2) Anlage 18
(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5929
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Alpers, Agnes DIE LINKE 6.11.2014
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 6.11.2014
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 6.11.2014
Gohlke, Nicole DIE LINKE 6.11.2014
Helfrich, Mark CDU/CSU 6.11.2014
Hellmuth, Jörg CDU/CSU 6.11.2014
Henn, Heidtrud SPD 6.11.2014
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 6.11.2014
Kühn-Mengel, Helga SPD 6.11.2014
Kunert, Katrin DIE LINKE 6.11.2014
Dr. Launert, Silke CDU/CSU 6.11.2014
Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 6.11.2014
Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 6.11.2014
Pflugradt, Jeannine SPD 6.11.2014
Poß, Joachim SPD 6.11.2014
Dr. Rosemann, Martin SPD 6.11.2014
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 6.11.2014
Schön (St. Wedel),
Nadine
CDU/CSU 6.11.2014
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
6.11.2014
Veit, Rüdiger SPD 6.11.2014
Wagner, Doris BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
6.11.2014
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
6.11.2014
Werner, Katrin DIE LINKE 6.11.2014
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth,
Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik
Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstim-
mungen:
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/
59/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines
Rahmens für die Sanierung und Abwicklung
von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen
und zur Änderung der Richtlinie 82/891/
EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG,
2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/
36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/
36/EU sowie der Verordnungen (EU)
Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates
(BRRD-Umsetzungsgesetz)
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai
2014 über die Übertragung von Beiträgen
auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und
über die gemeinsame Nutzung dieser Bei-
träge
– Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie-
rungsgesetzes
– Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru-
mente nach Artikel 19 des Vertrags vom
2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro-
päischen Stabilitätsmechanismus
(Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c)
Mit den Regelungen zur Bankenunion wird eine Haf-
tungskaskade eingeführt, die dazu führt, dass für die
Schieflage von systemrelevanten Banken in erster Linie
die Gesellschafter, dann die Gläubiger, der Bankenret-
tungsfonds und schließlich der Sitzstaat einzustehen ha-
ben. Erst im unwahrscheinlichen Fall, dass alle diese
Mittel nicht reichen sollten, kommt die neue Möglich-
keit einer direkten Bankenrekapitalisierung durch den
ESM in Betracht. Diese Stufenfolge ist richtig, weil sie
die Gefahr einer Haftung des deutschen Steuerzahlers
deutlich reduziert.
Auch wenn – nach den bisherigen Erfahrungen – eine
direkte Bankenrekapitalisierung in der Zukunft äußerst
unwahrscheinlich ist, ist kritisch zu beobachten, ob de-
ren Voraussetzungen mit Blick auf die Mithaftung des
deutschen Steuerzahlers im Einzelfall tatsächlich geprüft
werden können. Es ist insoweit richtig und wichtig, dass
der deutsche Vertreter im ESM-Gouverneursrat etwaige
Entscheidungen zu einer direkten Bankenrekapitalisie-
rung in jedem Einzelfall von einer Zustimmung des
Deutschen Bundestages abhängig machen muss und der
Deutsche Bundestag mit Blick auf das Erfordernis der
Einstimmigkeit von Entscheidungen des Gouverneursra-
tes damit der Sache nach ein Vetorecht hat.
Anlagen
5930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Diese Zustimmung des deutschen Vertreters im Gou-
verneursrat und damit auch die des Deutschen Bundesta-
ges hat sich im Wesentlichen auf zwei Fragen zu bezie-
hen: Zum einen ist zu prüfen, ob der Sitzstaat tatsächlich
nicht mehr zu der notwendigen Bankenrekapitalisierung
in der Lage ist, zum anderen, ob das zu rettende Kredit-
institut tatsächlich noch sanierungsfähig ist. Während
der Deutsche Bundestag hinsichtlich der ersten Frage
noch zu einer eigenständigen Entscheidung in der Lage
sein dürfte, ist dies bei der zweiten Frage schwieriger:
Denn ihre Beurteilung kann nur in Kenntnis ausführli-
cher Sanierungsfähigkeitsgutachten erfolgen. Werden
diese tatsächlich dem gesamten Plenum vorgelegt, dürfte
das Kreditinstitut wegen des Bekanntwerdens unterneh-
mensinterner Daten gar nicht mehr zu retten sein. Wer-
den sie aber aus Geheimhaltungsgründen nicht offenge-
legt, läuft das Beteiligungsrecht des Deutschen
Bundestages leer. Angesichts einer möglichen Gesamt-
haftungssumme von 500 Milliarden Euro ist diese Frage
durchaus relevant.
Unsere Zustimmung zu dem Gesetz verbinden wir
vor dem Hintergrund dieses Konflikts mit der Erwar-
tung, dass es im Falle einer notwendigen Beteiligung des
Deutschen Bundestages zu einem Ausgleich dieser ge-
genläufigen Interessen kommt.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/
CSU) zu den Abstimmungen:
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/
59/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines
Rahmens für die Sanierung und Abwicklung
von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen
und zur Änderung der Richtlinie 82/891/
EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG,
2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/
36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/
36/EU sowie der Verordnungen (EU)
Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates
(BRRD-Umsetzungsgesetz)
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai
2014 über die Übertragung von Beiträgen
auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und
über die gemeinsame Nutzung dieser Bei-
träge
– Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie-
rungsgesetzes
– Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru-
mente nach Artikel 19 des Vertrags vom
2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro-
päischen Stabilitätsmechanismus
(Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c)
Ich stimme gegen das Gesetzespaket, mit dem die di-
rekte Rekapitalisierung von Finanzinstituten aus dem
ESM ermöglicht werden soll. Die vergangenen fünf
Jahre Euro-Krise sollten uns alle misstrauisch machen,
wenn Finanzhilfen als Ultima Ratio im Raum stehen.
Stets versucht man uns weiszumachen, dass damit Risi-
ken für den deutschen Steuerzahler reduziert werden, da-
bei setzen wir den Steuerzahler immer größeren und
qualitativ neuen Risiken aus.
Wir unterlaufen mit Zahlungen an Banken, für die ei-
gentlich der jeweilige Sitzstaat verantwortlich ist, auch
zugleich die Maastrichtkriterien. Viele haben es viel-
leicht schon vergessen und verdrängt, aber die 60-Pro-
zent-Grenze Gesamtverschuldung in Relation zum Brut-
toinlandsprodukt ist immer noch gültig. Zahlungen des
ESM an Banken wirken sich perfiderweise nicht erhö-
hend auf den Schuldenstand des Sitzlandes aus und
schaffen somit zusätzliche Verschuldungsmöglichkeiten,
die nach aller Erfahrung lustvoll ausgeschöpft werden.
Bisher war eine Rekapitalisierung von Finanzinstitu-
ten innerhalb der Euro-Zone nur indirekt möglich, das
heißt, die Kredite wurden an den betroffenen Staat gege-
ben, der diese dann an die jeweiligen angeschlagenen
Banken weiterleitete. Banken können – zumindest in der
Theorie – pleitegehen; wer würde dann die Kredite zu-
rückzahlen? Banken kommen und gehen, die Staaten
bleiben. Ein von mir in Auftrag gegebenes Gutachten
des Wissenschaftlichen Dienstes hat noch einmal bestä-
tigt, dass im Falle der Abwicklung eines mit direkten
Finanzhilfen aus dem ESM unterstützten Finanzinstituts
nicht der Sitzstaat, sondern die Bank Schuldner ist. Ein
Forderungsausfall des ESM wird sich damit im Rahmen
der anteiligen Gläubigerbefriedigung bis hin zum Total-
ausfall ergeben. Der Anteil, der nicht zurückgezahlt
wird, belastet das Ergebnis des ESM und ist von den
Anteilseignern gemäß ihrer Quote zu erbringen, das
heißt für den deutschen Steuerzahler derzeit zu rund
27 Prozent.
Nun sollen Hilfsgelder doch als „letzte Haftungs-
stufe“ direkt aus dem ESM an Pleitebanken fließen.
„Haftungskaskade“ ist ein schönes Wort, es ist aber nur
Augenwischerei. Zunächst sollen Eigentümer und große
Gläubiger der Banken haften. Diese müssen 8 Prozent
der Bilanzsumme der abzuwickelnden Bank beisteuern.
Für weitere 5 Prozent der Bilanzsumme soll in einer
zweiten Haftungsstufe ein aus Bankenabgaben gespeis-
ter Bankenfonds in Anspruch genommen werden. Dieser
Fonds wird allerdings erst in acht Jahren seine Zielgröße
von 55 Milliarden Euro erreichen. Wenn der Sitzstaat der
angeschlagenen Bank durch Deckung einer verbleiben-
den Kapitallücke überfordert erscheint, sollen dann die
Instrumente der indirekten und – nun neu und noch risi-
koreicher – direkten Bankenrekapitalisierung aus dem
Euro-Rettungsschirm ESM in Anspruch genommen wer-
den. Die direkte Zahlung an Banken soll zwar durch
Beschluss des ESM-Gouverneursrates auf 60 Milliarden
Euro gedeckt werden. In Zeiten der „Euro-Rettung“ seit
2010 hatten solche Wertgrenzen allerdings meist eine
kurze Verfallszeit; sie dienten mehr der Erlangung der
Bundestagszustimmung.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5931
(A) (C)
(D)(B)
In den entsprechenden Dokumenten heißt es schon:
„Unbeschadet des Verfahrens zur Überprüfung des ma-
ximalen Darlehensvolumens gemäß Artikel 10 Absatz 1
des Vertrags kann der Gouverneursrat beschließen, die
anfänglich auf 60-Milliarden-Euro festgesetzte Ober-
grenze anzupassen, sofern dies notwendig und angemes-
sen ist.“ Die 60-Milliarden-Euro-Obergrenze kann also
sehr schnell angepasst werden.
Doch wie niedrig ist das Risiko für den Steuerzahler
wirklich? Die Bilanzsumme der Banken in den
Krisenländern Griechenland, Portugal, Irland, Spanien,
Zypern und Italien beläuft sich zusammen auf
9 074 800 000 000 Euro – in Worten: über neun Billio-
nen. Für 8 Prozent dieser Summe haften zukünftig die
Eigentümer und große Gläubiger, für bis zu 5 Prozent
der neue Bankenrettungsfonds – sogenanntes „Bail-in“ –.
Das läppische Restrisiko von 87 Prozent – gleich
7,9 Billionen Euro – trägt der Steuerzahler. Dies ist na-
türlich nur das theoretische Risiko.
Rechnen wir das Haftungsrisiko einmal anhand der
portugiesischen Großbank Banco Espirito Santo, BES,
durch, die vor kurzem mithilfe von EFSF-Mitteln indi-
rekt rekapitalisiert worden ist. Hätte das Instrument der
direkten Kapitalisierung aus dem ESM, das wir erst be-
schließen sollen, schon zur Verfügung gestanden, wären
die Gelder mit Sicherheit direkt aus dem Rettungsschirm
an die Bank geflossen. Die Rechnung ist ganz einfach:
Die Bilanzsumme der BES beträgt 80,6 Milliarden Euro.
In der ersten Haftungsrunde werden Eigentümer und pri-
vate Gläubiger mit 6,448 Milliarden Euro – gleich 8 Pro-
zent – beteiligt. Auf den 55-Milliarden-Euro-Fonds der
Banken entfallen weitere 4,03 Milliarden Euro, gleich
fünf Prozent, allerdings erst nach Auffüllung. Der Rest
der Zeche von 70,122 Milliarden Euro hängt am ESM,
an dem Deutschland mit 27 Prozent beteiligt ist. Im
schlimmsten Fall haftet also der deutsche Steuerzahler
für rund 19 Milliarden Euro einer portugiesischen Bank.
Bevor nun der Einwand kommt, die BES habe nur
4,4 Milliarden Euro an EFSF-Mitteln bekommen und
wäre mithilfe der neuen Haftungskaskade bereits in
Runde 1 abgefangen worden, entgegne ich, dass einfach
nicht mehr Geld zur Verfügung stand. Man hat den letz-
ten Rest aus dem 78 Milliarden Euro schweren Pro-
gramm, das im Herbst 2010 beschlossen worden war,
zusammengekratzt. Ich wünsche es mir nicht, aber es be-
steht zumindest die Gefahr, dass uns die „Rettung“ die-
ser Bank irgendwann einmal wieder beschäftigen wird.
Über welche Summen wir beim Thema Bankenret-
tung sprechen, habe ich nicht nur weiter oben vorgerech-
net, es gibt auch bereits Referenzfälle. So wurde für die
indirekte Rekapitalisierung spanischer Banken im
Sommer 2012 ein maximales ESM-Programmvolumen
von bis zu 100 Milliarden Euro beschlossen. Benötigt
wurden letztendlich „nur“ 41,5 Milliarden Euro. Wir se-
hen aber bereits hieran, in welchen Sphären wir uns be-
wegen. Der Bankenfonds von 55 Milliarden ist lächer-
lich klein. Außerdem soll er erst in acht Jahren gefüllt
sein. Ein Experte hat bei der öffentlichen Anhörung vor
dem Finanzausschuss gesagt: „Ich weiß gar nicht, wie
das funktionieren soll.“ Da habe ich mir gedacht: Dann
sind wir ja schon zu zweit. Das kann nicht funktionieren
und ist wahrscheinlich auch schon intern eingepreist.
Ein Banken-Bail-out soll zwar mithilfe der neuen
Bankenaufsicht verhindert werden. Aber die EZB, bei
der die Aufsicht verortet ist, ist selbst Teil des Spiels. Sie
hat haufenweise Schrottpapiere aufgekauft und plant,
dies künftig in noch größerem Maße zu tun. Wenn die
EZB eine dieser Banken abwickelt, verhagelt sie sich
ihre eigene Bilanz. Ich rechne eher damit, dass die Ban-
ken künstlich am Leben erhalten werden – entgegen al-
len Regeln des Marktes, die wir ohnehin schon lange
fahrlässig außer Kraft gesetzt haben. Im Ergebnis züch-
ten wir uns wie in Japan immer mehr Zombie-Banken
heran. Und wenn dann doch einmal eine dieser Banken
Bankrott geht, wird der betroffene Staat die Verantwor-
tung auf die EZB schieben. Die Aufsicht hat versagt,
also muss der ESM haften und nicht der Euro-Mitglied-
staat. Irgendwann platzt hier unweigerlich die Bombe.
Aus all diesen Erwägungen und noch vielen mehr
stimme ich mit Nein.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/
CSU) zu den Abstimmungen:
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/
59/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines
Rahmens für die Sanierung und Abwicklung
von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen
und zur Änderung der Richtlinie 82/891/
EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/
EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG,
2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und
2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU)
Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des
Europäischen Parlaments und des Rates
(BRRD-Umsetzungsgesetz)
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai
2014 über die Übertragung von Beiträgen
auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und
über die gemeinsame Nutzung dieser Bei-
träge
(Tagesordnungspunkt 5 a)
Im Rahmen des Gesetzes zu einer einheitlichen euro-
päischen Regelung zur Sanierung und Abwicklung von
Kreditinstituten im Krisenfall – sogenanntes BRRD-
Umsetzungsgesetz – wird auch die Einführung einer eu-
ropäischen Bankenabgabe beschlossen, die zum Aufbau
des Bankenabwicklungsfonds dient. Viele der jetzt be-
schlossenen Regelungen sind zu begrüßen, so zum Bei-
spiel die Einführung der Haftungskaskade mit Gläubi-
gerbeteiligung und der Ansatz einer risikoabhängigen
Ausgestaltung der Bankenabgabe für kleinere Banken.
Deswegen stimme ich dem Gesetzentwurf zu.
Zu kritisieren ist jedoch, dass die Abgabe in Deutsch-
land, anders als in anderen europäischen Ländern, nicht
5932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
von der Steuer absetzbar ist. Dies stellt einen erhebli-
chen Wettbewerbsnachteil und letztendlich eine Schwä-
chung für die deutschen Banken dar, die sich auf dem
internationalen Finanzmarkt behaupten müssen. Diese
Benachteiligung kann nicht im Interesse der deutschen
Kunden und Steuerzahler sein. Eine einheitliche europäi-
sche Regelung ist unbedingt notwendig.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus
Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur
Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des
Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozial-
gerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a)
Mit dem Gesetz werden die Leistungen für Asylsu-
chende rechtssicher festgesetzt und endlich das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 2012 eins zu eins
umgesetzt. Zudem werden Kindern, Jugendlichen und
jungen Erwachsenen, die Leistungen nach dem AsylbLG
beziehen, zukünftig ab Beginn ihres Aufenthalts Bil-
dungs- und Teilhabeleistungen gewährt, wodurch die
Möglichkeiten zur sozialen Integration verbessert wer-
den.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen und Krisen,
die weltweit zu der größten Zahl an Flüchtlingen seit
dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, begrüßen wir die
weiteren anstehenden Reformen. Das Gesetz ist ein ers-
ter Schritt hin zu einer umfassenden Reform des
AsylbLG, die die Länder und Kommunen entlastet und
die Situation der Flüchtlinge verbessert. In den kommen-
den Monaten werden wir die weiteren Gesetzesvorhaben
in dem Bereich nutzen, um diese Ziele zu erreichen.
Insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung
sind Veränderungen geboten. Der heute beschlossene
Nothelferanspruch ist ein erster wichtiger Schritt, um die
medizinische Versorgung von Asylbewerberinnen und
Asylbewerbern zu verbessern. Es wird damit eine medi-
zinische Versorgung von Leistungsberechtigten in Eilfäl-
len gewährleistet und die Erstattung der Behandlungs-
kosten geregelt.
Die Expertenanhörung am 3. November hat deutlich
gemacht, dass die derzeitige Praxis der Gesundheitsver-
sorgung darüber hinaus verbessert werden sollte. Die zu-
meist angewandte Praxis der Gewährung von Kranken-
scheinen nach vorherigem Antrag ist umständlich und
bürokratisch. Die Modelle aus Bremen und Hamburg
sind positive Beispiele, wie es besser gehen kann.
Mit dem Gesetz nehmen wir Gruppen mit bestimmten
Aufenthaltstiteln aus dem Asylbewerberleistungsgesetz
heraus. Die Kommunen und Länder werden entlastet –
um 43 Millionen Euro jährlich ab 2016, 2015 schon um
31 Millionen Euro. Die Zusicherung der Bundes-
regierung im Rahmen ihrer Protokollerklärung im Bun-
desrat vom 19. September, die Kommunen und Länder
noch mehr zu entlasten, muss in den nächsten Monaten
mit Leben gefüllt werden.
Eine komplette Abschaffung des AsylbLG, wie mit
den Anträgen der Grünen und Linken gefordert, lehnen
wir jedoch ab. Das AsylbLG soll eine sozialrechtliche
Grundversorgung während eines vorübergehenden Zeit-
raums sicherstellen. Das gilt insbesondere für Asylbe-
werberinnen und Asylbewerber, bis das Asylverfahren
abgeschlossen ist, sowie für Geduldete, deren Aufenthalt
der gesetzlichen Konzeption nach als provisorisch erach-
tet wird. Diesem Grundgedanken wird die Anknüpfung
der Bezugsdauer von Leistungen an die Dauer des Auf-
enthalts in Deutschland sowie die Reduzierung des ma-
ximalen Leistungsbezugs von 48 auf 15 Monate gerecht.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinui-
tät der Beitragssätze in der gesetzlichen Renten-
versicherung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tages-
ordnungspunkt 15)
Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben uns
als Koalition vorgenommen, die Rentenleistungen für
die Menschen in unserem Land zu verbessern und das
Rentensystem gerechter zu gestalten. Dafür haben wir
das Rentenpaket geschnürt. Darin enthalten waren:
Erstens: eine bessere Absicherung für Erwerbsgemin-
derte.
Zweitens: eine Anhebung des Rehabudgets, angepasst
an die demografische Entwicklung.
Drittens: eine bessere Anerkennung der Leistung der-
jenigen, die durch ihre sehr lange Beitragszeit einen gro-
ßen Anteil an der guten Situation der Rentenversiche-
rung haben – deshalb die sogenannte abschlagsfreie
Rente mit 63.
Viertens haben wir mit dem Paket eine Gerechtig-
keitslücke bei der Anrechnung der Kindererziehungszei-
ten geschlossen. Die Leistung der Menschen, meist Müt-
ter, die die Grundlage für das Funktionieren der
umlagefinanzierten Rente und deren gute finanzielle Si-
tuation gelegt haben, wird nun besser anerkannt. Und
das hilft gerade diesen Menschen. Sie hatten besonders
oft unterbrochene Erwerbsbiografien oder Teilzeitstel-
len, die nicht zu einer auskömmlichen Rente führen. Die
Leistungsverbesserung greift hier also an der richtigen
Stelle.
Ich habe Ihnen die Punkte nur noch einmal genannt,
um darzustellen, wie wir die Rentenversicherung noch
gerechter gemacht haben. Unser Versprechen aus dem
Koalitionsvertrag haben wir also eingelöst. Eine zentrale
Aufgabe bleibt aber, neben der Gerechtigkeit auch für
die Stabilität der Rentenversicherung zu sorgen. Um
diese Stabilität auf Jahre hinaus zu verbessern, haben wir
im Frühjahr die eigentlich anstehende Senkung des Ren-
tenbeitrags ausgesetzt – ausnahmsweise! Denn eine Aus-
setzung der Rentenbeitragsanpassung sollte immer eine
Ausnahme bleiben. Das Gesetz regelt das ja eigentlich,
wie Sie im Antrag schön beschreiben. Und das hat einen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5933
(A) (C)
(D)(B)
Sinn: Denn die Füllung der Rentenkasse ist kein Zweck
an sich. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen ein,
damit die heutigen Rentner und Rentnerinnen Leistun-
gen erhalten. Das ist der Kern des Umlageverfahrens un-
seres Rentensystems. Wenn absehbar ist, dass sie zu viel
einzahlen, ist eine Senkung deshalb nur logisch und rich-
tig.
Unter der schwarz-gelben Koalition begann der Bei-
tragssatz 2011 zu sinken. Ein Prozent hat er seitdem
schon gutgemacht. Wir wollen auch weiterhin die Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber in diesem Land entlasten,
wenn es die finanzielle Situation zulässt. Wie es momen-
tan ausschaut, trifft genau das zu. Die finanzielle Situa-
tion der Rentenversicherung hat sich augenscheinlich
besser entwickelt als vor einem Jahr angenommen. Das
sollte uns alle in diesem Haus freuen. Daran hat natür-
lich die Politik der unionsgeführten Bundesregierungen
der vergangenen Jahre einen großen Anteil. Arbeits-
marktpolitisch und wirtschaftlich wurden die richtigen
Weichen gestellt.
Aber den größten Anteil an dieser Erfolgsgeschichte
haben eben die Beschäftigten und die Arbeitgeber selbst,
die, die die Beiträge gezahlt haben und zahlen. Wenn
ihre Löhne und der Arbeitsmarkt insgesamt sich so gut
entwickeln, besteht einfach nicht mehr die Notwendig-
keit, eine Anpassung nach unten zu verhindern. Im Ge-
genteil: Durch eine Entlastung der Arbeitgeber können
diese mehr investieren. Gerade in Zeiten, in denen die
Konjunkturprognosen nicht nur nach oben schießen, ist
das wichtig.
Nach dem momentanen Stand der Dinge wird sich der
Rentenbeitrag aber auch noch in den kommenden Jahren
stabil niedrig halten lassen. Wir müssen derzeit also
nicht um die Stabilität der Rentenversicherung fürchten.
Wir dürfen uns vielmehr für die Leistungsträger unserer
Gesellschaft freuen, wenn es zu einer Senkung des Ren-
tenbeitrags kommt. Und natürlich für die Leistungsemp-
fänger, die nun mehr von ihrer Rente haben.
Warum sollten wir nun also ein System, das seit Jahr-
zehnten ordentlich läuft, das schon viele Widrigkeiten
überstanden hat, so massiv verändern, wir Sie es vor-
schlagen? Wir passen die Rentenbeiträge so an, wie es
im System verankert ist. Wir entlasten Arbeitgeber und
Arbeitnehmer, wenn es möglich und verantwortbar ist –
für die älteren ebenso wie für die jüngeren Generationen.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Jahr
2014 ist für die Deutsche Rentenversicherung, für die
Rentnerinnen und Rentner und für die Beitragszahle-
rinnen und -zahler ein Sensationsjahr. Die Rentenver-
sicherung steht so gut da wie kaum zuvor: Mit über
33,5 Milliarden Euro oder 1,82 Monatsausgaben ist die
Nachhaltigkeitsrücklage erneut auf einem Höchststand.
Mit dem Rentenpaket haben wir die Leistungen für
die derzeitigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rent-
ner erheblich verbessert. Ab dem 1. Juli 2014 profitieren
rund 9,5 Millionen Frauen und Männern, die vor 1992
ihre Kinder bekommen haben, von der Erhöhung der Er-
ziehungsjahre bei der Rente. Erwerbsgeminderte erhal-
ten durch die Verlängerung der Zurechnungszeiten ab
1. Juli 2014 ein durchschnittliches Plus von rund
45 Euro brutto im Monat bzw. mit Abschlägen von bis
zu 10,8 Prozent rund 40 Euro brutto; das sind etwa
500 Euro pro Jahr. Die Aufstockung des Rehabudgets
kommt denjenigen zugute, die Rehamaßnahmen in An-
spruch nehmen müssen. Und mit der Rente mit 63 Jah-
ren können diejenigen, die besonders langjährig versi-
chert sind, die teilweise schon mit 15 oder 16 Jahren
angefangen haben zu arbeiten, eine Rente ohne Ab-
schläge erhalten.
Das Rentenpaket gibt also vor allem denjenigen Men-
schen etwas zurück, die für unsere Gesellschaft und für
die Stabilität unserer Sozialversicherungen besonders
viel geleistet haben. Die langjährig geschafft haben, die
Kinder erzogen haben und mit ihren Beiträgen die Allge-
meinheit gestützt haben.
Warum also sollten wir nun nicht auch die aktuellen
Möglichkeiten ausschöpfen, damit auch die Beitragszah-
lerinnen und Beitragszahler von den positiven Entwick-
lungen in der Rentenversicherung profitieren? Denn sie
sind es, die für die gute wirtschaftliche Lage in Deutsch-
land verantwortlich sind und hart gearbeitet haben.
Der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung
richtet sich nach einem gesetzlich festgelegten Mecha-
nismus. Jährlich wird der Beitrag zur gesetzlichen Ren-
tenversicherung anhand der Einkommensentwicklung
der Vorjahre neu berechnet und unter Berücksichtigung
der Einnahmen und vorhandenen Reserven angepasst.
Gemäß § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zur gesetzli-
chen Rentenversicherung dann zu verändern, wenn die
Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage ansonsten zum
Jahresende entweder die untere Grenze von 0,2 Monats-
ausgaben unterschreiten oder die obere Grenze von
1,5 Monatsausgaben überschreiten. Hintergrund dieser
Regelung ist es, unterjährige Einnahme- und Ausgaben-
schwankungen auszugleichen.
Bei den Beratungen zum Rentenpaket sind wir davon
ausgegangen, dass die zusätzlichen Ausgaben zu stem-
men sind bei einem für die kommenden Jahre stabilen
Beitragssatz von 18,9 Prozent. Doch die Entwicklung
der Rentenfinanzen ist trotz der Mehrausgaben positiver
verlaufen, als es alle Experten vorausgesagt haben. Mit
der aktuellen Schätzung zur Finanzlage der Rentenversi-
cherung einschließlich der aktuellen Steuerschätzung ist
es trotz der Ausgaben für das Rentenpaket möglich, den
Rentenbeitrag ab dem Jahr 2015 um 0,2 Prozentpunkte
herabzusetzen. Dies ist nicht zuletzt eine außerordentli-
che Leistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszah-
ler.
Gleichzeitig kann dieser verminderte Beitragssatz
von 18,7 Prozent voraussichtlich auch in den nächsten
vier Jahren so bestehen bleiben. Damit ist über mehrere
Jahre eine Entlastung der Beitragszahler garantiert, und
die Arbeitgeber verfügen über langfristige Planungssi-
cherheit.
Deshalb wird – nach geltendem Recht – zum 1. Ja-
nuar 2015 der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversiche-
5934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
rung infolge der gesetzlichen Vorgaben um 0,2 Prozent-
punkte von 18,9 auf 18,7 Prozent gesenkt werden.
Auch angesichts der Gefahren eines schwächeren
Wirtschaftswachstums ist die Senkung des Rentenversi-
cherungsbeitrags das richtige Signal. So können durch
die Einsparungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei
der Rente nachhaltig wirkende Impulse für eine wirt-
schaftliche Belebung ausgehen.
Und was viele vergessen: Eine Beitragssenkung hat
stets auch positive Auswirkungen für die Rentnerinnen
und Rentner. Denn nach der gesetzlichen Rentenformel
führt eine Beitragssenkung im darauffolgenden Jahr zu
einer stärkeren Anhebung der Rentenzahlungen.
Wir schaffen mit dem abgesenkten Rentenversiche-
rungsbeitrag eine Win-win-Situation für alle: die Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahler, die Unternehmen
und für die Rentnerinnen und Rentner selbst.
Michael Gerdes (SPD): Der bisherige Debattenver-
lauf hat gezeigt, dass man sehr unterschiedlich mit der
erwarteten Senkung des Rentenbeitrags umgehen kann.
Die Reaktionen reichen von völliger Zustimmung bis hin
zur klaren Ablehnung der Senkung. Zunächst einmal
muss man ganz neutral sagen: Mit der Beitragssenkung
folgen wir der gesetzlichen Logik.
Ich selbst tendiere zu einer Meinung, die zwischen
den genannten Extremen liegt: Einerseits begrüße ich
das Signal, das von der Absenkung ausgeht. Wir entlas-
ten nämlich die Beitragszahler und würdigen damit die
wirtschaftliche Leistung der Beschäftigen und Unterneh-
men in Deutschland. Und – auch das gehört zur Rech-
nung dazu – mit der Absenkung des Beitrags in 2015
fällt die Rentenanpassung im Sommer 2015 höher aus.
Arbeitnehmer und Rentner werden beide etwas mehr
Geld in der Tasche haben.
Andererseits habe ich Verständnis für diejenigen, die
die Rücklagen der Rentenversicherung erhalten wollen.
Schließlich müssen wir uns auf die demografische Ent-
wicklung vorbereiten.
Ich hoffe, dass sich die angedachte Absenkung als
moderat erweist und wir am Ende nicht durch deutliche
Beitragsanstiege bestraft werden. Die Absenkung um
0,2 Prozentpunkte scheint mir kein radikaler Schritt zu
sein.
Grundsätzlich freue ich mich über die Tatsache, dass
wir überhaupt eine Absenkung des Beitrags vornehmen
können. Das heißt nämlich im Umkehrschluss: Die Lage
der Rentenkasse ist momentan komfortabel. Sie ist bes-
ser als erwartet. Das ist eine gute Nachricht, besonders
vor dem Hintergrund der zuletzt beschlossenen Leis-
tungsverbesserungen. Im Klartext: Wir können uns das
Rentenpaket tatsächlich leisten. Abschlagsfreie Rente ab
63 für langjährig Beschäftigte, mehr Mütterrente, höhere
Renten für Erwerbsgeminderte, mehr Geld für Reha-
maßnahmen – das sind sinnvolle und überzeugende Ver-
besserungen, für die unsere Ministerin Andrea Nahles
mit Hochdruck gearbeitet hat.
Ich wiederhole es an dieser Stelle gerne: Das Renten-
paket schafft mehr Gerechtigkeit bei der Anerkennung
von Lebensleistungen. Und noch besser: Es ist offen-
sichtlich bezahlbar.
Selbstverständlich ist die Rentenpolitik damit nicht
abgeschlossen. Wir müssen weiter an den Herausforde-
rungen der Zukunft arbeiten. Wir wollen, dass die ge-
setzliche Rentenversicherung die tragende Säule einer
armutsfesten Alterssicherung bleibt. Sie muss allerdings
durch Betriebsrenten oder öffentlich geförderte private
Vorsorge ergänzt werden, damit die Menschen im Alter
ihren Lebensstandard halten können.
Wir wollen ein Rentensystem, das weiterhin tragfähig
ist. Deshalb denken wir zum Beispiel über individuelle
Renteneintritte nach. Wer länger arbeiten will und kann,
soll die Möglichkeit dazu haben. Es gilt: Wer nach Errei-
chen der Regelaltersgrenze noch keine Rente bezieht
und weiter arbeitet, erhöht den zukünftigen Rentenan-
spruch.
Gerade weil wir die Leistungsfähigkeit der Rente
erhalten wollen, haben wir auch den gesetzlichen
Mindestlohn eingeführt. Deshalb kämpfen wir für gute,
existenzsichernde Arbeit. Denn wir wissen: Eine aus-
kömmliche Rente beginnt im Erwerbsleben. Die Renten-
versicherung kann nur dann funktionieren, wenn der
Arbeitsmarkt stabil ist und die Löhne der Menschen
angemessen sind. Aktuell lassen sich die Arbeitsmarkt-
zahlen als solide bezeichnen. Lassen Sie uns gemeinsam
darauf hinwirken, dass die Beschäftigung noch besser
wird und hoch bleibt.
Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Mit ihrem Ge-
setzentwurf fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linkspartei, uns auf, wie für dieses auch für das
nächste Jahr die Beitragssenkung auszusetzen?
Auch wenn ich selber Sympathien für eine Versteti-
gung des Beitragssatzes habe: Wir haben uns in unserem
Koalitionsvertrag nicht vorgenommen, die Deckelung
der Nachhaltigkeitsrücklage aufzuheben. Wir hatten uns
aber sehr wohl anderes im Koalitionsvertrag vorgenom-
men, nämlich ein ambitioniertes Rentenpaket, das wir im
ersten Halbjahr dieses Jahres umgesetzt haben.
Das ist auch die Logik, der die Koalition gefolgt ist:
Wir haben gerechte Leistungen definiert, die wir finan-
zieren wollen, und haben daher die zu erwartenden Aus-
gaben berücksichtigt und den Beitragssatz trotz gefüllter
Kassen nicht gesenkt. Und das war es wert.
Wir haben in diesem Jahr etwa eine Milliarde Euro
für die Rente mit 63 eingesetzt, um langjährige Beitrags-
zahlung zu honorieren – wer 45 Jahre gearbeitet hat,
kann seit diesem Jahr abschlagsfrei mit 63 in Rente ge-
hen. Das betrifft circa 240 000 Menschen in 2014, und
das haben sie sich verdient!
Wir setzen 3,3 Milliarden Euro für die sogenannte
Mütterrente ein und sorgen so für eine bessere Anerken-
nung von Kindererziehung in der Rentenversicherung.
Auch wenn wir – das ist kein Geheimnis – eine Steuerfi-
nanzierung noch gerechter gefunden hätten, so ist die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5935
(A) (C)
(D)(B)
Anerkennung der Erziehungsleistung grundsätzlich rich-
tig. Denn auch das haben sich in diesem Fall vor allem
die Mütter verdient.
Und auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminde-
rungsrente und die Anhebung des Rehadeckels führen zu
einer besseren sozialen Absicherung: Wenn jemand bei-
spielsweise mit 50 in die Erwerbsminderungsrente gehen
muss, werden ihm zwölf Jahre anstatt wie bisher zehn
Jahre hinzugerechnet. Im Durchschnitt sind das dann
41 Euro mehr im Monat – das mag manchen sehr wenig
erscheinen, für die Betroffenen ist dies aber viel Geld.
Seit langer Zeit, nämlich seit 2002, sind das die ersten
Verbesserungen im Leistungsrecht der Rentenversiche-
rung, und darauf sind wir stolz.
Dann ist dieses Jahr noch etwas passiert, worüber wir
uns, glaube ich, alle in diesem Haus sehr freuen. Die po-
sitive Arbeitsmarktentwicklung hat zu noch höheren
Rentenversicherungseinnahmen geführt. Und wir erwar-
ten das auch für das nächste Jahr. Die Steuerschätzung
von heute stützt die Annahme einer Absenkung um
0,2 Prozentpunkte.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzli-
ches über Beitragssenkung und Beitragserhöhungen sa-
gen:
Sie sind weder an und für sich gut und richtig noch an
und für sich schlecht und falsch: Beitragssenkungen ent-
lasten vor allem geringe Einkommen stärker als zum
Beispiel Steuersenkungen. Sie senken die Lohnkosten
oder eröffnen Verteilungsspielräume der Gewerkschaf-
ten zugunsten der Nettoeinkommen der Arbeitsneh-
merinnen und Arbeitnehmer – je nach Kräfteverhältnis
der Tarifparteien. Und Sie entlasten die Kommunen und
alle öffentlichen Haushalte.
Dagegen können auch Sie erst mal nichts haben. Und
dass wir die Beiträge letztes Jahr nicht gesenkt haben,
hat deswegen so eine große und breite Akzeptanz ge-
habt, weil den Beiträgen Leistungen gegenüberstanden,
die die Menschen als richtig und gerecht empfunden ha-
ben.
Ich möchte an dieser Stelle die Umfragewerte in Erin-
nerung rufen. Rente mit 63: Nach einer Umfrage von
TNS Infratest liegt die Zustimmung bei den 18- bis
34-Jährigen bei 89 Prozent und damit sogar über dem
Durchschnitt aller Befragten von 87 Prozent. Für die so-
genannte Mütterrente sprechen sich nach einer Umfrage
von INFO GmbH 78 Prozent aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei,
nicht nur Sie, sondern auch wir haben rentenpolitisch
noch etwas auf unserer Agenda. Aber nicht nächstes
Jahr. Wir haben uns noch große Ziele gesetzt – teilweise
in dieser Legislatur, teilweise darüber hinaus. Manches
wird auch ohne große Kosten trotzdem große Verbesse-
rungen bringen und sogar perspektivisch Geld sparen.
Das könnten – ohne vorgreifen zu wollen – Ergebnisse
der AG „Flexible Übergänge" sein.
Für anderes werden wir Geld in die Hand nehmen
müssen: Dazu gehören die Angleichung des aktuellen
Rentenwerts Ost auf das westdeutsche Niveau, die Be-
kämpfung der Altersarmut, die Stabilisierung des Siche-
rungsniveaus oder auch eine noch bessere Absicherung
der Erwerbsminderung. Wenn wir diese Ziele angehen,
bin ich mir sicher, dass wir auch die Akzeptanz für ange-
messene Beiträge erhalten werden.
„Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusa-
gen, sondern auf sie gut vorbereitet zu sein“, wussten
auch schon der alte Grieche Perikles. Das gilt insbeson-
dere für die soziale Sicherheit im Alter.
Wir wollen ein solidarisches Rentensystem, das hohe
Akzeptanz und Vertrauen genießt. Dazu haben wir die-
ses Jahr einen großen Beitrag geleistet. Und daran wer-
den wir weiter mit aller Kraft arbeiten.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Schlag-
zeilen in dieser Woche lauten: Die Zahl der auf Grund-
sicherung im Alter Angewiesenen stieg innerhalb nur ei-
nes Jahres um sage und schreibe 7,4 Prozent auf
499 000. – Die Rentenerhöhung fällt im nächsten Jahr
niedriger aus. – Und drittens wurde gerade heute Nach-
mittag bekannt gegeben: Bundesarbeitsministerin
Nahles hält an der Senkung des Rentenbeitrages um
0,2 Prozentpunkte für 2015 fest.
Frau Staatssekretärin, ich sage es Ihnen deutlich:
Wenn Sie den Beitragssatz jetzt senken, handeln Sie
grob fahrlässig und ignorieren die Jahr für Jahr größer
werdende Welle der Altersarmut. Sie gießen gerade Öl
ins Feuer!
Auf dem Arbeitgebertag frohlockte vorgestern die
Kanzlerin: Die Rentenkasse ist gut gefüllt, also erlassen
wir euch, liebe Unternehmer, einmal ein paar Sozial-
beiträge.
Das ist falsch: Die Rentenkasse leert sich gerade, und
zwar sehr fix. Seit der Verabschiedung des Rentenpakets
im Juli ist die Nachhaltigkeitsrücklage von 34,3 Milliar-
den auf 32,4 Milliarden Euro im September gesunken –
in zwei Monaten knapp 2 Milliarden Euro weniger in der
Rentenkasse. 2 Milliarden! In zwei Monaten!
Woran liegt das? Es liegt an der Rentenanpassung
vom 1. Juli. Aber vor allem liegt es daran, dass Sie,
meine Damen und Herren von Union und SPD, die Müt-
terrente aus Rentenbeiträgen der Versicherten bezahlen
und nicht aus Steuergeldern. Das ist systemwidrig, grob
fahrlässig, sozial ungerecht und alles andere als nachhal-
tig.
Dr. Axel Reimann, der Präsident der Deutschen Ren-
tenversicherung, warnt: Wenn wir so weitermachen, ist
die Nachhaltigkeitsrücklage spätestens 2019 wieder leer,
also auf null.
Die Nachhaltigkeitsrücklage ist weder nachhaltig
noch eine Rücklage, wenn sie ohne jeden Grund für die
Mütterrente verballert wird. Sie müssten Steuergelder
dafür verwenden. Und warum haben Sie die nicht? Weil
Sie unter anderem lieber 3,5 Milliarden Euro für die
staatliche Riester-Förderung verpulvern.
Nachhaltig heißt doch langfristig denken, oder? Wa-
rum heißt die Nachhaltigkeitsrücklage dann so, wenn
5936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
wir ständig am Beitragssatz herumschrauben? Nachhal-
tig ist das nicht. Rücklage? Auch zurückgelegt wird da
gar nix, wenn Sie die Nachhaltigkeitsrücklage bis 2019
wieder auf null fahren. Das ist schlecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie wollen die Versicherten kurzfristig um 0,1 Prozent-
punkte entlasten. Na bravo; das sind bei durchschnittlich
Verdienenden gerade einmal 2,90 Euro. Ein Cappuccino!
Schön! Aber Sie denken dabei nicht an die Zukunft der
Versicherten. Eine sichere Rente wollen sich die Men-
schen erarbeiten und nicht 3 Euro weniger in diesem
Jahr und 5 Euro mehr in fünf Jahren bezahlen.
Genau deshalb fordert die Linke: erstens, den unsinni-
gen Mechanismus zu streichen, der die Bundesregierung
dazu zwingt, ab einer Rücklage in Höhe von 1,5 Monats-
ausgaben den Beitragssatz zu senken.
Zweitens fordern wir, die Mindestreserve auf eine
halbe Monatsausgabe anzuheben. Die Deutsche Renten-
versicherung hatte sich in der Ausschussanhörung im
Februar genau für eine solche Mindestreserve von einer
halben Monatsausgabe ausgesprochen.
Wir müssen den Deckel oben lüften und den Boden
unten anheben. Das wäre nachhaltig. Beides würde Ver-
sicherten und Arbeitgebern stabile Beiträge garantieren
und wilde Sprünge des Beitragssatzes vermeiden. Die
Versicherten könnten planen, und wir könnten uns lang-
fristig daranmachen, die Zukunftsprobleme der Rente
anzupacken.
Zuallererst müssen wir das Problem zu niedriger Ren-
ten und das Problem der Altersarmut angehen. Dafür
brauchen wir jeden Cent in der Rentenkasse. Angesichts
der Herausforderungen müssen wir den Beitragssatz sta-
bilisieren und moderat anheben. Das wäre nachhaltig.
Das wäre vorausschauend. Und das wäre zukunftssicher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie wollen stattdessen Versicherte in die Riester-Rente
schieben oder dazu zwingen, auf Lohn zu verzichten und
den in die Betriebsrenten zu stecken. Ich sage Ihnen:
Wer sich das leisten kann, okay, aber auf den Arm neh-
men lassen sich die Menschen nicht so leicht. Die Zinsen
der Riester-Verträge sind im Keller:
Christoph Rybarczyk vom Hamburger Abendblatt
schrieb am Dienstag: „Gleichzeitig bleibt die gesetzliche
Rente bei einer Rendite von 3,2 bis 3,8 Prozent. Das
wirft ein neu abgeschlossener Riester-Vertrag nur ab,
wenn man 100 Jahre alt wird.“ Kluger Mann!
Deshalb: Wenn Sie aus der Finanzkrise lernen wollen,
dann vergessen Sie Riester, und kümmern Sie sich um
die gesetzliche Rentenversicherung. Streichen Sie end-
lich die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsfor-
mel, und kehren Sie wieder zu einem Rentenniveau vor
Steuern von 53 Prozent zurück. Das würde in den kom-
menden Jahren die Renten der Älteren stabilisieren und
die Jüngeren wieder davon überzeugen, dass die gesetz-
liche Rente sicher ist. Dafür brauchen wir die Rentenbei-
träge, und deshalb darf der Beitragssatz nicht gesenkt
werden.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
erfreulich, wenn sich die Finanzsituation der Rentenver-
sicherung besser als erwartet entwickelt. Die gute Kon-
junktur, ein hoher Beschäftigungsstand und das Ab-
sinken des Rentenniveaus führten in der jüngeren
Vergangenheit sowohl zu niedrigeren Beitragssätzen als
auch zu einer Rekordrücklage der Rentenversicherung.
Eine Beitragssatzsenkung zum jetzigen Zeitpunkt,
wie von der Großen Koalition geplant, wäre trotzdem
falsch. Sie mindert die Einnahmen und erhöht die Aus-
gaben der Rentenkasse. Genau das können wir uns vor
dem Hintergrund gewaltiger Aufgaben nicht leisten. Al-
lein in dieser Wahlperiode wird das Rentenpaket rund
32 Milliarden Euro verschlingen. Der demografische
Wandel und nicht zuletzt die konjunkturelle Unsicher-
heit kommen hinzu.
So gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinsti-
tute für 2014 nur noch von einem Wirtschaftswachstum
von 1,2 Prozent anstatt von 1,8 Prozent aus. Auch 2015
fällt die Wachstumsprognose von 2,0 auf 1,3 Prozent.
Der Internationale Währungsfonds, IWF, warnt in sei-
nem Weltwirtschaftsausblick vor den Abwärtsrisiken.
Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Oktober zum sechs-
ten Mal in Folge gefallen. Und das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung spricht von einem merklichen
Stottern des Konjunkturmotors mit einem Nullwachstum
im Schlussquartal.
Dies alles ist zwar noch kein Anlass zur Panik. Anlass
für Vorsicht sollte es aber schon sein. Denn eine Sen-
kung des Beitragssatzes im kommenden Jahr wird zu
noch kräftigeren Beitragssatzerhöhungen in den Folge-
jahren führen.
Hinzu kommt, dass die voraussichtliche Beitragssatz-
senkung nur mithilfe eines statistischen Tricks ermöglicht
wird. Weil die Bundesagentur für Arbeit die Beschäftig-
tenstatistik verändert hat, fallen die Rentenerhöhung und
somit die Ausgaben der Rentenversicherung im kom-
menden Jahr geringer aus. Ohne diesen Effekt, der dann
im Jahr 2016 wie ein Bumerang auf die Ausgabenseite
der Rentenkasse zurückkommt, wäre eine Senkung der
Beiträge heute nicht in der Diskussion.
Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Absenkung des
Rentenbeitragssatzes. Zum einen ist auch langfristig mit
weiter steigenden Beiträgen zu rechnen. Für diesen ab-
sehbaren Beitragsanstieg sollte schon heute Vorsorge ge-
troffen werden, um die Auswirkungen für die Wirtschaft
und auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
abzufedern. Im Sinne der Planungssicherheit der Unter-
nehmen und Betriebe darf es kein „Beitrags-Jojo“ geben.
Deswegen sollte eine höhere Nachhaltigkeitsrück-
lage gebildet werden. So offenbarte eine öffentliche An-
hörung zum Beitragssatzgesetz 2014 am 17. Februar
2014 im Arbeits- und Sozialausschuss, dass zehn von
zwölf Sachverständigen die Obergrenze der Nachhaltig-
keitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben als zu niedrig
einschätzen. Für eine gänzliche Abschaffung der Ober-
grenze – wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf fordert –
gab es indes keine Mehrheit.
http://www.abendblatt.de/meinung/article133963307/Das-Dilemma-mit-der-Rente.html
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5937
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Wir lehnen den Gesetzentwurf der Linken ab, da wir
– ähnlich wie die meisten Sachverständigen – eine gänz-
liche Abschaffung der Obergrenze der Nachhaltigkeits-
rücklage für nicht sinnvoll erachten. Eine Obergrenze
gibt Orientierung und schafft eine Systematik für die
Beitragssatzfestsetzung. Vollkommen richtig ist es indes,
die Mindestrücklage von 0,2 auf 0,5 Monatsausgaben zu
erhöhen. Hiervon ist im Übrigen auch die Deutsche Ren-
tenversicherung überzeugt.
Zugleich steht die Rente auch auf der Leistungsseite
vor großen Herausforderungen. Bei den beitragsfinan-
zierten Leistungen sind vor allem Verbesserungen bei
Erwerbsminderung und Rehabilitation notwendig. Die
von Schwarz-Rot verabschiedeten Maßnahmen zur Ver-
besserung der Erwerbsminderungsrente gehen in die
richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Die Abschläge
auf Erwerbsminderungsrenten sollten abgeschafft wer-
den, wenn der Zugang allein aufgrund medizinischer
Diagnose und Prüfung erfolgt. An den Abschlägen auf
Erwerbsminderungsrenten hält die Bundesregierung
aber ausdrücklich fest. Aktuell stehen zudem nicht aus-
reichend Mittel zur Rehabilitation zur Verfügung. Wird
das Rehabudget nicht umgehend bedarfsgerecht ausge-
staltet, wird die Zahl der Erwerbsminderungsrentnerin-
nen und -rentner absehbar steigen.
Eine Bundesregierung, die gestern das Rentenpaket
verabschiedet hat, heute die Beitragssätze senken will
und morgen kräftigste Beitragssatzsteigerungen in Kauf
nehmen wird, handelt kurzsichtig. Gerade in der Alters-
versorgung aber lohnt es sich, für nachhaltige und stabile
Rentenfinanzen zu sorgen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug
bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17)
Fritz Güntzler (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag
verfolgt das richtige Ziel, Umsatzsteuerbetrug in Deutsch-
land zu bekämpfen. Er unterstellt aber, hier sei bisher so
gut wie nichts geschehen. Das ist aber falsch.
Das Umsatzsteueraufkommen betrug im Jahr 2013
knapp 200 Milliarden Euro. Die Umsatzsteuer ist damit
eine der wichtigsten Finanzierungsquellen des Staates.
Sie ist mit einem Anteil von rund 32 Prozent an den ge-
samten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kom-
munen die mit Abstand bedeutendste Steuer.
Die Sicherung des Umsatzsteueraufkommens ist also
von großer Bedeutung. Die Koalitionsfraktionen und die
Bundesregierung sind sich dessen bewusst. Wir arbeiten
fortlaufend daran, Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen
und aufkommende Probleme zu beseitigen. Denn eines
ist klar: Steuerhinterziehung schadet der Allgemeinheit,
muss verfolgt und entsprechend geahndet werden, am
besten aber unmöglich gemacht werden. Das tun wir
nicht nur, um das Steueraufkommen zu gewährleisten,
sondern auch, um die vielen steuerehrlichen Unterneh-
mer nicht zu benachteiligen.
Der Antrag der Grünen liest sich aber so, als hätten
wir es in Deutschland mit unzähligen (Umsatz-)Steuer-
betrügern zu tun, für deren Bekämpfung der Steuerver-
waltung keine wirksamen Instrumente zur Verfügung
stehen.
Das Gegenteil ist der Fall. Beim Umsatzsteuerbetrug
geht es um Einzelfälle, die zugegeben oft hohe Summen
betreffen. Aber nicht jeder Unternehmer verkürzt seine
Umsatzsteuerschuld. Ein Generalverdacht ist gefährlich
und wird schnell peinlich, wenn der Beweis nicht ge-
führt werden kann.
Das musste auch der NRW-Finanzminister erleben. Er
hat erst vor kurzem medienwirksam dem angeblich mas-
senhaft stattfindenden Umsatzsteuerbetrug mit Regis-
trierkassen den Kampf angesagt. Nach Rücksprache mit
seinem Ministerium musste er feststellen, dass dazu
keine Zahlen vorliegen, die diesen Verdacht erhärtet hät-
ten. Seither habe ich von der Initiative nie wieder etwas
gehört. Zuvor hatte er aber einen ganzen Berufsstand
pauschal verurteilt.
2012 gab es laut der offiziellen Umsatzsteuerstatistik
knapp 370 000 Einzelhandelsbetriebe – ohne Kfz-Han-
del und Tankstellen – sowie rund 225 000 Betriebe des
Gastgewerbes. Selbst wenn es also bundesweit jeweils
10 000 Betriebe in beiden Wirtschaftszweigen gäbe, die
sich illegal verhielten, wären dies gerade einmal
2,7 bzw. 4,4 Prozent aller Betriebe. Sollten aber tatsäch-
lich 20 000 Betriebe systematisch Umsatzsteuer hinter-
ziehen, würde es doch wohl gerichtsfeste Zahlen darüber
geben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Jeder
Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden, aber wir
sollten das Problem nicht größer reden, als es tatsächlich
ist.
Wir müssen das Umsatzsteuerrecht ständig weiterent-
wickeln. Das ist ein laufender Prozess, der auch die
Steuerverwaltung bei der Ahndung von Steuerhinterzie-
hungen unterstützt.
Der vorliegende Grünen-Antrag ist dagegen ein
Schrotschuss, bei dem sie mit vielen Forderungen alles
irgendwie ein wenig ansprechen: alles wenig konzeptio-
nell.
Sie wissen, dass unser Mehrwertsteuersystem auf eu-
ropäischem Recht beruht, das uns als Gesetzgeber einen
strengen Handlungsrahmen vorgibt. Unsere Bemühun-
gen, das System zu verbessern, finden daher sowohl auf
europäischer als auch auf nationaler Ebene statt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ein wichtiges
Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung ist und
könnte das Reverse-Charge-Verfahren im Geschäftsver-
kehr zwischen Unternehmern sein, wie auch von Ihnen
im Antrag angesprochen.
Umsatzsteuerschuldner ist in diesen Fällen dann nicht
der Leistende, sondern der Leistungsempfänger. Ist der
Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt,
gleichen sich geschuldete Reverse-Charge-Umsatzsteuer
und Vorsteuerabzug aus. Das verringert zwar die Gefahr
von Umsatzsteuerbetrug. Das Verfahren an sich ist aber
selbst wiederum nicht unproblematisch.
5938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Mit dem Verfahren soll ungerechtfertigte Geltendma-
chung des Vorsteuerabzugs erschwert werden. Bisher ist
das Reverse-Charge-Verfahren in der Mehrwertsteuer-
systemrichtlinie nur als Ausnahme vorgesehen.
Die Bundesregierung hat sich schon während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 für die
Verankerung eines generellen Reverse-Charge-Verfah-
rens auf europäischer Ebene eingesetzt. Aufgrund massi-
ver politischer Vorbehalte einer Reihe von Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union war dies jedoch bisher nicht
durchsetzbar.
Die Kommission hat damals entschieden, dass nur
Ausnahmen, auf einzelne Branchen beschränkt, zulässig
seien. So wurde das Reverse-Charge-Verfahren ab Juli
2011 auch für die Lieferung von Mobilfunkgeräten und
integrierten Schaltkreisen eingeführt.
Mit dem Kroatien-Gesetz haben wir das Reverse-
Charge-Verfahren zum Beispiel bei edlen und unedlen
Metallen eingeführt. Der Fall zeigt ehrlicherweise auch,
dass Betrugsbekämpfung massive bürokratische Auswir-
kungen haben kann. Zum Beispiel eine gesplittete Rech-
nung beim Kauf von Alufolie im Baumarkt an einen Un-
ternehmer. Daher denken wir gegenwärtig über die
Einführung einer Bagatellgrenze und Korrekturen nach.
Außerdem sieht die Mehrwertsteuersystemrichtlinie
mittlerweile vor, dass die Mitgliedstaaten der Union den
sogenannten Schnellreaktionsmechanismus einführen kön-
nen. Mit dem Zollkodex-Anpassungsgesetz wollen wir das
umsetzen. Es geht darum, das Bundesministerium der
Finanzen dazu zu ermächtigen, in dringenden Fällen den
Leistungsempfänger zum Schuldner der Umsatzsteuer
bestimmen zu können. Damit steht ein weiteres wirksa-
mes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung
bereit.
Die EU-Kommission will Überlegungen zu einem
umfassenden Umbau der Mehrwertsteuersystemrichtli-
nie anstellen. Das Ziel sei ein einfacheres, wirksameres
und betrugssicheres Mehrwertsteuersystem für den Bin-
nenmarkt. Wir würden das sehr begrüßen. Ich bin sicher,
dass sich auch die Bundesregierung erneut konstruktiv in
diese Debatte einbringt.
Sie fordern gleiche Zugriffsrechte von Bund und Län-
dern auf Datenbanken und Steuerstatistiken. Sie wissen
doch, dass es schon eine beim Bundeszentralamt für
Steuern angesiedelte Stelle zur Koordinierung der Prü-
fungsmaßnahmen der Länder gibt. Diese ist gerade für
die Fälle, in denen mehrere Bundesländer oder andere
EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden müssen, einge-
richtet worden. Diese Koordinierungsstelle beschränkt
ihre Arbeit nicht nur auf die Koordination der betroffe-
nen Behörden, sondern sammelt selbst Informationen
über Betrugsmuster und gibt diese an die Behörden wei-
ter.
Die Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug ist wichtig,
und ich habe ausgeführt, dass wir viel dafür getan haben
und tun werden. Bei allen Maßnahmen gilt es, das rich-
tige Maß zwischen Betrugsbekämpfung und unnötiger
Bürokratie zu finden. Auch ist klar: Es wird immer
Leute geben, die geltende Gesetze umgehen.
Die Bundesregierung ist bei der Bekämpfung von
Umsatzsteuerbetrug auf einem guten Weg. Ihres Antra-
ges bedarf es daher nicht, insbesondere weil einige
Punkte, die dort angesprochen sind (Gelangensbestäti-
gung, Reverse-Charge bei Metallen), bereits umgesetzt
worden sind.
Gern können wir die einzelnen Maßnahmen noch im
Ausschuss diskutieren. Wichtig ist aber: Der Umsatz-
steuerbetrug muss bekämpft werden. Das wird eine stän-
dige Aufgabe sein, der wir uns stellen.
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen „Umsatzsteuerbetrug be-
kämpfen“ adressiert ein altbekanntes Problem.
Durch Umsatzsteuerbetrug entgehen dem deutschen
Fiskus nach Schätzungen des Ifo-Instituts 14 bis 15 Mil-
liarden Euro im Jahr. Ein großer Teil dieser Summe geht
dabei auf die Aktivitäten krimineller Organisationen zu-
rück, die staatenübergreifend sogenannte Karussellge-
schäfte praktizieren. Aber auch durch geplante Insolven-
zen, die Berechnung falscher Steuersätze, nicht korrekte
Erfassung von Privatentnahmen oder manipulierte Re-
gistrierkassen werden jährlich erhebliche Beträge an
Umsatzsteuer hinterzogen.
Der Bundesrechnungshof hat im September 2012 zu-
sammen mit den Kollegen aus Belgien und den Nieder-
landen einen Bericht vorgelegt, in dem auf zwei EU-
Schätzungen aus dem vergangenen Jahrzehnt verwiesen
wird, wonach sich der Schaden in der EU auf 100 Mil-
liarden Euro im Jahr belaufe.
Der Umsatzsteuerbetrug kann aber auch für ehrliche
Unternehmer zu einem ernsten Problem werden. Die un-
gewollte Verwicklung in Umsatzsteuerbetrugsaktivitäten
kann fatale Konsequenzen für Unternehmen und deren
Mitarbeiter haben. Denn nach der Rechtsprechung des
BFH trägt der Unternehmer die Feststellungslast für den
Vorsteuerabzug. Der EuGH hat zwar mittlerweile in ver-
schiedenen Urteilen festgestellt, dass die Finanzbehör-
den die objektiven Umstände dafür darlegen müssen,
dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müs-
sen, dass der von ihm bezogene Eingangsumsatz in eine
Steuerhinterziehung einbezogen war. Dennoch besteht
für den ehrlichen Unternehmer immer noch ein erhebli-
ches Risiko, auch wenn er unwissentlich in einen Um-
satzsteuerbetrug verwickelt wird. Unternehmer müssen
nach der Rechtsprechung des EuGH die vernünftiger-
weise von ihnen zu erwartenden Maßnahmen gegen die
Einbeziehung in eine Umsatzsteuerhinterziehung treffen.
Deshalb muss sich der Unternehmer durch geeignete or-
ganisatorische Maßnahmen im Unternehmen davor
schützen.
Umsatzsteuerbetrugsgeschäfte tauchen verstärkt bei
hochpreisigen sowie schnell handelbaren Wirtschaftsgü-
tern auf. Ein besonders dreister Fall war vor einigen Jah-
ren der Betrug beim Handel mit Verschmutzungsrechten,
in den auch die Deutsche Bank einbezogen war. Hier
sind binnen kürzester Zeit Hunderte von Millionen Euro
durch Umsatzsteuerbetrüger ergaunert worden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5939
(A) (C)
(D)(B)
Besonders gefährdet sind Branchen, die nicht unter
das Reverse-Charge-Verfahren im Sinne von § 13 b Ab-
satz 2 UStG in Verbindung mit § 13 b Absatz 5 UStG
fallen.
Im Rahmen des Kroatien-Gesetzes haben wir hier für
bestimmte Produkte eine Umkehr der Steuerschuldner-
schaft festgelegt, beispielsweise für die Lieferung von
Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin sowie aller un-
edlen Metalle und für bestimmte Elektronikartikel wie
Spielekonsolen und Tablet-PCs.
Soweit erforderlich, wird eben sehr schnell auf er-
kannte Betrugsfälle auch vonseiten des Gesetzgebers re-
agiert. Auch durch das Zollkodexanpasssungsgesetz
wird eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von Be-
trügereien geschaffen.
Die Finanzverwaltung bekämpft ganz systematisch
den Umsatzsteuerbetrug. Dazu verwendet die Finanzver-
waltung Checklisten, die entsprechende Verdachtsmo-
mente bzw. Auffälligkeiten auflisten.
Das BMF hat gemäß einem Artikel in der Zeitung
PStR Praxis Steuerstrafrecht einen mehr als 100 Punkte
zählenden Katalog von Verdachtsmomenten zusammen-
gestellt. Ebenso enthält, wie in dem Artikel ausgeführt
wird, das bundeseinheitliche Handbuch für die Umsatz-
steuer-Sonderprüfung eine eigene Passage betreffend
Umsatzsteuerkarussellgeschäfte. Hier sind Leitlinien
und Hinweise für das Erkennen, die Aufdeckung und die
Behandlung von Umsatzsteuerbetrugsgeschäften nieder-
gelegt.
Darüber hinaus arbeitet die Finanzverwaltung sehr
eng mit den entsprechenden Behörden im In- und Aus-
land zusammen, um auch den Betrug über die Grenze
hinweg zu verfolgen.
Es gäbe sicherlich noch eine ganze Reihe von Mög-
lichkeiten, den Umsatzsteuerbetrug einzudämmen. Aber
vieles davon lässt sich eben nicht so einfach verwirkli-
chen.
In den vergangenen Jahren wurde beispielsweise von
Deutschland aus der Versuch unternommen, zur Ein-
dämmung des Umsatzsteuerbetruges das Reverse-
Charge-Modell für die Umsatzbesteuerung einzuführen.
Leider scheiterte das aber an den anderen Ländern in der
EU, die sich nicht dazu durchringen konnten, dem deut-
schen Vorstoß zuzustimmen. Das ist das Dilemma. Das
Umsatzsteuerrecht ist weitgehend durch europäisches
Recht geprägt. Veränderungen im Umsatzsteuerrecht
sind deshalb alleine auf nationaler Ebene nur noch sehr
eingeschränkt möglich. Deshalb muss zur Eindämmung
von Betrügereien auf jeden Fall auf eine gesamteuropäi-
sche Lösung gesetzt werden. Derzeit bereitet die EU-
Kommission anscheinend einen weiteren Anlauf vor, das
europäische Mehrwertsteuersystem weiter zu vereinheit-
lichen und dadurch die Betrugsanfälligkeit des Systems
zu verringern.
Wir berücksichtigen schon heute alle Möglichkeiten,
soweit Handlungsbedarf auf diesem Gebiet erforderlich ist,
durch gesetzgeberische Maßnahmen, wie das Kroatien-
Gesetz gezeigt hat. Dabei gilt es ganz allgemein, einen aus-
gewogenen Mix von Vermeidung von Betrügereien, per-
sonellen Ressourcen und zumutbarem Bürokratieauf-
wand zu finden. Bevor wir deshalb weitere Maßnahmen
ergreifen, sollten wir die Wirkungen der bisher schon
eingeleiteten Maßnahmen abwarten.
Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Frank Junge (SPD): Jeder Euro, der unserem Staat
durch Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug verloren
geht, schwächt ihn in seiner Fähigkeit, Aufgaben und
dringend benötigte Leistungen für seine Bürgerinnen
und Bürger zu übernehmen. Insofern vergehen sich Hin-
terzieher und Betrüger in puncto Steuern doppelt an der
Allgemeinheit: rechtlich, weil sie gegen das Gesetz ver-
stoßen, und moralisch, weil sie die gleichen infrastruktu-
rellen Leistungen des Staates nutzen und in Anspruch
nehmen, die Kosten dafür jedoch anderen aufbürden.
Und dann meist sogar noch denen, die finanziell wesent-
lich schlechter gestellt sind als sie selber.
Für uns Sozialdemokraten ist das eine mordsmäßige
Sauerei, die wir mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
teln konsequent bekämpfen, verfolgen und bestrafen
müssen.
Wenn wir also heute über Ihren Antrag zum Thema
Umsatzsteuerbetrug reden, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von Bündnis 90/Die Grünen, dann freue ich mich
grundsätzlich sehr darüber, dass Sie dieses Thema auf
die Tagesordnung gehoben haben. Es zeigt mir nämlich,
dass Ihnen das Problem und die Bekämpfung des Um-
satzsteuerbetrugs genauso am Herzen liegen wie meiner
Fraktion.
Auf der anderen Seite wird mir jedoch nicht klar, an
welcher Stelle Ihr Antrag heute neue Aspekte oder An-
satzpunkte bietet, an denen wir andocken sollten. Oder
wollten Sie den Inhalt eines diesbezüglichen Antrages
von Ihnen aus der letzten Wahlperiode hier einfach nur
noch einmal mit uns erörtern? So oder so kann ich Ihnen
sagen, dass wir uns bei der Widerspiegelung der Bedeu-
tung und der Tragweite des Problems für unser Land al-
lem Anschein nach einig sind.
Wir Sozialdemokraten setzen uns daher entschieden
gegen jede Form von Steuerhinterziehung ein. Wir wer-
den es nicht hinnehmen, dass unserem staatlichen Ge-
meinwesen jährlich Milliarden von Steuern vorenthalten
werden. Wir haben daher im Koalitionsvertrag ein ent-
schiedenes Vorgehen gegenüber Steuerhinterziehern ver-
einbart und konkrete Maßnahmen dafür bereits einge-
leitet. National werden wir die Regelungen zur
steuerbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung
deutlich verschärfen. Zudem hat Deutschland – Sie erin-
nern sich an unsere Debatte vom heutigen Vormittag hier
im Deutschen Bundestag – ein Abkommen zum automa-
tischen Informationsaustausch in Steuersachen unter-
zeichnet, das es uns zukünftig leichter machen wird,
Steuerhinterzieher zu enttarnen.
Dass 50 Staaten diesen hohen Steuerstandard anwen-
den wollen, ist aus Sicht der SPD-Fraktion ein großer
Erfolg. Diesen Stand der Dinge habe ich selbst vor noch
nicht allzu langer Zeit für unmöglich gehalten. Ich
5940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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möchte daher von hier aus gern einen Dank an Bundes-
finanzminister Schäuble senden, der sich für dieses Ab-
kommen eingesetzt hat.
Ich unternehme das jedoch nicht, ohne mit gewissem
Stolz darauf hinzuweisen, dass wir heute nicht an diesem
Punkt stehen würden, wenn das geplante schwarz-gelbe
Steuerabkommen mit der Schweiz aus der letzten Legis-
latur nicht gestoppt worden wäre.
Aber kommen wir zurück zum Umsatzsteuerbetrug,
dem eigentlichen Thema Ihres Antrages. Dessen Be-
kämpfung ist naturgemäß eine Daueraufgabe, die sich
faktisch seit der Einführung des europäischen Mehrwert-
steuersystems stellt. Für den Staat ist die Umsatzsteuer
eine der wichtigsten Einnahmequellen überhaupt. Allein
im Jahr 2013 betrug das Umsatzsteueraufkommen 196
Milliarden Euro. Nach Schätzungen des ifo-Instituts von
2007 entgehen der Bundesrepublik Deutschland 14 bis
15 Milliarden Euro jährlich durch Hinterziehung.
Sie haben daher recht, wenn Sie in Ihrem Antrag von
der Betrugsanfälligkeit bei der Umsatzsteuer sprechen.
Diese ist allerdings systembedingt. Eine grundsätzliche
Lösung kann es deshalb nur auf internationaler Ebene, in
Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern in der Eu-
ropäischen Union, geben.
Gerne gehe ich nachfolgend noch konkreter auf ver-
schiedene Punkte aus Ihrem Antrag ein.
Sie schreiben, dass Sie eine bessere Bund-Länder-Zu-
sammenarbeit wünschen, um Kompetenzen zu bündeln
und schneller bei Betrugsdelikten aktiv zu werden. Da
sind wir ganz bei Ihnen. Lassen Sie uns das ausführlich
im dafür zuständigen Finanzausschuss tun und dort ge-
meinsam prüfen, an welchen Stellen man Verbesserun-
gen erreichen kann.
Sie fordern, dass die Hinweise auf Betrug mit mani-
pulierten Registrierkassen ernst genommen werden müs-
sen und dazu ein Gesetzentwurf vorgelegt werden soll.
Sorry, da müssen Sie nicht aufgepasst haben. Bereits
knapp zwei Monate vor Ihrem Antrag, am 7. Mai 2014,
hat meine Fraktion dieses Anliegen im Finanzausschuss
thematisiert. Hierzu erklärte der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Michael Meister, dass sich das Finanz-
ministerium derzeit in Gesprächen mit den Ländern be-
finde und alle Länder diesbezüglich einen Handlungsbe-
darf erkennen. Ob der Gesetzgeber oder die Verwaltung
tätig werden muss, bleibt abzuwarten. Diesen Punkt hät-
ten Sie sich in Ihrem Antrag also sparen können, bzw. es
wäre meines Erachtens konstruktiver gewesen, zunächst
die gewonnenen Erkenntnisse aus den diesbezüglichen
Gesprächen des Bundesfinanzministeriums mit den Län-
dern abzuwarten.
Einig sind wir uns allerdings wieder bei der Eindäm-
mung von Umsatzsteuerbetrugsgestaltungen durch das
sogenannte Reverse-Charge-Verfahren.
Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuer-
rechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Ände-
rung weiterer steuerlicher Vorschriften haben wir die
Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers für be-
trugsanfällige Branchen eingeführt, unter anderem für
die von Ihnen angesprochenen Lieferungen von unedlen
Metallen und Edelmetallen. Im Rahmen des Zollkodex-
Anpassungsgesetzes führen wir außerdem den Schnell-
reaktionsmechanismus ein.
Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, kann die Ver-
waltung künftig umgehend und gezielt auf Betrugsfälle
reagieren. Und das ist natürlich richtig so! Sie sprechen
zudem davon, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene
weiter auf einen Systemwechsel hin zu einem generellen
Reserve-Charge-Verfahren drängen soll. Ich sage Ihnen:
Auch hier vertreten wir die gleiche Position. Aber Sie
wissen genauso gut wie ich, dass diesbezügliche Initiati-
ven bisher geplatzt sind. Im Jahr 2007 haben wir uns
fraktionsübergreifend für einen solchen Systemwechsel
auf europäischer Ebene eingesetzt. Damit sind wir kra-
chend am Widerstand der Kommission und zahlreicher
Mitgliedstaaten gescheitert. Es gab nicht ansatzweise ge-
nügend politische Unterstützung für unser Vorhaben.
Gleichwohl können Sie sich sicher sein, dass wir
– und das gilt selbstverständlich auch für die Bundesre-
gierung – alle formellen und informellen Wege nutzen,
um das Thema in den zuständigen Gremien der EU an-
zusprechen und für einen Systemwechsel zu werben.
Er läge im Interesse der Wirtschaft wie der Finanzver-
waltung, da punktuelle Ausnahmen das Steuerrecht na-
türlich verkomplizieren und bürokratischen Aufwand er-
zeugen. Wir brauchen den generellen Systemwechsel.
Solange wir den aber nicht haben, soll die Verwaltung
den Schnellreaktionsmechanismus mit Augenmaß ein-
setzen.
Zum Schluss meiner Rede will ich meine Worte kurz
zusammenfassen:
Erstens. Inhaltlich, liebe Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, bringt Ihr Antrag heute überhaupt nichts Neues.
Zweitens. Uns eint offensichtlich der Wille, unsere
Kräfte zu bündeln, um noch wirkungsvoller gegen Um-
satzsteuerbetrüger vorzugehen.
Lassen Sie uns deshalb genau das tun und uns im Fi-
nanzausschuss weiter mit dem Thema auseinanderset-
zen.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren
heute Abend einen Antrag mit dem Titel „Umsatzsteuer-
betrug bekämpfen“. Wie wir alle wissen, ist der Betrug
besonders bei der Umsatzsteuer hoch – und das schon
seit Jahren. Die Europäische Kommission schätzt die
Steuerausfälle allein für Deutschland auf rund 27 Mil-
liarden Euro jährlich. Das bestreitet zwar die Bundes-
regierung pflichtgemäß, aber man braucht bloß die ein-
zelnen Beträge nachzurechnen, und dann sieht man, dass
es ungefähr hinkommt. 27 Milliarden Euro – das ist
mehr als die Bundesregierung pro Jahr für Bildung, For-
schung und Gesundheit ausgibt.
Warum ist das so? Manipulierte Kassen in Geschäften
und Restaurants, Abzug von Umsatzsteuer, ohne dass sie
vorher bezahlt wurde – also Vorsteuerabzug –, Schwarz-
arbeit, unterschiedliche EDV-Systeme in den Finanzver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5941
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waltungen der Bundesländer und so weiter – die Liste
der Ursachen ist lang.
International werden Betrügereien durch unterschied-
liche gesetzliche Rahmenbedingungen erleichtert. Wel-
cher Mehrwertsteuersatz in einem europäischen Land
gilt, ist nicht ohne Weiteres sofort zu erkennen – unter-
liegt der Umsatz der vollen Mehrwertsteuer, oder ist ei-
ner der ermäßigten Umsatzsteuersätze anzuwenden? Das
nutzen manche Unternehmen aus und berechnen oft we-
niger Umsatzsteuer als vorgeschrieben.
Warum ist Umsatzsteuerbetrug in Deutschland so
leicht möglich? Das liegt daran, wie hier die Umsatz-
steuer abgerechnet wird. Üblicherweise muss der Ver-
käufer, also der Lieferant, für seine verkauften Waren die
von dem Käufer erhaltene Umsatzsteuer an das Finanz-
amt zahlen. Diese also von dem Käufer gezahlte Um-
satzsteuer kann der Käufer gegenüber dem Finanzamt
geltend machen, als sogenannte Vorsteuer, sofern er Un-
ternehmer ist und die übrigen Voraussetzungen für den
Vorsteuerabzug gegeben sind. Der Käufer holt sich also
die von ihm an den Verkäufer gezahlte Umsatzsteuer di-
rekt vom Finanzamt zurück. Er weiß aber nicht, ob der
Verkäufer die von ihm, dem Käufer, erhaltene Umsatz-
steuer tatsächlich an das Finanzamt gezahlt hat. Hier er-
öffnen sich zahlreiche Betrugsmöglichkeiten. Denn das
Finanzamt kann nicht sofort überprüfen, ob das der Ver-
käufer auch tatsächlich so gemacht hat, sondern muss
sich erst mal auf die Umsatzsteuererklärungen und die
Einhaltung der Gesetze verlassen – dass also alles ge-
zahlt wurde wie vereinbart.
Besser wäre es, wenn der Käufer der Ware die von
ihm an den Lieferanten gezahlte Umsatzsteuer selbst
verrechnen würde. Der Käufer zahlt also die Umsatz-
steuer selbst an das Finanzamt und der Lieferant berech-
net erst gar keine Umsatzsteuer. Das würde nicht nur den
Umsatzsteuerbetrug erheblich reduzieren, sondern auch
für die Finanzämter vieles vereinfachen. Außerdem
müssten die Käufer die an den Lieferanten gezahlte Um-
satzsteuer nicht bis zur Erstattung durch das Finanzamt
finanzieren. Fachlich spricht man von einer Umkehrung
der Steuerschuldnerschaft vom Leistungserbringer auf
den Leistungsempfänger – Fachausdruck „Reverse
Charge“.
Dadurch, dass nur der Käufer seine gezahlten und
seine erhaltenen Umsatzsteuern verrechnen kann und die
Differenz an das Finanzamt abführen muss, werden die
sogenannten Karussellgeschäfte verhindert, mit denen
Steuerbetrügereien durchgeführt werden. Bei den Karus-
sellgeschäften zahlen einige (Schein-)Unternehmen in
einer längeren Lieferkette die erhaltene Umsatzsteuer
nicht an das Finanzamt. Das Finanzamt erstattet zwar die
Vorsteuer an den Käufer, hat die Umsatzsteuer vom Ver-
käufer aber gar nicht erhalten.
Bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft müsste das
Finanzamt nicht mehr die Vorsteuer auszahlen, sondern
bräuchte sie nur noch zu verrechnen.
Diese Umkehrung vom bisherigen Ablauf ist in
Deutschland aber nichts grundsätzlich Neues; denn be-
reits jetzt gibt es zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel in
der Bauwirtschaft, bei Grundstücksgeschäften oder Un-
ternehmenspleiten (§ 13 b UStG). Daher wäre eine Um-
kehrung der Steuerschuldnerschaft also nicht komplett
neu.
Obwohl wir also wissen, wo die Probleme liegen, ob-
wohl wir wissen, dass viel Steuergeld verloren geht,
wird wenig dagegen getan.
Zwar haben sich die EU-Kommission und andere
europäische Staaten bisher nicht kooperativ gezeigt und
sowohl eine entsprechende Änderung der Mehrwertsteu-
ersystemrichtlinie als auch den Weg über eine Ermächti-
gung zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als
Sondermaßnahme abgelehnt.
Aber in anderen Fällen übt die Bundesregierung doch
auch Druck auf die Kommission und auf EU-Länder aus,
um ihre Ziele durchzusetzen. Hier aber hält sie sich vor-
nehm zurück, obwohl jedes Jahr Milliarden an Steuer-
einnahmen verloren gehen. Mit denen könnten Sie, Herr
Schäuble, Ihre „schwarze Null“ im Bundeshaushalt pro-
blemlos erreichen, ohne auf Investitionen in Bildung und
Infrastruktur zu verzichten.
Die Linke fordert seit längerer Zeit die Einführung
des Reverse-Charge-Verfahrens als ein wesentliches Ele-
ment zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs, und da-
her fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf,
sich verstärkt auf europäischer Ebene für die Einführung
der Steuerschuldumkehr einzusetzen. Es gibt eine neue
EU-Kommission, und damit sind die Chancen gestiegen,
jetzt zu einer neuen Regelung zu kommen. Daher kön-
nen wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Beim Thema Umsatzsteuerbetrug – so sollte man
meinen – können wir hier im Deutschen Bundestag
leicht Übereinstimmung aller Fraktionen erzielen. Es ge-
hört ja mittlerweile zum politischen Alltag, dass Steuer-
ausfälle durch Betrug oder Gestaltung von allen politi-
schen Seiten angeprangert werden, übrigens egal ob von
uns in der Opposition oder seitens der Bundesminister
Gabriel oder Schäuble. Und natürlich ist das in der Sa-
che auch richtig, zumal wir ja auch aufgelistet haben,
dass schon die benennbaren Umsatzsteuerausfälle 9 Mil-
liarden Euro betragen. Nur gehören zu den schönen Wor-
ten auch Taten, meine Damen und Herren in der Bundes-
regierung!
Das gilt insbesondere dann, wenn man wie die Union
seit 2009 den Finanzminister stellt. In der Realität muss
man leider sagen, dass genau an dieser Stelle steuerpoli-
tisch, insbesondere was die Umsatzsteuer betrifft, Leis-
tungsverweigerung betrieben wird, und das schließt
dann auch das Thema Umsatzsteuerbetrug ein.
Konkret zur Sache: Wir reden an dieser Stelle später
noch über das Zollkodex-Gesetz aus dem BMF und wer-
den in diesem Zusammenhang auch die Einführung ei-
nes nationalen Schnellreaktionsmechanismus gegen
Umsatzsteuerbetrug debattieren. Insofern kann man dem
BMF keine Untätigkeit vorwerfen, aber man muss fest-
stellen, dass wir beim Thema Umsatzsteuerbetrug lang-
5942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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sam an die Grenze des national Möglichen und Sinnvol-
len stoßen.
Wir haben in der jüngeren Vergangenheit immer wie-
der die sogenannten Reverse-Charge-Tatbestände, also
die Fälle in denen Umsatzsteuerzahlung und -erstattung
in einer Hand liegen, erweitert. Dies will ich an dieser
Stelle nicht infrage stellen, sondern weise ausdrücklich
darauf hin, dass uns erst Hinweise aus den Finanzämtern
gezwungen haben, zu handeln, um Steuerausfälle durch
Betrug zu vermeiden. An dieser Stelle sind wir uns in
der Bewertung der Sache sicher auch einig. Das schließt
auch den fünften Punkt unseres Antrags ein, den die
Bundesregierung auf Initiative der Bundesländer mittler-
weile umgesetzt hat.
Dennoch sollten wir uns an dieser Stelle eingestehen,
dass wir nicht unbegrenzt neue Sonderregelungen schaf-
fen können, weil dadurch das Umsatzsteuerrecht noch
sehr viel unübersichtlicher und schwerer handhabbar
wird, als es heute schon ist. Und hier ist der Finanz-
minister gefordert, das Thema endlich europäisch stärker
zu thematisieren. Während die alte EU-Kommission ei-
nen Vorstoß mit ihrem Grünbuch zur Reform der Mehr-
wertsteuer gestartet hat, verharren Herr Schäuble und
das BMF hier in einer nicht nachvollziehbaren Lethargie
und bremsen eher, als dass sie sich beispielsweise weiter
für einen generellen Übergang zu einem Reverse-
Charge-Verfahren einsetzen würden. Dabei ist genau das
der Schlüssel, um Umsatzsteuerbetrug wirksam zu be-
grenzen und Unternehmen ein administrierbares Steuer-
recht zu bieten.
Und wenn es nicht zu einer gesamteuropäischen Re-
gelung kommen kann, weil einzelne Mitgliedstaaten
eine Reform blockieren, sollte dennoch darüber nachge-
dacht werden, ob nicht Sondergenehmigungen für eine
vollständige Umstellung einzelner Nationalstaaten auf
das Reverse-Charge-Verfahren angestrebt werden soll-
ten, zumal dies den innereuropäischen Warenverkehr
nicht beeinflussen würde. Hier ist es an der Bundesregie-
rung, Lösungen zu entwickeln.
Aber auch national müssen wir mehr und vor allem
schneller handeln. Wir befinden uns in der Situation,
dass wir im Deutschen Bundestag auf Hinweise aus den
Ländern angewiesen sind, wenn es um Steuerbetrug
geht. Das BMF verweigert den Mitgliedern des Bundes-
tags stets konkrete Aussagen und zieht sich auf den
Standpunkt zurück, dass Steuervollzug eben Ländersa-
che ist und es keine konkreten Informationen zu Be-
trugsfällen gibt. So stehen wir vor einer bizarren „Friss-
oder-Stirb“-Situation ohne die konkreten Hintergrund-
informationen einer geplanten Gesetzesänderung zu ken-
nen. Das schließt auch Reaktionen auf Betrugsfälle ein,
und deswegen müssen wir die Entscheidungsgrundlage
für den Bundestag als legislatives Organ unserer Verfas-
sung stärken; dazu gehören auch mehr und bessere Infor-
mationen für Steuerdaten und Betrugsfälle.
Und wenn man Betrug bekämpfen will, dann sollte
man es auch schnell und richtig machen:
Beispiel Gelangensbestätigung: Das BMF denkt sich
per Verordnung einen neuen Nachweis zur Bestätigung
eines EU-Exports aus und begründet das mit Bürokratie-
erleichterungen für Unternehmen und der Notwendig-
keit, Betrug besser Einhalt gebieten zu können. Im
Ergebnis fürchten Unternehmen aktuell neue Rechts-
unsicherheiten. Zudem ist die Fälschungssicherheit einer
Gelangensbestätigung schlicht nicht gegeben, sondern
im Zweifel sogar größer als bei anderen gängigen Aus-
fuhrbelegen.
Nehmen wir das Beispiel Betrug mit manipulierten
Registrierkassen: Nordrhein-Westfalen hat Belege gelie-
fert, dass an dieser Stelle hohe Steuerausfälle entstehen,
unter anderem durch fehlende Umsatzsteuereinnahmen.
Hier ziert sich das BMF, eine einfache und schnelle Lö-
sung zu beschließen. Vorschläge dazu gibt es, etwa die
Einführung manipulationssicherer Kassen. Die entste-
henden Kosten dazu halten sich im Rahmen.
Nehmen wir das Beispiel Betrug bei differenzbesteu-
erten Waren. Hier schlug der Bundesrechnungshof eine
Ergänzung bei der Umsatzsteuererklärung um eine An-
gabe vor. Der bürokratische Aufwand wäre gering, aber
die Finanzämter könnten Betrug potenziell sehr viel
schneller erkennen. Was ist passiert? Nichts!
Die Bundesregierung muss dem Thema Umsatzsteu-
erbetrug endlich international eine höhere Bedeutung
beimessen und sich innerhalb der EU für handhabbare
Lösungen einsetzen, sie muss national mit Augenmerk
auf Betrugsfälle reagieren, und sie darf auf keinen Fall
bestehenden Betrug weiter durch Nichthandeln dulden.
Herr Schäuble muss seinen steuerpolitischen Winter-
schlaf endlich beenden. Gerade bei diesem Thema ver-
kennt er die Bedeutung und wird seiner Verantwortung
nicht gerecht.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verringerung der Abhängigkeit von Ratings
(Tagesordnungspunkt 18)
Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der heutigen Ver-
abschiedung des Ratinggesetzes machen wir einen wei-
teren wichtigen Schritt zu einer wirksamen Regulierung
der Finanzmärkte. Wir haben uns im Koalitionsvertrag
klar festgelegt und gehen mit dem Ratinggesetz direkt in
die Umsetzung: Wir reduzieren die Bedeutung externer
Ratings; wir fördern die Wettbewerbsfähigkeit europäi-
scher Ratingagenturen; wir bauen Regelungen ab, die
eine Einschaltung der drei großen Ratingagenturen vor-
schreiben; wir verbessern die Aufsicht; wir führen harte
Sanktionen bei Verstößen ein. Das Ratinggesetz steht so-
mit für strengere Regeln auf den Finanzmärkten – und
dafür stehen auch CDU und CSU.
Bevor ich auf die Details zu sprechen komme, lassen
Sie uns gemeinsam noch einen Blick zurück werfen.
Die Wurzeln der Ratingagenturen reichen über
150 Jahre zurück – bis in die Zeit des Wilden Westens:
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Amerika die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5943
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Vorläufer der ersten Ratingagenturen gegründet. Die vo-
ranschreitende Besiedlung und größere Distanzen zwi-
schen den Kaufleuten erzeugten Anonymität und schür-
ten Misstrauen. Bald wurden Informanten dafür bezahlt,
Profile über Geschäftsleute und über einzelne Geschäfte
zu erstellen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden
die ersten modernen Ratingagenturen gegründet. Es war
eine Zeit der Pioniere: Neue Territorien in den USA wur-
den besiedelt, Eisenbahnstrecken wurden gebaut – der
Finanzbedarf war extrem hoch. Die Finanzierung über
Banken reichte nicht aus: Einige Banken hatten nicht ge-
nug Geld – andere scheuten die Kreditvergabe gerade an
die vielen neu gegründeten Unternehmen. Neue Lösun-
gen mussten her: Die Unternehmen beschafften sich das
Kapital fortan durch die Emission von Wertpapieren. Ei-
senbahnanleihen, aber auch Staatsanleihen bildeten seit-
dem den Kern des neu entstandenen Kapitalmarkts der
Vereinigten Staaten von Amerika. Solche Wertpapiere
amerikanischer Eisenbahnfirmen genauer zu analysieren
und zu bewerten, diese Idee legte damals den Grundstein
für die Entwicklung der modernen Ratingagenturen. Die
Agenturen – damals gegründet als Stifter von Transpa-
renz, Vergleichbarkeit und Vertrauen – entwickelten sich
über die Jahrzehnte hinweg zu vermeintlich allwissen-
den und unfehlbaren Instanzen. Drei von ihnen etablier-
ten sich besonders stark. Viele lauschten den Verkündun-
gen dieser drei großen Ratingagenturen wie einst den
Weissagungen des Orakels von Delphi.
In der Finanzkrise ab dem Jahre 2008 sind die Pro-
bleme mit Ratingagenturen sehr deutlich geworden – der
Hauch von Allwissenheit ist der Klarheit gewichen, dass
die Agenturen erheblich zur Entstehung der Krise beige-
tragen haben.
Finanzprodukte, Unternehmen und Staaten wurden
unrealistisch positiv bewertet, ein zu niedriges Risiko
wurde suggeriert und Ausfallrisiken wurden unter-
schätzt. Als sich die Krise dann zuspitzte, erfolgte die
Anpassung der Ratings viel zu spät. Gerade die Länder-
ratings verwandelten den Sturm der Finanzkrise in einen
wirtschaftlichen Orkan.
Hinzu kamen massive Interessenkonflikte: Nicht sel-
ten wurde eine Agentur von demselben Unternehmen
ausgewählt und bezahlt, das sie auch bewerten sollte.
Ratingagenturen konzipierten oft sogar selbst Finanzpro-
dukte, die sie dann später bewerteten. Und diese Pro-
dukte wurden anschließend von den Muttergesellschaf-
ten der Ratingagenturen im großen Stil gehandelt.
Sowohl der europäische als auch der nationale Ge-
setzgeber haben auf diese Missstände reagiert: Mit
Unterstützung der unionsgeführten Bundesregierungen
leistete die Europäische Union 2009 mit der Ratingver-
ordnung und der ersten Novelle 2011 bereits einen wich-
tigen Beitrag zur strengeren Beaufsichtigung von Ra-
tingagenturen.
Seit 2009 besteht für Ratingagenturen eine Registrie-
rungspflicht. Dazu gehören umfangreiche Prüfungs- und
Genehmigungsverfahren und eine laufende Beaufsichti-
gung. Dies waren erste wichtige Schritte, um die Trans-
parenz des Bewertungsprozesses von Ratingagenturen
zu erhöhen, Interessenkonflikte zu vermeiden und Re-
gelverstöße mit Bußgeldern zu ahnden. Im Jahr 2011
wurde dann mit der ersten Novelle der Ratingverord-
nung die Aufsicht an die Europäische Wertpapier- und
Marktaufsichtsbehörde, ESMA, übertragen. Zusätzlich
wurde die Transparenz für Ratings strukturierter Finanz-
produkte erhöht.
Diesen richtigen Weg führen wir mit der zweiten No-
velle der Verordnung, der Richtlinie und schließlich dem
vorliegenden Ratinggesetz nun konsequent weiter.
Zunächst müssen wir aber noch deutlich machen: Wir
brauchen auch weiterhin externe Ratings. In einer globa-
lisierten Welt mit Millionen von Finanzierungsentschei-
dungen sind Bonitätsbewertungen unerlässlich. Dafür
muss es jedoch einen geordneten Rahmen geben – mit
klaren Regeln für alle Beteiligten.
Daher hat die EU mit deutscher Unterstützung in der
zweiten Novelle der Ratingverordnung die Regulierung
der Ratingagenturen verschärft:
Die Transparenz von Länderratings wird verbessert.
Es gibt nun klare Regeln hinsichtlich Inhalt, Zeitpunkt
und Anzahl der Veröffentlichungen. Jede Ratingagentur
darf nur noch dreimal im Jahr nicht angeforderte Länder-
ratings abgeben und muss die Termine der Veröffentli-
chungen vorher bekannt geben. Sie müssen zudem die
wesentlichen Faktoren erläutern, die ihren Ratings zu-
grunde liegen. Auch dürfen Ratingagenturen in Zukunft
keine Empfehlungen mehr für die Finanzpolitik von
Staaten abgeben.
Die Interessenkonflikte bei Ratingagenturen werden
reduziert. Zum einen haben wir mit den Höchstlaufzei-
ten für vertragliche Beziehungen nun ein Rotationsprin-
zip. Der regelmäßige Wechsel verringert die Abhängig-
keit der Agenturen von den Marktteilnehmern. Zugleich
erleichtert die Rotation kleineren Ratingagenturen den
Zugang zum Markt und erlaubt es gerade spezialisierten
Agenturen, sich breiter aufzustellen. Zum anderen wur-
den klare Regeln aufgestellt, dass Anteilseigner und Mit-
glieder einer Ratingagentur keine Kontrolle oder einen
beherrschenden Einfluss auf eine andere Ratingagentur
ausüben können.
Die Ratingagenturen werden für Fehler zur Verant-
wortung gezogen. Die Grundlage für eine zivilrechtliche
Haftung wurde geschaffen. Wenn Agenturen gegen die
Regeln verstoßen, sollen sie auch effektiv gegenüber
Anlegern und Emittenten haften und Schadensersatz
leisten müssen.
Mit dem vorliegenden Ratinggesetz stärken wir die
Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, BaFin. Damit erhält diese die Befugnis,
insbesondere die Einhaltung der folgenden Pflichten zu
überwachen, die ebenfalls in der Verordnung angelegt
sind. Zudem geben wir der BaFin mit dem Ratinggesetz
Sanktionsmöglichkeiten an die Hand, um Pflichtver-
stöße mit Bußgeldern zu ahnden.
Marktteilnehmer werden in Zukunft auch eigene Risi-
koanalysen vornehmen müssen. Eine unkritische Über-
nahme von externen Ratings führte in der Vergangenheit
häufig zu falschen Einschätzungen der Ausfallrisiken.
5944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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(D)(B)
Ein ausschließlicher oder automatischer Rückgriff auf
Ratings ist daher nicht mehr zulässig. Die „Ratinggläu-
bigkeit“, der viele Marktteilnehmer in der Vergangenheit
mit schwerwiegenden Folgen verfallen sind, wird so ein-
gedämmt.
Bei strukturierten Finanzinstrumenten wird es künftig
mindestens zwei Bewertungen geben müssen – nämlich
durch zwei voneinander unabhängige Ratingagenturen.
Auch kleine Agenturen mit einem Marktanteil von unter
10 Prozent sollen in Zukunft einbezogen werden. Da-
durch werden europäische Ratingagenturen deutlich ge-
stärkt. Das kann auch dazu beitragen, das über die Jahre
aufgebaute Oligopol der drei großen Agenturen aufzu-
brechen.
Transparenz, Vergleichbarkeit und Vertrauen: Mit die-
sen Zielen wurden Ratingagenturen im 19. Jahrhundert
gegründet. Einige von ihnen sind in der Zwischenzeit
vom Pfad dieser Tugenden abgekommen. Wir müssen
verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt und Ra-
tingagenturen eine Krise mit auslösen oder deren Verlauf
negativ beeinflussen.
Unser Ratinggesetz wird das Handeln von Rating-
agenturen transparenter machen. Es wird kleine, euro-
päische Agenturen am Markt etablieren und stärken.
Und es wird einen Teil dazu beitragen, langfristig und
nachhaltig für mehr Stabilität auf den Finanzmärkten zu
sorgen.
Andreas Schwarz (SPD): Wir können uns heute
hier alle gemeinsam über einen guten Tag für Deutsch-
land und für Europa freuen. Wir kommen nämlich ent-
scheidend voran. Schon die letzte Große Koalition hat
unter der Führung des damaligen Finanzministers Peer
Steinbrück das Schiff Bundesrepublik Deutschland in
ruhigen Fahrwassern durch die steife Brise der welt-
weiten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt. Die Krise
führte uns allen vor Augen, dass sich insbesondere die
Finanzmärkte mehr und mehr von der Realwirtschaft
und damit auch von der Realität entfernt hatten. Das
Agieren der Finanzmärkte, das in weiten Teilen in einer
Parallel- oder Schattenwelt stattfand, brachte nahezu alle
wichtigen Volkswirtschaften ins Schwanken, teilweise
ins Fallen.
Es war das Verdienst von Peer Steinbrück und Angela
Merkel, dass Deutschland so gut durch diese Krise
gekommen ist. Ein Umstand, um den uns viele Staaten
beneiden. Es war die wohldurchdachte und maßvolle
Politik dieser Jahre, die uns vor Schlimmerem bewahrte.
An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen: häu-
fig mit der Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen.
Es widerspricht aber dem sozialdemokratischen Natu-
rell, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Wir haben uns
lang genug damit auseinandergesetzt, die Symptome der
weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zu bekämpfen.
Nun geht es aber seit geraumer Zeit darum, sich den
Ursachen zu widmen und somit dafür Sorge zu tragen,
dass Krisen eines solchen Ausmaßes künftig verhindert
werden und Risiken aus solchen Krisen vermieden bzw.
auch anders verteilt werden.
Erst heute Morgen haben wir in diesem Hohen Hause
dafür einen weiteren wichtigen Schritt unternommen
und das Fundament der europäischen Einigung noch
weiter gestärkt. Mit der Bankenunion schaffen wir aber
nicht nur ein Mehr an Europa, sondern sichern auch die
Bürgerinnen und Bürger Europas deutlich stärker vor
künftigen Folgekosten von Finanzkrisen. Damit stärken
wir das Vertrauen in Europa. Wie wichtig dieses Ver-
trauen ist, können wir gerade von Ungarn bis zum Balti-
kum beobachten.
Aber wir haben heute nicht nur über die Bankenunion
abgestimmt, sondern gehen auch mit der jetzigen
Abstimmung einen weiteren und wichtigen Schritt – zu-
gegeben, nicht ganz so prominent in der medialen Be-
richterstattung vertreten.
In der Finanzkrise wurden Staaten, aber auch weite
Teile der Finanzwirtschaft zum Spielball der Urteile der
Ratingagenturen, teilweise selbst verschuldet. Hier liegt
auch noch ein langer Weg vor uns. Das will ich klar sa-
gen. Trotzdem freue ich mich, dass wir heute mit dem
Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings
einen weiteren von vielen Schritten gehen.
Wie bereits erwähnt: Wir – die Staatengemeinschaft
und die Finanzwelt selbst – haben uns in den letzten
Jahrzehnten in eine unkritische Abhängigkeit der
Ratingagenturen ergeben, die uns mit in die Abwärtsspi-
rale der letzten Jahre hinabzog. Vergessen hat man dabei,
wer eigentlich die Akteure hinter den Ratingagenturen
sind. Es sind eben keine selbstlosen Finanzanalysten,
nicht nur neutrale Institutionen oder unabhängige Markt-
beobachter. Nein, es sind Akteure am Finanzmarkt, die
an selbigem partizipieren und von selbigem profitieren
wollen.
Peer Steinbrück hat einst vollkommen zu Recht die
Frage gestellt, wer in Europa den Taktstock des Gesche-
hens in der Hand halten soll. Die SPD-Bundestagsfrak-
tion ist sich da sehr sicher: nicht die Ratingagenturen!
Und deshalb hat die SPD im vergangenen Bundestags-
wahlkampf richtigerweise gefordert, dass das Primat der
Politik endlich wiederhergestellt werden muss.
Diese Forderung haben wir erfolgreich in den Koali-
tionsvertrag geschrieben. Ich darf die weisen Worte des
Koalitionsvertrages zitieren:
Die Bundesregierung wird sich für eine effektive
Anwendung der zivilrechtlichen Haftungsregelun-
gen für Rating-Agenturen einsetzen und die Wett-
bewerbsfähigkeit europäischer Rating-Agenturen
fördern. Wir wollen die Rechtsnormen reduzieren,
die eine Einschaltung der drei großen Rating-Agen-
turen vorschreiben. Wir wollen auch die Bedeutung
externer Ratings reduzieren.
Weiter heißt es:
In Zukunft muss noch stärker gelten: Gemeinschäd-
liches Handeln von Unternehmen und Managern
muss angemessen sanktioniert werden. Wir unter-
stützen die Aufnahme strenger Vorschriften in den
maßgeblichen europäischen Rechtsakten, welche
insbesondere den Rahmen für Geldsanktionen auf
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5945
(A) (C)
(D)(B)
ein angemessenes Niveau anheben und die Verhän-
gung spürbarer Sanktionen gegen Unternehmen
vorsehen, die gegen regulatorische Vorgaben ver-
stoßen, und werden für deren Umsetzung ins deut-
sche Recht Sorge tragen.
Sie sehen also, dass wir uns durchaus etwas vorge-
nommen haben, was noch gar nicht alles in diesem Ge-
setzentwurf vollzogen werden kann. Aber mit diesem
Gesetzentwurf gehen wir einen weiteren wichtigen
Schritt in die richtige Richtung: Ziel muss es sein, die
Abhängigkeit der Finanzbranche von den Bewertungen
der Ratingagenturen zu reduzieren. Wenn Sie so wollen,
geht es in diesem Gesetzentwurf um die Hilfe zur Selbst-
hilfe.
Mit dem Gesetz verhelfen wir der Wirtschaft zu einer
größeren Eigenständigkeit und auch zu einem Mehr an
Unabhängigkeit von den Bewertungen der großen Ra-
tingagenturen. Die Unternehmen der Finanzbranche
werden künftig verpflichtet sein, stärker eigene und un-
abhängigere Einschätzungen in der Bonitätsprüfung
durchzuführen. Daraus resultieren künftig belastbarere
Urteile, die nicht nur dem Staat, sondern vor allem den
Unternehmen von großem Nutzen sein werden. Ihre Ri-
sikobewertungen stehen nunmehr auf festerem Funda-
ment.
Die unkritische und oftmals schematische Übernahme
der Ratings der Ratingagenturen – etwa zur Einstufung
der Bonitätsgewichtung der Kreditnehmer und Wert-
papiere – führte häufig zu erheblichen Fehleinschätzun-
gen von Ausfallrisiken. Die Folgen konnten wir alle
miterleben. Dieses Gefahrenpotenzial werden wir mit
dem vorliegenden Gesetz deutlich eindämmen.
Denn das ist eine der klaren Lehren aus den Gescheh-
nissen an den Finanzmärkten seit 2008. Die Finanzbran-
che muss in ihren eigenen Bewertungen und Urteilen
endlich wieder viel stärker eigene Einschätzungen in der
Bonitätsprüfung vornehmen, um unabhängiger Ausfall-
risiken beurteilen zu können. Es darf nicht sein, dass der
eine einfach das übernimmt, was der andere bereits vor-
formuliert hat. Die Gefahr von Kettenreaktionen war
und ist somit viel zu groß.
Oftmals wurden in der Vergangenheit Risiken viel zu
positiv eingeschätzt, häufig durch Interessenkonflikte
innerhalb der Finanzmärkte selbst. Von diesen Interes-
senkonflikten, die fast logischerweise aus den engen
Verflechtungen am Finanzmarkt resultieren, machen wir
die Finanzbranche nun unabhängiger.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem heute zu
beschließenden Gesetz ein gutes Stück vorankommen.
Mit den mittlerweile drei CRA-Verordnungen haben
wir auf europäischer und nationaler Ebene die Beauf-
sichtigung der Ratingagenturen verstärkt, mehr Transpa-
renz in den Ratings geschaffen, Interessenkonflikte deut-
lich gemildert. Jetzt sorgen wir endlich für noch mehr
Unabhängigkeit von den Urteilen der Ratingagenturen!
Ich will nicht verhehlen, dass auch wir uns sehr mit
dem Gedanken einer großen europäischen Ratingagentur
anfreunden konnten. Man muss sich aber auch eingeste-
hen, dass die Schaffung einer solchen Agentur bisher
nicht gelang. Übrigens nicht nur politisch. Auch die
Wirtschaft selbst vermochte es nicht, zu einer Lösung zu
kommen. Hier sollten wir den Gesprächsfaden nicht
abreißen lassen und langfristig weiter an dem Ziel fest-
halten.
Es hilft aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken.
Wir müssen über andere Wege mehr Nachvollziehbar-
keit, Transparenz und Unabhängigkeit in das Geflecht
der Finanzbranche bringen.
Ich denke, im Rahmen der sehr gut funktionierenden
großkoalitionären Zusammenarbeit tragen wir mit dem
heutigen Gesetz genau dafür Sorge. Deshalb wird die
SPD-Bundestagsfraktion diesem Gesetz zustimmen.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Mit der Entfesselung
der Finanzmärkte haben Ratingagenturen in den letzten
Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung gewonnen.
Ihr Urteil beeinflusst, zu welchen Konditionen ein Un-
ternehmen oder ein Staat an Kredite kommt. In vielen
Gesetzen ist geregelt, dass sich bestimmte Anleger nur
an Produkte mit einem bestimmten Rating halten dürfen,
etwa bei Versicherungen. Die Zentralbanken berufen
sich ebenfalls auf externe Ratings, wenn sie Finanzpro-
dukte bewerten, die sie als Sicherheiten hineinnehmen.
In der Finanzkrise hat sich deutlich gezeigt, dass die
Ratingagenturen vielfach versagt haben. Dies gilt in be-
sonderem Maß für sogenannte strukturierte Produkte,
also extrem komplizierte Finanzprodukte. Diese lassen
sich nicht seriös bewerten. Da die Ratingagenturen dafür
bezahlt wurden, haben sie es trotzdem gemacht, sich da-
mit eine goldene Nase verdient und Anleger in Scharen
in die Irre geführt. Als die Blase schließlich platzte, wur-
den angeblich hochsichere Papiere praktisch wertlos.
Aus diesem und anderen Beispielen ist bekannt, dass bei
den Agenturen die Zufriedenheit der Kunden an oberster
Stelle steht, nicht ein möglichst treffsicheres Urteil. Bei
Entwicklungsländern zeigte sich beispielsweise auch,
dass die entsprechenden Ratings von schlechter Qualität
waren – weil sich die Bewertung aus privatwirtschaftli-
cher Perspektive sonst zu wenig rentiert hätte.
Ratings sind, so die Ratingagenturen, im Grunde ge-
nommen private Meinungsäußerungen, die man schlecht
verbieten kann bzw. soll. Sie sind aber weit mehr als das,
denn die Verankerung von Ratings in Gesetzen verleiht
ihnen einen regulativen Charakter. Es ist leicht möglich,
den Markt für Ratings konsequenter zu regulieren und
vor allem die Verankerung von Ratings in Gesetzen zu
verringern. Die diesem Gesetz zugrunde liegende
Verordnung ist ein Schritt in diese Richtung. Weitere
Schritte sind nötig, denn viele starke Maßnahmen haben
den EU-Gesetzgebungsprozess nicht überlebt.
Die drei großen Ratingagenturen besitzen einen riesi-
gen Marktanteil und haben eine entsprechend große
Macht. Sie haben alle drei Wurzeln in den USA. Es gab
in den vergangen Monaten Versuche, ihnen eine große
private europäische Ratingagentur entgegenzusetzen.
Dies ist gescheitert, weil sich dafür nicht genügend
Geldgeber fanden. Wir waren immer schon der Mei-
5946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
nung, dass dies der falsche Ansatz gewesen ist. Denn für
den Aufbau einer neuen großen Agentur braucht man ei-
nen langen Atem, und zudem ist nicht gesichert, warum
eine private europäische Ratingagentur sich nicht ge-
nauso verhalten wird wie die vielfach kritisierten großen
Drei.
Deswegen halten wir die Gründung einer öffentlichen
europäischen Ratingagentur für den deutlich vielverspre-
chenderen Weg. Wir kennen viele öffentliche Finanz-
unternehmen, etwa die deutschen Sparkassen oder die
Kreditanstalt für Wiederaufbau, die sich sehr gut mit
Finanzgeschäften auskennen und entsprechend behaup-
ten. Dazu muss man auch Risiken bewerten können. Mit
der dafür notwendigen Ausstattung wird auch die öffent-
liche Ratingagentur kompetente Urteile treffen können.
Sie böte den Vorteil, dass sie aus dem jetzigen System
der privatwirtschaftlichen Ratings ausbrechen und unter
Zugrundelegung anderer Kriterien bewerten könnte.
Weitere stärkere Maßnahmen wären etwa das Verbot
von weiteren Übernahmen durch die großen Drei oder
stärkere Haftungsregeln. All dies steht unter dem Ziel,
die Dominanz der Finanzmärkte zu brechen und das Pri-
mat der Politik wiederherzustellen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
In der Theorie sind Ratingagenturen objektive Dritte:
Der Emittent entwickelt ein Produkt, die Ratingagentur
bewertet es, und der Investor wählt aus – unter angemes-
sener Zuhilfenahme der objektiven Bewertung. Die Re-
alität sieht freilich völlig anders aus: Die Ratingagentur
arbeitet häufig eng mit dem Emittenten zusammen, wird
von ihm bezahlt, verlässt sich auf die von ihm bereitge-
stellten Daten und hilft unter Umständen sogar bei der
Entwicklung der Produkte, die sie bewertet. Manche Ra-
tingagenturen bewerten Unternehmen, an denen sie oder
die an ihnen Anteile besitzen, oder Investoren besitzen
Anteile an der Ratingagentur und die von dieser Agentur
bewerteten Unternehmen. Investoren waren offenbar
nicht willens oder nicht in der Lage, diese engen Bezie-
hungen und die Interessenkonflikte, die dadurch entste-
hen, zu unterbinden. Trotz der Schwächen im Prozess
haben sie ihre Investitionsentscheidungen – zuweilen au-
tomatisch und oftmals ohne eigene Prüfung des Produkt-
risikos – auf Basis dieser Ratings getroffen.
Nun greift der Gesetzgeber ein, um die offensicht-
lichsten Probleme abzuschwächen: Unter anderem darf
eine Ratingagentur nicht länger als vier Jahre am Stück
für einen bestimmten Emittenten restrukturierter Finanz-
produkte tätig sein und unterliegt dann einer Sperrfrist.
Strukturierte Finanzprodukte müssen von mindestens
zwei Ratingagenturen bewertet werden. Anteile, die In-
vestoren, zu bewertende Unternehmen und Ratingagen-
turen aneinander halten, sogenannte Cross-Holdings,
sind auf bis zu 10 Prozent begrenzt. Diese Schritte sind
positiv zu bewerten, in ihrer Reichweite aber stark ein-
gegrenzt: Cross-Holdings sind nicht grundsätzlich ver-
boten, wichtige Regelungen beziehen sich nur auf das
Rating strukturierter oder restrukturierter Finanzpro-
dukte. Das grundsätzliche Prinzip, dass der Emittent für
die Bewertung zahlt, wurde nicht infrage gestellt.
Darüber hinaus werden regulatorische Anreize ge-
setzt, um den Wettbewerb auf dem Ratingmarkt zu erhö-
hen. Ob diese ausreichen, um die Marktmacht der drei
größten Ratingagenturen zu beschränken, wird sich zei-
gen müssen. Skepsis ist hier angebracht, denn ihr Repu-
tationsvorteil ist enorm. Auch die Effektivität von Haf-
tungsansprüchen, die Investoren in Zukunft bei grober
Fahrlässigkeit der Ratingagenturen geltend machen kön-
nen, wird sich erst mit der Zeit zeigen.
Doch selbst wenn aufgrund dieser Regelungen Ra-
tings tatsächlich realistischer würden, bliebe es ein Pro-
blem, wenn Investoren weiterhin einseitig auf externe
Ratings setzten. Es begünstigt Herdenverhalten und hat
in Krisenzeiten eine prozyklische Wirkung, wenn alle
sich auf dieselben wenigen Bewertungen beziehen. Hier
wird durch die Richtlinie und Verordnung auf europäi-
scher Ebene vorgeschrieben, dass bestimmte Investoren
auch interne Modelle zur Risikobewertung entwickeln
müssen, externe Ratings nicht mehr automatisch die In-
vestitionsentscheidung bestimmen dürfen und ihre Be-
nutzung bis 2020 auch nicht mehr regulatorisch vorge-
schrieben sein darf.
Die Regulierungsbemühungen sind zu begrüßen, aber
ihre Wirkung wird begrenzt sein. Tritt man einen Schritt
zurück, kann man sich fragen, warum der Gesetzgeber
sich der Ratingproblematik überhaupt annehmen muss.
Müssten nicht Investoren das größte Interesse daran ha-
ben, dass die Ratings, die sie für die Bewertung des
Risikos ihrer Investitionen zurate ziehen, auf nachvoll-
ziehbare und sinnvolle Weise zustande kommen? Aus
Investorensicht ist es eine feine Sache, sich auf externe
Ratings zu verlassen: Diejenigen sollen das Risiko einer
Investition beurteilen, die es aufgrund ihrer Erfahrung
vermeintlich besonders gut beurteilen können; erweist
sich die Beurteilung im Nachhinein als falsch, kann der
Investor auf die falsche Bewertung durch die Agentur
verweisen, und haben seine Peers sich auf dieselbe Ra-
tingagentur verlassen, steht er im Vergleich auch nicht
schlechter da. Hier ist auch ein Umdenken bei Investo-
ren erforderlich, denn die Qualität des Bewertungspro-
zesses sollte ihnen deutlich stärker am Herzen liegen, als
sie es bisher getan hat. Eigene Bewertungsmodelle zu
entwickeln und die Abhängigkeit von Ratingagenturen
zu verringern, ihre Haftungsansprüche bei Fahrlässigkeit
geltend zu machen und im Zweifelsfall lieber eine über
jeden Interessenkonflikt erhabene Ratingagentur zu
wählen – auch wenn sie unbekannt ist –, sollten Investo-
ren nicht nur aufgrund der neuen Regelungen auf euro-
päischer und nationaler Ebene erwägen, sondern auch
aus Eigeninteresse.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz
für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19)
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Dass uns ausgerech-
net die Fraktion Die Linke hier einen Antrag zur
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5947
(A) (C)
(D)(B)
Dopingbekämpfung vorlegt, kann nicht ohne einen
grundlegenden Widerspruch hingenommen werden.
Wir verfolgen in diesen Wochen aus Anlass der Re-
gierungsbildung in Thüringen ein peinliches Schauspiel
um die Frage, ob die Linke gerade angesichts von
25 Jahren Mauerfall bereit ist, die DDR als das zu be-
zeichnen, was sie war, nämlich ein Unrechtsstaat. Zu
diesem Unrechtsstaat hat auch ein staatlich verordnetes
Doping gehört, dem bis heute Menschen zum Opfer fal-
len, wenn man allein nur an das traurige Schicksal des
Gewichthebers Gerd Bonk erinnert. Deswegen sage ich:
Wer nicht klar als Partei seine eigene Geschichte aufar-
beitet und die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet und
sich insofern auch nicht klar vom staatlich verordneten
Doping der DDR distanziert, der hat jede Glaubwürdig-
keit verloren, uns hier mit Belehrungen zu kommen, wie
ein Anti-Doping-Gesetz aussehen sollte.
Es ist völlig richtig: Auch in Westdeutschland hat es
Doping gegeben, vor allem gesteuert durch Sportmedizi-
ner der Freiburger Uniklinik. Deswegen ist dort eigens
eine Kommission zur Geschichte der Freiburger Sport-
medizin eingesetzt worden. Und hier kommen wir nun
zur zweiten Oppositionsfraktion, den Grünen. Das hat
auch mit einer entschlossenen Aufarbeitung bundesdeut-
scher Dopingvergangenheit wenig zu tun, was sich die
zuständige Wissenschaftsministerin der Grünen in Ba-
den-Württemberg, Frau Bauer, da gerade erlaubt. Ich
finde es abenteuerlich, dass sie sich dazu verstiegen hat,
der Kommissionsvorsitzenden, Letizia Paoli, einer aner-
kannten Expertin, vorzuwerfen, die Veröffentlichung der
Kommissionsergebnisse zu konterkarieren. Bevor uns
die Grünen hier gleich mit Belehrungen zum Anti-
Doping-Kampf kommen, sollten sie erst einmal in den
eigenen Reihen für entschlossenes Handeln sorgen. Das
ist umso bemerkenswerter, als ja auch unser früherer
Kollege aus dem Sportausschuss, Winfried Hermann,
Mitglied der Landesregierung in Baden-Württemberg
ist, der sich zu seinen Bundestagszeiten als oberster
Dopingjäger geriert hat. In der Opposition dicke Backen
machen und, wenn man in Regierungsverantwortung ist,
aus dem letzten Loch pfeifen, das ist keine überzeugende
Sportpolitik.
Der Antrag der Linken zeichnet auch ein Zerrbild des
Sports in Deutschland. Natürlich müssen wir entschlos-
sen gegen Doping kämpfen, weil es blauäugig wäre, zu
leugnen, dass Doping auch heute noch für den Sport in
Deutschland eine Bedrohung darstellt. Aber es sind nun
nicht – wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben – krimi-
nelle Netzwerke oder sogar die organisierte Kriminalität
im großen Stil am Werk.
Gleichwohl: Jeder Einzelfall, bei dem es zu Doping
kommt, ist einer zu viel. Das gilt umso mehr, als wir
doch immer stärker spüren, dass dem Sport in Deutsch-
land und einzelnen Sportlern eine große gesellschafts-
politische Bedeutung zukommt. Wir haben erst vor
kurzem im Sportausschuss ausführlich darüber gespro-
chen, welche vielfältige Integrationskraft der Sport hat.
Das gilt sowohl für Menschen mit Migrationshinter-
grund wie auch für Menschen mit Behinderungen.
Sportliche Großveranstaltungen wie Fußballweltmeister-
schaften oder Olympische Spiele versammeln wie sonst
kaum ein gesellschaftliches Ereignis Arm und Reich,
Männer und Frauen, Ältere wie Jüngere vor dem Fernse-
her oder in den Stadien. Für viele Jungen und Mädchen
sind Sportidole Vorbilder, denen sie nacheifern, die zum
Teil auslösendes Moment dafür waren, im Verein wett-
kampfmäßig Sport zu betreiben. Diese jungen Menschen
glauben an die Integrität des Sports. Es würde die Bereit-
schaft, Sport zu betreiben, damit zum Beispiel auch Ge-
sundheitsvorsorge zu leisten, nachhaltig erschüttern,
wenn wir in Deutschland immer wieder Fälle von promi-
nenten Sportlern hätten, die des Dopings überführt wür-
den. Angesichts dieser überragenden gesellschaftlichen
Bedeutung des Sports hat sich die Koalition entschieden,
Doping auch mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämp-
fen. Dazu werden der Bundesjustiz- und der Bundesin-
nenminister in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, den
wir dann ausführlich mit allen Betroffenen aus dem
Sport hier im Parlament eingehend beraten werden.
Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß um die
Abläufe und kennt die ersten Formulierungen des Refe-
rentenentwurfs. Auch deshalb hätte es des Antrags der
Linken nicht bedurft, weil die Dinge bereits alle auf
einem guten Weg sind.
Guter Weg heißt vor allem, dass wir durch die Ent-
scheidung, auch mit den Mitteln des Strafrechts gegen
Dopingsünder vorzugehen, auf keinen Fall die vorgela-
gerte Sportgerichtsbarkeit schwächen dürfen. Wenn
Dopingvergehen vorliegen, dann muss schnell gehandelt
werden, um auch schnell die Integrität des sportlichen
Wettbewerbs wiederherzustellen. Das kann nur durch die
Sportgerichtsbarkeit und den Grundsatz der „strict liabi-
lity“, also der verschuldensunabhängigen Haftung, im
Sport geschehen. Wer im Sport Dopingsubstanzen im
Körper hat, wird gesperrt. Dieser Grundsatz muss weiter
gelten, und es muss auch eine Rechtsgrundlage für ent-
sprechende Athletenvereinbarungen geben.
Im Strafrecht muss dann die Absicht hinzukommen,
sich durch den Einsatz von Dopingmitteln im sportlichen
Wettbewerb einen Vorteil verschaffen zu wollen. Diese
Absicht müssen Polizei und Staatsanwaltschaft dem
Täter nachweisen. Das kann dauern, und es wäre ein
unhaltbarer Zustand, dass der Sport möglicherweise
langjährige staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Ver-
fahren abwarten müsste, bevor er einen gedopten Sport-
ler aus dem Wettbewerb nehmen dürfte. Man muss auch
ganz klar betonen, dass es durchaus Fälle geben kann, in
denen eine sportrechtliche Strafe ausgesprochen wurde,
es für eine strafrechtliche Verurteilung aber nicht aus-
reicht, weil zwar die Verwirklichung des objektiven,
nicht aber des subjektiven Tatbestands nachgewiesen
werden kann. In solchen Fällen darf es natürlich nicht
dazu kommen, dass ein Sportler etwa Schadensersatzan-
sprüche geltend machen kann. Aus generalpräventiven
Gründen setzt der Staat hier lediglich das scharfe
Schwert des Strafrechts ein, um vorsätzlich verübte
Straftaten tatangemessen zu bestrafen. Bei der Einnahme
von Dopingmitteln aus Unkenntnis, etwa über die Zu-
sammensetzung von Nahrungsergänzungsmitteln, wird
man zwar zu einer sportrechtlichen Sperre kommen,
wahrscheinlich aber eine strafrechtliche Sanktion nicht
5948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
verhängen können. Auf diesen Unterschied wird man die
Öffentlichkeit immer wieder aufmerksam machen müs-
sen.
Wir müssen außerdem sehr präzise benennen, wer
Adressat einer Strafnorm sein soll. Das kann vor dem
Hintergrund, dass wir das Rechtsgut der Integrität des
sportlichen Wettbewerbs schützen wollen, natürlich nur
der sein, der in diesen Wettbewerb auch tatsächlich ein-
greifen kann. Das bedeutet konkret, dass natürlich nicht
jeder Teilnehmer am Berlin-Marathon Normadressat
sein kann. Sondern es macht Sinn, etwa die Teilnehmer
am Testpool der NADA oder solche Sportler als mögli-
che Täter zu identifizieren, die in erheblichem Umfang
ihren Lebensunterhalt durch Einnahmen aus dem Sport
finanzieren.
Am Ende brauchen wir ein Gesetz, das etwas bringt,
und nicht ein Gesetz, das nur gut klingt. Insofern müssen
wir uns gerade im Bereich des Selbstdopings auf Tat-
bestandsmerkmale und entsprechende Formulierungen
verständigen, die dazu führen, dass die sportrechtliche
und die strafrechtliche Sanktion nicht zu sehr auseinan-
derfallen. Das würde die Glaubwürdigkeit unseres Ge-
setzes nur unnötig relativieren.
Gestatten Sie mir am Ende eine persönliche Anmer-
kung: Wenn wir die Integrität des sportlichen Wett-
bewerbs umfassend schützen wollen, dann dürfen wir
uns nicht allein auf die Bekämpfung des Dopingmiss-
brauchs konzentrieren. In einem ernstzunehmenden
Umfang erreichen uns aus dem Sport immer wieder
Hinweise, dass auch die Spielmanipulation geeignet ist,
den fairen Wettbewerb auszuhebeln. Insofern würde ich
mich persönlich freuen, wenn wir uns in einem Gesetz
zum Schutz der Integrität des Sports nicht nur den
Kampf gegen Doping, sondern auch den Kampf gegen
die Spielmanipulation vornehmen würden.
Johannes Steiniger (CDU/CSU): Zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke „Anti-Doping-Gesetz für den
Sport vorlegen“ lässt sich zuallererst einmal sagen:
Fakt ist: Wie im Koalitionsvertrag von CDU/CSU
und SPD vereinbart, wird derzeit gerade ein solches Ge-
setz zur Bekämpfung von Doping im Sport auf den Weg
gebracht. Es stellt sich daher für mich die Frage, ob Ihr
Antrag, wie Sie ihn hier vorstellen, nur dem Schaufens-
ter dient.
Denn ein entsprechender Referentenentwurf aus den
Bundesministerien für Inneres und Justiz liegt bereits
vor. Hierüber wird im Sport derzeit schon beraten. Die
positive Presseresonanz und die ersten Bewertungen
durch Athletinnen und Athleten sind ein gutes Signal für
die breite Akzeptanz des geplanten Gesetzes.
Ein solches Gesetz, sehr geehrte Damen und Herren
der Fraktion Die Linke, darf allerdings kein Schuss aus
der Hüfte sein; es muss vielmehr sorgfältig abgewogen
und umfassend beraten werden. Das gilt vor allem des-
halb, weil es wichtig ist, den Sport selbst zum Gesetzent-
wurf maßgeblich zu hören. Und der organisierte Sport,
vertreten durch den Deutschen Olympischen Sportbund,
besteht alleine schon aus 62 olympischen und nicht-
olympischen Spitzenverbänden.
Die politische Willensbildung ist daher komplex. Ziel
muss sein, dass die „große deutsche Sportfamilie“ ein
Gesetz zur Bekämpfung von Doping mit seinen weitge-
henden Regelungsbereichen – auch im Zusammenspiel
mit der Sportgerichtsbarkeit – nachhaltig trägt. Gerade
dieses Spannungsfeld darf nicht ignoriert werden. Hier
gilt also, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Frak-
tion Die Linke: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Den-
noch gibt es für die Gesetzesinitiative der Bundesregie-
rung einen ambitionierten, klaren Fahrplan: Im nächsten
Jahr genau um diese Zeit soll die jetzige Initiative bereits
im Gesetzblatt stehen.
Kern des geplanten Gesetzes ist es, Doping als eige-
nen Straftatbestand zu führen. Zum Arzneimittelgesetz
und zur Arbeit der Sportgerichte wäre das eine wichtige
Ergänzung.
Ziel ist es, die Integrität des Sports zu gewährleisten
und nachhaltig zu sichern. Denn gerade der Sport hat
eine hohe Strahlkraft. Sport steht für Fairness, Chancen-
gleichheit und Wettbewerb. Und Sport bedeutet, dass
große Erfolge durch Anstrengung und Leistung erzielt
werden. Ganz wichtig ist dabei die Vorbildfunktion der
Spitzenathletinnen und -athleten für den Nachwuchs.
Wenn hier Doping im Spiel ist, hat es fatale Wirkungen.
Darüber hinaus kann durch Doping eine ganze Sport-
art kaputtgemacht werden. Schauen wir uns nur die Pro-
bleme im Radsport an. Eine Tour de France war einmal
ein Megaevent; heute hat der Radsport große Mühen,
sich vom Dopingimage zu erholen.
Bei Betrachtung einer Studie der Deutschen Sport-
hilfe und der Deutschen Sporthochschule vom Januar
2013 wird klar, dass Handlungsbedarf besteht. Die Er-
gebnisse der Studie, basierend auf einer anonymen Be-
fragung, sind erschreckend: So gaben 6 Prozent der be-
fragten Kaderathleten an, regelmäßig zu dopen.
Wir erwarten uns als CDU/CSU-Fraktion vor dem
Hintergrund dieser alarmierenden Zahlen durch den Ge-
setzentwurf und die hohe Strafandrohung, mit Haftstrafe
bis zu drei Jahren, eine stärkere Drohkulisse.
In diesem Zusammenhang kann ich es nicht nachvoll-
ziehen, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei, zwar zu einer ähnlichen Problemanalyse
kommen, aber beim Thema Belegung mit Strafe ledig-
lich „vorrangig Geldstrafen“ fordern. Gerade eine mit-
unter hohe Strafandrohung soll schließlich abschrecken.
Sie begründen das Absehen von härteren Strafen un-
ter anderem mit „viel Unkenntnis über die Gefahren von
Doping“, was aus unserer Sicht schlicht falsch ist. Bei
Spitzensportlern und Profis dreht sich schließlich der ge-
samte Tagesablauf um Sport und Ernährung. Vielmehr
ist Doping noch immer viel zu verlockend. Das Risiko,
erwischt zu werden, ist für viele offenbar überschaubar.
Durch eine Aufhängung von Doping im Strafgesetz
wird es weitaus stärkere Möglichkeiten der Handhabe
gegen Dopingsünder geben. Es lassen sich bei Ermitt-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5949
(A) (C)
(D)(B)
lungen alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung aus-
schöpfen.
Breitensportler sind bewusst ausgenommen. Ziel des
Gesetzes ist es ausdrücklich nicht, den Sport zu krimina-
lisieren. Dabei sind zwei Kriterien wichtig, nämlich dass
es sich im Anwendungsbereich um Kaderathleten han-
delt oder nennenswerte Einnahmen mit dem Betreiben
des Sports erzielt werden. Dieser Punkt ist deshalb von
Bedeutung, da auch die immer beliebter werdenden
sportlichen Großereignisse jenseits des organisierten
Sports, etwa ein Stadtmarathon mit hohen Preisgeldern,
in besonderem Maße fair bleiben müssen.
Es ist richtig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Die Linke, wenn Sie sagen, das gesamte
Umfeld der Athleten muss beim Thema Doping in die
Pflicht genommen werden. Die Gesetzesinitiative von
BMI und BMJV sieht dies auch vor, sodass etwa Trainer
und Betreuer bei aktiver Unterstützung strafbar handeln.
Besonders mit Blick auf die deutsche Olympiabewer-
bung halte ich das geplante Gesetz für sehr wichtig. Bei
internationalen Sportgroßereignissen ist die mediale
Aufmerksamkeit bei einem konkreten Dopingfall enorm.
Im Lichte dieses Scheinwerfers ist die Integrität des
Sports insgesamt schnell gefährdet.
Es geht in der Gesetzesinitiative der Bundesregierung
genau um diese so zentrale Integrität des Sports. Es ist
wichtig, dass der Gesetzgeber zu seinem schärfsten
Schwert, nämlich dem Strafrecht, greift, um bei Regel-
verstoß ein klares Zeichen zu setzen und den sauberen
Sport zu schützen.
Michaela Engelmeier (SPD): Wir beraten heute
also den Antrag der Linken, und ich muss zugeben: Als
ich den Titel des Antrags, „Anti-Doping-Gesetz für den
Sport vorlegen“, zum ersten Mal las, da musste ich
schon schmunzeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, seien Sie versichert: Das läuft! Wissen Sie
auch, warum? Weil viele Mitglieder dieses Hohen Hau-
ses – ganz besonders aus der SPD, die es im Koalitions-
vertrag verankert hat – ausdauernd und erbittert für ein
solches Gesetz gekämpft haben. Ein Gesetz, das genau
jene Ziele erfüllt, die Sie in Ihrem Antrag aufgeschrie-
ben haben: Sie wollen „Sportlerinnen und Sportler sowie
den freien Wettbewerb im Sport vor unlauteren Mani-
pulationen in Form von Doping ... schützen“, und Sie
wollen „die Autonomie des Sports“ berücksichtigen.
Als sportpolitische Sprecherin meiner Fraktion kann
ich Ihnen sagen: Ja, das wollen wir auch. Mir fallen da
einige Kolleginnen und Kollegen ein, die – schon länger
als ich – hier im Haus genau dafür eintreten, ja regel-
recht kämpfen. Und nicht nur in der Politik, auch in der
Gesellschaft treffen diese Ziele auf eine breite Zustim-
mung. Doch geht es eben nicht nur darum, was wir wol-
len, sondern auch darum, wie wir es erreichen möchten.
Die Werte des Sports – und das ist für mich als Sport-
lerin keine Floskel – sind Fairness, Respekt und Tole-
ranz. Aber die Werte sind auch das Bewusstsein für und
die Achtung vor Gesundheit. Um diese Werte zu schüt-
zen, bedarf es einer leidenschaftlichen Kraftanstrengung.
Es ist die Aufgabe der Politik, dies zu leisten. Sport und
Politik sind sich dabei sehr ähnlich. Im Sport muss man
konzentriert und leidenschaftlich für das Team und die
Ziele, die man verfolgt, eintreten. Geduld und Ehrgeiz
sind dazu ebenso notwendig wie Sachkenntnis und der
Wille, sich weiterzuentwickeln.
Und Politik? Der berühmte Soziologe Max Weber
meinte: „Politik bedeutet ein starkes und langsames
Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und
Augenmaß zugleich.“ Das gilt meines Erachtens auch
für den Sport und ganz besonders für die Sportpolitik.
Das harte Brett – das Anti-Doping-Gesetz – kann nur
durch leidenschaftlichen Einsatz und mit zuverlässiger
Sachkenntnis gebohrt werden.
Doch leider fehlt dem Antrag der Linken genau das:
Augenmaß und Leidenschaft. Denn einige Forderungen
sind teilweise etwas realitätsfern: Da soll die NADA
eine Zusammenfassung der negativen Auswirkungen
von Arzneimitteln zum Muskelaufbau herausgeben. Und
alle Sportvereine, Sporteinrichtungen und Fitnessstudios
werden verpflichtet, Ausdrucke dieser Zusammenfas-
sungen anzubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wie
darf ich mir das denn in der Praxis vorstellen? Wer be-
zahlt das, und vor allem wer soll das denn kontrollieren –
macht das Herr Gysi persönlich? Im besten Fall kommt
dabei so etwas heraus wie bei den Jugendschutzgesetz-
tafeln; die hängen in üblen Spelunken, übrigens gerne
einmal in der Ecke hinter dem Feuerlöscher.
Es ist die Aufgabe der Sportpolitik, den Sport kon-
struktiv und kritisch zu begleiten. Nicht den Sport zu
regeln, sondern einen rechtlichen Rahmen zu schaffen,
der es dem Sport überhaupt erst ermöglicht, seine Auto-
nomie und seine Integrität zu wahren. Dafür, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken, ist einiges nötig
von dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben.
Und – hören Sie genau hin – ich teile Ihre Ziele! Doch
muss ich Ihnen leider sagen: Wir setzen diese Ziele bes-
ser um. Ich möchte heute nichts vorwegnehmen, doch
ich kann Ihnen versichern, da kommt etwas auf Sie zu.
Sie fordern die Definition von Doping, Dopingmitteln
und Dopingmethoden. Das regeln wir! Man kann das
übrigens recht aktuell gestalten, indem die Definition
einfach aus dem Internationalen Übereinkommen gegen
Doping im Sport übernommen wird. Aber das brauche
ich Ihnen ja nicht zu sagen. Sie fordern ein gutes Anti-
Doping-Gesetz, das den genauen Adressatenkreis be-
nennt und die Straftatbestände festlegt. Das regeln wir!
Wir wollen aber noch mehr. Wir möchten ein Gesetz,
das die konkrete Anwendung von Doping unter Strafe
stellt und eine Dopingprävention ermöglicht. Darüber
hinaus müssen aber auch die Produktion und der Handel
von Dopingmitteln beachtet werden.
Leidenschaft und Augenmaß, nur so werden die
dicken Bretter der Politik gebohrt, nur so kommen wir
zu einem differenzierten und ausgewogenen Anti-
Doping-Gesetz.
5950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Für ein solches Gesetz streitet die SPD-Bundestags-
fraktion schon lange mit Leidenschaft und Augenmaß.
Und dieses Gesetz, das wird kommen!
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Über die Doping-
praktiken im Leistungssport der DDR ist in den Jahren
nach 1990 umfänglich berichtet worden, und daran, dass
es in vielen, insbesondere den olympischen Sportarten
ein organisiertes und politisch gestütztes Dopingsystem
gegeben hat, gibt es heute keine ernsthaften Zweifel
mehr. Dieser Teil der deutschen Sportgeschichte wurde
in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbei-
tet – was notwendig war –, er wurde aber leider häufig
auch politisch instrumentalisiert. Ja, in der DDR wurde
gedopt, aber dennoch wurde die Mehrzahl der sportli-
chen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was
bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt.
Gedopt wurde – und auch das wird heute niemand
mehr leugnen – auch in Westdeutschland, wenn auch
vielleicht nicht im gleichen Umfang.
„Wie nah war die BRD der DDR?“ So titelte der Ber-
liner Tagesspiegel im Mai 2007 seinen Bericht über sys-
tematisches Doping im westdeutschen Radsport und die
darin nach Aussagen des Olympia-Arztes Georg Huber
offenbar verwickelten Sportmediziner der Universitäts-
klinik in Freiburg.
Der heutige Bundesfinanzminister Schäuble soll laut
der früheren ARD-Sendung Kontraste schon 1977 hin-
sichtlich der damals längst verbotenen Anabolika geäu-
ßert haben: „Wir wollen solche Mittel nur eingeschränkt
und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es of-
fenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz
dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der
Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.“
Bei der Einweihung des Medizinischen Zentrums
1976 in Freiburg machte auch der damals für den Leis-
tungssport zuständige Vertreter im Bundesinnenministe-
rium, Gerhard Groß, im Südwestfunk brisante Aussagen.
An den Sportmediziner Joseph Keul gewandt, sagte der
damals unter Minister Maihofer tätige Groß: „Wenn
keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit her-
beigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für
vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grund-
sätzlich diese Auffassung. Was in anderen Staaten er-
folgreich als Trainings- und Wettkampfhilfe erprobt
worden ist und sich in jahrelanger Praxis ohne Gefähr-
dung der Gesundheit der Athleten bewährt hat, kann
auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden.“
Das hören heute manche nicht gern, die offenbar noch
immer in Zeiten des Kalten Krieges verhaftet sind und in
erster Linie eine Abrechnung mit der DDR betreiben
wollen; aber die Fakten sprechen eine klare Sprache.
2013 kam dann auch eine Studie der Berliner
Humboldt-Universität zu dem Schluss: Doping mit wis-
senschaftlicher Unterstützung und aus politischen Moti-
ven hat es auch in Westdeutschland gegeben. Die soge-
nannte Steiner-Kommission hat diesen Befund bestätigt.
Namen und Fakten, Ross und Reiter wurden allerdings
nicht geliefert, während Verantwortliche aus DDR-Zei-
ten in den 90er-Jahren nicht nur benannt, sondern zum
Teil auch strafrechtlich verfolgt wurden.
Von wirklich gleichberechtigter Aufarbeitung kann
also keine Rede sein, und leider fehlt ja auch noch im-
mer eine ganz wichtige Untersuchung, nämlich die des
Zeitraums seit 1990. Wir als Linke plädieren ganz nach-
drücklich dafür, dass die Studie der Humboldt-Universi-
tät noch um diesen Komplex ergänzt wird.
Ich habe eingangs die Uni in Freiburg erwähnt. Die
heutige Debatte kann logischerweise auch nicht losge-
löst von der derzeit tobenden Auseinandersetzung um
die Fortführung der Arbeit der dort eingesetzten Aufklä-
rungskommission und die Versuche der Universitätslei-
tung, deren vollständigen Abschluss zu be-, wenn nicht
gar zu verhindern, geführt werden. Dabei wird offenbar
sogar in Kauf genommen, dass die in den letzten Jahren
akribisch zusammengetragenen Daten und Akten wo-
möglich sogar vernichtet werden. Für die Linke sage ich
hier klar und deutlich: Das darf nicht passieren! Die
Kommission muss ihre Arbeit geordnet zu Ende führen
und die Ergebnisse öffentlich präsentieren können. Und
wenn das Gremium erst vor wenigen Tagen neue Unter-
lagen im Umfang von über 18 000 Seiten über das Wir-
ken einer zentralen Figur der mutmaßlichen Dopingakti-
vitäten der Freiburger Medizinfakultät erhalten hat, dann
müssen die Mitglieder diese natürlich auch auswerten
und in den Abschlussbericht einarbeiten können. Alles
andere wäre ja geradezu absurd.
Wenn nun seitens des Rektorats ein unverzüglicher
Abschluss der Überprüfung gefordert wird, dann drängt
sich der Verdacht auf, dass hier etwas vertuscht werden
soll. Ich bin insofern der baden-württembergischen Wis-
senschaftsministerin Bauer sehr dankbar, dass sie sich
klar für eine gründliche Aufarbeitung ohne Druck ausge-
sprochen hat.
Der Blick zurück ist wichtig. Noch wichtiger aber ist
die Auseinandersetzung mit Dopingpraktiken heute und
mit präventiven Maßnahmen für morgen. Diesem Ziel
dient der von meiner Fraktion vorgelegte Antrag.
Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmen-
kataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle waren
letztlich nur mäßig erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht
der Linken nun endlich entschlossen gehandelt werden.
Das hat ja offenbar auch die die Regierung tragende
Mehrheit erkannt, weshalb im Koalitionsvertrag die Ver-
abschiedung eines Anti-Doping-Gesetzes ausdrücklich
verankert ist. Innenminister de Maizière hatte im Sport-
ausschuss avisiert, dass ein entsprechender Gesetzent-
wurf bis zur Sommerpause vorliegen würde. Geliefert
hat er nicht. Bislang kursiert lediglich ein Referentenent-
wurf, der viele vernünftige Punkte enthält, bei dem aber
völlig unklar ist, ob er in der Koalition und insbesondere
in der CDU/CSU-Fraktion auch nur ansatzweise mehr-
heitsfähig ist. Deshalb stellen wir nunmehr hier im Bun-
destag einen eigenen Antrag zur Diskussion.
Für uns steht fest: Doping gefährdet die Gesundheit
und ist eine Gefahr für den Sport als solchen und die
Werte, die durch ihn in die Gesellschaft transportiert
werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Do-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5951
(A) (C)
(D)(B)
ping im Sport noch deutlich wirksamer als bisher zu be-
kämpfen.
Zu den Vorschlägen der Linken gehören die Einfüh-
rung eines neuen Straftatbestandes „Sportbetrug“ in das
Strafgesetzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvor-
schriften für den Handel mit Dopingmitteln sowie der
Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die
nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren.
Pharmazeutische Unternehmen sollen verpflichtet wer-
den, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind,
entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen an-
zubringen. Für den Schutz von Whistleblowern wollen
wir bereichsspezifische Regelungen schaffen.
Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfte
Sanktionen für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler
vorgeschlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betrei-
ben, sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbe-
werb zu verschaffen. Für diesen Sportbetrug sollen bei
Wiederholungstätern auch Freiheitsstrafen verhängt wer-
den können. Die Geldbußen sollen sich jeweils an der
Höhe der direkt oder mittelbar durch den Sport erzielten
Einnahmen orientieren, können also wie Gehalt, Sieg-
prämien und Werbeverträge von Sportart zu Sportart
durchaus unterschiedlich sein. Der Besitz nicht geringer
Mengen an Dopingmitteln soll künftig unter Strafe ge-
stellt werden. Bereits vorhandene Regelungen, zum Bei-
spiel aus dem Arzneimittelgesetz, AMG, sollen zusam-
mengefasst und angepasst werden.
Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem
Anti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aus-
höhlung der Sportgerichtsbarkeit. Beides kann problem-
los nebeneinander funktionieren. Die Verbände können
bei Dopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen
vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen. Bei gra-
vierenden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder
bei Wiederholungstätern kann aber künftig auch die
Staatsanwaltschaft tätig werden.
Das ist im Übrigen auch keine unzulässige Doppelbe-
strafung, denn schon heute wird ein Fußballprofi gemäß
Regelwerk nach einer Tätlichkeit vom Platz gestellt und
entsprechend gesperrt, und darüber hinaus kann es den-
noch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung
geben. Bei Sportlern am Ende ihrer Karriere können
Sperren sogar gänzlich ins Leere gehen, wenn sie ein-
fach ihre Laufbahn beenden. Gerade auch hier erhöht
eine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entspre-
chender Mittel zu bedienen.
Darüber hinaus muss aus unserer Sicht die Unabhän-
gigkeit und angemessene finanzielle Förderung der Na-
tionalen Anti Doping Agentur, NADA, dauerhaft sicher-
gestellt werden, damit auch die Kontrolldichte erhöht
werden kann.
Zu den Präventionsmaßnahmen sollen Aufklärungs-
aktivitäten im Jugend- und Nachwuchssport sowie im
Fitnesssport sowie die Aus- und Weiterbildung der in die-
sem Umfeld tätigen Personen über die Wirkungen von
anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und
sporttypischen Aufbaupräparaten sowie die Einrichtung
einer unabhängigen Ombudsstelle gehören.
Der vorliegende Antrag zielt hinsichtlich der straf-
rechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Dopingan-
wendung im Hochleistungssport, nicht aber auf gesund-
heitliche Gefährdungen durch die Einnahme verbotener
Substanzen, wie zum Beispiel von Anabolika in Fitness-
studios. Das kann weder in einem Gesetz geregelt noch
wirksam kontrolliert werden.
Mit unserem Antrag wollen wir als Linke konstruk-
tive Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten
und freuen uns auf die Debatte im Fachausschuss.
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin
mir sicher, dass wir über alle Fraktionen hinweg überein-
stimmen: Der Kampf gegen Doping ist eines der zentra-
len Themen im Sport. Gleichzeitig bestimmt Doping
auch viele Diskussionen im Spitzensport. Schauen Sie
auf den internationalen Radsport, wo trotz der Do-
pingskandale und der gefallenen Radsporthelden wie
Armstrong munter weitergedopt wird.
Mitte Oktober standen 112 Profifahrer auf der Sperr-
liste des Weltverbandes UCI und die Dunkelziffer wird
weit höher sein. Und mit dem Rugby kommt ganz ak-
tuell eine weitere Mannschaftssportart in Frankreich und
Kanada in die Diskussion. Vielleicht sollten wir uns
auch den Fußball genauer anschauen. Jedenfalls ist ein
Anti-Doping-Gesetz überfällig.
Auch in diesem Bereich hat die Bundesregierung viel
angekündigt, hier warten wir auf die Lieferung. Es ist
doch mehr als peinlich, sich vom Chef der US-Antido-
pingbehörde Trevis Tygart belehren lassen zu müssen,
wie der Kampf gegen Doping in Deutschland geführt
werden müsste. Das Schlimme ist doch, dass er in der
Analyse recht hat und dass unsere Anstrengungen nicht
weit genug gehen.
Dieser mangelnde Wille in Deutschland zeigt sich
zum Teil auch im Umgang mit der Dopingvergangenheit
unseres Landes. Die Opfer des systematischen Dopings
in der DDR werden weiterhin mit den gesundheitlichen
Folgen alleinegelassen, und es gibt keine Anzeichen,
dass sich etwas grundsätzlich an dieser Haltung ändert.
Aktuelles Beispiel Freiburg: Hier scheint die Arbeit ei-
ner wichtigen Kommission zur Aufarbeitung der Do-
pingforschung in Westdeutschland durch die betroffene
Universitätsklinik behindert zu werden. Das darf nicht
hingenommen werden. Also, wo bleibt die Initiative der
Bundesregierung in der Anti-Doping-Gesetzgebung? Ich
bin gespannt, ob sich bis zum Ende der Wahlperiode et-
was tut – nötig ist es längst.
Inhaltlich möchte ich dafür werben, den Zweck eines
Anti-Doping-Gesetzes auf den Schutz der Sportlerinnen
und Sportler und des Wettbewerbs im Sport vor unlaute-
ren Manipulationen auszurichten. Die Einführung einer
Besitzstrafbarkeit und die Ausrichtung des Gesetzes-
zwecks auf die Gesundheit der Sportlerinnen und Sport-
ler sind nicht auf der Höhe der Zeit. Vor allem ist es auch
höchst fragwürdig, der mit der Einnahme von Doping-
mitteln verbundenen Eigengefährdung mit den Mitteln
des Strafrechts zu begegnen.
5952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Und bezüglich der Meldepflichten der Sportlerinnen
und Sportler braucht es eine eindeutige Rechtsgrund-
lage. Dabei darf es nicht nur um die Verpflichtung der
Sportlerinnen und Sportler gehen, jederzeit ihren Auf-
enthaltsort der NADA mitzuteilen, sondern dies auch da-
tenschutzrechtlich abzusichern. Denn wenn wir schon
auf der einen Seite die Strafbarkeit deutlich verschärfen,
müssen wir wenigstens diskutieren und Wege aufzeigen,
wie im Gegenzug das Recht der Sportlerinnen und
Sportler auf Privatsphäre gestärkt werden müsste.
Wir sind nicht der Auffassung, dass Sportlerinnen und
Sportler völlig rechtlos gestellt werden dürfen.
Wir sollten uns aber auch fragen, ob wir nicht auch
die Fördermechanismen des Leistungssports und die
wieder stärker diskutierte Ausrichtung auf Medaillen
überdenken müssen.
Denn wenn wir davon ausgehen – und meiner Ein-
schätzung nach müssen wir dies –, dass im internationa-
len Spitzensport Doping leider nicht die absolute Aus-
nahme, sondern eher die Regel ist, wird eine einseitige
Ausrichtung der Sportförderung auf Medaillen nicht für
weniger Doping im Sport sorgen.
Ich freue mich auf unsere kommenden Diskussionen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes
(Tagesordnungspunkt 20)
Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Im
letzten Jahr mussten zahlreiche Betriebsleiter den Äm-
tern Auskunft über Ihre Betriebs- und Produktionsstruk-
turen erteilen. Für den einzelnen Landwirt ist die Agrar-
strukturerhebung zunächst ein bürokratischer Akt, den
man über sich ergehen lassen muss.
Statistik und Zahlen, ein Thema, das vielfach auf
Desinteresse stößt. Ähnlich wie bei Mathematik und
Ökonomie sehen Unbedarfte in der Statistik eine Übung,
die der Praxis weit unterlegen ist und nur eine Berechti-
gung hat, wenn es darum geht, den eigenen Standpunkt
zu bekräftigen.
Für Verwaltung, Verbände und Wissenschaft liefert
sie jedoch wertvolle Erkenntnisse. Denn nur auf Grund-
lage belastbarer Zahlen kann ein verlässliches Bild der
deutschen und europäischen Landwirtschaft gezeichnet
werden. Schließlich geht es um nicht weniger als die
Nutzung von 18,6 Millionen Hektar Agrarland; das sind
mehr als 50 Prozent der Fläche unseres Landes. Mithilfe
der Ergebnisse kann zum Beispiel der Erfolg von Agrar-
und Marktpolitiken eingeordnet werden. Hat ein speziel-
les Förderprogramm tatsächlich seine Wirkung erzielt?
Oder haben Marktmaßnahmen zum gewünschten Erfolg
geführt? Ein Vergleich der Statistiken gibt Aufschluss.
Nehmen wir ein Beispiel: Das Jahr 2014 wurde von
den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der fa-
milienbetriebenen Landwirtschaft ausgerufen. Anhand
der Daten der Agrarstrukturerhebung 2013 können wir
für Deutschland feststellen, dass rund 90 Prozent der Be-
triebe in Deutschland familiengeführt sind. Das ent-
spricht 256 000 Betrieben. Allerdings hat die Zahl der
Familienbetriebe gegenüber der Landwirtschaftszäh-
lung aus 2010 um 6 Prozent abgenommen. Was können
wir für Schlüsse aus dieser Entwicklung ziehen?
Die Antwort bestimmt das Auge des Betrachters:
Aus Sicht der Verwaltung kann die Effizienz von För-
dermaßnahmen in diesem Bereich beurteilt werden. Die
Wissenschaft kann mit aktuellen Zahlen Zukunftsszena-
rien berechnen und konkretisieren. Wir Politiker hinge-
gen müssen uns entscheiden: Geht die Entwicklung in
die gewünschte Richtung?
Um das zu entscheiden, braucht es zunächst ein ge-
meinsames Ziel – oder vielmehr ein gemeinsames
Leitbild. Je breiter die Mehrheiten für dieses Ziel sind,
desto effektiver können passende Maßnahmen durch-
gesetzt werden.
Bleiben wir beim Beispiel der Familienbetriebe:
Familiengeführte Agrarunternehmen sind das Marken-
zeichen des ländlichen Raums in Deutschland – und sie
bringen viele Vorteile. Denn landwirtschaftliche Famili-
enunternehmen erzielen eine hohe Wertschöpfung, die in
der Regel im ländlichen Raum verbleibt. Sie wirtschaf-
ten meist nachhaltiger und mit mehr Arbeitskräften als
zum Beispiel anonyme Kapitalgesellschaften. Durch Di-
versifizierung und Eigentumsstreuung wird struktur-
schwacher ländlicher Raum lebenswert gehalten. Nicht
zuletzt sei erwähnt, dass das soziale und gesellschaftli-
che Engagement der Familien – etwa in Kirchen, Verei-
nen oder Feuerwehren – ein Garant für lebendige Dörfer
ist.
Dass Landwirtschaft und ländlicher Raum auch an-
ders aussehen können, ging aus dem Bericht der Dele-
gationsreise des Landwirtschaftsausschusses in die USA
hervor. Dort können Sie mehrere Hundert Kilometer
über Land fahren, ohne an einem Haus, einem landwirt-
schaftlichen Betrieb, geschweige denn an einem Dorf
vorbeizukommen. Einmal davon abgesehen, dass wir es
nicht mit dem Flächenpotenzial der Vereinigten Staaten
aufzunehmen brauchen, stellt sich für mich vor allem die
Frage: Welche Agrarstruktur möchten wir in Deutsch-
land haben, und wie können wir diese fördern und be-
gleiten?
Meiner Ansicht nach ist der landwirtschaftliche Fami-
lienbetrieb das passende Leitbild für die Agrarpolitik.
Dabei ist es unerheblich, ob der Betrieb konventionell
oder ökologisch bewirtschaftet wird. Wichtig erscheint
mir, dass die Verbindung von Eigentum, Arbeit und
Kapital in den ländlichen Regionen erhalten bleibt.
Auch wenn mehrheitlich noch die landwirtschaftli-
chen Betriebe für Arbeit und Vitalität im ländlichen
Raum sorgen, können wir uns dem Wandel in den
Dörfern nicht verschließen. Gerade auslaufenden Land-
wirtschaftsbetrieben müssen wir Chancen eröffnen, um
zum Beispiel über Tourismus oder Umweltdienstleistun-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5953
(A) (C)
(D)(B)
gen weiterhin im ländlichen Raum wirtschaften zu
können.
Natürlich lassen sich durch die Statistik Tatsachen
verstärkt oder abgeschwächt darstellen, doch eins ist si-
cher: Die Zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen
geht stetig zurück.
Mit der heutigen Dritten Änderung des Agrarstatistik-
gesetzes werden Erhebungsmerkmale für verschiedene
Bereiche der Agrarstatistik angepasst und konkretisiert.
In der Geflügelhaltung wird zum Beispiel der Geflügel-
bestand nicht mehr zu einem Stichtag erfasst, sondern
über die Zahl der Haltungsplätze ermittelt. Das schafft
eine aussagekräftigere Datengrundlage, wodurch die
strukturelle Entwicklung der Branche besser interpretiert
werden kann. Im Zuge der Agrarstrukturerhebung 2016
wird eine Produktionsgartenbauerhebung durchgeführt.
Allerdings werden zusätzliche Angaben abgefragt, die
nicht Teil der Agrarstrukturerhebung sind. Das sind zum
Beispiel Daten zum Energieverbrauch nach Energieträ-
gern oder zur Beheizung. Dadurch könnten Maßnahmen
zur energieeffizienten Produktion im Gartenbau abgelei-
tet und gefördert werden.
Landwirtschaft ist Vielfalt. Dies sehen wir bestätigt,
wenn wir den Gesetzentwurf einmal durchblättern.
Hennenhaltungsplätze, Mostgewicht, Aquakulturstatis-
tik, Gartenbausämereien, Bodenbearbeitungsverfahren,
Rebsorten – das sind nur einige Stichworte, die im Text
enthalten sind.
Und Landwirtschaft entwickelt sich; neue Techniken,
neue Verfahren, neue Züchtungen kommen ständig dazu.
Gerne wird der landwirtschaftliche Berufsstand in Pres-
semeldungen einzig auf Ertragszahlen reduziert. Doch
unsere Bauern wissen um die Mehrdimensionalität ihrer
Tätigkeit.
Saatgut, Energieverbrauch, Produktqualität, Boden-
beschaffenheit und die Gestaltung von Kulturräumen
sind längst integrale Bestandteile des Berufsfeldes. Die
Agrarstatistik bildet all diese Entwicklungen ab, macht
sie zugänglich, erlaubt Interpretationen, und nicht zuletzt
zeichnet sie ein Bild des Wandels in der Landwirtschaft.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen,
trägt den Veränderungen im Agrarbereich Rechnung. In
erster Linie geht es um die Anpassung an EU-Vorschrif-
ten. Schließlich – so heißt es in der Begründung –: „Die
Betriebsstrukturerhebungen sind für die Europäische
Kommission von großer Bedeutung als Grundlage für
die Entwicklung und Bewertung von Maßnahmen der
Gemeinsamen Agrarpolitik sowie zur Förderung der
ländlichen Entwicklung.“
Bei einem Gesamtetat der EU von 57,8 Milliarden
Euro für den Agrarsektor ist Transparenz über Verwen-
dung dieser öffentlichen Mittel oberstes Gebot. Das
Agrarstatistikgesetz schafft entsprechende Voraussetzun-
gen und fördert die Kooperation zwischen den öffentli-
chen Institutionen als Fördermittelgeber und den Land-
wirten als Empfänger.
„Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.“ Dieses Zitat,
das dem Griechen Pythagoras zugeschrieben wird, trös-
tet zwar nicht über die Mühen um Umstände ordentli-
cher Buchführung hinweg. Trotzdem mahnt es auch uns
Landwirte zu Sorgfalt und Einsicht um die Bedeutung
statistischer Maßnahmen.
Die Agrarstatistik liefert wertvolle Daten, die uns Po-
litikern als Entscheidungsgrundlage dienen. Nutzen wir
die Fakten, um strukturelle Entwicklungen in der deut-
schen Landwirtschaft zu erkennen und zu hinterfragen.
Marlene Mortler (CDU/CSU): Ein bekannter Auto-
manager sagte einmal: „Ich will Sie nicht mit Statistiken
quälen – sondern ganz ohne!“ Auch ich will Sie heute
nicht mit Statistikdetails quälen. Deswegen werde ich
auch nicht über die hier zu beschließenden Änderungen
des Agrarstatistikgesetzes im Einzelnen reden – nicht
über die Baumobstanbauerhebung, die Rebflächenerhe-
bung, die Agrarstrukturerhebung, die Gartenbauerhe-
bung, die Erhebung in den Betrieben der Holzbearbei-
tung. Hier geht es in erster Linie um Anpassungen an
europäisches Recht. Das müssen wir einfach machen,
und zwar so schlank und so geschickt wie möglich. Ja,
geschickt – weil davon, wie wir Anforderungen zur Da-
tenerhebung ausgestalten, viel abhängt. Davon können
die Bauern in diesem Land ein Lied singen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn wir
wirklich etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be-
triebe machen wollen, dann sollten wir sie, wo es geht,
von Pflichten entlasten, die der Landwirt oder die Land-
wirtin nicht auf dem Acker oder im Stall erfüllen muss,
sondern im Büro. Ich weiß, dass sich das immer so platt
anhört, und mir ist auch klar, dass es nicht einfach die
bösen Ministerien sind, die sich neue Anforderungen
ausdenken. Meist geht es einfach darum, das gut zu voll-
ziehen, was wir hier im Parlament beschließen und was
sich die Politik in Brüssel überlegt. Für den Landwirt im
Betrieb bleibt das Ergebnis dennoch das Gleiche.
Deswegen möchte ich exemplarisch ein konkretes,
ein brandaktuelles Beispiel ansprechen, bei dem noch
völlig offen ist, wie ernst es Bund und Länder mit dem
Thema Bürokratieabbau nehmen – die Antibiotikaüber-
tragung.
Sie wissen: Das neue Arzneimittelgesetz ist zum
1. April 2014 in Kraft getreten. Danach müssen alle An-
tibiotika, die für Masttiere angewendet oder abgegeben
werden, an eine staatliche Antibiotikadatenbank gemel-
det werden. Das ist ein Riesenaufwand – vor allem,
wenn man dieses System neu aus dem Boden stampft,
statt Bestehendes zu nutzen.
Es gibt ein bestehendes und bestens funktionierendes
System, das wirtschaftsgetragene sogenannte QS-Sys-
tem, das bereits in vielen Betrieben zum Einsatz kommt,
gerade in der Schweinemast. Wenn man das nutzt, liegt
der Mehraufwand fast bei null. Nutzen wir es nicht, ist er
gewaltig.
Mir wurde gerade berichtet, dass QS jetzt die techni-
schen Voraussetzungen für eine direkte Datenübermitt-
lung geschaffen hat. Die Meldungen zur Abgabe von
Antibiotika an Mastschweine, Mastgeflügel, Mastkälber
und Mastrinder könnten also von QS jederzeit automati-
5954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
siert weitergeleitet werden. Ich danke dem BMEL hier
ausdrücklich für seinen großen Einsatz in den Gesprä-
chen mit QS.
Aber Sie werden es nicht glauben: Die Daten werden
dennoch nicht übermittelt. Weil sie nicht von den Behör-
den der Länder angenommen werden. Ich frage mich
und Sie: Warum? Vor allem deshalb, weil eine Reihe von
Ländern Anforderungen an die Datenerhebung stellen,
die weder das AMG selbst noch die entsprechende
Durchführungsverordnung vorsehen, nämlich die tagge-
naue Information über jeden Zu- und Abgang.
Ich möchte einmal beschreiben, was das bedeutet: Da
soll ein Betrieb mit, sagen wir, 200 000 Puten jeden Tag
jede einzelne Bestandsveränderung durchgeben, jedes
einzelne gestorbene Tier den Behörden melden. Und wo-
für? Als ob es für die Bemessung der Antibiotikamenge
auf einen Zweihunderttausendstelwert heruntergerechnet
ankäme. Das ist wirklich absurd!
Deshalb an dieser Stelle mein Appell an die Länder:
Bitte leisten nach dem BMEL und QS auch Sie Ihren
Beitrag zu einer verantwortungsvollen, halbwegs büro-
kratiearmen Lösung der Antibiotikameldung im AMG.
Denken bei allem auch Sie einen Moment lang an die
Bauern und daran, wo wir deren Zeit wirklich brauchen:
im Stall bei ihren Tieren zum Beispiel.
Deshalb meine Botschaft: Statistiken sollten nicht
quälen, schon gar nicht ohne vernünftigen Grund.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute debattieren
wir über die Änderung eines Gesetzes, das im Grundsatz
schon seit 1989 existiert, 2009 neu gefasst wurde und die
Basis für statistische Auswertungen und damit für unsere
Politik im Agrarbereich ist. Schon Galileo Galilei wies
mit seinen Worten „Alles messen, was messbar ist – und
messbar machen, was noch nicht messbar ist“ darauf hin,
wie bedeutsam statistische Erhebungen sind.
Das Agrarstatistikgesetz in seiner aktuellen Fassung
regelt bereits die Durchführung von elf Einzelstatistiken
im Rahmen der Bundesstatistik. Es ist damit die Grund-
lage für Erhebungen über Ernte, Bodennutzung, Viehbe-
stände, Strukturen in land- und forstwirtschaftlichen Be-
trieben, Geflügel, Wein, Holz usw.
Beispielsweise führt das Bundesforschungsinstitut für
Ernährung und Lebensmittel (Max Rubner-Institut) im
Rahmen der „Besonderen Ernte- und Qualitätsermitt-
lung“ jährliche Untersuchungen durch. Die Qualität un-
serer landwirtschaftlichen Produkte und letztendlich die
Sicherheit unserer Lebensmittel kann so besser beurteilt
werden. Dazu werden auf bis zu 10 000 Feldern unserer
landwirtschaftlichen Betriebe Ernteproben gezogen,
analysiert und ausgewertet. Das Gesetz schafft damit
wesentliche Entscheidungshilfen für Politik und Wirt-
schaft.
Der Boden ist der wichtigste und ein knapper Produk-
tionsfaktor unserer Landwirtschaft. Er ist nicht vermehr-
bar. Darum ist die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit
eines der wichtigsten Ziele im Agrarbereich. Die Boden-
fruchtbarkeit ist Grundlage der Ertragsfähigkeit unserer
Landwirtschaft. Auch darüber liefert das Agrarstatistik-
gesetz wichtige Informationen und Entscheidungshil-
fen. Die Erhebung zur Bodenerhaltung stellt Informatio-
nen über die Bodenbedeckung im Winter und zur Größe
des Ackerlandes ohne Fruchtwechsel zur Verfügung. Zu-
sätzlich werden im Rahmen der Bodennutzungshaupter-
hebung Angaben zu angebauten Kulturarten, Pflanzen-
gruppen, Pflanzenarten und Kulturformen erfragt.
Das vorliegende Gesetz ist zum einen notwendig, um
die Vorschriften des Unionsrechts umzusetzen, und zum
anderen, um die Inhalte einiger Erhebungen im Agrarbe-
reich an den aktuellen Datenbedarf anzupassen.
Mit diesem Gesetz kommen wir auch einer wichtigen
Forderung des Bundesrates nach, eine Gartenbauerhe-
bung durchzuführen. Mit einer Bruttowertschöpfung von
über 19 Milliarden Euro und einem Anteil von etwa
11 Prozent am Produktionswert der deutschen Landwirt-
schaft leistet der Gartenbau einen wichtigen Beitrag im
Agrarbereich. Zukünftig können wir auch in diesem Be-
reich auf verlässliche Zahlen zurückgreifen.
Im Bereich der Geflügelhaltung ist eine Anpassung
der Erfassung an den aktuellen Datenbedarf sinnvoll. So
wird neben der Zahl der Tiere auch die Zahl der Hal-
tungsplätze erfasst. Damit lassen sich strukturelle Ent-
wicklungen zukünftig besser interpretieren. Außerdem
sollen Legehennenhalter monatliche Angaben zur Hal-
tungsform machen.
In der Landwirtschaft besteht die Möglichkeit der
Umsatzsteuerpauschalierung, um den Landwirten die
Arbeit mit der Umsatzsteuer zu erleichtern. Dieses
Merkmal der Form der Umsatzbesteuerung wurde seit
der Änderung des Agrarstatistikgesetzes 2009 nicht
mehr regelmäßig erhoben. Für die Arbeit in unseren
Ausschüssen ist es aber von großer Bedeutung, dass
diese Angaben aktuell sind. Der Bundesrechnungshof
stellte 2013 fest, dass ein nichtangepasster Umsatzsteu-
ersatz für Pauschallandwirte zu erheblichen Steueraus-
fällen führen kann. Die Anpassung des Durchschnitt-
satzes um 1 Prozentpunkt entspricht bereits einem
Umsatzsteuerbetrag von jährlich 150 Millionen Euro.
Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Form der Umsatz-
besteuerung zukünftig wieder regelmäßig erfasst wird.
Sehr zu begrüßen ist die Straffung von Verwaltungs-
aufgaben. Die Erhebung der weniger als 400 auskunftge-
benden holzverarbeitenden Betriebe soll zukünftig durch
das Statistische Bundesamt durchgeführt werden. Das ist
ein Beispiel für eine sinnvolle Entlastung von Behörden
bei gleichzeitig schnellerer Datenverfügbarkeit.
Mit den beschlossenen Änderungen wird außerdem
ein wichtiger Einwand des Bundesrates umgesetzt. Na-
türlich ist es notwendig, den Energieverbrauch nicht für
einen Berichtszeitpunkt, sondern für einen Berichtszeit-
raum zu erheben. Aus unserer Sicht ist nur schwer zu
verstehen, wie dieser Punkt im Gesetzentwurf übersehen
und erst durch Mitwirkung des Bundesrates angepasst
wurde. Diesen Fehler konnten wir noch rechtzeitig mit-
hilfe des beschlossenen Änderungsantrages korrigieren.
Die Gesetzesänderung sieht auch Ergänzungen im
Betriebsregister Landwirtschaft vor. Beispielsweise kön-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5955
(A) (C)
(D)(B)
nen befragte Ökolandwirte durch die Verlagerung der
Aufgaben auf das Betriebsregister Landwirtschaft deut-
lich entlastet werden. Gleichzeitig ist sichergestellt, dass
wir Biobetriebe eindeutig und effizient identifizieren
können, und das kostenneutral. Zusätzlich wird zukünf-
tig die Angabe zur ökologischen Wirtschaftsweise auch
bei Baumobstanbauern erhoben. Damit erreichen wir,
dass auch im Bereich Obst verlässliche Informationen
und Zahlen zum Ökolandbau zur Verfügung stehen. Ins-
gesamt können regionale landwirtschaftliche Strukturen
in Deutschland besser dargestellt werden. Das begrüßen
wir besonders vor dem Hintergrund der Stärkung ländli-
cher Räume sowie des ökologischen Landbaus.
Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention hat
sich Deutschland verpflichtet, in jährlichen Emissionsin-
ventaren auch Angaben zu Treibhausgasemissionen aus
der Landwirtschaft zu machen. Gerade mit Blick auf
Strategien und Maßnahmen im Bereich der Klima-
schutzpolitik und des Umweltschutzes sind diese Anga-
ben von grundlegender Bedeutung. Ich begrüße deshalb
die zusätzliche Erhebung von Merkmalen bei der Aus-
bringung von Wirtschaftsdüngern sehr. Nur so können
wir die erforderlichen Daten bei der Emissionsberichter-
stattung sowie den steigenden Bedarf bei der Evaluie-
rung des Düngerechts sicherstellen.
Mit dem gestern beschlossenen Änderungsantrag
unserer Koalition wird mit dem neuen Artikel 2 das Le-
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, rechts-
technisch geändert. Die ab 13. Dezember dieses Jahres
geltende EU-Lebensmittelinformationsverordnung machte
es zwingend notwendig, allgemeine Täuschungsschutz-
vorschriften des LFGB anzupassen. Nur so ist auch ge-
währleistet, dass den Ländern mit Geltungsbeginn der
Verordnung eine angepasste Täuschungsschutzvorschrift
sowie darauf abgestimmte Straf- und Bußgeldvorschrif-
ten zur Verfügung stehen.
Insgesamt ist die Änderung des Agrarstatistikgesetzes
ein wichtiger Schritt, um auch langfristig die wissen-
schaftliche Grundlage für die Politik im Agrarbereich zu
gewährleisten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Das Agrarsta-
tistikgesetz ist die einheitliche Rechtsgrundlage für den
Agrarteil der Bundesstatistik. Das Gesetz wurde zuletzt
im Jahr 2012 geändert und muss nun erneut an EU-Vor-
schriften angepasst werden. Das bezieht sich vor allem
auf das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Es
geht aber auch um die Aktualisierung der Agrarstruktur-
erhebung aus Sicht der Agrarumweltpolitik. Die Erhe-
bung des Baumobstanbaus soll vereinfacht und die Reb-
flächenerhebung angepasst werden. Die Vorschläge des
Bundesrats hat der Änderungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen größtenteils aufgegriffen.
Hört sich also gut und wenig spannend an und ist
auch so. Eigentlich. Denn einige überfällige Änderungen
zeigen, wie schnell scheinbar harmlose Regelungsdetails
zu grobem Unfug und falschen statistischen Aussagen
führen.
Ein Beispiel: Bisher wurde beim Mastgeflügel der
Tierbestand an einem Stichtag erhoben. Falls genau an
diesem Tag der Stall wegen der Reinigung vor Neuein-
stallung nach dem „Alles-rein-alles-raus-Prinzip“ leer
stand, entfiel für diesen Betrieb nicht nur die aktuelle
Berichtspflicht, sondern er fiel komplett aus der Statis-
tik. Wegen statistischer Nichtexistenz wurde er auch
nicht mehr kontrolliert. Diese Absurdität wird jetzt kor-
rigiert durch die Erfassung der Haltungsplätze, egal ob
sie aktuell besetzt sind oder nicht.
Dieses Beispiel zeigt, dass Statistik alles andere ist als
irrelevant und dröge. Leider hat die Statistik als Wissen-
schaft ein schlechtes Image. Sie ist vielen suspekt, weil
sie ihr Regelwerk nicht durchschauen. Das gilt zwar für
viele Wissenschaftsdisziplinen, aber hier nährt es Miss-
trauen, weil sie gleichzeitig als manipulierbar gilt und in
der Realität ja auch nicht selten missbraucht wird. Das
untergräbt in der Summe ihre Autorität und den Wert
statistischer Analysen. Das wiederum ist fatal, denn ge-
rade in der Politik sind wir auf objektive Bewertungen
von Daten dringend angewiesen, sollen sie nicht auf Da-
tenfriedhöfen landen und ihre Erfassung damit Alibi
bleiben. Wir brauchen verlässliche statistische Analyse-
ergebnisse, um Problemsituationen und ihre Ursachen
exakt erkennen oder die Folgen politischer Entscheidun-
gen bewerten zu können.
Voraussetzung für belastbare Ergebnisse ist aber
zwingend, dass erstens geeignete Daten erhoben und
dass sie zweitens mit geeigneten Methoden analysiert
werden. Beides ist leider oft nicht der Fall und deshalb
sind auch immer wieder politische Entscheidungen auf
dieser Basis falsch.
Ein Beispiel. Wir wollen und müssen aus Klima- und
Artenschutzgründen das Grünland erhalten. Wer aber
Durchschnittswerte zum Grünlandanteil für große Zeit-
räume und große Regionen zur Bewertung der Situation
nutzt, wird dramatische Entwicklungstendenzen inner-
halb dieses Zeitraums oder in Teilregionen übersehen.
Ein anderes Beispiel. Wir wollen die biologische
Vielfalt in der Agrarlandschaft erhalten. Wer auf positive
Bestandsentwicklung der Kraniche schaut, wird beruhigt
sein. Gleichzeitig senden dramatische Verluste bei bis-
herigen Allerweltsarten wie Sperling oder Feldlerche
Alarmsignale.
Aus Sicht der Linksfraktion ist die Agrarstatistik also
ein wichtiger und fahrlässig unter- oder absichtsvoll
überschätzter Baustein der Agrarpolitik. Der Bundestag
beschäftigt sich eher zu selten als zu oft mit statistischen
Analysen. Selbst der Agrarbericht erscheint nur noch
alle vier Jahre, weil das die Union-FDP-Koalition so be-
schlossen hat. Deshalb steht er auch im Parlament nur
noch einmal pro Wahlperiode auf der Tagesordnung. Die
Linke war für einen zweijährigen Turnus, um auf Pro-
blemsituationen schnell reagieren zu können. Ich halte
das nach wie vor für richtig.
Und leider werden in ihm auch längst nicht alle aus
linker Sicht agrarpolitisch interessanten Daten erhoben.
Aktuelle Tendenzen der Umverteilung des Bodeneigen-
tums in immer weniger Hände mit schwarzen Geldkof-
5956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
fern ahnen wir bestenfalls. Aber politisch so brisante
Entwicklungen sollten wir genau kennen. Auch über die
Zusammensetzung landwirtschaftlicher Einkommen wis-
sen wir zu wenig. Spannend wäre auch die Analyse der
Entwicklung von Agrargenossenschaften und ihrer
Funktion in den Dörfern. Sie werden absichtsvoll in der
Kategorie „juristische Personen“ versteckt. Sonst wür-
den sie noch als soziale, ökologische und demokratische
Alternative zur Enteignung von Familienbetrieben durch
den Markt entdeckt.
Deshalb: Statistik wird zum spannenden Krimi, wenn
man mit der Frage beginnt: Wem nutzt sie?
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In unserem Land werden viele Tiere gehalten,
sehr viele sogar. Das Agrarstatistikgesetz soll unter an-
derem dafür Sorge tragen, dass regelmäßig erfasst wird,
über wie viele Tiere wir hier sprechen. Denn schon lange
ist die konventionelle, intensive Tierhaltung indoor in
große Hallen verlegt. So kann es passieren, dass man
durch die Region mit der europaweit höchsten Vieh-
dichte fährt und außer ein paar Reitponys kein einziges
Tier zu Gesicht bekommt.
Dabei ist natürlich die Anzahl der genehmigten Hal-
tungsplätze ausschlaggebend, nicht die aktuell eingestallte
Tierzahl. Man stelle sich nur mal folgendes Szenario vor:
Aus seuchenhygienischen Gründen beschließen Geflü-
gelmäster einer Region, die Ställe frühzeitig zu leeren
und eine freiwillige Stallruhe einzurichten, um den
Keimdruck zu reduzieren. So geschehen kürzlich beim
Auftreten der Virusinfektion der Infektiösen Laryngotra-
cheitis – ILT– im Emsland. Dann sinkt die Anzahl der
gehaltenen Tiere ganz schnell um einige 100 000 auf we-
nigen Quadratkilometern. Daher ist die Änderung, dass
beim Geflügel Haltungsplätze statt Tierzahlen erfasst
werden, ein kleines, aber ungemein wichtiges Detail, das
wir sehr begrüßen.
Natürlich hätte die Bundesregierung noch weiter ge-
hen können, um für noch mehr Transparenz und Vertrau-
enswürdigkeit zu sorgen: Bei der Geflügelmast wäre es
nämlich durchaus sinnvoll, die Häufigkeit der Erhebun-
gen zu erhöhen. Denn kein anderer Zweig der sogenann-
ten Veredelungsbranche wächst in so rasantem Tempo.
Will der Schlachthof in Wietze seine Kapazitäten voll
auslasten, müssen alleine hierfür noch 400 neue Hähn-
chenmastanlagen gebaut werden.
Was die Bundesregierung durch einen Änderungsan-
trag kurzfristig noch angepackt hat, ist eine Änderung im
Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelge-
setzbuch, das der ab 13. Dezember 2015 geltenden Le-
bensmittelinformationsverordnung angepasst werden muss.
Diese Änderung ist im Prinzip vor allem technisch
und entspricht der Regelung in der Lebensmittelinforma-
tionsverordnung, ist also tatsächlich eine Umsetzung
und daher unproblematisch.
Schade ist allerdings schon, dass nun diese rein tech-
nische LFGB-Änderung vorgenommen wird, ohne sie mit
anderen notwendigen Verbesserungen im Täuschungs-
schutz zu verknüpfen. Mir würde da zum Beispiel eine
Mitteilungspflicht der Unternehmer im Fall von schwer-
wiegenden Verstößen bei Täuschung einfallen. Eine sol-
che Mitteilungspflicht könnte bei schwerwiegenden Ver-
stößen wie dem Pferdefleischskandal verhindern, dass
die Unternehmen mit stillen Rückrufen reagieren, ohne
Behörden oder Verbraucher zu informieren.
Aber dass die Bundesregierung wider alle Bekundun-
gen nichts aus dem Pferdefleischskandal gelernt hat, ha-
ben wir ja gerade beim Thema Separatorenfleisch ge-
merkt. Wieder hat die Bundesregierung also eine Chance
verstreichen lassen, systematische oder größere Betrugs-
fälle schneller entdecken und verfolgen zu können.
Man hätte diese LFGB-Änderung außerdem mit der
längst überfälligen Novellierung des § 40 1 a verknüpfen
können. Damit könnte die Bundesregierung erwirken,
dass die Veröffentlichung von Rechtsverstößen im Inter-
net rechtssicher ist und die Länder wieder auf ihren In-
ternetseiten über Verstöße informieren können. Warum
soll bei uns nicht möglich sein, was in Österreich schon
längst praktiziert wird? Diese LFGB-Novellierung ist
schon lange angekündigt. Im Sommer war im Ausschuss
die Rede von „in den nächsten Wochen“, zuletzt war der
Entwurf für November angekündigt. Frau Aigner galt zu
ihrer Amtszeit als Ankündigungsministerin. Es scheint
sich so zu entwickeln, dass Minister Schmidt zumindest
in diese Fußstapfen seiner Vorgängerin tritt. Ob er damit
gut beraten ist, wage ich zu bezweifeln.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 21)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Mit der heutigen ab-
schließenden Beratung des Gesetzentwurfs zur Ände-
rung des Urheberrechtsgesetzes bringen wir eine über
mehrere Legislaturperioden geführte Debatte zu Ende.
Wir werden heute die Regelung über die Nutzung von
urheberrechtlich geschützten Werken in Unterricht und
Forschung endgültig entfristen.
Damit schaffen wir Rechtssicherheit für Verlage auf
der einen und Bildungs- und Forschungseinrichtungen
auf der anderen Seite.
In den Beratungen im Rechtsausschuss sowie in der
Fraktion ist deutlich geworden, dass auch die beiden
jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes be-
züglich der Definition der zulässigen Länge von Werk-
teilen zur Nutzung in Unterricht und Forschung sowie
insbesondere zur Regelung der Zugänglichmachung zu
dieser Rechtssicherheit für die Beteiligten beitragen.
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion wäre es sicherlich
wünschenswert gewesen, das Ergebnis der höchstrich-
terlichen Entscheidungen zur Klarstellung daher auch in
den Gesetzestext aufzunehmen. Dies betrifft insbeson-
dere den Vorrang eines angemessenen Lizenzangebots
eines Verlages an eine Wissenschaftseinrichtung vor der
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5957
(A) (C)
(D)(B)
Zugänglichmachung durch eine Universität oder andere
Forschungseinrichtung. Da der Bundesgerichtshof die-
sen Vorrang von vertraglichen Lizenzen in einem Urteil
im vergangenen Jahr festgestellt hat, ist § 52 a UrhG
auch nach der Entfristung in diesem Sinne auszulegen,
sodass materiell-rechtlich eine solche Aufnahme in den
Gesetzestext entbehrlich ist.
Die Rechtsprechung stärkt somit insbesondere die
Position der Rechteinhaber und der Urheber. Die Verlage
und damit die Rechteinhaber sind zur Refinanzierung ih-
res Angebots auf die Einnahmen aus Lizenzverträgen
nicht nur angewiesen: Es liegt in der Natur des Urheber-
rechts, dass die Rechte an einem Werk zunächst bei sei-
nem Schöpfer liegen und alle Beschränkungen dieses
Rechts, zu denen auch die Zugänglichmachung von Wer-
ken oder Werkteilen für Unterricht und Forschung gehö-
ren, daher zuallererst als Beschränkung des Eigentums
verstanden werden müssen. Dabei ist das geistige Eigen-
tum, das beim Urheberrecht betroffen ist, nach dem
Grundgesetz ebenso schützenswert wie materielles Ei-
gentum.
Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass
es aufseiten der Rechteinhaber auch einige Vertreter
gibt, die unter dem Stichwort Schutz des Eigentums teils
illusorische Preisvorstellungen durchsetzen wollen. Ein
solches Verhalten bedauern wir natürlich, denn es scha-
det dem deutschen Rechtsstaat und widerspricht auch in
erheblichem Maße dem berechtigten Anliegen derjeni-
gen Verleger, die selbstverständlich dem Prinzip des ehr-
baren Kaufmanns, das wir aus dem Handelsrecht kennen,
verpflichtet sind. Gerade für die deutsche Verlagsland-
schaft als mittelständisch geprägtem Wirtschaftszweig gilt
dies besonders.
Dennoch haben die Urteile des Bundesgerichtshofs
aus dem vergangenen Jahr bestätigt, dass der § 52 a des
Urheberrechtsgesetzes eine bewährte Regelung ist, die
daher im Grundsatz nicht überarbeitet werden muss. Aus
diesem Grund werden wir den Gesetzestext ohne Ände-
rungen in die entfristete Regelung überführen.
Die Diskussion um die urheberrechtlichen Schranken
für Bildung und Wissenschaft wird mit der heutigen Per-
petuierung der im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ent-
haltenen Regelung jedoch nicht beendet sein. Wir haben
uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, eine allgemeine
Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzuführen, die
sowohl den Belangen der Forschung als auch den be-
rechtigten Belangen der Verlage gerecht wird. Die Ein-
führung dieser allgemeinen Schranke für das Urheber-
recht in Bildung und Wissenschaft wird eine umfassende
rechtspolitische Diskussion und Bewertung erfordern,
um die bestehenden Schrankenregelungen sinnvoll zu-
sammenzufassen. Eine neue einheitliche Bildungs- und
Wissenschaftsschranke darf dabei nicht den Inhalt der
derzeit geltenden Schranken ad absurdum führen.
Vielmehr muss gewährleistet sein, dass auch in einer
zusammengefassten Schranke ein angemessener Interes-
senausgleich zwischen den Beteiligten – Verlage, Wis-
senschaftsinstitutionen und ihre Nutzer – gegeben ist.
Die zukünftige Regelung einer einheitlichen Bildungs-
und Wissenschaftsschranke muss sich in die bestehende
Systematik des Urheberrechts einfügen und den Urheber
mit seinen Rechten als Ausgangspunkt sehen. Dies wer-
den wir Rechtspolitiker in der anstehenden Diskussion
mit den Kollegen aus der Bildungspolitik intensiv disku-
tieren.
Heute erreichen wir das Ende einer über viele Jahre
geführten Debatte über die Geltung des § 52 a des Urhe-
berrechtsgesetzes. Wir wissen, dass es nur das vorläufige
Ende sein wird. Daher freue ich mich auf die kommen-
den Diskussionen im Rahmen der weiteren Umsetzung
des Koalitionsvertrages im Bereich des Urheberrechts.
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent-
wurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes wollen
wir die bis Ende diesen Jahres geltende Befristung des
§ 52 a UrhG aufheben und die bisherige Sonderregelung
für die öffentliche Zugänglichkeit urheberrechtlich ge-
schützter Werke für Unterricht und Forschung in eine
neu gefasste, dauerhafte Urheberrechtsschranke über-
führen.
Zum Hintergrund: § 52 a des Urheberrechtsgesetzes
(UrhG) ist durch das erste Gesetz zur Regelung des Ur-
heberrechts in der Informationsgesellschaft vom
10. September 2003 in das UrhG eingefügt worden.
Diese Regelung erklärt es für zulässig, kleine Teile eines
Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Bei-
träge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Ver-
anschaulichung im Unterricht an Schulen, Hochschulen
und weiteren Einrichtungen einem eingegrenzten Kreis
von Personen für Unterrichtszwecke oder für For-
schungszwecke öffentlich zugänglich zu machen. Dies
gilt nur, soweit dies zu dem jeweiligen Zweck geboten
und zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke ge-
rechtfertigt ist. Bei Werken, die für den Unterrichtsge-
brauch an Schulen bestimmt sind, ist dies nur mit Ein-
willigung des Berechtigten zulässig; auch Filmwerke
dürfen vor Ablauf von zwei Jahren nach Beginn der übli-
chen regulären Auswertung in Filmtheatern nur mit Ein-
willigung des Berechtigten genutzt werden. Für diese
Nutzung ist eine angemessene Vergütung zu zahlen.
Um den Befürchtungen der wissenschaftlichen Verle-
ger vor unzumutbaren Beeinträchtigungen durch die
neue Regelung Rechnung zu tragen, wurde die Regelung
durch § 137 k UrhG zunächst befristet. Nach insgesamt
drei Evaluierungen über die Auswirkungen der Norm in
der Praxis soll § 52 a UrhG nun endgültig entfristet wer-
den, nachdem auch die Rechtsprechung im vergangenen
Jahr endgültig entschieden hat, dass es sich hierbei um
eine für die Praxis handhabbare Regelung handelt, die
einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen
Rechteinhabern und nutzenden Institutionen ermöglicht.
In einem Verfahren ging es um Reichweite und Grenzen
des Tatbestands sowie um die Frage der Zulässigkeit von
Sekundärnutzungen wie das Herunterladen, Abspeichern
und Ausdrucken. Danach darf eine Universität oder eine
andere Forschungseinrichtung ihren Studierenden ein ur-
heberrechtlich geschütztes Werk in Teilen nur dann elek-
tronisch zugänglich machen, wenn diese Teile nicht
mehr als 12 Prozent oder 100 Seiten in der Summe aus-
machen. In dem anderen Verfahren ging es im Kern um
5958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
die Klärung der Frage der nach § 52 a UrhG angemesse-
nen Vergütung für Nutzungen an Hochschulen. Hier hat
der BGH festgestellt, dass diese Zugänglichmachung
nicht geboten ist, wenn der Rechteinhaber eine an-
gemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Das
heißt, der BGH geht ganz klar davon aus, dass vertragli-
che Regelungen Vorrang vor der Anwendung der
Schranke haben. Die Rechtsprechung räumt also einem
angemessenen Lizenzangebot eines Verlages den Vor-
rang ein. Den Urteilen lassen sich im Ergebnis keine
Hinweise entnehmen, die eine Überarbeitung des Wort-
lauts der Regelung nahelegen.
Nach über zehn Jahren schaffen wir mit der Entfris-
tung Rechtssicherheit für alle Beteiligten und geben jun-
gen Menschen zeitgemäßen Zugang zu Bildung und
Lehrmaterialien. Zugang ist dabei das Schlüsselwort.
Denn Wissenschaft und Bildung leben neben dem Aus-
tausch von Informationen auch vom Zugang zu diesen.
Da ein Großteil der Informationen oftmals in Werken
eingebunden ist, die urheberrechtlich geschützt sind, bie-
tet § 52 a UrhG hier die entsprechende Nutzungserlaub-
nis und gleichzeitig eine vergütungspflichtige Schranke.
Damit wahrt er die Interessen der Urheber und ermög-
licht zum anderen einen einfachen Weg für Bildung und
Wissenschaft.
Im Koalitionsvertrag haben wir darüber hinaus ver-
einbart, dass wir den wichtigen Belangen von Wissen-
schaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen
und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einfüh-
ren. Die Entfristung ist da ein kleiner Schritt in die rich-
tige Richtung. Die Perpetuierung der Regelung des § 52 a
UrhG präjudiziert aber nicht gleichzeitig die Einführung
einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschafts-
schranke. Klar ist aber auch, dass durch die Digitalisie-
rung die Zahl der Ausgleichsschranken an verschiedenen
Stellen im Urheberrechtsgesetz gestiegen ist, welche
zum Teil unübersichtlich, wenig transparent und teil-
weise technisch überholt sind. Dieser Flickenteppich an
Regelungen kann so nicht bleiben. Wir wollen daher die
Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen
und die Schrankenregelungen im Bereich Bildung und
Wissenschaft praktikabler und für alle Anwender ver-
ständlicher gestalten.
Wir sollten uns aber bei allen Veränderungen und bei
allem Veränderungsbedarf im Urheberrecht immer be-
wusst machen, dass Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt
des Urheberrechts Artikel 14 unseres Grundgesetzes ist.
Artikel 14 garantiert und schützt das Eigentum, sei es
materielles oder geistiges Eigentum. Beschränkungen
dieses Eigentumsrechts, also auch die sogenannten
Schranken des Urheberrechts, sind daher immer als Aus-
nahme zu verstehen und lassen sich nur durch die Inte-
ressen des Allgemeinwohls begründen. Vor diesem
Hintergrund müssen wir gesetzliche Änderungen im Ur-
heberrecht immer betrachten, und vor diesem Hinter-
grund müssen sich auch diejenigen messen lassen, die
eine Schrankenregelung für sich in Anspruch nehmen.
Die umfassende Umgestaltung aller Schrankenregelun-
gen in diesem Bereich erfordert daher eine intensive
rechtspolitische Diskussion, die voraussichtlich nicht
vor Ende der Befristung des § 52 a UrhG abgeschlossen
werden kann. In den beiden vergangenen großen Urhe-
berrechtsreformen hat der Gesetzgeber bereits umfas-
sende Privilegien für den Bereich Wissenschaft geschaf-
fen. Mit dem Anfang diesen Jahres vorgelegten
Gutachten von Frau Professor de la Durantaye, welches
vom BMBF in Auftrag gegeben worden ist, haben wir
eine gute Grundlage für die kommenden Debatten. Ich
bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird ein zeitge-
mäßes und nutzerfreundliches Urheberrecht zu schaffen
und dabei die Interessen der Urheberinnen und Urheber
zu wahren und im Interesse der Allgemeinheit die Nut-
zung von urheberrechtlich geschützten Werken in be-
stimmtem Umfang für Zwecke von Bildung und Wissen-
schaft zu ermöglichen.
Christian Flisek (SPD): Wir haben es endlich ge-
schafft! Nach elf Jahren fortwährender Befristung verab-
schieden wir heute ohne weitere Einschränkungen den
Gesetzentwurf zur Entfristung des § 52 a und überneh-
men diesen in den urheberrechtlichen Normenbestand.
Damit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte von Schu-
len und Hochschulen eine zukünftig dauerhafte Rechts-
sicherheit bekommen, wenn sie ihren Schülerinnen und
Schülern Lehrmaterial zur Verfügung stellen, das von ih-
nen selbst digitalisiert wurde.
Es freut mich daher außerordentlich, dass die bishe-
rige Befristung zum Ende dieses Jahres hinfällig wird
und wir den § 52 a des Urheberrechtgesetzes in dieser
und der folgenden Dekade in diesem Parlament nicht
mehr zu verhandeln haben. Zusammen mit den Kolle-
ginnen und Kollegen der Union haben wir uns darauf
verständigt, diesen Paragrafen im Urheberrechtsgesetz
in seinem Inhalt unangetastet und ohne weitere Befris-
tung zu übernehmen.
Auch mit so scheinbar kleinen Gesetzesänderungen
kann man manchmal Weitreichendes bewirken. Wie be-
reits angedeutet, ist dieser Paragraf außerordentlich rele-
vant, wenn es um einen angemessenen und zeitgemäßen
Zugang junger Menschen zu Bildung und Lehrmateria-
lien geht.
Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel dazu: Eine Lehr-
kraft scannt entsprechende Seiten der Unterrichtsmateri-
alien ein und stellt sie den Schülern und Studenten im In-
tranet der Schule oder der Universität zur Verfügung.
Die Schüler und Studenten laden sich dann das Unter-
richtsmaterial einfach herunter. Exakt dieses erlaubt der
§ 52 a des Urheberrechtsgesetzes.
Das hört sich wie ein alltägliches Beispiel an, und das
ist es tatsächlich auch.
Warum wurde der § 52 a nicht schon viel früher ent-
fristet? Auch ich habe mich das gefragt. Die Träger von
Schulen und Hochschulen, also letztlich die Bundeslän-
der, erhalten mit dieser Entfristung Planungssicherheit,
um entsprechende Infrastrukturen für ihre Institutionen
aufzubauen, wo bisher Unsicherheit herrschte.
Ich bin froh, dass sich meine in der letzten Debatte
formulierten Hoffnungen zu diesem Gesetzentwurf er-
füllt haben: Ohne weitere Aufregung ging der vorlie-
gende Entwurf in die heutige Schlussabstimmung. Dafür
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5959
(A) (C)
(D)(B)
danke ich ausdrücklich der Opposition. Dies ist ein gutes
Zeichen für uns als Verantwortliche und für alle Bil-
dungsträger, Lehrkräfte, Schüler und Studenten in unse-
rem Land.
Die Entfristung steht aber auch für das, was meiner
Fraktion in allen urheberrechtlich relevanten Fragen be-
sonders wichtig ist. Es geht darum, die Rechte der kreati-
ven Urheber und auch ihrer Verwerter in einem digitalen
Umfeld zu stärken. Es geht auch darum, die Rechte der
Nutzer auf eine legale Nutzung digitaler Inhalte in einen
angemessenen Ausgleich zu bringen. In diesem Dreieck
von Kreativen, Verwertern und Nutzern solch einen an-
gemessenen Ausgleich herzustellen, erfordert in vielen
Detailfragen oft urheberrechtliches Fingerspitzengefühl,
sehr viel Arbeit und sehr oft auch Geduld. Alle, die sich
im parlamentarisch-politischen Umfeld mit Urheber-
recht beschäftigen, wissen das und können das sicherlich
bestätigen.
Stimmen Sie mit mir für ein fortschrittliches Urheber-
recht, für die digitale Bildung unserer Kinder und für
diesen Gesetzentwurf!
Saskia Esken (SPD): Die bisherige Regelung des
§ 52 a – also die Erlaubnis der elektronischen Nutzung
kleiner Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes
für Lehrveranstaltungen – war durch die Geschichte ei-
ner fortgesetzten Befristung eng verbunden mit der
Angst vor der eigenen Courage. Dreimal wurde diese für
den Bildungs- und Wissenschaftsbereich so wichtige Er-
laubnis wider besseres Wissen neu befristet, und nie gab
es wirkliche Klarheit, Rechts- und Planungssicherheit
für Schulen, Hochschulen und andere Lehreinrichtun-
gen.
Der Wegfall der Entfristung löst nun endlich diese
Unsicherheit und auch die Investitionsblockade der
Schulen und Hochschulen. Mit der Rechtssicherheit ent-
steht eine Planungssicherheit für Investitionen in die
technischen Infrastrukturen, die an den Einrichtungen
für die Nutzung erforderlich sind. Bislang wurden diese
Investitionen, beispielsweise zur Erstellung eines Intra-
net an Schulen und Hochschulen, wegen der Befristung
immer wieder verschoben oder in Gänze vermieden.
Die endgültige Entfristung des § 52 a ist daher ein
kleiner, aber sehr wichtiger Schritt im Bereich des Urhe-
berrechts. Sie schafft endlich Rechtssicherheit über die
genehmigungsfreie Verwendung von durch das Urheber-
recht geschützten Objekten in Lehrveranstaltungen, und
zwar für alle Beteiligten. Sowohl die Evaluation des Ge-
setzes und seiner Befristung durch das Bundesjustiz-
ministerium als auch die Überprüfung durch den Bun-
desgerichtshof sind übrigens zu derselben Auffassung
gelangt.
Ganz klar bekennt sich auch die SPD darüber hinaus
zu einer zeitgemäßen Weiterentwicklung des Urheber-
rechts. Mit der Entfristung des § 52 a sind bei weitem
nicht alle bildungs- und wissenschaftspolitischen Pro-
bleme im Urheberrecht gelöst. Zahlreiche Formulierun-
gen des Gesetzes sind ungenau und auch für Experten oft
strittig. Für einen offenen, freizügigen Umgang mit
Wissen und Information in einer digitalen Welt stellt die
derzeitige Gesetzeslage eine unangemessene Beschrän-
kung dar. Wissenschaftler, Lehrkräfte und Lernende sind
durch die Angst vor teuren Abmahnungen stark verunsi-
chert und nutzen die Chancen der Digitalisierung für
eine vernetzte und kollaborative Bildungslandschaft des-
halb nur mit angezogener Handbremse. Für eine Moder-
nisierung des Urheberrechts ist die endgültige Entfris-
tung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke daher nur
ein erster Schritt.
SPD und Union haben im Koalitionsvertrag verein-
bart, dass das Urheberrecht an die Erfordernisse und He-
rausforderungen des digitalen Zeitalters angepasst wer-
den muss. Dieses Vorhaben wurde mit der Digitalen
Agenda der Bundesregierung nochmals bestätigt. Wir
brauchen ein bildungs-, forschungs- und wissenschafts-
freundliches Urheberrecht. Hierzu zählt insbesondere
die vereinbarte Einführung einer allgemeinen und zeit-
gemäßen Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die den
wichtigen Belangen einer offenen und vernetzten Wis-
senschaft, Bildung und Forschung Rechnung trägt. Kei-
nesfalls dürfen die bestehenden Schranken für Bildung,
Wissenschaft und Forschung in irgendeiner Form einge-
engt werden.
Eine Neuregelung des Urheberrechts muss endlich
ein zeitgemäßes Forschen, Lehren und Lernen ermögli-
chen. Für die SPD ist daher ein weiterer Novellierungs-
korb für die Belange von Bildung, Wissenschaft und
Forschung unverzichtbar.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Wege im Laby-
rinth des Urheberrechts sind unergründlich. Nehmen wir
an, Sie sind Astronaut und filmen sich in der Raumsta-
tion beim Singen eines Liedes, das ein bekannter Mann
geschrieben hat und dessen Rechte einer Plattenfirma
gehören. Sie wollen das Video ins Internet stellen.
Danach beginnt eine sehr komplizierte rechtsphilosophi-
sche Debatte, in der sogar die Herkunft der Teile der
Raumstation, ihre Flughöhe und die Länder, die sie über-
fliegt, eine Rolle spielen.
Fast so kompliziert wie diese Debatte gestaltet es sich
für eine Hochschullehrerin hierzulande, einen Reader
mit Unterrichtsmaterial über das Internet an die eigenen
Studierenden zu verteilen.
Laut § 52 a UrhG dürfen „kleine Teile eines Werkes,
Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus
Zeitungen oder Zeitschriften“ aber auch nur „zur Veran-
schaulichung“ und auch nur einem „bestimmt abge-
grenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern“ zugänglich
gemacht werden.
Zusätzlich muss laut Gesetz jedes Mal die Einwilli-
gung des Berechtigten, also des Inhabers der Nutzungs-
rechte, Verlage, Medienunternehmen oder Sendeanstal-
ten, eingeholt und eine „angemessene Vergütung“
gezahlt werden. Mit diesem Gesetz fingen die Fragen
erst an: Was sind kleine Teile, was Werke geringen
Umfangs, was ist ein begrenzter Kreis, wer ist der Be-
rechtigte, was ist eine angemessene Vergütung? Diese
Fragen sind für unsere Hochschullehrerin nicht zu beant-
5960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
worten. Damit war diese Urheberrechtsschranke im
Prinzip unbrauchbar. Es bedurfte einer Kette von Grund-
satzurteilen, bis die Umrisse des Regelungsgehaltes eini-
germaßen klar zu erkennen waren.
Zu dieser Klarheit gehört seit dem bisher letzten
Urteil zur Sache auch, dass die kleinen Werkteile nur
dann zugänglich gemacht werden dürfen, wenn die
Verlage selbst kein entsprechendes elektronisches Ange-
bot vorhalten. Bevor unsere Hochschullehrerin also
ihren Seminarreader aus dem zusammenstellt, was ihre
Unibibliothek so bietet, muss sie nun die E-Book- und
E-Learning-Angebote der Verlage durchforsten und,
falls sie fündig wird, die Lizenz zur Nutzung der benö-
tigten Teile einkaufen.
Der § 52 a ist in der Praxis deshalb keine Einschrän-
kung des Urheberrechtsschutzes zugunsten von Bildung
und Wissenschaft, sondern eher ein Schrankennutzungs-
verhinderungsparagraf. Wenn dieser nun auf Dauer ge-
stellt werden soll, kann man das nicht als Fortschritt,
sondern bestenfalls als Vermeidung von Rückschritt be-
zeichnen.
Wir werden deshalb seit Jahren nicht müde, zu wie-
derholen: Wirklich helfen würde den Kitas, Schulen und
Hochschulen, wenn die Koalition einen Blick in den ei-
genen Vertrag würfe: „Wir werden den wichtigen Belan-
gen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker
Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschafts-
schranke einführen.“ Ein unmissverständlicher Auftrag.
Die Frage ist, wann diese allgemeinverständliche und
hoffentlich praktikable Pauschalregelung denn nun end-
lich kommen soll. Im heute zu behandelnden Entwurf
steht nämlich, dass die Entfristung des § 52 a nicht die
Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissen-
schaftsschranke präjudiziere. Diese Debatte über eine
Umgestaltung der Schrankenregelungen, so schreiben
die Fraktionen von Union und SPD, erfordere eine inten-
sive rechtspolitische Diskussion, die nicht in der Kürze
der Zeit zu führen sei.
Nur: Wenn Sie so lange für die Vorbereitung einer
Bildungs- und Wissenschaftsschranke brauchen, wann
wollen Sie denn damit anfangen? Unsere Fraktion hat
eine solche Regelung bereits in der letzten und in der
vorletzten Legislaturperiode eingefordert. Es liegen
– auch das muss für die Große Koalition offenbar mehr-
fach gesagt werden – bereits konkrete Vorschläge für
eine solche Regelung vor – unter anderem einer von
Frau Professor Durantaye von der Humboldt-Universität
im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung.
Es wird Zeit, dass sich die Anwältinnen und Anwälte
für einen freieren Umgang mit Wissen in den Koalitions-
fraktionen durchsetzen und wir hier im Bundestag end-
lich über fortschrittliche Regelungen auf der Grundlage
eines Regierungsentwurfes diskutieren können.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Re-
formbedarf beim Urheberrecht besteht seit Jahren. Denn
durch die zunehmende Digitalisierung haben sich Nut-
zerverhalten, Verbreitung urheberrechtlich geschützter
Inhalte und viele Geschäftsmodelle komplett gewandelt.
Gerade der Zugang zur wichtigsten Ressource des
20. Jahrhunderts, Wissen, muss durch das Urheberrecht
für das digitale Zeitalter geregelt werden.
Aber Ihr jetzt vorgelegter Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Urheberrechtsgesetzes ist bei weitem kein
Glanzstück Ihrer Regierungsarbeit, denn er besteht lei-
der nur aus der Entfristung der Wissenschaftsschranke.
Dabei ist eine Entfristung ja durchaus richtig, aber
diese Detailregelung ist bei weitem nicht des Rätsels
Lösung zur Modernisierung des Urheberrechts, und sie
war darüber hinaus längst überfällig. Wir Grünen for-
dern sie schon lange, denn nur durch eine Entfristung der
Wissenschaftsschranke kann der wichtige Ausbau von
netzgestützten Lehr- und Forschungsstrukturen in Schu-
len, Universitäten etc. sichergestellt werden.
Bildung und Wissenschaft leben von einem freien
Austausch von Informationen und von einem freien Zu-
gang zu Informationen. Da viele Werke jedoch urheber-
rechtlich geschützt sind, können sie nicht ohne Weiteres
im Bildungs- und Wissenschaftsbereich genutzt werden.
Deshalb ist eine diesbezügliche Erlaubnis in § 52 a des
Urheberrechtsgesetzes inhaltlich ebenfalls richtig.
An eine weitere kleine, aber sinnvolle Detailänderung
haben Sie sich beim Thema Wissenschaftsschranke
schon nicht mehr herangetraut. Aufgrund der sprachli-
chen Ungenauigkeiten und der Unstimmigkeiten bei der
Rechtsprechung gibt es immer wieder neuen Streit be-
züglich des Umfangs der Wissenschaftsschranke. Um
diese Widersprüche und auslegungsfähigen Ungenauig-
keiten zu beheben, hätte es nur einer kleinen Neuformu-
lierung bedurft, wie „zur Veranschaulichung für alle
Zwecke des Unterrichts“ statt der derzeitigen „zur Ver-
anschaulichung im Unterricht“. Denn für die Lehre ist es
immens wichtig, dass digitale Inhalte auch unterrichts-
begleitend und zum Selbststudium vorgehalten werden
können.
Außer der Entfristung enthält Ihr Gesetz leider keine
weiteren Neuausrichtungen. Das Urheberrecht zu novel-
lieren, ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Denn dem
berechtigten Schutz der Rechte der Urheberinnen und
Urheber stehen die Anforderungen an eine digitale Rea-
lität und neue Nutzungsgewohnheiten gegenüber. Diese
in Einklang zu bringen, ist eine große Herausforderung.
Aber die Reform, die sowohl den Kreativen als auch den
Nutzerinnen und Nutzern entgegenkommt, ist seit Jahren
überfällig.
Trotz zahlreicher Handlungsempfehlungen der En-
quete-Kommission „Internet und Gesellschaft“ und Ih-
ren jahrelangen Ankündigungen bezüglich eines dritten
Korbes zur Reform des Wissenschaftsbereichs legen Sie
mit den jetzigen Minimaländerungen noch immer keine
konkreten und visionären Vorschläge vor. Und auch Ihre
Digitale Agenda bleibt an dieser Stelle alle Antworten
schuldig.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5961
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November
2010 zum Europäischen Auslieferungsüberein-
kommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesord-
nungspunkt 22)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 9. Oktober
2014 wurde ohne Debatte der Gesetzesentwurf zum
Dritten Zusatzprotokoll vom 20. November 2010 zum
Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De-
zember 1957 in erster Lesung beraten.
Vorliegend geht es um die deutsche Umsetzung des
Zusatzprotokolls. Das Europäische Auslieferungsüber-
einkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II
S. 1369, 1371) soll durch das Dritte Zusatzprotokoll
vom 10. November 2010 in bestimmten Punkten ergänzt
werden, um das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen
und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der
Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezi-
alitätsgrundsatzes verzichtet hat. Durch das Dritte
Zusatzprotokoll soll im Interesse der verfolgten Person
die Dauer der Inhaftierung verkürzt und die Effizienz der
Strafjustiz in den Vertragsstaaten erhöht werden, so wird
in dem Gesetzentwurf ausgeführt.
Im Folgenden werde ich einzelne Regelungen der
Umsetzung näher vorstellen. Diese sind von besonderer
Relevanz, da sie das Auslieferungsverfahren genauer be-
schreiben.
Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk beschreibt die Ver-
pflichtung zur Auslieferung im vereinfachten Verfahren.
Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, einander
die Personen, nach denen gemäß Artikel 1 des Überein-
kommens gesucht wird, in dem vereinfachten Verfahren,
wie es in diesem Protokoll vorgesehen ist, auszuliefern,
sofern diese Personen und die ersuchte Vertragspartei
hierzu ihre Zustimmung gegeben haben.
Von dieser Verpflichtung gibt es eine Ausnahme.
Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der
ersuchte Staat in Ausnahmefällen entscheiden, das nor-
male Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist
lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so
rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage
eines Auslieferungsersuchens einhalten kann. Die
Verpflichtung geht damit nicht über die Regelung des
deutschen Rechtes hinaus. § 29 IRG sieht vor, dass die
Generalstaatsanwaltschaft die Akte trotz des Einver-
ständnisses der verfolgten Person dem Oberlandes-
gericht zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Aus-
lieferung vorlegen kann.
In Artikel 2 des 3. ZP-EuAlÜbk wird sodann das
Verfahren geregelt, dann in den folgenden Artikeln die
Unterrichtung der betroffenen Person, die Zustimmung
zur Auslieferung und der Verzicht auf den Grundsatz der
Spezialität. Das Verfahren der vereinfachten Ausliefe-
rung nach den Artikeln 2, 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk
entspricht dem des § 41 IRG:
Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelun-
gen des IRG durch ein Fahndungsersuchen, ein Ersu-
chen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungs-
ersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person
aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzu-
führen (§§ 21, 22 IRG).
Im Rahmen der Vernehmung ist die verfolgte Person
über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und
deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die
Erklärung der verfolgten Person zu Protokoll (§ 21 Ab-
satz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG,
Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr
mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten,
RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden,
ob sie auf den Spezialitätsschutz verzichtet (§ 41
Absatz 2 IRG). Die Einverständniserklärung kann auch
zu einem späteren Zeitpunkt im Auslieferungsverfahren
zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist
nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG).
Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaats-
anwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesge-
richt, das über den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls
entscheidet, falls dieser noch nicht vorliegt (§ 17 Absatz 1
IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann
anschließend die Generalstaatsanwaltschaft entschei-
den, ohne das Oberlandesgericht damit zu befassen (§ 29
Absatz 1 IRG).
Gemäß § 29 Absatz 2 IRG bleibt der Generalstaatsan-
waltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder
Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die
Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts
herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfah-
ren anzuwenden.
Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilli-
gen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren
materiellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den
§§ 1 bis 9, 10 Absatz 2, § 73 IRG aufgezählt sind, sind in
jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis
mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor-
derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie-
ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest
ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG
muss jedoch vorliegen.
Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög-
lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes
der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine
Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver-
folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu-
chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt
gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie-
fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er-
suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person
auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten
verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden
Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen
Verfahren auf einmal erledigt werden.
Der ersuchte Staat ist auch nach Abgabe einer
Zustimmungserklärung der verfolgten Person nicht ver-
pflichtet, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen,
5962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
sondern kann am normalen Auslieferungsverfahren fest-
halten.
Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7
und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und
Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind
keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen,
gebunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet
werden, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer
bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung
erheblich verkürzt wird.
Der Anwendungsbereich des 3. ZP-EuAlÜbk er-
streckt sich auf Fälle, in denen die verfolgte Person ihre
Zustimmung bis zum Eingang der Unterlagen im Sinne
von Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk erteilt hat. Anschlie-
ßend ist es entsprechend bis zur Übergabe der verfolgten
Person anwendbar. Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk for-
dert als formale Voraussetzung einer Auslieferung die
Vorlage eines Auslieferungsersuchens, dem eine Reihe
von Unterlagen beizufügen sind.
Das 3. ZP-EuAlÜbk sieht eine Möglichkeit zur Ver-
einfachung des Auslieferungsverfahrens durch Verzicht
auf Vorlage des Ersuchens nach Artikel 12 des 3. ZP-
EuAlÜbk vor, wenn die verfolgte Person der Ausliefe-
rung zustimmt. Für diesen Fall sind in Artikel 3 und 4
des 3. ZP-EuAlÜbk besondere Regelungen zum Schutz
der verfolgten Person aufgenommen worden. Diese be-
sonderen Regelungen sind erstens eine umfassende Be-
lehrung, zweitens eine Protokollierung der Erklärungen
der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten
Vertragspartei, drittens die Möglichkeit der Beiziehung
eines Rechtsbeistandes und letztens die Hinzuziehung
eines Dolmetschers.
Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP-
EuAlÜbk weiterhin dadurch geschützt, dass die Einwil-
ligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen
Tragweite zu erfolgen hat.
Letztlich folgen noch allgemeine Ausführungen zur
Geltung des Zusatzprotokolls wie Geltungsdauer, Kün-
digung und Notifikation.
Ziel des 3. ZP-EuAlÜbk ist es, das EuAlÜbk in be-
stimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Das
EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind im
Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union
nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro-
päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Das 3. ZP-
EuAlÜbk greift nur im Verhältnis zu Staaten, die das
EuAlÜbk und das 3. ZP-EuAlÜbk ratifiziert haben
(Artikel 12 Absatz 2, Artikel 14 Absatz 1 des 3. ZP-
EuAlÜbk).
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir das
Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Euro-
päischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De-
zember 1957 effektiv in das nationale Recht um. Dabei
wird ein guter Ausgleich zwischen den europäischen
Verpflichtungen einerseits und nationalen Anforderun-
gen des Strafverfahrensrechts andererseits geschaffen.
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent-
wurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November
2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen
vom 13. Dezember 1957, 3. ZP-EuAlÜbk, geht es um
die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls mit dem
Ziel, das EuAlÜbk in bestimmten Punkten zu verbessern
und zu ergänzen. Am 9. Oktober 2014 wurde der Gesetz-
entwurf bereits ohne Debatte in erster Lesung beraten.
Zum Hintergrund: Das vereinfachte Auslieferungs-
verfahren nach deutschem Recht ist in § 41 des Gesetzes
über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG,
normiert. Im Jahr 2009 hat in Deutschland mehr als die
Hälfte der verfolgten Personen ihrer vereinfachten Aus-
lieferung zugestimmt. Auch die Regelungen zum Euro-
päischen Haftbefehl sehen die Möglichkeit eines verein-
fachten Verfahrens vor. In diesen Verfahren verkürzte
sich im Jahr 2012 die durchschnittliche Zeitspanne zwi-
schen Festnahme und Auslieferungsentscheidung von
durchschnittlich 38,4 Tagen im Normalfall auf 15,2 Tage
bei Zustimmung der verfolgten Person. Der Europarat
hat mit dem 3. ZP-EuAlÜbk das Mutterübereinkommen
(BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) ergänzt, um das Ausliefe-
rungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen,
wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt
und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzich-
tet hat. Es dient damit einerseits den Interessen der ver-
folgten Person, indem es die Dauer des Freiheitsentzuges
im Ergreifungsstaat reduziert und eine zeitnahe Verteidi-
gung im Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermög-
licht. Andererseits wird damit die Effizienz der Strafjus-
tiz in den beteiligten Staaten erhöht. Deutschland hat
sich während der Verhandlungen zum 3. ZP-EuAlÜbk
für eine die Grundrechte schonende Gestaltung des Aus-
lieferungsverfahrens eingesetzt. Der Gesetzentwurf steht
darüber hinaus im Einklang mit den Leitgedanken der
Bundesregierung zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne
der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, weil die Krimi-
nalitätsbekämpfung und die grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit der Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Kri-
minalitätsbekämpfung verbessert werden. Das EuAlÜbk
und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind allerdings im
Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union
nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro-
päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG).
Folgend möchte ich Neuerungen durch das Überein-
kommen vorstellen, welches das Auslieferungsverfahren
näher beschreibt:
Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk verpflichtet den er-
suchten Staat zur Durchführung des vereinfachten Aus-
lieferungsverfahrens, wenn die verfolgte Person damit
einverstanden ist. Von dieser Verpflichtung gibt es aller-
dings eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des
3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahme-
fällen entscheiden, das normale Verfahren nach dem
EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies
dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass
dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersu-
chens einhalten kann.
Artikel 2 ff. des 3. ZP-EuAlÜbk legen das Grundprin-
zip des vereinfachten Verfahrens, die Unterrichtung der
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5963
(A) (C)
(D)(B)
betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung
und den Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität fest.
Das Verfahren der vereinfachten Auslieferung entspricht
dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird
nach den Regelungen des IRG durch ein Fahndungsersu-
chen, ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme oder ein
Auslieferungsersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte
Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter
vorzuführen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Verneh-
mung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der
vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu
belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolg-
ten Person zu Protokoll (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, §
28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2
der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in
strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann
die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezia-
litätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einver-
ständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeit-
punkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines
Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§
41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die
Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensakte an das
Oberlandesgericht, das über den Erlass eines Ausliefe-
rungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vor-
liegt (§17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der
Auslieferung kann anschließend die Generalstaatsan-
waltschaft entscheiden, ohne das Oberlandesgericht da-
mit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Ab-
satz 2 IRG bleibt der Generalstaatsanwaltschaft bei
komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an
der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit,
die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen
und so das übliche Auslieferungsverfahren anzuwenden.
Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilligen
anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren ma-
teriellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1
bis 9, 10 Absatz 2 und § 73 IRG aufgezählt sind, sind in
jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis
mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor-
derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie-
ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest
ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG
muss jedoch vorliegen.
Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des
3. ZP-EuAlÜbk dadurch geschützt, dass die Einwilli-
gung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen
Tragweite zu erfolgen hat.
Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög-
lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes
der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine
Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver-
folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu-
chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt
gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie-
fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er-
suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person
auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten
verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden
Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen
Verfahren auf einmal erledigt werden. Dabei ist der er-
suchte Staat auch nach Abgabe einer Zustimmungserklä-
rung der verfolgten Person nicht verpflichtet, ein verein-
fachtes Verfahren durchzuführen, sondern er kann am
normalen Auslieferungsverfahren festhalten.
Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7
und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und
Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind
keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, ge-
bunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet wer-
den, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei
Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung er-
heblich verkürzt wird.
Im Ergebnis lässt sich durch das vereinfachte Verfah-
ren der Auslieferungsverkehr im Kreis der Staaten des
Europarats insgesamt effektiver gestalten und beschleu-
nigen. Es wird kein neues Verfahren eingeführt, sondern
das 3. ZP-EuAlÜbk führt dazu, dass die übrigen Ver-
tragsstaaten bei Auslieferungen nach Deutschland das
vereinfachte Verfahren anwenden können. Ich bin zuver-
sichtlich, dass wir dadurch die grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit zur Kriminalitätsbekämpfung verbessern
können.
Dirk Wiese (SPD): Die Hindernisse für die Strafver-
folgung und -vollstreckung durch Staatsgrenzen haben
in den letzten Jahren durch verschiedene Abkommen
deutlich abgenommen. Meilensteine auf dem Weg zu ei-
ner besseren Zusammenarbeit sind das Europäische Aus-
lieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das
mehrmals durch Zusatzprotokolle ergänzt wurde, und
der europäische Haftbefehl. Gleichwohl besteht immer
noch Optimierungsbedarf, und so liegt uns heute ein Ge-
setzesentwurf vor, mit dem die Ratifikation des Dritten
Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsüber-
einkommen vom 13. Dezember 1957 nach Artikel 59
Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vorbereitet werden
soll. Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November
2010 ergänzt hierbei das Mutterübereinkommen sowie
die beiden Zusatzprotokolle vom 15. Oktober 1975 bzw.
vom 17. März 1978.
Ziel des Dritten Zusatzprotokolls ist vor allem die
Vereinfachung und Beschleunigung der Auslieferungs-
verfahren. Es profitieren davon sowohl der Beschuldigte
als auch der Staat, in dem die Person ergriffen wurde: So
wird einerseits das Freiheitsinteresse der verfolgten Per-
son gewürdigt, indem die Dauer des Freiheitsentzuges
im Ergreifungsstaat deutlich reduziert und eine zeitnahe
Verteidigung in dem Staat, der um Auslieferung ersucht
hat, ermöglicht wird. Andererseits wird damit die Effi-
zienz der Strafjustiz in den beteiligten Staaten erhöht.
Besonders betonen möchte ich an dieser Stelle, dass
Deutschland sich während der Verhandlungen zum Drit-
ten Zusatzprotokoll für eine die Grundrechte schonende
und wahrende Gestaltung des Auslieferungsverfahrens
eingesetzt hat.
Voraussetzung für die Vereinfachung und Beschleuni-
gung der Auslieferungsverfahren ist allerdings, dass die
verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf
den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat.
Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Aus-
5964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
lieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Ge-
genstand des Auslieferungsersuchens waren. Um Miss-
brauch zu verhindern, bieten Artikel 3 und 4 des Dritten
Zusatzprotokolls der verfolgten Person in diesen Fällen
besondere Regelungen zum Schutz an. So muss die Ein-
willigung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtli-
chen Tragweite erfolgen; ferner wird die Erklärung der
verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten Ver-
tragspartei protokolliert, die Person wird umfassend
aufgeklärt und vor allem auf die Möglichkeit der Beizie-
hung eines Rechtsbeistandes und/oder eines Dolmet-
schers hingewiesen.
Anzumerken ist, dass die strafrechtliche Verfolgung
wegen weiterer Taten eine Zustimmung des ausliefern-
den Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersu-
chenden Staat voraussetzt. Verzichtet die verfolgte Per-
son auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer
Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersu-
chenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle an-
hängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Sie
sehen, wie effektiv die Möglichkeit der Verfahrensbe-
schleunigung hier ist.
Zu beachten ist außerdem, dass das Europäische Aus-
lieferungsabkommen und damit auch das Dritte Zusatz-
protokoll im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU
nicht anwendbar sind. Hier haben gemäß § 78 IRG die
Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang.
Ferner greift das Zusatzprotokoll nur gegenüber Staaten,
die sowohl Auslieferungsübereinkommen als auch das
Zusatzprotokoll ratifiziert haben. Einer weiteren gesetz-
lichen innerstaatlichen Ausführungsbestimmung bedarf
es in Deutschland übrigens nicht. Eine Regelung der ver-
einfachten Auslieferung im Falle des Einverständnisses
der verfolgten Person enthält bereits § 41 IRG.
Die Ratifizierung des Dritten Zusatzprotokolls wird
die internationale Strafvollstreckung und -verfolgung
weiter optimieren, und zwar sowohl im Sinne der ver-
folgten Personen als auch der beteiligten Staaten, in de-
nen die Effizienz der Strafjustiz deutlich erhöht wird.
Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu dem heute
vorliegenden Gesetzentwurf, um die Ratifizierung des
Abkommens möglichst schnell auf den Weg zu bringen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heute
über das Gesetz zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom
10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungs-
übereinkommen vom 13. Dezember 1957.
Dieses Auslieferungsübereinkommen ist durch das
Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in be-
stimmten Punkten ergänzt worden, um das Auslieferungs-
verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn
die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und
auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet
hat. So soll die Inhaftierungsdauer im ausliefernden
Staat verkürzt werden, und es sollen Verwaltungs- und
Haftkosten gespart werden. Durch den vorliegenden Ge-
setzentwurf der Bundesregierung sollen die Vorausset-
zungen nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Rati-
fikation des Übereinkommens geschaffen werden.
Aus Sicht der Linken ist das Dritte Zusatzprotokoll
aus verschiedenen Gründen problematisch.
Es kann zwar ausnahmsweise auch im Interesse des
Beschuldigten liegen, nach seiner Festnahme kein länge-
res Auslieferungsverfahren abzuwarten und alsbald in
den die Auslieferung ersuchenden Staat zu gelangen, al-
lerdings überwiegen regelmäßig die Nachteile eines ver-
einfachten Verfahrens. Eine Auslieferung ist immer ein
schwerer Eingriff in Rechte von Beschuldigten und kann
mit Artikel 16 Absatz 2 GG in Konflikt geraten, der ein
grundsätzliches Auslieferungsverbot eigener Staatsbür-
ger und Staatsbürgerinnen enthält und nur wenige Aus-
nahmefälle zulässt. Eine Auslieferung soll nun aber ohne
die Vorlage eines Auslieferungsersuchens und der Unter-
lagen nach Artikel 12 des Protokolls möglich sein (Arti-
kel 2 Drittes Zusatzprotokoll). Konkret heißt das, dass
unter anderem statt der Urschrift oder beglaubigten Ab-
schrift eines vollstreckbaren Haftbefehls (Artikel 12, 2. a
des Übereinkommens) das Bestehen eines solchen aus-
reicht (Artikel 2 Absatz 1 c des Zusatzprotokolls). Statt
der genauen Darstellung der vorgeworfenen Hand-
lungen, inklusive Zeit und Ort ihrer Begehung, ihrer
rechtlichen Würdigung unter Bezugnahme auf die an-
wendbaren Gesetzesbestimmungen sowie deren Mit-
übersendung (Artikel 12, 2. b, c des Übereinkommens)
soll nun allgemein die Art und die rechtliche Würdigung
der Straftat ausreichen (Artikel 2 Absatz 1 d des Zusatz-
protokolls). Hier wird der Grundsatz verletzt, dass Men-
schen wissen müssen, weshalb der Staat wie in Bezug
auf ihre Person handelt – auch um sich gegebenenfalls
verteidigen zu können.
Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausliefe-
rungsverpflichtung Deutschlands kann so nicht gründ-
lich und umfassend geprüft werden. Gerade die Angabe
der gesetzlichen Bestimmungen sind für die hiesige Prü-
fung wichtig, aber auch eine genaueste Tatbeschreibung
sowie die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Haftbe-
fehl. Das Protokoll geht implizit davon aus, dass in allen
Unterzeichnerstaaten (Staaten des Europarats) ähnliche
Standards im Strafverfahren herrschen; davon kann aber
selbst innerhalb der EU noch nicht gesprochen werden
und schon gar nicht im Rahmen der Europaratsstaaten.
Eine Auslieferung wäre so innerhalb weniger Wochen
möglich. In dieser kurzen Zeit und mit den niedrigen
Informations- und Übermittlungsanforderungen an den
die Auslieferung ersuchenden Staat ist ein gleicher-
maßen gründliches und rechtsstaatliches Verfahren im
sensiblen Bereich des Strafrechts nicht zu gewährleisten.
Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab.
Nun könnten Sie sagen: Die Einwände sind gut und
schön, aber sie laufen ins Leere, denn der Beschuldigte
muss ja zustimmen. Doch die Zustimmung zu diesem
vereinfachten Verfahren durch den Beschuldigten ändert
nichts an unserer Kritik. Er soll sich innerhalb von zehn
Tagen entscheiden (Artikel 6 Absatz 1 des Zusatzproto-
kolls), was schon einen gewissen Druck entfacht. Diese
Zeit reicht häufig nicht aus, alle notwendigen Informa-
tionen für eine freiwillige Entscheidung zu erhalten und
zu prüfen. Zwar sollen die Staaten sicherstellen, dass die
Zustimmung und der Verzicht auf den Spezialitätsgrund-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5965
(A) (C)
(D)(B)
satz freiwillig erfolgen und ein Rechtsbeistand beigezo-
gen werden kann, bei Bedarf soll auch ein Dolmetscher
hinzugezogen werden müssen, aber in der Praxis sieht es
dann doch häufig anders aus. Denn der bzw. die Betref-
fende befindet sich in einer Druck- und eventuell
Schocksituation nach der Festnahme. In einer solchen
Situation sind unüberlegte oder eben nicht ganz freiwil-
lige Entscheidungen nicht selten. Die Folgen der Auslie-
ferung werden häufig nicht überblickt. Ein Rechtsbei-
stand oder Dolmetscher wird in dieser Situation nicht
immer vom Beschuldigten eingefordert. Und ob ein Be-
darf für einen Dolmetscher besteht, liegt letztlich im Er-
messen der Behörde, die im Zweifel – vor allem, wenn
nicht unmittelbar einer zur Verfügung steht – eher davon
ausgehen wird, dass ein solcher nicht erforderlich ist.
Um einen Anwalt seines Vertrauens um Rat zu ersuchen
– in einem dem Beschuldigten eventuell fremdem Staat –
und die Entscheidung mit allen Vor- und vor allem
Nachteilen in Ruhe abzuwägen, bedarf es wesentlich
mehr als zehn Tage. Das Zustimmungserfordernis kann
die Bedenken im Hinblick auf ein gründliches und faires
Verfahren daher nicht ausräumen.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Stellen Sie sich vor, Sie wurden in, sagen wir Al-
banien aufgrund eines internationalen Haftbefehls fest-
genommen. In Deutschland werden Ihnen verschiedene
Taten zur Last gelegt, deshalb verlangt Deutschland Ihre
Auslieferung. Bis das Verfahren geklärt ist, sitzen Sie in
Albanien in Untersuchungshaft. Sicher nicht das Ange-
nehmste.
Durch das Dritte Zusatzprotokoll, 3. ZP, vom 10. No-
vember 2010 zum Europäischen Übereinkommen vom
13. Dezember 1957 soll das Auslieferungsverfahren ver-
einfacht und beschleunigt werden. Um bei meinem Bei-
spiel zu bleiben: Ihre Inhaftierungszeit in dem Staat, in
dem Sie festgenommen wurden, also Albanien, würde
verkürzt und Sie könnten wesentlich schneller in den
Staat, der um Auslieferung ersucht – also nach Deutsch-
land – gelangen und sich dort um Ihre Verteidigung
kümmern. Reguläre Auslieferungsverfahren hingegen
können sich mehrere Monate hinziehen; insofern ist die
Möglichkeit eines verkürzten Verfahrens durchaus posi-
tiv zu bewerten.
Allerdings ist dies an einige Voraussetzungen gebun-
den: Zunächst müssen Sie als Verfolgter dem vereinfach-
ten Verfahren zustimmen; das steht in Artikel 4. Außer-
dem können Sie auch noch auf den Grundsatz der
Spezialität verzichten.
Damit Sie die Auswirkungen dieser Entscheidung
besser einschätzen können und sichergestellt ist, dass Sie
die Entscheidung völlig freiwillig treffen, ist vorgese-
hen, dass Sie umfassend belehrt werden und Anspruch
auf einen Rechtsbeistand sowie Dolmetscher haben.
Das klingt alles ganz wunderbar. Trotzdem möchte
ich an diesem Punkt auf ein paar Probleme hinweisen:
Kann das denn so tatsächlich gewährleistet werden? Rei-
chen Rechtsbeistand und Dolmetscher dafür aus? Wer
garantiert, dass der Rechtsbeistand, der möglicherweise
gestellt wird, völlig neutral in dieser Frage ist? Sinnvol-
ler erscheint mir, ein Gericht übernähme diese Beleh-
rung.
Im Zusatzprotokoll in Artikel 4 Absatz 1 steht, dass
Zustimmung und/oder Verzicht von der „zuständigen
Justizbehörde“ der ersuchten Vertragspartei entgegenzu-
nehmen sind. Die Zuständigkeit richtet sich nach den na-
tionalen Rechtsvorschriften der jeweiligen Vertragspar-
teien. Nach deutschem Recht ist das Gericht für die
Entgegennahme der Erklärung zuständig (§ 21 Absatz 6,
§ 22 Absatz 3, § 28 Absatz 3, § 41 Absatz 4 IRG).
Aber wie sieht es in anderen Ländern aus? Diese
Frage habe ich am Mittwoch auch im Rechtsausschuss
gestellt, wo uns das Gesetz zur Behandlung vorlag. Da-
bei antwortete die Bundesregierung, dass die „zustän-
dige Behörde“ wohl in der Regel auch in anderen Län-
dern ein Gericht sein wird.
Dem Punkt sollte man aber nochmals genauer nach-
gehen.
Eindeutiger wäre wohl gewesen, man hätte im Dritten
Zusatzprotokoll festgelegt, dass in jedem mitzeichnen-
den Staat grundsätzlich das Gericht für Anhörung,
Belehrung und Entgegennahme der Zustimmung zum
vereinfachten Verfahren und/oder des Verzicht des Spe-
zialitätsgrundsatzes zuständig sein soll. So gäbe es
hierzu keine Unklarheit.
Die Möglichkeit des vereinfachten Auslieferungsver-
fahrens an sich ist nichts Neues und bereits in § 41 IRG
geregelt. Für Deutschland muss aufgrund des Dritten
Zusatzprotokolls – so geht es auch aus der Denkschrift
der Bundesregierung zum Gesetzentwurf hervor – ein
neues Verfahren nicht eingeführt werden. Die Ratifika-
tion führt hier „nur“ dazu, dass die übrigen Vertragsstaa-
ten bei Auslieferungen nach Deutschland das verein-
fachte Verfahren anwenden können.
Insofern haben wir dem Gesetzentwurf auch schon im
Rechtsausschuss unsere Zustimmung geben können. Zu
dem genannten Problempunkt – Zuständigkeit der Ge-
richte für die Entgegennahme der Zustimmung zum ver-
einfachten Verfahren oder des Verzichts auf den Grund-
satz der Spezialität, auch in anderen Ländern – werde ich
mich eingehender informieren.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung
des Haager Übereinkommens vom 30. Juni
2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen
– Beschlussempfehlung und Bericht: Kurzzei-
tig Beschäftigten vollständigen Zugang zur
Arbeitslosenversicherung ermöglichen
(Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b)
Sebastian Steineke (CDU/CSU): Bereits im Jahr
2009 hat die Europäische Union das Haager Überein-
5966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
kommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein-
barungen gezeichnet. Die Ratifizierung und die damit
einhergehende Verbindlichkeit für die EU-Mitgliedstaa-
ten werden zeitnah erfolgen. Das heute vorliegende Ge-
setz dient der Durchführung des Übereinkommens in un-
ser nationales Recht.
Das Haager Übereinkommen regelt im Wesentlichen
die internationale Zuständigkeit für Streitsachen mit aus-
schließlicher Gerichtsstandsvereinbarung sowie die An-
erkennung und Vollstreckung der betroffenen Gerichts-
entscheidungen. Um die Änderungen so sinnvoll wie
möglich in unsere bislang vorhandenen Vorschriften ein-
zubetten, haben wir auf ein eigenständiges Gesetz ver-
zichtet. Folgerichtig werden die Neuregelungen daher
weitgehend in das Anerkennungs- und Vollstreckungs-
ausführungsgesetz aufgenommen.
Ziel des Übereinkommens ist die Harmonisierung
und Vereinfachung der Gerichtszuständigkeitsregelun-
gen bei grenzüberschreitenden Rechtssachen. Ausge-
nommen sind Verbraucher- und Arbeitsverträge und Ver-
sicherungssachen. Besonders unsere mittelständischen
Unternehmen werden davon profitieren. Als Wirtschaft
einer Exportnation kann unsere Wirtschaft in überdurch-
schnittlich vielen Fällen regelmäßig mit grenzüber-
schreitenden Streitfällen in Berührung kommen. Daher
ist eine Vereinheitlichung des Rechts der Gerichtsstands-
vereinbarungen und die Anerkennung und Vollstreckung
von Gerichtsentscheidungen im Ausland insbesondere
aus Sicht der deutschen Unternehmen zwingend gebo-
ten.
Dem Übereinkommen kommt zudem eine weitere er-
hebliche praktische Bedeutung zu. So kann nach Ratifi-
zierung durch die USA die Zuständigkeit amerikanischer
Gerichte per Vereinbarung ausgeschlossen werden. Dies
ist im Hinblick auf die bisweilen außergewöhnliche
amerikanische Schadensersatzrechtsprechung aus Sicht
der Wirtschaft ein wichtiger Aspekt.
Zum Inhalt: Zunächst liegt die Zuständigkeit einer
Rechtssache bei dem Gericht, das in der ausschließli-
chen Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet ist. Ge-
richte, die dort nicht benannt sind, erklären sich für un-
zuständig. Die Entscheidung des zuständigen Gerichts
wird in den anderen Vertragsstaaten des Übereinkom-
mens automatisch anerkannt und dort auch vollstreckt.
Ein weiterer Vorteil: Gläubiger können entsprechende
gerichtliche Bestätigungen aus dem Ursprungsstaat über
Vollstreckbarkeiten von Entscheidungen sowie Auskunft
über den Inhalt des Verfahrens einholen. Die Regeln der
in diesem Jahr bereits auf den Weg gebrachten Umset-
zung der Brüssel-1 a-Verordnung bleiben durch den Ge-
setzentwurf unberührt, solange keine Partei ihren Auf-
enthalt in einem Vertragsstaat außerhalb der EU hat.
Neben der Umsetzung des Haager Übereinkommens
über Gerichtsstandsvereinbarungen werden wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf auch notwendige Anpas-
sungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im
Rechtspflegergesetz vornehmen.
Im Gerichts- und Notarkostengesetz führen wir eine
Regelung über die Gebühr bei vorläufiger Betreuerbe-
stellung ein, um die gebotene Gleichstellung mit der Be-
stellung eines Betreuers im Hauptsacheverfahren herzu-
stellen. Bei einer Dauerbetreuung fallen Gerichtskosten
in Form einer Jahresgebühr an, deren Höhe sich nach
dem Vermögen des Betreuten richtet. Ob diese Gebühr
auch bei der Bestellung eines vorläufigen Betreuers im
Rahmen einer einstweiligen Anordnung fällig ist, bleibt
in der gerichtlichen Praxis umstritten. Auf die Bestel-
lung eines vorläufigen Betreuers kann prinzipiell eine
Entscheidung in der Hauptsache fallen, mit der die vor-
läufig angeordnete Betreuung in eine endgültige überge-
leitet oder aufgehoben wird, weil sich herausgestellt hat,
dass sie zu Unrecht angeordnet wurde. In der Praxis
kommt es häufig aber nicht zu dieser Hauptsacheent-
scheidung, zum Beispiel wenn der Betreute stirbt. Der
Betreute wird hierbei kostenrechtlich oft schlechter ge-
stellt als ein Betroffener, für den ein Betreuer im Haupt-
sacheverfahren bestellt und von dem die Jahresgebühr
und nicht die übliche Wertgebühr erhoben wird. Die Än-
derungen sollen die Bestellung des vorläufigen Betreu-
ers gerichtskostenrechtlich der Bestellung eines Betreu-
ers im Hauptsacheverfahren gleichstellen.
Die Neuregelung des Rechtspflegergesetzes erfolgt im
Rahmen einer notwendigen Korrektur der Verordnungs-
ermächtigung für die Länder hinsichtlich der Übertragung
von Geschäften der Verfahrenskostenhilfe auf den
Rechtspfleger. Die bisherige Vorschrift überträgt dem
Rechtspfleger die Verfahrenskostenhilfe, die den ihm
übertragenen Aufgaben in Verfahren über die Prozess-
kostenhilfe entsprechen, zum Beispiel die Ermittlungen
zu persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des
Antragstellers, wenn der Vorsitzende dies dem Rechts-
pfleger überträgt. Das Rechtspflegergesetz enthält für
die Prozesskostenhilfe eine Verordnungsermächtigung
für die Landesregierungen, die Prüfung der persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers vom
Rechtspfleger vornehmen zu lassen, wenn der Vorsit-
zende das Verfahren dem Rechtspfleger überträgt. Das
Gesetz enthält die Möglichkeit, diese Ermächtigung auf
die Landesjustizverwaltungen zu delegieren. Im Gesetz
fehlt bislang allerdings der Verweis auf diese Delega-
tionsmöglichkeit. Die jetzige Fassung ist nicht eindeutig
und birgt die Gefahr einer zu weit gefassten Übertragung
von Aufgaben auf den Rechtspfleger. Der jetzige Ver-
weis, dass die „entsprechenden Geschäfte übertragen“
werden, impliziert, dass die in § 20 Absatz 2 des Rechts-
pflegergesetzes aufgeführten Geschäfte durch die bun-
desrechtliche Regelung direkt vom Richter auf den
Rechtspfleger übertragen werden, ohne dass noch der
Erlass einer entsprechenden Verordnung durch die Län-
der gemäß § 20 Absatz 2 Rechtspflegergesetz erforder-
lich wäre. Diese Rechtslücke wird durch den vorliegen-
den Gesetzentwurf geschlossen.
Die mit dem Entwurf vollzogene Umsetzung des
Haager Übereinkommens sowie der notwendigen An-
passungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im
Rechtspflegergesetz ist aus unserer Sicht zielführend
und sachgerecht. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung.
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Es gibt ein-
fach Situationen, in denen muss man Regelungen nur
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5967
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verlängern, und man tut damit trotzdem etwas Gutes und
Richtiges. Diese Situation hier ist eine solche. Mit den
Änderungen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch und im
Altersteilzeitgesetz, die an diesem Gesetz mit dem wun-
derschönen Namen dranhängen, verlängern wir auslau-
fende Regelungen, die für die betroffenen Menschen
sehr hilfreich sind.
Da geht es zum Beispiel um ältere Arbeitsuchende.
Zwar hat sich die Beschäftigungssituation in dieser
Gruppe in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch
ist der Anteil der Arbeitsuchenden bei den über 50-Jähri-
gen überproportional hoch. Und auch der demografische
Wandel wird dazu führen, dass das Problem nicht ver-
schwindet. Um die Eingliederung von älteren Arbeitsu-
chenden in Beschäftigung fördern zu können, wurden
befristet besondere Eingliederungszuschüsse für ältere
Arbeitnehmer eingeführt. Diese Befristung soll bis Ende
des Jahres 2019 verlängert werden. Damit setzen wir
weiterhin an den richtigen Stellen Anreize, um älteren
Menschen, die es sonst sehr schwer auf dem Arbeits-
markt haben, eine Beschäftigung zu ermöglichen.
Auch die berufliche Weiterbildungsförderung für Ar-
beitnehmer unter 45 Jahren in kleinen und mittleren Un-
ternehmen wird bis Ende 2019 ausgedehnt. Mit dieser
Regelung unterstützen wir den Mittelstand in Deutsch-
land bei der so wichtigen Frage der Fachkräftesicherung.
Weitere Sonderregelungen betreffen die Gewährung
von Zuschuss-Wintergeld für das Gerüstbauerhandwerk
und die Verlängerung einer Übergangsvorschrift in der
Altersteilzeitregelung. Beides sind keine allgemeinen
Regelungen, sondern betreffen nur einen kleinen Perso-
nenkreis. Für diesen sind sie aber umso wichtiger.
Mir als Kulturpolitikerin liegt die Sonderregelung zur
Anwartschaftszeit von überwiegend kurz befristet Be-
schäftigten besonders am Herzen. Diese Regelung soll
speziellen Erwerbsbiografien, die geprägt sind von vielen
kurz befristeten Arbeitsverhältnissen, Rechnung tragen.
Das kommt vor allem in der Kunst- und Kulturbranche
häufig vor, bei Filmschaffenden und den darstellenden
Künstlern. Sie zahlen in die Arbeitslosenversicherung
ein, haben durch ihre kurzen Beschäftigungsverhältnisse
aber fast nie die Chance, die Leistung in Anspruch zu
nehmen. Sozialversicherungsrechtlich sind das struktu-
relle Nachteile.
Ihnen wird der Zugang zum Arbeitslosengeld I durch
die Sonderregelung erleichtert, ja eigentlich überhaupt
ermöglicht. Sie haben danach Anspruch auf Arbeitslo-
sengeld I, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt
der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen.
Auch diese Regelung würde Ende des Jahres auslau-
fen. Nun wird sie um ein Jahr verlängert. Diese Verlän-
gerung ist erst einmal positiv. Sie ist allemal besser als
ein Auslaufen ohne Nachfolgeregelung. Denn dann wür-
den die Betroffenen faktisch nie die Voraussetzungen für
ALG-I-Bezug erfüllen können. Das ist also erst einmal
ein gutes Zeichen für alle Betroffenen.
Wir haben sie aber nur um ein Jahr verlängert, weil
wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, diese
Regelung inhaltlich weiterzuentwickeln. Das wollen wir
nun im kommenden Jahr tun. Denn wenn nur 200 Men-
schen im Jahr von dieser Sonderregelung profitieren,
müssen wir uns fragen, ob wir die Zielgruppe, die wir
mit dieser Regelung erreichen wollten, auch wirklich er-
reichen. Im Koalitionsvertrag ist deshalb angedacht, für
die Sonderregelung die Rahmenfrist auf drei Jahre zu er-
höhen. So vergrößert sich die Chance, trotz sehr kurz-
fristiger Arbeitsverhältnisse Arbeitslosengeld I beziehen
zu können.
Wir bleiben aber dabei: Wir wollen nur da eine Aus-
nahme machen, wo es tatsächlich strukturelle Nachteile
auszubessern gilt, und nicht, wie Sie von der Linken es
in Ihrem Antrag fordern, die gesamten arbeitsmarktpoli-
tischen Reformen der vergangenen Jahre infrage stellen.
Die Ausnahme darf nur da gemacht werden, wo sie ge-
rechtfertigt ist und wo sie notwendig ist. Deshalb ist eine
Definition der Kurzfristigkeit der Arbeitsverhältnisse bei
etwa zehn Wochen genauso richtig wie eine Verdienst-
obergrenze.
Unser Arbeitsmarkt und unsere Sozialversicherungen
stehen sehr gut da. Das wollen wir nicht aufs Spiel set-
zen. Wir verlängern deshalb die bewährten Regelungen
und drehen die Arbeitsmarktpolitik nicht in das vergan-
gene Jahrtausend zurück, wie die Linke das fordert.
Dr. Matthias Bartke (SPD): Als am 30. Juni 2005
das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsverein-
barungen geschlossen wurde, dachte vermutlich nie-
mand an Altersteilzeit und das Dritte Buch Sozialgesetz-
buch. Und doch werden Änderungen in diesen beiden
Bereichen gemeinsam mit dem Haager Übereinkommen
in einem Gesetz geregelt.
So wichtig das Haager Übereinkommen ist, so drin-
gend notwendig sind die Änderungen im Altersteilzeit-
gesetz und im Arbeitsförderungsrecht. Konkret handelt
es sich um fünf Änderungen.
Die erste Änderung ist eine Übergangsregelung der
Versicherungspflicht für Beschäftigte in Altersteilzeit.
Hintergrund dieser Regelung ist die Anhebung der Ge-
ringfügigkeitsgrenze von 400 Euro auf 450 Euro. Vorher
war die Altersteilzeitarbeit in diesem Bereich versiche-
rungspflichtig. Nun ist die Geringfügigkeitsgrenze aber
angehoben. Versicherungspflicht besteht damit erst ab
450,01 Euro. Für all jene, die sich in Altersteilzeit befin-
den, ist das ein gehöriger Unterschied. Die Vorausset-
zung für Altersteilzeitarbeit ist nämlich eine versiche-
rungspflichtige Beschäftigung. Daher wurde eine
Übergangsvorschrift geschaffen, die jedoch nur bis zum
Ende dieses Jahres gilt. Das ist aber nicht ausreichend.
Es gibt noch immer Altersteilzeitbeschäftigte, die von
einem Auslaufen der Übergangsvorschrift hart getroffen
würden. Für den Einzelnen bedeutet das ein Ende der
Altersteilzeitarbeit vor dem Eintritt in die Altersrente.
Was heißt das genau? Das heißt: zurück in die Vollzeitar-
beit oder Arbeitslosigkeit! Für die Betroffenen ist weder
das eine noch das andere attraktiv. Aus diesem Grund
wird die Übergangsregelung fortgeführt.
Die zweite Änderung verlängert die Regelung zum
Eingliederungszuschuss für ältere Arbeitnehmer. Der
5968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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Eingliederungszuschuss ist normalerweise auf zwölf
Monate beschränkt. Arbeitsuchende, die älter als 50
Jahre sind, können hingegen 36 Monate gefördert wer-
den. Das ist dreimal so lang! Damit bedeutet diese För-
derung für ältere Arbeitsuchende eine ganz besondere
Chance. Eine Chance, die wir ihnen geben müssen. Fast
jeder dritte Arbeitslose ist 50 Jahre und älter. Das Risiko
der Langzeitarbeitslosigkeit ist für sie deutlich höher.
Die Neueinstellung eines älteren Arbeitsuchenden ist da-
her von ganz besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund
wird die längere Förderdauer fünf weitere Jahre fortge-
führt.
Die dritte Änderung verlängert die Sonderregelung
für das Gerüstbauerhandwerk. Winterbauförderung
funktioniert nur, wenn Arbeitslosigkeit der Gerüstbauer
auch im Winter vermieden wird. Zu diesem Zweck be-
kommen Gerüstbauer auch in Zeiten von Überbrü-
ckungsgeld einen Winterzuschuss. Ohne diese Regelung
ist die Winterbauförderung in Gefahr. Aus diesem Grund
wird die Sonderregelung bis März 2018 fortgeführt.
Die vierte Änderung verlängert die Weiterbildungs-
förderung für Jüngere in kleinen und mittleren Unterneh-
men. Durch die Förderung wurden in den letzten Jahren
deutlich mehr Weiterbildungen nachgefragt. Das ist ein
wichtiger Beitrag zur Fachkräftesicherung. Aus diesem
Grund wird die Förderung bis Ende 2019 fortgeführt.
Die fünfte und damit letzte Änderung verlängert die
Sonderregelung zur verkürzten Anwartschaftszeit. Kurz
befristet Beschäftigte erfüllen ihre Anwartschaftszeit
nicht mit zwölf, sondern schon mit sechs Monaten Versi-
cherungszeit. Wir sprechen hier vor allem von Erwerbs-
biografien in der Kultur. Für diese Gruppe werden wir
eine Anschlussregelung finden. Der Diskussionsprozess
dazu braucht jedoch Zeit. Aus diesem Grund wird die
Sonderregelung bis Ende 2015 fortgeführt.
Die Verlängerung der Fristen bedeutet Förderung,
Unterstützung und Schutz von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern. Die Verlängerung der Fristen bedeutet
eine Fortsetzung erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik.
Dirk Wiese (SPD): Der uns heute vorliegende
Gesetzentwurf beinhaltet die notwendigen nationalen
Vorschriften, die zur Durchführung des Haager Überein-
kommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein-
barungen – dem Haager Übereinkommen – erforderlich
sind.
Worum geht es genau? Das Haager Übereinkommen
enthält für internationale Sachverhalte, in denen eine
ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung geschlos-
sen worden ist, Zuständigkeitsregeln sowie Regeln über
die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen
Entscheidungen. So sperrig das klingen mag, vereinfacht
es doch den internationalen Handelsverkehr immens, in-
dem es rechtlich stabile Rahmenbedingungen schafft. In
Zukunft herrscht in Ländern, die Vertragspartei des Ab-
kommens sind, damit nun Klarheit über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Urteilen.
Das heißt in der Praxis vor allen Dingen mehr Rechts-
sicherheit für europäische Unternehmen, die außerhalb
der EU tätig sind; denn sie können darauf vertrauen, dass
ihre Gerichtsstandsvereinbarungen und die entsprechen-
den gerichtlichen Entscheidungen in den Ländern, die
das Übereinkommen ratifiziert haben, beachtet, aner-
kannt und vor allem vollstreckt werden. Damit fällt für
viele europäische Unternehmen, die international expan-
dieren wollen, ein entscheidendes Rechtsrisiko weg, das
in vielen Fällen bislang auch zum konkreten Investi-
tionshindernis wurde. Gerade für uns in Deutschland ist
dies also ein entscheidender Schritt zur Stärkung unserer
internationalen Rolle als Vize-Exportweltmeister.
Kurz ein paar Worte zum Aufbau des Abkommens.
Es basiert auf drei Grundsätzen:
Erstens. Nur das von den Beteiligten vereinbarte Ge-
richt soll den Rechtsstreit entscheiden.
Zweitens. Alle anderen Gerichte müssen sich für un-
zuständig erklären.
Drittens. Die Entscheidung des vereinbarten Gerichts
soll in den anderen Vertragsstaaten anerkannt und voll-
streckt werden.
Sie sehen also, dass hier sehr eindeutige und einfach
umsetzbare Voraussetzungen geschaffen wurden. Kurz
gesagt: Dieses Maßnahmenbündel sorgt für Rechtssi-
cherheit und Vorhersehbarkeit.
Kurz ein paar Sätze zum Ursprung des Abkommens:
Das Gerichtsstandsübereinkommen geht auf eine Initia-
tive von Ländern zurück, die alle Mitglieder der Haager
Konferenz für Internationales Privatrecht sind. Die USA,
Japan, China, Russland und Kanada seien an dieser
Stelle als Beispiele genannt.
Gerade der Ursprung in dieser Initiative, also von
Mitgliedern der Haager Konferenz, die international mit
76 teilnehmenden Staaten breit gefächert ist, kann weg-
weisend sein, und ich sehe ich hier das Potenzial, dass das
Abkommen sich in Zukunft zu einer weltweiten Rechts-
grundlage für die Anerkennung und Vollstreckung von
Urteilen entwickeln kann. Wichtig ist dafür natürlich,
dass möglichst viele Staaten das Übereinkommen ratifi-
zieren. Deshalb sollten wir als europäische Mitgliedstaa-
ten mit gutem Beispiel vorangehen und ein starkes Si-
gnal an die Mitglieder der Haager Konferenz senden, die
noch nicht unterzeichnet haben. Deshalb bitte ich Sie
hier und heute um Ihre Zustimmung zu dem vorliegen-
den Gesetzesentwurf. Ich bin sicher, dass nach der Zu-
stimmung aller europäischen Mitgliedstaaten auch die
Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen wird
und damit der Beschluss des Rates endgültig erlassen
und in der Europäischen Union in Kraft treten wird. Da-
mit schaffen wir dann in Europa ein deutliches Mehr an
Rechtssicherheit im internationalen Handelsverkehr, von
der auch gerade wir in Deutschland deutlich profitieren
werden.
Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Es
gibt Hunderttausende Beschäftigte mit kurzfristigen Ar-
beitsverträgen. Viele zahlen in die Arbeitslosenversiche-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5969
(A) (C)
(D)(B)
rung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlustes kein
Arbeitslosengeld. Die Vorschläge unseres vorliegenden
Antrags zielen darauf ab, dieses Problem anzugehen und
mehr Beschäftigten den Zugang zur Arbeitslosenversi-
cherung zu eröffnen.
Viele der Betroffenen erhalten kein Arbeitslosengeld I,
weil sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenfrist
von zwei Jahren nicht die erforderliche Versicherungs-
zeit von zwölf Monaten erreichen. Zwar gibt es eine
Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte; diese ist
aber so gestaltet, dass sie einen Großteil der Betroffenen
ausschließt. Denn die Sonderregelung gilt nur für Ar-
beitslose, deren einzelne Beschäftigungszeiten mehrheit-
lich nicht auf mehr als zehn Wochen angelegt waren.
Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Ein
Leiharbeiter, eine Beschäftigte in der Gastronomie oder
dem Handel hatte in den zurückliegenden zwei Jahren
drei Jobs. Einmal waren sie oder er für eine Zeit von ei-
nem Monat beschäftigt, zweimal für vier Monate.
Insgesamt ergibt das eine Versicherungszeit von neun
Monaten. Das reicht nicht, um normales Arbeitslosen-
geld zu erhalten, denn dafür wären zwölf Versicherungs-
monate notwendig. Aber weil zwei der drei Jobs länger
als zehn Wochen dauerten, sind sie auch vom Bezug des
Arbeitslosengeldes nach der Sonderregelung ausge-
schlossen.
Gleiches gilt auch für kurzzeitig Beschäftigte, de-
ren Bruttoverdienst eine bestimmte Grenze über-
schreitet. Im Jahr 2014 liegt diese in den alten Bun-
desländern bei 2 765 Euro im Monat, in den neuen
Bundesländern bei 2 345 Euro.
Diese Einschränkungen sind ein wichtiger Grund da-
für, dass es bisher jährlich nur gut 200 Arbeitslosengeld-I-
Beziehende nach der Sonderregelung gibt. Dem gegen-
über stehen knapp 700 000 kurzzeitige Beschäftigte im
Jahr 2010. Neuere Zahlen liegen nicht vor.
Wie aus einer Kleinen Anfrage der Linken zu dem
Thema hervorgeht, sind von dem Problem kurzzeitiger
Beschäftigung überdurchschnittlich viele junge Men-
schen, Migrantinnen und Migranten und Teilzeitarbei-
tende betroffen. Ursprünglich wurde die Sonderregelung
für kurzzeitig Beschäftigte für die Berufe der Kultur-
branche geschaffen. Diese nutzen die Regelung auch am
stärksten. Mit der ausufernden befristeten Beschäftigung
reicht das Problem inzwischen jedoch weit über den
Kulturbereich hinaus.
Bezogen auf die Branchen trifft man auf das Problem
der kurzfristigen Beschäftigung vor allem in der Leihar-
beit, im Einzelhandel, in der Gastronomie sowie im Gar-
ten- und Landschaftsbau und in der Landwirtschaft.
Die Große Koalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag
eigentlich vereinbart, die 2014 auslaufende Sonderrege-
lung durch eine Anschlussregelung zu ersetzen, und an-
gekündigt, die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu
erweitern.
Aber sie hat nicht ihre Hausaufgaben gemacht und
will nun die bestehende Regelung lediglich um ein Jahr
verlängern. Es gibt also keine längere Rahmenfrist, ge-
schweige denn eine Änderung der restriktiven Zugangs-
bedingungen.
Wir als Linke haben rechtzeitig einen Antrag vorge-
legt, der heute zur Abstimmung steht.
Wir fordern, die Rahmenfrist, innerhalb derer Versi-
cherungsansprüche aufgebaut werden können, von zwei
Jahren auf drei Jahre zu erweitern. Wir wollen die not-
wendige Versicherungszeit auf sechs Monate verkürzen.
Das heißt, mit sechs Monaten Versicherungszeit würde
man bereits einen Anspruch auf drei Monate Arbeitslo-
sengeld erwirken. Und wir wollen die restriktiven Zu-
gangsbedingungen aufheben, also keine Vorbedingungen
für die Dauer der einzelnen Beschäftigungszeiten oder
die Verdienstgrenze nennen.
Wäre unser Antrag bereits in Gesetzesform umge-
setzt, hätten in der Vergangenheit bis zu 200 000 Be-
schäftigte mehr Zugang zur Arbeitslosenversicherung
erhalten. Das hat das Wissenschaftliche Institut der Bun-
desagentur für Arbeit errechnet.
Die Regierung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Ich fordere die Abgeordneten von Union und SPD auf,
im Sinne der Betroffenen dann wenigstens unserem An-
trag zuzustimmen.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Jus-
tizminister der EU-Mitgliedstaaten haben am 10. Okto-
ber 2014 den Beitritt der EU zum Haager Übereinkom-
men über Gerichtsstandsvereinbarungen beschlossen.
Das Übereinkommen vom 30. Juni 2005 regelt die
Anwendung von ausschließlichen Gerichtsstandsverein-
barungen bei internationalen Rechtsstreitigkeiten. Unter-
nehmen können künftig im Rechtsverkehr darauf
vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen in
Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, auch An-
wendung finden. Andere als die vereinbarten Gerichte
müssen sich für unzuständig erklären. Außerdem können
Urteile aus einem Vertragsstaat nun leichter in einem an-
deren Vertragsstaat vollstreckt werden.
Verbraucher- und Arbeitsverträge werden davon zu
Recht nicht erfasst. Wer einem stärkeren Vertragspartner
gegenübersteht, soll nicht gezwungen werden können,
auf seinen gesetzlichen Richter verzichten zu müssen. Es
fragt sich natürlich, inwieweit dies nicht auch für klei-
nere Unternehmen im Verhältnis zu großen Konzernen
gelten kann. Zumindest wird man bei international täti-
gen Unternehmen eine ausreichende Rechtskenntnis zu-
grunde legen dürfen.
Ein positiver Aspekt dieses Abkommens ist insbeson-
dere, dass die staatliche Justiz gegenüber der privaten
Schiedsgerichtsbarkeit gestärkt wird. Ein gern verbreite-
tes Argument für Schiedsgerichte ist häufig die leichtere
Vollstreckbarkeit der Urteile. An dieser Stelle wird das
Haager Übereinkommen die Situation zugunsten der
staatlichen Justiz verbessern. Das Übereinkommen
schafft Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit so-
wie die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen.
Die Ratifikation des Übereinkommens und die jetzt be-
vorstehende Vereinheitlichung sind daher zu begrüßen.
5970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Allerdings dürfen wir uns auch nichts vormachen:
Ausreichen wird das nicht.
Wir sollten uns bemühen, den Einfluss von Schieds-
gerichten, soweit es geht, einzudämmen und nicht durch
neue Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA wei-
ter zu fördern. Schiedsgerichte formen im Hinterzimmer
neues Recht, das der Allgemeinheit weitgehend unbe-
kannt bleibt. Die Rechtsfortbildung von Schiedsgerich-
ten ist dem kritischen Blick von Öffentlichkeit und
Wissenschaft nahezu vollständig entzogen. Das schafft
dauerhaft keine Rechtssicherheit und ist daher auch nicht
im langfristigen Interesse der Unternehmen.
Es geht heute jedoch nicht nur um die Umsetzung des
Haager Übereinkommens, sondern wir stimmen über ein
sogenanntes Omnibusgesetz ab. Dabei werden mittels
eines Änderungsantrages dem Gesetz im Ausschuss
noch weitere sachfremde Regelungen angehängt. Auch
wenn wir diesen Regelungen am Ende zustimmen,
möchte ich doch zum Verfahren grundsätzliche Kritik
äußern: Das Omnibusverfahren ist unter Transparenzge-
sichtspunkten schwierig zu rechtfertigen; es sollte nur in
Ausnahmefällen angewandt werden. Bei diesem Omni-
bus geht es überwiegend nicht um plötzlich auftretende,
sondern vielmehr um leicht planbare Fristverlängerun-
gen für auslaufende Gesetzte. Ob der Griff zum Omni-
bus hier wirklich notwendig gewesen ist, ziehe ich in
Zweifel. Weihnachten kommt für die meisten von uns ja
auch nicht überraschend.
In der Sache geht es um Folgendes: Im Koalitionsver-
trag haben die Regierungsparteien Verbesserungen beim
Zugang zu ALG-I-Leistungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer versprochen, die häufig hintereinan-
der auf kurze Zeiträume befristete Arbeitsverhältnisse
eingehen und daher Schwierigkeiten haben, die Anwart-
schaftszeiten innerhalb der Rahmenfrist zu erfüllen, ob-
wohl sie in der Zeit ihrer Beschäftigung regulär in die
Arbeitslosenversicherung einzahlen.
Wir begrüßen dieses Ziel, halten aber den im Koali-
tionsvertrag vorgegebenen Weg für falsch. Danach soll
es unter anderem für die Beschäftigten eine von zwei auf
drei Jahre verlängerte Rahmenfrist geben, innerhalb de-
rer die Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslo-
sengeld I erfüllt werden muss. Eine solche Ausweitung
der Rahmenfrist innerhalb der Sonderregelung macht es
aber für die Antragstellerinnen und Antragsteller im
Zweifel schwerer, einen Anspruch zu erwerben.
Gutachten haben für einen Dreijahreszeitraum das er-
höhte Risiko belegt, dass Beschäftigungsverhältnisse zu
lang sind für die Sonderregelung, aber auch nicht ausrei-
chen, um einen regulären Leistungsanspruch zu erwer-
ben. Die Betroffenen würden dann direkt in Hartz IV
landen.
Wir halten es daher für besser, wenn Sie Ihren Koali-
tionsvertrag so nicht umsetzen, sondern vielmehr die be-
reits bestehende Ausnahmeregelung um ein weiteres
Jahr verlängern.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes
2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 24)
Andrea Lindholz (CDU/CSU): Der vorliegende Ge-
setzentwurf zur Änderung des Mikrozensusgesetzes und
des Bevölkerungsstatistikgesetzes stieß sowohl im Bun-
destag als auch im Internet auf Skepsis. Das ist verwun-
derlich, denn weder der Bundesrat noch die Bundesda-
tenschutzbeauftragte noch die Datenschutzbeauftragten
der Länder haben Kritik daran geäußert.
Die Skepsis gegenüber diesem Gesetzentwurf zeugt
für mich von einem diffusen Misstrauen gegenüber jegli-
cher Datenerhebung durch den Staat. Inhaltliche und so-
mit ernst zu nehmende Kritik hat niemand an den kon-
kreten Gesetzesänderungen vorgebracht.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich
betonen, dass die minimalen Gesetzesänderungen, die
wir heute für das Mikrozensusgesetz und das Bevölke-
rungsstatistikgesetz beschließen wollen, keinen Anlass
zur Sorge bieten. Die Änderungen haben weder die
Tragweite noch das Gewicht, um darüber in eine Grund-
satzdebatte zum Datenschutz zu verfallen. Die hohen
Datenschutzstandards in Deutschland bleiben vollkom-
men unberührt. Auch die inhaltliche Ausgestaltung des
Mikrozensus und der Bevölkerungsstatistik wird durch
die Novellierung nicht tangiert.
Die Neuerungen sind rein technischer bzw. redaktio-
neller Natur. Wenn man sich näher damit beschäftigt,
wird deutlich, dass die Änderungen ziemlich unspekta-
kulär sind.
Gerne erläutere ich sie noch einmal:
Für den Mikrozensus werden insgesamt circa 830 000
Personen in rund 370 000 Haushalten in Deutschland
ausgewählt. Das entspricht 1 Prozent der Gesamtbevöl-
kerung. Die Auswahl der Personen basiert auf einer ma-
thematisch berechneten repräsentativen Stichprobe.
Im Gegensatz zum großen Zensus werden die Teil-
nehmer des Mikrozensus innerhalb von fünf aufeinan-
derfolgenden Jahren bis zu viermal befragt. Pro Jahr gibt
es maximal eine Befragung.
Die zentrale Gesetzesänderung ist nun die Einführung
einer Experimentierklausel, dank der alternative Erhe-
bungsmethoden unter realen Bedingungen getestet wer-
den können. Vor allem sollen sogenannte unterjährige
Befragungen, also mehrfache Befragungen innerhalb ei-
nes Jahres, getestet werden.
Grund für die Erprobung dieser unterjährigen Befra-
gungen ist eine anstehende Reform der EU-Verordnung
(EG) Nr. 577/98 von 1998, welche die Erhebung der
europäischen Arbeitskräftestichprobe regelt. Diese Ar-
beitskräftestichprobe wird in Deutschland zusammen
mit dem Mikrozensus erhoben.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5971
(A) (C)
(D)(B)
Während des Experiments sollen die ausgewählten
Personen und Haushalte nun innerhalb eines Jahres in
zwei aufeinanderfolgenden Quartalen befragt werden.
Insgesamt bleibt es aber auch für die Teilnehmer des Ex-
periments bei maximal vier Befragungen.
Diese alternativen Befragungsmethoden werden an
maximal 2,5 Prozent aller für den Mikrozensus ausge-
wählten Personen getestet. Das Experiment betrifft also
rund 8 500 Haushalte. Belgien und Deutschland sind die
einzigen EU-Staaten, die bisher keine unterjährigen Be-
fragungen einsetzen.
Es freut mich, feststellen zu können, dass den Teil-
nehmern durch das Experiment insgesamt kein Mehrauf-
wand entsteht. Mehrere Befragungen kurz hintereinan-
der können den Zeitaufwand sogar verringern, da sich
Fragen schneller beantworten lassen, wenn die Antwor-
ten gleich bleiben.
Zudem sollen anstelle der bisherigen Fragebögen und
persönlichen Interviews nun Befragungen auch per Tele-
fon und Internet ausprobiert werden. Die Nutzung dieser
neuen Befragungsinstrumente geschieht auf freiwilliger
Basis. Auch eine Befragung per Telefon kann eine Zeit-
ersparnis gegenüber dem Ausfüllen eines Fragebogens
sein.
Mit der Änderung des Mikrozensusgesetzes wollen
wir vor allem unseren Statistikern die Möglichkeit ge-
ben, die neuen Anforderungen seitens der EU metho-
disch frühzeitig vorzubereiten.
Im Bevölkerungsstatistikgesetz werden die Anschrift
der Betroffenen sowie das Ordnungsmerkmal der Mel-
debehörde als Hilfsmerkmal in das Bevölkerungsstatis-
tikgesetz aufgenommen. Damit sollen die Plausibili-
tätsprüfungen verbessert werden. Wesentliches Ziel
dieser Neuerung ist es, die Qualität der Statistik insbe-
sondere im Hinblick auf die Einwohnerzahl und deren
Fortschreibung zu erhöhen.
Zudem wird die Übermittlung von Daten zur Neben-
wohnung eingeschränkt, da nicht alle Daten erforderlich
sind. Dieser Punkt stellt genau genommen eine kleine
datenschutztechnische Verbesserung dar, da die Infor-
mationsflut eingeschränkt wird. Zuletzt soll im Bevöl-
kerungsstatistikgesetz hinsichtlich der eingetragenen
Lebenspartnerschaften eine klarstellende Änderung vor-
genommen werden.
Nicht nur wir Politiker, sondern alle Teile der Gesell-
schaft sind auf valide und zuverlässige Daten angewie-
sen, um die gesellschaftlichen Realitäten zutreffend ana-
lysieren zu können. Der Mikrozensus als maßgebliche
Referenzgröße in der deutschen Statistik schafft eine un-
verzichtbare Basis für die Erhebung zahlreicher anderer
Statistiken.
Die aktuelle Diskussion um den großen Zensus zeigt,
welche entscheidende Rolle Statistik in einem demokra-
tischen Rechtsstaat spielen kann. Wenn die Einwohner-
zahl einer Kommune kleiner oder größer gerechnet wird,
als sie tatsächlich ist, werden Gelder falsch verteilt. Von
der korrekten Berechnung der Einwohnerzahlen im Rah-
men der Volkszählung hängt ab, ob eine Kommune im
Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs das Geld er-
hält, was ihr tatsächlich zusteht.
Wir müssen daher unsere Statistiken konsequent prü-
fen und weiterentwickeln. Das gilt für den Zensus wie
für den Mikrozensus. Die Änderungen, die wir heute be-
schließen wollen, sind ein Beitrag dazu.
Der Änderungsantrag der Grünen ist aus drei Grün-
den abzulehnen. Erstens gilt das Mikrozensusgesetz
2005 nur noch bis Ende 2016. Die Gesetzesnovellierung
umfasst ausschließlich kleine technische Änderungen,
um das noch zu entwickelnde Mikrozensusgesetz 2017,
das andere europarechtliche Bedingungen erfüllen muss,
methodisch vorzubereiten. Es macht daher keinen Sinn,
kurz vor dem Auslaufen des Gesetzes noch inhaltliche
Änderungen vorzunehmen.
Zweitens ist der implizierte Vorwurf, gleichge-
schlechtliche Lebenspartnerschaften würden im Mikro-
zensus nicht abgebildet, nicht korrekt. In Frage 9 und
Frage 14 des aktuellen Fragebogens zum Mikrozensus
werden Lebenspartnerschaften explizit abgefragt. Ent-
sprechend detailliert lassen sich heute schon Rück-
schlüsse ziehen.
Drittens kann nicht abgefragt werden, was rechtlich
nicht möglich ist. Ein gemeinsames Sorgerecht gleichge-
schlechtlicher Lebenspartner bei Geburt gibt es nach gel-
tendem deutschem Recht nicht. Ein Kind kann erst nach
der Sukzessivadoption zwei gleichgeschlechtliche El-
ternteile haben.
In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: „Ziel ist
es, die Haushaltsbefragungen so zu organisieren, dass sie
den steigenden Anforderungen an Datenproduktion und
-bedarf gerecht werden, die Bürgerinnen und Bürger so
wenig wie möglich zusätzlich belasten und möglichst
wenig zusätzliche Kosten verursachen.“
Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.
Bei aller Notwendigkeit einer verlässlichen Datengrund-
lage dürfen wir nicht übersehen, dass die Erhebung der
Daten eine nicht unerhebliche Belastung für die Betrof-
fenen darstellen kann.
Ab 2017 benötigen wir ein neues Mikrozensusgesetz,
das die Grundlage für ein statistisches Gesamtsystem
schaffen soll. Ziel dieses Systems ist es, die Interessen
der Befragten zu wahren, die Datenerhebung effizienter
zu gestalten und den neuen statistischen Anforderungen
seitens der EU rechtzeitig zu begegnen.
Vier statistische Erhebungen, die bisher weitgehend
getrennt voneinander erfolgen, sollen dazu zusammen-
geführt werden. Das ist erstens der Mikrozensus und
zweitens die europäische Arbeitskräfteerhebung, die be-
reits zusammen erhoben werden. Das System soll drit-
tens die Gemeinschaftserhebungen über Einkommen
und Lebensbedingungen in Europa, EUSILC, und über
die private Nutzung von Informationstechnologien, IKT,
sowie viertens die Freiwilligenstichpobe nach § 7 des
Bundesstatistikgesetzes umfassen.
Dieses System steht aber heute nicht zur Diskussion.
Erst wenn substanzielle Ergebnisse über die Weiterent-
5972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
wicklung des Gesamtsystems vorliegen, können wir da-
rüber beraten und sie bewerten.
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Heute kommen
unsere Beratungen zum Mikrozensusgesetz und zum Be-
völkerungsstatistikgesetz zum Ende. Wir beschließen
damit wichtige und notwendige Änderungen, die einen
Fortschritt für die amtliche Statistik bedeuten. Die Ge-
schichte der amtlichen Statistik reicht weit zurück und
ist vor allen Dingen eines: eine Geschichte der Optimie-
rung.
Ganz frühe Erfassungen zur Bevölkerung gab es be-
reits in der Antike. Die Bibel beschreibt sie an promi-
nenter Stelle. Im Mittelalter waren es vor allen Dingen
Klöster und Stifte, in denen sich Daten befanden. Sie
waren jedoch zu dieser Zeit noch wenig verlässlich. Erst
im 18. Jahrhundert erfuhr die Datensammlung eine Pro-
fessionalisierung und wurde auch in Preußen zu einem
wichtigen Instrument der Staatsführung. „Populations-“
und Wirtschaftstabellen sowie Todesursachenstatistiken
entstanden, die dem preußischen König einen Überblick
über Bevölkerung und Ressourcen gaben. Das war nicht
nur in Kriegszeiten unentbehrlich. Diese Daten waren
zumeist streng geheim. Nur der preußische König und
seine „Cabinet-Minister“ hatten Zugang.
Regelmäßige und vollständige Volkszählungen wur-
den in vielen europäischen Ländern erst im 19. Jahrhun-
dert vorgenommen. So sollte 1810 in Berlin ein Zensus
stattfinden, da man der Meinung war, dass die Bevölke-
rungstabellen nicht mehr stimmten. Die Volkszählung
konnte nur mit großen Verzögerungen durchgeführt wer-
den, da dem Berliner Magistrat Personal dafür fehlte.
Man könnte sich an heutige Zeiten erinnert fühlen.
1861 folgte ein weiterer Zensus in Berlin, und dieser
verlief bereits deutlich strukturierter. In 40 Polizeirevie-
ren wurden Zählbezirke gebildet. In Gegenwart von Dis-
triktkommissaren mussten die Formulare ausgefüllt wer-
den. Da gab es kein Lamentieren.
Die Daten, die erfasst wurden, waren schon qualifi-
zierter. So wurden auch soziale Daten zu den Wohnver-
hältnissen erhoben, aus denen die ersten Wohnstatistiken
entstanden. Auch die Methoden waren inzwischen wis-
senschaftlich verfeinert. Die Daten nahmen erheblich zu,
was sich an ersten statistischen Jahrbüchern zeigte. 1872
wurde dann das „Kaiserliche Statistische Amt“ gegrün-
det, das fortan viele weitere Statistiken, wie die Land-
wirtschafts-, die Verkehrs- und sogar eine Bautätigkeits-
statistik, betreute.
Volkszählungen gehörten mit der Reichsgründung
1871 zur festen statistischen Grundlage in Deutschland.
1910 wurde die letzte vor dem Ersten Weltkrieg und
1917 eine sogenannte Kriegszählung vorgenommen, um
die Lebensmittelkarten zu planen. Angestrebt war ei-
gentlich ein Fünfjahresrhythmus, der aber immer wieder
durch politische Entwicklungen durchbrochen wurde.
Während Volkszählungen in der dunklen Zeit des Natio-
nalsozialismus menschenverachtenden Maximen folg-
ten, wurden sie in der Nachkriegszeit wieder zum wich-
tigen Barometer der Bevölkerungsentwicklung.
In DDR und Bundesrepublik waren Volkszählungen
fester Bestandteil der Verwaltungshoheit. Die Verfahren
waren sehr aufwendig und erfolgten bis 1970 noch mit
Lochkartentechnik. Die Volkszählung 1987 war in der
Bundesrepublik mit heftigen Diskussionen verbunden.
Einige von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer-
den sich an die Boykottaufrufe erinnern. Ich selber war
als Volkszähler unterwegs. Mit Papier und Bleistift aus-
gestattet, habe ich in vielen Haushalten geholfen, die
umfangreichen Fragen zu beantworten. Allerdings
wurde mir auch so manche Tür regelrecht vor der Nase
zugeschlagen.
Die erste gesamtdeutsche Volkszählung folgte dann
erst 2011. Es war eine registergestützte Erhebung, bei
der auf Daten aus der Verwaltung, also auf Register, zu-
rückgegriffen wurde. Zuvor wurde die Erhebung noch-
mal um weitere Angaben erweitert – zum Beispiel um
die Zahl der lebend geborenen Kinder. Der Gesetzent-
wurf dazu kam 2007 von der damaligen Großen Koali-
tion, und auch er qualifizierte die Statistik. Nun wurden
Rückschlüsse auf die Anzahl von Kindern pro Frau, auf
die Geburtenfolgen und auf den Geburtenabstand mög-
lich. Die Daten lieferten eine wichtige Grundlage für
eine gezielte Sozial- und Familienpolitik.
Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte von
Optimierungen. Das wurde durch diesen kurzen histori-
schen Rückblick deutlich. Und diese Geschichte wollen
wir heute fortschreiben.
Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf darum,
das Mikrozensusgesetz zu ergänzen, womit wir einer
EU-Vorgabe folgen. Auf Basis einer Experimentierklau-
sel können neue Erhebungsverfahren erprobt werden,
um die Qualität der Statistik zu verbessern. Ziel der Er-
probung ist auch, die Bürgerinnen und Bürger zu entlas-
ten.
Darüber hinaus wollen wir eine Korrektur in der Be-
völkerungsstatistik vornehmen – auch das mit dem Ziel
der Optimierung. Lassen Sie mich das kurz erläutern:
Nach Inkrafttreten des Bevölkerungsstatistikgesetzes
am 1. Januar 2014 wurden einige „handwerkliche Män-
gel“ offenkundig, die mit dem Gesetzentwurf wieder
korrigiert werden müssen. So hat das Fehlen der An-
schrift zur Folge, dass zum Beispiel Wanderungsbewe-
gungen in der Kommune nicht mehr nachvollzogen wer-
den können. Damit fehlen elementare Daten, und das ist
natürlich zurückzunehmen. Das tun wir heute und leisten
damit einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung unse-
rer Statistik. Es sind kleine Änderungen mit viel Ge-
wicht, die uns wie vielen anderen Stellen die Arbeit er-
leichtern.
„Statistik ist das Informationsmittel der Mündigen“,
hatte die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demos-
kopie, Elisabeth Noelle-Neumann, gesagt. Dem ist
nichts mehr hinzuzufügen. Lassen Sie uns das Mikro-
zensusgesetz und das Bevölkerungsstatistikgesetz heute
zu einem guten Abschluss bringen.
Jan Korte (DIE LINKE): In der ersten Lesung gab
die Kollegin Lindholz zur Erläuterung, worum es bei
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5973
(A) (C)
(D)(B)
Ihrem Gesetzentwurf überhaupt geht, für die Unions-
fraktion zu Protokoll, dass „mit der vorliegenden Geset-
zesänderung […] nun auch mehrmalige Befragungen
einer Person innerhalb eines Jahres eingeführt [werden].
Diese sogenannten unterjährigen Befragungen können
einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand für
die Teilnehmer bedeuten.“ Damit steht die CSU-Kolle-
gin im Widerspruch zu der Behauptung im Gesetzent-
wurf, wonach die Änderungen nämlich keinen Mehrauf-
wand für die Befragten bedeuten würden. Diesen
Mehraufwand in einem Jahr, den im Übrigen auch die
Interviewer der Landesämter für Statistik haben, gibt es
eben tatsächlich. Und sie versuchen diesen ja eben
dadurch zu entkräften, indem künftig auf „einfachere
Befragungsmethoden“ mittels Telefon und Internet aus-
gewichen wird und die Bürgerinnen und Bürger durch
Nutzung eines sogenannten „modular aufgebauten,
kohärenten Systems der Haushaltsstatistiken“ entlastet
würden. Wie so ein modular aufgebautes, kohärentes
System konkret aussehen soll, können sie allerdings
noch nicht sagen. Ich halte das für unprofessionell,
reichlich problematisch und zudem, was die Ausweitung
elektronischer Erhebungsformen angeht, für ziemlich
riskant. Doch dazu später mehr.
Was kommt also auf uns zu?
Beim vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich auf
den ersten Blick nur um eine unbedeutende Änderung
des bis Ende 2016 geltenden Mikrozensusgesetzes 2005.
Durch Ihren Gesetzentwurf soll „nur“ eine kleine Expe-
rimentierklausel eingefügt werden, mit der andere Erhe-
bungsverfahren getestet werden sollen. Die Einführung
dieser Experimentierklausel führt zwar vermutlich tat-
sächlich nicht zu einem umfangreicheren Fragebogen,
bedeutet für die Auskunftspflichtigen aber, dass diese in
einem kürzeren Zeitraum mehrfach befragt werden. Dies
betrifft in der Experimentierphase erst einmal nur 8 500
Haushalte, künftig sollen es aber 50 Prozent der zwangs-
weise am Mikrozensus Teilnehmenden, also mehr als
400 000 Personen sein. Die Bundesdatenschutzbeauf-
tragte hatte angeregt, dass die relativ kleine Testgruppe
vollständig freiwillig an der unterjährigen Befragung
teilnimmt. Doch selbst diese minimale Freiwilligkeit
ging dem Bundesinnenministerium offenkundig schon
zu weit. So können die auskunftspflichtigen Probanden
entweder das verkürzte Befragungsverfahren durchlau-
fen oder die elektronischen Auskunftswege nutzen.
Eine unterjährige Erhebung bedingt gegenüber dem
bisherigen Verfahren gravierende Veränderungen, die
vor allem die Erhebungs- und Ablauforganisation der
Statistischen Landesämter betreffen.
Die Testerhebung im Rahmen der Mikrozensuserhe-
bung 2000 hatte bereits gezeigt, dass durch den mehr-
maligen Interviewereinsatz in einem laufenden Erhe-
bungsgeschäft verstärkt mit krankheitsbedingten oder
sonstigen Ausfällen bei den Interviewern zu rechnen ist.
Die Interviewer-Ausfallquote bewegt sich demnach in
einem Rahmen von rund 15 Prozent bis etwa 30 Prozent.
Angesichts der Erfahrungen aus der Organisationsunter-
suchung erscheint eine jährliche Fluktuationsrate der
Interviewer/-innen von durchschnittlich 25 Prozent in
einem laufenden Erhebungsgeschäft realistisch.
Dies macht es erforderlich, dass die Statistischen
Landesämter eine ausreichend große Anzahl von Reser-
veinterviewern einplanen, was offensichtlich relativ
schwierig ist. Darüber hinaus ist nach allem, was man
dazu liest, damit zu rechnen, dass für ausfallende Inter-
viewerinnen und Interviewer nicht immer Ersatz gefun-
den werden kann und die noch ausstehenden Auswahl-
bezirke mit großen Problemen sowie hohem Aufwand,
vor allem in den Flächenländern, vom jeweiligen Statis-
tischen Landesamt aus bearbeitet werden müssen. Insge-
samt muss also mit einem erheblichen Mehraufwand in
den Statistischen Landesämtern gerechnet werden. Auf
grund der durch die Unterjährigkeit bedingten starken
regionalen Streuung ist in ländlichen bzw. schwach
besiedelten Gebieten der ganzjährige Dauereinsatz der
Interviewer/-innen von der Bereitschaft abhängig, große
Wegstrecken zu bewältigen. Inwieweit eine ausreichend
große Zahl von qualifizierten Interviewern gewonnen
werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Um eben diese
massiven Probleme zu umgehen, soll künftig verstärkt
auf elektronische Befragungsmethoden gesetzt werden.
Diese Zusammenhänge werden aber gezielt verschwie-
gen.
Wie ist es denn nun um die Datensicherheit bei den
elektronischen Befragungsmethoden bestellt?
Die Internetbefragungen sollen analog zu den Online-
erhebungen beim Zensus 2011 durchgeführt werden.
Dies hatte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte
geprüft und als ausreichend abgesichert angesehen. Nun
sind wir aber einige Jahre später und nicht zuletzt durch
Edward Snowden etwas schlauer, sodass ich davon aus-
gehe, dass es durchaus angebracht wäre, das Konzept
noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Nur weil bis-
lang, vielleicht ja auch aufgrund der noch nicht so gro-
ßen Anzahl an Erhebungen, die auf diesem elektroni-
schen Weg erhoben werden, noch kein Datendiebstahl
bekannt geworden ist, bedeutet dies ja keineswegs, dass
sich dies nicht künftig bei größeren Datenmengen än-
dern könnte. Auch ist für mich unklar, wie sichergestellt
werden soll, dass Fehler bei der Datenerhebung vermie-
den und Missbrauch ausgeschlossen wird. Und mir
leuchtet es auch überhaupt nicht ein, wieso es im Jahr
eins nach Snowden nicht Standard sein kann, dass sen-
sible Datenerhebungen – zumal von solchem Ausmaß! –
anonymisiert erfolgen. Erklären Sie doch bitte einmal,
warum lediglich eine Pseudonymisierung erfolgt und
wieso sie das für ausreichend halten?
Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung wie der
Mikrozensus auch im Widerspruch zum Recht auf infor-
mationelle Selbstbestimmung. Bis jetzt sind sie jeden-
falls eine befriedigende Antwort auf die Frage, wieso
Staat und Statistikämter nicht endlich auf die Mittel Aus-
kunftszwang, Zwangsgelder und Drohbriefe verzichten
können, wenn sie Informationen für bestimmte Projekte
brauchen, schuldig geblieben. Positiv in den Beratungen
war immerhin, dass Sie sich auf den Druck der Opposi-
tion hin nun endlich dazu bequemt haben, einmal Zahlen
zu Zwangsgeldverfahren in den Ländern vorzulegen.
5974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Die nun auf die Schnelle aus vier Bundesländern be-
schafften Zahlen zeigen zumindest, dass so eine Abfrage
schon viel früher möglich gewesen wäre, aber eben poli-
tisch nicht gewollt war. Leider bleibt auch jetzt unklar,
um welche Bundesländer es sich dabei eigentlich han-
delt. Aber das können Sie ja vielleicht demnächst noch
einmal im Zuge einer Aufstellung aller 16 Länder nach-
holen.
Wenn Ihre Zahlen stimmen, dann verweigern bis zu
2,3 Prozent der Befragten die Auskunft. Das ist viel-
leicht in Ihren Augen nicht sonderlich viel, meines Er-
achtens angesichts von bis zu 5 000 Euro Bußgeldern
aber auch kein Pappenstiel.
Dass die „Datenqualität“ bei einer Mikrozensuserhe-
bung auf Freiwilligkeit nicht aufrechterhalten werden
könnte, konnte bislang auch vor dem Hintergrund, dass
17 von 28 EU-Staaten ihre Erhebungen auf freiwilliger
Basis durchführen, nicht schlüssig dargelegt werden.
Selbst wenn es bei Freiwilligkeit dazu käme, dass keine
validen Ergebnisse erzielt würden und sich dort, wie
auch bei Wahlen, der sogenannte „Mittelstands-Bias“
zeigte, sodass die prekären Ränder am oberen und unte-
ren Rand der Gesellschaft unterdurchschnittlich in die
Ergebnisse einflössen, wäre dies doch kein generelles
Argument gegen das Prinzip der Freiwilligkeit. Das
wäre nur ein Grund mehr, sich endlich innovativ mit
dem Problem fehlender demokratischer Beteiligung aus-
einanderzusetzen.
Auch auf meine Frage, ob die Bundesregierung mir
auch nur einen einzigen politischen Bereich nennen
könne, in dem es in letzter Zeit wegen fehlender „Daten“
zu problematischen Entscheidungen gekommen sei, ist
sie die Antwort schuldig geblieben. Das ist aber auch
nicht wirklich überraschend, denn es fehlt ja eben nicht
an Daten, sondern am politischen Willen, bestimmte
Probleme, wie beispielsweise die große Zahl nach wie
vor fehlender Kitaplätze, zu lösen. Ich zitiere hier erneut
Thilo Weichert, den Landesdatenschutzbeauftragten in
Schleswig-Holstein: „Politische Fehlplanungen basieren
nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der falschen Be-
wertung vorhandener Daten.“
Kurz noch ein paar Worte zu den Kosten:
Bislang sind Sie die Antwort auf die Frage, wie hoch
die jährlichen Mehrkosten beim Bevölkerungsstatistik-
gesetz ausfallen werden, schuldig geblieben. Im Gesetz-
entwurf heißt es dazu nur: „Für die nach Landesrecht
zuständigen Stellen, die durch dieses Gesetz zu Daten-
lieferungen verpflichtet werden, entstehen für die
Anpassung von vorhandenen Softwarelösungen gegebe-
nenfalls einmalige Kosten, die angesichts der unter-
schiedlichen Gestaltung der jeweiligen Fachverfahren
nicht beziffert werden können.“ Das ist ja nun nicht ge-
rade sehr informativ. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
nicht wenigstens interne Kostenhorizonte existieren. Al-
les andere wäre ja noch unverantwortlicher als gedacht.
Ein letztes Wort zum ganz nebenbei mitveränderten
Bevölkerungsstatistikgesetz: Finden Sie es eigentlich
vertrauenerweckend, dass das Bevölkerungsstatistikge-
setz, welches in dieser Form ja erst zum 1. Januar 2014
in Kraft getreten ist, nun durch die vorgesehene eilige
Nachbesserung – und hier gibt es zusätzliche Datenerhe-
bungen! – geändert werden muss? Ich nicht.
Ich komme also zum Schluss: Meine Fraktion hatte
das Mikrozensusgesetz 2005 abgelehnt, weil aus unserer
Sicht und nach Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen
und Bürgerrechtler, seine Notwendigkeit nicht konkret
nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd
und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewe-
sen ist. Auch dieser Gesetzentwurf reiht sich in die vor-
anschreitende Katalogisierung des Bürgers ein. Er setzt
auf die Herrschaft der Zahl statt auf Qualitätspolitik. An
dieser grundsätzlichen Kritik halten wir fest. Aus unse-
rer Sicht öffnet die Experimentierklausel den Weg zu ei-
ner Ausweitung der Erhebungen. Wir wollen aber das
Gegenteil, nämlich weniger Datenhalden und vor allem
weniger Zwangserhebungen. Meine Fraktion plädiert
entschieden für das Prinzip der Freiwilligkeit bei Volks-
zählungen jeder Art und für den konkreten Nachweis der
Erforderlichkeit von Zahlen für nachvollziehbare Zwe-
cke. Nur so werden sie die nötige Akzeptanz bei den
Bürgerinnen und Bürgern bekommen.
Deshalb lehnen wir auch heute Ihre Gesetzesände-
rung ab.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Zensus 2011 ist gerade erst ausgewertet.
Er hat durchaus äußerst kontroverse Reaktionen ausge-
löst. Nun steht für fast eine Million Bundesbürgerinnen
und -bürger der nächste Zensus bereits vor der Tür.
Gerade weil der präventive, der vorsorgende und auch
auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte
setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über lau-
fend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt
das Statistikwesen laufend an Bedeutung. Wer wie die
Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren
mit den Folgen einer schrumpfenden Erwerbsbevölke-
rung, der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und
einem anhaltendem Kinderschwund zu rechnen hat,
kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber besteht
Einigkeit. Wir haben uns bereits im vergangenen Jahr
hinlänglich im Rahmen der Debatte um den Zensus 2011
darüber austauschen können.
Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Er-
kenntnisse dar, er ist gewissermaßen der kleine Bruder
der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen und
von zentraler Bedeutung unter anderem für die For-
schung. Alljährlich sehen sich circa eine Million Bun-
desbürger, eine durchaus beachtliche Anzahl, mit den
umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden
konfrontiert, denen sie nicht ausweichen können. Denn
die Teilnahme an den Interviews oder die wahlweise
Ausfüllung der Fragebögen ist aufgrund einer Aus-
kunftspflicht bußgeldbewehrt. Die oft besonders weit
das Privatleben der Befragten berührenden Fragen etwa
nach dem Einkommen, nach den familiären Verhältnis-
sen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel – völlig
unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung –
aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5975
(A) (C)
(D)(B)
schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz dar.
Und genau dieser Konflikt hat die Volkszählungspro-
teste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben
diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als
bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der
Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland. Im
Kern geht es dabei um die Sicherung der informationel-
len Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und
soweit als möglich auch mitentscheiden zu können, wer
was wann über einen erfährt und was dann mit diesem
Wissen gemacht werden darf, das zählt bis heute zu einer
Vorstellung des Datenschutzes, wie ihn auch meine Par-
tei gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen
Gruppen erstritten hat.
Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsur-
teils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die
den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das
Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben; es dient
dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und
Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhe-
bung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, si-
cherzustellen.
Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den
Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und
Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den
Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befind-
liche, wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozen-
susgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche
Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern Fragenkomplexe,
die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert
werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser Verfahrens-
weise trotz der teilweisen Zurücknahme des strikten
Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse der Flexi-
bilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders ziel-
gerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können.
Lassen Sie mich klarstellen: Das Mikrozensusverfah-
ren zählt insgesamt zu den bislang weitgehend geregel-
ten und überwiegend zufriedenstellend verlaufenden
Datenerhebungen unseres Staates. Allerdings gibt es
auch weiterhin eine beständig hohe Zahl von Betroffe-
nen, die über die umfassenden Fragebögen so empört
sind, dass sie förmlich Beschwerde einlegen oder sich
zum Beispiel an die Datenschutzbehörden oder ihre Ab-
geordneten wenden. Dies war einer der Gründe, warum
wir auf die Durchführung eines erweiterten Bericht-
erstattergesprächs gedrungen haben. Die Ergebnisse des
kurzen Termins haben die zahlreichen aufgeworfenen
Fragen nicht zur Gänze klären können: Zwar wurden uns
dankenswerterweise Einschätzungen einiger Bundes-
länder vorgelegt, wie viele Bürgerinnen und Bürger ei-
nen Mahnbescheid riskieren, wir würden es aber für
sinnvoller erachten, dass die Akzeptanz dieses Verfah-
rens systematischer und bei allen Bundesländern ab-
gefragt würde. Dies geschieht bislang nicht. Noch weit-
gehend ungeklärt blieb auch die Frage nach den
zugrunde liegenden Rechenverfahren. Wir haben derzeit
eine Situation, in der eine sehr große Zahl von Kommu-
nen Gerichtsverfahren gegen die Ergebnisse des Zensus
2011 aufgenommen hat. Im Rahmen dieser Verfahren
wurden bereits erste eingehende gutachterliche Stellung-
nahmen bekannt. Diese werfen, ganz unabhängig von
der Differenz zwischen den Zwecksetzungen und
Durchführungsverfahren des Zensus 2011 und des Mik-
rozensus, grundlegende Fragen nach den mathematisch-
statistischen Verfahren der Statistikämter auf, bei denen
nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese auch Fol-
gen für den Mikrozensus haben werden. Hier wird es ei-
ner weiteren, intensiven Beobachtung der Entwicklung
auch seitens des Deutschen Bundestages bedürfen.
Auch wegen der Eingriffstiefe der bußgeldbewehrten
Auskunftspflicht dürfen wir nicht nachlassen zu fragen,
auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der
Umfang der Fragen weiter reduziert werden können,
damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung
weiter reduziert werden kann. Der uns jetzt vorliegende
Entwurf gibt dazu bedauerlicherweise kaum Antworten.
Die Experimentierklausel scheint vielmehr noch weniger
Rechtssicherheit für Betroffene zu bieten als zuvor, so-
weit es um die beabsichtigte Reduzierung der Grund-
rechtseingriffe geht. Vielmehr drängt sich der Eindruck
auf, zukünftig werde sich der Mikrozensus über das
ganze Jahr verteilen und immer wieder auskunftspflich-
tige Situationen erzeugen. Die unterjährige Kontaktauf-
nahme der Verpflichteten bedeutet erneute pflichtige
Zugriffe auf die Privatheit. Es war deshalb richtig, diese
Kontaktaufnahmen unter die Bedingung der Freiwillig-
keit für die Betroffenen zu stellen. Gleichwohl ist die
insgesamt weiter gefasste und damit in ihren Auswirkun-
gen nicht vollständig determinierte Experimentierklausel
angesichts des gerade für das Grundrecht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung geltenden Bestimmtheitsgebo-
tes eine durchaus problematische Vorgehensweise.
Vor dem Hintergrund der nach wie vor offenen
Fragen und der rechtsstaatlich problematisch gewählten
Lösung einer Experimentierklausel, bei der gleichwohl
versucht werden soll, die Anzahl der Betroffenen und
den Umfang möglichst gering zu halten, werden wir uns
bei der heutigen Abstimmung enthalten. Das Verspre-
chen der Bundesregierung, in 2017 eine endgültige ge-
setzliche Klärung zum Mikrozensusverfahren vorzule-
gen, werden wir erinnern. Wir erwarten dann allerdings
eine erneute, eingehende parlamentarische Auseinander-
setzung über Zukunft und Inhalt dieses Verfahrens.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die
Europäische Schutzanordnung, zur Durchfüh-
rung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über
die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaß-
nahmen in Zivilsachen und zur Änderung des
Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen
und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25)
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vor-
liegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umset-
5976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
nung sowie der Durchführung der Verordnung über die
gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi-
vilsachen.
Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutz-
maßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mit-
gliedstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt wor-
den sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden,
wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körper-
liche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Si-
cherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die ge-
richtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können
beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der ge-
fährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte
Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu be-
treten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen
wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten.
Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zu-
kunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitglieds-
land verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er
bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet
keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesent-
liche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen
ist.
Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtli-
nie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der
Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutz-
maßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutzmaß-
nahme muss also nach einer strafrechtlichen Entscheidung
bzw. in einem Strafverfahren angeordnet worden sein.
Ausschlaggebend für die Anordnung einer nationalen
Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass nach dem natio-
nalen Recht strafbares Verhalten vorliegt. Das deutsche
Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanordnungen nach
dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrechtlicher Grund-
lage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist berechtigt,
einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen.
Dies kann sowohl in einem Verfahren der einstweiligen
Anordnung als auch in einem Hauptsacheverfahren ge-
schehen. Die strafrechtlichen Schutzmaßnahmen sind
folglich dem deutschen Recht fremd und können auf
diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund der Richtli-
nie kommt Deutschland daher lediglich als vollstrecken-
der Staat in Betracht. Die Verordnung hingegen vervoll-
ständigt die Richtlinie und regelt die Übertragbarkeit der
zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen, sodass die in
Deutschland erlassenen Maßnahmen in anderen Mit-
gliedsländern einen ähnlichen Schutz genießen.
Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäi-
sche Union die Richtlinie über die Europäische Schutzan-
ordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung
über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnah-
men in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegen-
seitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven,
europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleis-
ten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzu-
setzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung.
Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchfüh-
rung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs-
bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser
Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden
aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenstän-
digen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrens-
gesetz, normiert.
Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für
Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht
auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in ei-
nen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das
Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine
Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entste-
hen.
Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll
wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staa-
tes ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen
Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des ent-
sprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung.
Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU-
Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzan-
ordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht
in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme.
Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem
sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtli-
chen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung
betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem
Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde
angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat
anzuerkennen ist.
Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderli-
che Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der
Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft
werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen
EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu
schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag
durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats aus-
gestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefähr-
dete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die
Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der
Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass
keine erneute Sachprüfung stattfindet.
Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der
Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir
Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den
grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperli-
che und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer
einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Beson-
dere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen so-
zialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer sol-
cher Taten effektiv und schnell schützen zu können.
Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte
mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional
belastend und entsprechend aufwendig für die Beteilig-
ten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der ge-
fährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte des-
halb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen
EU-Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerken-
nung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen
keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen. Um
diesem notwendigen Schutz der EU-Bürgerinnen und
-Bürger gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim
Anerkennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5977
(A) (C)
(D)(B)
durch die Richtlinie und die Verordnung von unserer
Fraktion befürwortet.
Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung
des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbund-
verfahren betrifft.
Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten
im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abge-
schnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe
vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches
Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken.
Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits ge-
nannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015.
Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und ab-
schließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung
ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versor-
gungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichver-
fahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im
Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwer-
derecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist.
Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise
nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger
die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Mög-
lichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechts-
kraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allge-
meinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun
nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der
ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Ge-
fahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig
geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf ver-
hindern.
Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vor-
sieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für die-
sen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die
Gefahr der Doppelehe vermieden; das Gesamtkonstrukt
des Verbundes Ehescheidung bestehend aus Versor-
gungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehe-
gattenunterhalt könnte aber in Schieflage geraten.
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten
haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein
ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesa-
chen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die
Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, nämlich
den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das Gesamte
unausgeglichen werden. Für den Fall der nachträglichen
Einlegung eines Rechtsmittels des Versorgungsträgers
müssen die Beteiligten also die Möglichkeit haben, die
anderen Folgesachen auch zu ändern. Sie müssen daher
die Möglichkeit der Anschlussbeschwerde behalten. Die
Rechtskraft der Ehescheidung soll unangetastet bleiben.
Sie sehen, die Sache ist kompliziert. Es besteht aus
unserer Sicht weiterer Diskussionsbedarf, den wir inner-
halb der Umsetzungsfrist der Gewaltschutzanordnung
nicht sachgerecht bewältigen können. Deshalb hält es
meine Fraktion für notwendig, den Artikel 5 des Gesetz-
entwurfs abzutrennen.
Dennis Rohde (SPD): Der heute in erster Lesung
beratene Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer euro-
päischen Richtlinie. Es wäre aber ein Fehler, zu glauben,
dass uns dies sozusagen unvermittelt von außen herein-
schneien würde. In diesem Hause wurde schon in der
letzten Wahlperiode über die Europäische Schutzanord-
nung debattiert; schon damals hat sich die SPD-Fraktion
mit deutlichen Worten für diese neue Richtlinie ausge-
sprochen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
im Europäischen Parlament haben tatkräftig an ihrer
Ausgestaltung mitgewirkt. Nun, da es um die Umset-
zung in deutsches Recht geht, gehen wir diesen Kurs
weiter.
Das Prinzip der Europäischen Schutzanordnung ist
einfach: Es gibt nun ein unkompliziertes, unbürokrati-
sches Verfahren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum
Schutz vor Gefährdung grenzübergreifend anerkannt
werden können. Ich will ein Beispiel nennen: Man stelle
sich vor, eine Frau in Frankreich wird Opfer von Nach-
stellung. Es gelingt ihr, zu erwirken, dass ihr Stalker sich
ihr nicht mehr nähern darf. Damit ist ein gewisser Schutz
geschaffen. Wenn sie nun aber eine neue Arbeit in Berlin
annimmt und deswegen nach Deutschland zieht, so geht
sie das Risiko ein, dass die gefährdende Person ihr nach-
zieht und sie in Deutschland ungeschützt ist. Sie musste
nach bestehender Rechtslage entsprechende Maßnahmen
wieder von Grund auf beantragen, sozusagen bei null be-
ginnen. Das ist eine reelle Einschränkung der Freizügig-
keit gerade für schutzbedürftige Personen.
Künftig hingegen soll die Anwendung ausländischer
Schutzmaßnahmen in Deutschland ganz einfach werden:
Die geschützte Person stellt einen Antrag beim für sie
zuständigen örtlichen Familiengericht. Daraufhin wird
eine europäische Schutzanordnung erlassen, mit der die
Vorkehrungen des ersten Landes, in unserem Beispiel
also Frankreich, nun auch in Deutschland gelten. Dies
kann das Familiengericht ausschließlich aus formellen
Gründen ablehnen, weil beispielsweise wichtige Infor-
mationen fehlen oder es gar keine Schutzmaßnahme im
ersten Land gibt. Ist dies nicht der Fall, so soll die An-
passung zügig erfolgen.
Gegenüber den Vorschlägen, mit denen sich dieses
Haus zuletzt im Jahr 2010 befasst hat, erhält die jetzt
umzusetzende Richtlinie erhebliche Verbesserungen.
Sollte damals noch die geschützte Person in ihrem eige-
nen Land den Antrag stellen, so geschieht dies nun am
neuen Wohnort und wird vom örtlichen Familiengericht
behandelt; es sind damit allerlei Zwischenschritte, die
dem Prinzip „schnell und unbürokratisch“ zuwidergelau-
fen wären, entfallen. Zudem haben die Fraktionen der
SPD und der CDU/CSU beantragt, dass die gefährdende
Person nicht mehr angehört werden muss, ehe die An-
passung erfolgt. Der Schutz des Opfers muss hier deut-
lich vorgehen.
Die europäische Einigung muss sich auch und gerade
daran messen lassen, was sie für schutzbedürftige Men-
schen erreicht. Solange beispielsweise Frauen bei einem
Umzug in ein anderes europäisches Land befürchten
müssen, ihr gesetzlicher Schutz vor Nachstellung falle
weg, so lange gibt es eben noch reale Hindernisse, die
der Freizügigkeit im Wege stehen. Um es klar zu sagen:
Eine europäische Einigung, die nur der Wirtschaft und
dem Handel dient, verdient ihren Namen nicht. Erst die
5978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Sicherung der Freiheiten des Einzelnen über die Staaten-
grenzen hinaus – und das schließt den europaweiten
Schutz vor Nachstellung und Gewalt ein – macht die eu-
ropäische Einigung zu einer wirklichen, zu einem Zu-
sammenwachsen, bei dem der einzelne Mensch an erster
Stelle steht.
Ursprünglich sollte mit diesem Gesetz eine Änderung
in § 145 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensa-
chen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit, FamFG, verbunden werden. Es geht dabei
darum, eine Lücke im Scheidungsrecht zu schließen, bei
der durch Verwaltungsfehler Ehescheidungen potenziell
nicht rechtskräftig werden und so die Gefahr einer Dop-
pelehe entsteht. Wir nehmen diesen Abschnitt per Ände-
rungsantrag aus dem Gesetzentwurf heraus – nicht etwa,
weil wir die Gesetzesänderung für unnötig hielten, sondern
vielmehr, um Zeit für weitere Beratungen zu gewinnen, so-
dass am Ende auf jeden Fall eine gute, wasserdichte Lö-
sung erarbeitet wird. Gründlichkeit vor Schnelligkeit:
Das ist eine Maxime der SPD-Bundestagsfraktion, die
wir in die große Koalition getragen haben.
Wir in der SPD-Bundestagsfraktion begrüßen es aus-
drücklich, dass die europäische Schutzanordnung nun-
mehr deutsches Recht wird. Wir sorgen damit dafür, dass
das europäische Versprechen der Freizügigkeit, Gleich-
heit und Sicherheit weiter verwirklicht wird. Es ent-
spricht unserem Selbstverständnis, dass wir reelle Hin-
dernisse der Freizügigkeit erkennen und gesetzliche
Abhilfe schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auch
über den breiten Konsens, den die europäische Schutz-
anordnung erfahren hat, und die konstruktive Kritik, mit
der auch der Bundestag erhebliche Verbesserungen be-
wirkt hat. Ich würde mich – und dies richte ich auch an
die Oppositionsfraktionen – darüber freuen, wenn diese
sachorientierte konstruktive Zusammenarbeit auch in
Bezug auf andere Gesetzesvorhaben zum Regelfall wer-
den könnte.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Europäische
Union hat 2011 die Richtlinie über die Europäische
Schutzanordnung und 2013 die Verordnung über die ge-
genseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi-
vilsachen verabschiedet. Beide Rechtsakte sollen sich
gegenseitig ergänzen und zusammen einen effektiven,
europaweiten Schutz der Opfer von Gewalt gewährleis-
ten. Zu diesem Zweck sehen sowohl die Richtlinie als
auch die Verordnung Systeme vor, wonach sowohl straf-
rechtliche als auch zivilrechtliche Gewaltschutzanord-
nungen der Mitgliedstaaten auch in den anderen Mit-
gliedstaaten der EU anerkannt und die den Opfern
gewährten Schutzmaßnahmen auf einen anderen Mit-
gliedstaat ausgedehnt werden können. Für die Umset-
zung der Richtlinie und für die Durchführung der Ver-
ordnung bedarf es Umsetzungs- bzw. ergänzender
Durchführungsvorschriften. Die Richtlinie ist bis zum
11. Januar 2015 umzusetzen. Ab diesem Tag gilt auch
die Verordnung.
Der vorliegende Entwurf beinhaltet die erforderlichen
Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und zur
Durchführung der Verordnung. Die Vorschriften werden
danach in einem eigenständigen Gesetz zusammenge-
fasst. Die gemeinsame Umsetzung und Durchführung
erscheint angezeigt, weil beide Rechtsakte sich gegen-
seitig vervollständigen sollen und dieselbe Zielsetzung
haben. Außerdem erfolgt sowohl die Umsetzung der
Richtlinie als auch die Durchführung der Verordnung im
Zivilrecht anknüpfend an das Familienverfahrensrecht
und das materielle Gewaltschutzrecht. Eine VO dieser
Vorschriften in einem bereits bestehenden Gesetz er-
scheint dagegen nicht sachgerecht, da insbesondere im
FamFG bisher keine Vorschriften zur Umsetzung bzw.
Durchführung internationaler Rechtsakte enthalten sind.
Der Gesetzentwurf beinhaltet zum einen Regelungen,
die die Anerkennung von Schutzmaßnahmen ermögli-
chen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU in
Strafsachen erlassen worden sind. Zum anderen regelt er
die Ausstellung der Bescheinigung über inländische Ge-
waltschutzanordnungen, die in anderen Mitgliedstaaten
ohne Vollstreckbar-Erklärungsverfahren vollstreckt wer-
den sollen. Darüber hinaus enthält er Vorschriften zur
Anerkennung und Vollstreckung von zivilrechtlichen
Gewaltschutzanordnungen aus anderen Mitgliedstaaten.
Außerdem wird eine Änderung des FamFG aufgenom-
men, die das Scheidungsverbundverfahren betrifft. Mit
einer Änderung im Rechtsmittelrecht in Ehesachen sol-
len falsche Rechtskraftzeugnisse zur Ehescheidung ver-
mieden werden.
Da Intention und Inhalt sowohl der Richtlinie als auch
der Verordnung zu begrüßen sind und eine EU-rechtliche
Pflicht zu deren Umsetzung bzw. Durchführung besteht,
ist die Gesetzinitiative grundsätzlich zustimmungsfähig.
Da zudem nach bisheriger Prüfung auch keine gravieren-
den handwerklichen oder inhaltlichen Kritikpunkte of-
fensichtlich erkennbar sind, dürften sich die Beratungen
dazu im Ausschuss als nicht sonderlich konträr erwei-
sen. Mit anderen Worten: sachlich und rechtlich geprüft
und bislang für gut befunden. Erforderliche marginale
Änderungen, die sich möglicherweise noch als notwen-
dig erweisen, können in den anstehenden Beratungen
durchgeführt werden.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ge-
waltschutzgesetz war ein Meilenstein rot-grüner Rechts-
und Frauenpolitik. Heute sprechen wir über eine euro-
päische Dimension des Themas. Die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union haben in ihren Rechtsordnungen
unterschiedlich ausgeprägte Schutzmechanismen gegen
häusliche Gewalt. Bei der Europäischen Schutzanord-
nung geht es darum, den Schutz aus dem Heimatland ge-
wissermaßen mit über die Grenze nehmen zu können.
Dafür war ein Instrument gegenseitiger Anerkennung
nötig. Hierzu ist eine EU-Richtlinie beschlossen worden.
Diese Richtlinie ist jetzt in nationales Recht umzusetzen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu ei-
nige Anpassungen vor.
Die Koalition hatte ursprünglich vorgesehen, diesen
Gesetzentwurf ohne Debatte in die erste Lesung zu ge-
ben. Das wird dem Thema aus unserer Sicht allerdings
nicht gerecht, zumal sich doch einige Fragen stellen hin-
sichtlich der gesetzlichen Änderungen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5979
(A) (C)
(D)(B)
Eine dieser Fragen betrifft die vorgesehene Verkür-
zung des Rechtsschutzes im Scheidungsverfahren. Wenn
ein Träger der Altersvorsorge Rechtsmittel einlegt gegen
die Entscheidung des Familiengerichts, sollen die ge-
schiedenen Ehegatten künftig kein Anschlussrechtsmit-
tel mehr einlegen können, damit die Rechtskraft der Ver-
bundentscheidung und damit der Ehescheidung nicht
nachträglich aufgehoben werden kann.
§ 145 FamFG – Gesetz über das Verfahren in Famili-
ensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit – bedeutet damit eine teilweise Aufhe-
bung des Verbundes zwischen der Ehesache und dem
Versorgungsausgleich. Dieser Verbund hat aber eine
Schutzfunktion gerade gegenüber dem wirtschaftlich
schwächeren Ehegatten. Deswegen sehen unter anderem
der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsan-
waltskammer die Aufhebung an dieser Stelle sehr kri-
tisch. Hier würde mich schon interessieren, wie die Bun-
desregierung zu diesen Bedenken steht?
Ein anderer Aspekt betrifft das Gewaltschutzgesetz
selbst. Der Deutsche Juristinnenbund hält es für falsch,
in dem Gesetzentwurf eine mit § 4 Gewaltschutzgesetz
parallel laufende Strafvorschrift – § 23 des neuen EU-
Gewaltschutzverfahrensgesetzes – einzufügen, ohne da-
bei das Gewaltschutzgesetz selbst zu ändern. Eine Dopp-
lung von gleichlautenden Strafvorschriften entspricht si-
cherlich nicht der Rechtsklarheit.
Ich möchte daher die Chance dieses Gesetzgebungs-
verfahrens nicht ungenutzt lassen, um darauf hinzuwei-
sen, dass wir in der Tat über Reformbedarf beim Gewalt-
schutzgesetz diskutieren sollten. Man kann sich
beispielsweise fragen, ob wir nicht eine strafrechtliche
Schutzlücke haben, wo keine gerichtliche Anordnung
nach § 1 Gewaltschutzgesetz erging, weil sich die Par-
teien auf einen Vergleich geeinigt haben, dieser Ver-
gleich aber nicht eingehalten wird.
Diese und weitere Fragen sollten wir in der Aus-
schussberatung gründlich beraten.
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Ihnen
liegt heute der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutz-
anordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU)
Nummer 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung
von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung
des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und
in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
vor.
Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei EU-Rechtsakte
umgesetzt werden, die die grenzüberschreitende Wir-
kung von nationalen Gewaltschutzanordnungen inner-
halb der EU gewährleisten sollen. Diese Rechtsakte sind
im Kontext der Bestrebungen des Rates und der Europäi-
schen Kommission zu sehen, EU-weit einen besseren
Schutz der Opfer von Gewalt zu bewerkstelligen.
Deutschland hat dieses Bestreben stets unterstützt, und
die Bundesregierung schlägt daher vor, die Richtlinie
jetzt umzusetzen und dafür Sorge zu tragen, dass auch
die durch die Verordnung bedingten nationalen Durch-
führungsvorschriften bis zu dem Tag, ab dem die Ver-
ordnung gilt, also bis zum 11. Januar 2015, in Kraft sind.
Dieses Ziel soll mit dem vorliegenden Entwurf erreicht
werden.
Kernstück des Entwurfs ist dabei Artikel 1, der das
Gesetz zum Europäischen Gewaltschutzverfahren, kurz
EU-Gewaltschutzverfahrensgesetz, einführt.
In Deutschland ist der Gewaltschutz durch das Ge-
waltschutzgesetz zivilrechtlich geregelt. Wer sich Nach-
stellungen, Belästigungen oder tätlichen Angriffen aus-
gesetzt sieht, kann eine gerichtliche Anordnung
erwirken, die es dem Täter zum Beispiel verbietet, sich
dem Opfer auf einen geringeren als den in der Anord-
nung vorgesehenen Mindestabstand anzunähern, oder
die es ihm untersagt, das Opfer telefonisch oder auf an-
dere Weise zu belästigen. Bislang reicht die Wirksamkeit
einer solchen Anordnung geografisch bis zu Deutsch-
lands Grenzen. Im Ausland entfaltet sie keine Wirkung,
Umgekehrt gilt dies für vergleichbare Gewaltschutzan-
ordnungen aus dem Ausland. Die durch eine solche An-
ordnung geschützte Person kann sich, wenn sie sich au-
ßerhalb der Grenzen des Anordnungsstaates aufhält,
nicht auf den Schutz der Anordnung berufen.
Für den Bereich der EU wird dies jetzt mit der Umset-
zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
nung und der neuen Verordnung über die gegenseitige
Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen
verbessert. Künftig wird die „Reisefähigkeit“ nationaler
Gewaltschutzanordnungen in der gesamten Europäi-
schen Union gewährleistet sein, dies insgesamt mit Aus-
nahme Dänemarks und teilweise mit Ausnahme Irlands.
Es bedurfte hierfür auf europäischer Ebene zweier
Rechtsakte. Denn das Gewaltschutzrecht innerhalb der
Europäischen Union ist nicht einheitlich zivilrechtlich
geregelt. Etwa in Spanien und Portugal ergehen Gewalt-
schutzanordnungen als Nebenfolge im Strafverfahren.
Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung
betrifft allein solche, dem deutschen Recht zunächst
fremde Schutzanordnungen. Demgegenüber erfasst die
Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von
Schutzmaßnahmen in Zivilsachen solche Anordnungen
wie die nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz, näm-
lich zivilrechtliche Schutzanordnungen. Richtlinie und
Verordnung ergänzen sich also und sorgen gemeinsam
für einen umfassenden EU-weiten Opferschutz im Be-
reich des Gewaltschutzrechts.
Es ist nun aber nicht so, dass die Richtlinie uns zwin-
gen würde, in Zukunft auch in Deutschland ein straf-
rechtlich ausgestaltetes Gewaltschutzsystem vorzuhal-
ten. Und demgemäß bleibt es auch zukünftig dabei, dass
Gewaltschutz in Deutschland allein zivilrechtlich er-
folgt. Der vorliegende Entwurf ändert hieran nichts. Dies
bedingt aber ein rechtstechnisches Novum, nämlich die
Transformation strafprozessualer Anordnungen aus dem
Ausland in unser zivilrechtliches System. Der vorlie-
gende Entwurf enthält die hierzu erforderlichen gesetzli-
chen Maßgaben in den §§ 1 bis 11. Danach erlässt das
angerufene deutsche Gericht auf der Grundlage der aus-
ländischen Ausgangsmaßnahme eine vergleichbare An-
5980 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
ordnung nach dem Gewaltschutzgesetz, aus der das Op-
fer dann in Deutschland vollstrecken kann.
Darüber hinaus und für Deutschland von größerer Be-
deutung führt der Entwurf die zivilrechtliche Verord-
nung durch. Ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt ist hier
die Abschaffung des sogenannten Exequaturverfahrens.
Nach der Verordnung können EU-Bürger dann im EU-
Ausland unmittelbar aus jeder nationalen zivilrechtli-
chen Gewaltschutzanordnung vollstrecken, ohne dass es
dort noch eines zwischengeschalteten Anerkennungsver-
fahrens bedürfte. Dies gilt auch umfassend für alle Ge-
waltschutzanordnungen nach dem deutschen Gewalt-
schutzgesetz. Ein deutscher Bürger kann sich etwa bei
spanischen Behörden unmittelbar auf die Geltung einer
solchen deutschen Anordnung berufen, aus der dann
nach spanischem Recht vollstreckt und Opferschutz her-
gestellt wird.
Die Artikel 2 bis 4 enthalten notwendige Folgeände-
rungen in bereits bestehenden Gesetzen, so insbesondere
im Kostenrecht.
Ich bitte Sie nun um Ihre Zustimmung.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung der Finanzaufsicht über Versi-
cherungen (Tagesordnungspunkt 26)
Anja Karliczek (CDU/CSU): Mit der heutigen Le-
sung beginnt die Umsetzung der europäischen Richtlinie
Solvency II in nationales Recht. Der Entwurf der Bun-
desregierung für das Gesetz zur Modernisierung der Fi-
nanzaufsicht liegt vor. Im März kommenden Jahres wer-
den die Beratungen im Plenum und den Ausschüssen
abgeschlossen sein. Dann haben wir ein Mammutprojekt
bewältigt, denn mit Solvency II wird die Versicherungs-
aufsicht in Europa grundlegend reformiert.
Die einheitliche europäische Aufsicht über Versiche-
rungsunternehmen ist für uns hier in Deutschland ein
Wechsel der Aufsichtsphilosophie und damit eine He-
rausforderung, die nur mit gemeinsamen Anstrengungen
bewältigt werden kann.
Sie trägt veränderten Rahmenbedingungen in der Fi-
nanzindustrie Rechnung und führt in einer hochregulier-
ten Branche Entscheidung und Verantwortung weiter zu-
sammen.
Worüber reden wir im Detail?
Das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht in
der Versicherungswirtschaft besteht aus drei Säulen: ei-
ner quantitativen, einer qualitativen und einer aufsichts-
rechtlichen.
Die quantitativen Anforderungen legen eine Eigen-
mittelunterlegung der Anlagen nach Risikoaspekten fest.
Die qualitativen Anforderungen fordern den Nach-
weis der Unternehmen, dass Schlüsselpositionen funk-
tionell vorhanden und mit der notwendigen fachlichen
Qualifikation besetzt sind.
Drittens legen die aufsichtsrechtlichen Anforderun-
gen erhöhte Berichtspflichten an die BaFin fest. Die Zu-
sammenarbeit der Unternehmen mit der Aufsicht wird
gestärkt und schafft dadurch Möglichkeiten einer enge-
ren Kontrolle.
Schon im Jahr 2009 hat die EU-Kommission die
Richtlinie verabschiedet. Die Arbeiten daran hatten
schon vor der Finanz- und Währungskrise begonnen.
Dennoch hat die Krise der Richtlinie in ihrer Entwick-
lung ihren Stempel aufgedrückt. Solvency II wird heute
in einem Atemzug genannt mit den europäischen
Finanzmarktreformen von Basel II und III.
Die Finanzkrise hatte weitaus weniger Auswirkun-
gen auf die Versicherungswirtschaft als auf den Banken-
sektor. Die Versicherungskonzerne haben aus der Er-
fahrung vergangener Zeiten eine sehr konservative
Anlagestrategie gefahren. Dies hat dazu geführt, dass
heute viele Versicherer überwiegend Anleihen in ihren
Depots haben. Eine einseitige Anlagestrategie ist aber
auch eine Form von hohem Risiko, da Marktveränderun-
gen voll auf die komplette Anlage durchschlagen.
Dieses Risiko wird unter Solvency II neu bewertet
werden können.
Mit der Risiko- und Prinzipienbasiertheit des novel-
lierten Aufsichtsgesetzes werden diese Schwächen der
heutigen Anlageverordnung ausgemerzt.
Deswegen ist es richtig, mit Solvency II analog zu
den Banken auch die Versicherer zu verpflichten, sich
mit den zukünftigen Risiken ihrer Bilanzen stärker aus-
einanderzusetzen. Die Perspektive verändert sich. Sol-
vency II fordert die Versicherungsunternehmen auf, ihre
Bilanzen mit Blick darauf zu betrachten, was zukünftige
Marktveränderungen für ihre Kapitalanlage bedeuten.
Wir wollen mit Solvency II für die Versicherungsunter-
nehmen mehr Stabilität schaffen; denn Versicherungen als
Kapitalsammelstellen sind für unsere Volkswirtschaft von
immenser Bedeutung. Allein die Lebensversicherer ha-
ben im letzten Jahr 900 Millionen Euro Anlagevermögen
eingesammelt. Die Versicherungswirtschaft insgesamt
hat 2013 fast 1,4 Billionen Euro an Kapital angelegt.
Dies erklärt auch den hohen Regulierungsgrad der
Branche durch das Versicherungsaufsichts- und Versi-
cherungsvertragsgesetz. Er ist Ausdruck des gesamtge-
sellschaftlichen Stellenwertes der Branche für unsere
Volkswirtschaft.
Neben den wirtschaftlichen und finanzpolitischen As-
pekten hat diese Reform aber auch eine gesellschafts-
politische Aufgabe: Wir wollen sicherstellen, dass die
Versicherten Vertrauen haben in die Garantien, die ihnen
seitens der Versicherungsunternehmer gegeben wurden.
Fast jeder Bürger hat eine Versicherung. Sie dienen
der Absicherung von Lebensrisiken oder der Vorsorge
auf das Alter. So sollen über 90 Millionen Lebensversi-
cherungsverträge auch dafür sorgen, dass Einkünfte in
der Zeit nach dem Erwerbsleben gesichert bleiben. Die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5981
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Menschen werden glücklicherweise immer älter. Die
Absicherung im Alter erhält damit aber eine immer grö-
ßer werdende Bedeutung.
Die Finanz- und Schuldenkrise hat Vertrauen in Kapi-
talanlagen zerstört. Mit Solvency II machen wir nun
weitere Schritte, dieses Vertrauen wiederherzustellen.
Wir tun dies, indem wir mit Solvency II den Fokus auf
die langfristige Tragfähigkeit von Risiken durch Versi-
cherungsunternehmen legen.
Solvency II ist ein völlig neues Modell. Wurden die
Eigenmittelanforderungen der Versicherer bislang pau-
schal bestimmt und die Risiken begrenzt, so folgt Sol-
vency II einem risiko- und prinzipienorientierten Ansatz.
Die Versicherer werden künftig frei entscheiden können,
worin sie investieren. Sie müssen aber im Gegenzug alle
eingegangenen Anlagerisiken adäquat mit Eigenmitteln
unterlegen. Zudem müssen sie regelmäßig prüfen, ob sie
ihr Risiko auch angemessen abbilden. Das ist ein grund-
sätzlich neues Modell der Versicherungsaufsicht.
Natürlich bedeuten die neuen Eigenmittelvorschriften
für die Unternehmen eine große Herausforderung. Auch
die qualitativen Anforderungen sind nicht einfach umzu-
setzen. Gleiches gilt für die neuen Berichtspflichten. Mit
ihnen ist viel Aufwand verbunden. Doch ich bin sicher:
Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Große, weltweit agierende Versicherungsunterneh-
men brauchen stabile Strukturen. Deshalb führt an die-
sen Maßnahmen kein Weg vorbei.
Welche Ziele verfolgen wir im Einzelnen mit Sol-
vency II?
Grundsätzlich wollen wir mit Solvency II den Schutz
der Versicherten in Europa stärken. Wir wollen einheitli-
che Regeln für den Wettbewerb und für die Aufsicht
schaffen.
Die aufsichtsrechtlichen Bestimmungen werden er-
weitert, um Risiken und Missstände frühzeitig zu erken-
nen und gegen sie einschreiten zu können.
Strengere Anforderungen an das Risikomanagement
der Versicherer erhöhen die Sicherheit. Anlagen werden
künftig nach ihrem Risiko bewertet und die Versiche-
rungskunden erhalten mehr Transparenz.
Zurück zu den drei Säulen:
Säule I regelt die quantitativen Anforderungen. Die
Kapitalausstattung eines Versicherungsunternehmens
wird nach mathematischen Kriterien über die Risiko-
struktur errechnet und damit dessen Risikotragfähigkeit
ermittelt. Die Bewertung von Aktiva und Passiva orien-
tiert sich künftig am Markt und dessen Risiken und nicht
mehr an der HGB-Bilanz. So ist eine Anleihe – wie wir
in der Vergangenheit festgestellt haben – ja nicht immer
risikolos. Andersherum ist ein kleines Investment einer
großen Kapitalanlagegesellschaft in einen Investment-
fonds junger Unternehmen kein unüberschaubares Ri-
siko. Auf die Diversifizierung der Anlage kommt es an.
Wir wissen, dass diese grundlegende Änderung in der
Bewertung von Bilanzpositionen einhergehend mit den
daraus entstehenden Kapitalbedarfen eine Herausforde-
rung ist, die nicht mal eben hopp, hopp zu erfüllen ist.
Deshalb sieht das Gesetz eine Übergangszeit von 16 Jah-
ren vor, um diese Anforderungen zu erfüllen. Die neuen
Anforderungen – das betone ich ausdrücklich und gehe
davon aus, dass Sie es genauso sehen – sind ein wichti-
ger Beitrag zur Stabilität der Finanzbranche insgesamt.
Mit den qualitativen Anforderungen der zweiten
Säule erhält die Geschäftsorganisation der Unternehmen
neue Regeln. Bestimmte Schlüsselfunktionen wie Risi-
kocontrollingfunktionen, Compliance-Funktionen, versi-
cherungsmathematische Funktion und interne Revision
sind von den Unternehmen einzurichten und zu unterhal-
ten. Dazu zählt auch ein adäquates Risikomanagement-
system. Kern des Riskomanagementsystems ist die Ri-
siko- und Solvabilitätsbeurteilung der Unternehmen,
kurz ORSA. Durch die Kalkulation des eigenen Risikos
werden Risiko- und Kapitalmanagement miteinander
verknüpft. Die Inhaber der entsprechenden Schlüssel-
funktionen werden ihre Eignung mit der Einführung von
Solvency II nachweisen müssen.
Säule III schließlich umfasst die Berichtspflichten ge-
genüber der Versicherungsaufsicht und der Öffentlich-
keit. Einmal pro Jahr erhält die Aufsicht im sogenannten
Regular Supervisory Report, RSR, qualitative und quan-
titative Informationen zur Geschäftstätigkeit, Gover-
nance und Risikolage des Unternehmens. In einem Sol-
venz- und Finanzbericht, dem Solvency and Financial
Condition Report, SFCR, wird außerdem die Öffentlich-
keit über die Risikosituation und das Kapitalmanage-
ment sowie zur Geschäftstätigkeit informiert.
Dies alles steht detailliert auf den vor uns liegenden
362 Seiten. Die werden wir nun in die Ausschüsse über-
weisen. Bis zum März des kommenden Jahres liegen da-
mit intensive Beratungen vor uns, in denen die noch of-
fenen Fragen erörtert werden.
Die Versicherungswirtschaft ist ein tragender Teil des
Finanzsystems unserer Volkswirtschaft. Gute Lösungen
für eine moderne Aufsicht sind deshalb im Sinne jedes
einzelnen Bürgers. Der Aspekt der Altersvorsorge treibt
mich in diesem Zusammenhang sehr um.
Die neue Aufsicht ist ein komplexes Gesetzeswerk.
Deshalb wünsche ich mir eine konstruktive Zusammen-
arbeit zwischen allen Beteiligten. Uns alle eint das Ziel,
die Stabilität der Versicherungsunternehmen und damit
das Vertrauen der Versicherten zu stärken. Ich denke, das
ist aller Mühe wert.
Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben heute Vormittag
das BRRD-Umsetzungsgesetz verabschiedet, das eine
wichtige Säule der Bankenunion mit seinem Restruktu-
rierungs- und Abwicklungsregime darstellt. Die europäi-
sche Bankenunion ist ein Quantensprung, was Aufsicht
und Abwicklung angeht, und Ergebnis einer Lehre aus
der globalen Finanzkrise.
Die Lehren aus der Finanzkrise haben uns aber auch
gezeigt, dass nicht nur von Banken eine Gefahr ausgeht,
wenn sie im Zweifel zu groß sind, um zu scheitern, son-
dern auch von Versicherungsunternehmen. Es gibt auch
5982 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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in Europa systemrelevante Versicherungsunternehmen.
„Too big to fail“ gilt auch für sie.
Wir erinnern uns, dass nicht nur Banken durch den
Steuerzahler gerettet werden mussten, sondern der ame-
rikanische Steuerzahler musste mit 182 Milliarden Dol-
lar für den Versicherungsgiganten American Internatio-
nal Group, AIG, einspringen. Die Schulden hat dieser
Versicherungskonzern zwar inzwischen zurückgezahlt,
aber die Grundproblematik einer wirksamen und auch
strengeren Finanzaufsicht für Versicherer bestand.
Vor uns liegt nun ein Gesetzentwurf, der eine Ver-
schärfung der nationalen Versicherungsaufsicht vorsieht.
Damit wird die sogenannte Solvency-II-Richtlinie der
EU in nationales Recht gegossen. Jahrelang ist über
Details intensiv diskutiert worden. Nun liegt ein über
360 Seiten starkes Mammutwerk vor uns.
Die wichtigste Neuregelung im Gesetzentwurf ist
eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften für Versi-
cherungen. Diese orientieren sich nicht mehr allein an
der Größe eines Versicherers, sondern berücksichtigen
auch andere Risikofaktoren wie etwa Kapitalmarkt- und
Kreditrisiken, die ebenfalls die Existenz eines Unterneh-
mens bedrohen könnten.
Diese neuen Eigenkapitalvorschriften sollen das
„operationelle Risiko“ eines Versicherungsunterneh-
mens berücksichtigen. Das ist das Verlustrisiko, das sich
aus der Unangemessenheit oder dem Versagen von inter-
nen Prozessen, Mitarbeitern oder Systemen oder durch
externe Ereignisse ergeben kann. Die Versicherungen
werden mit dem Gesetz zukünftig verpflichtet sein, auch
für diese Risiken Kapital bereitzuhalten. Dies ist ein sehr
wichtiger Schritt zur Stabilität innerhalb der Versiche-
rungsbranche.
Ferner erfolgt im Gesetz eine Überarbeitung der Be-
wertungsvorschriften. Vermögenswerte und Verbindlich-
keiten der Versicherungen sollen stärker an Marktwerten
gemessen werden. Die Tochterunternehmen von großen
Versicherern werden sich zusätzlichen Aufsichtspflich-
ten unterziehen müssen, bei denen die Finanzlage der
gesamten Versicherungsgruppe berücksichtigt wird.
Mit dem Gesetz wird auch eine bessere Zusammenar-
beit mit anderen nationalen Aufsichtsbehörden der EU
auf den Weg gebracht. Das Aufsichtsrecht im europäi-
schen Binnenmarkt wurde harmonisiert. Damit wird be-
rücksichtigt, dass viele Versicherer grenzüberschreitend
tätig sind. Beispielsweise müssen Erstversicherer zu-
künftig ihre gebuchten Prämienbeträge, die Höhe der Er-
stattungsleistungen und Rückstellungen nach Mitglied-
staaten aufgeschlüsselt mitteilen.
Mit dem Gesetz soll auch eine gewisse Abhängigkeit
von Ratings zurückgedrängt werden, um letztlich wei-
tere Gradmesser für die Solvenz eines Unternehmens zu
finden.
Wie bei jedem Gesetzentwurf gibt es auch beim aktuel-
len bereits jetzt einige Kritikpunkte, die wir uns im Ver-
lauf des Gesetzgebungsverfahrens genauer anschauen und
die Gegenstand der Sachverständigenanhörung Anfang
Dezember sein werden. Dabei geht es etwa um Aspekte
der Testierfähigkeit der Solvabilität, die Umsetzung von
Leitlinien der EIOPA oder Übergangsfristen.
Manche Kritik scheint berechtigt, bei mancher scheint
die Idee vorzuherrschen, mit Einführung von Solvency II
würden langjährig etablierte nationale Standards kom-
plett aufgegeben. Man wird nicht langgehegte Rege-
lungswünsche quasi durch die Hintertür verwirklichen
können. Andererseits scheint manche Befürchtung grö-
ßer zu sein als die tatsächliche gesetzgeberische Auswir-
kung.
Insgesamt werden wir darauf achten müssen, dass
Maß und Mitte, also in diesem Fall insbesondere Ver-
hältnismäßigkeit und Proportionalität, gewahrt bleiben.
Neue Anforderungen sollten beispielsweise kleine Un-
ternehmen nicht überlasten, weil etwa Berichtspflichten
einen kaum zu erfüllenden bürokratischen Aufwand be-
deuten. Die Größe der Versicherer und ihre jeweiligen
Risiken müssen wir beachten und entsprechend bewer-
ten – vergleichbar der Systemrelevanz bei den Banken.
Die neuen Regelungen sollen zum 1. Januar 2016 in
Kraft treten. Bis 31. März 2015 muss die Richtlinie in
nationales Recht umgesetzt sein. Dies ist ehrgeizig aber
zu schaffen.
Mit diesem Gesetzesvorhaben wird die Regulierung
der Versicherungsbranche harmonisiert, die Branche ri-
sikofester gemacht, und insgesamt schaffen wir damit
mehr und notwendiges Vertrauen.
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit der vor-
liegenden Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes,
VAG, geht die Umsetzung des neuen europäischen Auf-
sichtsrechts, Solvency II, in die vorerst letzte Runde. Es
wird zweifelsohne ein Epochenwechsel eingeleitet. Aber
dieser muss auch zwingend eingeleitet werden, damit
der Versicherungsmarkt nicht zum Ursprung der nächs-
ten großen Finanzkrise wird.
Umso unverständlicher ist, dass die Versicherungs-
branche und ihre Lobby schon wieder das große Klage-
lied anstimmen. Rechtzeitig dafür hat ja der Gesamtver-
band der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV,
seine Medienabteilung entsprechend aufgerüstet. Das
wäre aber gar nicht nötig gewesen. Denn ohne Zweifel
gibt es für die Versicherungsbranche viel zu tun, es wird
ihr schon einiges abverlangt. Vielleicht wird an einigen
Stellen auch zu viel abverlangt, wenn man zum Beispiel
an die umfänglichen formalen Anforderungen, die Be-
richtspflichten denkt, die Kosten mit sich bringen. Ge-
rade kleinere Versicherungen kann dies vor größere He-
rausforderungen stellen, weswegen man über geringere
formale Anforderungen nachdenken sollte, solange we-
der die angestrebte systemische Risikobegrenzung gelo-
ckert wird noch der Verbraucherschutz bzw. Versicher-
tenschutz leidet.
Dies sind zugleich die beiden Begriffe, die nach Auf-
fassung der Linken als Fixpunkte zur Beurteilung der
VAG-Novelle herangezogen werden sollten. Aus dieser
Perspektive bleiben dann doch einige Unklarheiten und
Kritikpunkte bestehen. Ich möchte im Folgenden exem-
plarisch auf ein paar Probleme eingehen:
http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Gesetze/2014-09-03-FAG.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5983
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Zum einen enthält der Gesetzentwurf nun die Rege-
lungen, die bereits vor einiger Zeit mit dem Lebensversi-
cherungsreformgesetz an den Start gebracht wurden. Ins-
besondere habe ich die §§ 139 und 145 des Entwurfs zu
der Überschussbeteiligung vor Augen. Sie können nun
sagen, dass es da doch gar nicht um die Aufsicht gehe,
dass dies doch kalter Kaffee sei, aber dennoch ist für die
Versicherten an dieser Stelle ein nochmaliger Hinweis
wichtig: Mit dieser Regelung können ihnen die Bewer-
tungsreserven gekürzt werden. Vertraglich zustehende
Ansprüche an Überschüssen verbleiben so in den Versi-
cherungsunternehmen. Die Versicherten sind die Ge-
lackmeierten. Dass dies ungerecht ist, kann man nicht oft
genug wiederholen.
An dieser Stelle muss man zudem die freien Rückstel-
lungen für Beitragsrückerstattung, freie RfB, erwähnen.
Sie gehören zu dem großen Überschusstopf, aus dem an
die Versicherten ausgeschüttet werden soll. Doch der
vorliegende Gesetzentwurf verfestigt, dass diese freien
RfB als Eigenmittelersatz missbraucht werden. Eigen-
mittel werden schlichtweg durch Kundengelder ersetzt,
dadurch sinkt zugleich die Überschussbeteiligung der
Versicherten. Auch dies ist höchst ungerecht.
Taschenspielertricks sind aus meiner Sicht absolut
fehl am Platze, wenn es darum geht, den Versicherungs-
sektor auf Jahre zu stabilisieren und risikofester zu ma-
chen. Während die beiden eben genannten Fälle eher den
Verbraucher- bzw. Versichertenschutz betreffen, bezie-
hen sich folgende Punkte auf die Frage, ob im Gesetz-
entwurf tatsächlich für eine ausreichende systemische
Risikobegrenzung gesorgt wird.
Kritisch ist, dass sich durch die angestrebten Neure-
gelungen der Derivatehandel ausweiten kann, weil auf-
grund der Risikosensitivität von Solvency II die Nach-
frage nach Derivaten zur Absicherung eben dieser
Risiken steigen wird. In § 15 Absatz 1 und § 124 Absatz
1 Nummer 5 VAG-E ist eine Begrenzung des Deriva-
tehandels kaum gegeben, wenn derartige Finanzinstru-
mente schon zur „Erleichterung einer effizienten Portfo-
lioverwaltung“ in großem Umfang Verwendung finden
dürfen. Die Finanzkrise hat gezeigt, wozu der blauäu-
gige Umgang mit Derivaten führen kann. Hier sollten
also aus Sicht der Linken noch Regelungen eingebaut
werden, um die gesamtwirtschaftliche Stabilität nicht zu
gefährden.
Des Weiteren sind die internen Modelle nicht unpro-
blematisch, welche von Versicherungen anstelle eines
Standardmodells zur Berechnung der aufsichtsrechtli-
chen Eigenmittelanforderungen – in Abhängigkeit vom
Risiko der Vermögensanlagen – genutzt werden dürfen.
Der Grundsatz bei Solvency II lautet: „Mehr Risiko er-
fordert mehr Sicherheiten“. Doch dieser Grundsatz wird
öfter durchbrochen. Nicht nur dadurch, dass Staatsanlei-
hen aus dem europäischen Wirtschaftsraum per se als ri-
sikolos angesehen werden. Gerade interne Modelle sind
problematisch, weil sie die Möglichkeit bieten, eigene
Risiken klein zu rechnen. Erst recht, wenn aufgrund sehr
langer Übergangsfristen genug Zeit zum kreativen Trick-
sen bleibt. Ferner werden Kontrolle sowie Vergleichbar-
keit zwischen den Versicherungen erschwert, wenn zig
Modelle zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderun-
gen nebeneinander existieren. Dies erschwert letztlich
die Arbeit der Aufsicht, was insgesamt die Finanzmarkt-
stabilität beeinträchtigen kann.
Hier setzt nun gleichsam eine grundsätzliche Kritik
an: Die Eigenmittelanforderungen sind schon von der
Versicherungslobby in Brüssel Stück für Stück nach unten
gedrückt worden. Dadurch behalten die Versicherungsun-
ternehmen höhere ausschüttungsfähige Gewinne – zulas-
ten ihrer Kunden. Alles in allem werden die in Solvency II
zugrunde gelegten Eigenmittelanforderungen die Versi-
cherungen nicht schützen und festigen können, wenn es
mal zu einem wilden Sturm statt zu einem lauen Lüft-
chen kommt. Es besteht aus unserer Sicht tatsächlich die
Gefahr, dass derart Versicherungen zu einem Ursprung
für eine kommende Finanzkrise werden können. Auch
weil die Regulierungsvorschriften gleichgerichtet zu de-
nen im Bankensektor wirken, was im Krisenfall verstär-
kend wirken kann. Die Gelackmeierten wären dann nicht
nur die Versicherten, sondern gleich alle Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahler, wenn sie zur Rettung maroder In-
stitute herangezogen werden.
Ganz zu schweigen von den immensen Gefahren für
die Altersvorsorge der Menschen, was uns Linke nur da-
rin bestärkt, die Altersvorsorge von den Risiken des
Kapitalmarktes zu entkoppeln und statt Versicherungs-
unternehmen durch die Propagierung privater, kapitalge-
deckter Altersvorsorge zu mästen, endlich wieder die ge-
setzliche Rente entscheidend zu stärken.
Es führt kein Weg daran vorbei, aus Gründen der ge-
samtwirtschaftlichen Stabilität und des Versicherten-
schutzes beim Gesetzentwurf nachzubessern.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit Solvency II betreten wir bei der Regulierung der
Versicherungen eine neue Welt. Der Systemwechsel
ähnelt dem des Übergangs von Basel I zu Basel II im
Bereich der Bankenregulierung. Wie bei den Regeln von
Basel II den Banken wird nun den Versicherungsunter-
nehmen die Möglichkeit eingeräumt, ihre Anlagerisiken
mit mehr Eigenverantwortung selbst einzuschätzen und
diese Einschätzungen als Grundlage für die Berechnung
ihres regulatorischen Eigenkapitals zu verwenden.
Beide Systemwechsel lehnen wir ab. Im Bankbereich
hat sich inzwischen gezeigt, dass ein höheres Maß an
Komplexität der Regeln keineswegs zu mehr Effizienz
führt, wie anfangs behauptet wurde, und schon gar nicht
zu mehr Stabilität. Im Gegenteil: In der Summe führte
der Systemwechsel dazu, dass die Banken weniger
Eigenkapital vorgehalten haben. Es ist nicht erkennbar,
warum die gleichen Hoffnungen im Versicherungssektor
nun erfüllt werden sollten. Mehr Freiheiten zur Selbstre-
gulierung durch das selbstständige Einschätzen der Risi-
ken, sogenanntes ORSA: Own Risk Solvability Assess-
ment, führen nicht zu stabileren Unternehmen und schon
gar nicht zu stabileren Finanzmärkten. Doch damit nicht
genug: Versicherungsunternehmen haben auch mehr
Freiraum, zu entscheiden, in welche Anlagen sie inves-
tieren. Die Begrenzung auf bestimmte Anlageformen
wird aufgehoben, die Anlageverordnung fällt ersatzlos
5984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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weg. Es müssen lediglich Prinzipien der unternehmeri-
schen Vorsicht eingehalten werden und die Anlage-
risiken angemessen berücksichtigt werden. Was ange-
messen ist, so befürchte ich, wird in Hinterzimmern
der Aufsichtsbehörden ausgehandelt. „Prinzipienbasiert
anstatt regelbasiert“ ist das Stichwort. Im Sinne einer
einfachen, transparenten und nachvollziehbaren Regu-
lierung ist das garantiert nicht, und ob es im Sinne der
Versicherungsnehmer ist, muss sich erst noch zeigen, es
darf jedoch zumindest bezweifelt werden.
Schon die zahlreichen Auswirkungsstudien zur ver-
meintlich richtigen Kalibrierung der Modellparameter
sowie die wiederholte Verschiebung des Inkrafttretens
des neuen Aufsichtssystems zeigen, wie komplex dieses
System ist. Schon die Rechtssetzung auf europäischer
Ebene hat sich immer wieder verschoben. Dann sollte
Solvency II 2012 in nationales Recht umgesetzt werden.
Auch daraus wurde nichts. Inzwischen sind fünf Auswir-
kungsstudien durchgeführt, die Parameter wurden unter
Lobbyeinfluss immer wieder verändert, und Solvency ist
Ende 2014 immer noch nicht in Kraft. Einfache Regulie-
rung sieht anders aus.
Da die Bewertung der Anlagen zwingend dem Fair-
Value-Prinzip folgt, bringt das neue Regulierungssystem
zudem erhebliche Risiken prozyklischer Wirkungen mit
sich. Das gesamte Finanzsystem wird in der Folge
dadurch noch volatiler. Denn wenn im Finanzmarkt die
Kurse fallen, werden die Versicherungen nun mehr da-
von betroffen sein. Versicherungen, die ja in der Regel
ein sehr langfristiges Geschäftsmodell haben, werden
künftig eher im Gleichlauf mit den Banken handeln und
ihr Verhalten den Risikomodellen anpassen. Für den
Finanzmarkt als Ganzen sind solche parallelen Entschei-
dungen im Versicherungs- wie im Bankbereich fatal.
Eine mögliche Abwärtsspirale verschärft sich schneller
und tiefer.
Zwar werden Unternehmen weitgehend freie Hand
haben, ihren Kapitalbedarf selbst zu ermitteln. Aller-
dings legt der Gesetzgeber wichtige Parameter, Rahmen-
daten und Aufsichtsprozesse fest. Hier stellt sich die
Frage, welche Rolle dem Parlament zukommt. Die
entscheidenden Fragen und Kennzahlen der künftigen
Regulierung werden auf die Fachebene delegiert. Im
deutschen Umsetzungsgesetz gibt es zu diesem Zweck
insgesamt 14 Verordnungsermächtigungen. Wir werden
als Parlament lediglich über die leere Hülle Versiche-
rungsaufsichtsgesetz abstimmen. Die diese Hülle ausfül-
lenden Normen und Vorschriften werden von der BaFin
bzw. dem BMF und auf europäischer Ebene von
Kommission oder EIOPA erlassen. Nicht selten unter er-
heblichem Einfluss von Lobbygruppen, aber jeweils
ohne Diskussion im Parlament. Das Parlament ist aus
diesen Diskussionen, die letztendlich entscheidend für
die Regulierungsziele sind, komplett ausgeschlossen.
Die Struktur des deutschen Versicherungsmarkts ist
traditionell sehr kleinteilig. Dies muss sich auch in der
Regulierung widerspiegeln. Auch die kleinen Unterneh-
men müssen zwar strengen Regeln unterliegen in Bezug
auf ihre Solvabilität. Allerdings dürfen sie nicht durch
überzogene regulatorische Anforderungen wie Berichts-
pflichten oder Organisationserfordernisse überfordert
werden. Wie bereits bei Basel II profitieren von den
schönen neuen Freiheiten in erster Linie die großen Ver-
sicherungsunternehmen. Als besonderes Schmankerl
können sie sogar wählen, für welche Risikoklassen sie
ein internes Modell verwenden und für welche sie ihre
Risiken mit dem Standardmodell bewerten. Eine Einla-
dung zum Rosinenpicken, um die Kapitalanforderungen
noch weiter herunterzurechnen. Kleine Unternehmen
kommen zwar in den Genuss aller Nachteile einer über-
komplexen Regulierung, sie können sie jedoch nicht in
dem Maße nutzen, wie es die Großunternehmen tun
können. So müssen nach dem aktuellen Entwurf des Ver-
sicherungsaufsichtsgesetzes auch kleine Unternehmen
ihre Solvabilitätsübersicht von einem Wirtschaftsprüfer
testieren lassen. Die Solvabilitätsübersicht ist eines der
Kernstücke der neuen Aufsicht. Die Prüfung dieses
Kernstücks sollte eigentlich Sache der Aufsicht sein. Es
ist schon falsch, dass die BaFin diese Kernaufgabe an
private Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auslagert.
Noch falscher ist es allerdings, dass es für kleine Unter-
nehmen keine Ausnahmen von der Vorschrift der Zertifi-
zierung gibt. Hier könnte die BaFin ohne Probleme ihren
Job selbst erledigen.
Am Ende will ich einen positiven Punkt setzen: Aus
unserer Sicht ist es gut, dass weiterhin an dem deutschen
Konzept der Missstandsaufsicht festgehalten wird. Dies
geht zwar über eine reine eins-zu-eins-Umsetzung hi-
naus, lässt der Aufsicht aber den nötigen Entscheidungs-
spielraum zum Eingreifen, wenn sie Missstände erkennt.
Gut ist auch, dass künftig das Hauptziel der Beaufsichti-
gung durch die BaFin der „Schutz der Versicherten und
der Begünstigten von Versicherungsleistungen“ sein
wird. Dieses Ziel muss die BaFin erfüllen und die Auf-
gabe der Missstandsaufsicht endlich ernst nehmen! Der-
zeit scheint es allerdings so zu sein, dass die BaFin ihren
gesetzlichen Auftrag, Missstände bei Versicherungsun-
ternehmen zu vermeiden oder zu beseitigen, nicht erfüllt.
Dafür gibt es viele Beispiele wie Debekas jahrzehntelan-
gen illegalen Kauf von Daten, Ergos Lustreisen, Infinus’
Insolvenz oder den Fall Mehmet Göker mit seiner MEG.
Nach den Bankenskandalen waren sich alle einig, dass
es eine Neuaufstellung der Bankenaufsicht braucht. Eine
solche Neuausrichtung muss es nun auch für die Versi-
cherungsaufsicht geben. Wir haben als Gesetzgeber die
Aufgabe, die umfassende Reform des Versicherungsauf-
sichtsgesetzes zu nutzen, um neben der Einführung der
neuen Regeln auch dafür zu sorgen, dass diese adäquat
umgesetzt werden. Dafür werden wir Grüne im Parla-
ment uns mit aller Kraft einsetzen.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll-
kodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
punkt 27)
Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers-
ter Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgabenord-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5985
(A) (C)
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nung an den Zollkodex der Union und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften.
Auch wenn der sperrige Titel etwas anderes suggerie-
ren will, maßgeblich ist, dass mit diesem Gesetz über-
wiegend steuerrechtliche Anpassungen und einige tech-
nische Änderungen vorgenommen werden sollen, die in
der Vergangenheit jeweils mit Jahressteuergesetzen ge-
regelt wurden.
Wir sind verpflichtet, mit diesem Gesetzentwurf ins-
besondere die betroffenen Regelungen der Abgabenord-
nung rechtzeitig an den neuem Zollkodex der Union an-
zupassen.
Warum dies in diesem Jahr nicht in einem einzigen
einheitlichen Gesetzentwurf erfolgen konnte – welcher
vor allem zeitlich weit genug vor dem vorgesehenen In-
krafttretenszeitpunkt beraten und abgeschlossen werden
kann –, müssen wir im Rahmen der Gespräche nochmals
genauer eruieren.
Für die Beraterbranche und die Steuerpflichtigen ist
es sehr unbefriedigend, dass ein Gesetz mit wichtigen
steuerrechtlichen Anpassungen nur wenige Tage nach
seiner Verkündung in Kraft treten soll.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden
uns daher dafür einsetzen, nur diejenigen Regelungen
zum 1. Januar 2015 in Kraft treten zu lassen, die absolut
notwendig sind. Alle weiteren Regelungen sollten wir
im Interesse der Genauigkeit und auch im Interesse der
Steuerpflichtigen und deren Berater nochmals auf den
Prüfstand stellen. Ob die zwischenzeitlich vorgelegten
weiteren Maßnahmen, welche die Empfehlungen des
Bundesrechnungshofes aufgreifen und der Sicherung des
Steueraufkommens oder der Verfahrensvereinfachung
im Besteuerungsverfahren dienen, unbedingt jetzt mit
diesem Gesetz in dieser verfahrenstechnischen Eile be-
schlossen werden müssen, ist fraglich.
Inhaltlich sind insbesondere folgende steuerliche Än-
derungen hervorzuheben:
Erster Punkt: Mit der Erweiterung der Mitteilungs-
pflichten der Finanzbehörden an die zuständigen Ver-
waltungsbehörden wollen wir die Geldwäsche weiter be-
kämpfen.
Zweiter Punkt: Wir definieren mit diesem Gesetz den
Begriff der Erstausbildung. Mit der Neuregelung liegt
eine – bis zu einem Betrag von maximal 6 000 Euro im
Kalenderjahr – als Sonderausgabe absetzbare Erstausbil-
dung nur dann vor, wenn die Ausbildung mindestens
18 Monate in Vollzeit dauert und mit einer Abschluss-
prüfung abschließt. Wir wollen mit dieser Maßnahme
Rechtsklarheit schaffen und verhindern gleichzeitig er-
hebliche Steuermindereinnahmen.
Dritter Punkt: Geldwerte Vorteile, die ein Arbeitgeber
seinem Arbeitnehmer im Rahmen von Betriebsveranstal-
tungen, zum Beispiel durch Weihnachtsfeiern gewährt,
bleiben bis zu einem Betrag von 150 Euro steuer- und
sozialversicherungsfrei. Die bisher geltende Verwaltungs-
vorschrift wird insoweit in Gesetzesform übernommen
und der Betrag von 110 Euro auf 150 Euro angehoben.
Auch mit dieser Regelung wollen wir Gestaltungsmög-
lichkeiten entgegenwirken, indem alle Aufwendungen
des Arbeitgebers anteilig beim Arbeitnehmer berück-
sichtigt werden müssen.
Vierter Punkt: Wir erweitern den Kindergeldanspruch
während einer Zwangspause von höchstens vier Mona-
ten, die zwischen einem Ausbildungsabschnitt und Zei-
ten der Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes liegen.
Fünfter Punkt: Besonders erwähnenswert ist die Ein-
führung einer Verordnungsermächtigung als Schnellre-
aktionsmechanismus zur vorübergehenden Einführung
neuer Tatbestände in das Reverse-Charge-Verfahren zur
Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug. Diese Maßnahme
ist als Umsetzung von Unionsrecht zunächst auf einen
Zeitraum von neun Monaten beschränkt.
Auch bei der Steuergesetzgebung gilt der bekannte
Satz, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es
eingebracht worden ist. Allein die Bundesländer werden
– das zeigen die Erfahrungen aus den vorangegangenen
Steuergesetzen – eine Vielzahl von Forderungen, teils
technischer Natur, aber auch politisch umstrittene Rege-
lungen in das Verfahren einbringen wollen.
Ein Punkt, den wir bei den Beratungen nochmal auf-
greifen sollten, ist das mit dem Kroatiengesetz eingeführte
Reverse-Charge-Verfahrens bei Metalllieferungen. Hier
haben sich in der Praxis erhebliche Abgrenzungspro-
bleme ergeben, die in der Folge auch auf andere Bran-
chen abstrahlen.
In den Beratungen können wir auch die vielfältige
Kritik, vor allem der Familienunternehmen, an der Än-
derung der Wegzugsbesteuerung nach § 50 i EStG auf-
greifen.
Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver-
ständigenanhörung und auf gute Beratungen in den
nächsten Wochen.
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
Gesetzentwurf zum Zollkodexanpassungsgesetz werden
vornehmlich die notwendigen Anpassungen der Abga-
benordnung an die EU-Verordnung zur Festlegung des
Zollkodex der Europäischen Union umgesetzt. Außer-
dem werden weitere steuerliche Regelungen getroffen,
die unser Steuerrecht an Recht und Rechtsprechung der
Union anpassen und Empfehlungen des Bundesrech-
nungshofes und Verfahrensvereinfachungen im Besteue-
rungsverfahren umsetzen.
Vonseiten der Länder wurden bisher weitere 72 Rege-
lungen gefordert, die rein technischer Natur sind, aber
auch politisch umstrittene Sachverhalte umfassen. Ich
halte es aber für mehr als bedenklich, wenn eine solche
Vielzahl von Steueränderungen kurz vor Jahresende ver-
abschiedet werden soll, sind doch die bereits jetzt vorge-
sehenen Gesetzesänderungen sehr umfangreich und von
weitreichender Bedeutung. Den Steuerpflichtigen und
ihren Beratern entsteht dadurch ein erheblicher Mehrauf-
wand, der so kurz vor dem Jahreswechsel wirklich unzu-
mutbar ist.
Wir sollten uns als Gesetzgeber im Interesse unserer
Bürger dagegen wehren, Gesetze, insbesondere auf dem
5986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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Gebiet des Steuerrechtes, zu verabschieden, deren An-
wendung in der Praxis zu diesen Belastungen führt. So-
wohl der einzelne Steuerpflichtige wie auch sein Berater
sollten ausreichend Zeit im Kalenderjahr haben, um sich
mit den durch das jeweilige Gesetz veränderten Verhält-
nissen ausführlich zu beschäftigen und vertraut zu ma-
chen.
Von besonderer Bedeutung erscheint mir, dass wir un-
ter anderem neben einigen Erleichterungen und Verein-
fachungen im Einkommensteuerrecht, Änderungen in
der Abgabenordnung und bei der Grunderwerbsteuer,
eine Verordnungsermächtigung zur Bekämpfung von
Umsatzsteuerbetrug mit diesem Gesetzentwurf einfüh-
ren.
Mit der Einfügung einer Ermächtigungsklausel zum
§ 13 b UStG erhält Deutschland die Möglichkeit, schnell
auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der Umsatz-
steuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreaktionsmecha-
nismus, der auf der Grundlage einer EU-Richtlinie
beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zustim-
mung des Bundesrates schnell einen neuen Tatbestand in
den § 13 b UStG einfügen und damit in der gebotenen
Kürze Umsatzsteuerbetrug in bestimmten Fällen unter-
binden.
Im Rahmen der Beratung des Gesetzentwurfs besteht
die Möglichkeit, auch noch weitere, wichtige Änderun-
gen im Steuerrecht vorzunehmen.
Ich denke hier insbesondere an den § 50 i EStG, der
dringend einer Änderung bedarf. Wir haben diese Vor-
schrift durch das Kroatien-Gesetz vor kurzem geändert.
Leider stellt sich nun heraus, dass nicht nur diese Ände-
rung, sondern bereits die ursprüngliche Fassung das
deutsche Steuerrecht wieder einmal wesentlich kompli-
zierter macht, und darüber hinaus auch noch die Um-
wandlung von Unternehmen im In- und Ausland drama-
tisch erschwert bzw. ganz verhindern wird. Faktisch
wird durch diese Vorschrift nun auch noch ein wesentli-
cher Teil des Umwandlungssteuerrechts ausgehebelt.
Wirtschaftlich notwendige unternehmensinterne Um-
strukturierungen und Übertragungen sind in vielen Fäl-
len nur noch unter Aufdeckung und Versteuerung der
stillen Reserven möglich. Dies trifft in erster Linie Fami-
lienunternehmen, deren Mitglieder zumindest teilweise
im Ausland, hier in Staaten mit Doppelbesteuerungs-
abkommen, wohnen, zum Beispiel wegen der Ausbil-
dung der schon geringfügig beteiligten – mindestens
1 Prozent – Kinder oder aber auch, um ausländische Ak-
tivitäten des Betriebes zu leiten. Das betrifft auch Schen-
kungen und Erbschaften, selbst bei einem inländischen
Nachfolger.
Die Tragweite der Gesetzesänderung, die letztlich auf
einer Regelung zur Lösung eines Einzelfalles beruht, ist
bei den damaligen Beratungen wohl übersehen worden.
Deshalb sollten wir jetzt die Gelegenheit nutzen und die-
sen Fehler korrigieren.
Ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam mit
unserem Koalitionspartner die notwendigen Schritte bei
der Beratung dieses Gesetzentwurfes vornehmen würden
und die dringend notwendige Korrektur des § 50 i EStG
im Zuge der Beratungen dieses Gesetzentwurfes be-
schließen könnten.
Ich wünsche uns bei diesem Gesetzentwurf noch wei-
tere gute Ideen und kluge Beratungen in allerdings sehr
kurzer Zeit.
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in
erster Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgaben-
ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften, das nichts anderes ist
als das Jahressteuergesetz 2015. Ich freue mich, als
Berichterstatter für die SPD-Bundestagsfraktion das
Zollkodexanpassungsgesetz im Gesetzgebungsverfah-
ren begleiten zu dürfen. Wie das Jahressteuergesetze so
an sich haben, finden wir hierin eine Reihe an redaktio-
nellen Änderungsvorschlägen quer durch das deutsche
Steuerrecht, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb
nicht erforderlich, auf jeden einzelnen Änderungsvor-
schlag einzugehen.
Viele Änderungen sind nötig, um das deutsche Steu-
errecht an Recht und Rechtsprechung der Europäischen
Union anzupassen. Weitere Änderungen berücksichtigen
Empfehlungen des Bundesrechnungshofes oder dienen
dazu, die Besteuerungsverfahren zu vereinfachen.
Gleichwohl möchte ich betonen, dass es sich hierbei
vielleicht um unstrittige, aber keineswegs um unwich-
tige Änderungen handelt. Wir sind uns hier mit unserem
Koalitionspartner einig: Diese Änderungen erleichtern
den Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in den Fi-
nanzbehörden für ihre immens wichtigen Aufgaben ihre
tägliche Arbeit.
Auch wenn wir in den Beratungen noch ganz am An-
fang stehen: Es zeichnet sich ab, dass es neben vielen
technischen Änderungen durchaus auch einige wichtige
inhaltliche Punkte gibt, über die im Gesetzgebungspro-
zess diskutiert werden wird.
Lassen Sie mich also die Gelegenheit nutzen, einige
dieser Punkte anzusprechen. Ich denke hier unter ande-
rem an den Vorschlag, der den Begriff einer Erstausbil-
dung gesetzlich definieren soll. Bisher waren die Krite-
rien einer Erstausbildung nicht gesetzlich geregelt. Von
der Frage, ob jemand eine Erstausbildung abgeschlossen
hat, hängt allerdings ab, ob die Kosten einer weiteren
Ausbildung steuerlich als Werbungskosten oder Be-
triebsausgaben absetzbar sind. Der Bundesfinanzhof hat
die bisherige Verwaltungspraxis in einem Urteil von
2013 kritisiert.
Eine klare gesetzliche Definition, wann eine Erstaus-
bildung vorliegt, ist durchaus sinnvoll. Für die Betroffe-
nen und die Finanzbehörden gleichermaßen. Denn eine
Skilehrer-Lizenz ist nicht das Gleiche wie eine dreijäh-
rige Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Die jetzt im
Entwurf vorgesehene Mindestdauer von 18 Monaten, die
für eine Einstufung als Erstausbildung vorliegen muss,
scheint allerdings zu lang. Wir werden uns hier gemein-
sam mit unserem Koalitionspartner für eine Verkürzung
der Mindestdauer einsetzen. Gleichzeitig werden wir in
den Beratungen im Finanzausschuss intensiv prüfen, ob
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5987
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für bestimmte Berufsgruppen Ausnahmen sinnvoll sein
können.
Ich freue mich außerdem, dass eine Änderung in den
Gesetzentwurf aufgenommen wurde, bei der es um den
2013 eingeführten INVEST-Zuschuss geht. Momentan
wird der aus Bundesmitteln gezahlte Zuschuss besteuert.
Der Zuschuss verliert damit natürlich einen Teil seiner
Wirkung. Es ist deshalb nur sinnvoll und konsequent,
dass hier eine Steuerbefreiungsvorschrift verabschiedet
wird, die rückwirkend auch für 2013 gilt. Die SPD-Bun-
destagsfraktion möchte die Gründerszene in Deutsch-
land stärken und die Rahmenbedingungen für Beteili-
gungskapital verbessern.
Noch zu klären ist hierbei allerdings, ob diese Rege-
lung in diesem Gesetzentwurf gut aufgehoben ist. Der
Bundeswirtschaftsminister hat in letzter Zeit oft deutlich
gemacht, dass er die deutsche Gründerszene mit einem
umfassenden Maßnahmenpaket beleben möchte. Es wird
deshalb noch zu diskutieren sein, ob sich die rückwir-
kende Steuerbefreiung für den INVEST-Zuschuss nicht
noch besser in einen kommenden Gesetzentwurf des
Bundeswirtschaftministeriums für ein Venture-Capital-
Gesetz fügt, in dem ein ganzes Bündel an ähnlichen
Maßnahmen enthalten sein wird. Natürlich werden wir
bei dieser Regelung auch die Verbesserungsvorschläge
aus den Ländern aufmerksam prüfen.
Als Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion für
das Thema Geldwäscheprävention begrüße ich aus-
drücklich eine Regelung, die bereits im Entwurf zum
Kroatien-Gesetz enthalten war, den Weg in das Gesetz
allerdings nicht gefunden hat. Die vorgesehene Ände-
rung des Paragrafen 31b der Abgabenordnung soll die
Mitteilungspflichten der Finanzbehörden zur Bekämp-
fung der Geldwäsche erweitern. Ein effizienterer
Austausch zwischen den Finanzbehörden und den Er-
mittlungsbehörden ist ein richtiger Schritt und ein wich-
tiges Zeichen gegen Geldwäsche.
Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ge-
hört seit Jahrzehnten zum Markenkern der SPD. Als
Bundestagsfraktion begrüßen wir deshalb selbstver-
ständlich die Maßnahme im Gesetzentwurf, die be-
stimmte Serviceleistungen des Arbeitgebers und kurz-
fristige Betreuungskosten für Pflegebedürftige und
Kinder bis zu einem bestimmten jährlichen Betrag steu-
erfrei stellen soll. Die Regelung im Gesetzentwurf geht
in die richtige Richtung. Sie muss aber jenen nützen, die
es wirklich brauchen. Wir begrüßen deshalb die Empfeh-
lung der fachlich zuständigen Ausschüsse des Bundes-
rates, durch die die Steuerbefreiung auf Kindergärten
und Horte eingegrenzt werden soll.
Wir werden uns aber mit einigen Vorschlägen im Ge-
setzentwurf auch kritisch auseinandersetzen müssen.
Dies betrifft unter anderem die Anhebung der Förder-
höchstgrenze von 20 000 auf 24 000 Euro bei der Basis-
versorgung im Alter. Uns erscheinen nicht nur die be-
rechneten Mindereinahmen von 20 Millionen Euro
jährlich als zu niedrig. Wir sehen hier außerdem eine
Ungleichbehandlung der Rentensysteme, weil beispiels-
weise der Förderhöchstbetrag der Riesterrente unverän-
dert bleibt. Wir teilen hier die Auffassung der Länder:
Der bestehende Höchstbetrag von 20 000 Euro reicht
völlig aus, um eine angemessene Förderung der Alters-
vorsorge bei Selbstständigen herbeizuführen. Zumal
diese Regelung nur einen Bruchteil aller Versicherten
beträfe. Wir begrüßen deshalb die Empfehlung der Län-
der, diese Regelung aus dem Gesetzentwurf zu streichen.
Wir haben bereits in den Verhandlungen zum Kroati-
enanpassungsgesetz (dem Jahressteuergesetz 2014) und
in den aktuellen Verhandlungen zur strafbefreienden
Selbstanzeige gezeigt, dass wir es auch bei einem ande-
rem Thema ernst meinen: Wir wollen den Missbrauch
des Steuerrechts verhindern und der Ausnutzung von Re-
gelungslücken im – bekanntermaßen sehr komplexen –
deutschen Steuerrecht einen Riegel vorschieben.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine faire
und leistungsgerechte Besteuerung ein, die für Privatper-
sonen ebenso gelten muss wie für Unternehmen. Hierbei
gibt es drei Punkte, die in den Verhandlungen zu diesem
Gesetz eine wichtige Rolle für uns spielen werden. Denn
solche fragwürdigen Steuersparmodelle kosten nicht nur
den Staat Steuereinnahmen und schaden damit der Ge-
meinschaft: Jeder einzelne ehrliche Steuerzahler wird
damit verhöhnt.
Ein Paradebeispiel für solche Steuervermeidungsstra-
tegien ist der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche-
Deal“. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil-
hersteller Porsche übernommen. Erworben hat die
Volkswagen AG die Porsche Holding SE dadurch, dass
sie eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding
SE übertragen hat. Der Erwerb wurde durch das Finanz-
amt Stuttgart nicht als Kauf bewertet, bei dem die
üblichen Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde
dies als Umstrukturierung nach dem Umwandlungsge-
setz eingestuft, mit der Folge, dass eine Steuerbefreiung
eingesetzt hat.
Diese Konstruktion war nach geltendem Recht zwar
legal, gewünscht ist sie allerdings nicht. Denn hierbei
handelt es sich ohne Frage um eine zielgerichtete Steuer-
vermeidung, die dem Staat geschätzte Steuereinnahmen
in Höhe von 1,5 Milliarden Euro vorenthalten hat.
Wir als SPD-Fraktion begrüßen deshalb ausdrücklich,
dass die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung in den
Empfehlungen der damit befassten Fachausschüsse des
Bunderates zum Zollkodexanpassungsgesetz einem
Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-
Pfalz zugestimmt haben, der diese unglückliche Rege-
lungslücke schließen soll.
Meine Erwartung ist, dass es bei der Änderung des
Umwandlungssteuerrechts nur um Detailfragen gehen
wird, die hier mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU
zu klären sind. Ich gehe davon aus, dass wir uns mit der
CDU/CSU in der Sache einig sind. Deshalb haben wir
auch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir prüfen
werden, wie ein solcher Anteilstausch nicht mehr sys-
temwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich freue
mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlungen.
Denn wir können hier – Bund und Länder gemeinsam –
ein weiteres wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung
und Steuerhinterziehung setzen. Je früher, desto besser.
5988 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Wir als SPD-Fraktion unterstützen außerdem zwei wei-
tere Äntrage, die die gleiche Stoßrichtung haben. Ein An-
trag widmet sich der Verhinderung sogenannter Hybrider
Finanzierungen. Was mysteriös klingt, ist eigentlich ganz
einfach: Es gibt global agierende Unternehmen, die be-
wusst die Unterschiede in der steuerlichen Einstufung von
Unternehmensformen oder Finanzierungsinstrumenten in
verschiedenen Staaten ausnutzen, um davon zu profitie-
ren. Steuern können dadurch gespart werden, dass es ent-
weder zu einer doppelten Nichtbesteuerung oder zu einem
doppelten Betriebsausgabenabzug kommt. Der Bundesrat
hat hier die Bundesregierung bereits im Mai aufgefor-
dert, beides unmöglich zu machen.
In der Sache stimmen wir innerhalb der Bundesregie-
rung überein. Der Bundesregierung möchte ich für ihren
Einsatz auf internationaler Ebene im Rahmen der soge-
nannten BEPS-Initiative der OECD ausdrücklich dan-
ken. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den
Abschluss an den Arbeiten zur BEPS-Initiative im
nächsten Jahr abzuwarten, bis wir hier konkrete gesetz-
geberische Maßnahmen ergreifen. Der Bundesrat aber
argumentiert, dass die Arbeiten in dem Bereich Hybrider
Finanzierungen weitgehend abgeschlossen sind. Wir tei-
len die Auffassung der Länder im Wesentlichen; denn
auch hier gilt die Devise: Je früher und schneller wir
diese Lücke internationaler Steuervermeidung schließen,
desto besser.
Ein weiteres Abwarten können wir uns in beiden Fäl-
len eigentlich nicht leisten. Wir werden deshalb hier in
den Verhandlungen mit den Unionskollegen die Argu-
mente für und gegen die Aufnahme dieser Regelungen in
den Gesetzentwurf intensiv diskutieren.
Einen weiteren Prüfauftrag aus den Ausschüssen des
Bundesrates, bei dem es um die Besteuerung von Streu-
besitzdividenden geht, sehen wir positiv. Die Umsetzung
eines EuGH-Urteils 2011, mit dem die vorherige Steuer-
freistellung von Streubesitzdividenden eingeschränkt
wurde, hat zu einer Ungleichbehandlung von Dividen-
den und Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteili-
gungen geführt. Die Folge: Seither werden Erträge aus
der Veräußerung gegenüber Dividenden bevorzugt, was
zu unerwünschtem steuerlichem Gestaltungsspielraum
geführt hat. Wir wollen aber Anpassungen vermeiden,
die zu Steuerausfällen führen. Hier wird zu diskutieren
und zu prüfen sein, ob diese Regelung in dieses Gesetz
aufgenommen wird.
Ich glaube, obige Aufzählung hat deutlich gemacht,
dass es einigen Gesprächsbedarf in den Verhandlungen
geben wird. Ich jedenfalls freue mich auf eine Beratung
des Gesetzentwurfs und der Länderempfehlungen im Fi-
nanzausschuss des Deutschen Bundestages und hoffe auf
eine gute Zusammenarbeit mit allen Berichterstattern der
anderen Fraktionen.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute
Abend das „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung
an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften“. Einfacherer Titel war nicht zu
finden. Wie wäre es einfach mit „Jahressteuergesetz
2014 – Teil 2“? Warum dieser Etikettenschwindel? Das
erste Jahressteuergesetz hieß Kroatiengesetz, das zweite
heißt jetzt Zollkodexanpassungsgesetz. Aber was in die-
sen beiden Gesetzen steht, hat wenig mit der Überschrift
zu tun. Warum darf denn ein Jahressteuergesetz nicht
Jahressteuergesetz heißen, Herr Schäuble? Was ist daran
Verwerfliches, meine Damen und Herren? Jedes Jahr
gibt es Änderungen und Anpassungsbedarf im Steuer-
recht, sei es aufgrund der Rechtsprechung der Gerichte,
sei es aufgrund geänderter EU-Vorgaben oder sei es we-
gen entdeckter Steuerlücken. Selbst die Regierung
spricht in ihrem Gesetzentwurf von einem fachlich not-
wendigen Gesetzgebungsbedarf in verschiedenen Berei-
chen des Steuerrechts. Das reicht doch für ein eigenstän-
diges Jahressteuergesetz und zwar auch dann, wenn man
berücksichtigt, dass die Regierungskoalition steuerpoli-
tischen Stillstand bis 2017 vereinbart hat. Doch auch
wenn die Bundesregierung in den nächsten drei Jahren
steuerpolitisch in ihrem Koalitionsvertrag nichts geplant
hat, dreht sich die Erde trotzdem, und das Steuerrecht
schreitet weiter voran.
Gerade bei Jahressteuergesetzen, egal wie sie von Ih-
nen auch genannt werden mögen, gibt es im parlamenta-
rischen Ablauf viele Änderungen. Das wird auch bei die-
sem Gesetz so sein. Wir haben auch eine längere Liste an
Änderungswünschen, zum Beispiel bei der kleinlichen
Regelung der Obergrenze von 150 Euro pro Jahr, wenn
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Betriebsveran-
staltungen teilnehmen.
Mit den vorgesehenen steuerfreien Serviceleistungen
des Arbeitgebers wird das Problem der Rückkehr von
Beschäftigten nach der Elternzeit oder der Unterstützung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die pflege-
bedürftige Angehörige betreuen, nicht wirklich adres-
siert. Ein Freibetrag von 600 Euro je Kalenderjahr und
Arbeitnehmer, also monatlich durchschnittlich 50 Euro,
wird den hohen Belastungen nicht gerecht. Die behaup-
tete bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss
woanders ansetzen. Die Schwierigkeiten bei der Verein-
barkeit von Beruf und Familie haben gesellschaftliche
und ökonomische Ursachen.
Einige Ihrer geplanten Änderungen werden unter der
Überschrift „Steuervereinfachungen“ verkauft. Doch der
Arbeitsaufwand für die Steuerzahlerin und den Steuer-
zahler bleibt bestehen, denn er wird genau nachrechnen
müssen, ob er mit seinen Ausgaben unter der Pauschal-
grenze bleibt oder doch nach Einzelbelegen abrechnen
muss.
Interessant ist aber auch, was nicht im Gesetzentwurf
steht beziehungsweise wieder nicht angegangen wird.
Aber das ist bei einer Bundesregierung, die erklärterma-
ßen in der Steuerpolitik nichts ändern will, nicht überra-
schend. Schon aus dem Vorschlag des Bundesrates ist
sehr viel herausgestrichen worden.
Die Frage nach der Verzinsung von Steuernachzah-
lungen hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen, ob-
wohl das höchste Gericht, der Bundesfinanzhof, den der-
zeitigen Zinssatz von 6 Prozent nur bis zum März 2011
für rechtens erklärt hatte. Die Europäische Zentralbank
hat mitgeteilt, dass sie auch in den nächsten Jahren eine
absolute Niedrigzinspolitik verfolgt. Daran zweifelt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5989
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auch keiner. Inzwischen müssen Banken sogar Strafzin-
sen zahlen, wenn sie bei der Europäischen Zentralbank
Geld deponieren – erst waren es 0,1 Prozent, das ist in-
zwischen aber verdoppelt worden auf 0,2 Prozent. Viele
Unternehmen müssen ebenfalls ihren Banken Zinsen
zahlen, wenn sie ihr Geld kurzfristig bei ihnen stehen
lassen. Inzwischen hat die erste Bank auch ihren Sparern
einen negativen Einlagenzinssatz für Tagesgeldkonten
aufgedrückt. Der Staat finanziert sich zu fast 0 Prozent,
greift aber trotzdem bei Steuernachzahlungen mit
6 Prozent gierig zu. Hier hätte ich von Ihnen eine Re-
aktion erwartet, zumal wir Ihnen im Rahmen unserer
Kleinen Anfrage Anfang Oktober dieses Problem bereits
detailliert erläutert hatten.
Existenzgründern, die voraussichtlich nicht mehr als
17 500 Euro Bruttoumsatz im ersten Geschäftsjahr er-
wirtschaften werden, also Kleinunternehmer sind,
wollen wir eine Alternative bei ihren Umsatzsteuervor-
anmeldungen eröffnen. Sie müssen jetzt ihre Umsatz-
steuervoranmeldungen monatlich abgeben, statt wie
sonst üblich je nach Umsatzhöhe quartalsweise. Diese
Ausnahme von der Regel hat nicht zu einer Verringerung
des Umsatzsteuerbetruges beigetragen, wie vom Gesetz-
geber ursprünglich gedacht. Wir schlagen alternativ da-
her vor, Existenzgründern die Möglichkeit zu eröffnen,
ihre Umsatzsteuererklärung auf Wunsch quartalsweise
abgeben zu können.
Über die seit fast 50 Jahren unveränderte Betrags-
grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter, das sind
410 Euro, könnte man auch mal nachdenken – in Verbin-
dung mit dem Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpos-
tens für alle Wirtschaftsgüter mit Anschaffungs- oder
Herstellungskosten zwischen 150 und 1000 Euro.
Wie bereits gesagt: Gerade bei Jahressteuergesetzen
gibt es besonders viele Änderungen im parlamentari-
schen Prozess. Ich freue mich auf die Diskussionen mit
Ihren Fachpolitikern.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Unsere Bundesregierung weigert sich beharrlich,
ein Jahressteuergesetz vorzulegen, und denkt sich für
ihre Gesetze möglichst trivial klingende unpolitische
Namen aus. Nun also zunächst einmal Glückwunsch an
die Öffentlichkeitsarbeit des BMF zur tollen Wortschöp-
fung: „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an
den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften“ und zu dem Debattenbeitrag
um drei Uhr nachts im Deutschen Bundestag. Das ist
aber auch die einzige Anerkennung an die Regierung,
die ich hier zollen kann. Denn mit der Vorlage dieses
Gesetzes beweisen Herr Schäuble und die Regierungs-
fraktionen, welchen Stellenwert sie ihrer Steuerpolitik
beimessen – nämlich gar keinen. Das ist eine nicht ak-
zeptable, verantwortungslose Verweigerungshaltung!
Denn es gibt steuerpolitisch durchaus Handlungsbe-
darf. Ich will hier nur zwei Beispiele aufführen: Nach
wie vor gibt es vollkommen irrationale Regelungen beim
verminderten Mehrwertsteuersatz. Nach wie vor haben
wir mit der bürokratielastigen Abschreibungsvorschrift
für geringwertige Wirtschaftsgüter eine Regelung, die
gerade für den Mittelstand dringend einer Überarbeitung
bedarf. Würde die Bundesregierung ihre Verantwortung
wahrnehmen, würden wir heute ein Jahressteuergesetz
beraten, das zum Beispiel diese beiden Fehlregulierun-
gen in der Steuergesetzgebung korrigiert. Das hätte dann
eine Bedeutung, und wir würden heute zu prominenterer
Zeit die Debatte führen. Aber ein wichtiges Thema wird
doch in dem Gesetzentwurf angesprochen: Wirtschafts-
minister Sigmar Gabriel erwähnt in jedem zweiten State-
ment die Bedeutung der Förderung von Wagniskapital,
und in diesem Gesetz befindet sich seine zentrale
Maßnahme, mit der er dies erreichen will, nämlich die
Freistellung der Zuschüsse aus dem INVEST-Programm
von der Einkommensteuer.
Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung des
Themas Wagniskapitalfinanzierung annimmt. Aber dann
muss man doch fragen, ob mit der vorgeschlagenen
Maßnahme, mit einem Entlastungsvolumen von 10 Mil-
lionen Euro, überhaupt ein Effekt erzielt werden kann.
Zudem wirft der Vorschlag bei mir einige Fragen auf.
Zuschüsse sind grundsätzlich steuerpflichtige Einkünfte,
und die Steuerfreistellung eines einzigen Zuschusspro-
gramms ist ordnungspolitisch zumindest fragwürdig.
Eine ordnungspolitisch saubere Lösung wäre, das För-
derprogramm aufzustocken und so die Steuerpflicht zu
kompensieren. Diese Maßnahme hätte zudem die Wir-
kung, dass finanziell nicht so erfolgreiche Beteiligungen
ihre Risiken stärker abgefedert bekommen, weil bei ih-
nen die Steuerpflicht schlicht geringer ist, sie aber poten-
ziell höhere Zuschüsse erhalten würden. Ich werde mich
dafür einsetzen, dass wir an dieser Stelle gemeinsam im
Gesetzgebungsprozess den Vorschlag der Bundesregie-
rung nochmals kritisch hinterfragen. Die Stellungnahme
der Fachausschüsse des Bundesrates untermauert meine
Einschätzung, zumal hier vorgeschlagen wird, auch
andere Zuschussprogramme ähnlich dem INVEST-
Zuschuss von Wagniskapital steuerfrei zu stellen und das
vorher vom Wirtschaftsministerium bescheinigen zu las-
sen. Mein Credo wäre hier: Nein, wir brauchen keine
Ausnahmen, sondern müssen ordnungspolitisch sauber
arbeiten und so Bürokratie vermeiden. Auch würden wir
die Intransparenz von Förderprogrammen weiter erhö-
hen, wenn wir steuerfrei gestellte Zuschüsse von ande-
ren Förderungen unterscheiden müssten.
Das Thema Bürokratie ist auch für die Vorschläge zur
Betrugsbekämpfung bei der Umsatzsteuer von hoher Be-
deutung. Die Bundesregierung will einen nationalen
Schnellreaktionsmechanismus zur punktuellen Einfüh-
rung neuer Reverse-Charge-Tatbestände einführen und
die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung auch bei
Firmenübernahmen einführen. Diese Pflicht hatten bis-
her nur neu gegründete Unternehmen. Letztlich ist eine
wirklich objektive Bewertung beider Maßnahmen kaum
möglich, schlicht weil der Bundestag als Legislative
über keinerlei Informationen über aufgetretene Betrugs-
fälle und Umfang dieses Betruges verfügt. Wenn ich
davon ausgehe, dass Betrug in relevantem Maß stattge-
funden hat und weiter stattfindet, dann sind beide Ände-
rungen wohl geboten.
Dennoch sehe ich beim nationalen Schnellreaktions-
mechanismus, wie er vom BMF vorgeschlagen wird,
5990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Nachbesserungsbedarf. Das BMF will sich selbst dazu
ermächtigen, mit Zustimmung des Bundesrates neue
Reverse-Charge-Tatbestände per Verordnung zu erlas-
sen. Dabei wird der Deutsche Bundestag völlig übergan-
gen und kann nur zusehen, welche Regelungen per
BMF-Schreiben verkündet werden. Erst nach einer Ge-
nehmigung durch die EU-Kommission für den neuen
Ausnahmetatbestand soll der Bundestag für einen nor-
malen Gesetzesänderungsprozess beteiligt werden. Der
Bundestag sollte schon früher in den Entscheidungs-
prozess eingebunden werden, dies schon allein deshalb,
um die hinter einer solchen Entscheidung stehenden
objektiven Daten öffentlich zu machen. Die Praxis, dass
per BMF-Schreiben Steuerrecht materiell geändert wird,
ist generell höchst fragwürdig und sollte nicht weiter be-
fördert werden.
Die Bundesländer haben in ihrer ersten Stellung-
nahme über den Bundesrat deutlich gemacht, dass sie
anders als Herr Schäuble und die Bundesregierung
durchaus Bedarf an größeren steuerlichen Änderungen
sehen. Dabei haben sie insbesondere Steuervereinfa-
chungen und den Schluss bestehender Steuergestaltungs-
optionen im Visier. Hier müssen Sie sich in den Regie-
rungsfraktionen und in der Bundesregierung schon
fragen lassen, warum Sie nicht selber tätig werden.
Die vom Bundesrat vorgelegten Vereinfachungsvor-
schläge verdienen zumindest eine kritische Würdigung.
Letztlich soll insbesondere durch höhere Pauschal-
beträge und der Einschränkung von Mitnahmeeffekten
an anderer Stelle eine aufkommensneutrale Vereinfa-
chung des Steuerrechts erreicht werden. Natürlich müs-
sen wir uns genau ansehen, wer von diesen Vorschlägen
potenziell schlechter- und bessergestellt wird. Aber eine
substanzielle Vereinfachung des Steuerrechts wäre eine
ausgiebige und ernsthafte Prüfung sicher wert. Da die
Bundesregierung sich hier schon mehrfach verweigert
hat, bin ich aber eher skeptisch.
Darüber hinaus haben die Ausschüsse des Bundes-
rates einige Vorschläge im Unternehmensteuerbereich
gemacht. Ich begrüße, dass man sich mit der Besteue-
rung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitz befasst.
Hier war schon im Gesetzgebungsprozess 2013 klar,
dass ein Steuerschlupfloch offengelassen wird, wenn
Dividenden aus Streubesitz besteuert werden, Veräuße-
rungsgewinne aber nicht. Deswegen hätten wir Grünen
uns damals auch eine andere Umsetzung des Urteils des
Europäischen Gerichtshofes gewünscht; leider konnte
sich dieser Vorschlag bisher nicht durchsetzen. Die beste
Lösung für die Besteuerung von Streubesitzdividenden
wäre gewesen, eine Veranlagungsoption für ausländi-
sche Gesellschaften in Deutschland zu schaffen. Schon
bei anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten im
Binnenmarkt hat Deutschland Regelungen getroffen, die
es dem Ausländer erlauben, sich voll wie ein Inländer
besteuern zu lassen, zum Beispiel bei der Erbschaft-
steuer. Eine analoge Regelung wäre auch bei der Divi-
dendenbesteuerung möglich. In Deutschland würden die
ausländischen Gesellschaften mit ihren Dividenden von
Inländern dann zu Körperschaftsteuer und Gewerbe-
steuer veranlagt. Damit würde in Deutschland die glei-
che Steuerbelastung hergestellt wie bei einer inländi-
schen Gesellschaft.
Ich begrüße ebenfalls, dass der Bundesrat konkrete
Vorschläge macht, wie hybride Steuergestaltungen noch
besser einzudämmen sind. Hier muss man sich die
Details sicher nochmal ansehen, aber die grundsätzliche
Richtung stimmt.
Das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an
den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften steht an der Stelle eines Jahres-
steuergesetzes, das an vielen Stellen dringend notwen-
dige Korrekturen an der bestehenden Gesetzgebung
hätte vornehmen müssen. Die Bundesregierung hat sich
dieser Verantwortung nicht gestellt. Ich kann nur hoffen,
dass es im Zuge der jetzt anstehenden Beratungen in den
Ausschüssen und im Bundesrat gelingen wird, doch
noch dringende Änderungen in das Gesetz einzubringen.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von
der Bundesregierung zu dem Europäischen
Übereinkommen vom 27. November 2008 über
die Adoption von Kindern (revidiert) (Tages-
ordnungspunkt 28)
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am
23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte eu-
ropäische Übereinkommen über die Adoption von Kin-
dern unterzeichnet. Ziel des Übereinkommens ist die
Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften der Mitglied-
staaten des Europarats bezüglich der Adoption von Kin-
dern.
Nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes ist die
Mitwirkung oder Zustimmung an völkerrechtlichen Ver-
trägen durch Bundesgesetz erforderlich.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nun also
die Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Überein-
kommen ratifizieren zu können. Ich möchte besonders
darauf hinweisen, dass unser deutsches Recht dafür nur
in einem einzigen Punkt an das Übereinkommen ange-
passt werden muss: Die Frist zur Aufbewahrung der Ver-
mittlungsakten ist anders zu berechnen, als es der § 9 b
des Adoptionsvermittlungsgesetzes derzeit vorsieht.
Dieser geringe Anpassungsbedarf zeigt: Die Bundesre-
publik Deutschland hat hohe Standards, wenn es um die
Adoption von Kindern geht. Mit der Zeichnung und Ra-
tifikation unterstützt Deutschland nun auch die Durch-
setzung dieser Standards in den Mitgliedsländern des
Europarats.
Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der
Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das
Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das
Übereinkommen bislang unterzeichnet.
Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäi-
sche Übereinkommen von 1967 über die Adoption von
Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tief-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5991
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greifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der
60er-Jahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war. Um
diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das
Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erwei-
tert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das
Europäische Übereinkommen von 1975 über die Recht-
stellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen
der Vereinten Nationen vom November 1989 über die
Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von
1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammen-
arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und
das Europäische Übereinkommen von 1996 über die
Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden.
Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nicht-
ehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vie-
len Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche
Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen le-
ben, füreinander Verantwortung übernehmen und sogar
eine Familie gründen wollen. In Deutschland können
zwei gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine einge-
tragene Lebenspartnerschaft begründen.
Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig not-
wendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr
1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des
Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenar-
beit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkom-
mens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde
es 2008 zur Zeichnung aufgelegt.
Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte
und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittel-
punkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach
der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr
die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig,
wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls – das
regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkommens – ist
das Kind dennoch, soweit möglich, anzuhören, und seine
Meinung und Wünsche sind zu berücksichtigen.
Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird eben-
falls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adop-
tion erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war
die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind
überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter an-
derem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters
eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptions-
recht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsre-
form von 1997 wesentlich gestärkt.
Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Überein-
kommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten
Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidier-
ten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen,
das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterose-
xuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer
eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kin-
der adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort
gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Ein-
gehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für He-
terosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutsch-
land nicht.
Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon ver-
muten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967
nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen
Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die
entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen
Lebenspartnerschaft leben – die Regelungen sind inner-
halb der Mitgliedstaaten des Europarats sehr verschieden –,
Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entschei-
dende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es
wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Suk-
zessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen
Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben,
zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umset-
zung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom 20.
Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in Kraft
getreten.
Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidier-
ten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop-
tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame
Adoption durch Lebenspartner zuzulassen.
So weit geht der hier vorliegende Gesetzentwurf
nicht. Das dürfte auch für niemanden, der die erst vor
wenigen Monaten geführte Debatte zur Sukzessivadop-
tion verfolgt hat, eine große Überraschung sein. Die Dis-
kussionsgrundlage hat sich seitdem nicht entscheidend
verändert. Im vorliegenden, durch die Bundesregierung
eingebrachten Entwurf wird von der Option, im nationa-
len Adoptionsrecht die gemeinsame, simultane Adoption
durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen, kein Ge-
brauch gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt
dies.
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Eines vorweg: Wir,
die Sozialdemokraten, wollen endlich die Gleichstellung
gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften auch bei
uns. Bei uns in Deutschland. Alles, was auf diesem Weg
erreicht werden kann, ist gut. Auch das Europäische
Übereinkommen vom 27. November 2008 über die
Adoption von Kindern bringt uns diesem Ziel einen
wichtigen Schritt näher. Mit einer Verzögerung von
sechs Jahren – spät, aber es kommt. Das revidierte Über-
einkommen überlässt es den Mitgliedstaaten, die Voll-
adoption für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen,
was sein Vorgänger von 1967 noch ausschloss.
Unser Ziel ist es, die Unterschiede zwischen eingetra-
gener Partnerschaft und Ehe zu beseitigen; so steht es im
Koalitionsvertrag, und so ist es auch gut. Schön, dass wir
diese Aufgabe nun angehen. Zugegeben, nicht alle ganz
freiwillig und noch nicht alle frohen Herzens.
Doch das EU-Übereinkommen und die Entscheidung
unseres Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Februar
2013 stärken uns. Sie sind nicht nur ein klares Signal,
sondern ein Handlungsauftrag.
Durch den Entwurf des Vertragsgesetzes soll das
Übereinkommen ratifiziert werden. Damit kommen wir
der Gleichstellung näher. Die rechtliche Grundlage für
ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Le-
benspartnerschaften schaffen wir damit leider noch
5992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
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(D)(B)
nicht. Denn wir haben das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Sukzessivadoption zwar umgesetzt,
mehr jedoch leider noch nicht. Die gemeinsame Adop-
tion durch die Lebenspartner ist immer noch verwehrt.
Und dies nicht aus Gründen des Kindeswohls, wie uns
die öffentliche Anhörung dazu bestätigt hat. Daher ist es
längst überfällig, dass wir Kindern die Rechte, die ihnen
zustehen – Eltern zu haben, gleich welchen Geschlechts –,
nicht länger verwehren. Oder einfach gesagt: Die soge-
nannte Volladoption muss endlich Gesetz werden.
Warum sollen konkurrierende Elternrechte bei Le-
benspartnern eine Gefahr für das Kindeswohl sein, bei
Ehepartnern jedoch nicht? Sind das nicht vorgeschobene
Argumente, Rechte zu verwehren? Eine Adoption durch
den eingetragenen Lebenspartner unterscheidet sich
nicht von der durch den Ehepartner. Wo soll also der Un-
terschied liegen? Die eingetragene Lebenspartnerschaft
ist, wie die Ehe, auf Dauer angelegt und durch eine ver-
bindliche Verantwortungsübernahme geprägt. Sie bedeu-
tet, ebenso wie die Ehe, Solidarität und Zusammenhalt.
Werte, die gut sind, die wir in unserem Land brauchen.
Das Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung el-
terlicher Pflege und Erziehung, das Elterngrundrecht
und das Familiengrundrecht werden gestärkt. Was will
man mehr?
Eine dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Klage
zur gemeinsamen Adoption eines fremden Kindes wurde
im Januar 2014 wegen Unzulässigkeit nicht zur Ent-
scheidung angenommen. Es ist allerdings zu erwarten,
dass auch über das generelle Adoptionsrecht gleichge-
schlechtlicher Lebenspartnerschaften früher oder später
durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden
wird. Dem müssen wir doch zumindest in der politischen
Debatte zuvorkommen und uns nicht ständig im Kreis
drehen.
Sehr verehrte Damen und Herren, insbesondere liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union: Lassen Sie
uns nicht wieder warten, bis das Bundesverfassungsge-
richt die Richtung vorgibt. Lassen Sie uns diesen wichti-
gen Schritt in Richtung absolute Gleichstellung tun.
Die Eltern, die Kinder, ja unser Land haben es ver-
dient!
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Das Europäische
Übereinkommen vom 27. November 2008 über die
Adoption von Kindern (revidiert) ist am 1. September
2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und modernisiert das
Europäische Übereinkommen vom 24. April 1967 über
die Adoption von Kindern, dessen Vertragsstaat auch die
Bundesrepublik Deutschland ist, unter stärkerer Berück-
sichtigung des Kindeswohls und insbesondere im Hin-
blick auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen
vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes,
das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den
Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem
Gebiet der internationalen Adoption und das Europäi-
sche Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die
Ausübung von Kinderrechten.
Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderli-
chen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1
Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Über-
einkommens geschaffen werden.
Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Un-
terzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des
Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des
Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüber-
schreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu er-
möglichen.
Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut
Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbe-
wahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei, als
es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVermiG,
derzeit vorsieht.
Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Überein-
kommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu
hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindes-
wohls in den Unterzeichnerstaaten.
Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2
des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei,
den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf
gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinan-
der verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft mit-
einander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch
frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens
auf verschiedengeschlechtliche Paare und gleichge-
schlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen
Beziehung zusammenleben.“
Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetz-
bar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglich-
keit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten
diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unter-
zeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fort-
schritt ist.
Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichti-
gung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in
der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Überein-
kommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop-
tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspart-
ner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen
Gebrauch machen.“
Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Fa-
milienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und an-
erkennen und Kindern dieser Familien gesicherte
Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht
betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung
und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird die
Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unter-
stützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir
mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten
will, kann oder darf.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Meine Fraktion hat bereits zu Jahresbeginn einen Ge-
setzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die
Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5993
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hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch ab-
gelehnt.
In dem Übereinkommen ist festgehalten, dass grund-
sätzlich allen verheirateten und gegebenenfalls verpart-
nerten Paaren, auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaf-
ten sowie Alleinstehenden ein Adoptionsrecht eröffnet
wird. Die Adoption für gleichgeschlechtliche, verpart-
nerte Paare ist allerdings als Opt-Out-Option formuliert,
das heißt, es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, ob
sie diese Möglichkeit nutzen. Neben verheirateten und
verpartnerten Paaren besteht auch die Möglichkeit, in-
formell lebenden Paaren, die sich in stabilen und lang-
fristigen Beziehungen befinden, das gemeinschaftliche
Adoptionsrecht einzuräumen. Das Übereinkommen in
der Fassung von 1967 sah die gemeinschaftliche Adop-
tion für Verheiratete und durch Ehegatten vor. Es war
Ausrede für SPD und Union, eine gemeinschaftliche
Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen.
Schweden und das Vereinigte Königreich haben aus die-
sem Grund das Übereinkommen vor einigen Jahren ge-
kündigt, um nicht gegen diese Passage zu verstoßen. Seit
2008 ist nun die revidierte Fassung verabschiedet und
seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit, dass auch Deutsch-
land das Abkommen endlich ratifiziert.
Jetzt fragt man sich also, ob die Bundesregierung in
der Sache zur Einsicht gekommen ist und einen längst
notwendigen Schritt in Sachen Gleichberechtigung ma-
chen will. Der Haken findet sich dann aber in der Be-
gründung, in der die Bundesregierung ihre vorgestrigen
Ansichten deutlich werden lässt. Dort heißt es: „Von der
in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im na-
tionalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption
durch Lebenspartner möglich zu machen, wird die Bun-
desregierung keinen Gebrauch machen.“
Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer
gesetzgeberischen Apathie nicht folgen und sich den
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Herzen neh-
men. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass
es keine relevanten Unterschiede zwischen Ehe und Le-
benspartnerschaften gibt, die es rechtfertigen würden,
Adoptionsmöglichkeiten unterschiedlich auszugestal-
ten. In der Urteilsbegründung hält das Gericht wortwört-
lich fest: „Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal-
tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten,
bestehen nicht.“ Genau das wird hier allerdings – mal
wieder – ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschä-
mend, sondern auch gleich doppelt verfassungswidrig.
Nicht nur werden Menschen in Lebenspartnerschaften
benachteiligt, sondern auch die betroffenen Kinder.
Während Ehepaare gemeinschaftlich adoptieren können,
bleibt das Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern ver-
wehrt. Den Kindern fehlt es dadurch an Sicherheit: Sie
leben nicht in einer rechtlich anerkannten Familie, und
sie werden im Unterhalts- und Erbrecht benachteiligt.
Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in Regenbo-
genfamilien weniger gut gehe, längst ausgeräumt. Sämt-
liche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die
mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, keinen
Nachteil davon haben.
Wenn also sowohl Studien zu Regenbogenfamilien
und Anhörungen von Experten immer wieder zu dem
Schluss kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogen-
familien nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird,
dann ist es doch absurd, dass CDU/CSU immer wieder
diesen ideologischen Zombie aus der Argumentekiste
holen. Ganz offensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/
CSU immer noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Res-
sentiments zu bedienen, und um die Zustimmung von ho-
mophoben Stammtischen. Aus Angst vor den Rechts-
populisten der AfD wird hier auf dem Rücken von
Kindern verfassungsfeindliche Politik gemacht! Ginge
es wirklich um den Schutz der Familie und um das Kin-
deswohl, dann würden Sie sich dafür einsetzen, diese El-
tern-Kind-Beziehungen rechtlich abzusichern.
Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister der Justiz und für Verbaucher-
schutz: Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das
revidierte Europäische Übereinkommen vom 27. No-
vember 2008 über die Adoption von Kindern unterzeich-
net. Endlich, möchte ich hinzufügen. Sechzehn andere
Mitgliedstaaten des Europarates hatten das Übereinkom-
men schon vor uns unterzeichnet.
Sie wissen, warum Deutschland mit der Unterzeich-
nung so zögerlich war: Das revidierte Übereinkommen
gestattet den Vertragsstaaten erstmals, in ihrem nationa-
len Adoptionsrecht die Adoption durch Personen glei-
chen Geschlechts zuzulassen.
Die Sukzessivadoption durch Lebenspartner ist in
Deutschland inzwischen zulässig. Das allein ist Grund
genug, das revidierte Übereinkommen zu ratifizieren: Es
gilt, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden, der
darin besteht, dass die jetzige – durch das Bundesverfas-
sungsgericht gestaltete und nunmehr auch gesetzlich ge-
regelte – Rechtslage dem „alten“ Übereinkommen von
1967 widerspricht, an das Deutschland derzeit noch ge-
bunden ist. Das Übereinkommen von 1967 erlaubte die
Sukzessivadoption nur Ehegatten. Das Übereinkommen
von 2008 erlaubt die Sukzessivadoption auch für Le-
benspartner.
Die gemeinsame Adoption bleibt in Deutschland da-
gegen Ehegatten vorbehalten, und ich möchte eines sehr
deutlich klarstellen: Das revidierte Übereinkommen
zwingt uns keineswegs, diese Rechtslage zu ändern! Es
eröffnet den Vertragsstaaten im Wege einer Öffnungs-
klausel nur Spielraum, den sie nutzen können, aber nicht
müssen. Ich möchte daher nicht weiter auf die Frage ein-
gehen, ob Deutschland die gemeinsame Adoption durch
Lebenspartner zulassen sollte oder nicht. Die unter-
schiedlichen Ansichten hierzu sind hinreichend bekannt.
Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass der Schwer-
punkt des revidierten Europäischen Adoptionsüberein-
kommens nicht in der soeben angesprochenen Öffnungs-
klausel liegt. Das Übereinkommen von 1967 ist in
mehrfacher Hinsicht veraltet und musste deshalb grund-
legend überarbeitet werden.
Die Neufassung berücksichtigt diverse internationale
Übereinkommen, wie zum Beispiel das Übereinkommen
5994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014
(A) (C)
(B)
der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über
die Rechte des Kindes. Entsprechend wird die Rechts-
stellung der Kinder verbessert, unter anderem dadurch,
dass sie im Adoptionsverfahren grundsätzlich anzuhören
sind. Das Kind wird damit zum selbstständigen Verfah-
rensbeteiligten. Das ist für unsere Rechtstradition selbst-
verständlich. Für andere Staaten des Europarates ist das
aber Neuland.
Die Rechtsstellung nichtehelicher Väter wird eben-
falls verbessert, da nach der Neufassung nun auch ihre
Zustimmung zur Adoption erforderlich ist.
Damit werden für Deutschland schon vorhandene
Standards übernommen. Anpassungsbedarf im deut-
schen Recht besteht nur im Hinblick auf die Frist zur
Aufbewahrung der Vermittlungsakten für die Adoption.
Der Blick auf unser eigenes Adoptionsrecht würde
aber zu kurz greifen: Außerhalb Deutschlands wird das
revidierte Übereinkommen zu einer Stärkung der Kin-
derrechte beitragen. Wir sollten durch die Ratifizierung
ein gutes Beispiel geben und andere Staaten ermutigen,
mit der Ratifizierung des Abkommens die Kinderrechte
in ihrem Land zu stärken.
(D)
63. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Regierungserklärung zur Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht
TOP 5, ZP 1 Europäische Bankenunion
TOP 6 Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
TOP 36 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 37, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 3 Aktuelle Stunde zu den Ergebnissen des Weltklimaberichts
TOP 7 Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
TOP 8 Asylbewerberleistungsgesetz
TOP 9 Gleichstellung im Kulturbetrieb
TOP 10 Flüchtlingsunterbringung
TOP 11 Pkw-Maut
TOP 12 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
TOP 13 Atomabkommen mit Brasilien
TOP 14 Bundeswehreinsatz in Dafur (UNAMID)
TOP 15 Beitragssätze in der Rentenversicherung
TOP 18 Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings
TOP 17 Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs
TOP 20 Änderung des Agrarstatistikgesetzes
TOP 19 Bekämpfung von Doping im Sport
TOP 21 Änderung des Urheberrechtsgesetzes
TOP 22 Zusatzprotokoll zum Auslieferungsübereinkommen
TOP 23 Gerichtsstandsvereinbarungen und Arbeitsmarktpolitik
TOP 24 Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005
TOP 25 EU-Richtlinie über Europäische Schutzanordnung
TOP 26 Finanzaufsicht über Versicherungen
TOP 27 Anpassung der Abgabenordnung an Zollkodex der EU
TOP 28 Europ. Übereinkommen über Adoption von Kindern
Anlagen