich-
tung kommen wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung nach. Wir gewährleisten insbesondere das
Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzmini-
mum für die Asylbewerber in Deutschland. Das halte ich
für zweifelsfrei wichtig und richtig.

Erneut lehnen wir die Vorlagen der Opposition ab, in
denen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgeset-
zes gefordert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seiner Entscheidung gerade nicht die Abschaffung des
Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es hat das offen gelassen!)


Die Situation der Empfänger von Leistungen gemäß So-
zialgesetzbuch II ist zweifelsfrei eine andere als von
Flüchtlingen. Bei vielen Flüchtlingen ist schlichtweg un-
klar, ob und wie lange sie eine Bleibeperspektive in
Deutschland haben. Würde das Sozialgesetzbuch II auch
für Asylbewerber gelten, müssten die ganzen arbeits-
marktpolitischen Instrumente auch für sie zur Verfügung
stehen, egal ob der Aufenthaltsstatus geklärt wurde oder
nicht. Das erscheint mir nicht nachvollziehbar.

Das Recht auf Asyl in Deutschland ist im Grundge-
setz Artikel 16 a verankert. Dieses Recht und die daraus
resultierende Verantwortung wollen und werden wir den
verfolgten Menschen weiterhin garantieren. Wir dürfen
bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass
Deutschland für viele Flüchtlinge ein bevorzugtes Asyl-
land ist. Dafür sprechen auch die sogenannten Pull-Fak-
toren, wie gute Arbeitsbedingungen, gute Arbeitsmarkt-
chancen, stabile Verhältnisse und Religionsfreiheit.
Deshalb sage ich klar und deutlich: Die finanziellen
Leistungen für Asylbewerber dürfen keine Anreize für
eine verstärkte Armutszuwanderung sein.

Bestätigt wurde uns in der öffentlichen Anhörung
auch, dass die Zahl der Anträge auf Asyl unmittelbar
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestie-
gen ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fängt er auch noch an!)






Matthäus Strebl


(A) (C)



(D)(B)

Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge stieg die Zahl der Asylanträge – Frau Kolle-
gin Eckenbach hat es heute schon gesagt – von Flücht-
lingen aus den Westbalkanstaaten.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieses Argument darf hier keine Rolle spielen!)


– Die Zahlen belegen das. Passen Sie auf! – Die Zahl der
Asylanträge stieg von 770 Anträgen im Juni 2012 auf
1 163 im August und 6 977 im Oktober des gleichen
Jahres. Die Zahl der Anträge hat sich also innerhalb kür-
zester Zeit fast verzehnfacht.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Gründe hat das denn? Das müssen Sie einmal überlegen!)


Auch wenn sich die Zahl der Asylanträge bekannterma-
ßen im Herbst erhöht – das wissen wir –, kann ange-
sichts dieser Zahlen nicht ausschließlich von einem jah-
reszeitbedingten Anstieg gesprochen werden.

Im Rahmen der Asylpolitik hat sich der Bundestag
mit den verschiedensten Fragestellungen beschäftigt.
Dabei ging es insbesondere um die Frage der sicheren
Herkunftsstaaten, um die Residenzpflicht oder auch um
die Entscheidung für oder gegen Sachleistungen. In die-
sem Zusammenhang hat man auch auf die gestiegene
Zahl der Asylanträge reagiert.

Ich bin mir sicher, dass wir aufgrund der weltweiten
Krisenherde auch in Zukunft über asylrechtliche Proble-
matiken diskutieren werden. Deshalb appelliere ich an
alle, sich der Flüchtlingspolitik verantwortungsvoll zu
widmen. Mit der Abschaffung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes ist niemandem gedient, es muss vielmehr
mit Leben ausgefüllt werden. Wir werden dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes daher zustimmen und damit die
Situation vieler Asylbewerber in Deutschland verbes-
sern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806317000

Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist der

Kollege Josip Juratovic.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1806317100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleis-
tungsgesetz endlich umgesetzt wird. Ich wage einmal zu
sagen: Es war auch Zeit.

Wir alle haben die Berichte über Vorfälle in Asylbe-
werberheimen mitbekommen. Die Vorfälle sind beschä-
mend und einer modernen Gesellschaft wie unserer
unwürdig. Umso wichtiger ist es, die Arbeit der Ehren-
amtlichen rund um Flüchtlingsheime zu erwähnen. Sie
dienen als großes Vorbild für unsere gesamte Gesell-
schaft. Die Ehrenamtlichen und auch die Angestellten
sorgen dafür, dass die Ersterfahrung der Flüchtlinge mit
unserem Land positiv ist. Sie sorgen dafür, dass die An-
kommenden Vertrauen in unseren Staat fassen und sich
auch langfristig als Teil unserer Gesellschaft fühlen. Sie
sind offen dafür, dass sich unser Zuhause durch die Zu-
züge positiv verändert. Sie sind diejenigen, die das neue
deutsche Wir leben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestags-
fraktion möchte ich, dass wir uns diese Menschen auch
in der Politik zum Vorbild nehmen. Ihre Offenheit und
Hilfsbereitschaft muss unser Ziel und das Maß unseres
Handelns sein. Das betrifft die Freizügigkeit innerhalb
der EU, über die wir gerade gesprochen haben, genauso
wie die Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die in dem
aktuellen Asylbewerberleistungsgesetz behandelt wer-
den.

Meine Vorrednerinnen haben die wichtigen Neuerun-
gen im Asylbewerberleistungsgesetz vorgestellt. Ich
werde deshalb nur ganz kurz die Neuerungen nennen,
die mir persönlich besonders am Herzen liegen: die Ver-
kürzung des Asylbewerberleistungsbezugs, die Verbes-
serungen bei der medizinischen Versorgung und insbe-
sondere die Aufnahme der Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets in das Asylbewerberleistungsgesetz.

Diese und andere kleine Schritte sind zusammen ein
großer Schritt, um den Menschen, die neu in Deutsch-
land ankommen, von Beginn an das Gefühl zu vermit-
teln, dass das, wonach sie sich am meisten gesehnt ha-
ben, hier tatsächlich möglich ist: ein menschenwürdiges
Leben für alle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn alle Neuankommenden dieses Gefühl vermittelt
bekommen, haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Dann
haben wir unser Land, was das weltweite Ansehen be-
trifft, ein Stück weitergebracht, und dann haben wir als
Vorbild für den zwischenmenschlichen Umgang dem
Weltfrieden einen großen Dienst erwiesen.

Daher bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806317200

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1806317300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wir novellieren das Asylbewerberleistungs-





Dr. Martin Pätzold


(A) (C)



(D)(B)

gesetz, weil wir dazu den Auftrag des Bundesverfas-
sungsgerichtes haben und weil wir auf die Herausforde-
rungen in der Welt, die uns in Deutschland betreffen,
reagieren. Dieses Jahr werden über 200 000 Flüchtlinge
nach Deutschland kommen. Alleine von Januar bis Sep-
tember dieses Jahres waren es 163 000 Menschen, die
hier einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir er-
leben, dass die Konflikte, die es im Irak, in Syrien, im
Nahen Osten im Allgemeinen und in den ehemaligen
Republiken der Sowjetunion gibt, natürlich auch Aus-
wirkungen auf die Politik hier in Deutschland haben.
Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir dieses Ge-
setz novellieren und deutliche Verbesserungen beschlie-
ßen.

Aus meiner Sicht sind vor allen Dingen drei Punkte
von Bedeutung – vieles wurde ja schon angesprochen –,
auf die ich als letzter Redner eingehen möchte und die
mir mit Blick auf diese Gesetzesinitiative besonders
wichtig sind, da wir den Betroffenen dadurch, wie ich
glaube, helfen.

Erstens. Im Hinblick auf das Bildungs- und Teilhabe-
paket beschließen wir, dass es eine verbindliche Unter-
stützung der Kinder von Flüchtlingen geben wird. Vor-
her war das eine Entscheidung, die von den Ländern
teilweise unterstützt wurde. Jetzt gibt es einen Rechtsan-
spruch darauf. Das stärkt die Integration im lokalen
Raum. Deswegen finde ich persönlich, dass das eine
wichtige und gute Sache ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens. Wir verkürzen die Dauer der Vorläufigkeit
auf 15 Monate. Auch hier ist es wichtig, den Übergang
zu organisieren. Deswegen ist es gut, dass wir die Dauer
der Vorläufigkeit deutlich reduzieren und auf 15 Monate
festlegen.

Auch der dritte Punkt ist wichtig, gerade für uns als
christliche Partei – es wurde schon angesprochen, dass
für uns die Prinzipien Subsidiarität, Solidarität und Per-
sonalität von besonderer Bedeutung sind –: Da es auch
um Eigenverantwortung geht, ist es richtig, dass wir ei-
nen Freibetrag festlegen, dass es Freigrenzen gibt und
dass auch für Flüchtlinge die Möglichkeit besteht, Geld
anzusparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann kann man nämlich selbst entscheiden, welche Aus-
gaben man tätigt.

Die Frage, die wir in dieser Diskussion andauernd hö-
ren, lautet: Ist es menschenwürdig, wie wir Flüchtlinge
unterbringen, oder nicht? Da gibt es den Bundesgesetz-
geber – das sind wir Abgeordnete –, der eine Verantwor-
tung hat. Da gibt es aber auch Länder und Kommunen,
die hier in der Verantwortung stehen.

Ich war in der letzten Woche im Nahen Osten, unter
anderem in Jordanien und Israel, und konnte sehen, wie
Flüchtlinge dort untergebracht werden. Alleine Jorda-
nien, ein Land mit ungefähr 6 Millionen Einwohnern,
hat 620 000 Syrer aufgenommen. Erstens können wir
dankbar sein, dass ein Land wie Jordanien Verantwor-
tung übernimmt. Zweitens müssen wir aber feststellen,
dass die Standards dort andere sind als bei uns. Das wird
klar, wenn man sich diese Zahl vor Augen führt. Das
wird aber auch klar, wenn man weiß, wie die wirtschaft-
lichen Verhältnisse vor Ort sind. Wenn das der Bezugs-
punkt ist, dann sieht man, wie viel unsere Gesellschaft
für diejenigen leistet, die hier Hilfe suchen. Wir leisten
auch deswegen so viel, weil wir eine historische Verant-
wortung und eine humanitäre Verantwortung haben.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mir persönlich ist wichtig – das habe ich bereits ange-
sprochen –, dass wir als Gesetzgeber nicht nur einen
menschenwürdigen Rahmen festsetzen, sondern dass wir
auch die gesamte Gesellschaft und die Zivilgesellschaft
zur Unterstützung ermutigen. In meinem Wahlkreis
Lichtenberg im Berliner Norden ist es gelungen, mit der
Zivilgesellschaft ordentlich und vernünftig zusammen-
zuarbeiten und dafür zu sorgen bzw. zu werben, dass es
auch zu einer Beteiligung vor Ort kommt. So gibt es bei-
spielsweise Deutschkurse, die von Menschen im Ren-
tenalter geleitet werden, die dadurch die Kompetenzen,
die sie erworben haben, weitergeben.

Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und Aner-
kennung dafür, dass es uns gelingt, Flüchtlinge vernünf-
tig zu integrieren. Ich beispielsweise sammle immer zu
Weihnachten mit einem Einzelhändler vor Ort Ge-
schenke für Flüchtlingskinder; das werde ich auch dieses
Jahr machen. Jeder kann einen Beitrag dazu leisten, dass
es in unserem Land in sozialer Hinsicht besser zugeht.
Auch mit diesem Gesetzentwurf leisten wir als Bundes-
tagsabgeordnete dazu einen vernünftigen Beitrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806317400

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des
Sozialgerichtsgesetzes. Dazu liegt mir eine Reihe von
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/3073, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/2592 und 18/3000 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-

1) Anlage 5





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)

entwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 b. Ab-
stimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Asylbewerber-
leistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/3073, den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/2736 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 c. Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
tel „Sozialrechtliche Diskriminierung beenden –
Asylbewerberleistungsgesetz aufheben“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3073, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/2871 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbe-
trieb schaffen

Drucksache 18/2881
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Ulle Schauws von Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806317500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste, die ich heute be-
sonders begrüßen möchte! Kultur lebt von Vielfalt, und
auf unsere kulturelle Vielfalt sind wir in Deutschland be-
sonders stolz – zu Recht.

Aber Vielfalt heißt nicht nur Auswahlmöglichkeiten
aus einem möglichst breiten kulturellen Angebot. Nein,
das heißt auch, die Unterschiedlichkeit in der Kultur zu
fördern. Kunst als gesellschaftlicher Spiegel gewinnt
durch die Vielfalt der verschiedenen Blickwinkel. Kunst
gewinnt durch die unterschiedlichen Perspektiven derer,
die sie machen.

Darum müssen Frauen in allen Bereichen der Kunst
und Kultur selbstverständlicher Teil sein, genauso wie
Männer. Aber genau da liegt das Problem. Fakt ist: 2014
sind weder Bezahlung, Arbeit oder Macht bei den circa
1 Million Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirt-
schaft in Deutschland gerecht verteilt. Frauen haben hier
– und ich rede von der bestausgebildetsten Frauengene-
ration, die es je gab – nach wie vor das Nachsehen. Für
den Kulturbetrieb gilt das Gleiche wie für die Wirt-
schaft: Je höher Gehalt, Ansehen oder Funktion einer
Stelle, desto geringer ist der Frauenanteil. Die Schieflage
besteht – ich betone es nochmals – trotz einer steigenden
Anzahl von Absolventinnen in den künstlerischen Studi-
engängen. Im Kulturbetrieb herrscht ein großes Un-
gleichgewicht in der Stellenverteilung zwischen Frauen
und Männern, insbesondere in Leitungen bei Theatern,
Orchestern und auch in den Film- und Fernsehproduktio-
nen.

Aktuell macht die Initiative Pro Quote Regie deutlich,
wie stark diese Missstände sind: Im letzten Jahr waren
unter den 115 aus dem Deutschen Filmförderfonds un-
terstützten Projekten nur 13 Projekte von Regisseurin-
nen. In Euro heißt das: 62 Millionen Euro Fördergelder
für Männer gegen 6 Millionen für Frauen. Das heißt, we-
niger als 10 Prozent der Mittel gingen an Regisseurin-
nen. Und was glauben Sie wohl, wie viele der Folgen der
beliebtesten deutschen Krimiserie Tatort 2013 unter der
Regie einer Frau gedreht wurden? 3 von 82. Unglaub-
lich, oder?

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ver-
pflichtet die Bundesregierung zur Förderung der tatsäch-
lichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen
und Männern. Das gilt auch für den Kulturbetrieb. Die
Bundesregierung steht somit auch in der Verantwortung,
Frauen in öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen
und Projekten zu unterstützen. Wir fordern Sie daher
auf: Verteilen Sie die öffentlichen Gelder geschlechter-
gerecht!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Die Förderkriterien für den Etat der Beauftragten für
Kultur und Medien müssen sich für Frauen und Männer
gleichermaßen gut auswirken; darum müssen Sie sie an-
passen.

Man sollte meinen, 2014 sei es selbstverständlich,
dass Jurys zur Hälfte aus Frauen bestehen. Das ist leider
eine Illusion. Deshalb wollen wir eine 50/50-Besetzung
aller Gremien aus dem Hause der BKM, die Fördergel-
der vergeben, und wir brauchen eine paritätische Ge-
schlechterverteilung bei der Vergabe von Förderprojek-
ten und Preisen durch Jurys. Hier sollten nur in
begründeten Einzelfällen Ausnahmen möglich sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])






Ulle Schauws


(A) (C)



(D)(B)

Und, meine Damen und Herren, es kann ja wohl nicht
sein, dass die Daten zur Situation von Frauen und Män-
nern im Kulturbetrieb 15 Jahre alt sind. Da ist das Weg-
sehen der Bundesregierung quasi symbolisch. Diesen
Mangel müssen Sie beheben.

Ich höre die Kritikerinnen und Kritiker schon stöh-
nen: Jetzt auch noch eine Quote für den Kulturbetrieb!
Wenn es um Inhalt, Talent und künstlerische Freiheit
geht, setze sich Qualität schon durch, heißt es ja gerne.
Nein, sagen wir, das ist kein Argument. Künstlerische
Produktionen von Frauen leiden doch nicht an Qualitäts-
mangel. Künstlerinnen leiden unter den Strukturen in ei-
nem System, das ihnen Chancen verwehrt. Eine Quote
bringt mehr künstlerische Freiheit, sie schützt die Frei-
heit der Kultur.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir wissen: Freiwillige Vereinbarungen und unver-
bindliche Regelungen haben für Frauen in der Wirtschaft
bislang nichts verbessert. Darum fand ich es schon ganz
schön hanebüchen, wie Sie von der CSU immer noch
verzweifelt versuchen, die Frauenquote in der Wirtschaft
noch mal zu verzögern.

Dass Erfolge hingegen durch verbindliche Vorgaben
erzielt werden können, dafür gibt es gute Beispiele.
Schweden hat 2012 eine Quote für die Filmförderung
eingeführt. 40 Prozent des Filmförderbudgets werden
seitdem in den Positionen Regie, Drehbuch und Produk-
tion an Frauen vergeben. So sieht für uns eine erfolgrei-
che Film- und eine geschlechtergerechte Kulturförde-
rung aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, es geht um die Chancen-
gleichheit für Frauen. Es geht nicht darum, ob Frauen
und Männer besser oder schlechter arbeiten. Es geht um
gleiche Arbeitsmöglichkeiten und gleiche Aufstiegs-
chancen. Es geht um eine gerechte Verteilung von Geld
und Perspektiven. Wenn wir als Bundespolitikerinnen
und Bundespolitiker zulassen, dass der Kulturbetrieb
einseitig gefördert wird, dass er selbstverständlich von
Männern dominiert wird, bringen wir die Kultur um die
Chancen der Vielfalt. Es kann doch nicht sein, dass mög-
lichst viele Frauen Kultur konsumieren, aber möglichst
wenige Frauen selbst gestalten und entscheiden können.

Wir wollen die ungerechte berufliche Benachteili-
gung von Frauen beenden. Wir wollen, dass Frauen in
Kulturbetrieben selbstverständlich sind, dass unser Mei-
nungsbild durch weibliche Vielfalt bereichert wird, dass
sich die Pluralität unserer Gesellschaft hier abbildet. Wir
wollen das kreative Potenzial von Frauen nicht verpas-
sen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806317600

Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin

Dr. Herlind Gundelach.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1806317700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Ko-
alition hat in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich fest-
gehalten, dass die Gleichstellung von Frauen und Män-
nern für uns eine hohe Priorität hat. Wir haben schon
wichtige Punkte beschlossen und bringen derzeit weitere
wichtige Gesetze auf den Weg. Allein in dieser Woche
werden wir das Elterngeld Plus in zweiter und dritter Le-
sung beraten. Die flexibleren Lösungen beim Elterngeld
und bei der Elternzeit bedeuten für viele Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer eine ganz erhebliche Er-
leichterung.

Jede Frau und jeder Mann sollten grundsätzlich jeden
Beruf ergreifen können. Das müssen wir ihnen ermögli-
chen. Das ist für mich Gleichstellung. Ich weiß aber
auch, dass das einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Für
mich bedeutet Gleichstellung außerdem, dass Frauen
und Männer für die gleiche Arbeit auch den gleichen
Lohn bekommen. Die Problematik der Entgeltgleichheit
ist übrigens besonders paradox; denn in der Praxis sind
Frauen häufig besser ausgebildet, haben oft die besseren
Noten und bekommen trotzdem weniger Gehalt für die
gleiche Arbeit. Das ist auf Dauer nicht zu akzeptieren.

Für mich bedeutet Gleichstellung aber auch, dass
Frauen ihre Entscheidungsfreiheit nicht selber begren-
zen. Ich war immer eine berufstätige Mutter. Ich weiß,
dass es für Frauen reale Barrieren in der Berufswelt gibt.
Aber es ist auch entscheidend, ob wir diese als Frauen
hinnehmen oder aktiv dagegen angehen. Ich beobachte
nämlich auch, dass junge Frauen oftmals Berufe danach
auswählen, ob sie geeignet sind, Familie und Beruf mit-
einander zu verbinden. Das ist selbstverständlich absolut
legitim; aber ich möchte Frauen ausdrücklich dazu er-
mutigen, ihre Wünsche laut zu äußern und sich selber zu
erlauben, reale Entscheidungsfreiheit zu leben.

Die Grenzen, die Frauen im Berufsleben erleben, sind
über viele Jahrzehnte durch Geschlechter- und Rollen-
bilder entstanden und gewachsen. Wenn Frauen sich sel-
ber begrenzen, dann zementieren sie diese Bilder, und
wir werden weiterhin zwischen Frauen- und Männerbe-
rufen unterscheiden.

Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl ge-
macht: Ich bin eigentlich keine Befürworterin der Quote.
Aber wie die Erfahrung zeigt, ist sie zum jetzigen Zeit-
punkt leider immer noch notwendig. Es wäre aber falsch,
zu glauben, dass wir dadurch die Geschlechter- und Rol-
lenbilder ändern können; denn das können nur wir
selbst. Das fängt früh an, nämlich schon in der Art, wie
wir unsere Kinder erziehen. Da finde ich übrigens selbst
bei manchen Feministinnen ganz traditionelle Erzie-
hungsmuster. Also, es gibt genug zu tun.

Es gibt aber Branchen – ich glaube, darin sind wir uns
einig –, in denen die Verbesserung der Arbeitsbedingun-





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)

gen und auch der Karrierechancen für Frauen nicht so
einfach umzusetzen ist, wie wir das gerne hätten. Eine
dieser Branchen ist zweifellos der Kulturbereich. Grund-
sätzlich begrüße ich daher den Antrag der Grünen, der
die Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb themati-
siert. Ich bin aber doch etwas verwundert darüber, dass
der Antrag die besonderen Aspekte dieser Branche aus
meiner Sicht überwiegend verkennt, dass dieser Antrag
Themen adressiert, bei denen der Bund schlichtweg der
falsche Ansprechpartner ist, und dass dieser Antrag die
künstlerische Freiheit zum Teil völlig außer Acht lässt.
So können und so sollten wir die Verbesserung der Ar-
beitsbedingungen von Frauen im Kulturbereich nicht er-
reichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
sprechen in Ihrem Antrag explizit durch Bundesmittel
geförderte Filmprojekte an. Ja, es ist schade, dass die
Zahl der Filme von Regisseurinnen niedriger ist als die
von Regisseuren. Ich würde aber keine Kausalität zwi-
schen Geschlecht und Förderung unterstellen. Das halte
ich in diesem Fall schlichtweg für falsch.

Einen ähnlichen Zusammenhang stellen Sie auch bei
Theaterinszenierungen fest. Ja, die Stücke beim Berliner
Theatertreffen haben zu großen Teilen männliche Regis-
seure. Auch wenn ich die Spielpläne der deutschen The-
aterlandschaft insgesamt durchforste, stelle ich fest: Die
meisten Stücke werden von Männern inszeniert. Aber
ich stelle auch fest, dass es immer mehr Autorinnen und
mehr weibliche Bühnen- und Kostümbildner und auch
Co-Regisseurinnen gibt, vor allem an vielen kleineren,
aber auch durchaus bedeutenden Theatern. Dass vor al-
lem auch Intendantinnen wie Karin Beier und Shermin
Langhoff besondere Aufmerksamkeit bekommen, ist
zweifellos richtig und geschieht meiner Meinung nach
völlig zu Recht. Denn diese Frauen leisten großartige
Arbeit.

Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch eine
Bemerkung machen. Wenn ich mir in den letzten Jahren
beim Berliner Theatertreffen manche Stücke angeschaut
habe, konnte ich zum Teil Geschlechterbilder erkennen,
die mir sonst eher durch meine Großmutter vorgelebt
worden waren. Aber diese Inszenierungen wurden gefei-
ert, und zwar von beiden Geschlechtern. Das ist auch in
Ordnung; denn über Geschmack lässt sich bekanntlich
nicht streiten. Vielleicht müssen wir eher die Rollenbil-
der in der Gesellschaft hinterfragen. Warum finden auch
Frauen solche klischeehaften Darstellungen gut? Aber
an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen: Für In-
szenierungen und Produktionen muss die künstlerische
Freiheit immer oberstes Gebot bleiben.

Berufe im Kunst- oder Kulturbereich haben meistens
besondere Arbeitsbedingungen, die sich nicht wegdisku-
tieren lassen. Manche Theater haben zum Beispiel Haus-
regisseure. Diese inszenieren dann vielleicht drei Stücke
in einer Spielzeit und sind somit schätzungsweise sechs
Monate eines Jahres an einen Ort gebunden. Die aller-
meisten Regisseure inszenieren aber im gesamten
deutschsprachigen Raum und sind so meist nicht länger
als zwei Monate in einer Stadt.
Ich glaube nicht, dass bei der Verpflichtung eines Re-
gisseurs das Geschlecht grundsätzlich eine Rolle spielt.
Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei
der Berufswahl in diesem Fall ganz sicher eine Rolle.
Denn Regisseurinnen und Regisseuren hilft auch eine
Kita mit den besten Öffnungszeiten nichts, wenn sie alle
zwei Monate umziehen müssen. Dann ist die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf schwer zu erreichen. Ähnli-
che Probleme haben übrigens beispielsweise auch freie
Bühnen- und Kostümbildner.

Die in dieser Woche zu beschließenden Änderungen
beim Elterngeld Plus können für diese Frauen Erleichte-
rung schaffen. Ich bin daher froh, dass wir damit mehr
Flexibilität für alle schaffen. Denn so können nicht nur
Frauen, sondern auch Paare im Kulturbereich ihre El-
ternzeit an die besonderen Gegebenheiten ihrer Berufe
anpassen.

Meine Damen und Herren, Quoten im Kulturbereich
können beim besten Willen kein Weg sein. Wenn Men-
schen mehr Bilder von männlichen Malern kaufen, ob-
wohl es genauso viele weibliche wie männliche Maler
gibt, können wir ihnen letztendlich nichts anderes vor-
schreiben. Wir können den Geschmack nicht beeinflus-
sen. Deswegen finde ich Ihre Vorschläge für die Vergabe
von Preisen oder die Zusammenstellung von Ausstellun-
gen nicht zielführend, vor allem, da selbstverständlich
im Bereich der institutionellen Förderung durch Bund
und Länder gleichermaßen – darauf haben auch Sie ab-
gehoben – das Gleichstellungsgesetz und die Gremien-
besetzungsgesetze durchaus Anwendung finden. Hier
setzen wir uns für weitere Verbesserungen ein. Eine No-
vellierung dieser Gesetze ist in Arbeit.

Außerdem sind die dauerhaft durch den Bund geförder-
ten Einrichtungen gehalten, die Gleichstellungsanforderun-
gen zu beachten. Auch gibt es konkrete Projektförderung
mit frauenspezifischem Hintergrund. Ich bin durchaus
dafür, dass solche Dinge ausgeweitet werden.

Ich bin auch Ihrer Auffassung, dass es mit Blick auf
weitere Maßnahmen, die zu ergreifen sind, vielleicht
ganz sinnvoll wäre, zu einer Aktualisierung der Daten zu
kommen. Sie sind in der Tat etwas zu alt, um von der
heutigen Warte aus ein Urteil darüber zu erlauben, was
tatsächlich nottut.

Aber für mich und, wie ich glaube, auch für die CDU/
CSU insgesamt ist es ganz wichtig, dass im Bereich der
Kunst immer künstlerische und kulturelle Kriterien maß-
geblich sein müssen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806317800

Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Sigrid

Hupach.


(Beifall bei der LINKEN)



Sigrid Hupach (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806317900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Vielen Dank an die Kolleginnen und Kolle-





Sigrid Hupach


(A) (C)



(D)(B)

gen von Bündnis 90/Die Grünen, dass wir heute über das
wichtige Thema der Gleichstellung von Frauen im Kul-
turbetrieb debattieren können. Ihrem Antrag werden wir
zustimmen. Das haben wir schon in der letzten Legisla-
tur getan, als dieser Antrag das erste Mal eingebracht
wurde. Jetzt ist er bereichert um den aktuellen Aufruf
der Initiative Pro Quote Regie, einer Initiative von rund
200 Regisseurinnen, die sich für Gleichbehandlung ein-
setzen. Auch ich habe diesen Aufruf mit meiner Unter-
schrift unterstützt.

Gleichstellung im Kulturbetrieb, das sollte im Jahr
2014 eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber
der Kulturbereich ist von Gleichberechtigung von Mann
und Frau genauso weit entfernt wie unsere Gesellschaft
insgesamt. Es gibt eklatant zu wenige Frauen in Lei-
tungs- und Führungspositionen. Von Equal Pay kann keine
Rede sein. Frauen verdienen, wie bereits gesagt, im Kul-
turbereich im Durchschnitt wesentlich weniger als Män-
ner. Demzufolge sind Frauen in weit höherem Maße von
Altersarmut betroffen. Altersarmut in Deutschland ist
vorwiegend weiblich.

Im Kulturbereich gibt es traditionell einen hohen
Frauenanteil sowohl in der Ausbildung in Medien- und
Kulturberufen als auch bei den Beschäftigten. Zuneh-
mend ist dies im Journalismus so. Andere Bereiche wie
Bibliotheken oder Museen sind heutzutage nahezu Frau-
endomänen. „Viele Frauen“ ist aber nicht gleichzusetzen
mit „viele Frauen in wichtigen Entscheidungspositio-
nen“. In ihrer Halbzeitbilanz vom Juni 2014 stellt die
Initiative Pro Quote fest, dass der sogenannte Machtan-
teil von Journalistinnen bei fast allen großen Zeitungen
unter 30 Prozent liegt.

Was ist also zu tun? Der Antrag der Grünen zeigt ei-
nige Möglichkeiten auf. Wir brauchen belastbares Zah-
lenmaterial und Förderkriterien im Etat des Kapitel 5 des
Einzelplans 04, die eine geschlechterparitätische Ver-
gabe von Führungspositionen und Besetzungen von Or-
chestern, Ausstellungen und Jurys garantieren. Uns Lin-
ken geht das nicht weit genug. Die Linke ist für Pro
Quote. Damit ist aber nicht das auf wackeligen Beinen
stehende schwache Quotengesetz gemeint, das die Bun-
desregierung je nach Wirtschaftslage ab 2015 plant. Wir
als Linke fordern eine Mindestquotierung aller politi-
schen Mandate und öffentlichen Ämter von 50 Prozent


(Beifall bei der LINKEN)


sowie ein Gleichstellungsgesetz für die private Wirt-
schaft. Das bezieht auch den Kulturbereich ein, öffent-
lich gefördert oder nicht.

Es gibt also für die Bundesregierung viel zu tun. Ich
will hier nur einige Beispiele nennen, in denen ein zeit-
nahes Engagement der Koalition deutliche Verbesserun-
gen für Frauen nicht nur im Kulturbereich bewirken
würde:

Erstes Beispiel, faire und gleiche Entlohnung. Mit der
Einführung von Equal Pay in öffentlich geförderten Kul-
tureinrichtungen und Projekten kann die Bundesregierung
mit gutem Beispiel vorangehen und den Rechtsanspruch
auf gleiche Entlohnung bei gleicher oder gleichwertiger
Arbeit für Frauen durchsetzen. Dazu gehört ein durch-
setzungsstarkes Urhebervertragsrecht. Wir Linke haben
hierzu schon in der letzten Legislatur einen Gesetzent-
wurf eingebracht. Dazu gehört auch die Frauenquote.

Zweites Beispiel, soziale Absicherung. Der Koali-
tionsvertrag kündigt für Ende 2014 eine Anschlussregelung
zum Arbeitslosengeld-I-Bezug für kurzzeitig Beschäftigte
an, eine Regelung, die auch für viele Kulturschaffende
von großer Bedeutung ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Vorgelegt hat die Koalition aber nichts. Stattdessen wird
heute zu später Stunde in einem sogenannten Omnibus-
gesetz die Geltungsdauer der bestehenden ungenügen-
den Regelung um ein Jahr verlängert. Schade! Auch das
wäre eine Möglichkeit gewesen, die soziale Absicherung
im Kreativbereich zu verbessern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir Linke haben mit unserem Antrag „Kurzzeitig Be-
schäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversi-
cherung ermöglichen“ das vorgelegt, was die Koalition
verschlafen hat.

Weitere Beispiele, die zu nennen wären, sind die Aus-
stellungsvergütung, die Problematik der Mehrwertsteuer
im Kunsthandel und – last, but not least – der Gabriele-
Münter-Preis. Dieser europaweit einzigartige Preis für
Künstlerinnen über 40 Jahre kann seit 2010 nicht mehr
vergeben werden, weil sich das Bundesfamilienministe-
rium aus der Finanzierung zurückgezogen hatte. Nach
jahrelangem Ringen hat das Frauenmuseum in Bonn
jetzt vom Ministerium einen Bewilligungsbescheid er-
halten, um eine Vergabe des Preises für 2017 zu organi-
sieren, aber mit der Hälfte des Geldes. Sieben Jahre ohne
Preisvergabe und dann noch ein Sparpreis, das ist eine
Blamage. Kein Mann hätte sich das wohl ohne Protest
gefallen lassen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318000

Nächste Rednerin ist für die Sozialdemokraten die

Kollegin Hiltrud Lotze.


(Beifall bei der SPD)



Hiltrud Lotze (SPD):
Rede ID: ID1806318100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Besuchertribü-
nen! 65 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kann
von einer tatsächlichen Gleichstellung in vielen Berei-
chen unserer Gesellschaft nicht die Rede sein. Das ist ein
Fakt. Wenn es so weiterginge wie bisher, dann würden
wir wahrscheinlich auch 65 Jahre später uns alle einge-
stehen müssen, dass es mit gutmütigen Appellen und mit
Freiwilligkeit in der Privatwirtschaft nicht wirklich wei-
ter vorangeht.

Ich bin deswegen dankbar, dass wir mit Manuela
Schwesig eine kompetente und sehr hartnäckige Minis-
terin haben, die trotz heftigen Gegenwinds – jetzt zitiere





Hiltrud Lotze


(A) (C)



(D)(B)

ich den Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz – „auf die Besei-
tigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Deswegen ist
die Frauenquote ein immens wichtiger Beitrag zur
Gleichstellung von Frau und Mann.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Indikatoren der Ungleichstellung von Frau und
Mann, die wir in der Privatwirtschaft beobachten kön-
nen, gelten größtenteils auch für den Kunst-, Kultur- und
Medienbereich und sind uns mittlerweile mehr als gut
bekannt. Frauen verdienen für gleiche Arbeit weniger,
sie sind überdurchschnittlich von prekärer Beschäfti-
gung betroffen, und wir treffen sie viel seltener auf den
höheren Hierarchieebenen an, und das trotz nachweis-
lich vorhandener sehr guter Qualifikationen. Sie sind
auch noch viel stärker davon betroffen, dass sich nach
wie vor Familie und Beruf so schlecht miteinander ver-
einbaren lassen.

Es gibt aber eine Besonderheit im Bereich der Kultur-,
Kreativ- und Medienwirtschaft, nämlich die, dass gerade
hier die Möglichkeit für Frauen besonders groß ist, Kar-
riere zu machen, und zwar jenseits von tradierten
Berufsbildern, also typisch weiblichen und typisch
männlichen Berufen. Die Digitalisierung, über die wir
hier schon häufig intensiv gesprochen haben, verstärkt
diesen Effekt noch. Unter den Selbstständigen im Kul-
tur-, Medien- und Kreativbereich sind überdurchschnitt-
lich viele Frauen. Es zeigt sich aber auch, dass Frauen in
diesem Bereich besonders stark von Arbeitslosigkeit be-
troffen sind, jedenfalls stärker als Männer.

Wir können also sagen, dass der Kreativ-, Kultur- und
Medienbereich einerseits ein wichtiger und aus der Gen-
derperspektive eigentlich traumhafter Arbeitsmarkt für
Frauen ist, der im Übrigen ein großes Wachstums- und
Beschäftigungspotenzial aufweist. Deswegen arbeiten
wir intensiv am Kreativpakt. Er ist also eigentlich ein
traumhafter Arbeitsmarkt, der aber andererseits für
Frauen ein großes soziales Risiko birgt.

Wir haben in Regierungsverantwortung bereits einige
Weichen gestellt, um die Situation zu verbessern. Ich
nenne als Beispiel nur den Mindestlohn, der positive
Auswirkungen für die Beschäftigten im Kreativ-, Kultur-
und Medienbereich hat. Noch wichtiger zu erwähnen ist,
dass wir umgehend nach der Regierungsbildung be-
schlossen haben, die Beiträge zur Künstlersozialkasse zu
stabilisieren. Gerade für selbstständige Frauen, die in der
KSK versichert sind und Mutter werden, ist die KSK
eine ganz wichtige Stütze. Das sind zugegebenermaßen
nur einige und verhältnismäßig kleine Steine, die wir aus
dem Weg geräumt haben, aber sie sind sehr wichtig.

Allerdings sind noch einige dicke Brocken zu bewe-
gen. Es ist deswegen richtig und wichtig, dass der
Antrag der Grünen dies heute hier thematisiert. Der An-
trag ist nahezu wortgleich mit einem Antrag der Grünen
aus der letzten Legislaturperiode. Damals hatte auch die
SPD einen Antrag mit dem Titel „Für die tatsächliche
Gleichstellung von Frauen und Männern auch im Kunst-,
Kultur- und Medienbereich“ vorgelegt.
Ich denke – das ist hier schon angeklungen –, wir sind
uns auch heute darüber einig, dass Handlungsbedarf be-
steht. Auch wenn ganz klar ist, dass die Kompetenz des
Bundes aufgrund der Kulturhoheit der Länder begrenzt
ist, sollte uns das hier nicht davon abhalten, im Rahmen
der gegebenen Möglichkeiten die Gleichstellung zu för-
dern. Der Antrag der Grünen und auch unser Antrag aus
der letzten Legislaturperiode haben da die Richtung
vorgegeben und die möglichen Handlungsfelder be-
schrieben. Ganz wichtig dabei ist, dass wir über die
aktuelle Situation genau Bescheid wissen, sprich: Wir
brauchen – ich zitiere aus dem Antrag – „… geschlechts-
spezifisches Wissen über die sozialen Rahmenbedingun-
gen der Kunstschaffenden, die Besetzung von Führungs-
positionen und Gremien sowie die Vergabe von
Stipendien und anderen Fördermaßnahmen …“. Dieser
Forderung aus dem Antrag der Grünen kann ich vor-
behaltlos zustimmen.

Gleichzeitig sehe ich, dass ein Bereich in diesem An-
trag zu kurz kommt: der Medienbereich. Leider kommt
der Begriff „Medien“ schon im Titel des Antrags nicht
vor. Das ist für uns Grund genug, dieses Thema jetzt im
Kultur-, Kreativ- und Medienbereich aufzugreifen, und
zwar umfassend. Wir sollten uns für dieses wichtige
Thema aber auch Zeit nehmen, um es gründlich zu
behandeln. Ich schlage deswegen vor, dass wir im
Ausschuss für Kultur und Medien ein Fachgespräch zu
diesem Thema führen, um uns alle gemeinsam auf den
neuesten Stand zu bringen. Als zuständige Berichterstat-
terin setze ich mich dafür ein, und ich bin mir sicher,
dass ich da die Unterstützung der Kolleginnen und Kol-
legen der Union habe. – Ich sehe da schon Nicken.

Eine Sache noch zum Schluss, die mir besonders
wichtig ist. Wenn wir über Gleichstellung im Kultur-,
Kreativ- und Medienbereich reden, dann gehört ein
wichtiger Aspekt dazu: Das ist die Inklusion. Kultur für
alle bedeutet nicht nur, dass wir allen den Zugang zur
Kultur ermöglichen, sondern auch, dass jeder mitmachen
kann. Wenn wir also unter dem Stichwort „Gleichstel-
lung“ die Fördergrundsätze des Bundes im Kultur- und
Medienbereich unter die Lupe nehmen, dann dürfen wir
das nicht nur unter dem Genderaspekt machen, sondern
wir müssen auch die UN-Behindertenrechtskonvention
ernst nehmen und dabei die Inklusion mitdenken.


(Beifall bei der SPD)


Ich freue mich darüber, dass wir das im Ausschuss
gemeinsam mit allen Fraktionen anpacken wollen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318200

Die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein spricht als

Nächstes für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1806318300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kolleginnen und





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Kollegen von den Grünen, ich habe mir Ihren Antrag
sehr genau durchgelesen. Mir war er neu; ich bin ja zum
ersten Mal hier. Ich habe wirklich überlegt, ob daraus
noch eine runde Sache werden kann. Ich muss sagen: Je
länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu
dem Ergebnis, dass ich Ihren Antrag eigentlich für ziem-
lichen Unsinn halte.

Ich will Ihnen auch sagen, warum. Da gibt es zum ei-
nen die kulturpolitischen Gründe, etwa die Kulturhoheit
der Länder, die eben schon erwähnt wurde. Die Zustän-
digkeit für die Kulturförderung liegt zu einem Großteil
bei den Ländern, vor allem aber bei den Kommunen. Sie
wären die Hauptansprechpartner für Ihre Forderungen.
Dort, in den Ländern und in den Kommunen, gelten
natürlich schon jetzt, wie auch bei der Kulturförderung
aus dem Bundesetat, die ganz allgemeinen gleich-
stellungspolitischen Grundsätze.

Es mag in den Kommunen und in den Bundesländern
mit der Gleichstellung unterschiedlich gut funktionieren.
Für Bayern, mein Land, kann ich sagen: Dort werden
Künstlerinnen durchaus ganz gezielt mit Programmen
gefördert. Schaut man sich die Gewinnerinnen und Ge-
winner des Bayerischen Kunstförderpreises der vergan-
genen Jahre an, stellt man fest: Bei der „Darstellenden
Kunst“ haben fast nur Schauspielerinnen und Sängerin-
nen den Preis gewonnen. In der Kategorie „Bildende
Kunst“ ist es ebenso ausgeglichen wie in den Sparten
„Musik und Tanz“ oder „Literatur“.

Im Übrigen können Sie in Baden-Württemberg schon
einmal damit anfangen, Ihre Forderungen umzusetzen;
da regieren Sie ja. Ich habe aber aus dieser Richtung bis-
her eigentlich nichts gehört.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch was!)


Außerdem ist da der Punkt „Freiheit der Kunst“. Sie
berufen sich in Ihrem Antrag auf Artikel 3 des Grundge-
setzes, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt
sind. Ich bin sicher, dass niemand in diesem Hause dies
bestreiten wird. Dieses Grundrecht steht natürlich in
keinerlei Widerspruch zu Artikel 5 des Grundgesetzes,
wonach die Kunst frei ist.

Frauen dürfen in unserem Land ihre Kunst natürlich
so frei betreiben wie Männer. Sie dürfen sich aber auch
ganz frei entscheiden, ob sie sich um eine Stelle als In-
tendantin bewerben oder ob sie das nicht tun. Sie dürfen
Karriere machen wollen, sie dürfen das aber auch nicht
wollen, und sie dürfen Drehbücher einreichen, und sie
dürfen das auch nicht wollen. Die Juroren eines Aus-
wahlgremiums dürfen – ich meine sogar, sie müssen –
allein nach künstlerischen Kriterien beurteilen, und sie
dürfen daher Frauen oder eben auch Männer prämieren.
Ich will hier auch nicht unterstellen, dass Frauen bei
Preisvergaben regelrecht aussortiert würden.

Fakt ist nämlich: Frauen bewerben sich in einigen Be-
reichen auch heute noch viel seltener um Führungsposi-
tionen als Männer,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher kommt das wohl?)

etwa um Intendanten- oder Dirigentenposten. Sie bewer-
ben sich auch seltener um Preise.

Damit sind wir schon mitten in einem weiteren Punkt:
Ihren Zahlenspielereien. Sie stellen in Ihrem Antrag
Zahlen relativ willkürlich gegeneinander und folgern da-
raus, dass es – ich zitiere – „strukturelle Schranken beim
Zugang ins Berufsleben für Frauen im Kulturbetrieb“
gebe. Was Sie dabei unterschlagen, ist, dass es zwischen
den einzelnen kulturellen Sparten ganz erhebliche Unter-
schiede bei der Anzahl von Frauen in Führungspositio-
nen gibt. Sie zitieren leider nur die Negativbeispiele.
Richtig ist aber, dass in den Kulturredaktionen der
Rundfunkanstalten, in den Feuilletons der Zeitungen, in
den Bibliotheken und Museen, in den Literaturhäusern
ausgesprochen viele Frauen vertreten sind. Auch die
Tatort-Redaktion des Bayerischen Fernsehens ist voller
Frauen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden wir über die Leitungen, oder worüber reden wir hier?)


Ebenso ist das bei Ihrem Vergleich zwischen den frei-
beruflichen Künstlerinnen und Künstlern. Frauen verdie-
nen danach im Schnitt weniger als ihre männlichen
Kollegen. Das ist ein Fakt, den man überhaupt nicht be-
streiten kann. In den allgemeinen Diskussionen um den
Gender Pay Gap haben Sie korrekterweise schon einige
Faktoren herausgerechnet. Der dann entstehende Unter-
schied ist die eigentliche Ungerechtigkeit. Aber auch
hier muss man natürlich ganz genau hinschauen. Gerade
bei den Selbstständigen ist von einer sehr großen Chan-
cengleichheit auszugehen, weil eventuell diskriminie-
rende Faktoren, die es bei Angestelltenverhältnissen mit-
unter noch geben kann, fehlen. Es ist doch sehr viel
naheliegender, dass Frauen gerade diese Freiberuflich-
keit im Kulturbereich nutzen, um Familie und Beruf un-
ter einen Hut zu bringen.

Das führt mich zum nächsten Punkt. Es sind vermut-
lich gerade die Frauen, die diese Flexibilität im Kultur-
bereich nutzen und schätzen, um ihren Beruf ausüben zu
können, auch wenn sie Kinder bekommen. Dann arbei-
ten sie natürlich nicht so viel wie jemand, der keine
Kinder und keine Familie hat, und verdienen konsequen-
terweise auch weniger.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das Fachgespräch ist wirklich notwendig!)


Aber sie sind vielleicht gar nicht unzufrieden mit ihrem
Leben. Das muss kein Missstand sein.


(Zuruf von der LINKEN: Wo leben Sie denn?)


Richtig ist auch, dass es in speziellen Branchen des
Kulturbetriebs nach wie vor extrem schwierig ist, Beruf
und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich nenne hier
einmal das Theater. Nirgendwo sonst gibt es so viele
Wochenend- und Abendtermine. Nirgendwo sonst wird
so viel zeitliche und örtliche Flexibilität verlangt.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt alles in die Geschichte mit dem Betreuungsgeld! Das passt eins zu eins da rein! Das ist genau die gleiche Story!)






Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Ein Intendant bringt bekanntlich sein eigenes Ensemble
mit. Die Theaterleute sind in der ganzen Republik unter-
wegs, wie ein Wanderzirkus, und das muss man organi-
sieren können, auch als Frau.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Betreuungsgeld geht das bestimmt in Bayern!)


Es ist weder schlecht noch rückständig, wenn sich
auch eine Sängerin, eine Regisseurin, eine Tänzerin um
ihr Kind kümmern will.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber haben wir nicht gesprochen! Das wissen Sie! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist die Konsequenz?)


Dieser Wunsch ist bei Frauen öfter vorhanden als bei
Männern. In dieser Welt leben wir alle. Ich unterstelle
trotzdem nicht, dass die Frauen allesamt unzufrieden
sind oder an Schranken des Kulturbetriebs scheitern.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie den Aufruf von Pro Quote Regie mal gelesen?)


Ich sage einen Satz, auch wenn dieser fast an ein Tabu
rührt: Vielleicht sind manche Frauen, wenn sie denn
Kinder bekommen, in dem Moment gar nicht so stark an
einer beruflichen Karriere interessiert. Ich könnte das
auch nachvollziehen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch überhaupt nicht! Sie verstehen überhaupt nicht, worum es geht!)


Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem An-
trag wörtlich von einer Diskriminierung von Frauen im
Kulturbetrieb; Sie unterstellen also ein halbwegs geziel-
tes Vorgehen. Ich unterstelle das Gegenteil. Ich meine,
dass gerade in der Kulturbranche die Bereitschaft,
Frauen zu fördern und auf herausgehobene Positionen zu
berufen, besonders ausgeprägt ist, eben weil Frauen
– das stimmt ja – ein ganz besonders großes kreatives
Potenzial mitbringen. Es wäre überhaupt nicht nachvoll-
ziehbar, dieses Potenzial nicht zu nutzen. Gerade des-
halb übernehmen sehr viele Frauen die Leitung von Mu-
seen, Galerien, Literaturhäusern und Bibliotheken.

Ich behaupte auch, dass nur in wenigen Branchen die
Chancengerechtigkeit so hoch ist wie in der Kulturbran-
che, zum Beispiel weil bei Probespielen in der Regel
hinter einem Vorhang gespielt wird, sozusagen als
Schleier des Nichtwissens für die Juroren.

Auch ich war schon in einer Findungskommission für
einen neuen Intendanten. Es ging um eine städtische
Bühne. In der Findungskommission saßen übrigens drei
Frauen und ein Mann, nicht alle von der CSU; das sage
ich nur, falls Sie meinen, das Ergebnis würde mit der
Parteizugehörigkeit zusammenhängen. Am Schluss be-
kam ein Mann den Posten. Denn unter den vielen Dut-
zend Bewerbern war nur eine Handvoll Frauen, und die
passten nicht in das Profil.
Ich meine, wir müssen uns die Eigenheiten des Kul-
turbetriebes wirklich genauer anschauen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll man dazu sagen? Nichts mehr!)


Meine Damen und Herren, der Verweis auf die Kul-
turhoheit der Länder und die Freiheit der Kunst würde
als Grund schon reichen, um Ihren Antrag abzulehnen.
Ihr schräger Blick auf die Wirklichkeit des Kulturbetrie-
bes und die Lebenswirklichkeit der Frauen tut ein Übri-
ges.

Für Ihren nächsten Antrag habe ich einen Tipp: Schla-
gen Sie doch vor, den Auktionshäusern zu verbieten, ei-
nen Gerhard Richter für mehr Geld zu versteigern als die
Bilder seiner weiblichen Kolleginnen. Dann kommen
Sie vermutlich ganz groß raus.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist herzzerreißend!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318400

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Burkhard Blienert von den Sozialdemokraten.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Blienert (SPD):
Rede ID: ID1806318500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
stelle vorab fest: Der Antrag der Fraktion der Grünen ist
in der Sache richtig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


Dass er allerdings nicht weit genug greift, darauf hat
meine Kollegin Hiltrud Lotze schon hingewiesen. Denn
darin sind einige Fragen nicht beantwortet. Insofern
müssen wir uns mit dem Antrag und den noch offenen
Fragen tatsächlich noch intensiver beschäftigen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerne! Wir können auch gerne noch einen stellen!)


Und da Wiederholung tatsächlich das beste pädagogi-
sche Element ist, möchte ich an dieser Stelle auch auf
die Situation von Frauen im Filmbereich eingehen. Da-
bei möchte ich klarmachen, dass wir es nicht nur mit ei-
nem gleichstellungspolitischen Thema zu tun haben;
denn das Ganze hat natürlich auch eine kulturelle Di-
mension.

Auch ich beziehe mich auf die aktuelle Initiative von
Pro Quote Regie, die auch im Antrag der Grünen er-
wähnt wird. Sie hat uns in den letzten Wochen schon in-
tensiv beschäftigt und wird uns auch noch weiter be-
schäftigen.

Da haben sich – inzwischen über 200 – deutsche Re-
gisseurinnen zusammengeschlossen und auf einen Miss-





Burkhard Blienert


(A) (C)



(D)(B)

stand hingewiesen, der mich in seiner Deutlichkeit schon
überrascht hat: Nur 15 Prozent aller deutschen Kino-
und Fernsehfilme werden von Frauen gemacht, aber
über 42 Prozent der Hochschulabsolventen im Fach Re-
gie sind weiblich. Wie passt das zusammen?


(Mechthild Rawert [SPD]: Gar nicht!)


Ich will noch auf andere Fakten aufmerksam machen,
die auch eine Rolle spielen: Im vergangenen Jahr hat der
DFFF, der Deutsche Filmförderfonds, 115 Filmprojekte
gefördert, aber nur 13 Filme davon wurden von Frauen
inszeniert. 2013 flossen aus dem DFFF insgesamt
62 Millionen Euro, aber nur 6 Millionen Euro gingen an
Projekte von Regisseurinnen. Und noch ein beeindru-
ckender Befund – die beliebteste deutsche Fernsehreihe
ist schon angesprochen worden –: Im vergangenen Jahr
sind ganze 3 von 82 Tatorten von Frauen gedreht wor-
den.

Angesichts dieser Zahlen wundert es mich, dass sich
die kreativen Filmemacherinnen erst jetzt zu Wort ge-
meldet haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ruf nach einer
Frauenquote im Kulturbereich irritiert zunächst trotz-
dem. Regulierung und künstlerische Freiheit passen auf
den ersten Blick irgendwie nicht zusammen; das muss
man berechtigterweise feststellen. Aber insgesamt erge-
ben sich doch wichtige Hinweise von alleine.

Die Frage, ob eine Quote bei Förderentscheidungen
die richtige Antwort ist ober ob nicht auch der Weg der
Selbstverpflichtung der maßgeblichen Akteure bei Film
und Fernsehen funktionieren kann, möchte ich zunächst
offen lassen. Das ist nicht die entscheidende Frage, die
wir uns jetzt stellen müssen.

Zustimmen kann ich der Forderung nach paritätisch
besetzten Fördergremien – so haben wir es in der letzten
Legislaturperiode auch formuliert –; denn hier geht es
schließlich um die Vergabe öffentlicher Mittel.

Was wir aber vor allem brauchen, ist eine umfassende
Untersuchung, die die strukturellen Ursachen der man-
gelnden weiblichen Präsenz in der Regie aufdeckt.
Wichtig ist auch eine breite Sensibilisierung für diesen
eklatanten Mangel an Gleichstellung im Filmbereich.
Die heutige Debatte verstehe ich – mit allen Facetten –
als einen wichtigen Beitrag dazu. Dafür hat die Initiative
Pro Quote Regie den Anstoß gegeben, und dafür können
wir alle gemeinsam nur dankbar sein.

Die Kulturpolitik ist und bleibt aufgefordert, die
Gleichstellung im Kultur- und Medienbereich zu beför-
dern. Die anstehende Novelle des Filmfördergesetzes
bietet übrigens eine passende Gelegenheit dazu.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange 85 Prozent
der Filme von Männern gemacht sind, ist unsere Film-
kultur in ihrer Vielfalt reduziert. Die Filmkultur kann da-
von nur profitieren, wenn künftig mehr Frauen auf dem
Regiestuhl sitzen und ihre Filme drehen können.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Sigrid Hupach [DIE LINKE])


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318600

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2881 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 10, den ich
hiermit aufrufe:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Er-
leichterung der Unterbringung von Flüchtlin-
gen

Drucksache 18/2752

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


Drucksache 18/3070

Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Da ich keinen
Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie alle da-
mit einverstanden sind.

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-
regierung das Wort der Bundesministerin Dr. Barbara
Hendricks.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus Kriegs- und Krisengebieten kommen zahlreiche
Flüchtlinge zu uns, insbesondere aus Syrien, Eritrea und
Afghanistan. Mehr als 130 000 Asylanträge wurden bis
Ende September 2014 gestellt. Insgesamt werden in die-
sem Jahr mehr als 200 000 Flüchtlinge erwartet. Es ist
eine Frage der Menschlichkeit, dass wir ihnen helfen. Es
ist unsere Pflicht, diese Menschen aufzunehmen und an-
gemessen unterzubringen. Das ist, wie wir wissen, für
die Kommunen keine leichte Aufgabe. Dessen bin ich
mir wohl bewusst. Deswegen ist es nach meiner Über-
zeugung die Aufgabe der Bundesregierung, die Kommu-
nen zu unterstützen, wo es geht. Ich kann und will dabei
mithelfen, dass die Flüchtlinge schnell ein Dach über
dem Kopf bekommen und dass wir sie so aufnehmen,
dass sie hier angemessen und in Würde leben können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die betroffenen Kommunen unternehmen große An-
strengungen, um möglichst rasch Unterkünfte in ausrei-
chender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es müssen dazu
geeignete Grundstücke zur Verfügung stehen. Es müssen
geeignete Gebäude zur Verfügung stehen. Vielfach sind





Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

bauliche Anpassungen nötig. Oft sind leider auch Be-
helfsunterkünfte unvermeidbar. Die Kommunen unter-
nehmen tatsächlich alle Anstrengungen. Vor kurzem
habe ich in Heidelberg gesehen, wie eine gerade ge-
räumte amerikanische Kaserne umgestaltet werden
konnte – ein Glücksfall. So etwas hilft den Kommunen
natürlich sehr, und die BImA kommt den Kommunen
dabei natürlich auch sehr entgegen.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unser Ge-
setzentwurf hält Instrumente bereit, die den Bau von
Flüchtlingsunterkünften auch kurzfristig ermöglichen
sollen. Zur Initiative des Bundesrates vom 19. Septem-
ber 2014 hat die Bundesregierung Stellung genommen
und einige Änderungen vorgeschlagen. Dazu gehört,
dass die vorgesehenen Regelungen bundesweit gelten
sollen. Die Vorschläge der Bundesregierung haben breite
Zustimmung gefunden. Auch die kommunalen Spitzen-
verbände haben sich durchweg positiv geäußert.

Mit dem heute zu beschließenden Gesetz wollen wir
im Baugesetzbuch neben einigen Klarstellungen auch
befristete Erleichterungen schaffen. Wir wollen ermögli-
chen, Flüchtlingsunterkünfte auch dann im Innenbereich
zuzulassen, wenn sie sich, wie es sonst im Baurecht
heißt, nicht in die nähere Umgebung einfügen. Das
könnte beispielsweise Büro- oder Geschäftsgebäude be-
treffen, die dann zu Unterkünften umgenutzt werden
können. Außerdem ermöglichen wir, dass Flüchtlinge auf
Flächen untergebracht werden können, die unmittelbar an
einen bebauten Ortsteil anschließen. Und wir wollen den
Kommunen die Möglichkeit geben, Flüchtlingsunter-
künfte eingeschränkt und befristet in Gewerbegebieten
zu ermöglichen. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir
die Unterkünfte in Industriegebiete abschieben. Das ist
nicht unsere Intention und auch nicht die des Bundesra-
tes. Aber es gibt Gewerbegebiete, die sich dafür eignen.
Und hier dürfen wir keine unüberwindbaren Hürden zu-
lassen.

Langfristig wird sich auswirken, dass in diesem Ge-
setzentwurf ausdrücklich vorgesehen ist, die Flüchtlings-
unterbringung bei der Aufstellung von Bebauungsplänen
zu berücksichtigen. Dies ist bisher nicht der Fall gewe-
sen. Und wir stellen klar, dass die Unterbringung von
Flüchtlingen zu den Belangen des Allgemeinwohls ge-
hört. Auch dies ist neu im Baurecht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Bundesrat wird bereits morgen den Gesetzent-
wurf abschließend beraten, sodass er noch im Novem-
ber, also in diesem Monat, in Kraft treten kann. Ich bin
mir absolut bewusst, dass es für Kommunen nicht ein-
fach ist, quasi über Nacht Flüchtlinge aufzunehmen und
unterzubringen. Auch für die Länder ist es ein Kraftakt.

Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in
den Kommunen verdienen für ihren Einsatz große Aner-
kennung, und sie verdienen unsere konkrete Hilfe. Dazu
dient diese Gesetzesänderung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318700

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die

Kollegin Heidrun Bluhm.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806318800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

beginne mit den letzten Worten meiner Kollegin Jelpke
vor circa einer Stunde. Sie sagte: Das System der sozia-
len Diskriminierung von Flüchtlingen müssen wir end-
lich beenden.

Bei der Rede der Frau Ministerin hat sich alles ganz
harmlos angehört. Ich hatte schon die Befürchtung, dass
sie bis zum Ende ihrer Rede das Wort „Gewerbegebiet“
gar nicht verwenden würde. Fairerweise hat sie das am
Ende doch getan. Insofern wird jetzt deutlich, dass wir
heute hier – das haben wir noch nie gemacht, wenn wir
über eine Novelle des Baugesetzbuches in irgendeiner
Weise verhandelt haben – keine Formalie verhandeln.
Heute geht es nicht um Erleichterungen des Baus, son-
dern darum, dass wir Menschen, die in größter Not zu
uns kommen, weil sie aus ihrer Heimat vertrieben wor-
den sind, Angehörige, Familienangehörige oder Freunde
verloren haben, die ihre Gesundheit, ihre Wohnung und
ihre Zukunft verloren haben, die nichts als ihr nacktes
Leben haben, in Gewerbegebieten unterbringen wollen.


(Sören Bartol [SPD]: Hallo! Sollen sie in Zelte? Was ist die Alternative?)


All das haben wir schon vor einer Stunde in der Dis-
kussion über das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich
gemacht. Jetzt sollen wir also entscheiden, dass Asylbe-
gehrende und Flüchtlinge in Gewerbegebieten wohnen
werden.


(Sören Bartol [SPD]: Nur im Notfall! – Ulli Nissen [SPD]: Notfall!)


In der öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzesent-
wurf am Montag hat einer der zwei Befürworter gesagt:
Diese Leute – gemeint waren damit natürlich die Flücht-
linge – seien gottfroh und dankbar, dass sie hier ange-
kommen sind und ein Dach über dem Kopf haben. Für
mich fehlte nur noch der Zusatz: Das sollten sie gefäl-
ligst auch sein.


(Ulli Nissen [SPD]: Sollen sie unter die Brücke, oder was?)


Die Krisengebiete, so hat es auch die Ministerin ge-
sagt, von denen der Gesetzentwurf spricht, liegen durch-
weg in Weltregionen, die jahrhundertelang von europäi-
schen Kolonialmächten beherrscht und ausgeplündert
worden sind. Wir, die Europäer, verdanken diesen Län-
dern einen großen Teil unseres materiellen, wissen-
schaftlichen und kulturellen Reichtums.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben ihnen oft zerstörte Kulturen, geplünderte Na-
tur und willkürlich gezogene Grenzen hinterlassen.
Wenn wir also heute über Maßnahmen zur Erleichterung
der Unterbringung von Flüchtlingen reden, dann spre-
chen wir nicht über großzügige Almosen, die wir zeit-





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

weilig verteilen, um eine akute Notlage in irgendeiner
Weise zu beheben,


(Ulli Nissen [SPD]: Was ist das denn sonst im Augenblick?)


sondern über Mitmenschlichkeit, über Solidarität, Unter-
stützung für Traumatisierte und aus ihrer Heimat Vertrie-
bene.


(Sören Bartol [SPD]: Deshalb wollen wir sie angemessen unterbringen! – Ulli Nissen [SPD]: Besser als in Zelten!)


Der Grundfehler dieser Gesetzesänderung, Herr
Bartol, liegt in der Unterstellung, wir hätten es mit ei-
nem vorübergehenden Notstand zu tun, den wir unter an-
derem mithilfe einer Änderung im Bauplanungsrecht bis
Ende 2019 wieder beheben können. Wie grotesk ist diese
Vorstellung?


(Beifall bei der LINKEN)


Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbegehrenden
nach Europa wird nicht abreißen, sondern weiter zuneh-
men. Die Krisen und Kriege werden nicht plötzlich auf-
hören, und es besteht die reale Gefahr, dass zu den
Flüchtlingen, die heute kommen, noch Klimaflüchtlinge
hinzukommen werden, denen die zivilisierten Industrie-
nationen die Lebensgrundlage buchstäblich abgegraben
oder weggespült haben.


(Sören Bartol [SPD]: Aber du hast doch jetzt schon zu wenig Wohnungen! Wo willst du sie unterbringen? – Ulli Nissen [SPD]: Wo sollen sie denn hin?)


Wir haben es also mit einer dauerhaften, umfassenden
europäischen, wenn nicht sogar globalen Aufgabenstel-
lung zu tun.

Der schnelle Aktionismus der Bundesregierung ver-
mittelt hier den Eindruck einer prompten und einver-
nehmlichen Lösung zwischen Bund und Ländern. Wenn
sich aber, so wie jetzt, hausgemachte, weil jahrelang
ignorierte Probleme aufgestaut haben, wenn Kommu-
nen, die vom Bund im Stich gelassen werden, verständli-
cherweise nach Auswegen suchen, dann sollten Geset-
zes- und Verordnungsänderungen, wenn sie überhaupt
notwendig sind, so ausgestaltet werden, dass sie ein Pro-
blem nicht nur aus der Sichtachse verdrängen, sondern
auch keine neuen erzeugen.

Mit diesem Gesetzentwurf wird eine Ausnahmesitua-
tion zu einem rechtssicheren Dauerzustand gemacht.
Formale Sicherheit im Baurecht darf aber niemals dazu
missbraucht werden, dass Menschenrechtsverletzungen
zu geregelter Normalität werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Oder glaubt hier wirklich jemand, dass diese Regelun-
gen in fünf Jahren wieder einkassiert werden? – Wohl
nicht, es sei denn, die Linke regiert – dann vielleicht.


(Sören Bartol [SPD]: Ihr wollt ja nicht regieren! – Weiterer Zuruf von der SPD: Dann fallen die Häuser vom Himmel!)

Selbst wenn es im Gesetzestext so nicht vorgesehen ist,
bestätigt meine Erfahrung aus fast zehn Jahren Bundes-
tag: So beständig wie ein Provisorium ist sonst kein Ge-
setz.


(Ulli Nissen [SPD]: Aber was macht man im Übergang, bis man fertiggebaut hat? Was macht man dann?)


Und noch schlimmer: Es signalisiert geradezu, dass wir
die Flüchtlinge nicht dauerhaft unter uns haben wollen,
dass ihre Integration nicht organisiert, sondern verhin-
dert werden soll. Dieses Gesetz ist also kein Anreiz,
menschenwürdige Wohnverhältnisse für Flüchtlinge und
Asylsuchende zu schaffen, sondern es fördert die dauer-
hafte Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen,
denen wir Hilfe und Respekt schuldig sind.

Was anstelle dieses Gesetzes notwendig ist, haben wir
in unserem vorliegenden Entschließungsantrag beschrie-
ben. Ich will sagen: Die eigentlichen Lösungen sind die,
die wir lange kennen. Wir brauchen einen ausgewogenen
sozialen Wohnungsbau. Wir müssen ihn wiederbeleben;
die Bundesregierung spricht davon, aber bisher ist nichts
zu sehen. Wir brauchen eine bedarfsgerecht ausgestattete
Städtebauförderung mit neuen oder ergänzenden Pro-
grammen, die auch der dauerhaften Zuwanderung von
Menschen aus dem Ausland gerecht wird, sodass diese
Menschen in unserer Mitte leben können.


(Ulli Nissen [SPD]: Machen wir alles! Aber das wird nicht innerhalb von zwei Jahren fertig sein!)


Und wir brauchen eine bedarfsbezogene Vergabe von
bundeseigenen Liegenschaften an die Kommunen an-
stelle des Höchstgebotskultes; morgen haben wir Gele-
genheit, ausführlicher darüber zu reden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir all das umsetzen – verbunden mit einer
nicht nur plakativen, sondern tatsächlich gelebten Will-
kommenskultur –, dann machen wir wirkliche Schritte in
Richtung eines menschenwürdigen Umgangs mit Flücht-
lingen und Asylsuchenden,


(Ulli Nissen [SPD]: Aber das sind keine Zelte!)


die nicht rechtssicher verwahrt, sondern Teil unserer Ge-
sellschaft werden sollen. Schluss also mit der Lagerun-
terbringung der Vertriebenen in Deutschland!


(Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Jetzt wird es aber richtig hart! – Sören Bartol [SPD]: Das ist nicht in Ordnung! Echt nicht! – Weitere Zurufe von der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806318900

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Kai

Wegner.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Kai Wegner (CDU):
Rede ID: ID1806319000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute über Änderungen im Baugesetzbuch, mit denen
wir eine schnellere und leichtere Flüchtlingsunterbrin-
gung gewährleisten, aber vor allen Dingen, liebe Frau
Bluhm, den Städten und Kommunen, die unter einem
enormen Druck stehen, neue Handlungsspielräume er-
öffnen. Die Städte brauchen schnelle Hilfe, und das ge-
währleistet heute der Deutsche Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Gesetz, das wir heute beraten, geht auf eine Bun-
desratsinitiative Hamburgs zurück. Meine Damen und
Herren, das ist keine große Überraschung; denn gerade
die großen Städte, die Ballungsgebiete sind in besonde-
rem Maße von den hohen Flüchtlingszahlen betroffen.
Schauen wir uns die Zahlen an: Allein von Januar bis
September 2014 haben rund 136 000 Menschen in
Deutschland Asyl beantragt. Das bedeutet eine Steige-
rung um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeit-
raum. Insgesamt erwarten wir in diesem Jahr in Deutsch-
land 250 000 Asylbewerber.

Meine Damen und Herren, dieser enorme Zustrom
von hilfebedürftigen Menschen stellt unser Land vor
große Herausforderungen und erfordert daher eine natio-
nale Kraftanstrengung. Das betrifft zunächst vor allem
die Unterbringung der Flüchtlinge in den Städten und

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1806319100
Uns
geht es in der Tat darum, schnell für Unterbringungs-
möglichkeiten zu sorgen, aber auch darum, angemessene
und würdige Unterbringungsformen für diese Menschen
zu finden.

Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz, das wir
heute verabschieden, versetzen wir Kommunen in die
Lage, zeitnah und rechtssicher Unterkünfte für die
Flüchtlinge zu schaffen. Gerade für Kommunen mit an-
gespanntem Wohnungsmarkt, liebe Frau Bluhm, ist das
eine ganz wichtige Erleichterung. Damit zeigt auch der
Bund, dass er seiner Verantwortung für eine würdige
Unterbringung aller Schutzsuchenden nachkommt und
die Städte und Gemeinden eben nicht im Stich lässt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aufgrund der hohen Fallzahlen geben wir den Städten
und Gemeinden neue Handlungsmöglichkeiten an die
Hand. So ermöglichen wir es den Kommunen, von be-
stimmten Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen
zu können.

Außerdem können Flüchtlingsunterkünfte befristet
auch dann im Innenbereich zugelassen werden, wenn sie
sich nicht in die nähere Umgebung einfügen.

Darüber hinaus wird die Unterbringung von Flücht-
lingen befristet – ja, Frau Bluhm – auch in Gewerbege-
bieten und auf Flächen gestattet werden, die unmittelbar
an einen bebauten Ortsteil anschließen. Dabei ist uns
aber klar, dass Gewerbegebiete oder der Außenbereich
immer nur die Ultima Ratio sein können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, ich will das in aller Form
klarstellen: Uns geht es wahrlich nicht darum, Flücht-
linge in Gewerbegebiete oder in die Außenbereiche von
Siedlungen zu drängen. Es geht darum, Städten und Ge-
meinden schnell zu helfen, damit wir würdige und ange-
messene Unterbringungsräume schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


In der Tat, Frau Bluhm: Das Gesetz löst nicht alle
Probleme und begegnet nicht allen Herausforderungen,
die wir bei dieser Thematik haben, aber es ist ein ganz
wichtiger Baustein.

Frau Bluhm, nun haben Sie leider nicht gesagt, was
Sie eigentlich wollen.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Doch!)


Sie haben in Ihrem Antrag von Wohnungsunterbringung
geschrieben. Ich frage mich, wie Sie das hinbekommen
wollen.


(Sören Bartol [SPD]: Wie denn?)


Wir diskutieren oft im Deutschen Bundestag über die an-
gespannte Situation des Wohnungsmarktes.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: In Berlin gibt es über 200 000 leerstehende Wohnungen!)


Wir machen uns Gedanken, wie wir bezahlbaren Wohn-
raum schaffen und wie wir es hinbekommen, neue Woh-
nungen zu bauen. Wir haben in vielen Städten Vollaus-
lastung bei den Mietwohnungen. In Berlin haben wir
eine Leerstandsquote von 2 Prozent. Das ist gleich null.
Wo wollen Sie denn hier noch Flüchtlinge unterbringen,
Frau Bluhm?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Sie bieten Lösungen an, die nicht kurzfristig helfen.
Aber unsere Städte und Gemeinden brauchen kurzfris-
tige Lösungen; denn die Menschen kommen jetzt zu uns.
Sie sind jetzt da und wollen jetzt angemessen und wür-
dig untergebracht werden, Frau Bluhm, nicht erst in zwei
oder drei Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, wir müssen die Städte und
Gemeinden noch weiter unterstützen. Wir haben hierfür
Programme. Dazu gibt es eine Diskussion in der Koali-
tion; das will ich gern noch einmal sagen.

Wir sollten auch weitere Mittel aus dem Programm
„Soziale Stadt“ für die Integration von Flüchtlingen zur
Verfügung stellen. Ich denke da an Deutschkurse für
Flüchtlinge, an Nachbarschaftstreffen zwischen Flücht-
lingen und angestammten Bewohnern.


(Sören Bartol [SPD]: Das geht doch jetzt schon!)


Mir geht es bei allen Maßnahmen, die wir hier disku-
tieren, um die Akzeptanz der Bevölkerung für unser li-
berales Asylrecht. Auch diese Herausforderung ist in un-
serem Land nicht zu unterschätzen.





Kai Wegner


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Das machen wir!)


Meine Damen und Herren, wir sehen auch weitere
wichtige Maßnahmen neben der Veränderung des Bau-
planungsrechts vor. Ich nenne als Beispiel die Residenz-
pflicht oder die Neuregelung der sicheren Herkunftsstaa-
ten, die heute in Kraft getreten ist.

Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die tat-
sächlich Hilfe brauchen, auch unsere Unterstützung be-
kommen. Wir müssen diejenigen zielgerichtet unterstüt-
zen, die tatsächliche Asylgründe haben. Aber wenn wir
hier in Berlin erleben müssen, dass Plätze und Schulen
illegal besetzt werden, dann dient das nicht der Akzep-
tanz unseres Asylrechts.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist inakzeptabel, und das schadet dem eigentlichen
Anliegen der Flüchtlinge.

Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich,
dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr
Personal bekommen soll. Wir brauchen schnellere Asyl-
verfahren, und die Flüchtlinge brauchen zeitnah Gewiss-
heit darüber, wie ihr Aufenthaltsstatus ist.

Deutschland steht für eine humane Flüchtlingspolitik.
Das soll so bleiben. Wir stehen zu unserer Verantwor-
tung. Mit diesem Gesetz beweisen wir, dass der Bund
die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung dieser
Herausforderung nicht alleine lässt. Ich bitte Sie daher
alle um Ihre Unterstützung; denn die Flüchtlinge brau-
chen unsere Hilfe, aber auch die Städte und Gemeinden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806319200

Der Kollege Christian Kühn hat als Nächster jetzt das

Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-
ehrte Gäste auf der Tribüne! Ich bin froh, dass es heute
bei uns in Deutschland eine andere Willkommenskultur
gibt und dass sich viele Menschen mit hohem Engage-
ment für das Wohl der Flüchtlinge, die im Augenblick zu
uns kommen, einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin dankbar, dass wir, anders als Anfang der 90er-
Jahre, eine andere Stimmung und eine andere Debatte in
Deutschland haben. Ich will ganz klar sagen: Das Boot
ist nicht voll; das Boot ist niemals voll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Heute geht es um Grundrechte von Menschen, denen
die Grundrechte in ihren Heimatländern versagt wurden,
von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu
verlassen, die Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zer-
störung, Tod und Katastrophen am eigenen Leib erlebt
haben, von Menschen, die oft traumatisiert zu uns kom-
men. Diese Menschen brauchen eben nicht nur einfach
ein Dach über dem Kopf, sie brauchen eine menschen-
würdige Unterbringung, ein soziales Umfeld, das ihnen
dabei hilft, ihre Verluste und die dramatischen Erfah-
rungen zu verarbeiten. Die Unterkunft ist ein zentraler
Baustein einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik.
Deswegen begrüßen wir es als Grüne, dass in diesem
Gesetzentwurf erstmals die Flüchtlingsunterbringung als
Allgemeinwohl festgeschrieben wird. Das ist ein großer
Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir Baupolitiker können die Fehler und Versäum-
nisse der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht
mit einer Änderung des BauGB reparieren. Wir müssen
aber beim Thema Unterbringung immer die Menschen-
würde der Flüchtlinge im Blick behalten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin skeptisch, ob Ge-
werbegebiete die Anforderungen an eine menschenwür-
dige Unterbringung erfüllen. Hier müssen wir alle genau
hinschauen; das hat die Anhörung im Bauausschuss ganz
klar gezeigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Unterbringung in Gewerbegebieten darf es – das ist
meine Überzeugung – nur in ganz bestimmten Ausnah-
mefällen,


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Was steht denn im Gesetz drin?)


nur als Notlösung und nur als reine Übergangslösung ge-
ben, also als Ultima Ratio.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade das steht eben nicht drin!)


Das steht leider nicht in dem vorliegenden Gesetzent-
wurf drin. Es ist nicht konditioniert. Das ist letztlich
auch der Grund, warum wir uns heute enthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Kommunen befinden sich in einer Notsituation.
Ich verstehe nicht, warum man jetzt nur am BauGB Än-
derungen vornimmt. Frau Hendricks hat in ihrer Rede
darauf hingewiesen, dass man Kommunen nun unterstüt-
zen muss, wo es geht. Ich finde, dass diese Bundesregie-
rung die Kommunen eben nicht unterstützt, wo es geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Erstens. Organisieren Sie mit den Kommunen einen
Flüchtlingsgipfel, wie wir das in Baden-Württemberg
und auch in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den
Sozialdemokraten mit großem Erfolg getan haben. Man
braucht einen Flüchtlingsgipfel auch auf nationaler





Christian Kühn (Tübingen)



(A) (C)



(D)(B)

Ebene, um klarzumachen, dass wir heute einen Rahmen
brauchen, der Flüchtlinge nicht mehr rechtlich ausgrenzt
und Kommunen wirklich hilft. Greifen Sie den Kommu-
nen bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge end-
lich unter die Arme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bundes-
anstalt für Immobilienaufgaben den Kommunen Liegen-
schaften für die Flüchtlinge zu fairen Bedingungen über-
lässt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Es kann doch nicht sein, dass die BImA sich in dieser Si-
tuation – und das meine ich wirklich ernst – eine goldene
Nase an der Notlage der Kommunen verdient.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Die Kommunen werden nicht unterstützt, sondern abge-
zockt. Das muss beendet werden. Sie müssen die Politik
der BImA dringend ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Drittens. Legen Sie ein Bauprogramm für eine ver-
besserte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in
Wohngebieten auf. Das wäre eine schnelle Hilfe für die
Kommunen; denn sie müssen die Liegenschaften jetzt
anmieten oder erwerben und herrichten. Die Kommunen
brauchen jetzt die Unterstützung bei den Baumitteln.

Gerade die Kommunen in Haushaltsnotlagen brau-
chen Unterstützung, da die Kommunalaufsicht die benö-
tigten Kredite nicht genehmigt. Der Bund muss diesen
Kommunen mit einem Bauprogramm unter die Arme
greifen. Sie von der Großen Koalition sagen bei fast je-
der wohnungspolitischen Debatte, dass nur Bauen,
Bauen, Bauen hilft. Halten Sie sich an Ihre eigenen
Worte!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: Aber das hilft jetzt doch nicht! – Gegenruf des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen heißt nicht nur neu Bauen!)


Zum Schluss. In der Debatte, die wir über das BauGB
geführt haben, stellen wir eigentlich immer noch die fal-
sche Frage, nämlich: Wie können wir Flüchtlinge auf
Zeit unterbringen? Dabei werden 30 bis 60 Prozent der
Asylsuchenden – je nachdem, welchen Experten man
fragt –, die heute zu uns kommen, dauerhaft in Deutsch-
land bleiben. Wir müssen uns deshalb endlich die Frage
stellen: Wie können wir diese Menschen ab dem ersten
Tag optimal integrieren und unterstützen, damit sie gut
in unserer Gesellschaft ankommen, damit wir ihnen, da
sie ihre alte Heimat gerade verloren haben, eine neue
Heimat geben können?

(Mechthild Rawert [SPD]: Darauf haben wir schon eine Antwort gegeben!)


Diese Frage müssen wir uns als Allererstes stellen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806319300

Für die Sozialdemokraten spricht jetzt als Mitglied

des Bundesrates Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt, Se-
natorin für Stadtentwicklung der Freien und Hansestadt
Hamburg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1806319400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Steigerung der Flüchtlingszah-
len stellt die Länder und viele deutsche Städte, auch
Hamburg, und Gemeinden vor große Herausforderun-
gen. Seit 2011 steigen die Flüchtlingszahlen wieder an.
Für 2015 ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlings-
zahlen zu rechnen. Bezogen auf Hamburg bedeutet das
beispielsweise: 2011 kamen circa 2 000 Flüchtlinge nach
Hamburg, 2014 werden es ungefähr 5 200 Flüchtlinge sein.
Hinzu kommen rund 1 000 minderjährige unbegleitete
Flüchtlinge. Insgesamt sind das geschätzt 6 200 Flüchtlinge
in diesem Jahr, für die wir geeignete, menschenwürdige
Unterkünfte schaffen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU])


Insbesondere in den Ballungsräumen in Deutschland
ziehen Menschen zu. Diese Entwicklung ist völlig unab-
hängig davon, ob Flüchtlinge in die Städte kommen. Das
spiegelt sich in einer riesigen Nachfrage nach bezahlba-
rem Wohnraum wider. Uns fehlt es in Hamburg an be-
zahlbarem Wohnraum.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszah-
len hat Hamburg frühzeitig und erfolgreich die Weichen
für mehr Wohnungsneubau gestellt. Der soziale Woh-
nungsbau ist uns dabei besonders wichtig. Unser 2011
geschlossenes Bündnis für das Wohnen in Hamburg mit
den wohnungswirtschaftlichen Verbänden und den Mie-
tervereinen ist Vorbild für das Bündnis für bezahlbares
Wohnen und Bauen auf Bundesebene gewesen. Wir ha-
ben mittlerweile die Baugenehmigungs- und Fertigstel-
lungszahlen maßgeblich steigern können, um der anhal-
tend hohen Nachfrage gerecht zu werden. Dafür nutzen
wir die knappen Flächenpotenziale, die sich in einem
dichtbesiedelten Ballungsraum wie Hamburg bieten.

Wie viele andere Kommunen haben wir schnell auf
den Zustrom von Flüchtlingen reagiert und nutzen jede
kurzfristig verfügbare und geeignete Fläche sowie beste-
hende Gebäude, um dort Unterkünfte zu schaffen, die
den Bedürfnissen der bei uns Schutz und Hilfe suchen-
den Menschen, häufig Familien mit Kindern, gerecht
werden. Aber wir stoßen an Grenzen. Geeignete Grund-





Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

stücke lassen sich in Ballungsräumen nicht beliebig ver-
mehren, und es wäre falsch, den dringend notwendigen
Wohnungsneubau an dieser Stelle auszubremsen. Bei al-
lem Verständnis für die Forderung, Flüchtlinge in Woh-
nungen unterzubringen, weil die Integration so besser
gelingt, was stimmt: Wohnungsbau braucht Zeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber die Menschen, die zu uns kommen, können nicht
warten, bis diese Wohnungen fertig sind oder genügend
Wohnungen frei werden. Sie brauchen jetzt geeignete
Unterkünfte und keine Zelte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Ja! Das ist der Punkt!)


Frau Bluhm, ich möchte auf eines hinweisen: Gewer-
begebiete sind keine frei schwimmenden Inseln. Es ist
gegen uns ein Urteil des Verwaltungsgerichts ergangen
– es ging um eine Nachbarschaftsklage –, weil wir in ei-
nem Gewerbegebiet, das direkt an ein Wohngebiet an-
grenzt, Flüchtlinge unterbringen wollten. Das ging nicht.
Auch deswegen haben wir die Initiative ergriffen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch keine gute Begründung!)


Angesichts dieser Lage besteht ein dringender Bedarf
an planungsrechtlichen Erleichterungen, um schneller
und rechtssicherer als bisher Unterkünfte für Flüchtlinge
schaffen zu können. Deshalb hat der Bundesrat einstim-
mig auf Initiative der Länder Baden-Württemberg, Bre-
men und Hamburg diesen Gesetzesantrag auf den Weg
gebracht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die
Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften für
Flüchtlinge eine bundesweite Herausforderung darstellt,
die alle Bundesländer betrifft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Auch der Bund sieht sich in der Pflicht. Ich begrüße den
im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag der
Bundesregierung, den jetzt die Bundestagsfraktionen
von CDU/CSU und SPD als Änderungsantrag aus der
Mitte des Bundestages aufgegriffen haben. Unter Be-
rücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Gesetzes-
antrags des Bundesrates können die notwendigen Er-
leichterungen so noch schneller auf den Weg gebracht
werden, als dies im Bundesratsentwurf vorgesehen war.

Ich freue mich insoweit auch über diese Einigkeit.
Der Gesetzentwurf stellt ein ausgewogenes Ergebnis dar.
Er ist kein Freifahrtschein für eine wahl- und rücksichts-
lose Nutzung von Flächen für die Unterbringung von
Flüchtlingen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


sondern schafft die planungsrechtlichen Voraussetzun-
gen, auf prinzipiell dafür geeigneten Flächen im Innen-
und Außenbereich und in Gewerbegebieten Unterkünfte
zu errichten und die Umnutzung von bestehenden Ge-
bäuden – die Linke fordert übrigens immer die Umnut-
zung von Gewerberäumen und Büroflächen in Hamburg,
weil wir ja bezahlbaren Wohnraum brauchen – zu er-
leichtern.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch gut! – Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!)


Es kommt dabei – auch das betone ich – auf den Einzel-
fall an.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!)


Jede Fläche muss daraufhin geprüft werden, ob eine Un-
terbringung dort möglich und sinnvoll ist. Anbindung an
den Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungs-
möglichkeiten für Kinder und Erwachsene in der Nähe,
das findet sich auch auf Flächen, die eigentlich für Ge-
werbe reserviert sind, insbesondere dann, wenn in der
Nachbarschaft schon ein Wohngebiet vorhanden ist. Das
wollen wir nutzen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Städte und Gemeinden setzen darauf, dass diese
Änderungen im Baugesetzbuch schnell wirksam werden.
Die Sachverständigenanhörung im zuständigen Aus-
schuss des Deutschen Bundestages, in der auch ein Ver-
treter meiner Behörde angehört worden ist, hat den
Bedarf der Kommunen an planungsrechtlichen Erleich-
terungen noch einmal deutlich gemacht. Ich bin mir si-
cher, dass dieses Vorhaben auch hier im Deutschen Bun-
destag eine deutliche Mehrheit finden wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806319500

Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin

Dr. Anja Weisgerber.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Anja Weisgerber (CSU):
Rede ID: ID1806319600

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Weltweit nehmen die kriegerischen Auseinan-
dersetzungen und politische Verfolgung zu. Dadurch
kommen immer mehr Menschen in unser Land, die
Schutz suchen und denen wir auch Schutz bieten wollen.
Wir übernehmen humanitäre Verantwortung für diese
Menschen, und das ist auch gut so.

Wir haben es aber gerade von der Frau Senatorin ge-
hört: Die Situation stellt uns vor große Herausforderun-
gen, besonders die Kommunen. Unsere Städte, Kreise
und Gemeinden leisten hier tagtäglich Außergewöhnli-
ches. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich lo-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Doch sie stoßen eben vermehrt an ihre Grenzen. Die
Zahlen der Asylbewerber steigen stetig. Zum Beispiel
sind Anfang Oktober allein an einem Wochenende mehr
als 700 Asylbewerber in Bayern angekommen. Das stellt





Dr. Anja Weisgerber


(A) (C)



(D)(B)

eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Wie können
wir die Flüchtlinge angemessen unterbringen? Das be-
stehende Bauplanungsrecht ist momentan zu unflexibel,
um kurzfristig auf den Zustrom reagieren zu können.

Zudem gibt es immer wieder Klagen gegen Bauge-
nehmigungen für Flüchtlingsunterkünfte. Das führte zu
teils sehr zwiespältigen Urteilen. Ich möchte ein Beispiel
nennen: In Baden-Württemberg hat ein Nachbar erfolg-
reich dagegen geklagt, dass in einem leerstehenden
Lehrlingswohnheim in einem Gewerbegebiet Flücht-
linge untergebracht werden, mit der Folge, dass die
Flüchtlinge aus dem Wohnheim aus- und in einen Con-
tainer einquartiert werden mussten. Das kann doch nicht
sein; das können wir doch nicht wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das zeigt, dass wir diese Änderungen im Baurecht
brauchen. Mit dem Gesetz schaffen wir genau die nötige
Rechtssicherheit, aber auch die nötige Flexibilität, und
das ist gut so.

Den Antrag der Linken habe ich aufmerksam durch-
gelesen. Sie fordern darin menschenwürdige Flücht-
lingsunterkünfte. Das wollen wir alle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Auch wir wollen menschenwürdige Unterkünfte. Auch
wir wollen die Flüchtlinge in möglichst vielen dezentra-
len kleinen Einheiten unterbringen. Aber woher sollen
wir diese Einheiten nehmen? Wir stoßen hier einfach an
unsere Grenzen. Wir alle kennen die Situation in den
Ballungsgebieten. Dort ist Wohnraum ohnehin knapp.
Natürlich brauchen wir neuen Wohnraum, und wir müs-
sen den öffentlichen Wohnungsbau stärken. Die Bundes-
länder müssen im Übrigen die Mittel, die sie dafür vom
Bund bekommen, auch dafür verwenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig, Frau Dr. Weisgerber!)


Das müssen wir unbedingt angehen. Aber der not-
wendige Wohnraum wird eben nicht von heute auf mor-
gen geschaffen. Das braucht Zeit, und diese Zeit haben
wir derzeit nicht.

Die Initiative Hamburgs im Bundesrat habe ich wie
einen Hilferuf wahrgenommen. Wir dürfen die Kommu-
nen in dieser Situation nicht im Stich lassen. Deswegen
ist der Gesetzentwurf auch so wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Immer wieder wird kritisiert, die Unterbringung von
Flüchtlingen in Ortsrand- oder Gewerbegebieten sei
menschenunwürdig. Aber ich frage: Ist es denn aus Ihrer
Sicht wirklich menschenwürdiger, diese Menschen im
Winter, wenn es kalt ist, in Zelten oder Containern unter-
zubringen?


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Wer sagt denn so was?)


Genau das wollen wir eben nicht.
Wichtig für die Flüchtlinge ist es doch, dass sie ein
Dach über dem Kopf haben. Mit dem Gesetz geben wir
den Ländern und den Kommunen ein Instrumentarium
an die Hand, um schneller und unkomplizierter Hilfe
leisten zu können. Befristet auf fünf Jahre bekommen
die Kommunen mehr Handlungsoptionen. Für den Fall,
dass die Kommunen die Asylbewerber nicht dezentral
im Innenbereich oder im integrierten Wohnbereich un-
terbringen können, bekommen sie die Möglichkeit,
Flüchtlinge in Außenbereichen unterzubringen, wenn
diese unmittelbar an die bebaute Ortschaft angrenzen.

Unter bestimmten Voraussetzungen – ich betone: un-
ter bestimmten Voraussetzungen – können Unterkünfte
in Gewerbegebieten entstehen. Die Unterbringung in
Gewerbegebieten ist zudem nur auf Flächen möglich,
auf denen bislang schon Anlagen für soziale Zwecke als
Ausnahme zugelassen werden können oder zulässig
sind. Außerdem müssen die Interessen der dort ansässi-
gen Betriebe gewahrt werden, und die Unterbringung
muss mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Das
heißt, dass in Gebieten mit zu hoher Lärm- oder Ge-
ruchsbelästigung ohnehin niemand untergebracht wird.

Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Diese Vorausset-
zungen enthält das Gesetz. Ich bin der Meinung, mit die-
sem Maßnahmenpaket versetzen wir unsere Städte und
Gemeinden in die Lage, den Menschen schnellstmöglich
zu helfen.

Doch – und das möchte ich abschließend noch sa-
gen – das Gesetz ist eben nur ein Baustein zur Entlas-
tung der Kommunen. Die Lösung der Flüchtlingsfrage
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


an der sich alle, auch unsere europäischen Nachbarn im
Übrigen, beteiligen müssen.

So ist es ein positives Signal, dass die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben verfügbare Immobilien und
Freiflächen offensiv als Asyl- und Flüchtlingsunter-
künfte anbietet.


(Zuruf von der SPD: Zu welchem Preis?)


Aber auch das allein reicht nicht. Die Städte und Ge-
meinden brauchen mehr Flexibilität. Mit dem Gesetz
senden wir heute ein wichtiges Signal an die Kommunen
und die schutzbedürftigen Menschen aus, dass die not-
wendige Flexibilität jetzt geschaffen wird. Deshalb stim-
men wir dem Gesetz auch aus Überzeugung zu.

Ich fand es bemerkenswert, dass die Grünen gesagt
haben, dass sie nicht dagegen stimmen, sondern sich ent-
halten werden. Ein gewisser Bedarf wird also vielleicht
auch bei den Grünen gesehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806319700

Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die

Kollegin Nina Warken, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1806319800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Asylbe-
werberzahlen in Deutschland – das haben wir bereits ge-
hört – haben in den letzten Jahren rapide zugenommen.
2008 waren es lediglich rund 28 000 Asylanträge. 2013
waren es mehr als 127 000 Asylanträge. In diesem Jahr
werden über 230 000 Erstanträge erwartet.

Gründe für diese erhebliche und plötzliche Zunahme
sind unter anderem der Ausbruch des Bürgerkriegs in
Syrien, die akute Bedrohung durch die Terrororganisa-
tion „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien, aber auch
die Anziehungswirkung, die von unserem Asylsystem
auf Menschen auf dem Balkan, in Afrika und anderen
Ländern mit großer Armut ausgeht.

Deutschland ist im Vergleich zu allen anderen EU-
Mitgliedstaaten das Land mit den meisten Asylbewer-
bern und auch das Land, das die meisten Menschen auf-
nimmt. Dies liegt an den hohen Standards unseres Asyl-
systems. Das muss man bei der ganzen Kritik, die immer
wieder bezüglich der Mindeststandards bei der Unter-
bringung vorgebracht wird, auch einmal klar betonen.

Meine Damen und Herren, besonders betroffen vom
rapiden Anstieg der Asylbewerberzahlen sind nun un-
sere Landkreise und Städte, da sie letztlich für die Unter-
bringung der Menschen verantwortlich sind. Vielerorts
wissen die Kommunen schlicht nicht mehr, wo sie die
Menschen unterbringen sollen. Hier brauchen wir eine
kurzfristige und möglichst unbürokratische Lösung, die
den Kommunen sofort bei der Unterbringung hilft. Es ist
deshalb der richtige Weg, dass Bund, Länder und die
kommunalen Spitzenverbände derzeit gemeinsam da-
rüber beraten, wie wir unsere Kommunen bei den vo-
raussichtlich anhaltend hohen Asylbewerberzahlen ent-
lasten können – natürlich mit der klaren Zielvorgabe
einer menschenwürdigen Unterbringung.

Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Bauplanungsrechts ist eine solche Lösung. Er wird mit
der Annahme des Änderungsantrages der Koalition so-
fort bundesweit wirksam und bedarf keiner Umsetzung
mehr durch die Länder. Mit der Gesetzesänderung wird
es künftig möglich sein, Asylbewerberunterkünfte auch
in Gewerbegebieten einzurichten. Für viele Kommunen
mit leerstehenden Gebäuden in Gewerbegebieten ist das
eine erhebliche Erleichterung, da diese vergleichsweise
schnell und kostengünstig umgewidmet werden können.
Das Gleiche gilt für die Unterbringung von Asylbewer-
bern in ehemaligen Geschäfts-, Büro- oder Verwaltungs-
gebäuden. Hier reichte in der Vergangenheit häufig die
Klage eines einzelnen Anwohners aus, die Kommunen
zu zwingen, die Menschen wieder anderswo unterzu-
bringen. Selbstverständlich kann die Unterbringung von
Asylbewerbern nur mit der Akzeptanz der Anwohner ge-
lingen; doch gerade angesichts des nahenden Winters
kann es nicht sein, dass Asylbewerber bei eisigen Tem-
peraturen in Zelten oder Containern hausen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Auch die Möglichkeit, dass Asylbewerberunterkünfte
künftig in sogenannten Außenbereichsinseln bzw. im in-
nenbereichsnahen Außenbereich gebaut werden dürfen,
ist für viele Kommunen eine erhebliche Erleichterung
bei der Schaffung von zusätzlichen Kapazitäten für die
Unterbringung.

Bei so vielen Vorteilen für die Kommunen tut sich
selbst die Linke dabei schwer, den Gesetzentwurf zu kri-
tisieren. Wenn man Ihren auf den letzten Drücker einge-
brachten Antrag liest, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, merkt man aber, wie wenig Sie von der
Situation in den Kommunen und Landkreisen wissen.
Dort weiß man nicht mehr, wo man die Leute unterbrin-
gen soll, und Sie reden davon, man solle doch die Asyl-
bewerber ihren Unterbringungsort selbst wählen lassen.
Wenn es nach Ihnen geht, dürfen Gemeinschaftsunter-
künfte nicht mehr als 50 Personen beherbergen und die
Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen darf maxi-
mal 6 bis 12 Wochen dauern. All das geht doch völlig an
der Realität in den Landkreisen und Kommunen vorbei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dort geht es mittlerweile darum, den Leuten überhaupt
ein Dach über dem Kopf geben zu können.


(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Meine Damen und Herren, als Stadt- und Kreisrätin
kann ich Ihnen versichern, dass es unseren Landkreisen
und Kommunen fernliegt, Asylbewerber menschenun-
würdig unterzubringen. Es geht mit dem vorliegenden
Gesetzesvorhaben auch nicht darum, Asylbewerber sys-
tematisch und dauerhaft in Gewerbegebiete oder in den
Außenbereich abzuschieben; ein Beweis dafür ist doch
schon die Befristung des Gesetzes bis zum Jahr 2019.
Auch die Kritik bezüglich einer angeblich mangelnden
Infrastruktur in diesen Gebieten entspricht nicht der Rea-
lität. Die Gewerbegebiete und Außenbereichsinseln, um
die es hier geht, liegen oft nahe an Wohngebieten und
können häufig sogar zu Fuß durchquert werden. Öffent-
liche Verkehrsmittel, Zugang zum Gesundheitssystem
und zum Bildungssystem sowie sonstige Infrastruktur
sind vorhanden.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das werden wir gemeinsam evaluieren!)


Es gibt keinen Grund, der gegen diesen Gesetzent-
wurf spricht. Lassen Sie uns ihm also zustimmen, um
unseren Kommunen damit etwas an die Hand zu geben,
mit dem sie unbürokratisch, rechtssicher und in kürzes-
ter Zeit dem Anstieg der Asylbewerberzahlen gerecht
werden und den Menschen vor dem nahenden Winter ein
Dach über dem Kopf bieten können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806319900

Vielen Dank, liebe Kollegin. – Schönen guten Abend

von meiner Seite aus.





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Ich schließe diese Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Maßnah-
men im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unter-
bringung von Flüchtlingen. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3070, den
Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 18/2752
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustim-
mung von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und
SPD, Gegenstimmen von der Linken und Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorlie-
genden Entschließungsanträge, und zwar zunächst über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3075. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zu-
stimmung der Linken, Ablehnung von CDU/CSU und
SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3076. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs-
antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/
Die Grünen und Ablehnung von CDU/CSU, SPD und
Linken.

Damit gibt es einen Themenwechsel und in der Regel
auch einen Sitzwechsel. Ich wünsche denen, die jetzt ge-
hen, einen schönen Restabend und freue mich, ziemlich
zeitnah zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen zu
dürfen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver-
kehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss)

gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu
dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens,
Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Einführung einer Pkw-Maut in
Deutschland

Drucksachen 18/806, 18/2989

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Herbert Behrens für Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806320000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Diskussion hier im Bundestag ging heute eine inte-
ressante Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag
voraus. Vielleicht haben Sie Gelegenheit gehabt, sich
das anzuhören: Der SPD-Verkehrsminister will keine
Murks-Maut, und der CDU-Abgeordnete Klaus Voussem
sagt: „Keine Maut wäre sicher die beste Lösung.“


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und von der CDU, Ihrem Verkehrsminister hier
in Berlin ein Stück Orientierung geben. Folgen Sie Ihren
Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf! Verabschie-
den Sie sich von der Ausländermaut! Stimmen Sie unse-
rem Antrag zu!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert den sofortigen Stopp der Pläne für
eine Pkw-Maut. Diese Maut ist weder erforderlich noch
sinnvoll. Vielleicht war einigen von Ihnen das im März
2014 noch nicht so deutlich wie heute. Darum haben Sie
sich zumindest im Ausschuss geweigert, sich inhaltlich
mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Nach den vie-
len Diskussionen, die wir gehabt haben, muss aber heute
jedem, der nicht an der Leine des bayerischen Minister-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1806320100
Die Pkw-Maut bringt nicht
mehr Geld, aber auf jeden Fall mehr bürokratischen Auf-
wand.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Eigentlich sollte hier, wie gesagt, gar keine Diskus-
sion stattfinden. Man hat uns im Ausschuss eine Anhö-
rung dazu verweigert mit dem Hinweis, es gebe irgend-
wann einen Gesetzentwurf dazu. Nun hat es in der
vergangenen Woche zwar einen Gesetzentwurf gegeben.
Den kennen wir alle aber gar nicht; denn er war erst ein-
mal nur Gegenstand im Kabinett und geht jetzt in die
Ressortabstimmung.

Einiges aus diesem Entwurf ist aber bekannt gewor-
den. So heißt es, dass 3,7 Milliarden Euro Einnahmen er-
wartet würden. Die Pkw-Maut werde zu einer Verkehrs-
infrastrukturabgabe, die dann alle deutschen Autofahrer
zu zahlen hätten. Das heißt, jeder Kfz-Halter hätte eine
Zwangsmaut zu zahlen. Aber 3 Milliarden Euro sollen
den deutschen Autofahrern im Rahmen eines Gesetzes,
das der Finanzminister erarbeiten muss, zurückerstattet
werden; dadurch werden sie entlastet. Aber auch dieser
Gesetzentwurf liegt noch nicht vor.

Wir haben den Eindruck, dass bei den 700 Millionen
Euro Einnahmen, die nur die ausländischen Autofahrer
einbringen sollen, ähnlich wie bei anderen Großprojek-
ten Einnahmen hochgerechnet und Ausgaben herunter-
gerechnet werden. Der ADAC hat nachgefragt, ob dieser
Betrag von 700 Millionen Euro, den die Firma AGES





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

– ein Unternehmen, das sich mit Mauteintreiben be-
schäftigt – ermittelt hat, stimmt. Er hat nachgerechnet
und ist auf 262 Millionen Euro gekommen.


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Nicht glaubwürdig!)


Er hat auch festgestellt, dass der Aufwand wesentlich
höher ist als vom Verkehrsminister vorgesehen. Er hat
nämlich 357 Millionen Euro, die allein der Aufbau der
Kontrollstrukturen kosten wird, gar nicht mit eingerech-
net. Das heißt, die Berechnung des Verkehrsministers ist
von vorne bis hinten falsch und anzuzweifeln. Das ist ein
weiterer Grund, auf die Einführung der Maut zu verzich-
ten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können Wetten abschließen, wer zuerst die
schwarze Null erreicht: Herr Dobrindt mit seiner Pkw-
Maut oder der Finanzminister bei seinem Haushalt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zwangsmaut ist
aus unserer Sicht auch rechtlich nicht zu halten. Wie ver-
hält es sich beispielsweise mit innerorts gelegenen Bun-
desstraßen? Haben die Städte jetzt Anspruch auf die Ein-
nahmen aus der Maut, die dort zu zahlen wäre, oder ist
es zulässig, die Maut nur außerorts einzutreiben? Auch
diese Frage ist völlig ungeklärt. Beispielsweise in Berlin
und anderen Großstädten gibt es viele Kilometer an in-
nerörtlichen Bundesstraßen. Die Städte müssen dafür
aufkommen; aber sie bekommen möglicherweise nichts
von den Mauteinnahmen ab. Ist das zulässig? Ich ver-
mute, es wird Klagen geben.

Auf Menschen mit Behinderungen, die nur teilweise
von der Kfz-Steuer befreit sind, wird auch mit keinem
Wort eingegangen. Die, die voll entlastet werden sollen,
werden nicht zusätzlich belastet. Das ist einfach umzu-
setzen. Aber wie mit dem Freibetrag bei nur teilweise
Befreiten umgegangen werden soll, auch dazu ist kein
Wort zu finden.

Die Maut bringt also nicht nur keine zusätzlichen Ein-
nahmen, sondern sie wirft auch erheblich mehr Fragen
auf, als es Antworten gibt. Es geht aber nicht um ein
Frage-und-Antwort-Spiel. Es geht vielmehr um die poli-
tische Entscheidung: Soll es in Deutschland eine Pkw-
Maut geben, ja oder nein? Diese Frage ist zu beantwor-
ten.

Darum bleibt es dabei: Wir brauchen eine politische
Entscheidung gegen die Einführung. Lassen Sie uns die
Pkw-Maut jetzt stoppen! Vielleicht trägt der Bundes-
finanzminister dazu bei, indem er seinen Gesetzentwurf
so lange schiebt, dass es nicht mehr zu einer Pkw-Maut
kommen kann. Aber das wäre kein politischer Weg, son-
dern nur ein Ausweg. Aber den würde ich auch mitge-
hen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320200

Danke, Herr Kollege Behrens. – Nächster Redner in

der Debatte ist Karl Holmeier für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1806320300

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Am kommenden Sonntag vor 25 Jahren, am 9. Novem-
ber 1989, hat die friedliche Revolution vieler Hundert-
tausend mutiger Menschen in der ehemaligen DDR das
SED-Unrechtsregime nach jahrzehntelanger Schre-
ckensherrschaft, Stasiterror und Todesschüssen an der
Mauer in sich zusammenbrechen lassen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt baut ihr Maut-Zollhäuschen auf!)


Gott sei Dank! Ich bezeichne es als Wunder, dass dies
friedlich möglich war. Die Wiedervereinigung Deutsch-
lands, auf die die Unionsparteien seit Gründung der bei-
den deutschen Staaten hingewirkt haben, wurde einge-
läutet und möglich. Der 9. November 1989 war und ist
ein großartiger Tag in der deutschen Geschichte. Heute,
25 Jahre später, müssen wir uns mit einem Antrag der
SED-Nachfolgepartei Die Linke beschäftigen, der sinn-
los und, wie man bei uns zu Hause sagt, so überflüssig
wie ein Kropf ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für die Maut! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das war der Zusammenhang! Den mussten Sie erst einmal erklären!)


Die Fraktion Die Linke hat, wie Herr Behrens schon
gesagt hat, im März 2014 einen Antrag eingebracht,
nach dem der Deutsche Bundestag die Einführung einer
Pkw-Maut in Deutschland ablehnen soll. Zudem, so die
Forderung der Linken, soll die Bundesregierung alle Pla-
nungen für die Einführung einer Pkw-Maut unverzüglich
einstellen.

Sehr geehrte Damen und Herren, das tun wir natürlich
nicht. Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland
war Bestandteil unseres Wahlprogramms zur Bundes-
tagswahl 2013. Auch dafür haben uns die Menschen ge-
wählt und ihr Vertrauen ausgesprochen. Die Einführung
einer Pkw-Maut ist neben vielen anderen guten Dingen
Bestandteil des Koalitionsvertrages zwischen CDU,
CSU und SPD.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben versprochen, dass Sie hohe Einnahmen erzielen! Die erzielen Sie damit nicht!)


Es war also früh absehbar – auch Sie, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren von der Linken, kennen sicher-
lich unseren sehr guten Koalitionsvertrag –, dass
Verkehrsminister Dobrindt einen entsprechenden Ge-
setzentwurf vorlegen wird.





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

Vor der Sommerpause hat Minister Dobrindt die Eck-
punkte zur Einführung einer Pkw-Maut dargelegt und
kurz darauf angekündigt, bis Ende Oktober 2014 einen
Gesetzentwurf vorzulegen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn? Oktober war schon!)


Im Sinne eines geordneten Verfahrens wird nun im
Verkehrsausschuss eine Anhörung zur Pkw-Maut durch-
geführt; das stand immer fest. Eine Anhörung und eine
inhaltliche Diskussion machen aber erst dann Sinn,
wenn der Gesetzentwurf vorliegt. Dieser liegt nun vor.
Unser Verkehrsminister hat sein Versprechen gehalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es xmal verschoben!)


Der Gesetzentwurf wurde Ende Oktober vorgelegt, und
er ist gut. Versprochen und Wort gehalten!


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten Einnahmen erzielen! Wo sind die Einnahmen?)


Die Große Koalition trägt die Bundesregierung. Wir
machen eine erfolgreiche Politik für unser Land und
damit für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die
Beratung der Pkw-Maut kann in Kürze im Deutschen
Bundestag beginnen. Alles hat seine Ordnung. Es gibt
keinen Grund zur Aufregung. Unser erklärtes Ziel ist,
den hohen Standard des deutschen Infrastrukturnetzes zu
erhalten und weiter auszubauen. Nur so können wir den
Verkehrszuwachs im Personen- und Güterverkehr
bewältigen. Mit der kontinuierlichen Ausweitung der
Nutzerfinanzierung erreichen wir eine größere Unabhän-
gigkeit vom Bundeshaushalt. Die Planungssicherheit für
die Finanzierung von dringend erforderlichen Verkehrs-
infrastrukturmaßnahmen wird mit der Ausweitung der
Lkw-Maut, über die wir in den letzten Tagen diskutiert
haben, und der Einführung der Infrastrukturabgabe für
Pkw gestärkt.

Mit dem Gesetzentwurf unseres Verkehrsministers
halten wir unser Wahlversprechen ein. Halter von in
Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeugen haben keine
Mehrbelastungen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Entwurf gibt es doch noch gar nicht!)


Herr Behrens, Sie haben vorhin gefragt, wer sich traut,
mit Ihnen zu wetten. Ich traue mich schon, mit Ihnen
darum zu wetten, dass etwas übrig bleibt. Wir können als
Wetteinsatz gerne 50 Liter Bier nehmen.

Wir legen zudem einen europarechtskonformen Ge-
setzentwurf vor. Der Bonner Staatsrechtler Professor
Christian Hillgruber stellt in seinem Gutachten fest, dass
die Infrastrukturabgabe niemanden diskriminiere. Die
Kompensation der Infrastrukturabgabe bei der Kfz-
Steuer sei eine legitime Maßnahme. Der Preis für die
Pkw-Jahresvignette bestimmt sich nach Hubraum und
Umweltfreundlichkeit und wird bei 130 Euro gedeckelt.
Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeu-
gen können wählen zwischen einer Zehntagevignette für
10 Euro, einer Zweimonatsvignette für 22 Euro oder ei-
ner Jahresvignette zu den gleichen Bedingungen wie für
in Deutschland zugelassene Fahrzeuge.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder sie weichen auf andere Strecken aus und belasten dort die Menschen!)


Ich stelle abschließend fest, dass die Linke mit der
Beantragung der heutigen Debatte eigentlich nichts an-
deres als heiße Luft produziert. Diese Debatte ist nicht
notwendig. Wir werden den Antrag natürlich ablehnen.
Ich freue mich auf die inhaltliche Beratung unseres Ge-
setzentwurfs in den kommenden Wochen


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo bleiben denn die Inhalte?)


und wünsche Ihnen allen gute Fahrt auf deutschen Stra-
ßen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320400

Danke schön, Herr Kollege Holmeier. – Die Wette

kommt in das Protokoll. Wenn man aber aus Bayern
kommt, sind 50 Liter Bier günstig. Da könnte man schon
etwas drauflegen. Ich werde das dann kontrollieren. –
Gut, die Wette gilt.

Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Valerie Wilms
für Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Gäste! Als ich eben die Rede von Herrn
Holmeier gehört habe, habe ich gedacht: Wo bin ich hier
eigentlich? – Alles, was er erzählt hat, habe ich hier noch
nicht erlebt. Es liegt doch noch gar kein Gesetzentwurf
vor. Welche Märchen haben Sie uns aus Bayern wieder
erzählt? Das funktioniert doch hinten und vorne nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts als heiße Luft!)


Es ist schön, dass auch das Ministerium jetzt vertreten
ist, liebe Kollegin Bär. Ihr Minister hat nicht Wort gehal-
ten. Monatelang hat er das Parlament hingehalten. Eine
schon vor der Sommerpause von uns im Ausschuss kol-
legial gemeinschaftlich geplante Anhörung zu Ihrer
CSU-Maut wurde im Oktober mir nichts, dir nichts ab-
geblasen. Der einzige Grund: Ihr lieber Minister
Dobrindt hat nicht geliefert, was er versprochen hat. Es
gibt auch jetzt noch keinen Gesetzentwurf. Ich darf ver-
muten, dass dem Minister sehr wohl bekannt ist, was ein
Gesetzentwurf ist.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da wäre ich mir nicht so sicher!)


Das ist nämlich ein Dokument, das dem Bundestag
schon zugeleitet sein müsste, zumindest aber dem Bun-
desrat. Davon habe ich noch lange nichts gesehen. Was
bedeutet das? Es kursiert vielleicht nur ein Entwurf im





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

Internet, über den wir hier mutmaßen dürfen. Das ist
schlicht unverschämt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der Minister hält sich nicht an seine Versprechen.
Statt dem Parlament, dem Gesetzgeber, wirklich etwas
vorzulegen, über das wir entscheiden können, gibt er
blumige Presseerklärungen alle paar Monate heraus. Das
ist eine Missachtung des Parlaments.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Sie können noch früh genug zustimmen, Frau Wilms! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ein-
mal die Details von dem anschauen, was man im Internet
findet. Punkt eins: europäisches Recht.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Befassen Sie sich jetzt mit etwas nicht Vorhandenem?)


Dazu gibt es ein Gutachten – man könnte dafür auch ei-
nen besonderen Begriff finden –, das man bestellt hat, in
dem Sie sich die Vereinbarkeit der Maut mit dem euro-
päischen Recht bescheinigen lassen. Alle anderen Ex-
perten kommen zum glatt gegenteiligen Schluss. Mit
dem Gefälligkeitsgutachten haben Sie es sogar geschafft,
dass Ihnen der Kommissar Kallas auf die Schulter ge-
klopft hat. Der ist aber nicht mehr Kommissar, der ist
weg. Ich bin gespannt, was das insgesamt dann wirklich
wert ist; denn seit einer Woche haben wir eine neue
Kommissarin, und die fühlt sich nicht an die Aussagen
ihres Vorgängers gebunden, wie sie heute noch einmal
ganz deutlich per Agenturmeldung hat mitteilen lassen.
Ich sage: Auch jetzt diskriminiert Ihre CSU-Maut die
EU-Ausländer. Sie ist und bleibt ein mittelalterlicher
Wegezoll, der überhaupt nicht zum europäischen Gedan-
ken passt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Punkt zwei: die elektronische Vignette, wie wir letzte
Woche dem Internet entnehmen konnten. Damit keine
Bildchen an jeder Autoscheibe kleben, geben Sie sich
ganz modern. – Da war doch einmal etwas: Minister für
Modernität oder irgendetwas anderes. – Es müssen nur
alle Fahrzeuge fotografiert werden. Das ist wie bei der
Lkw-Maut, hat aber einen kleinen Haken. Die Daten
werden bei den Pkw nämlich nicht sofort gelöscht. Sie
sollen bis zu 13 Monate aufbewahrt werden. Damit wer-
den Bewegungsprofile aller Autofahrer zentral erfasst.


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)


Die lieben Kollegen vom BKA rufen schon nach den
Daten zur Verbrechensbekämpfung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, es gibt noch keinen Gesetzentwurf!)


Davor kann ich nur warnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wenn Sie schon nicht die Finger von der unseligen Maut
lassen können, dann korrigieren Sie wenigstens diese
Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Aber die
Vorratsdatenspeicherung ist ja eine CSU-Nummer.

Punkt drei: Ihre Einnahmen. Aus den vollmundigen
Ankündigungen ist nichts geworden. Stattdessen wurde
es mit jeder Ankündigung weniger. 2013 wurden noch
900 Millionen Euro Einnahmen geschätzt, im Juli dieses
Jahres hat der Minister von nur noch 600 Millionen Euro
gesprochen. Inzwischen kommt er selbst durcheinander.
Er sprach letzte Woche von deutlich mehr als 300 Mil-
lionen Euro, dann wieder von einer halben Milliarde
Euro. Ja was denn nun? Sie wissen es offensichtlich
selbst nicht im Ministerium. Vielleicht sind Ihnen auch
ein paar Zahlen durcheinandergekommen. Das kann
schon einmal passieren, wenn man Wohltaten für Bayern
und die Republik durcheinanderbringt; denn das Ver-
kehrsministerium arbeitet nicht nur an der CSU-Maut.

Lassen Sie mich ein Beispiel aufzeigen. Im Sommer
wurden fleißig Geschenke verteilt. Dabei hat der Minis-
ter natürlich auch an sich und seinen Wahlkreis gedacht.


(Florian Oßner [CDU/CSU]: Ist es eine Sünde, wenn man an seinen Wahlkreis denkt?)


Dort, in Oberau, soll die teuerste Ortsumgehung Bayerns
gebaut werden. Zusammen mit drei geplanten Tunneln
kostet das Ganze eine halbe Milliarde Euro, genauso
viel, wie die CSU-Maut einbringen soll.


(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Verschwörungstheorie!)


Wir werden genau hinsehen müssen, wohin das Geld am
Ende geht.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320600

Frau Kollegin.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320700

Liebe Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Ende.

Es bleibt festzuhalten: Die CSU-Maut ist untauglich und
bürokratisch. Sie wird keines, aber auch wirklich keines
unserer Probleme lösen, sondern viele neue schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer mit dummen Ideen ein Gesetz machen will, kann
auch nur ein dummes Gesetz bekommen. Also, lassen
Sie die Finger davon.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806320800

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in

dieser Debatte ist Sebastian Hartmann für die SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1806320900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da wartet man darauf, was die Opposition sagt, bereitet
sich vor und ist richtig gespannt. Und was passiert? Sie
kritisieren, dass es nichts gibt und dass der Minister an-
geblich nichts vorgelegt hat. Dann reden Sie über das,
was es nicht gibt – Frau Wilms sagt, dass es das nicht
gibt –, und Sie arbeiten sich an irgendetwas ab, was es
angeblich nicht gibt. Dabei profitiert Ihr Antrag, der sich
eigentlich auf die Geschäftsordnung bezieht, lieber Kol-
lege Behrens, ganz erheblich davon, dass der Minister
Wort gehalten hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Sonst könnten Sie sich doch an keinem einzigen Vor-
schlag abarbeiten. Es ist eben ein Vorteil der deutschen
Infrastruktur, dass es auch eine digitale Infrastruktur gibt
und dass man im Internet manches Wichtige nachlesen
kann, an dem Sie sich abarbeiten wollen.

Der umgekehrte Fall: Wenn Sie kritisieren wollten,
dass der Minister eben keinen Gesetzentwurf in dem
31 Tage zählenden Oktober vorgelegt hätte, worüber
hätten Sie denn heute geredet?


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Über unseren Antrag!)


Was wollen Sie denn? Sie wollen, dass die Pkw-Maut
nicht kommt. Dann könnten Sie einfach einen Schluss-
strich ziehen, und damit wäre die Debatte beendet. Den-
noch arbeiten Sie sich an dem ab, was wir hier vielleicht
zur Diskussion bekommen.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal zur Sache, zum Thema, zum Inhalt!)


Es spricht doch für eine gute parlamentarische De-
batte, dass man einen entsprechenden Vorschlag be-
kommt, dass man sich diesen Vorschlag anschaut und
ihn da, wo er noch nicht so gut ist, besser macht. Dafür
wird es ein geordnetes Verfahren geben. Dazu wird es
eine Sachverständigenanhörung geben. Dann wird man
das eine oder andere Gutachten, ob jetzt bestellt oder
nicht, vielleicht um ein noch besseres Gutachten ergän-
zen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kriegen wir das noch in dieser Wahlperiode?)


Dann wird man sehen: Gilt der Koalitionsvertrag oder
nicht? Das wird die Maßgabe der SPD, der CDU und der
CSU sein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist ein offenes Geheimnis: Es gibt zwei große Par-
teien. Wenn sie die absolute Mehrheit verpassen – die
eine deutlich, die andere knapp –, dann gibt es immer
das Problem, dass man einen Kompromiss in der Sache
schließen muss. Ja, wir haben es geschafft, den Mindest-
lohn und die Rente mit 63 durchzusetzen. Andere wollen
vielleicht eine Infrastrukturabgabe für die deutsche
Infrastruktur organisieren. Ja, das ist so, und das hat man
in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Koalitions-
vertrag wird auch die Maßgabe für das Infrastruktur-
abgabegesetz sein, das der Minister in einem ersten
Referentenentwurf seinen Kolleginnen und Kollegen im
Kabinett zugeleitet hat. Wenn sie darauf reagiert haben,
dann wird es diesen Gesetzentwurf geben.

Ich erinnere einmal daran, dass es für ein solches
Gesetz ein paar klare Kriterien gibt. Über die werden wir
reden, und die werden wir in der parlamentarischen
Debatte genau abarbeiten. Wir als SPD und die andere
tragende Fraktion werden streng darauf achten, dass
diese Kriterien nicht unterlaufen werden; das garantiere
ich Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich lese Ihnen etwas vor, damit hier im Parlament
keine Nebelkerzen gezündet werden. Ich erinnere in die-
sem Zusammenhang an den 9. November – vielen Dank
für die Ausführungen dazu –; es ist ein besonderes
Datum in unserer Geschichte. Ich möchte mich diesen
Ausführungen natürlich anschließen, Herr Kollege
Holmeier, auch wenn ich zunächst mit dem von der Ge-
schäftsordnung vorgesehenen Bericht gerechnet habe
und dann einen ganz anderen Einstieg vernehmen
konnte. Ich zitiere:

Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des
Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen
angemessenen Beitrag der Halter von nicht in
Deutschland zugelassenen Pkw erheben (Vignette)

mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in
Deutschland stärker belastet wird als heute. Die
Ausgestaltung wird EU-rechtskonform erfolgen.

Am 7. Juli 2014 wurde ein Konzept vorgestellt, und
daran wurde gearbeitet. Wenn man die öffentliche
Debatte verfolgt, stellt man fest: Aus einem Konzept
wurde ein etwas verschärftes Konzept. Es wurde noch
einmal nachgedacht, ob man die eine oder andere Straße
in das Konzept hineinnimmt, und dann kam es zu dem
Vorschlag, dass man sich vor allen Dingen auf die Bun-
desfernstraßen konzentriert; denn wir wollen ja nicht die
Grenzregionen abhängen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wollen wir nicht, und das werden wir auch nicht tun.
Darauf können Sie sich verlassen.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen den kleinen Grenzverkehr!)


– Genau, der kleine Grenzverkehr wird ein großes Plus
werden.

Kriterium für die Ausgestaltung dieses Gesetzes ist
nicht nur, dass es EU-rechtskonform sein muss und dass
Pkw-Halter in Deutschland nicht zusätzlich belastet wer-
den. Es gibt ein konkludentes Kriterium. Der Kollege
Wittke aus Nordrhein-Westfalen, aus meinem Heimat-
land, hat das so schön formuliert:





Sebastian Hartmann


(A) (C)



(D)(B)

Vernünftig muss die Regelung schon sein. Vernünf-
tig heißt: Der Aufwand muss deutlich geringer sein
als der Nettoertrag.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Darauf warten wir genau!)


Beides muss in einem vernünftigen Verhältnis ste-
hen …


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das fehlt uns!)


Kollege Wittke, Sie haben 10 Prozent als Messlatte
benannt. Das ist doch gut.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Mehr wollen wir doch nicht. Die Lkw-Maut ist die
Messlatte, an der wir das messen werden.

Ich mache Ihnen jetzt zwei Rechnungen auf, und
diese Rechnungen werden die gesamte Mautdebatte der
folgenden Monate bestimmen: 3,7 Milliarden Euro Ein-
nahmen stehen nur 200 Millionen Euro Erhebungsauf-
wand gegenüber; das sind sagenhafte 5,4 Prozent. Wenn
Sie es negativ rechnen, dann stehen 700 Millionen Euro
Einnahmen 200 Millionen Euro Aufwand gegenüber;
das sind 30 Prozent. So viel Rechnen muss sein. Daran
werden wir arbeiten; denn das beste und effizienteste
System wird unsere Maßgabe sein.

Alle diejenigen, die das kritisieren, muss man fragen,
ob 500 Millionen Euro für die deutsche Infrastruktur zu
wenig sind, um sich auf den Weg zu machen.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei 7,2 Milliarden, die wir zusätzlich brauchen!)


Da wird die Frage sein, ob Sie den notwendigen Infra-
strukturbeitrag anders darstellen können, ohne deutsche
Autofahrerinnen und Autofahrer zusätzlich zu belasten.
Wir werden in der Debatte sehr vernünftig darauf zu
achten haben, dass wir uns genau an diesen Maßgaben
orientieren.

Zu guter Letzt. Es ist als Teil einer modernen Infra-
strukturfinanzierung über eine Nutzerfinanzierung nach-
zudenken. Wenn Sie eine noch weiter gehende Maut auf
allen Straßen – Kommunal-, Bundes- und Landesstra-
ßen – nach Uhrzeit, nach Tageszeit getrennt, wollen,
dann dürfen Sie sich im Plenum nicht darüber beschwe-
ren, wenn der Minister liefert und wir Ihnen zusagen, dass
wir ein vernünftiges Gesetzgebungsverfahren durchfüh-
ren, um den Koalitionsvertrag so umzusetzen, wie wir
ihn vereinbart haben. Nicht mehr und nicht weniger wer-
den wir tun.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur leider fehlt die Vernunft!)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806321000

Danke schön, Herr Kollege Hartmann. – Nächster

Redner in der Debatte: Steffen Bilger für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806321100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich muss ehrlich sagen, dass wir uns in der Unionsfrak-
tion eigentlich auf die Mautdebatten in dieser Woche ge-
freut haben und ein bisschen spekuliert haben: Wird
denn die Opposition eine Aktuelle Stunde dazu beantra-
gen?


(Sören Bartol [SPD]: Welcher Teil der Unionsfraktion denn?)


– Zumindest kann ich das für den Unionsteil der Koali-
tion sagen. – Aber sie hat uns enttäuscht. Jetzt diskutie-
ren wir zumindest in dieser Debatte über die Pkw-Maut.
Aber das zeigt vielleicht auch, dass die Luft schon ein
Stück weit raus ist, weil Erwartungen der Pkw-Maut-
Gegner nicht erfüllt wurden. Nach allem, was in den
letzten Monaten gesagt wurde – „nicht europarechtskon-
form“, „Quadratur des Kreises, die nicht funktionieren
wird“ –, zeigt sich, dass es anders aussieht und dass wir
ein vernünftiges Gesetz beschließen können, um die
Pkw-Maut in Deutschland einzuführen.

Liebe Frau Kollegin Wilms, ich finde es dann auch
nicht angemessen, von dummen Ideen und dummen Ge-
setzen zu sprechen. Wir machen eine vernünftige Lö-
sung, die auch den Rückhalt in der Bevölkerung hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger als 50 Prozent!)


Den Linken will ich herzlich danken für den Antrag
und damit auch für die Gelegenheit, jetzt über den Ge-
setzentwurf, den wir alle offensichtlich kennen, zu dis-
kutieren und uns darüber hier im Plenum auseinanderzu-
setzen.

Ich will mich auch auf Ihren konkreten Antrag bezie-
hen; denn Sie stimmen in diesem Antrag beispielsweise
in den Chor der Kritiker ein, die sagen: Was soll das
denn mit der Pkw-Maut? Man sollte lieber die Lkw-
Maut erhöhen. – In der Debatte darf man nicht verges-
sen: Das machen wir schließlich. Die Lkw-Maut – das
sage ich für alle, die das noch nicht mitbekommen ha-
ben – wird ausgeweitet.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst einmal deutlich gesenkt! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist doch alles Stückwerk!)


Man kann es gar nicht oft genug sagen: Wir gehen die
Lücken in der Infrastrukturfinanzierung konsequent an.
Dem Bund fehlen laut den verschiedenen Expertenkom-
missionen rund 4 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Pro-
blem werden wir lösen; so ist es in der Großen Koalition
vereinbart. Das heißt: mehr Haushaltsmittel, 5 Milliar-
den Euro in dieser Legislaturperiode, geplant ab 2018





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)

stetig 1,8 Milliarden Euro pro Jahr mehr aus dem Haus-
halt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806321200

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung der Kollegin Wilms?


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806321300

Ausgesprochen gern.


(Oliver Wittke [CDU/CSU]: Das ist gelogen!)


– Das ist die Wahrheit.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nichts als die Wahrheit!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806321400

Bitte schön.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806321500

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Bilger,

ich habe hier gerade eine Agenturmeldung, eine Mel-
dung von AFP. Darin steht ganz deutlich: Die von Herrn
Dobrindt geplante Pkw-Maut stößt in der Bevölkerung
„überwiegend auf Ablehnung“. Wie passt denn das mit
den Aussagen zusammen, die Sie eben getroffen ha-
ben? – Laut dieser Agenturmeldung sprechen sich 54 Pro-
zent der Befragten gegen die Einführung einer Pkw-
Maut auf den Autobahnen aus.


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806321600

Es gibt ja im Laufe einer solchen Debatte viele Erhe-

bungen. Als die Diskussion über die Pkw-Maut begon-
nen hat, lag die Unterstützung in der Bevölkerung für
unser Gesetzesvorhaben bei 80 Prozent. Es mag sein,
dass durch diese Diskussion die Zustimmung etwas ge-
sunken ist. Aber ich bin mir sicher, wenn wir uns in ei-
nem halben Jahr wieder darüber unterhalten, wird die
Zustimmung wieder deutlich gestiegen sein. Wir haben
auf jeden Fall dauerhaft eine Unterstützung in der Bevöl-
kerung für das Vorhaben der Pkw-Maut. Das kann ich
Ihnen insbesondere als Baden-Württemberger sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Menschen verstehen, dass ein Riesenbürokratieaufwand damit verbunden ist!)


– Nun, lieber Herr Kollege Gastel, auch die Grünen in
Baden-Württemberg haben sich immer mal wieder für
Nutzerfinanzierung ausgesprochen, im Übrigen verbun-
den mit einem noch erheblicheren Aufwand – wenn wir
schon über Datenschutz sprechen –, mit streckengenauer
Abrechnung usw. Da sollten wir, glaube ich, bei der
Wahrheit bleiben.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht für Ihr Modell!)


Zurück zu den Zahlen und zu unserem Vorhaben, die
Infrastruktur in Deutschland vernünftig auszufinanzie-
ren: Es geht, wie gesagt, um mehr Haushaltsmittel. Es
geht aber auch um die Ausweitung der Lkw-Maut. Bis-
her stehen uns rund 4,4 Milliarden Euro im Jahr zur Ver-
fügung. Die Lkw-Maut wird auf die 7,5-Tonner ausge-
weitet. Das bringt rund 300 Millionen Euro zusätzlich
pro Jahr ab 2016. Wir werden die Lkw-Maut auf vier-
spurige Bundesstraßen – das sind weitere 1 100 Kilome-
ter – ausweiten. Das bringt 80 Millionen Euro ab 2015.
Schließlich werden wir sie ab 2018 auf alle Bundesstra-
ßen ausweiten. Das wird etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr
bringen.

Die Verkehrspolitiker kennen alle Schwierigkeiten,
die es bei der Umsetzung einer Ausweitung einer Lkw-
Maut geben kann. Ich will aber noch etwas dazu sagen,
weil wir oft gefragt werden, warum das alles so lange
dauert, warum das nicht schneller geht. Wir machen es
so schnell wie möglich, aber es dauert einfach, bis aus-
geschrieben ist, bis die Systeme errichtet sind. Die
Lkw-Maut wird so schnell wie möglich – wie ich es
eben dargestellt habe – ausgeweitet. Dann kommt noch
die Pkw-Maut mit Einnahmen von rund 500 Millionen
Euro im Jahr dazu.

Wenn man das alles zusammenrechnet – die 1,8 Mil-
liarden Euro aus dem Haushalt, die zusätzlichen 2 Mil-
liarden aus der Lkw-Maut, die 500 Millionen Euro aus
der Pkw-Maut –, dann sind das mehr als 4 Milliarden
Euro pro Jahr für die Infrastruktur. Damit schließen wir
die vorhin erwähnte, bisher bestehende Lücke.

Deshalb, meine Damen und Herren: Nach Jahren des
Redens über die mangelnde Finanzierung der Infrastruk-
tur kann ich feststellen: Wir reden nicht nur, sondern wir
handeln auch. Wir packen die Probleme, die sich bisher
bei der Infrastrukturfinanzierung stellen, an.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In Ihrem Antrag äußern Sie größtes Verständnis für
die ausländischen Fahrzeughalter. Sie schreiben:

Ausländische Pkw zahlen in Deutschland etwa das
Doppelte an Mineralölsteuer, als ihnen an Wege-
kosten zugerechnet werden kann.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Ja, so ist es!)


Ich muss sagen: Es ist ja schön, dass Sie so viel Ver-
ständnis für die ausländischen Pkw-Fahrer haben. Aber,
mit Verlaub, wen interessiert denn diese Frage in Öster-
reich, in Frankreich oder in der Schweiz? Es ist eben
doch auch eine Frage der Gerechtigkeit. Und wir been-
den jetzt die Benachteiligung der deutschen Autofahrer,
die lange Jahre bestanden hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806321700

Der Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke

möchte Ihnen auch eine Zwischenfrage stellen.


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806321800

So viele Zwischenfragen hatte ich noch nie.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806321900

Vielen Dank. – Herr Bilger, Sie haben gesagt, in Ös-

terreich gebe es ein vergleichbares System der Maut-





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

erhebung, über das Ausländer an der Finanzierung der
Straßen beteiligt werden. Ist neben Österreich noch ein
anderes europäisches Land genau in dieser Weise am
Start, wie es der Verkehrsminister Dobrindt versucht, der
die deutschen Autofahrer nicht über das hinaus belasten
will, was sie schon jetzt beitragen, sondern nur die aus-
ländischen Fahrer belasten will? Gibt es ein vergleichba-
res Modell, das mir bislang verborgen geblieben ist?


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806322000

Ihr Vergleich hinkt. Denn man muss ja sehen, dass die

österreichischen Autofahrer zwar natürlich auch in ihr
Mautsystem einzahlen, aber dadurch eine Entlastung des
österreichischen Steuerzahlers gegeben ist. Allein des-
wegen kann man nicht konstruieren, dass hier eine Dis-
kriminierung von Haltern ausländischer Fahrzeuge statt-
finden würde.

Wir haben bisher eine Benachteiligung der deutschen
Autofahrer; denn sie müssen in fast allen Nachbarlän-
dern bezahlen. Diese Benachteiligung werden wir jetzt
mit der Pkw-Maut beenden.

Ich will noch ein anderes Thema Ihres Antrags be-
leuchten.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


Denn Sie sagen ja oft, sie würden dafür stehen, dass den
Menschen mit geringerem Einkommen Unterstützung
zukommt. Das stellen Sie oft in den Mittelpunkt Ihrer
Politik.

In Ihrem Antrag schlagen Sie jetzt aber vor, eine
Busmaut einzuführen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Für Fernbusse, die anstatt des Zuges fahren!)


Wir erinnern uns ja alle noch, dass wir uns bei der Re-
form des Personenbeförderungsgesetzes bewusst ent-
schieden haben, keine Busmaut einzuführen, weil wir in
Zeiten von teurer Mobilität mit dem Auto, der Luftver-
kehrsabgabe und von nicht ganz billigen Zugtickets eine
kostengünstige Alternative bieten wollen. Deswegen ha-
ben wir mit der Liberalisierung des Fernbusverkehrs
eine Alternative geschaffen. Ich glaube, an einem Tag
wie heute kann man nur sagen, dass wir froh sein können
über dieses Erfolgsmodell Fernbusse, das eine gute und
vor allem eine kostengünstige Alternative darstellt. Inso-
fern kann ich nicht nachvollziehen, dass ausgerechnet
die Linken sich jetzt für eine Busmaut aussprechen, die
dazu führen würde, dass die Fernbustickets teuer wür-
den.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Entsprechend der Belastung der Straßen! Natürlich!)


Der Fernbus ist eine hervorragende Ergänzung der
Mobilitätsangebote, die wir haben. Er ist insbesondere
für junge Menschen und für Menschen mit einem gerin-
gen Einkommen eine sehr gute Alternative. Vor diesem
Hintergrund halte ich Ihre Pläne für falsch. Ihr Antrag ist
zugegebenermaßen ja schon vor einigen Monaten ge-
stellt worden, aber ich kann heute feststellen, dass Ihre
Befürchtungen allesamt nicht eingetreten sind. Im Ge-
gensatz zu den Ausführungen in Ihrem Antrag ist die
vorgeschlagene Mautregelung europarechtskonform. Sie
entspricht den Vorgaben, auf die wir uns im Koalitions-
vertrag verständigt haben.

Eines will ich auch noch einmal abschließend beto-
nen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806322100

Aber bitte abschließend.


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1806322200

Wirklich abschließend. – Alle, die sagen: „Das sind ja

nur 500 Millionen Euro“, sollten sich einmal in Erinne-
rung rufen, wie wir im Verkehrsausschuss oder in ande-
ren Ausschüssen des Deutschen Bundestages um wenige
Millionen streiten. 500 Millionen Euro sind ein wesentli-
cher Beitrag, um bei der Infrastruktur in Deutschland
voranzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806322300

Danke, Herr Kollege Bilger. – Ich dränge, weil wir

heute noch eine sehr lange Tagesordnung haben.

Nächste Rednerin in der Debatte: Kirsten Lühmann
für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1806322400

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kol-

leginnen! Die Linke hat beantragt, dass wir heute eine
Debatte führen, um den Deutschen Bundestag über den
Stand der Beratungen zu ihrem Antrag zur Maut zu in-
formieren. Herr Behrens, genau darum geht es und nicht
um den Inhalt Ihres Antrages. Diesen haben wir schon in
erster Lesung beraten und werden ihn später noch behan-
deln. Ich übernehme es sehr gerne, die anwesenden Kol-
leginnen und Kollegen, die nicht Mitglied im Verkehrs-
ausschuss sind, darüber zu informieren, was wir zu
diesem Antrag schon alles gemacht haben. Wir haben
uns nämlich zusammengesetzt und besprochen, dass wir
eine Sachverständigenanhörung zur Pkw-Maut machen
wollen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann haben wir sie abgesagt! Oder der Minister!)


Der Sinn dieser Anhörung ist, die Frage „Maut oder
nicht Maut?“ zu klären. Wenn ich aber solch eine Frage
stelle und die Sachverständigen sie sinnvoll erörtern sol-
len, dann muss ich auch eine Alternative haben. Das
heißt, ich brauche einen Gesetzentwurf, der den Sach-
verständigen vorliegt und der etwas darüber aussagt, wie
eine Mautregelung aussehen könnte. Erst wenn ich bei-
des habe, kann ich vernünftig entscheiden, ob eine Pkw-
Maut Sinn macht oder ob sie keinen Sinn macht. Diese
Entscheidung, dass wir das zusammen beschließen wol-
len und dass wir zusammen die Anhörung machen wol-





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

len, haben wir einvernehmlich getroffen, weil es richtig
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass nun die Vorlage des Gesetzentwurfs nicht so zei-
tig erfolgte, wie wir es geplant haben, mag man bedauern,
ist aber eigentlich für den Fortgang des Gesetzgebungs-
verfahrens nicht besonders schlimm. Leider bestand da-
rüber nach der Verlegung der Anhörung im Ausschuss
kein Konsens mehr. Wir sagen aber immer noch: Ja, na-
türlich werden wir Ihren Antrag debattieren, und wir
werden Ihren Vorschlag zusammen mit dem Vorschlag
des Ministers in einer Anhörung und dann in einer ge-
meinsamen Debatte hier im Hohen Hause behandeln,
weil es einfach sinnvoll ist, das so zu machen, Kollege
Behrens.

Die Anhörung ist auch deshalb für die SPD so wich-
tig, weil wir den Sachverständigen einige Fragen vorle-
gen wollen. Kollege Sebastian Hartmann hat das eine
oder andere angesprochen. Mir ist auch noch etwas an-
deres wichtig: Ich bekomme im Moment sehr viele
Briefe. Auch in den Bürgersprechstunden kommen die
Menschen zu mir und sagen: Wir glauben euch das nicht
so recht mit eurem Koalitionsvertrag. Ihr werdet dieses
Mautgesetz beschließen, aber die Entlastung über die
Kfz-Steuer wird dann nicht kommen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das wird passieren, Kollegin!)


Darum ist es für die Glaubwürdigkeit in diesem Hause
und auch für die Glaubwürdigkeit unserer Politik ganz
wichtig – weil wir Wort halten –, dass wir beides zusam-
men beschließen: zum einen das Mautgesetz und zum
anderen das Entlastungsgesetz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Datenschutz haben wir diverse Modelle und
auch Bundesverfassungsgerichtsurteile. Allerdings denke
ich, dass wir das ein oder andere noch einmal deutlicher
in dem Gesetzentwurf festschreiben müssen.

Ich denke hier insbesondere an Speicherfristen. Ich
glaube, wir sollten uns das eine oder andere Gerichtsur-
teil noch einmal ansehen und überlegen, ob man das
nicht anders regeln kann.

Aber die E-Vignette erfordert nicht nur Datenschutz,
sie erfordert auch neue Technik. Der Minister hat gesagt,
das Kraftfahrtbundesamt soll die Maut erheben und die
Bundesanstalt für Güterverkehr soll sie kontrollieren.
Beide Behörden brauchen dafür natürlich Fachpersonal.
Die Fachleute haben uns gesagt, dass es erhebliches Per-
sonal beanspruchen wird. Der Minister hat jetzt gesagt,
es gebe auch eine andere Lösung. Diese beiden Behör-
den könnten sich der Mitwirkung Dritter bedienen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Privater Dritter!)


Was wir noch nicht festgelegt haben, ist die Frage: Wie
werden diese Dritten ausgewählt? Welche Kosten entste-
hen dadurch, auch für die Technik? Das Ziel – der Kol-
lege Hartmann hat es noch einmal aus dem Koalitionsver-
trag vorgelesen – ist, dass wir in dieser Legislaturperiode
mehr Geld für unsere bundeseigenen Straßen erlangen
wollen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dann darf dieses Geld nicht von den Investitionen für
Technik aufgefressen werden.

Zu der Europarechtskonformität wurde schon einiges
gesagt. Wir haben ein Gutachten. Es ist immer gut, eines
im Vorfeld erstellen zu lassen. Wir haben aber auch eine
neue Kommissarin. Violeta Bulc hat gesagt, dass sie sich
den Gesetzentwurf anschauen wird, wenn er denn durch
das Kabinett verabschiedet worden ist. Dann wird sie
mit ihrem Sachverstand entscheiden.


(Zuruf von der LINKEN: Hat sie den?)


Ich glaube, es ist gut und richtig so, dass sie das in dieser
Reihenfolge macht.

Ich komme zu unserem Thema zurück: Wann man-
chen wir die Anhörung? Natürlich ist für uns und die
Sachverständigen auch diese Entscheidung von Frau
Bulc eine Grundlage. Wir können nicht vorher eine An-
hörung machen. Ein Stochern im Nebel hilft uns bei der
Entscheidungsfindung nicht einen Deut weiter.


(Beifall bei der SPD)


Das Fazit: Der Beschluss, die Expertenanhörung zu
verschieben, bis wir genug Fakten haben, die die Exper-
ten auch beurteilen können, war und ist richtig. Es bleibt
spannend.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806322500

Danke, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser De-

batte ist Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806322600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, der Gesetzentwurf zur Maut ist da. Liebe Kollegin
Wilms, ob Sie ihn formal bekommen haben oder nur un-
formal gelesen haben,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein gewaltiger Unterschied!)


gelesen haben Sie ihn, weil Sie lesen können und auch
über die modernen technischen Mittel verfügen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Eben hieß es, wir diskutieren über etwas, was es nicht gibt!)


Sie haben sich über diesen Gesetzentwurf gefreut, weil
Sie gar nicht geglaubt haben, dass er kommt – es ist wie
Weihnachten, wenn man hofft und wartet –, und wenn er
dann doch da ist, dann denkt man sich: Hurra, wie schön.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider steht nichts Gescheites drin!)






Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Herr Kollege Hartmann, ich mache es nicht oft, aber
ich muss wirklich sagen: Es hat mir und den Kollegen
richtig Spaß gemacht, Ihnen heute zuzuhören; denn es
war richtig gut.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kollegen der Linken, zu dem, was Sie eigent-
lich diskutieren wollten, gibt es nichts zu sagen als: Gu-
ten Abend. Auf Wiedersehen. Das war die Debatte.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das habe ich jetzt wieder nicht verstanden! Das war zu hoch für mich!)


Lassen Sie mich doch noch ein paar Sätze anmerken.
Der Minister hat Wort gehalten. Der Gesetzentwurf liegt
auf dem Tisch. Das ist das Entscheidende.


(Sören Bartol [SPD]: Ein Referentenentwurf!)


– Ein Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch,


(Gustav Herzog [SPD]: Ein Referentenentwurf!)


ohne das formal bewerten zu wollen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.

Es geht doch vor allem um eines: um die Parameter
unseres Koalitionsvertrages. Diese Parameter sind – ich
wiederhole sie gerne – nämlich zwei: mit EU-Recht ver-
einbar und keine Mehrbelastung für die deutschen Auto-
fahrerinnen und Autofahrer. Genau das haben wir vorge-
legt. Auch bei der Europarechtskonformität, liebe
Kollegin Wilms, wäre ich ganz beruhigt; denn auch
wenn die Kommissarin wechselt, die Generaldirektion
MOVE ist ja geblieben. Da wechselt ja nicht alles. Ich
sage auch ganz direkt, was mein Verständnis vom deut-
schen Gesetzgeber ist: Zunächst einmal machen wir hier
unsere Gesetze, bevor wir sie nach Europa tragen. Wir
sind nicht die Vollzieher Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Bayern will nicht mehr zu Europa gehören! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist genau der Charakter, der diese Maut gemacht hat!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, nachdem vorhin
das Wort „Zwangsmaut“ gefallen ist, sage ich ganz deut-
lich: Es ist keine „Zwangsmaut“ und auch keine „Rache-
maut“, sondern ganz klar eine Gerechtigkeitsmaut, die
wir hier einbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Maut, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es ist eine Seehofer-Maut!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806322700

Herr Kollege, erlauben sie eine Zwischenfrage von ei-

nem Kollegen der Linken? – Ja oder nein?


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806322800

Ja, natürlich. Wir können doch noch länger reden.

Wunderbar!

Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806322900

Das möchte ich laut hören. – Sie denken, bitte schön,

an die lange Debatte, die wir heute noch haben.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806323000

Das müssen Sie dem Kollegen der Linken sagen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806323100

Ja, das sage ich ihm ja.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806323200

Ich darf drei Minuten darauf antworten.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806323300

Sie dürfen selbstverständlich darauf antworten. Keine

Angst! Ich bin ganz gerecht – wie Ihre Maut.


(Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Das war aber grenzwertig!)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806323400

Es ist schneller gefragt, Frau Präsidentin, als belehrt.

– Herr Kollege, wenn Sie denn von der Ernsthaftigkeit
des Unternehmens, das Sie hier vortragen, so überzeugt
sind und gewiss die Aussage des Bundesministers
Dobrindt unterstützen, dass die Maut ab 1. Januar 2016
– so seine Formulierung – „scharf geschaltet“ werden
soll, wie können Sie dann erklären, dass im Haushalt für
das Jahr 2015, über den wir noch in diesem Jahr abstim-
men müssen, keinerlei Vorsorge für all die Momente
der umfangreichen technischen Erfassung getroffen
wird? – Solange Sie diese Frage nicht beantworten kön-
nen – im Haushalt steht dazu nichts drin –, sind Ihre Be-
lehrungen zur Zukunftsfähigkeit der Maut nichts wert.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen wir einen Nachtragshaushalt machen, oder was?)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806323500

Herr Lange, bitte.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806323600

Lieber Herr Kollege Claus, ich glaube, da können Sie

ganz beruhigt sein. Wir haben am 13. November die Be-
reinigungssitzung, und Sie können davon ausgehen, dass
da entsprechende Beschlüsse gefasst und die entspre-
chenden Mittel im Haushalt eingeplant werden. Ein
Blick in das Gesetz zeigt: Es tritt 2016 in Kraft. Ich wäre
da an Ihrer Stelle ganz beruhigt, dass wir das haushalte-
risch in den Griff bekommen. Wir arbeiten ja daran. Wir
freuen uns dann auf Ihre Unterstützung in der Bereini-
gungssitzung des Haushaltsausschusses. Wenn Ihre ein-
zige Sorge ist, dass es formal noch nicht im Haushalt
steht, kann ich Ihnen sagen: Das werden wir am 13. No-
vember sicher klären können. Danke.


(Roland Claus [DIE LINKE]: Diese Antwort werden Sie noch bereuen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806323700

Herr Lange, Ihre Redezeit läuft weiter.






(A) (C)



(D)(B)


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806323800

Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, 500 Millionen

Euro zusätzlich – das sind fast 10 Prozent unseres Stra-
ßenverkehrsetats. Wer hier also davon spricht, dass es
sich um „kein Geld“ handelt, der verkennt einfach den
Verkehrshaushalt.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen 7,2 Milliarden Euro zusätzlich! 7,2 Milliarden Euro!)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, wenn wir 500 Millionen Euro zusätzlich an Steuer-
mitteln verwenden würden, wäre das für alle Bürgerin-
nen und Bürger viel Geld. Auch das sollten wir in
diesem Zusammenhang respektieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was uns sehr wichtig ist, ist die Zweckbindung der
entsprechenden Mittel – damit die Infrastrukturabgabe
auch in der Verkehrsinfrastruktur, nämlich bei den Stra-
ßen, landet. Genau das wollen und werden wir erreichen.

Nun, liebe Kollegin Wilms, müssen Sie noch fünf Mi-
nuten meinen Ausführungen zu den Daten zuhören.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806323900

Oh nein, fünf Minuten nicht – 58 Sekunden!


(Heiterkeit)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1806324000

55 Sekunden zu den Daten. – Frau Wilms, passen Sie

mal auf. Wir saßen doch gemeinsam beim NDR. Da ha-
ben Sie zu mir gesagt: Wenn es doch wenigstens eine in-
telligente Maut wäre, mit der man steuern und erfassen
könnte, wie die Menschen auf der Straße unterwegs
sind! –


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)


Das ist doch Heuchelei. Wenn man solch ein System ein-
führt, dann gilt: Big Toni is watching us.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann würde man doch nicht 13 Monate die Daten speichern!)


– Natürlich! Das wäre die Überwachung à la Grüne.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Dobrindt will doch die Überwachung!)


Das ist genau die Art, auf die Sie den Menschen vor-
schreiben wollen, wie sie sich zu bewegen haben. Sie
wollen den Menschen vorschreiben, was sie zu essen ha-
ben, wann sie zu fahren haben. Nein, meine Damen und
Herren, so nicht! Das ist heuchlerisch.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Helau! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch billig, superbillig!)

Mit einem solchen System könnte man Bewegungspro-
file erstellen. Und dann denken Sie doch mal bitte an Ihr
bürokratisches Monster Citymaut, das Sie auch noch in
Ihrem Köcher haben!


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bürokratiemonster sitzt bei Ihnen!)


Ich würde an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Pkw-Infra-
strukturabgabe


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ein bürokratisches Monster!)


hilft uns bei der Finanzierung. Sie ist ein Teil der Ge-
rechtigkeit auf deutschen Straßen.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist oberbürokratisch, sonst gar nichts!)


Dafür werden wir sie einführen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806324100

Vielen Dank, Herr Kollege Lange. – Ich schließe

diese lebhafte und lebendige Aussprache. Die Wette gilt,
Herr Holmeier: 50 Liter.

Ich bitte diejenigen, die der nächsten Debatte nicht
folgen wollen, die Plätze zu wechseln.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf – liebe Kol-
legen und Kolleginnen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen –:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der von den Verein-
ten Nationen geführten Friedensmission in
Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Re-
solution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Fol-
geresolutionen, zuletzt 2155 (2014) vom 27.
Mai 2014

Drucksache 18/3005
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Die Debatte beginnt Dr. Ralf Brauksiepe, Staatssekre-
tär, für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner)







(A) (C)



(D)(B)

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1806324200


Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben in der Tat jetzt über ein trauri-
ges Thema zu reden; denn drei Jahre nach seiner Unab-
hängigkeit befindet sich der Südsudan in einer politi-
schen und humanitären Krise, und das trotz des starken
Engagements der internationalen Gemeinschaft. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich betone nicht „wegen“,
sondern „trotz“ des starken Engagements der internatio-
nalen Gemeinschaft.

Wir haben es nicht zu verantworten, dass es so ist.
Wir haben an vielen Stellen Not und Leid lindern kön-
nen. Das ist auch in Zukunft unsere Aufgabe und unsere
Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Seit Dezember 2013 kommt es zu bewaffneten Aus-
einandersetzungen zwischen Anhängern des Präsidenten
Kiir und des ehemaligen Vizepräsidenten Machar. Der
Konflikt zwischen Regierung und oppositionellen Re-
bellen hat sich auf große Teile des Landes ausgeweitet
und zu großem Leid geführt.

Über 10 000 Menschen sind ums Leben gekommen.
Von den Einwohnern Südsudans mussten mehr als 1,4
Millionen ihre Häuser verlassen. Sie befinden sich im ei-
genen Land auf der Flucht. 450 000 Südsudanesen sind
in die Nachbarländer geflohen. Mehrere Millionen Men-
schen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Das ist eine traurige Entwicklung, wenn man an den
hoffnungsvollen Aufbruch vor drei Jahren denkt, als der
Südsudan nach einer langen Periode von Auseinander-
setzungen in die Unabhängigkeit entlassen wurde und
die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung bestand,
die sich leider bisher nicht erfüllt hat.

Umso wichtiger ist es, dass die internationale Ge-
meinschaft und Deutschland als ein Teil dieser Gemein-
schaft die Menschen im Südsudan unterstützen und hier
weiterhin Verantwortung übernehmen.

Die bisherigen Versuche der nordafrikanischen Re-
gionalorganisation IGAD, einen längerfristigen Waffen-
stillstand und ein Friedensabkommen zu erreichen, wa-
ren leider wenig erfolgreich. Weder Präsident Kiir noch
sein früherer Vize Machar sind derzeit bereit, Zuge-
ständnisse einzugehen und den Konflikt zu lösen. Viel-
mehr versuchen offensichtlich beide Seiten weiterhin,
ihre militärische Ausgangslage zu verbessern bzw. eine
militärische Konfliktlösung zu erreichen.

Auch wenn inzwischen die bewaffneten Auseinander-
setzungen zurückgegangen sind, bleibt die Lage im Land
nach wie vor angespannt. Gerade die humanitäre und die
allgemeine Sicherheitslage haben sich im gesamten
Land massiv verschlechtert.

UNMISS nimmt derzeit den Schutz der Zivilbevölke-
rung sowie alle anderen Aufgaben des Mandats unter
schwierigen Bedingungen so gut wie möglich wahr.
Knapp 100 000 Menschen sind aktuell in UNMISS-La-
gern untergebracht, wo die VN-Mission für die Sicher-
heit der Flüchtlinge garantiert.
Auf die bewaffneten Auseinandersetzungen hatte die
Mission der Vereinten Nationen im Südsudan unmittel-
bar reagiert und ihre Lager für alle um Schutz suchenden
Südsudanesen geöffnet und damit wahrscheinlich Tau-
sende vor dem Tod bewahrt.

Für dieses schnelle und verantwortungsvolle Han-
deln, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebühren allen
Angehörigen der Mission unsere Anerkennung und un-
ser herzlicher Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch der Sicherheitsrat hat konsequent auf die
Entwicklungen im Südsudan reagiert. In der Sicherheits-
ratsresolution 2155 sind die Aufgaben von UNMISS
deutlich gestärkt und klar auf den Schutz der Zivilbevöl-
kerung ausgerichtet worden. Die Zahl der maximal ein-
zusetzenden Soldaten wurde deutlich von bisher 7 000
auf 12 500 angehoben.

Wie gefährlich dieser Einsatz für die VN-Frie-
denstruppen ist, wird anhand der Geschehnisse im
UNMISS-Lager in Bor am 17. April dieses Jahres
deutlich. Dort versuchten bewaffnete Rebellen, das
UNMISS-Camp zu stürmen, um Flüchtlinge anzugrei-
fen. Nur durch den Gebrauch ihrer Waffen konnten die
Peacekeeper verhindern, dass es zu einer Katastrophe
kam. Das heißt: Nur durch die Entsendung bewaffneter
Soldaten und die Ausstattung mit einem robusten Man-
dat durch den Sicherheitsrat kann die Zivilbevölkerung
wirklich wirksam geschützt werden.

Angesichts dieser schwierigen Lage im Südsudan und
der zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die
VN-Friedensmission konfrontiert sieht, ist es deshalb
umso wichtiger, dass Deutschland einen Teil zur Lösung
des Konflikts beiträgt und sich wie bisher im Rahmen
der Vereinten Nationen engagiert. Wir sind seit Beginn
der Mission UNMISS als Bundesrepublik Deutschland
beteiligt. Wir haben uns mit Einzelpersonal in den Füh-
rungsstäben der Mission und mit Verbindungsoffizieren
beteiligt, zuletzt mit 16 Soldatinnen und Soldaten und
7 Polizistinnen und Polizisten. Sie verrichten ihren Auf-
trag häufig abseits der medialen Aufmerksamkeit, aber
hochprofessionell im Sinne der Sache.

Ich möchte allen unseren Soldatinnen und Soldaten
sowie den eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bei
UNMISS meine – und ich hoffe unser aller – Hochach-
tung für ihr bemerkenswertes Engagement und für ihre
Professionalität aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit unserer fortgesetzten Beteiligung im Rahmen von
UNMISS – auch künftig soll die Obergrenze bei 50 Sol-
datinnen und Soldaten liegen – setzen wir ein deutliches
Zeichen, dass wir bereit sind, unserer Verantwortung in
den VN-Missionen in Afrika weiterhin nachzukommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte dafür um Zu-
stimmung.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806324300

Vielen Dank, Herr Kollege Brauksiepe. – Nächster

Redner in der Debatte: Jan van Aken für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806324400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder

einmal steht die Verlängerung der Teilnahme der
Bundeswehr am UNMISS-Einsatz im Südsudan auf der
Tagesordnung. Wieder einmal werben Sie hier mit viel
Schönrednerei, aber auch mit einer gehörigen Portion
Selbsttäuschung, Herr Brauksiepe, um Zustimmung.
Unsere Zustimmung werden Sie dafür allerdings nicht
bekommen.


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, Gott sei Dank!)


Sie weisen hier auf die vielen Probleme, die es im
Südsudan gibt, aber auch auf die Schwierigkeiten bei der
Beendigung von Gewalt und auf den notwendigen
Friedensprozess hin. Aber eine Sache blenden Sie alle
völlig aus, nämlich die Tatsache, dass UNMISS das völ-
lig falsche Instrument war und ist, um die Krise im
Südsudan zu bewältigen.


(Beifall der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE])


UNMISS war von Anfang an ein Mandat mit Schieflage.
Die Mission wurde 2011 eingerichtet, um die südsudane-
sische Regierung dabei zu unterstützen, Stabilität zu
schaffen und den Friedensprozess voranzubringen. Das
hatte aber von vornherein zwei ganz große Haken.

Erstens. Stabilität und Frieden können nicht militä-
risch erkämpft werden, sondern nur durch eine aktive
Friedenspolitik, durch Dialog, durch soziale, durch wirt-
schaftliche Entwicklung erreicht werden.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Die Rede halten Sie immer!)


Zweitens gibt es ein ganz zentrales Problem: Die
südsudanesische Regierung unter Salva Kiir ist, damals
wie heute, Teil des Problems im Südsudan. Sie selbst ist
eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung
im Sudan.


(Beifall bei der LINKEN)


Bis heute jedoch braucht UNMISS für jeden einzelnen
Schritt die Genehmigung genau dieser südsudanesischen
Regierung. Das kann nicht funktionieren.


(Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wollen Sie ein robusteres Mandat?)


Unter den Augen von mehreren Tausend UN-Solda-
ten und Zivilpersonal eskalierte im letzten Dezember die
Situation aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Regie-
rung. Seitdem kämpfen abtrünnige Milizen gegen die
Zentralregierung. Mittlerweile sind 3,5 Millionen Men-
schen im Südsudan auf humanitäre Hilfe angewiesen,
450 000 Menschen sind in Nachbarstaaten geflohen,
1,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht innerhalb
des Südsudan und 100 000 von ihnen haben Zuflucht bei
UNMISS gesucht.


(Zuruf des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Aber an diesem Punkt haben wir ein echtes Problem:
UNMISS ist bis heute nicht auf die Versorgung von so
vielen Menschen eingestellt. Überflutungen, drohende
Krankheitsausbrüche, Mangelernährung und Gewalt –
all das sind alltägliche Probleme, auf die UNMISS über-
haupt nicht eingestellt ist, mit der sie überhaupt nicht
umgehen kann.

Als Reaktion auf die Eskalation im letzten Dezember
haben Sie das Mandat deutlich verändert: mehr Solda-
ten, weniger Staatsaufbau. Wir lehnen diesen Fokus auf
das Militärische einfach ab.


(Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so zynisch! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das wissen wir doch!)


Die UNO sitzt im Südsudan mittlerweile zwischen al-
len Stühlen: Die Regierung wirft UNMISS vor, die Op-
position zu unterstützen, unter anderem dadurch, dass sie
auch Rebellen in den Flüchtlingslagern unterbringt. Die
Rebellen wiederum werfen UNMISS vor, die Regierung
zu unterstützen und Regierungstruppen per Hubschrau-
ber zu transportieren. Das ging so weit, dass sie sogar ei-
nen UNMISS-Hubschrauber abgeschossen haben. Und
die Zivilbevölkerung hat überhaupt kein Vertrauen mehr
in UNMISS, weil UNMISS sie eben nicht vor den Ge-
walttaten der Regierungstruppen schützt.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat 100 000 Leute beschützt!)


Das ist das große Drama von UNMISS im Moment.

Anstatt jetzt so weiterzumachen und sich wieder ein-
mal mit ein paar Soldaten und ein paar Polizisten aus der
Verantwortung zu stehlen, sollte die Bundesregierung
endlich einmal wirklich Verantwortung übernehmen. Da
können Sie vieles tun und auch viel Gutes tun:

Erstens. Warum unterstützen Sie eigentlich nicht die
Forderung von 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen
nach einem vollständigen Waffenembargo? Waffen und
Munition kommen immer noch in dieses Land, auch di-
rekt an die südsudanesische Regierung. Machen Sie sich
doch als Bundesregierung diese Forderung zu eigen!


(Beifall bei der LINKEN)


Sorgen Sie dafür, dass der Zufluss an Waffen und Muni-
tion in den Südsudan gestoppt wird!

Zweitens. Stärken Sie die zivilgesellschaftlichen Or-
ganisationen im Südsudan! Die gibt es; die gibt es im-
mer noch. Es ist doch gerade die Jugend im Südsudan,
die die Zukunft darstellt. Diese Jugend brauchen wir in
Zukunft. Diese Jugend braucht auch jetzt internationale
Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN)






Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

Drittens und letztens. Vergessen Sie nicht, dass der
Bürgerkrieg nicht überall ist. Unterstützen Sie doch vor
allem die Regionen, in denen momentan nicht gekämpft
wird, in denen auch die Dinka und die Nuer, die ver-
schiedenen Volksgruppen, friedlich zusammenarbeiten.
Wenn die Unterstützung dieser Regionen ein Erfolg
wird, wenn in diesen Regionen Entwicklung funktio-
niert, dann können sie beispielgebend für den ganzen
Südsudan sein.

Deshalb sage ich Ihnen: Sie können im Südsudan im
Moment sehr viel Gutes tun. Das Militärische gehört
nicht dazu.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen exportieren sollte, natürlich auch nicht in
den Südsudan.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806324500

Vielen Dank, Herr Kollege van Aken. – War das jetzt

eine Wortmeldung?


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


– Gut. Ich glaube, Sie hätten sich deutlicher gemeldet.
Ich wusste nicht, ob die Handbewegungen etwas zu be-
deuten hatten.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist immer so bei dem!)


Gut. Offensichtlich war das keine Wortmeldung.

Nächster Redner: Thomas Hitschler für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Hitschler (SPD):
Rede ID: ID1806324600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir beraten heute über eine deutsche Beteili-
gung an einer Mission der Vereinten Nationen. Eine
Mission in einem Konflikt, der in der öffentlichen Wahr-
nehmung wenig präsent ist, der es nicht in die alltägli-
chen Schlagzeilen schafft, aber dennoch so grausam ist
und unglaubliches menschliches Leid verursacht. Ein
Konflikt, bei dem auch wir Verantwortung übernehmen
müssen.

Die Geschichte des Südsudan ist keine friedliche;
aber gerade in den letzten Jahren waren Hoffnungen und
fürchterliches Leid eng beieinander. Was als Auseinan-
dersetzung zwischen Präsident und Vizepräsident ange-
fangen hat, hat sich schnell militarisiert, als sich Teile
der Streitkräfte auf verschiedene Seiten geschlagen
haben. In der Folge steht der Südsudan, dieser junge
Staat, der 2011 in die UN-Familie aufgenommen wurde,
derzeit dem Scheitern näher als der erfolgreichen Staats-
bildung.

Perfiderweise wurden politische Konflikte mittler-
weile auf die Ebene des Zusammenlebens unterschiedli-
cher Volksgruppen verschoben. Und inzwischen ist der
Konflikt zu einem Bürgerkrieg zwischen zwei Ethnien,
den Nuer und den Dinka, geworden, der die Gesellschaft
des Südsudan zerrissen hat.

Die Folgen: Hunderttausende Menschen sind inner-
halb des Landes auf der Flucht, und viele Ausländer ha-
ben das Land verlassen. Hunger geht um und bedroht
nach Oxfam-Schätzungen bis zu 2 Millionen Menschen.
Vergewaltigungen und der Einsatz von Kindersoldaten
sind alltäglich geworden. Gleichzeitig wird der Südsu-
dan massiv beeinflusst von den Interessen größerer
Nachbarstaaten, was eine diplomatische Lösung nicht
unbedingt erleichtert.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf
diese Entwicklung entsprechend reagiert und den Fokus
von UNMISS in der Resolution 2155 angepasst: Der
Auftrag von UNMISS ist nun verstärkt der bessere
Schutz von Zivilisten, von Flüchtlingen, von humanitä-
ren Helferinnen und Helfern. Die Zahl der Blauhelmsol-
daten im Land wird auf 12 500 erhöht. Damit bewegt
sich UNMISS vom ursprünglichen Auftrag, festgelegt in
der Resolution 1996, ein gutes Stück weit weg. Nach
dieser Resolution sollte UNMISS nämlich der Unterstüt-
zung des Südsudans beim Aufbau staatlicher Institutio-
nen dienen. Dass dieser Wechsel notwendig geworden
ist, ist zutiefst bedauerlich. Dass auf eine verschlechterte
Situation reagiert wird, ist allerdings nachvollziehbar.

Die Verschiebung der Konfliktlinie auf die Ebene der
ethnischen Zugehörigkeit erschwert die Konfliktbewälti-
gung in besonderer Weise. Selbst wenn es zu einem poli-
tischen Friedensschluss kommt, werden die zwischen
den Volksgruppen aufgerissenen Gräben noch lange
wahrgenommen werden. Zu viel Blut ist dafür mittler-
weile geflossen. So wurde erst im April dieses Jahres
– der Staatssekretär hat es berichtet – ein Lager der Ver-
einten Nationen in der Stadt Bor angegriffen. In diesem
Lager lebten 5 000 Flüchtlinge, als eine Gruppe von
Männern, die vorgeblich eine Friedenspetition überge-
ben wollten, plötzlich das Feuer auf unbewaffnete
Männer, Frauen und Kinder eröffnete. Dabei starben
48 Menschen. Und diese Menschen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, glaubten sich bereits in Sicherheit. Auch
diese neue Form der Brutalität zwingt uns dazu, weiter-
hin Verantwortung zu übernehmen.

Meine Damen und Herren, ein Abflauen der Kampf-
handlungen im Südsudan, wie es in den vergangenen
Wochen feststellbar war, zeigt nach Einschätzung der
Mehrzahl der Experten leider keine Entspannung der
Situation. Dies ist vielmehr jahreszeitlich bedingt. Die
Regenzeit hat Teile des Landes unpassierbar und für
größere militärische Kampagnen ungeeignet gemacht.
Aber die Regenzeit endet in diesem Monat.

Vor diesem Hintergrund, Kolleginnen und Kollegen,
ist unsere Aufgabe am heutigen Abend, über eine Ver-
längerung des Mandats zur deutschen Beteiligung an
UNMISS zu entscheiden. Mit unserem deutschen Bei-
trag übernehmen wir dabei Verantwortung. Derzeit tra-
gen 16 Soldaten und 7 Polizisten vor Ort zum Schutz
von Zivilpersonen und humanitären Helferinnen und
Helfern bei. Dabei handelt es sich nicht um kämpfende
Einheiten, sondern um solche, die Führungs- und Unter-





Thomas Hitschler


(A) (C)



(D)(B)

stützungsaufgaben wahrnehmen und ihren internationa-
len Kameradinnen und Kameraden bei technischer Aus-
stattung und Ausbildung helfen.

Die Kosten für diesen Einsatz – für das kommende
Kalenderjahr auf etwa 1 Million Euro beziffert – sind zu
vernachlässigen angesichts dessen, was durch UNMISS
erwirkt werden kann und was UNMISS in der Tat bereits
geleistet hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin dem deutschen Kontingent für die Erfüllung
der dortigen Aufgabe sehr dankbar. Sie sind nicht nur
umgeben von schrecklichem menschlichen Leid, son-
dern arbeiten dort gemeinsam mit vielen anderen Natio-
nen daran, ein Land aufzubauen, das eine gute Zukunft
mehr als verdient hat. Lassen Sie uns mit der heutigen
Entscheidung auch ein Signal der Unterstützung für die
Polizisten und Soldaten vor Ort geben. Das haben sie
mehr als verdient, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen – da stimme ich Herrn van Aken zu –,
dass militärisches Engagement diesen Konflikt nicht be-
enden wird. Die Ursachen des Konflikts sind viel zu dif-
ferenziert, historisch zu tief verwurzelt und regional zu
weit verteilt. Zur Lösung des Konflikts sind diplomati-
sche Initiativen, die auch auf die Anrainerstaaten des
Südsudan und deren Partikularinteressen eingehen, sehr
notwendig. Zu einer dauerhaften Verbesserung der Lage
der Menschen im Südsudan ist der Aufbau eines funktio-
nierenden und demokratischen Staatswesens, ja von In-
stitutionen und Strukturen notwendig. Diese müssen
kommen, und dazu wird auch unser Land einen wichti-
gen Beitrag leisten. Davon bin ich fest überzeugt.

Für mich ist die Beteiligung an dieser Mission auch
ein gutes Beispiel. Die Beteiligung zeigt, was mit den
schwierigen Worten „Verantwortung in der Welt“ ge-
meint sein kann. Dies bedeutet eben nicht nur mehr
Kampfeinsätze, sondern vor allem humanitäre Verant-
wortung,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Unterstützung beim Aufbau von Staaten und Hilfe zur
Selbsthilfe sowie gleichzeitig – das darf auch nicht ver-
nachlässigt werden – Schutz von Menschen, die Hilfe
geben wollen. Auch deshalb bitte ich Sie, der Mandats-
verlängerung zuzustimmen.

Erlauben Sie mir, einen letzten Aspekt hinzuzufügen.
Die Bevölkerung im Südsudan hat ein Trauma erlitten,
dessen Folgen noch in Generationen spürbar sein wer-
den. Daher müssen die Menschen, die unter diesem
Konflikt gelitten haben, dringend auch Zugang zu Be-
treuungsmechanismen bekommen, welche helfen, die
zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen. Institutionen
der Aussöhnung zwischen den Ethnien und den Bürger-
kriegsparteien müssen gebildet und unterstützt werden,
um zu verhindern, dass aus Feindschaft Tradition wird.
Gerade wir Europäer können auch in diesem Jahr deut-
lich bestätigen, wie wichtig ein solcher Prozess ist.

All dies muss geleistet werden, damit die Menschen
im Südsudan eine Zukunft haben, an der sie arbeiten
können, anstelle einer Gegenwart, in der sie kämpfen
müssen. Dafür braucht es zunächst jedoch Sicherheit
und Stabilität. Hier sind wir an dem Punkt angekommen,
wo unsere Zustimmung zum Mandat wichtig wird. Was
militärisches Engagement nämlich leisten kann und der-
zeit dringend leisten muss, ist der Schutz der Bevölke-
rung, die allein durch die Zugehörigkeit zu bestimmten
Volksgruppen unfreiwillig zu Bürgerkriegsparteien
geworden sind. Diese Menschen haben sicher kein Inte-
resse daran, dass ihr gerade einmal drei Jahre altes
Heimatland verwüstet und auseinandergerissen wird. Für
diese Menschen wollen wir gemeinsam mit anderen
Nationen eine Umgebung errichten, in der ein friedvol-
les Zusammenleben möglich ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nach derzeiti-
gem Stand nicht wahrscheinlich, dass der Konflikt im
Südsudan den Rest der Region in Flammen setzt. Die
Welt der Menschen im Südsudan selbst steht aber bereits
in Flammen. Auch für diese Menschen bitte ich heute
um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für
den deutschen Beitrag zu UNMISS. Ein Sprichwort aus
der Region lautet: Die beste Zeit, einen Baum zu pflan-
zen, war vor 20 Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806324700

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Hitschler. –

Nächster Redner in der Debatte: Dr. Frithjof Schmidt für
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vereinten Nationen stufen die Lage im Südsudan als
eine der vier schwersten humanitären Krisen auf dieser
Welt ein. Gemeinsam mit Syrien, dem Irak und der Zen-
tralafrikanischen Republik gilt der Südsudan als soge-
nannter Level-3-Notfall. Das ist die höchste Alarmstufe
der UNO. Insofern ist es unabdingbar, dass die UNO in
einer solchen Situation interveniert.

Es ist auf der anderen Seite erschreckend, dass der
Südsudan schon fast wieder aus dem Fokus der interna-
tionalen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit verschwun-
den ist. Man nennt das den CNN-Effekt: Wenn CNN
nicht mehr berichtet, dann haben wir es mit einer schon
fast wieder vergessenen Krise zu tun. Vergegenwärtigen
Sie sich einmal die Berichterstattung: Das Thema
kommt eigentlich fast nicht mehr vor, obwohl sich seit
Dezember ein Bürgerkrieg entwickelt hat. Die Zahlen
sind genannt worden: Knapp 1,9 Millionen Menschen
wurden vertrieben oder mussten in die Nachbarstaaten
flüchten. 3,8 Millionen Menschen sind schon auf huma-
nitäre Hilfe angewiesen. Es fehlt am Nötigsten. Und





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

UNICEF warnt davor, dass in den nächsten Monaten al-
lein 50 000 Kinder vom Hungertod bedroht sind.

Deswegen kann man die Arbeit der Vereinten Natio-
nen nicht hoch genug einschätzen. Man muss klar sagen:
UNMISS leistet vor Ort einen unverzichtbaren Beitrag
zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verteilung der
humanitären Hilfe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ja, es stimmt, auch UNMISS hat große Probleme. Ja,
es stimmt, UNMISS schafft es leider nicht, alle Flücht-
linge zu schützen. Gerade auch in Bezug auf die von den
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei vorge-
brachten Argumente möchte ich sagen: Fakt ist, mehr als
100 000 Flüchtlinge sind in UNMISS-Camps geflüchtet
und haben dort Schutz gefunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das alleine ist doch Grund genug für eine Fortsetzung
dieses Einsatzes. Insofern ist es notwendig, diesem Ein-
satz zuzustimmen. Ich kann nur sagen: Ein Abzug oder
auch nur eine Schwächung von UNMISS hätte grauen-
volle Konsequenzen für diese Menschen.

Natürlich wird UNMISS alleine keine dauerhafte Lö-
sung erreichen. Klar ist, ein Ende der Krise und das Ende
der Gewalt können nur durch einen politischen Prozess,
der alle Konfliktparteien mit einbezieht, herbeigeführt
werden. Dabei ist auch die Bundesregierung gefordert.
Sie muss sich energisch dafür einsetzen, dass der UN-Si-
cherheitsrat endlich ein Waffenembargo beschließt. Die
Europäische Union ist dabei soeben vorangegangen, und
die UNO sollte folgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Vereinten Nationen beklagen außerdem seit lan-
gem einen eklatanten Personalmangel. Wir sollten also
prüfen, ob wir die Mandatsobergrenze nicht ausschöpfen
können. Auch im Bereich der Polizei sollten wir die An-
strengungen deutlich verstärken. Die UNO ist da in ihren
Bitten und Wünschen sehr deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Doch vor allem sollte Deutschland noch mehr Verant-
wortung bei der Bekämpfung der humanitären Krise
übernehmen. Die Vereinten Nationen rechnen für dieses
Jahr mit Kosten von 1,8 Milliarden US-Dollar für huma-
nitäre Nothilfe im Südsudan. Davon sind gerade einmal
62 Prozent finanziert. Deutschland stellt dafür im Au-
genblick 16,6 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist
deutlich weniger als das, was Großbritannien, Japan oder
Dänemark zur Verfügung stellen. Ich finde, hier kann
und muss unser Land mehr leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dafür und auch für das vorliegende Mandat für die
Bundeswehr haben Sie unsere politische Unterstützung.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806324800

Vielen Dank, Frithjof Schmidt. – Letzter Redner in

dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1806324900

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Frithjof
Schmidt ausdrücklich dankbar, nicht nur für seine Anre-
gung hinsichtlich der Obergrenzen, sondern auch dafür,
dass hier im Hause ein sehr breiter Konsens für das
UNMISS-Mandat vorhanden ist. Dafür danke ich aus-
drücklich Ihrer Fraktion.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 8. Juli
2011 wurde das UNMISS-Mandat von den Vereinten
Nationen beschlossen. Das war einen Tag vor der Unab-
hängigkeit des Südsudan. Es ist außergewöhnlich selten,
dass die Vereinten Nationen ein Mandat vor der Grün-
dung eines Staates ins Leben rufen. Das zeigt auch, wie
ernst die Vereinten Nationen diese Staatenbildung neh-
men. Ich erinnere mich noch sehr intensiv, mit welcher
Ernsthaftigkeit wir – die eine oder andere Kollegin und
der eine oder andere Kollegen und ich – im Unteraus-
schuss für Zivile Krisenprävention im Jahr 2011 die Tei-
lung des Sudan verfolgt haben, mit welchen Befürchtun-
gen wir das damals beraten haben. Ich muss sagen: Viele
der Befürchtungen sind eingetreten. Dass es uns aber ge-
lungen ist, ein Mandat – auch von deutscher Seite – be-
reits im Jahr 2011 einzurichten, zeugt von der Hand-
lungsfähigkeit des Bundestages, meine sehr verehrten
Damen und Herren.

Ich möchte deshalb auch klarstellen, dass das, was
hier heute von der Linkspartei vorgestellt wurde,
schlichtweg falsch ist. Die Vereinten Nationen verfolgen
hier kein militärisches Mandat, sondern Militär leistet
Unterstützung im Rahmen eines ganzheitlichen Ansat-
zes.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist doch ein neuer Sicherheitsratsbeschluss, oder?)


Ich will das auch von der deutschen Seite her deutlich
machen. Die militärische Seite des Mandats kostet uns
etwa 1 Million Euro; zumindest wurde das in den Haus-
haltsberatungen für 2015 veranschlagt. Zeitgleich wen-
den wir 40 Millionen Euro auf für humanitäre Hilfe, für
Nothilfe im Bereich des Welternährungsprogramms und
für die Unterstützung von NGOs. Ein Verhältnis von
1 zu 40! Nennen Sie mir einen Einsatz, wo dieses Ver-
hältnis noch einmal erreicht wird! Ich sage, hier wird
ausdrücklich deutlich, dass die Bundesrepublik Deutsch-





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

land den Schwerpunkt ihrer Förderung eindeutig auf die
zivile Unterstützung legt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Was leisten wir Deutsche noch? Ich möchte hier die
Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung an-
sprechen, die im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet
worden sind. Klar, sie sind ein erster Schritt, sie umfas-
sen gerade einmal 17 Seiten, aber sie machen eines deut-
lich: Wir wollen die Eigenverantwortung Afrikas stärken
und auf der anderen Seite gute Regierungsführung unter-
stützen.

Afrika ist ein Kontinent, der ungeheuer im Umbruch
ist. Zurzeit leben in Afrika etwas mehr als 1 Milliarde
Menschen. Zum Ende dieses Jahrhunderts sollen dort
knapp 4 Milliarden Menschen leben, mehr als dreimal so
viele wie jetzt. Wie wollen wir denn dafür Sorge leisten,
wenn nicht dadurch, dass wir bereits jetzt im Sinne die-
ser Leitlinien mit der Stärkung der Eigenverantwortung
und der Stärkung der jeweiligen Zivilgesellschaften be-
ginnen?

Die Afrikapolitischen Leitlinien verweisen ausdrück-
lich auch auf den Südsudan; aber sie reichen natürlich
bei weitem nicht aus. Deshalb rege ich an, dass wir auch
im Rahmen des Weißbuch-Prozesses stärker den Fokus
darauf richten, mit welchen Partnern wir zusammenar-
beiten wollen. Wir müssen in Afrika die Partner – sei es
in der Zivilgesellschaft, sei es in den Regierungen –, die
unterstützend wirken, stabilisieren. Dazu dienen einer-
seits die Einsätze; viele Einsätze der Bundeswehr wer-
den in diesen Regionen durchgeführt. Zum anderen ge-
hen auch unterstützende Leistungen, wie wir sie bei
Ebola erleben, eindeutig in diese Richtung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, lassen Sie deshalb auch Afrika
Teil unserer strategischen Überlegungen im Weißbuch-
Prozess werden. Hier geht es auch darum, welche Auf-
gaben wir beispielsweise im Südsudan erfüllen wollen,
wie wir die regionale Einbindung des Südsudans sichern
wollen, im Übrigen auch, wie wir die rund 75 Prozent
Christen unter den 11 Millionen Einwohnern vor einem
zunehmenden Salafismus, zunehmenden Islamismus
auch im afrikanischen Raum schützen können.

Ein Letztes. Am Sonntag feiern wir den 25. Jahrestag
des Mauerfalls. Die Barrieren heute sind außerhalb
Europas. Wir müssen alles dafür tun, dass die Barrieren
außerhalb Europas nicht zu einer neuen Mauer werden.


(Zurufe von der LINKEN)


Nehmen wir Deutsche den 25. Jahrestag des Mauerfalls
zum Anlass, auch darüber nachzudenken, wie wir als
Europäer aktiv daran mitwirken können, dass Afrika
nicht ein Kontinent der Abschottung wird, sondern ein
Kontinent der Teilhabe. Das ist Sicherheitspolitik von
morgen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325000

Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter.

Ich schließe die sehr intensive und sehr nachdenkli-
che Aussprache. Da wir heute nicht abstimmen, sondern
interfraktionell beschlossen worden ist, die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 18/3005 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorzunehmen, gehe
ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Das
ist der Fall. Dann ist damit die Überweisung beschlos-
sen.

Bevor ich den Tagesordnungspunkt 13 aufrufe, bitte
ich darum, die Plätze zügig zu wechseln. Auch Ihnen
wünsche ich noch einen schönen Restabend.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die kommen wieder!)


– Ja, wir sehen uns gleich wieder.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kündigung des bilateralen Atomabkommens
mit Brasilien

Drucksachen 18/2610, 18/2907

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre, ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort der ersten Rednerin in der Debatte,
Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Nina Scheer (SPD):
Rede ID: ID1806325100

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Schon zum zweiten Mal in dieser Legisla-
turperiode haben wir dieses doch wichtige Thema auf
der Tagesordnung: eine Überprüfung der bilateralen
Atomabkommen, nun den Fall des deutsch-brasiliani-
schen Abkommens. Ich möchte an dieser Stelle wieder-
holen, dass ich es wichtig finde, dass die Atomabkom-
men auf den Prüfstand kommen. Es ist an dieser Stelle
aber auch festzustellen, dass es uns nicht gelingen wird,
Ihrem Antrag dahin gehend zu entsprechen, dass
Deutschland eine Kündigung dieses Vertrages herbei-
führt. Dazu möchte ich Folgendes ausführen.

Es steht fest, dass wir aus heutiger Sicht das 1975 ge-
schlossene Atomabkommen so nicht mehr gutheißen
können. Es stammt aus einer Zeit, in der Deutschland
noch nicht den Atomausstieg beschlossen hatte, und ist
natürlich in diesem Lichte zu sehen. Konsequenterweise
muss natürlich eine Betrachtung des Atomabkommens
aus heutiger Sicht zu der Einsicht führen, dass es so
nicht aufrechterhalten werden kann bzw. überprüft wer-
den muss. Ich schließe allerdings auch daraus, dass man
in der Gemengelage, in der wir stecken, den Blick auf





Dr. Nina Scheer


(A) (C)



(D)(B)

Elemente des Atomabkommens richten sollte, die mögli-
cherweise beinhalten könnten, einen Informationsfluss
mit Brasilien aufrechtzuerhalten und damit einen Rah-
men zu gewinnen, wodurch dazu beigetragen werden
kann, mit den Folgelasten von Atomenergienutzung in
Brasilien verantwortlich umzugehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Unsinn!)


Ich weiß nicht, ob dies der Inhalt eines abzuändernden
und anzupassenden Atomabkommens sein könnte und
ob so etwas Bestand haben könnte. Wenn das aber mög-
lich wäre, dann müssen wir uns dem stellen. Insofern
finde ich es wichtig, dass ein regierungsinterner Aus-
tausch darüber stattfindet, ob nicht dieses Atomabkom-
men und auch andere Atomabkommen dahin gehend
überarbeitet werden müssen. Wenn man in einem ent-
sprechenden Abstimmungsprozess zu einem Ergebnis
gekommen ist, sind daraus dann auch die richtigen Kon-
sequenzen zu ziehen. Ich plädiere dafür, dass dieser Aus-
tausch offen geschieht. Offen heißt auch, dass mögli-
cherweise weitere Kündigungen in Betracht gezogen
werden müssen. Wir haben in der Vergangenheit auch
schon einmal eine Kündigung vorgenommen. Aber die
Wahrheit ist auch, dass unter Rot-Grün nur ein einziges
Atomabkommen gekündigt wurde. Wir haben, wenn ich
das jetzt richtig zusammenzähle, 183 Atomabkommen.

All das ist, wie gesagt, bis heute nicht abschließend
geklärt. Insofern hoffe ich, dass wir zu einer Klärung
kommen; denn den Status quo aufrechtzuerhalten finde
ich wie Sie nicht gut.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325200

Danke, Frau Kollegin Scheer. – Nächster Redner in

der Debatte: Hubertus Zdebel für Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Hubertus Zdebel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806325300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das Atomabkommen zwischen Deutschland und Brasi-
lien wurde vor nunmehr 39 Jahren während der Militär-
diktatur in Brasilien unterzeichnet. Alle fünf Jahre ver-
längert sich der Vertrag automatisch um weitere fünf
Jahre, solange ihn keiner der zwei Staaten kündigt.

Zum 18. November dieses Jahres, also in einigen Ta-
gen, könnte die Bundesregierung das Abkommen per
diplomatischer Note kündigen. Es würde dann zum
18. November nächsten Jahres auslaufen. Das sind die
Fakten.

Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975,
das nach wie vor in Kraft ist, sieht sowohl die Gewin-
nung und Aufbereitung von Uranerzen als auch die Her-
stellung von Kernreaktoren und die Urananreicherung
vor. Es ist also in dem Sinne ein Atomförderungsabkom-
men. Insgesamt acht Atomkraftwerke, eine Urananrei-
cherungsanlage und eine Wiederaufbereitungsanlage
sollten in Brasilien mit deutscher Technik gebaut wer-
den. Dieser Atomvertrag war zu Beginn der 80er-Jahre
für rund ein Drittel der brasilianischen Auslandsschul-
den verantwortlich und führte mithilfe einer deutschen Her-
mesbürgschaft zum Bau des Atomkraftwerks Angra 2, das
weniger als 2 Prozent aller in Brasilien erzeugten Elektrizi-
tät produziert, obwohl es 14 Milliarden US-Dollar gekostet
hat. Siemens/KWU freute sich damals über den Milliarden-
auftrag. Es war ein „Bombengeschäft“, wie es damals
wörtlich hieß.

Stets hatten Kritikerinnen und Kritiker gemahnt, das
brasilianische Militär habe versucht, mittels Urananrei-
cherung in den Besitz von Atombomben zu gelangen.
Nach dem Übergang zur Demokratie Anfang der 90er-
Jahre bestätigte die brasilianische Regierung dies indi-
rekt durch bestimmte Äußerungen. Auch das muss man
wissen, weil die Rolle des Militärs in Brasilien immer
noch sehr stark ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Linke meint:
Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomförde-
rung im Ausland passen nicht zusammen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland verweist gern auf den Atomausstieg. Bis
2022 sollen alle kommerziellen Reaktoren abgeschaltet
werden. Das ist aber leider nur die halbe Wahrheit.
Deutschland ist weiter ein Atomstaat. Nach 2022 wird
weiter Uran aus aller Welt nach Deutschland geliefert, wie
es auch jetzt immer noch der Fall ist. In den Anreicherungs-
anlagen in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen
wird das radioaktive Material weiterverarbeitet und ange-
reichert. Auch aus Brasilien treffen dort nach wie vor Liefe-
rungen ein, nach wie vor. Das geschieht auf Basis des
Atomabkommens von 1975, das weiterhin in Kraft ist.

Wer ankündigt, sich im eigenen Land aus der Atom-
kraft verabschieden zu wollen, sollte keine doppelten
moralischen Standards anwenden und kann deswegen
auch nicht weiter den Ausbau der Atomkraft im Ausland
unterstützen. Das ist nicht länger hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Große Koalition will aber an dem deutsch-brasi-
lianischen Abkommen festhalten. Deutschland und deut-
sche Konzerne sollen im internationalen Atomgeschäft
weiter mitmischen können. Das finden wir auch völlig
unakzeptabel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besonders schwierig und opportunistisch finde ich
das Verhalten der SPD an dieser Stelle. Ich habe nicht
vergessen, dass sich die SPD in der vergangenen Legis-
laturperiode und auch schon vorher, als sie in der Oppo-
sition war, dafür starkgemacht hat, dass keine Hermes-
bürgschaften für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in
Brasilien erteilt werden – teilweise mit gutem Erfolg.
Jetzt, wo Sie wieder mit der CDU/CSU in der Regierung
sind, machen Sie wieder alles mit. Das finden wir extrem
opportunistisch.


(Beifall bei der LINKEN)






Hubertus Zdebel


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb fordert die Linke ganz klar: Das deutsch-bra-
silianische Abkommen zur Förderung von Atomenergie
muss gekündigt werden, und zwar sofort. Wir werden
den Antrag der Grünen unterstützen und entsprechend
die Beschlussempfehlungen der Ausschüsse ablehnen.

In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in

der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Andreas
Lämmel.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1806325500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, die Strategie, die Sie mit Ihrem Antrag der Bundes-
republik Deutschland empfehlen, nämlich die Kündi-
gung des Atomvertrages mit Brasilien, ist genauso falsch
wie die Entscheidung, sich jetzt mit den Linken in Thü-
ringen in ein Boot zu setzen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt noch der Mauerfall!)


Das Boot wird absaufen, und Sie werden Mühe haben,
den Untergang zu überleben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir ein Abkommen mit Thüringen? Radioaktive Bratwürste!)


Deswegen werden wir nicht den Fehler machen, aus dem
Abkommen mit Brasilien auszusteigen, und zwar aus
verschiedenen Gründen.

Es gibt das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Lan-
des über seinen Energiemix. Wie Sie sicherlich sehr ge-
nau wissen, hat die Atomenergie in Brasilien nur einen
verschwindend geringen Anteil an der Stromerzeugung.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)


Weltweit werden 436 Atomkraftwerke betrieben.
70 weitere sind geplant. Nun stellt sich die Frage, wer
diese 70 Atomkraftwerke plant und baut. Deutschland
unterstützt jedenfalls nirgendwo in der Welt den Bau von
Atomreaktoren.

Das bilaterale Abkommen mit Brasilien ist eines von
fast 190 Abkommen, die die Bundesrepublik Deutsch-
land mit vielen Ländern in der Welt geschlossen hat.
Dieses Abkommen stellt also überhaupt keine Besonder-
heit dar, sondern es ist eines unter vielen. Die Bundesre-
publik Deutschland hat allein mit Russland 16 bilaterale
Abkommen geschlossen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Diese sollten wir auch kündigen!)

Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
das Abkommen nicht genau gelesen. Sie haben sich auf
Fakten aus den 80er-Jahren gestützt. Wir schreiben aber
das Jahr 2014.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!)


Wenn Sie das alles nicht so schnell nachvollziehen kön-
nen, kann ich Ihnen zwar nicht helfen. Aber ich kann Ih-
nen versichern, dass sich die Welt seit den 80er-Jahren
weitergedreht hat, vielleicht bei Ihnen im Kopf nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Welche Folgen hätte es, wenn wir dieses Abkommen
kündigen würden? Das würde bedeuten, dass die ge-
samte bilaterale Zusammenarbeit mit Brasilien aufge-
kündigt würde. Auf dem diplomatischen Parkett würde
die Frage gestellt werden, warum wir ein Abkommen
mit einem demokratischen Staat kündigen. Brasilien hat
– anders als es früher zu Ihrer Zeit in der DDR üblich
war – gerade erst seine Präsidentin wiedergewählt. Bra-
silien ist ein demokratisches Land.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als das Abkommen geschlossen wurde, herrschte dort eine Militärdiktatur!)


– Ja, aber das ist schon 30 Jahre her.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sollen wir ein Abkommen aufrechterhalten, das mit der Militärdiktatur geschlossen worden ist? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie halten immer noch an dem Abkommen mit einer Militärdiktatur fest!)


– Das hat doch damit nichts zu tun. Sie können sich ru-
hig ereifern. Sie können dann, wenn Sie Ihre Rede hal-
ten, alles in Ruhe darlegen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen Ihnen nur helfen!)


Wir sind jedenfalls der Auffassung, dass uns dieses
Abkommen die Möglichkeit bietet, auf Expertenebene
Einfluss zu nehmen. Die deutschen Atomkraftwerke
sind nach wie vor die sichersten der Welt.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland verfügt über ein enormes Know-how und
enorme Erfahrungen auf dem Gebiet der Sicherheit und
der Entsorgungstechnologie. Wir wären doch verrückt,
wenn wir nicht die Möglichkeiten, die uns dieses Ab-
kommen bietet, nutzen würden, unser Know-how und
unsere Erfahrungen den Brasilianern beim Betrieb der
Atomkraftwerke bzw. bei der Aufrüstung der sicher-
heitstechnischen Anlagen zu vermitteln.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen auch noch aufrüsten! Es wird immer schlimmer!)


Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
den Koalitionsvertrag mit den Linken in Thüringen kün-
digen würden, hätten Sie nichts mehr zu sagen; da kön-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

nen Sie reden, wie Sie wollen. Genauso verhält es sich
mit dem Abkommen mit Brasilien. Wenn man ein sol-
ches Abkommen kündigt, hat man praktisch keinen Part-
ner mehr, mit dem man sprechen kann.

Man sollte ruhig einmal einen Blick in das Abkom-
men werfen. Sie verschweigen, dass aus diesem Abkom-
men überhaupt keine Verpflichtungen für Deutschland
entstehen. Es gibt keine Verpflichtung, den Brasilianern
in schwierigen Fällen zu helfen. Es handelt sich viel-
mehr um ein Abkommen, das gewährleistet, dass man
sich auf Expertenebene zu speziellen Fragen, die sich
von Zeit zu Zeit stellen, austauscht. Aus diesem Grunde
haben sich mehrfach deutsche Mitarbeiter in Brasilien
aufgehalten. Sie haben sich zu speziellen Fragen betref-
fend die Sicherheitstechnik und die Entsorgung ausge-
tauscht.

Den Brasilianern ist doch nicht verborgen geblieben,
dass Deutschland aus der Atomenergie aussteigt. Aber
deswegen verschwindet das entsprechende Know-how
in Deutschland nicht. Wir sind stolz darauf, dass wir in
Deutschland über eine solch geballte Ladung an Wissen
und technischen Lösungen verfügen. Diese können wir
anderen Ländern anbieten, um ihre Reaktoren sicherer
zu gestalten.

Der Kollege von der Linken hat das bereits erwähnt:
Eine Hermesbürgschaft für den Bau neuer Atomanlagen
wird Deutschland nicht geben. Das ist das Entschei-
dende. Wir tragen mit diesem Abkommen doch nicht
dazu bei, dass neue Anlagen irgendwo in der Welt er-
richtet werden, und wir unterstützen nicht aktiv die Er-
richtung neuer Anlagen, sondern wir versuchen, mit un-
serem Wissen dazu beizutragen, dass die Welt sicherer
wird und dass die Anlagen, die in Betrieb sind, sicherer
werden. Deswegen gibt es keinen Grund, dieses Abkom-
men mit Brasilien zu kündigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen können wir als CDU/CSU-Fraktion und
als Koalition Ihrem Antrag leider nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das „leider“, glaube ich, stimmt nicht ganz!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325600

Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. – Nächste Red-

nerin in der Debatte ist Sylvia Kotting-Uhl für Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325700

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Herr Lämmel, das war jetzt schon eine
Zumutung, als Sie von „Aufrüstung“ usw. gesprochen
haben.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Ich habe von Aufrüstung kein Wort gesagt!)


Ich gehe davon aus, dass alle, die hier sitzen, wie das
so üblich ist bei uns, diesen Antrag sorgfältig und gründ-
lich gelesen haben. Trotzdem – vielleicht auch in der
Hoffnung, dass wir nicht vollkommen aneinander vor-
beireden – will ich Ihnen ein Stück daraus zitieren:

Begründet wurde der Atomausstieg 2011 von der
damaligen Bundesregierung unter der heute noch
amtierenden Bundeskanzlerin mit dem Risiko, das
der Gesellschaft nach Fukushima nicht mehr zu-
mutbar sei. Wenn diese Begründung ernst gemeint
war, dann ergeben sich aus ihr weitere Aufgaben:
sich mit allen Möglichkeiten dafür einzusetzen,
dass dieses Risiko auch anderen Gesellschaften
nicht länger zugemutet wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich zitiere weiter:

Selbstverständlich entscheidet jedes Land selbst
über seine Energieversorgung und seine Energie-
quellen. Aber kein Land lebt in einer globalisierten
Welt unter einer Glasglocke. Regierungen treffen
ihre Entscheidungen nicht unbeeinflusst von Ent-
wicklungen in anderen Ländern, von Beratungen
und Absprachen mit diesen. Die deutsche Regie-
rung kann direkt und indirekt Einfluss auf andere
Länder nehmen, wenn sie sich nicht nur im eigenen
Land, sondern auch international zum nicht zumut-
baren Risiko durch Atomkraft bekennt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist die moralisch-ethische Begründung für unsere
Forderung zur Aufkündigung dieses Abkommens, zumal
eines Abkommens mit einem Land wie Brasilien, dessen
beabsichtigter Atomweg nicht wirklich klar ist, da er
sich der effektiven Kontrolle durch die IAEA entzieht.

Vor der Sommerpause haben wir in der Tat bereits ei-
nen Antrag, der Brasilien und Indien zum Gegenstand
hatte, behandelt. Es wurde beklagt, dass er zu kurzfristig
eingereicht worden sei. Das war aber notwendig, weil
das Abkommen mit Indien auslief und es genauso wie
jetzt das Abkommen mit Brasilien – wenn es nicht zum
18. November gekündigt wird, dann läuft es auch auto-
matisch fünf Jahre weiter – fünf Jahre weitergelaufen
wäre.

Die Hauptbegründung für die Ablehnung, wenigstens
die der SPD, war damals, es sei keine Zeit für die Bera-
tung gewesen. Dieses Mal war Zeit. Es wäre auch, Frau
Scheer, Zeit für einen Abstimmungsprozess innerhalb
der Regierung gewesen. Das Argument ist also nicht
mehr brauchbar. So verschiebt sich die Argumentation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE])


Ich will für die neuen Argumente von Ihnen, Herr
Lämmel, den Bericht des Ausschusses zitieren; denn der
war etwas klarer als Ihre heutige Argumentation:

Gegenstand des Abkommens sei eben nicht nur der
Bau oder der Betrieb von Atomreaktoren. Das Ab-
kommen enthalte vielmehr auch Regelungen zu
Fragen der Sicherheit, der Entsorgung, des Strah-





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)

lenschutzes und der Nichtverbreitung von Kern-
brennstoffen. … Bei einer Kündigung des Abkom-
mens müsste man diese Aspekte neu verhandeln.

Ich sage Ihnen: Ja, verhandeln Sie neu, verhandeln
Sie besser, und verhandeln Sie vor allem wirklich Si-
cherheit! Das jetzige Abkommen, dessen Aufgabe die
Förderung der Atomkraft ist, wozu auch der Bau von
Angra 3 in einer erdrutschgefährdeten Bucht gehört,
spottet, was die Sicherheitsvorstellungen betrifft, jeder
Beschreibung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine Forderung von unserem damaligen Antrag ist
übrigens bereits umgesetzt. Die Hermesbürgschaften
werden nicht mehr gegeben. Dazu hieß es in der letzten
Debatte, damals noch von Frau Motschmann:

Wenn die Hermesbürgschaften zurückgezogen wer-
den, dann können diese Länder ihre Stromversor-
gung nicht gewährleisten und nicht finanzieren.

Es geht doch trotzdem. Lernen Sie noch ein Stück wei-
ter, und stimmen Sie heute unserem Antrag zu.

Ich will Ihnen zum Schluss noch eine Begründung ge-
ben, warum für unsere internationale Glaubwürdigkeit
die Aufkündigung dieses Abkommens so wichtig ist. Ich
zitiere dazu aus einem Brief von 65 brasilianischen Or-
ganisationen, den alle Fraktionen bekommen haben und
der einen Aufruf an die deutsche und an die brasiliani-
sche Regierung enthält. Sie schreiben:

Aber die von der deutschen Regierung angekün-
digte Stilllegung umfasst weder die Forschungsre-
aktoren noch die Urananreicherungsanlagen noch
die Brennelementefabriken. Diese Aktivitäten er-
folgen auch auf Basis des noch gültigen deutsch-
brasilianischen Atomvertrags. Ein Teil des in
Deutschland angereicherten Urans kommt aus Bra-
silien. …

Dies bedeutet, dass Deutschland den Atomzyklus
intern und im Ausland fortsetzt.

Etwas weiter unten heißt es:

Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland für sein
eigenes Territorium andere Sicherheitsregeln fest-
legt und gleichzeitig diese Art der Energieproduk-
tion in anderen Ländern fördert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325800

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806325900

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Liebe

Kolleginnen und Kollegen, unser Verhalten kommt dort
als Doppelmoral an. Lassen Sie uns Klarheit schaffen.
Lassen Sie uns zeigen, dass wir es auch international
ernst meinen mit der Bewertung des Risikos. In
Deutschland hat die Zivilgesellschaft den Atomausstieg
erreicht. Helfen wir alle der brasilianischen Zivilgesell-
schaft, die nach britischen Studien zu 67 Prozent den
Atomausstieg will, mit der Kündigung dieses antiquier-
ten Abkommens.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806326000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin in der

Aussprache ist Hiltrud Lotze für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Hiltrud Lotze (SPD):
Rede ID: ID1806326100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich schicke einmal vorweg: Ich komme aus dem Wahl-
kreis Lüchow-Dannenberg – Lüneburg. Da liegt Gorle-
ben, und ich bin die Letzte, die hier eine Lanze für die
Atomenergie brechen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hören erst einmal bis zum Ende Ihrer Rede!)


– Genau. Das empfehle ich.

Wir haben schon gehört: Die Bundesrepublik
Deutschland hat auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung
der Kernenergie die schon genannten 182 bilateralen
Abkommen mit 56 Staaten. Wir werden uns auch für
Kündigungen dieser Abkommen einsetzen, wenn sie
hinsichtlich unserer deutschen Ausrichtung, aus der
Atomenergie auszusteigen und die Energiewende zum
Erfolg zu führen, nicht mehr tragbar sind.

Bevor wir aber über Kündigungen reden, müssen wir
uns die Realitäten etwas genauer anschauen. Dieses Ab-
kommen mit Brasilien wurde 1975 geschlossen. Es ist
ein Rahmenabkommen zum Austausch von Informatio-
nen und nicht eine Vereinbarung einer konkreten techni-
schen Unterstützung. Einer der Initiatoren des hier vor-
liegenden Antrags, Jürgen Trittin – er sitzt da drüben –,
war von 1998 bis 2005 Umweltminister in der rot-grü-
nen Koalition.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat da viel gemacht, ja!)


– Genau. – Schon damals wussten wir alle, dass die Mi-
litärdiktatur dort dieses Abkommen mit unterschrieben
hat. In der Amtszeit von Jürgen Trittin wurde genau ein
solches Abkommen gekündigt. Es war aber eben nicht
das mit Brasilien, sondern das mit dem Iran, und das zu
Recht, sage ich.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was? – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist ihm aber sehr schwergefallen!)


– Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich rede ja weiter. Zu-
hören! Wir haben doch gerade verabredet, einander bis
zum Ende zuzuhören.

SPD und Grüne haben damals in der Koalition eine
Linie verabredet, die auch heute noch gilt und umgesetzt

(B)






Hiltrud Lotze


(A) (C)



(D)(B)

wird: Die Verträge sollen daraufhin geprüft werden, ob
sie mit den eigenen atompolitischen Grundsätzen noch
übereinstimmen oder diesen zuwiderlaufen. Diese Über-
prüfungen finden regelmäßig statt. Im Übrigen haben
meine Kollegin Nina Scheer und ich schon vor Wochen
entsprechende Fragen gestellt und diese Überprüfung er-
neut angeregt.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Gibt es Antworten?)


Wir steigen also aus, und wir wollen weltweit natür-
lich auch andere gewinnen, das ebenfalls zu tun. Aber
wir können uns in die Souveränität anderer Länder nicht
einmischen.


(Beifall des Abg. Dr. Christoph Bergner)


Wir wollen ja auch nicht, dass andere in unsere Energie-
wende hineinreden.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unsere souveräne Entscheidung! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist doch unsere Entscheidung, ob wir die unterstützen!)


Wir werden weiterhin Verträge wie den mit Brasilien
überprüfen und entweder auf dem Verhandlungswege
ändern oder notfalls kündigen. Ich sage „notfalls kündi-
gen“, weil diese Verträge auch jetzt noch ihren Sinn ha-
ben: Durch den vereinbarten Informationsaustausch blei-
ben wir über das auf dem Laufenden, was in Sachen
Atomenergie in anderen Ländern passiert. So sind wir
sprachfähig, wenn wir über die Sicherheit von AKWs im
internationalen Rahmen sprechen wollen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806326200

Liebe Kollegin, denken Sie an die Redezeit.


Hiltrud Lotze (SPD):
Rede ID: ID1806326300

Meine Überzeugung ist: Wir sollten besser den Dia-

log mit anderen Ländern pflegen mit dem Ziel einer An-
passung der bestehenden Verträge an unsere neue ener-
giepolitische Ausrichtung, und das bedeutet: keine
Unterstützung bei Neubauten, Schwerpunkt des Infor-
mationsaustausches bei den Themen Stilllegung, Rück-
bau, Entsorgung und Endlagerung.

Im Übrigen: Deutschland hat schon einen Vertrag mit
Brasilien zu den erneuerbaren Energien abgeschlossen –


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)


unter Sigmar Gabriel als Umweltminister.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das haben die Grünen auch nie hingekriegt, so einen Vertrag mit Brasilien über erneuerbare Energien!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806326400

Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.


Hiltrud Lotze (SPD):
Rede ID: ID1806326500

Ich bin schon am Ende. – Wir sind davon überzeugt,

dass die Abkommen bei unseren beiden Ministern
Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks in guten Händen
sind. Auf alles andere werden wir aufpassen. Deswegen
werden wir dem Antrag heute nicht zustimmen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806326600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kündi-
gung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/2907, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2610 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
bitte ich, gegebenenfalls die Plätze zu wechseln. Bitte
noch einmal Konzentration!

Jetzt ist der erste Redner nicht da, der Kollege
Brauksiepe.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ein Ding! Wo ist der Staatssekretär?)


Mag jemand für ihn reden, oder soll ich einfach umstel-
len?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Frau Bartz beginnt! – Weitere Zurufe)


– Moment! Ich habe den Tagesordnungspunkt noch gar
nicht aufgerufen.


(Zuruf von der SPD: Da kommt der Staatssekretär!)


– Herr Kollege Brauksiepe, haben Sie schon mal das
Bier von der Wette getestet?


(Henning Otte [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Ordnungsruf!)


– Das war jetzt freundlich gemeint. Wir haben vorher ge-
wettet; da waren Sie nicht da. – Er hat es nicht getestet.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-
Operation in Darfur (UNAMID) auf Grund-
lage der Resolution 1769 (2007) des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen vom
31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zu-
letzt 2173 (2014) vom 27. August 2014

Drucksache 18/3006





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, sehe auch keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Brauksiepe. – Danke,
dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind, Herr
Brauksiepe!


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1806326700


Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung. Ich war mit
dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion
und einer internationalen Delegation im Abgeordneten-
restaurant – nachweislich mit Wasser; das steht noch auf
den Tischen.


(Heiterkeit – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ CSU]: Das wird der Vizepräsidentin nicht passieren!)


Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wen-
det sich heute an Sie mit der Bitte, der Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur zuzustimmen.

UNAMID, die gemeinsam von den Vereinten Natio-
nen und der Afrikanischen Union geführte Friedensmis-
sion in Darfur, zählt zu einer der weltgrößten Frie-
denstruppen und hat nach wie vor eine entscheidende
Funktion in der Region. Ihr Auftrag umfasst die Umset-
zung des Darfur-Friedensabkommens, die Unterstützung
des Friedensprozesses, den Schutz von Zivilisten und die
Sicherung des humanitären Zugangs. Das ist weiß Gott
kein einfacher Auftrag.

Die Sicherheitslage in Darfur ist trotz der erzielten
Fortschritte von UNAMID weiterhin angespannt und in-
stabil. Dies ist besorgniserregend. Die bewaffneten Aus-
einandersetzungen zwischen Regierung und Rebellen-
gruppen halten auch im elften Jahr des Konflikts an. Die
immer wieder aufflammenden Kämpfe in der Region
führen zu Massenflucht, Zehntausenden neuer Binnen-
flüchtlinge und Flüchtlingsströmen in die Nachbarlän-
der. All dies – man muss das wiederholen, was wir auch
schon beim Südsudan diskutiert haben – gipfelt in einer
humanitären Tragödie.

Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe an-
gewiesen sind, ist 2014 wieder deutlich angestiegen.
Waren Ende 2013 noch 3,5 Millionen Menschen in Dar-
fur auf humanitäre Hilfe angewiesen, so ist die Zahl
mittlerweile auf fast 3,9 Millionen angewachsen. So-
lange diese humanitäre Tragödie andauert und die Si-
cherheitslage so instabil ist, dass Vertriebene auf Flücht-
lingslager und humanitäre Hilfe angewiesen sind, bedarf
es weiterhin des Schutzes durch UNAMID.

Ich will das ausdrücklich betonen: Die zivile Kompo-
nente leistet hervorragende Arbeit. Aber es hängt eben
das Zivile mit dem militärischen Schutz zusammen. Ich
möchte an der Stelle das, was der Kollege Schmidt in der
Debatte zu UNMISS gesagt hat, aufgreifen: Alleine die
Tatsache, dass wir denjenigen Schutz bieten, die in die
Flüchtlingslager kommen, rechtfertigt die VN-Missio-
nen und rechtfertigt auch, dass wir uns daran beteiligen,
und zwar auch mit militärischem Schutz. Es ist zynisch,
etwas anderes zu behaupten, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Schon die bloße Gegenwart einer so großen interna-
tionalen Präsenz hat – bei allen Problemen, die es gibt –
eine mäßigende Wirkung auf die Konfliktparteien.
UNAMID schafft den notwendigen Rahmen, innerhalb
dessen sich die politischen Bemühungen um ein Ende
der Krise in Darfur weiterentwickeln können – und das
wird noch ein langer Weg sein.

Mit der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 27. August wurde das UNAMID-Mandat
bis zum 30. Juni 2015 verlängert. Seit Beginn der Mis-
sion ist Deutschland als einer der wenigen westlichen
Truppensteller an der Mission beteiligt; es hat sich mit
Einzelpersonal in den Führungsstäben und mit Verbin-
dungsoffizieren an dieser Mission beteiligt.

Mit unseren derzeit zehn deutschen Soldatinnen und
Soldaten im Hauptquartier El Fasher und den fünf Poli-
zeivollzugsbeamten unterstützen wir die Auftragsdurch-
führung der Mission. Das ist im Verhältnis zur Gesamt-
zahl an Personal in der Mission sicherlich nur ein kleiner
Beitrag, aber er erfolgt an zentraler Stelle und setzt ein
wichtiges Zeichen der Unterstützung der Mission.

Die eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten
arbeiten unter den schwierigsten Umständen. Oft sind
sie auf sich alleine gestellt, und sie arbeiten – ähnlich
wie im Südsudan; diese Situation ist bei UNMISS und
UNAMID ähnlich – häufig abseits der öffentlichen Auf-
merksamkeit. Aber – und auch das gilt für beide Missio-
nen, liebe Kolleginnen und Kollegen – unsere Soldatin-
nen und Soldaten – und ich schließe die Polizistinnen
und Polizisten an der Stelle ausdrücklich mit ein – ver-
richten ihren Auftrag unter schwierigen Umständen hoch
professionell und vorbildlich. Dafür können wir ihnen
dankbar sein, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will auch die schon vom Kollegen Kiesewetter in
der vorangegangenen Debatte erwähnten afrikapoliti-
schen Leitlinien der Bundesregierung in diesem Zusam-
menhang ausdrücklich erwähnen: Das, was wir im Rah-
men von UNAMID tun, liegt genau auf der Linie dieser
afrikapolitischen Leitlinien. Wir werden deshalb unsere





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

Bereitschaft zur Hilfe und unser Engagement in Afrika
weiterhin beibehalten.

Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten können demnach
weiterhin bei dieser wichtigen VN-Mission eingesetzt
werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, das
Hohe Haus – auch den jetzt eingetroffenen Kollegen
Mißfelder –,


(Heiterkeit)


herzlich um Unterstützung für dieses Mandat. Wir haben
einen schwierigen Weg erfolgreich beschritten und soll-
ten ihn gemeinsam weitergehen – im Interesse der Men-
schen, die auch in Darfur unsere Unterstützung, unsere
Hilfe und eine Zuflucht brauchen.

Herzlichen Dank, Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806326800

Vielen Dank, Dr. Brauksiepe. – Die nächste Rednerin

in der Debatte ist Christine Buchholz für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806326900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit sie-

ben Jahren beteiligt sich die Bundeswehr nun an der Mi-
litärmission UNAMID in Darfur. Selbst die Bundesre-
gierung muss zugeben: Die Ergebnisse sind mehr als
ernüchternd. Die Kriminalität hat massiv zugenommen.
Der bewaffnete Konflikt hat eine landesweite Dimension
bekommen. 2014 sind in Darfur erneut fast eine halbe
Million Menschen zu Flüchtlingen geworden.

Der Antrag der Bundesregierung liest sich wie ein
Dokument des Scheiterns.


(Zuruf von der CDU/CSU: Na!)


Trotzdem fordern Sie eine Verlängerung der deutschen
Beteiligung. Eine Begründung bleiben Sie schuldig.


(Martin Patzelt [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag lesen!)


Sie behaupten einfach – Sie eben auch, Herr Brauksiepe –,
der Einsatz sei „unverzichtbar“ zur Stabilisierung der Si-
cherheitslage.

Die frühere Sprecherin von UNAMID, Aicha Elbasri,
ist da ehrlicher. Sie übergab Tausende interne UNAMID-
Dokumente dem amerikanischen Magazin Foreign Po-
licy. In der Bilanz stellt sie der Mission ein vernichten-
des Urteil aus. Frau Elbasri sagt – ich zitiere –:

Die Präsenz von UNAMID Peacekeepern hat weder
die Regierung noch die Rebellen von Angriffen ge-
gen Zivilisten abgeschreckt.

Eines ihrer vielen Beispiele ist die Entführung, Aus-
raubung und Misshandlung einer vielköpfigen Delega-
tion von Flüchtlingen am 24. März 2013. Sie waren in
drei Bussen unter UNAMID-Schutz auf dem Weg zu ei-
ner Friedenskonferenz. Opfer und Fahrer gaben zu Pro-
tokoll, dass UNAMID-Soldaten die Busse bereitwillig
an eine bewaffnete Bande übergaben. Einige hätten den
Entführern sogar Zustimmung signalisiert. Aber Frau
Elbasris Dokumente zeigen auch, dass UNAMID An-
griffe durch die Truppen der Regierung in Khartoum
systematisch herunterspielt, und es ist auch so, wie mein
Kollege Jan van Aken eben in Bezug auf UNMISS argu-
mentiert hat, dass ihr Wohl und Wehe von der sudanesi-
schen Regierung abhängig ist. Während die frühere
Sprecherin von UNAMID also schwere Vorwürfe gegen
die eigene Mission erhebt, geht die Bundesregierung
schweigend darüber hinweg. Das kann doch wohl nicht
wahr sein.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Ist ja auch nicht wahr!)


Es gibt noch ein weiteres Argument: Das Geld, das für
diese Mission – die größte und teuerste Mission der UN –
ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle. UNAMID kostet
jedes Jahr 1,3 Milliarden US-Dollar. Der deutsche Anteil
daran beträgt nicht nur eine halbe Million Euro an Zusatz-
ausgaben, die Sie im Antrag nennen, sondern insgesamt
rund 91 Millionen US-Dollar. Hochgerechnet hat die Bun-
desrepublik Deutschland also für diesen Militäreinsatz
bereits rund eine halbe Milliarde Dollar ausgegeben. Es
wäre besser, das Geld in sinnvollen Hilfs- und Entwick-
lungsprojekten anzulegen, um endlich die Ursachen für
Flucht und Gewalt in Darfur zu bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sieben Jahre UNAMID-Militäreinsatz haben gezeigt:
Weder die Mission noch die deutsche Beteiligung daran
tragen etwas zur Lösung der Konflikte in Darfur bei. Es
drängt sich der Eindruck auf, dass Bundeswehreinsätze
wie diese Beteiligung an UNAMID längst zum Selbst-
zweck geworden sind. Die Linke findet sich nicht damit
ab, dass das zur Normalität werden soll. Wir werden der
Verlängerung dieses Mandates nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806327000

Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner

in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner aus Illertissen
für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1806327100

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Egal ob in Neu-Ulm, Berlin oder al-Fa-
schir, egal ob, Frau Präsidentin, in Illertissen, Babenhau-
sen oder Nyala, eines vereint die Menschen überall: Sie
wollen und brauchen eine Perspektive. Sie wollen wis-
sen, dass das, was sie heute tun, auch morgen noch Be-
stand hat, und sie wollen, dass es ihren Kindern und ih-
rer Familie gut geht. Sie wollen ihre Wünsche,
Meinungen, Ideen und Pläne offen und ohne Druck le-
ben. Wenn wir heute allerdings den Blick auf Darfur
werfen, blicken wir dabei – so möchte ich sagen – fast in
ein dunkles Loch.

Und doch ist dieses Land unserem Blick fast ent-
schwunden. Die Gier nach Sensation lenkt den Blick auf





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)

Syrien, den Irak, die Ukraine, die Angst um Ebola den
Blick weg vom täglichen Leid, von der Perspektivlosig-
keit und von Angst und Schrecken in Darfur. Und doch:
Die humanitäre Lage in der Region ist unverändert dra-
matisch. Seit Beginn der bewaffneten Auseinanderset-
zungen 2003 sind schätzungsweise 300 000 Menschen
ums Leben gekommen. Die UNO vermutet über 2,4 Mil-
lionen Menschen auf der Flucht. Der Sudan ist das Land
mit den meisten Binnenflüchtlingen schlechthin, ein
Land, in dem seit 1999 wachsende Einnahmen aus der
Erdölförderung wirtschaftliche und machtpolitische
Konflikte entfachen. Man könnte fast sagen: Nicht Ar-
mut, sondern Gier ist die Triebfeder, die das Land ausei-
nanderdriften lässt, ein Land, in dem ethnische Konflikte
und politische Auseinandersetzungen stets angeheizt
werden und in dem durch selbsternannte Befreiungsar-
meen, zahlreiche Splittergruppen und nicht zuletzt den
Staat Menschen instrumentalisiert werden.

Es wurde sprichwörtlich mehr Öl ins Feuer gegossen,
als Löschmittel zur Verfügung stehen könnten. Darfur ist
ein Land, in dem die regierungsnahen Milizen Men-
schenrechtsverletzungen begehen, Frauen und Mädchen
vergewaltigen, ganze Dörfer dem Erdboden gleichma-
chen und Menschen aus ihrer angestammten Heimat ver-
treiben. Ich könnte die Aufzählung noch ewig weiterfüh-
ren mit dem vom Internationalen Strafgerichtshof in Den
Haag verurteilten Präsidenten, mit der herrschenden Kri-
minalisierung, mit Straftaten gegen sexuelle Minderhei-
ten und Homosexuelle, mit Entführungen und Gewalt,
der sich auch unsere westlichen Helfer und NGOs ausge-
setzt sehen.

Fest aber steht: Der Sudan ist ein Land, das vor sich
selbst flüchtet und keine Perspektiven und schon gar
nicht die Sicherheit schafft, die Menschen benötigen.
Dies ist nicht Schwarzmalerei, sondern bittere Realität.
Das konnte ich vor wenigen Tagen von Hilde Johnson
– bis Juli Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für
den Südsudan – persönlich erfahren.

Erlauben Sie mir eine Bemerkung am Rande: Wenn
der Sudan es mit über 2 Millionen Binnenflüchtlingen zu
tun hat, dann sollten wir angesichts der aktuellen Flücht-
lingszahlen in Europa und Deutschland genug Mut ha-
ben, einigen Tausend Menschen den Neuanfang zu er-
möglichen, die vor dem Schrecken und Morden des IS
geflohen sind. Das wäre auch Verantwortung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, trotz vielfältiger Bemü-
hungen konnten die Kämpfe in Darfur nicht beendet
werden, geschweige denn ein dauerhafter Frieden eta-
bliert werden. Absprachen werden, soweit sie überhaupt
getroffen werden konnten, von allen Seiten gebrochen.
Manchmal übermannt einen in dieser Situation der
Wunsch, wie bei einem abgestürzten Rechner den Reset-
Knopf zu suchen und alles wieder auf Neuanfang, auf
Start zu stellen, in der Hoffnung, beim zweiten Anlauf
wird es besser. Das geht jedoch nicht; so funktioniert die
Welt nicht. Eine politische Lösung ist daher nach meiner
Auffassung unabdingbar. Und die internationale Ge-
meinschaft muss vor Ort sein. Unsere Unterstützung ist
unabdingbar. Hier müssen wir Verantwortung überneh-
men.

Deswegen haben wir 2007 deutsche Soldatinnen und
Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten dorthin ge-
schickt. Sie sind Teil der vom Sicherheitsrat entsandten
Friedenstruppe UNAMID. Sie sollen Zivilisten schüt-
zen, humanitäre Hilfe erleichtern, humanitäre Helfer si-
chern und die Friedensverhandlungen unterstützen.
Keine leichte Aufgabe. Aber sie übernehmen Führungs-
aufgaben, beraten, geben technische Unterstützung und
bilden die truppenstellenden Nationen aus.

Das Ganze, meine Damen und Herren, ist jedoch kein
Selbstläufer. Unsere Leute versuchen, stabile Strukturen,
Sicherheit zu schaffen. Das zarte Pflänzchen eines ge-
meinsamen nationalen Dialogs gibt es bereits. Kann es
wachsen? Die Umsetzung des Doha-Friedensabkom-
mens von 2011 geht langsam voran. Ob dies Anlass zur
Hoffnung gibt, sei nach all den Rückschlägen dahinge-
stellt. Bei einem bin ich mir aber sicher: Wenn ein mög-
licher Friedensprozess auch nur annähernd in Gang
kommen soll, dann muss die humanitäre Notlage in Dar-
fur dringend gelöst werden.

UNAMID läuft übrigens nicht immer so rund, wie wir
es uns wünschen; das haben die Vorredner bereits ange-
sprochen. Die Kommunikation ist nicht gerade ideal.
Das, was UNAMID vor Ort leisten kann, ist verbesse-
rungsbedürftig. Aber sicherlich wird niemand erwarten,
dass UNAMID und Deutschland alle Probleme dieser
Welt lösen. Dennoch sollten wir den Mut haben, zu sa-
gen, was wir eigentlich wollen: Ganz konkret Verant-
wortung übernehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das
UNAMID-Mandat ist konkrete deutsche Verantwortung,
ein Versuch zur Konfliktlösung im Sudan. Wir Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu dieser
Verantwortung.

Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen den
deutschen Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten, den
Militärbeobachtern und den Stabsoffizieren ein herzli-
ches Dankeschön für ihren Dienst sagen. Genauso
möchte ich allen Hilfsorganisationen, den vielen unge-
nannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Su-
dan unter schwierigsten Bedingungen ihre Aufgabe er-
füllen, meinen Respekt und Dank aussprechen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die SPD stimmt der Mandatsverlängerung zu.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806327200

Vielen Dank, Herr Kollege Brunner. – Nächste Red-

nerin in der Debatte: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/
Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
über zehn Jahren herrscht in Darfur im Sudan ein grausa-
mer Bürgerkrieg. Um die Gewalt einzudämmen, haben
die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen 2007
eine Friedensmission auf den Weg gebracht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit sieben Jahren
debattieren wir dieses Mandat. Ich finde, wir sollten es
nicht als reine Routineberatung betrachten, sondern wir
haben dabei auch die Verantwortung, das schreckliche
Schicksal vieler Menschen im Sudan wieder in Erinne-
rung und in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Eskalation von Gewalt findet nicht nur in Darfur
statt, sondern mittlerweile auch in weiten Teilen des
Landes, im Bundesstaat Blauer Nil oder in Südkordofan.
In diesem Bürgerkrieg sind sowohl die vielen bewaffne-
ten Rebellenorganisationen, aber auch die sudanesischen
Truppen für das Leid und die Verbrechen gegenüber der
Zivilbevölkerung verantwortlich.

Meine Damen und Herren, über 5 Millionen Men-
schen sind im Sudan von Hunger bedroht. 2,4 Millionen
Menschen sind ihrer Heimat beraubt, und seit Anfang
dieses Jahres sind aufgrund aufflammender Gewalt zu-
sätzlich 400 000 auf der Flucht. Am Anfang dieses Mo-
nats gab es die schreckliche Meldung, dass 200 Frauen
und Mädchen Opfer einer Massenvergewaltigung im
Norden von Darfur geworden sein sollen. Dieses grauen-
hafte Verbrechen muss rückhaltlos aufgeklärt werden
und die Täter zur Verantwortung gezogen und bestraft
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dabei ist es völlig inakzeptabel, dass das sudanesische
Militär UNAMID daran hindert, diesen Vorwürfen nach-
zugehen.

Meine Damen und Herren, ich finde diese Zahlen
schwer vorstellbar; ich finde sie schockierend, und ich
finde, sie dürfen uns auch nicht kaltlassen. Sie zeigen,
dass sich die Sicherheitslage im Sudan wieder ver-
schlechtert hat. Die Vereinten Nationen haben diese Mis-
sion bei der Mandatierung im Sicherheitsrat vom Auf-
trag her angepasst. Sie haben auch Lehren aus den
letzten Jahren gezogen. Das Zentrum dieses Mandates
bilden nun drei Aufgaben: An allererster Stelle steht der
Schutz der Zivilbevölkerung, aber eben auch die Ver-
mittlung zwischen den Konfliktparteien sowohl auf na-
tionaler als auch auf kommunaler Ebene. Und es ist klar:
Dieser Konflikt und dieser Krieg können nur ein Ende
finden, wenn es eine politische Lösung gibt. Dazu müs-
sen alle gesellschaftlichen Gruppen in die Verhandlun-
gen über eine gemeinsame Zukunft des Landes einge-
bunden werden. Die dritte Aufgabe von UNAMID ist
aber auch wichtig: der Schutz von humanitären Helferin-
nen und Helfern; denn auch sie werden mittlerweile im-
mer häufiger Opfer von Gewalt durch die Konfliktpar-
teien und sind von Plünderungen und Übergriffen
bedroht.

Meine Damen und Herren, UNAMID kann sicherlich
nicht alle Probleme lösen; aber die Mission ist ein wich-
tiger Beitrag für mehr Stabilität und Sicherheit im Su-
dan. Ich finde schon auch, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dass wir uns die ehrliche Frage stellen müssen, ob
diese Mission eigentlich gut genug ausgestattet ist, um
diese Ziele zu erfüllen, und ob das deutsche Engagement
der dramatischen Situation angemessen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Die Lage hat sich verändert, die Vereinten Nationen
haben das Mandat angepasst – nur eines bleibt gleich:
der deutsche Beitrag. Und der ist, freundlich formuliert,
mehr als bescheiden. Die personale Obergrenze, die in
diesem Mandat festgeschrieben ist, beträgt 50 Bundes-
wehrangehörige; derzeit sind elf vor Ort. Die Zahl der
Polizeikräfte, die nicht Teil dieses Mandates sind, ist
noch geringer: Es sind fünf Polizistinnen und Polizisten.
Diejenigen, die diese Mission erlebt haben, sagen uns
immer wieder, dass gerade mehr Polizistinnen und Poli-
zisten gebraucht werden, und zwar dringend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass das Auswär-
tige Amt die finanzielle Unterstützung für die Ausbil-
dung afrikanischer Polizeiangehöriger im letzten Jahr
um mehr als die Hälfte gekürzt hat. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist angesichts der Lage das völlig fal-
sche Signal. Wir Grüne fordern Sie auf: Nehmen Sie
diese Kürzung zurück!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, auch ich möchte all jenen
danken, die sich mit oder ohne Uniform im Rahmen von
UNAMID oder außerhalb für eine bessere Zukunft im
Sudan einsetzen. Dass sie das auch unter persönlichen
Entbehrungen und großen Risiken tun, zeigt nicht zuletzt
der tragische Tod von drei UNAMID-Angehörigen im
letzten Monat, die Übergriffen von Rebellen zum Opfer
gefallen sind. Ihnen und den Menschen im Sudan, die
bereits seit Jahren unermessliches Leid erfahren und
trotzdem Glauben und Hoffnung nicht verlieren, sind es
die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland
als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen schuldig, sich
noch stärker zu engagieren. Denn es wird bei weitem
nicht alles getan, was notwendig wäre; es wird bei wei-
tem nicht alles getan, was getan werden könnte – auch
nicht das, was getan werden müsste.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Michael Brand [CDU/CSU] und Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806327300

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Letzte Rednerin

in dieser Debatte: Julia Bartz für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1806327400

1992, ein kleines schwarzafrikanisches Dorf in den

Nuba-Bergen im Sudan.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Man begrüßt normalerweise zuerst die Präsidentin!)


– Kommt. – Spätabends spielt die zwölfjährige Mende
Nazer gerade mit ihrer Katze. Plötzlich hört sie
Schreie:“ Es brennt! Die Araber kommen!“ Sie rennt
davon, wird aber von den Milizen aufgegriffen. Ge-
meinsam mit anderen Mädchen wird Mende ver-
schleppt und an einen Sklavenhändler verkauft. Nach
Jahren der Ausbeutung als Sklavin gelingt ihr schließ-
lich die Flucht in die Freiheit.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mende Nazer ist heute als Schriftstellerin und
Menschenrechtsaktivistin bekannt.

Ähnlich wie ihr erging und ergeht es heute noch im-
mer vielen Mädchen und jungen Frauen in Darfur.

Trotz umfangreicher Bemühungen der internationalen
Gemeinschaft ist es noch nicht gelungen, den Konflikt in
der Region beizulegen und einen dauerhaften, nachhalti-
gen Frieden zu sichern. Die Sicherheitslage in Darfur ist
weiterhin äußerst angespannt. Die bewaffneten Aus-
einandersetzungen zwischen dem sudanesischen Re-
gime, Rebellengruppen und den verschiedenen Ethnien
dauern an. Zudem ist die Kriminalität hoch.

Entsprechend ist auch die humanitäre Lage prekär. In
den vergangenen Monaten sind weitere 400 000 Men-
schen vor der Gewalt geflohen. Derzeit befinden sich
insgesamt 2,4 Millionen Binnenflüchtlinge in Darfur.
Deren Versorgung ist unter diesen Umständen nur be-
schränkt möglich. Denn sowohl die Zivilbevölkerung als
auch die über 5 000 humanitären Helferinnen und Hel-
fer, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich für ihren
Einsatz danken möchte,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


werden immer wieder Ziel gewaltsamer Übergriffe und
Plünderungen.

Seit 2003 sind in Darfur über 300 000 Menschen ge-
tötet worden. Deshalb hat die internationale Gemein-
schaft beschlossen, in Darfur aktiv zu werden. Seit 2007
stellen die Vereinten Nationalen und die Afrikanische
Union eine Friedenstruppe für die Region.

Heute beraten wir über die Verlängerung des Mandats
mit der Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten,
mit denen wir uns weiterhin an der UNAMID-Mission
beteiligen wollen. Derzeit sind elf deutsche Soldatinnen
und Soldaten sowie fünf Polizisten vor Ort.

Angesichts der Gesamtstärke der UN-Mission von
circa 16 000 Mann erscheint das möglicherweise gering.
Die deutsche Beteiligung ist aber wichtig, um deutlich
zu machen: Uns sind alle Länder in der Region wichtig.
Für uns sind nicht nur womöglich direkt ableitbare Inte-
ressen ausschlaggebend.

Somit können auch maximal 50 Soldatinnen und Sol-
daten einen wichtigen Beitrag leisten. Denn das Ziel die-
ser Friedensmission ist es, die Zivilbevölkerung in Dar-
fur zu schützen. Ein weiteres Ziel ist es, die Sicherheit
des humanitären Personals sicherzustellen. Denn nur
wenn gewährleistet werden kann, dass entwicklungs-
politische und humanitäre Helferinnen und Helfer vor
Ort sicher wirken können, kann es uns gelingen, im Ver-
bund von militärischen, diplomatischen und polizeili-
chen Instrumenten einen nachhaltigen Erfolg in einer
Krisenregion zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So setzt zum Beispiel das Auswärtige Amt die Aus-
bildung afrikanischer Polizisten für Einsätze bei
UNAMID fort. Auf der Wiederaufbaukonferenz in Doha
hat Deutschland bereits 16 Millionen Euro für den Wie-
deraufbau Darfurs zugesichert.

Die Mission ist also eingebettet in einen ressortüber-
greifenden und vernetzten Ansatz. Zudem haben wir als
Handelsnation ein grundlegendes Interesse an stabilen
Handelspartnern und freien Handelswegen auch und be-
sonders in und um Afrika. Aus all diesen Gründen ist un-
sere Hilfe für die Afrikanische Union und die Region im
Rahmen der UNAMID-Friedensmission wichtig.

Schicksale wie das von Mende Nazer – ich denke, da-
rüber sind wir uns alle in diesem Haus einig – sollen sich
nicht wiederholen. Dies ist nur möglich, wenn in der Re-
gion ein dauerhafter und nachhaltiger Frieden gewähr-
leistet ist, auch wenn der Weg dorthin noch lang sein
wird.

Irgendwann, meine Damen und Herren, will auch
Mende Nazer wieder zurück in den Sudan. Eine Rück-
kehr sei erst, sagt sie, möglich, wenn in dem Land Si-
cherheit herrscht. Genau dieses Ziel, Sicherheit für die
Menschen im Sudan, verfolgen wir mit dieser Friedens-
mission.

Deshalb bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806327500

Vielen Dank, Frau Kollegin Bartz. – Ich schließe die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3006 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten

und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der
Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversi-
cherung (Beitragssatzgesetz 2014)


Drucksache 18/3042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO


(Unruhe)


– Ich sehe, dass einige Abgeordnete gehen. Wir haben
aber noch reichlich Abstimmungen; das will ich nur sa-
gen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hammelsprung!)


Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/3042 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss
gemäß § 96 der Geschäftsordnung vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verringerung der Abhängigkeit von
Ratings

Drucksache 18/1774

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/3066

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/3066, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/1774 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –

1) Anlage 6
2) Anlage 8
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umsatzsteuerbetrug bekämpfen

Drucksache 18/1968
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1968 an den Finanzausschuss vorge-
schlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikge-
setzes

Drucksache 18/2707

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft

(10. Ausschuss)


Drucksache 18/3064

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3064, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2707 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und den Linken und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD
und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen.

3) Anlage 7
4) Anlage 10





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen

Drucksache 18/2308
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Niemand ist dagegen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2308 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Ur-
heberrechtsgesetzes

Drucksache 18/2602

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/3069

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3069, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/2602 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und bei Ent-
haltung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD und Enthaltung der Linken und von
Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatz-

1) Anlage 9
2) Anlage 11
protokoll vom 10. November 2010 zum Euro-
päischen Auslieferungsübereinkommen vom
13. Dezember 1957

Drucksache 18/2655

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/3071

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3071, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/2655 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Der
Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Ge-
genstimmen der Linken.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Durchführung des Haager Über-
einkommens vom 30. Juni 2005 über
Gerichtsstandsvereinbarungen

Drucksache 18/2846

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/3068

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Sabine Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hu-
pach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zu-
gang zur Arbeitslosenversicherung ermögli-
chen

Drucksachen 18/2786, 18/3067

Der Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager
Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in
der Ausschussfassung des Ausschusses für Recht und
Verbraucherschutz beinhaltet Änderungen des Rechts-
pflegergesetzes, des Gerichts- und Notarkostengesetzes,
des Altersteilzeitgesetzes und des Dritten Buches Sozial-
gesetzbuch.

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

3) Anlage 12
4) Anlage 13





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 23 a. Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Überein-
kommens über Gerichtsstandsvereinbarungen. Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3068,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 18/2846 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit Zu-
stimmung von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 23 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kurzzeitig Beschäf-
tigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversiche-
rung ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3067, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2786 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU-
Fraktion und SPD-Fraktion, bei Gegenstimmen der Lin-
ken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusge-
setzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikge-
setzes

Drucksache 18/2141

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/3078

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3078, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/2141 anzunehmen. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3089 vor, über den wir zuerst
abstimmen müssen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer

1) Anlage 14
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs-
antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die
Grünen, Ablehnung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion
und Enthaltung der Linken.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen: Zustimmung
CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen Linke,
Enthaltung Bündnis 90/Die Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSU-
und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/99/EU über die
Europäische Schutzanordnung, zur Durch-
führung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013
über die gegenseitige Anerkennung von
Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur
Änderung des Gesetzes über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit

Drucksache 18/2955
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, Sie sind einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2955 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung der Finanzaufsicht über Versiche-
rungen

Drucksache 18/2956
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2956 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es

2) Anlage 15
3) Anlage 16





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(B)

anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Abgabenordnung an den Zollkodex
der Union und zur Änderung weiterer steuer-
licher Vorschriften

Drucksache 18/3017
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3017 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Nein. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europäischen Übereinkommen vom 27. No-

1) Anlage 17
vember 2008 über die Adoption von Kindern

(revidiert)

Drucksache 18/2654
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2654 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch
dazu gibt es, wie ich sehe, keine weiteren Vorschläge.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.


(Beifall)


Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag,
den 7. November, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Bitte denken Sie daran, möglichst frühzeitig von zu
Hause loszufahren, damit Sie wirklich um 9 Uhr da sind.
Schönen Abend!