Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Entwurf ei-nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesdaten-schutzgesetzes zur Stärkung der Unabhängigkeit der Da-tenschutzaufsicht im Bund auf Drucksache 18/2848 demHaushaltsausschuss zur Mitberatung zu überweisen.Darüber hinaus sollen die Unterrichtungen der Bun-desregierung zu Stellungnahmen des Bundesrates undGegenäußerungen der Bundesregierung auf den Drucksa-chen 18/3000 und 18/3004 zu den bereits überwiesenenGesetzentwürfen zur Änderung des Freizügigkeitsgeset-zes bzw. zur Änderung des Asylbewerberleistungsgeset-zes auf den Drucksachen 18/2581 und 18/2592 an dieentsprechenden federführenden und mitberatenden Aus-schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Dritten Geset-zes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgeset-zes – Ausweitung der Lkw-Maut.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Bundesminister für Verkehr und digitale Infra-struktur, Herr Alexander Dobrindt. – Bitte schön, HerrMinister.Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben nicht nur in Deutschland,sondern an vielen Stellen in Europa Diskussionen da-rüber, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstumunserer Wirtschaft und Arbeitsplätze in Zukunft versteti-gen können. Eine der Grundlagen dafür ist immer Zu-stand, Qualität und Ausbau der Infrastruktur.Deswegen hat sich die Bundesregierung zu Fragender Infrastrukturfinanzierung in der Vergangenheit im-mer dahin gehend geäußert, dass wir einen Investitions-hochlauf organisieren werden, der die Chance bietet,mehr Geld in Infrastruktur zu investieren. Ein wesentli-cher Bestandteil dieses Hochlaufs ist das 5-Milliarden-Euro-Paket, das in dieser Wahlperiode einen Hochlaufder Investitionen um 500 Millionen Euro mehr in diesemJahr, 1 Milliarde Euro mehr im nächsten Jahr usw. vor-sieht, bis dann im Jahre 2017 in der Gesamtsumme derInvestitionen ein Spitzenwert von 12 Milliarden Euro er-reicht werden kann.Wir begleiten diesen Investitionshochlauf unter ande-rem mit der stärkeren Nutzerfinanzierung. Ein Teil die-ser Nutzerfinanzierung ist die Lkw-Maut. Sie wissen,dass gerade der Güterverkehr in den nächsten Jahrenweiter massiv ansteigen wird: auf der Straße, auf derSchiene und auf den Wasserwegen. Wir werden in dennächsten 15 Jahren auf der Straße einen Zuwachs von40 Prozent beim Güterverkehr zu verzeichnen haben.Das zeigt auch schon die Herausforderungen: erstens fürdie Belastung der Straßen und zweitens für Unterhalt,Reparatur und auch Neubau von Straßen.Wir haben im Rahmen der Beratungen des Entwurfseines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesfern-straßenmautgesetzes heute beschlossen, dass wir imnächsten Jahr die Verbreiterung und Vertiefung der Lkw-Maut vornehmen werden. Verbreiterung und Vertiefungheißt, dass zum 1. Juli die vierspurigen Bundesstraßen indas Mautsystem und zum 1. Oktober 2015 die Lkw-Klasse von 7,5 bis 12 Tonnen in das Mautsystem einbe-zogen werden.Zusammen werden diese beiden Maßnahmen in ei-nem ganzen Jahr Mehreinnahmen in Höhe von 380 Mil-lionen Euro erbringen. Im Startjahr, dem Rumpfjahr2015, werden es in der Summe circa 115 Millionen Eurosein. Das ist klar, weil wir erst Mitte bis Ende des Jahres,also zum 1. Juli bzw. zum 1. Oktober, starten können.Langfristig stärkt das unsere Möglichkeiten zu mehr In-vestitionen in unsere Straßeninfrastruktur. Perspekti-visch planen wir, die Lkw-Maut im Jahr 2018 auf alleBundesstraßen auszudehnen. Das Finanzvolumen wirddurch ein entsprechendes Wegekostengutachten ermittelt
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Bundesminister Alexander Dobrindt
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werden. Dieses Gutachten wird perspektivisch bereitsvorbereitet.Wenn wir das Ziel, die Einbeziehung von Lkws mit7,5 Tonnen bis 12 Tonnen und von vierspurigen Bundes-straßen, erreicht haben, werden wir einen wesentlichenTeil der Investitionslücke schließen können, die gemäßdem Wegekostengutachten aufgrund von Mindereinnah-men bei der bisherigen Lkw-Maut entstanden ist. Diesegehen auf einen Zinseffekt zurück: Zinsvorteile auf-grund der geringen Zinsen, die zurzeit herrschen, müs-sen nämlich an die Nutzer der Straße weitergegebenwerden. Straße ist letztlich gebundenes Kapital und wirdzumindest nach der bisherigen Lesart auch mit Zinsenversehen. Ich habe in der Vergangenheit darauf hinge-wiesen, dass ich mir im Sinne einer langfristigen undverlässlichen Finanzierungsstruktur wünschen würde,dass der Zinseffekt bei der Berechnung der Mautgebüh-ren nicht so durchschlägt. Wir sind deswegen in Brüsselinitiativ geworden. Wir wollen gemeinsam mit den Kol-legen der Kommission dafür sorgen, dass bei zukünfti-gen Wegekostengutachten, die ja die Grundlage fürMautgebühren sind, der Zinseffekt geringer ausfällt unddadurch mehr Verlässlichkeit bei den Einnahmen unddamit für die Finanzierung der Infrastruktur sicherge-stellt werden kann.In der jetzigen Wahlperiode helfen uns die gerade dar-gestellten Maßnahmen, die entstandene Lücke zu schlie-ßen. Wir werden sie auch überkompensieren. Das heißt,am Schluss wird von den Einnahmen, die wir über Ver-breiterung und Vertiefung erreichen, auch zusätzlichesGeld für Investitionen in die Infrastruktur übrig bleiben.Das sind also Maßnahmen, die auf dem Weg zur stärke-ren Nutzerfinanzierung einen weiteren Meilenstein dar-stellen und umgehend, das heißt schon im nächsten Jahr,haushaltswirksam werden können.Ich freue mich, dass dies allgemein sehr positiv auf-genommen wird. Es ebnet uns den Weg zur Herein-nahme aller Bundesstraßen in die Lkw-Maut 2018 unddamit zu einer noch stärkeren Nutzerfinanzierung.Danke schön.
Wir haben eine ganze Reihe von Fragen. Ich lese die
Fragesteller vor, damit sich jeder geistig darauf einstel-
len kann: Frau Dr. Wilms, Bündnis 90/Die Grünen, Herr
Gastel, Bündnis 90/Die Grünen, Herr Behrens, Fraktion
Die Linke, Herr Bilger, CDU/CSU-Fraktion, Frau
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kühn, Bünd-
nis 90/Die Grünen, Herr Krischer, Bündnis 90/Die Grü-
nen, und Frau Leidig, Fraktion Die Linke.
Ich gebe jetzt Frau Dr. Wilms, Bündnis 90/Die Grü-
nen, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister
Dobrindt, Sie haben eben gesagt, Sie wollen im Rahmen
der Verbreiterung und Vertiefung der Lkw-Maut auf
7,5 Tonnen heruntergehen. Hier klafft aber noch eine
Lücke zu Ihrem Referentenentwurf, der letzte Woche auf
der Pressekonferenz zum Thema „Pkw-Maut“ bekannt
geworden ist; da hat man dies vernehmen können. Es
gibt jetzt die schöne Lücke zwischen 3,5 Tonnen und
7,5 Tonnen. Aus welchem Grund nehmen Sie eigentlich
diese Fahrzeuge – mit Ausnahme der Wohnmobile –
aus? Was steckt dahinter? Ich kann das irgendwie nicht
nachvollziehen. Auch solche Fahrzeuge nutzen doch die
Straßen und nutzen sie in irgendeiner Weise ab.
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Verzeihung. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass
Frau Wilms schon fertig ist. – Liebe Frau Wilms, wenn
Sie sich den Gesetzentwurf, wie wir ihn heute im Kabi-
nett beschlossen haben, anschauen, dann werden Sie
feststellen, dass da ein Prüfauftrag formuliert worden ist,
nämlich zu prüfen, wie und ob – wahrscheinlich eher:
wie – man die Klasse von Fahrzeugen zwischen 3,5 und
7,5 Tonnen in ein Mautsystem miteinbeziehen kann. Das
war auch ausdrücklicher Wunsch von beteiligten Res-
sorts.
Ich teile nicht hundertprozentig Ihre Einschätzung,
dass es eine Lücke gibt. Wir haben vielmehr zwei Sys-
teme, die nebeneinander existieren: zum einen das Sys-
tem der Güterverkehre, das von den Lkws abgebildet
wird, zum anderen das System der Personenverkehre,
das von den Pkws abgebildet wird. Sie existieren neben-
einander und unterliegen daher sehr unterschiedlichen
Regelungen. Sie wissen: In der Eurovignetten-Richtli-
nie, also dem europäischen Regelwerk, sind Regelungen
für Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen aufwärts formuliert – nicht
darunter.
Es gibt aktuell keine Überlegungen im Haus, was die
Bemautung der 3,5- bis 7,5-Tonner betrifft; aber im Ge-
setzentwurf ist ein diesbezüglicher Prüfauftrag deutlich
formuliert. Der Prüfauftrag wird auch umgesetzt werden.
Von daher kann man davon ausgehen, dass wir uns in na-
her Zukunft mit dieser Frage beschäftigen müssen. Das
wird allerdings nicht mehr in diesem Jahr sein. Ergeb-
nisse einer Prüfung kann ich – da bitte ich um Verständ-
nis – beim besten Willen nicht vorwegnehmen.
Nächste Frage: Herr Abgeordneter Gastel, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. – Herr Minister, ich habe eine Frage, diesich auf einen datenschutzrechtlichen Vergleich zwi-schen der bestehenden Lkw-Maut und Ihrer geplantenPkw-Maut bezieht. Sie planen ja, die Daten bei der Pkw-Maut einen Monat länger, als das jeweils abgelaufeneJahr dauert, zu speichern. Was ist da der Hintergrund?Planen Sie ein ähnliches Vorgehen, eine entsprechende
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Matthias Gastel
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Änderung auch im Bereich der Lkw-Maut, wo die Datenja bisher sofort wieder gelöscht werden?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Lieber Kollege Gastel, wir haben die Regelungen
zum Datenschutz, die wir aus dem Bereich der Lkw-
Maut kennen – es sind die schärfsten Datenschutzrege-
lungen, die bisher in einem Gesetz zu finden sind –, ge-
rade was die ausschließliche Verwendung dieser Daten
für das Mautsystem und den Ausschluss der Verwen-
dung der Daten für andere Zwecke – sprich: auch durch
andere Behörden – anbelangt, in unseren Gesetzentwurf
zur Infrastrukturabgabe, der sogenannten Pkw-Maut,
übernommen. Das heißt – ich habe auch dies schon öf-
fentlich formuliert –, dass wir ausdrücklich widerspre-
chen, dass die Daten einer anderen Nutzung zugeführt
werden.
Dass dies passiert, ist sogar explizit ausgeschlossen.
Die Kontrolldaten, die wir erheben, werden grund-
sätzlich unverzüglich gelöscht. Das ist im Gesetz so vor-
gesehen. Bei der erstmaligen Kontrolle innerhalb des
Gültigkeitszeitraumes einer Jahresvignette werden das
Kennzeichen und der Tag der Kontrolle festgehalten,
wobei die Aufbewahrungszeit je nach Zeitpunkt der
Kontrolle innerhalb des Zeitraums der Gültigkeit einer
Jahresvignette 1 Monat bis maximal 13 Monate betragen
kann. Es geht dabei darum, dass wir uns für Härtefälle
eine Erstattung auf Antrag vorstellen können, wenn
nachgewiesen wird, dass ein Kraftfahrzeug im gesamten
Entrichtungszeitraum nicht genutzt worden ist. Um je-
doch ungerechtfertigten Erstattungen vorzubeugen, ist
vorgesehen, dass einmalig innerhalb der Gültigkeit der
Jahresvignette das Kennzeichen und der Tag der Kon-
trolle des Kfz mit einer Jahresvignette gespeichert wer-
den können.
Es geht dabei um die einmalige Feststellung der Nut-
zung des Netzes innerhalb des Gültigkeitszeitraums ei-
ner Jahresvignette. Die Feststellung findet ausschließlich
über das Kennzeichen und den Tag der Nutzung statt.
Eine Verwendung dieser Daten ist ausschließlich für den
Zweck der Erstattung vorgesehen. Eine Übermittlung
oder Beschlagnahme dieser Daten für andere Zwecke ist
nicht zulässig.
Von daher sehen Sie, worum es an dieser Stelle geht,
nämlich darum, einmalig festzuhalten, ob ein Befahren
des Netzes stattgefunden hat. Grund dafür ist, Erstattun-
gen oder Erstattungsanfragen möglich zu machen bzw.
unberechtigte Anfragen entsprechend zu beantworten.
Schönen Dank. – Ich bin von der Fraktion Die Linke
darauf hingewiesen worden, dass die Abgeordneten und
die Regierungsmitglieder bitte die Redezeitampel beach-
ten. Die Frage war allerdings so komplex, dass eine aus-
führliche Antwort aus meiner Sicht für das Haus wichtig
war.
Herr Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke
stellt die nächste Frage.
Herr Minister, ich würde mich über eine kurze, aber
hoffentlich inhaltsreiche Antwort freuen. – Sie stellen
jetzt einen von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf vor, in
dem es um die Frage der Ausweitung der Maut für Lkw
geht. Dieses Thema ist nicht neu. Wir haben bereits im
letzten Jahr darüber gesprochen, dass es eigentlich not-
wendig ist, weitere Straßen mit einer Lkw-Maut zu bele-
gen. Zum damaligen Zeitpunkt war das angeblich aus
technischen Gründen nicht möglich. Das Argument ist
jetzt aufgehoben.
Aber auch in der zweiten Runde sind es nicht mehr
als 1 000 Kilometer Bundesstraßen, die zusätzlich in die
Bemautung einbezogen werden können. Das ist eindeu-
tig zu wenig, weil dahinter nicht nur steht, dass wir mehr
Geld für das Verkehrssystem brauchen, sondern wir auch
eine verkehrspolitische Maßnahme damit verbinden
wollen, nämlich eine Lenkungswirkung erzielen wollen.
Darum sind die Anforderungen an eine Maut einfach an-
dere als die bloße Überlegung, ob wir damit genug Geld
hereinbekommen oder nicht.
Die Zeitspanne der Verbändeanhörung – nun zu mei-
ner Frage – war sehr kurz bemessen. Der Bundesverband
Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung hat das an-
gemahnt. Warum ist die Frist für die Verbändeanhörung
so kurz gewesen? Wie viele Stellungnahmen gab es?
Welche dieser Stellungnahmen haben Sie in Ihrem neuen
Entwurf eingebaut?
Das waren jetzt schon drei Fragen und damit eigent-lich zwei mehr, als die Geschäftsordnung vorsieht. Des-wegen braucht der Minister auch die Zeit, sie zu beant-worten. – Bitte, Herr Minister.Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Behrens,bemängeln Sie zwar, dass die Entscheidung zur Bemau-tung der vierspurigen Bundesstraßen zu spät getroffenworden sei, aber Sie begrüßen, dass sie kommt.
– Bitte? Der Schritt ist gut?
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Bundesminister Alexander Dobrindt
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Die von Ihnen angesprochenen 1 000 Kilometer sindtatsächlich 1 100 Kilometer. Das heißt, dass alle vierspu-rigen Bundesstraßen, die an Autobahnen angebundensind, in das Mautsystem aufgenommen werden. Das istdann letztlich ein flächendeckendes Netz von Autobah-nen und vierspurigen Bundesstraßen.In der Tat gab es in vergangenen Zeiten offensichtlichtechnische Fragen, die aber auf dem Weg bis hierhin ge-klärt werden konnten, sodass dies jetzt möglich ist.Des Weiteren wissen Sie, dass wir einen Betreiberver-trag haben. Dieser Betreibervertrag ist eindeutig undlässt zu, dass wir ihn um diese beiden Maßnahmenerweitern. Eine Bemautung von allen Bundesstraßenbraucht deutlich längere Vorbereitungen, weil sie erstenstechnisch kompliziert ist – sie muss aufgebaut werden –und zweitens auch inhaltlich kompliziert ist. Eine Ver-gabe an ein bestehendes System halte ich nicht für mög-lich; vielmehr müssen wir, bevor wir alle Bundesstraßenbemauten, dafür sorgen, dass auch die Frage, wer diesdurchführt, vorbereitet und geregelt wird. Hier unterlie-gen wir auch den europarechtlichen Rahmenbedingun-gen.Wir haben innerhalb der Frist in der Tat Stellungnah-men erhalten. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Stel-lungnahmen eingegangen sind, aber ich reiche das gernenach, wenn dies für Sie von besonderem Interesse ist.Ich stelle fest, dass die allgemeine Zustimmung zuunserer Entscheidung für diese Entscheidung groß ist,vor allem, weil jeder weiß, dass die Einnahmen, die wirdurch die Maßnahmen erzielen, direkt wieder in die In-frastruktur investiert werden. Alle Beteiligten, auch be-teiligte Verbände, profitieren davon, dass wir eine stabileInfrastruktur haben.
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Herr Kol-
lege Bilger von der CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben dargestellt, wie Sie sich den Weg hin zu einer Erhö-
hung der Einnahmen für die Infrastruktur vorstellen. Wie
hoch schätzen Sie denn den nötigen Bedarf, wenn wir
den Rückstau beim Erhalt aufholen, aber auch die feh-
lenden Mittel für den nötigen Ausbau aufbringen wol-
len? Wie ist sichergestellt, dass die durch die Auswei-
tung der Lkw-Maut und die durch die Einführung der
Pkw-Maut eingenommenen Mittel dann auch tatsächlich
für die Infrastruktur zur Verfügung stehen?
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Sehr geehrter Kollege Bilger, wir wissen, dass es in
der Vergangenheit eine ganze Reihe von Kommissionen
gegeben hat, die versucht haben, den nötigen Mittelbe-
darf zu spezifizieren. Die Daehre/Bodewig-Kommis-
sion als letzte Kommission, die darüber getagt hat, hat
einen jährlichen Mehrbedarf von 7,5 Milliarden Euro be-
ziffert, der allerdings Bund, Länder und Kommunen er-
fasst, sodass wohl von einem ungefähren Mehrbedarf
beim Bund von 3,5 bis 4 Milliarden Euro auszugehen ist.
Wir haben einen Investitionshochlauf vorgezeichnet.
Innerhalb des Zeitraums, den die Daehre/Bodewig-Kom-
mission vorsieht, nämlich über das Jahr 2018 hinaus, soll
der entsprechende Finanzierungsbedarf gedeckt werden.
Durch die Schritte hin zu einer Verbreiterung und Vertie-
fung der Lkw-Maut, insbesondere ab 2018 die Auswei-
tung auf alle Bundesstraßen, durch die Einführung der
Pkw-Maut, sprich: der Infrastrukturabgabe, durch ÖPP-
Modelle, das heißt durch neue öffentlich-private Partner-
schaften, durch eine Verstetigung der Investitionsmittel
aus dem Haushalt und durch eine klare Priorisierung und
das Bekenntnis „Erhalt vor Neubau“, was wir durch un-
ser Brückenmodernisierungsprogramm deutlich unter-
strichen haben, werden wir die notwendigen Investitio-
nen für die Zukunft, wie sie auch von der Daehre/
Bodewig-Kommission vorgeschlagen worden sind, si-
cherstellen.
Danke schön. – Die nächste Frage stellt die Abgeord-
nete Frau Kollegin Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Siesprachen gerade im Rahmen der zusätzlichen Vorschlägezur Lkw-Maut von einem Investitionshochlauf. Ichglaube, wir können hier eher von einem Fliegenschissreden. Wir sprechen bei Ihren Änderungen bei der Lkw-Maut, die ja unzureichend ist im Hinblick auf die Nicht-erfassung von Fahrzeugen mit einem Gewicht von 3,5bis 7,5 Tonnen, von einer zusätzlichen Erfassung auf1 100 Kilometern. Angesichts der Tatsache, dass wir40 000 Kilometer Bundesstraßen haben, fragen wir unsals Grüne schon, weshalb Sie ein so kleinteiliges Kon-zeptchen so groß feiern.Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Liebe Frau Haßelmann, wenn ich die Diskussionender letzten Tage auch in den Medien richtig verfolgthabe, würde ich mich an Ihrer Stelle an noch mehr Punk-ten fragen; ich denke da an Äußerungen, die von maß-geblichen Personen aus Ihrer Partei zu diesem ganzenThema zu lesen waren.Wir haben aufgenommen, dass viele Beteiligte eineUnterfinanzierung im Investitionsbereich beklagt ha-ben, und wir haben einen Lösungsansatz erarbeitet. Da-bei handelt es sich um eine Paketlösung, mit der wir– das habe ich gerade schon in meiner Antwort auf dieFrage des Kollegen Bilger gesagt – die von der Daehre/Bodewig-Kommission formulierte Lücke füllen können.
Ein Teil dieser Paketlösung befindet sich in dem vor-gelegten Gesetzentwurf: 380 Millionen Euro Mehrein-
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nahmen pro Jahr. Dass Sie 380 Millionen Euro Mehrein-nahmen pro Jahr als irrelevant bezeichnet haben – –
– Ich habe „irrelevant“ verstanden. – Dass Sie das als ir-relevant bezeichnet haben, kann ich nicht nachvollzie-hen. Für die meisten Menschen in diesem Land sind380 Millionen Euro immer noch relativ viel Geld. Fürmich auch, und für das Bundesverkehrsministeriumauch.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Kühn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Herr Minister, Sie haben kundgetan,
dass Sie die Mauterhebungslücke bei Lkws mit 3,5 bis
7,5 Tonnen zunächst nicht schließen wollen, sondern ei-
nen Prüfauftrag in den Gesetzentwurf haben schreiben
lassen. Es gibt das Wegekostengutachten, in dem die den
verschiedenen Fahrzeugklassen anzulastenden Wege-
kosten stehen. Sie können mir jetzt sicherlich erklären,
wie hoch die Einnahmen wären, die der Bund zur Finan-
zierung der Verkehrsinfrastruktur verwenden könnte,
wenn man Fahrzeuge zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen in
die Bemautung einbeziehen würde.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Sehr geehrter Herr Kühn, nein, diese Frage kann man
nicht beantworten, und zwar aus dem einfachen Grund,
dass es keine Vorschrift gibt, wie die Klasse von 3,5 bis
7,5 Tonnen zu bemauten ist.
Wenn Sie eine Antwort auf diese Frage haben wollen,
müssen Sie erst einmal festlegen, in welchem System
und mit welchen Bedingungen Sie die Maut für diese
Klasse ausgestalten wollen. Wenn Sie das formuliert ha-
ben, dann können Sie am Ende einen Betrag errechnen.
Ohne eine klare Formulierung, mit welchem Mautsys-
tem man diese Klasse bemauten will, ist kein Euro-Be-
trag zu ermitteln.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, Sie wollen hier jetzt die Botschaft ver-
mitteln, dass Sie die Lkw-Maut ausweiten. Vor einigen
Wochen haben wir hier die Senkung der Lkw-Maut be-
schlossen. Wenn ich die Zahlen richtig zusammenbringe,
ist das ein Nullsummenspiel. Das kennen wir schon von
der Pkw-Maut. Das Nullsummenspiel ist, glaube ich, ty-
pisch für Sie.
Sie haben viel über Verbreitung und Vertiefung ge-
sprochen. Ja, die Einschätzung teile ich: In Deutschland
verbreiten und vertiefen sich die Schlaglöcher. Das ist
auch Folge der Politik der vergangenen Jahre, die von
Ihnen fortgesetzt wird.
Es gibt viele Studien und Untersuchungen – auch das
Wegekostengutachten liefert Anhaltspunkte dafür –, in
denen festgestellt wird, dass weit über 90 Prozent – man-
che sprechen sogar von 98 Prozent – der Schäden im
Bereich unserer Straßeninfrastruktur – Brücken und Be-
lag – von Lkws verursacht werden, dass die Pkws hin-
sichtlich des Verschleißes also nur eine marginale Rolle
spielen. Meine Frage ist: Wie soll nach Ihrer Vorstellung
sichergestellt werden, dass die Lkws in Zukunft verursa-
chergerecht zum Erhalt der Straßeninfrastruktur beitra-
gen? Durch eine Ausweitung der Lkw-Maut auf weitere
1 000 Kilometer gegenüber dem heutigen Stand scheint
dies nicht möglich zu sein.
Herr Minister.Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:In den letzten Tagen gab es gerade auch von IhnenMeldungen, dass Sie eine Verstetigung, Verbreiterung,Vertiefung, Ausweitung der Lkw-Maut befürworten. Dassei das richtige Konzept. Die Bundesregierung hat heutebeschlossen, die Lkw-Maut auszuweiten – nicht unbe-dingt in Erfüllung Ihrer Aufforderung, vielmehr aus ei-genem Antrieb, weil wir es für notwendig erachten, dieNutzerfinanzierung konsequenter umzusetzen. Deswe-gen habe ich heute auch sehr deutlich formuliert, dasswir alle Vorbereitungen dazu treffen, die Lkw-Maut imJahr 2018 auf alle Bundesstraßen anzuwenden. DiesenSchritt fordern, glaube ich, auch Sie. Auch diesen Schrittgehen wir, und zwar nicht, um Ihrer Forderung nachzu-kommen, sondern weil wir es für dringend geboten hal-ten, die Nutzerfinanzierung hier zu stärken.
– Nein. Es ist in der Tat einige Zeit Vorbereitung not-wendig, damit es auf 40 000 Kilometern Straße funktio-nieren kann.Wir erheben bisher Lkw-Maut auf 13 000 KilometernAutobahnen. Jetzt kommen 1 100 Kilometer vierspurigeBundesstraßen dazu; 1 200 Kilometer vierspurige Bun-
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desstraßen sind bereits im System enthalten. Wir wollendann auf 40 000 Kilometern Mautgebühr erheben, sowie wir es heute für die genannten Straßen umgesetzt ha-ben. Es ist bekannt, dass entsprechende Vorbereitungennotwendig sind. Sie werden innerhalb dieses Zeitraumsmöglich sein. Dadurch wird dann nutzerfinanziert ein er-heblicher Mehrbeitrag für Investitionen zur Verfügungstehen. Dies ist auch richtig, weil die Lkws in der Tat zueinem erheblichen Teil die Belastung der Straße ausma-chen.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Leidig, Fraktion Die Linke.
Ich möchte gerne zwei kurze Fragen stellen. Die erste
Frage bezieht sich auf die Antwort, die Sie Herrn
Behrens gegeben haben. Ich möchte fragen, ob ich es
richtig verstanden habe – auch in der jetzigen Antwort –,
dass Sie im Grunde perspektivisch das Ziel verfolgen,
alle Straßen für Lkws zu bemauten.
Außerdem möchte ich fragen, ob dieser Plan derzeit da-
ran scheitert, dass das Erfassungssystem, sprich Toll
Collect, dafür nicht geeignet ist.
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Liebe Kollegin Leidig, Sie haben beides falsch ver-
standen.
Ich will die Lkw-Maut nicht auf allen Straßen in
Deutschland einführen, sondern auf den Bundesstraßen
in Deutschland im Jahr 2018. Die Tatsache, dass jetzt
keine Ausweitung über das System von Toll Collect
möglich ist, liegt nicht daran, dass das System das nicht
kann, sondern es liegt daran, dass es sich um eine Grö-
ßenordnung handelt, bei der die Vergabe nach europäi-
schen Vorschriften organisiert werden muss. Deswegen
kann dies von uns nicht einfach direkt zur Bemautung an
ein existierendes Unternehmen gegeben werden, das
dann die Mauteinnahmen generieren würde. Das Gene-
rieren der Mauteinnahmen in einem großen System von
40 000 Kilometern ist unter europäischen Vergaberechts-
bedingungen auszuschreiben.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich will
den „Fliegenschiss“ einmal ein bisschen definieren. Sie
haben uns vorhin gesagt, dass Sie mit 40 Prozent Zu-
wachs beim Güterverkehr rechnen. Sie haben uns vorge-
rechnet, dass die jetzt bei der Lkw-Maut beabsichtigten
Reformen 380 Millionen Euro einbringen sollen. Bisher
bringt die Maut, glaube ich, mindestens 4 Milliarden
Euro ein. 380 Millionen Euro sind also nur ein relativ
geringer Teil davon. Schon heute – das hat Kollege
Krischer gerade ausgeführt –, also ohne 40-prozentigen
Zuwachs, verursachen die Lkws 90 Prozent der Straßen-
schäden. Jetzt machen Sie mir bitte einmal die Rechnung
auf, wie diese 380 Millionen Euro angesichts der Di-
mensionen, über die wir reden – die Lücke beträgt
7,5 Milliarden Euro –, etwas anderes sind als ein Flie-
genschiss.
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Liebe Frau Kotting-Uhl, offensichtlich tun Sie sich
schwer, ein Paket zu beschreiben, das aus vielerlei Maß-
nahmen besteht und in der Gesamtsumme zu einem er-
heblichen Mehr an Investitionen führt.
Ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie sich aus ideologi-
schen Gründen etwas dagegen wehren, dass wir mehr
Geld in die Straße investieren wollen.
Aber es ist trotzdem unsere Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass der Güter- und Personenverkehr auch auf der Straße
weiterhin stattfinden kann.
Wenn man die Zahlen nimmt, die Sie gerade beschrie-
ben haben –
die heutige Summe und das, was wir durch Verbreite-
rung und Vertiefung schaffen –, dann heißt das, dass man
im Bereich der Lkw-Maut nahezu 10 Prozent mehr zur
Verfügung hat. Ein Anwachsen um 10 Prozent ist für
mich ein relevantes Anwachsen.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Herr Beck,Bündnis 90/Die Grünen.
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(B)
Herr Minister, Sie sind vorhin schon auf die Frage des
Kollegen Gastel eingegangen. In der Presse haben Sie
sich noch viel eindeutiger geäußert. Sie haben den Bür-
gern nämlich versprochen:
Die Mautdaten werden ausschließlich für die Maut-
entrichtung aufgenommen und unter keinen Um-
ständen
– unter keinen Umständen! –
anderen Zwecken zur Verfügung gestellt, auch
nicht dem Bundeskriminalamt oder anderen Sicher-
heitsbehörden.
Aus dem Bundeskriminalamt kam prompt die Forde-
rung, genau dies solle erfolgen.
Wenn das unter keinen Umständen geschehen soll, wie
Sie sagen, wie wollen Sie dann gesetzlich verhindern,
dass ein künftiger Gesetzgeber durch einen neuen Geset-
zesbeschluss
nach einer schlimmen Kriminaltat beschließt, dass die
Daten den Sicherheitsbehörden unter bestimmten Vo-
raussetzungen zur Bekämpfung schwerster Kriminalität
zugänglich gemacht werden?
Ich meine, eine Technologie, die nicht von Anfang an
auf Datenarmut zielt, ist kein guter Datenschutz. Des-
halb frage ich Sie: Mit welchen gesetzgeberischen Knif-
fen wollen Sie in der Verfassung verhindern – wollen Sie
es zum Beispiel mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag
und Bundesrat im Gesetz absichern? –,
dass mit einfacher Mehrheit eine neue Mehrheit hier in
diesem Hohen Hause genau das Gegenteil von dem be-
schließt, was Sie allen Bürgerinnen und Bürgern hier so
vollmundig garantieren wollen?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Erstens. Das Zitat ist richtig und bleibt richtig.
Zweitens. Das ist schon ein erhöhtes Maß an Heuche-
lei vor dem Hintergrund,
dass Ihre Fraktion und Ihre Partei jetzt Woche für Woche
nach einer intelligenten Maut schreien,
die verkehrslenkend wirken
und deswegen nach Tagen und Tageszeiten unterschei-
den und in einzelnen Regionen unterschiedlich bemau-
ten soll.
– Sie haben verkündet, dass Sie die Autofahrer – je
nachdem, wo der einzelne Autofahrer sich zu welcher
Tageszeit gerade befindet – unterschiedlich bemauten
wollen.
Das sichert das absolute Profil eines Autofahrers.
Derjenige, der das fordert, fragt jetzt bei mir nach: Wie
können Sie das für die nächsten 100 Jahre sicherstellen? –
Ich stelle das im Gesetz sicher, und Gesetze gelten, Herr
Beck.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Hartmann,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Minister, auf den Ausgangspunktder Befragung zurückkommend, möchte ich auf dasDritte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßenmaut-gesetzes eingehen und vor allen Dingen Ihren Berichtaufgreifen. Vielen Dank auch für Ihre Klarstellung imHinblick auf den Weg, der, glaube ich, auch im Koali-tionsvertrag aufgezeigt worden ist, was die Ausweitungund die Verbreitung der Maut angeht.Sie haben in Ihrem Bericht auf die Rolle Europas unddie der EU-Kommission hingewiesen. In dem Entwurfist auch enthalten, dass die Kosten für Luftschadstoffeentsprechend angelastet werden können. Nun gab es jaden Hinweis, dass man bestimmte Einnahmen einer be-
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5738 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Sebastian Hartmann
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stimmten Kategorie nur in geringem Maße als wirklichrelevant bezeichnet. Wie würde es sich denn auswirken,wenn die Kosten für Luftschadstoffe vollumfänglich an-gelastet würden? Haben Sie jenseits des Themas derZins- und Kapitalkosten auch in dieser Richtung nochGespräche geführt? Welche Möglichkeiten gäbe es,wenn die EU-Kommission uns dort entgegenkäme?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Sehr geehrter Herr Hartmann, unser Ziel ist es, dafür
zu sorgen, dass die Kosten für Luftschadstoffe mit ange-
lastet werden. Dies ist theoretisch auch möglich. Aller-
dings muss der explizite Nachweis geführt werden, wie
hoch die Schadstoffbelastung im Laufe einer Strecke ist.
Dazu müssten erhebliche Messungen durchgeführt wer-
den. Diese Möglichkeit steht uns zurzeit nicht auf der
gesamten bemauteten Strecke zur Verfügung.
Unser Ziel ist es, dass diese Daten in naher Zukunft
zur Verfügung stehen, damit wir bei der nächsten Ände-
rung der Mautsätze die Kosten für die Luftschadstoffe
mit einbeziehen und relevant machen können in dem
Sinne, dass der Nutzer, der verstärkt Luftschadstoffe
emittiert, deutlich mehr belastet wird als der Nutzer, der
dies in geringerem Maße tut.
Schönen Dank. – Wir haben zwar das Ende der für die
Regierungsbefragung vereinbarten Zeit erreicht, aber ich
lasse die mir vorliegenden vier weiteren Fragen noch zu
und ziehe dann einen Strich darunter. Zu Wort gemeldet
haben sich noch Frau Dr. Wilms von Bündnis 90/Die
Grünen, Herr Behrens von den Linken, Herr Kühn von
Bündnis 90/Die Grünen und Herr Krischer von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sind Sie einverstanden, dass wir dann die Befragung
der Bundesregierung beenden? – Dann machen wir das
so.
Frau Dr. Wilms, Bündnis 90/Die Grünen, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich
komme noch einmal zurück auf unser Lieblingsthema
Toll Collect, also auf das System, mit dem zurzeit die
Lkw-Maut erfasst und berechnet wird. Ich möchte das in
Zusammenhang bringen mit der Aussage meiner lieben
Kollegin Haßelmann, die von einem „Fliegenschiss“
sprach.
Sie haben gerade gesagt, dass wir das, was eigentlich
notwendig ist, nämlich eine Ausweitung auf alle Bun-
desstraßen, angeblich gar nicht können, weil wir dann
eine Vergabe machen müssten. Gleichzeitig haben Sie
aber gesagt, dass das System Toll Collect dies leisten
könnte.
Presseberichten habe ich entnommen, dass Sie den
Vertrag verlängern wollen, sodass Sie die Möglichkeit
nutzen könnten, die der derzeitige Vertrag bietet, näm-
lich das System Toll Collect als Bund zu übernehmen,
indem Sie die Call-Option ziehen, und dann in eigener
Regie eine Ausweitung auf die 40 000 Kilometer Bun-
desstraßen vorzunehmen. Dann bräuchten wir nämlich
keine Ausschreibung. So hätten Sie doch sofort die
Chance, diesen „Fliegenschiss“ zu nutzen und die riesige
Verbreiterung und Vertiefung umzusetzen.
Wie weit sind Sie mit Ihren Entscheidungen in Sa-
chen Toll-Collect-Vertragsverlängerung bzw. Call-Op-
tion?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Liebe Frau Wilms, die bisherigen Aussagen heute wa-
ren korrekt. Weitere Entscheidungen müssen Sie abwar-
ten.
Der Betrieb eines Mautsystems auf 40 000 Kilo-
metern Bundesstraßen wäre auszuschreiben.
Ihr Plädoyer für eine Call-Option nehme ich gerne zur
Kenntnis. Entscheidungen werden aber getroffen und
dann entsprechend mitgeteilt.
Nächste Frage: Abgeordneter Behrens, Fraktion Die
Linke.
Herr Minister, Sie haben darauf hingewiesen, dass die
ökologische Lenkungswirkung der Maut durchaus be-
rücksichtigt worden sei. Allerdings haben wir beim
Zweiten Änderungsgesetz gerade an diesem Punkt eher
einen Rückschritt dadurch gemacht, dass wir ab dem
1. Januar 2015 die Maut nach Achsen berechnen. Ein
Schadstoffzuschlag kommt zwar hinzu; aber die diffe-
renzierte Möglichkeit, die wir vorher hatten, nämlich die
Steuerung über Emissionsklassen, war auf jeden Fall nä-
her an einer ökologischen Verkehrspolitik dran.
Darauf hat auch der Bundesverband Güterkraftver-
kehr Logistik und Entsorgung hingewiesen und insbe-
sondere kritisch angemerkt, dass schon jetzt klar ist, dass
wir ab 1. Oktober 2015 eine veränderte Mautstruktur
und andere Sätze brauchen, weil andere Fahrzeugkate-
gorien einbezogen werden. Was ist vor diesem Hinter-
grund der Wert dieses in gewisser Weise Schnellschus-
ses, den Sie hier gemacht haben, der weder die
tiefgehende Substanz einer ökologischen Verkehrspolitik
hat, noch vom Ertrag her so ausreichend ist, dass er ei-
nen enormen finanziellen Schub bringt?
Herr Minister.
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Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Herr Behrens, das Zweite Änderungsgesetz, das zuBeginn nächsten Jahres in Kraft tritt, war notwendig,weil wir aufgrund des Wegekostengutachtens die Maut-sätze anpassen müssen. Die ökologische Lenkungswir-kung, wie Sie es nennen – Umweltkomponente würdeich es nennen –, haben wir berücksichtigt, indem wir mitder Euroklasse 6 eine eigene Klasse eingeführt haben,sodass die betreffenden Fahrzeuge besser dastehen alsandere.Das erachte ich übrigens für überzeugend und richtig.Von daher sind Anforderungen, die Sie stellen, umge-setzt, denke ich. Dass wir dies nicht zum 1. Juli und1. Oktober des nächsten Jahres mit der Verbreiterungund Vertiefung in einen zeitlichen Einklang bringen kön-nen, versteht sich von selber, weil die technische Umset-zung entsprechend vorbereitet werden muss.
Nächste Frage: Abgeordneter Kühn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Vielen Dank, Herr Präsident. – In der Frage der Lkw-
Maut ist es das Ziel, entsprechend der Inanspruchnahme
und Abnutzung der Infrastruktur die Nutzer zur Kasse zu
bitten. Wir hatten in den vergangenen Jahren auf unseren
Straßen eine sprunghafte Zunahme an Großraum- und
Schwerlastverkehren mit Sondergenehmigung zu ver-
zeichnen, die mit deutlich mehr als 40 bzw. 44 Tonnen
Lasten – also deutlich höheren Lasten – gerade unsere
Brücken zusätzlich in Anspruch nehmen. Diese Ver-
kehre zahlen aber trotz der deutlich höheren Last und der
damit verbundenen Inanspruchnahme und Beschädigung
der Infrastruktur nicht mehr als ein 40-Tonner oder 44-
Tonner im kombinierten Verkehr, weil sich die Maut-
sätze nach der Anzahl der Achsen richten. Halten Sie es
vor dem Hintergrund der besonderen Inanspruchnahme
bzw. Beschädigung der Infrastruktur gerade auch vor
dem Hintergrund des dramatischen Zustands vieler Brü-
cken für richtig, so weiter zu verfahren, oder wäre es
nicht sinnvoll, über einen höheren Mautsatz gerade für
solche Verkehre nachzudenken? Wie ist Ihre Position
dazu?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Schwerlastverkehre sind spezifisch genehmigungs-
pflichtig. Von daher haben wir eine genaue Kontrolle,
unter welchen Bedingungen der Schwerlastverkehr auf
der Straße unterwegs ist. Dem ist auch eine besondere
Berücksichtigung des Zustands der Straßeninfrastruktur
hinterlegt. Daneben wird die direkte Beschädigung bei
den Schwerlastverkehren explizit aufgenommen und
muss auch umgehend ersetzt werden. Von daher gibt es
schon heute eine andere Behandlung von Schwerlastver-
kehren als von normalen Lkw-Verkehren.
Letzte Frage in der Regierungsbefragung: Abgeord-
neter Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben uns gerade erklärt, dass Sie
2018, in der nächsten Legislaturperiode, die Ausweitung
der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen und damit auf
40 000 Kilometer vornehmen wollen. Die Begründung
für diesen Zeitpunkt war, dass das aufwendig ist und
eine Menge vorzubereiten ist. Wir diskutieren das Thema
seit Jahren. Damit erklären Sie natürlich auch, dass Sie
in dem Ressort, das schon länger in der Verantwortung
der CSU liegt, in der Vergangenheit an der Stelle nichts
gemacht haben und es insofern ein Versagen gibt und
dass wir die Lkw-Maut deshalb erst später ausweiten
können.
Ich frage Sie: Warum beschäftigen Sie die Republik
jetzt mit einer Ausländermaut für Pkw, während nicht
einmal die Ressourcen für die notwendige Ausweitung
der Lkw-Maut zur Verfügung stehen? Warum konzen-
trieren Sie nicht das Handeln Ihres Ministeriums bzw. al-
ler Ressorts der Bundesregierung auf die Ausweitung
der Lkw-Maut, statt sich mit einer Pkw-Maut oder, ge-
nauer gesagt, einer Ausländermaut zu beschäftigen, die,
wenn überhaupt, nur einen winzigen Bruchteil der not-
wendigen Einnahmen erbringen würde?
Herr Minister.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Ich verfolge aus persönlicher Sympathie alle Ihre
Aussagen dezidiert
und stelle fest, dass es sich in dieser Wahlperiode – und
wahrscheinlich wird es sich auch in der letzten Wahl-
periode so verhalten haben – um ein Versagen der Oppo-
sition handelt. Deswegen muss ich Ihnen noch einmal
mitteilen: Es geht um ein Gesamtpaket, um die Infra-
strukturinvestitionen zu stärken. Dieses Gesamtpaket hat
mehrere Elemente. Ein Element davon ist die Infrastruk-
turabgabe, die sogenannte Pkw-Maut.
Wir sind damit am Ende der Regierungsbefragung.Ich schließe den Tagesordnungspunkt 1.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:FragestundeDrucksache 18/3013
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5740 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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Ich rufe die Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwor-tung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär UweBeckmeyer bereit.Die Fragen 1 und 2 beschäftigen sich mit dem ThemaFracking. Ich rufe die Frage 1 des AbgeordnetenHubertus Zdebel von der Fraktion Die Linke auf:Sieht sich die Bundesregierung angesichts erhöhter Krebs-
den an Mensch und Natur durch die Gasförderung im Rahmenihrer Gesetzesvorschläge zur Regulierung der Fracking-Gas-fördertechnik den Unternehmen aufzuerlegen, und ist es ausSicht der Bundesregierung möglich, bestehende bergrechtli-che Genehmigungen zu entziehen, sofern sich Verdachtsfälleerhärten, in denen bergbauliche Maßnahmen gravierendeSchäden für Mensch und Natur verursacht haben?Bitte schön, Herr Staatssekretär.U
Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt:
Die Bundesregierung beabsichtigt, die Beweislastum-
kehr im Bundesberggesetz auf den Bohrlochbergbau
auszudehnen. Diese Beweislasterleichterung gilt jedoch
nur für typische Bergschäden, zu denen Krebserkrankun-
gen nicht zählen. Weitergehende Änderungen der Beweis-
lastregeln sind zurzeit nicht geplant. Die zuständigen
Landesbergbehörden haben die Möglichkeit, Förderbe-
triebe vorläufig ganz oder teilweise einzustellen, wenn
eine unmittelbare Gefahr für Beschäftigte oder Dritte be-
steht. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, falls sich
Verdachtsfälle erhärten sollten, obliegt der Entscheidung
der zuständigen Landesbergbehörde.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege Zdebel? –
Bitte schön.
Ich habe eine Zusatzfrage. – Herr Staatssekretär,
wenn ich Sie richtig verstanden habe, können schon gel-
tende bergrechtliche Genehmigungen entzogen werden.
Meine Frage lautet: Beabsichtigen Sie, eine Regelung
zur Entziehung geltender bergrechtlicher Genehmigun-
gen in Schadensfällen in den Gesetzentwurf zur Rege-
lung des Fracking aufzunehmen, ja oder nein?
Herr Staatssekretär.
U
Die Frage ist so einfach nicht zu beantworten, Herr
Kollege, weil ganz bestimmte Voraussetzungen berück-
sichtigt werden müssen. Es ist festzuhalten, dass die Erd-
gasförderung bzw. die Fortsetzung der Erdgasgewin-
nung in Deutschland durchaus Folgen haben können.
Sollten mögliche Zusammenhänge nachgewiesen wer-
den, müssen die zuständigen Bergbehörden alle ursächli-
chen Tätigkeiten verbieten bzw. dürfen sie nicht geneh-
migen. Das gilt schon jetzt. Insofern stellt bereits das
geltende Bergrecht die erforderlichen Instrumentarien,
zum Beispiel Betriebsplanungsgenehmigung, allge-
meine Anordnungsbefugnisse betreffend das Ergreifen
von Sicherheitsmaßnahmen und zur Verhinderung des
Austritts von Schadstoffen sowie Betriebsstilllegung, zur
Verfügung. Welche Maßnahmen dies im Einzelfall sein
können, lässt sich vor Feststellung der konkreten Ursa-
che nicht bestimmen. Wir werden keine weiteren Maß-
nahmen ergreifen; denn es gibt bereits diverse Möglich-
keiten.
Noch eine Zusatzfrage, Kollege Zdebel? – Bitte
schön.
Herr Präsident, ich habe noch eine Zusatzfrage betref-
fend die Beweislastumkehr. Meines Wissens wollen die
Bundesregierung bzw. die Bundesminister Gabriel und
Hendricks in ihrem Eckpunktepapier eine Beweislast-
umkehr bei möglichen Schäden an Mensch und Natur
durch die Gasförderung vorsehen. Ich bin nun ein biss-
chen irritiert über Ihre Äußerung betreffend die Krebs-
fälle. Sie haben gesagt, dass solche Fälle nicht vorgese-
hen seien. Sie wissen aber sicherlich, dass entsprechende
Zusammenhänge in Studien aus den USA stärker gese-
hen werden, gerade in Gebieten, in denen es Gasförde-
rung gibt. Ich frage Sie daher noch einmal: Wäre es nicht
geboten, wenn es zu einer signifikant höheren Zahl an
Krebsfällen wie in der Region Bothel kommt, entspre-
chende Regelungen bezüglich der Beweislastumkehr im
Rahmen der Fracking-Gesetzgebung vorzusehen?
Herr Staatssekretär.
U
Die Beweislastumkehr ist kein Allheilmittel. Viel-
mehr geht es darum, welche Fracking-Technologien und
welche Frack-Flüssigkeiten eingesetzt werden. Sie ha-
ben behauptet, dass diese in den USA untersucht worden
seien. Ich kann dazu nur so viel sagen: Den Einsatz der
in den USA gängigen Frack-Flüssigkeiten können wir
uns hier in Deutschland nicht vorstellen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Krischer, Bünd-
nis 90/Die Grünen. Bitte.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Aus-führungen zum Thema Beweislastumkehr und Fracking.Ich habe es so verstanden, dass Sie da keine Beweislast-umkehr vorsehen. Wir haben ja – das ist von der Bundes-regierung angekündigt worden – das Thema Beweislast-umkehr auch in anderen Themenbereichen, zum Beispielbeim obertägigen Braunkohlebergbau. Hier gibt es einen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5741
Oliver Krischer
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einstimmigen Beschluss des Landtages Nordrhein-West-falen; es gibt eine Bundesratsinitiative aus Nordrhein-Westfalen, die von mehreren Ländern unterstützt wird.Meine Frage: Plant die Bundesregierung im Rahmender angekündigten Änderungen im Bereich Bergbau undFracking eine Beweislastumkehr für den obertägigenBraunkohlebergbau, wie wir es heute schon bei derSteinkohle haben?
Herr Staatssekretär.
U
Wir werden uns sicherlich in diesem Zusammenhang
diverse Gesetze anschauen. Das ist einmal das Wasser-
haushaltsgesetz, Herr Abgeordneter, zum anderen sind
es die Allgemeine Bundesbergverordnung, aber auch die
Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung;
darin sind unter anderem auch bergbauliche Vorhaben
abgedeckt.
Das Bundesberggesetz mit Einwirkungsbereich-Berg-
verordnung dehnt unter anderem den Anwendungsbe-
reich der Bergschadensvermutung und damit die Be-
weislastumkehr zugunsten der Geschädigten auf den
Bergbau durch Tiefbohrungen und die Errichtung und
den Betrieb von Kavernen aus. Das ist zurzeit vorgese-
hen.
Die nächste Frage hat der Abgeordnete Behrens,
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Sie haben darauf
hingewiesen, dass derzeit keine Planung besteht, die Be-
weislastumkehr gesetzlich zu regeln. Nun haben wir in
einer Fragestunde über das Thema erhöhter Krebsraten
in Bothel, das nahe an einer Gasförderstelle liegt, ge-
sprochen. In diesem Zusammenhang haben Sie uns ge-
antwortet, dass derzeit von den zuständigen Landesge-
sundheits- und -bergbehörden untersucht werde, was
dort vor sich geht. Wann kann man mit dem Ergebnis
dieser Prüfung rechnen?
Herr Staatssekretär.
U
Uns liegen noch keine Ergebnisse der Landesbehör-
den vor. Wir werden auf sie noch zu warten haben. Ich
habe die Hoffnung, dass dann, wenn entsprechende Er-
kenntnisse in Niedersachsen gewonnen worden sein
werden, diese der Bundesregierung unmittelbar zur Ver-
fügung gestellt werden.
Die nächste Zusatzfrage: Herr Abgeordneter Lenkert,
Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Staatssekretär, Sie führten vorhin aus,
dass in dem Fall, dass sich die Gesundheitsgefahren be-
stätigen, eine Betriebsstilllegung drohe. Wie ist es für
Betroffene möglich, zu Entschädigung, zu Schadenser-
satz für ihre Schäden zu kommen, wenn Sie die Beweis-
lastumkehr ausschließen? Dann muss ja jeder Einzelne
diesen Beweis gesondert führen. Wie soll dies praktika-
bel sein? Oder wollen Sie das anders regeln?
Herr Staatssekretär.
U
Wir haben ein gültiges Bergrecht, in dem alle erfor-
derlichen Instrumentarien, die ich Ihnen eben vorge-
tragen habe, enthalten sind. All diese Instrumentarien
werden von den für das Bergrecht verantwortlichen Lan-
desbehörden genutzt.
Wir kommen damit zur Frage 2, die ebenfalls vom
Abgeordneten Hubertus Zdebel, Fraktion Die Linke, ge-
stellt wurde:
Wie begründet die Bundesregierung ihren Standpunkt,
dass bereits nach geltendem Bergrecht eine ausreichende Ge-
möglicher Auswirkungen der Gasförderung mittels Fracking
und der Entsorgung von Lagerstättenwasser auf Mensch und
Gefahrenprävention leitet sie aus den geltenden bergrechtli-
chen Regelungen ab?
Herr Staatssekretär, bitte.
U
Für die Bundesregierung beantworte ich die Fragewie folgt: Im Bundesberggesetz wird die Gefahrenprä-vention dadurch erreicht, dass im bergrechtlichen Ge-nehmigungsverfahren Vorsorge gegen Gefahren für Lebenund Gesundheit getroffen werden muss. AusführendeVorschriften werden von den Ländern erlassen. Im Hin-blick auf das besondere Risikopotenzial beim Einsatzder Fracking-Technologie sollen zudem Ergänzungen imBergrecht sowie im Wasser- und Naturschutzrecht auf-genommen werden. Das ist die Aufgabe der Länder. Dadie Bundesregierung nicht für die Ausführung der berg-rechtlichen Regelungen zuständig ist, kann sie darauskeine konkreten Maßnahmen zur Gefahrenpräventionableiten.
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5742 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
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Zusatzfrage, Herr Kollege Zdebel? – Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekre-
tär, sind Sie nicht auch der Meinung wie ich, dass die
Gefahrenprävention versagt hat, wenn erst nachdem er-
höhte lokale Krebsraten bekannt werden eine mögliche
Gefährdung durch naheliegende Bohrungen untersucht
wird?
Herr Staatssekretär.
U
Die Aufklärung der Ursachen für die ungewöhnliche
Häufung der Krebsneuerkrankungen liegt in der Zustän-
digkeit der Landesbehörden. Ich unterstreiche das noch
einmal. Die Ursachen der Häufung der Krebserkrankun-
gen werden derzeit von den zuständigen Gesundheits-
behörden im Landkreis Rotenburg, in dem die Samt-
gemeinde Bothel liegt, mit Unterstützung durch das
Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie des Lan-
des Niedersachsen untersucht. Sie sollen zeitnah in einer
Arbeitsgruppe der Vertreter des Landkreises, des Krebs-
registers und der örtlichen Bürgerinitiativen ausgewertet
und kommuniziert werden.
Noch eine Zusatzfrage, Kollege Zdebel. Bitte schön.
Nach meiner Meinung macht dies noch einmal
deutlich, wie schwach die Regelungen in dieser Angele-
genheit sind. Ich frage deshalb nach, ob es unter den ge-
gebenen Umständen – es geht ja auch um eine Bundes-
gesetzgebung bezüglich des Fracking, die Sie jetzt in
Vorbereitung haben – nicht doch erforderlich wäre, bei
einer solchen vermuteten Gesundheitsgefährdung bun-
deseinheitliche Regelungen für eine Gefahrenprävention
zu treffen.
Herr Staatssekretär.
U
Wir werden sehen, in welcher Form sich diese Ge-
sundheitsgefährdung aufgrund von Fracking oder Erd-
gasgewinnung in dem dortigen Landkreis tatsächlich
zeigt. Meines Erachtens wird es dann zu einer Bewer-
tung durch das Land Niedersachsen kommen, und wir
werden dann eine erneute Diskussion auch auf Bundes-
ebene führen. Zurzeit ist dieser Zusammenhang nicht ab-
schließend sicher bestätigt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Krischer, Bündnis 90/
Die Grünen. Bitte schön.
Herr Staatssekretär Beckmeyer, ich muss noch einmal
bezüglich Ihrer Antwort auf meine Nachfrage von vor-
hin nachfragen. Sie haben gesagt, Sie wollen die Berg-
schadensvermutung und Beweislastumkehr für unterirdi-
sche Bohrungen und Kavernen einführen; so habe ich es
jedenfalls verstanden.
Meine Frage, die Sie auch ganz kurz mit Ja oder Nein
beantworten können, lautet: Plant die Bundesregierung
die Einführung der Bergschadensvermutung für den
obertägigen Braunkohleabbau, ja oder nein?
Herr Staatssekretär.
U
Wir sind dabei, bei typischen Bergschäden die Be-
weislastumkehr letztendlich anzudenken, und dies des-
halb, weil Senkungen, Pressungen und Zerrungen der
Erdoberfläche typische Bergschäden aufgrund von un-
tertägigen Bergbautätigkeiten sind, die dem Einblick der
Betroffenen naturgemäß entzogen sind. Das ist eigent-
lich der Grund für eine Beweislastumkehr.
Eine Beweislastumkehr im Bergrecht, was den Um-
gang mit Chemikalien angeht, ist zurzeit nicht vorgese-
hen.
– Und ich habe von dem unterirdischen Bergbau gespro-
chen.
Daraus können Sie den Schluss ziehen, dass es für den
anderen Bereich nicht vorgesehen ist.
Die nächste Zusatzfrage stellt der Abgeordnete
Behrens, Fraktion Die Linke.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden,dass es im Moment nicht erforderlich und auch nichtmöglich sei, entsprechende bundesgesetzliche Regelun-gen zu treffen, weil für verschiedene Bereiche die Län-der zuständig seien? Sie sagten aber auch, dass man sichdieses Problems dann noch einmal annehmen müsse,wenn es entsprechende Berichte seitens der Landesbe-hörden gebe, die auf ein besonderes neues Gefahren-potenzial, nämlich erhöhte Krankheitsraten oder erhöhteAnzahl von Krebserkrankungen in der Nähe von Fra-cking-Bohrstellen, hinweisen, das vielleicht in der Ver-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5743
Herbert Behrens
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gangenheit noch nicht ausreichend reflektiert worden ist.Deutet das darauf hin, dass wir unter Umständen doch zueiner bundeseinheitlichen Regelung kommen müssen,um diese Unterschiedlichkeit in den Ländern für die Be-troffenen zu verhindern?
Herr Staatssekretär.
U
Ich wäre töricht, wenn ich sagte, das schließe ich ge-
nerell aus. Gleichwohl ist Folgendes der entscheidende
Punkt: Der Fragesteller bezieht sich ja auf einen Fall in
der Nähe von Rotenburg in Niedersachsen. Der Zusam-
menhang mit Fracking-Technologien ist aus meiner
Sicht zurzeit sehr unwahrscheinlich, da potenzielle Ge-
fahrenquellen wie Benzol, Quecksilber oder auch freige-
setztes Methan, die möglicherweise eine krebserregende
Wirkung haben, dort nicht vorhanden gewesen sind.
Nach meiner Kenntnis hat dort eine einzelne Erdgas-
förderung im Sandstein mit Einsatz von Fracking-Tech-
nologien stattgefunden – eine einzige! Dabei sind Frack-
Flüssigkeiten mit Zusatzstoffen verwendet worden, in
denen lediglich ein einziger Bestandteil potenziell krebs-
erregend ist, und sein Anteil belief sich auf einen ver-
schwindend geringen Wert von 0,03 Prozent.
Es ist nun die Frage an das Land Niedersachsen zu
richten: Hat dieser Bestandteil in diesem Fluid dazu bei-
getragen, dass die Wirkung, die Sie beschrieben haben,
tatsächlich eingetreten ist? Ich kann den Zusammenhang
zurzeit nicht begründen. Ich denke, das Land Nieder-
sachsen wird uns darüber aufklären.
Die nächste Zusatzfrage ist von dem Abgeordneten
Tiefensee, SPD-Fraktion.
Herr Staatssekretär, ich möchte unmittelbar an das an-
schließen, was Sie gerade ausgeführt haben. Wir disku-
tieren nicht zum ersten Mal über Fracking. Sind Sie mit
mir einer Meinung, dass wir auf der einen Seite zwar den
hier in der Fragestunde konkret angesprochenen Fall in
Niedersachsen, veröffentlicht in den Medien, sehen müs-
sen, auf der anderen Seite aber mehr dafür tun müssen,
dass dieser konkrete Fall in der allgemeinen Debatte von
solchen Fällen unterschieden wird, die zum Teil noch
gar nicht aufgeklärt sind?
Die allgemeine Debatte ist nötig. Dabei muss die Dis-
kussion über das konventionelle Fracking – das heißt,
über das herkömmliche Fracking, welches Fragen des
Wasserhaushaltsgesetzes und des Bergrechts betrifft,
nämlich wo gefrackt werden darf und wie es sich mit der
Beweislastumkehr verhält – von der Diskussion über das
unkonventionelle Fracking getrennt werden, das jetzt auf
der Tagesordnung steht und zu dem die Bundesregierung
und die Koalition eindeutig gesagt haben, dass wir um-
welttoxische Bedingungen ausschließen wollen.
Müssen wir nicht mehr dafür tun, dass die heutige De-
batte nicht mit der generellen Debatte vermischt wird
und dass zwischen den beiden Fracking-Methoden un-
terschieden wird? Sonst leisten wir einer Diskussion in
der Öffentlichkeit Vorschub, die eher auf Angst als auf
konkrete Fakten setzt.
U
Ich stimme Ihnen zu, dass wir vermeiden müssen,
dass diese beiden Debatten vermischt werden. Die Kol-
legen wissen – zumindest einer kommt aus Niedersach-
sen –, dass seit mindestens 45 bis 50 Jahren in Nieder-
sachsen Tight Gas gefördert wird. Die Technologie, über
die wir jetzt reden, ist aber eine andere und könnte den
Einsatz anderer Stoffe umfassen, den wir in Deutschland
nicht befürworten.
Herr Abgeordneter Lenkert, Fraktion Die Linke, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen eben davon, dass
Sie vermutlich krebserregende Schädigungen durch
Quecksilber, Methan etc. ausschließen können. Inwie-
weit sind Untersuchungen im Gange, um zu prüfen, ob
Lagerstättenwasser durch Verdrängung eventuell das
Grundwasser erreicht haben könnte oder auf andere Art
und Weise mit Menschen in Kontakt gekommen ist?
Herr Staatssekretär.
U
Lagerstättenwasser ist – wer sich damit beschäftigt
hat, weiß das – ein natürlicher Bestandteil von Erdgasla-
gerstätten und wird bei der Gewinnung von Erdgas und
Erdöl mit gefördert. Das ist bekannt. Das Wasser besteht
aus verschiedenen Substanzen, gelösten Salzen, Kohlen-
wasserstoffen usw. Es kann teilweise bei Leckagen in
bestimmten Bereichen zu einer Verunreinigung führen;
das will ich gar nicht ausschließen.
Die Frage ist, ob das ursächlich miteinander verbun-
den werden kann und etwas miteinander zu tun hat. Ich
denke, dass die niedersächsische Landesregierung und
die einschlägigen Behörden auch das genau untersuchen
werden. Wir werden darüber Nachricht bekommen.
Danke schön.Wir verlassen damit den Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Wirtschaft und Energie und kom-men zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts.Zur Beantwortung steht Staatsminister Michael Rothzur Verfügung.Ich rufe die Frage 3 der Abgeordneten Inge Högerauf:
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5744 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Beabsichtigt die Bundesregierung, in der UN-Vollver-sammlung der bevorstehenden Ächtung von DU-Munition– Uranmunition – durch eine erneute Resolution zuzustim-men, und wenn nicht, wie begründet sie diese Änderung desAbstimmungsverhaltens angesichts der Tatsache, dass dieBundesrepublik Deutschland bisher den Resolutionen zumThema DU-Munition immer zugestimmt hat und die einzigeÄnderung gegenüber dem Text der früheren Resolutionen da-rin besteht, dass der Resolutionstext um die Forderung nachweiteren Studien über den Einfluss von Uranmunition auf Ge-sundheit und Umwelt sowie die Forderung, dass Staaten wieder Irak, die durch den Einsatz von Uranmunition langfristi-gen und schwerwiegenden Umwelt- und Gesundheitsschädenausgesetzt sind, von der internationalen Gemeinschaft unter-stützt werden sollen, erweitert wurde?Herr Staatsminister, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Abgeordnete
Höger, ich möchte zu Beginn meiner Antwort feststel-
len: Anders als möglicherweise Ihre Frage nahelegt, geht
es in der Resolution, auf die Sie in Ihrer Frage Bezug
nehmen, nicht um eine Entscheidung zur Ächtung von
Munition mit abgereichertem Uran, sondern es geht um
mögliche Auswirkungen ihres Einsatzes.
Sie wissen auch, dass die Bundesregierung bereits im
Jahr 2012 der eingebrachten Vorgängerresolution zu den
Auswirkungen des Einsatzes von Waffen und Munition,
die abgereichertes Uran enthalten, mit Einschränkungen
zugestimmt hat. Diese Resolution aus dem Jahr 2012 ist
damals von Indonesien und den blockfreien Staaten im
Ersten Ausschuss der 69. VN-Generalversammlung ein-
gebracht worden. In einer Stimmerklärung hat die
Bundesregierung bereits damals kritisiert, dass diese Re-
solution den Inhalt eines Berichts des Weltumweltpro-
gramms vom 21. Juli 2010 nicht ausgewogen wieder-
gibt.
Die Bundesregierung begrüßt weiterhin Untersuchun-
gen, die zum Ziel haben, die Auswirkungen des Einsat-
zes von Munition mit abgereichertem Uran wissen-
schaftlich zu erforschen, und sie hatte deshalb ebenso
wie zahlreiche weitere Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gehofft, dass die bisherige Darstellung im Resolu-
tionsentwurf 2014 richtiggestellt würde.
Diese Hoffnung stützte sich vor allem auf die Tatsa-
che, dass das Umweltprogramm der Vereinten Nationen,
also UNEP, die Internationale Atomenergie-Organisa-
tion IAEA, die Weltgesundheitsorganisation WHO und
die EU bereits umfangreiche Untersuchungen zu even-
tuellen Gesundheits- und Umwelteinflüssen durch Muni-
tion mit abgereichertem Uran durchgeführt haben. Diese
Studien ergaben übereinstimmend, dass Rückstände von
abgereichertem Uran, das geringer radioaktiv ist als Na-
tururan, in der Umwelt kein radiologisches Risiko für
die Bevölkerung vor Ort darstellen.
Die Bundesregierung bedauert, dass diese Erkennt-
nisse bei der diesjährigen Resolution abermals nicht be-
rücksichtigt wurden und dass damit wiederum der Stand
der Forschung zu diesem Thema nicht angemessen be-
rücksichtigt wurde. Das war der Grund, warum sich die
Bundesregierung in diesem Jahr bei der Abstimmung ge-
meinsam mit vielen weiteren EU-Mitgliedstaaten enthal-
ten hat. Wir haben die detaillierten Gründe für unsere
Enthaltung in einer Stimmerklärung erläutert.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Höger.
Vielen Dank für die Antwort. – Da Sie 2012 einer Re-
solution zur Ächtung von DU-Munition zugestimmt ha-
ben, erschließt sich mir nicht, wieso Sie es jetzt nicht
mehr machen. Gerade in der neuen Resolution ist ange-
mahnt, dass neue Studien notwendig sind, um die Ge-
fährlichkeit von DU-Munition nachzuweisen. Alles, was
ansonsten darüber bekannt ist, ist – das habe ich zum
Beispiel auf meinen Reisen auf dem Balkan erlebt und
durch zahlreiche Berichte erfahren –, dass wir es in allen
Bereichen, wo die DU-Munition eingesetzt wird, mit er-
heblich erhöhten Krebsraten zu tun haben, dass die Um-
welt über Jahrzehnte, Jahrtausende verseucht ist und
dass Menschen an den Folgen sterben. Darüber so ein-
fach hinwegzusehen, kann ich nicht verstehen.
Meine Nachfrage: Geht es Ihnen um zusätzliche Stu-
dien, oder geht es Ihnen darum, die Mittel zur Deckung
der Folgekosten nicht finanzieren zu wollen? Was ist der
Unterschied zum bisherigen Abstimmungsverhalten?
Herr Staatsminister.
Frau Abgeordnete Höger, ich habe in meiner ersten
Antwort schon klargestellt, dass es in der von Ihnen in
Rede gestellten Resolution nicht um eine Ächtung dieser
Munition geht. Selbstverständlich nehmen wir die Sor-
gen, die dieser Resolution zugrunde liegen, sehr ernst.
Ich habe aber auch schon darauf hingewiesen, dass es
eine Reihe von Studien der genannten Organisationen,
unter anderem der UNEP und der Europäischen Union,
gibt, die den Zusammenhang, den Sie jetzt dargestellt
haben, nicht bestätigen. Das haben wir noch einmal
deutlich gemacht. Unsere klare Erwartungshaltung ist,
dass weitere Studien vorgelegt werden bzw. dass man
die vorhandenen Studien entsprechend bei der Bewer-
tung und bei der Formulierung einer Resolution berück-
sichtigt.
Es geht um Ausgewogenheit, Frau Kollegin Höger
– das ist der entscheidende Punkt –, und darum, dass ein-
schlägige Studien, deren Qualität bislang niemand in
Zweifel gezogen hat, angemessen Berücksichtigung fin-
den.
Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Höger.
Hat diese Stimmenthaltung vielleicht etwas mit ak-tuellen Bürgerkriegssituationen in dieser Welt zu tun?Die USA haben angedroht, gegenüber dem IS DU-Mu-nition zum Einsatz zu bringen oder die Peschmerga imNordirak mit MILAN-Raketen zu beliefern. MILAN-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5745
Inge Höger
(C)
(B)
Raketen enthalten ja Thorium. Das ist genauso gefähr-lich wie DU-Munition und würde genauso die Umweltbelasten.
Nein.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lenkert, Fraktion Die
Linke.
Herr Kollege Staatsminister, ich möchte nicht in
Zweifel ziehen, dass nach den Studien eine radiologi-
sche Belastung durch die Uranmunition nicht stattfindet.
Aber Uran ist ein Schwermetall und als solches hochgif-
tig. Nicht umsonst beträgt der Trinkwasservorsorgewert
in Deutschland 10 Mikrogramm je Liter. Durch die mit
Uran angereicherte Munition gelangen Unmengen eines
Schwermetalls, das hochgiftig ist, nämlich Uran, in die
Umgebung, in die Umwelt, und verseuchen das Trink-
wasser und die Atemluft. Die Folgewirkungen von
Schwermetallbelastungen sind Fehlgeburten, Missbil-
dungen bei neugeborenen Kindern und extrem erhöhte
Krebsraten. All dies ist in den Gebieten, in denen Uran-
munition angewendet wurde, nachweislich feststellbar.
Ich frage Sie: Sind außer den radiologischen Auswir-
kungen auch die sozusagen ganz einfachen Auswirkun-
gen der erhöhten Schwermetallbelastung durch die mas-
sive Uranverwendung in den betroffenen Ländern
untersucht worden, und haben Sie diese in Ihrer Ent-
scheidungsfindung berücksichtigt, oder haben Sie sie au-
ßer Acht gelassen?
Herr Abgeordneter, Ihre Überlegungen, Ihre Kritik
widersprechen den einschlägigen Studien, die ich in
meiner Antwort mehrfach zitiert habe. Das sind Studien
von UNEP, WHO und IAEO. Diese Studien kommen
übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass ein unmittelba-
rer Zusammenhang zwischen Schädigungen und der
Munition mit abgereichertem Uran nicht besteht. Die
Bundesregierung hat bislang überhaupt gar keinen An-
lass, an der Seriosität dieser Studien zu zweifeln.
Weil es aber solche kritischen Stimmen wie die Ihrige
gibt, haben wir nach wie vor ein großes Interesse daran,
dass weitere Untersuchungen vorgelegt werden, die zum
Ziel haben, ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auswir-
kungen des Einsatzes von Munition mit abgereichertem
Uran wissenschaftlich zu erforschen. Meine Antwort
gründet sich auf den vorliegenden Studien, und die wi-
dersprechen dem, was Sie hier zum Ausdruck gebracht
haben.
Ich darf die Damen und Herren von der Presse auf der
Tribüne bitten, sich an die Akkreditierungsregeln zu hal-
ten, dort nicht mit Beleuchtung zu arbeiten und dort auch
keine Interviews zu führen. Ich bitte auch die Kollegen
vom Plenarassistenzdienst, sich darum zu kümmern. –
Schönen Dank.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Hänsel,
Fraktion Die Linke.
Jetzt kommt eigentlich die Frage des Kollegen
Movassat.
Nein. Ich habe eine Nachfrage. Aber gut, dass Sie
aufpassen. Das war jetzt ein kleiner Test.
Entschuldigen Sie, Frau Kollegin Hänsel.
Herr Staatsminister, das Präsidium hat alles im Blick.
Herr Staatsminister, meine Kollegin haben Sie ein
bisschen barsch abgefertigt; deshalb meine Nachfrage:
Was sagen Sie denn ganz konkret zu dem Einsatz von
MILAN-Raketen, die radioaktives Thorium enthalten?
IPPNW hat beklagt, dass es mindestens genauso gefähr-
lich ist wie DU. Wird die Bundesregierung solchen Vor-
würfen nachgehen und in der Richtung forschen?
Frau Kollegin Hänsel, ich will für alle hier im Plenar-
saal sitzenden Abgeordneten noch einmal klarstellen,
dass die Bundeswehr, also der Bereich, auf den wir un-
mittelbar einwirken können und Einfluss haben, keiner-
lei Munition mit abgereichertem Uran besitzt. Wir haben
auch nie solche Munition besessen.
Wir haben uns auch noch einmal mit dem Internatio-
nalen Komitee vom Roten Kreuz in Verbindung gesetzt.
Dieses Komitee, das Ihnen hinreichend bekannt ist, hat
angesichts der Faktenlage bislang keinen Anlass gese-
hen, ein Moratorium für diese Munition zu fordern.
Kollege Zdebel möchte jetzt auch noch eine Nach-
frage stellen; im letzten Moment erkannt. Bitte.
Herr Staatsminister, Sie haben gerade in Ihrer Ant-
wort auf die Frage von meinem Kollegen Lenkert auf die
vorliegenden Studien verwiesen. Ich habe dazu noch
eine Nachfrage. Beziehen sich diese Studien auch auf ra-
diologische Auswirkungen, also auf Strahlungsauswir-
kungen der Uranmunition?
Herr Staatsminister.
Metadaten/Kopzeile:
5746 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
(C)
(B)
Ich habe erst einmal keinen Anlass, daran zu zwei-
feln, biete aber ausdrücklich an, das noch einmal en dé-
tail zu klären.
Frau Abgeordnete Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Staatsminister, auch ich muss mich noch einmal
auf eine Aussage von Ihnen beziehen. Sie sagten, nach
den Studien, auf die Sie und die Bundesregierung Ihre
Haltung zu diesem Thema gründen, sei es so, dass kein
Zusammenhang zwischen der verwendeten Uranmuni-
tion und gesundheitlichen Schäden bei Menschen be-
stehe.
Ja.
Besteht dieser Zusammenhang tatsächlich nicht, oder
ist er nicht nachweisbar? Ihre Aussage nimmt mich sehr
wunder; denn Zusammenhänge können in Studien nicht
bewiesen werden. Jetzt aber soll der Nichtzusammen-
hang bewiesen worden sein. Stand in der Studie viel-
leicht nur, dass ein Zusammenhang nicht nachweisbar
ist?
Ich will mit Blick auf Ihre Nachfrage deutlich ma-
chen, dass die bereits vorliegenden umfangreichen Un-
tersuchungen eventuelle Gesundheits- und Umweltein-
flüsse beinhaltet haben. Ich kann jetzt nur wiederholen,
Frau Abgeordnete Kotting-Uhl, dass diese Studien bis-
lang übereinstimmend deutlich gemacht haben, dass
Rückstände von abgereichertem Uran in der Umwelt
kein radiologisches Risiko für die Bevölkerung vor Ort
darstellten. Das abgereicherte Uran ist geringer radioak-
tiv als das Natururan.
Schönen Dank. – Wir kommen damit zur Frage 4 des
Abgeordneten Niema Movassat:
Warum hat die Bundesregierung bisher die im Mai 2014
von der Vereinigung für internationale Katastrophenhilfe e. V.
angebotenen Hilfeleistungen für die von Ebola betroffenen
westafrikanischen Länder, über 18 Millionen Untersuchungs-
handschuhe, 900 Liter Handdesinfektionsmittel, 44 ad hoc
verfügbare Behandlungsbetten in Isolationszellen sowie wei-
tere aus Norwegen abrufbare Isolationsbetten und insbeson-
dere deren einsatzbereites medizinisches Hilfspersonal, nicht
Hilfe in naher Zukunft, beispielsweise mit der Zurverfügung-
stellung von geeigneten Transportkapazitäten und sonstigen
Herr Staatsminister, bitte.
Herr Abgeordneter Movassat, Bundestag und Bun-
desregierung stimmen sicherlich darin überein, dass wir
nichts unversucht lassen wollen, um den Kampf gegen
Ebola entschieden zu führen, und wir für jedes Hilfsan-
gebot ausgesprochen dankbar sind. Unser Krisenstab
und viele Kolleginnen und Kollegen in den Ministerien
sind wirklich rund um die Uhr damit beschäftigt, die dra-
matische Lage in Afrika zu verbessern, auch im Rahmen
der Europäischen Union und im Rahmen der internatio-
nalen Staatengemeinschaft.
Deswegen haben wir natürlich den Zeitungsartikel in
der taz vom 27. Oktober 2014 sehr ernst genommen, in
dem von einem Angebot der Vereinigung für internatio-
nale Katastrophenhilfe gesprochen wurde, das bereits im
Mai dieses Jahres unterbreitet worden sei. Ich kann Ih-
nen dazu, Herr Abgeordneter, nur sagen, dass das Aus-
wärtige Amt den Leiter der Vereinigung für internatio-
nale Katastrophenhilfe, Herrn Teichert, kontaktiert hat
und ihn telefonisch und per E-Mail gebeten hat, uns das
erwähnte Angebot zu übersenden. Das war unsere Bitte.
Das Bundesministerium für Gesundheit erhielt am
29. September dieses Jahres ein Schreiben, in dem Herr
Teichert unter anderem nach Fördermöglichkeiten für ei-
nen solchen Einsatz fragte. Das Angebot, von dem in
dem Artikel der taz die Rede war, lag uns bis dato aber
überhaupt nicht vor. In dem Schreiben vom 29. Septem-
ber an das Bundesgesundheitsministerium wurde nach
eventuellen Fördermöglichkeiten für einen Einsatz ge-
fragt.
Noch am selben Tag hat es eine erste telefonische
Rückmeldung gegeben. Am 1. Oktober wurde Herrn
Teichert durch das BMG die zuständige Ansprechpartne-
rin in meinem Hause per E-Mail genannt. Erst vor an-
derthalb Tagen, am 3. November und damit nach der
Veröffentlichung in der taz, hat Herr Teichert per E-Mail
ein Schreiben mit konkreten Vorschlägen zur Ebolabe-
kämpfung in Westafrika an mein Haus übersandt. Diese
prüfen wir derzeit.
Ich kann eine Aussage über eine mögliche Zurverfü-
gungstellung geeigneter Transportkapazitäten und über
sonstige bürokratische Erleichterungen – das war die
Bitte von Herrn Teichert – erst nach Prüfung dieser Vor-
schläge machen.
Zusatzfrage, Herr Movassat?
Danke, Herr Staatsminister, für die Antwort. Trotz-dem möchte ich eine detaillierte Nachfrage stellen. Es istoffensichtlich, dass es ein ziemlich umfassendes Hilfsan-gebot einer Organisation gibt: 18 Millionen Untersu-chungshandschuhe, 900 Liter Handdesinfektionsmittel,44 Behandlungsbetten. Also genau das, was wir geradebrauchen, wird angeboten. Derjenige, der dies anbietet,wird aber von Stelle zu Stelle verwiesen. Das Bundesge-sundheitsministerium verweist ihn an Sie, und bei Ihnendauert die interne Befassung lange.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5747
Niema Movassat
(C)
(B)
Es gibt seit dem 20. Oktober dieses Jahres eineE-Mail-Adresse der Ebolataskforce. Diese Taskforce hatdie Organisation bisher dreimal angeschrieben, aberkeine Antwort erhalten. Möglicherweise wurde Ihnendie dritte E-Mail vorgelegt, die versandt wurde. Es läuftin Ihrem Hause doch offensichtlich etwas falsch. Dahermeine Frage: Wie kann es sein, dass ein Angebot derma-ßen lange herumliegt?
Herr Abgeordneter, ich kann nur noch einmal klar-
stellen: Das Angebot lag uns überhaupt nicht vor. Erst-
mals ging ein Angebot am 3. November, also vor andert-
halb Tagen, bei uns ein. Ich weiß nicht, was daran so
kompliziert sein soll, wenn auf eine E-Mail an das Bun-
desgesundheitsministerium prompt eine Mitarbeiterin
den Absender auf die verantwortliche Ansprechpartnerin
im Auswärtigen Amt hinweist. Das ist keine bürokrati-
sche Überforderung. Es ging um genau zwei Ansprech-
partner: Erster Ansprechpartner ist das Bundesgesund-
heitsministerium, und zweiter Ansprechpartner ist das
Auswärtige Amt, weil wir im Wesentlichen mit der Ko-
ordination betraut sind.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Movassat?
Ja. – Meine zweite Zusatzfrage bezieht sich auf die
Hilfe der Bundesregierung insgesamt. Es gibt ein soge-
nanntes 60-70-70-Ziel der WHO. Das besagt: Wir müs-
sen innerhalb von 60 Tagen die Kapazitäten bereitstel-
len, um 70 Prozent der Infizierten zu isolieren und
70 Prozent der Toten fachgerecht zu beerdigen. Nur
dann kann eine weitere Ausbreitung der Epidemie ge-
stoppt werden. Das Erreichen dieses Ziels war für Ende
Oktober vorgesehen. Die internationale Gemeinschaft
hat die Anforderungen nicht erfüllt, die die WHO aufge-
stellt hat. Mich würde interessieren: Was hat die Bundes-
regierung konkret zur Erreichung des 60-70-70-Ziels ge-
tan? Wo sieht sie Defizite? Was wird sie noch tun?
Sie wissen, dass die Bundesregierung sowohl auf in-
ternationaler Ebene, aber auch insbesondere im Rahmen
der Europäischen Union darauf gedrängt hat, zu einer
bestmöglichen Koordination der nationalen Aktivitäten
zu kommen. Die Europäische Union stellt insgesamt
– das ist ein riesiger Kraftakt – 1 Milliarde Euro zur Ver-
fügung. Der größte Geber innerhalb der Europäischen
Union ist die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben
Haushaltsmittel in Höhe von 108,7 Millionen Euro be-
reitgestellt. Die Kosten für den Betrieb der Luftbrücke
sind in dem Paket überhaupt noch nicht eingerechnet.
Ich finde, wir müssen unser Licht nicht unter den Schef-
fel stellen.
Ich gebe aber unumwunden zu, dass es selbstver-
ständlich noch eine Reihe von Problemen gibt. Wir sind
nicht so schnell und umfassend vor Ort tätig gewesen,
wie es nötig gewesen wäre. Deswegen drängen wir auch
auf eine entsprechende internationale Koordination.
Wir selbst – darüber sprach ich schon – haben die
Luftbrücke eingerichtet. Wir stellen medizinische Aus-
rüstung und Materialien zur Verfügung, und wir entsen-
den auch – das wissen Sie – Hilfskräfte. Wir arbeiten da-
bei sehr eng mit dem Deutschen Roten Kreuz, dem
Technischen Hilfswerk, dem Bernhard-Nocht-Institut,
dem Robert-Koch-Institut und weiteren kompetenten
Hilfsorganisationen zusammen.
Nachfrage des Abgeordneten Lenkert, Fraktion Die
Linke.
Herr Staatsminister, plant die Bundesregierung wegen
der Ebolaepidemie einen Abschiebestopp für abgelehnte
Asylbewerber nach Liberia, Sierra Leone und Guinea?
Herr Abgeordneter, davon ist mir nichts bekannt. Ich
müsste das prüfen und reiche das gerne nach.
Danke schön. – Nachfrage der Abgeordneten Frau
Höger, Fraktion Die Linke.
Herr Staatsminister, Sie haben eben gemeint, die bü-
rokratischen Hürden in Deutschland seien nicht beson-
ders hoch und Sie würden sich nach Kräften bemühen, in
der Ebolakrise zu helfen. Wie steht es um die vielen Hel-
fer – dem medizinischen Personal, den Ärzten –, die sich
gemeldet haben? Sind sie im Einsatz? Wie lange dauert
das noch?
Selbstverständlich sind schon Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im Einsatz. Aber wir arbeiten derzeit in en-
ger Abstimmung mit unseren Partnern daran, die Zahl
der Einsatzkräfte zu erhöhen. Ich glaube, es geht nicht
allein um die Quantität, sondern vor allem um die Ein-
satzbedingungen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
vor Ort sind erheblichen Belastungen ausgesetzt. Inso-
fern achten wir sehr darauf, die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
auch unter diesen denkbar schwierigen Rahmenbedin-
gungen ihre Arbeit bestmöglich erledigen können. Die-
sem Anspruch sollten wir gerecht werden.
Zusatzfrage der Abgeordneten Pau, Fraktion Die
Linke. Bitte.
Die Kriterien, die Sie eben genannt haben, sinddurchaus nachvollziehbar. Wir haben da auch eine Für-sorgepflicht. Können Sie uns vielleicht sagen, wie vieleKräfte tatsächlich schon im Einsatz sind?
Metadaten/Kopzeile:
5748 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
(C)
(B)
Die genaue Zahl kann ich Ihnen nicht sagen. Ich
könnte Ihnen nur die nennen, wie viele Todesfälle wir zu
beklagen haben. Über die Finanzmittel habe ich Sie
schon im Einzelnen informiert.
– Ja, natürlich. Ich reiche das nach.
Danke schön. – Dann kommen wir zur Frage 5 eben-
falls des Abgeordneten Niema Movassat:
Wie bewertet die Bundesregierung die derzeitige politi-
sche Lage in Burkina Faso, bei der es bei dem Versuch einer
einseitigen Verfassungsänderung mit dem Ziel des Machter-
halts des autoritären Präsidenten Blaise Compaoré über das
Jahr 2015 hinaus zu massiven Protesten und Unruhen und der
Stürmung des Parlaments und anderer öffentlicher Gebäude
sucht die Bundesregierung, über ihre diplomatischen Kanäle
Einfluss auf die Situation im Sinne der Bevölkerung und zu
derem Schutz zu nehmen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Abgeordneter
Movassat, die Beantwortung dieser Frage fällt mir nicht
ganz leicht, weil sich die Lage in Burkina Faso stündlich
verändert. Deswegen bitte ich Sie um Verständnis dafür,
dass das, was ich jetzt sage, möglicherweise nicht die ak-
tuellsten Entwicklungen wiedergibt. Ich versuche trotz-
dem mein Bestes.
Die Lage ist, wie Sie sich angesichts solch einer Re-
volution vorstellen können, derzeit sehr instabil. Es hat
Massenproteste der Bürgerinnen und Bürger gegeben,
und diese führten zum Rücktritt des Präsidenten von
Burkina Faso am 31. Oktober. Dann, nach dem Rücktritt
des Präsidenten, ist das Militär in dieses Machtvakuum
getreten. Jetzt wird es kompliziert: Der Generalstabschef
Traoré hat zunächst die Regierungsgeschäfte übernom-
men und das Parlament aufgelöst. Nur wenige Stunden
später wurde er vom stellvertretenden Kommandeur der
Präsidentengarde, Oberstleutnant Isaac Zida, abgesetzt.
Zida kann sich nun der Unterstützung des Militärs sicher
sein. Er hat die Verfassung außer Kraft gesetzt. Die
Opposition lehnt seine Machtübernahme derzeit ab. Es
kam daraufhin am 2. November zu Demonstrationsauf-
rufen. Den Aufrufen sind aber nur noch sehr wenige Ein-
wohner Ouagadougous gefolgt.
Am 3. November hat sich Zida, also der Übergangs-
präsident bzw. der selbst ernannte Präsident, im Außen-
ministerium dem Diplomatischen Korps als „Président
du Burkina Faso“ vorgestellt. Er will einen Übergangs-
prozess hin zu Wahlen einleiten, basierend auf umfas-
senden, auf Konsens ausgerichteten Gesprächen mit al-
len Akteuren. – Herr Movassat, da Sie die Frage gestellt
haben, wissen Sie vermutlich, dass die Bevölkerung und
die politischen Verantwortungsträger in Burkina Faso
sehr konsensorientiert sind.
Die Bundesregierung versteht die Geschehnisse in
Burkina Faso als einen von großen Teilen der Bevölke-
rung begrüßten Prozess, der aber zu einem Machtva-
kuum geführt hat, das nun das Militär gefüllt hat. Wir
fordern zur schnellstmöglichen Rückkehr zu verfas-
sungsgemäßen Verhältnissen auf.
Danke schön. – Zusatzfrage, Herr Movassat? – Bitte.
Danke. – Es ist ja so, dass der gestürzte Präsident
Compaoré selber durch einen Putsch vor 27 Jahren an
die Macht gekommen ist und seinen Vorgänger Thomas
Sankara sozusagen abgesetzt hat. Es gibt bis heute zahl-
reiche Hinweise, dass Compaoré in zahlreiche westafri-
kanische Kriege wie in Liberia, Sierra Leone und der
Elfenbeinküste verstrickt war. Es gibt zudem viele Vor-
würfe hinsichtlich Verbrechen gegen die eigene Bevöl-
kerung, insbesondere auch im Zusammenhang mit den
Todesfällen bei den Protesten am 30. und 31. Oktober.
Deshalb würde mich interessieren, ob sich die Bundesre-
gierung, wie es große Teile der Zivilgesellschaft Burkina
Fasos fordern, für eine Zurrechenschaftziehung Compaorés
einsetzt – Deutschland selbst oder über die Kanäle inner-
halb der Europäischen Union –, um die Vorwürfe hin-
sichtlich dieser Verbrechen aufzuklären, die sich gegen
Compaoré richten.
Wir haben erst einmal allergrößtes Interesse daran,
dass anstelle dieses Machtvakuums eine verfassungsmä-
ßige Ordnung eintritt und man wieder zu stabilen Ver-
hältnissen zurückkehrt. Alles Weitere werden wir mit
unseren internationalen Partnern, auch im Rahmen der
Europäischen Union, eng abstimmen.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Movassat? –
Bitte schön.
Der ehemalige Präsident Compaoré ist in die Elfen-
beinküste geflohen, was dort durchaus umstritten ist. Es
sollen auch Geldmittel mitgenommen worden sein, die
möglicherweise dem Staat Burkina Faso und damit der
dortigen Bevölkerung gehören.
Es ist nicht ganz unüblich, dass in diesen Fällen auch
die Vermögenswerte einer solchen Machtclique einge-
froren werden, um erst einmal eine gewisse Sicherheit
zu schaffen. Mich würde interessieren: Hat sich die Bun-
desregierung für solch ein Einfrieren der Geldmittel
bzw. der Vermögenswerte der Familie Compaoré einge-
setzt?
Solche Verfahren sind Ihnen – so traurig das auch im-mer sein mag – ja bekannt, Herr Kollege Movassat. Wir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5749
Staatsminister Michael Roth
(C)
(B)
haben ein Interesse daran – das ist unsere oberste Priori-tät –, dass wir helfen, schnellstmöglich eine verfassungs-gemäße Ordnung herzustellen, die den Menschen dortdas notwendige Maß an Sicherheit gewährt.Ansonsten stimmen wir weitere Maßnahmen, wie iches eben schon gesagt habe, mit unseren EU-Partnern,aber auch mit der internationalen Gemeinschaft ab. Vonweiteren Aktivitäten ist mir nichts bekannt.
Danke schön. – Dann kommen wir zur Frage 6 des
Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke:
Welche Argumente haben die Bundesregierung dazu be-
wogen, auf der diesjährigen UN-Vollversammlung, wie schon
in den Vorjahren, gemeinsam mit der überwältigenden Mehr-
heit der UN-Mitgliedsländer gegen die Stimmen der USA und
Israels für eine sofortige Aufhebung der US-amerikanischen
Blockade gegen Kuba zu stimmen?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, lieber Kollege Wolfgang Gehrcke. –
Das ist keine neue Entscheidung gewesen. Die EU hat
wie in den vielen Jahren zuvor geschlossen für eine so-
fortige Aufhebung des US-amerikanischen Embargos
gegen Kuba votiert. Da gibt es großen Konsens in der
Europäischen Union. Es gibt nur wenige Partner auf der
internationalen Ebene, die den Vereinigten Staaten da
zugestimmt haben.
Sie haben nach dem Grund gefragt, warum die Bun-
desregierung so votiert hat. Die Bundesregierung ist der
Auffassung, dass die US-amerikanischen Maßnahmen
wegen ihrer Drittwirkung rechtswidrig sind. Sie berüh-
ren unmittelbar die wirtschaftlichen Interessen Deutsch-
lands und der Europäischen Union. Deshalb können wir
ihnen nicht zustimmen. Wir haben ihnen auch in den
vergangenen Jahren nicht zugestimmt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gehrcke.
Lieber Herr Staatsminister, ich habe lange nachge-
dacht, ob ich eine Frage finde, bei der ich die Bundesre-
gierung einmal loben kann. Jetzt habe ich eine gefunden:
Würden Sie das Lob denn annehmen, dass es sehr ver-
nünftig war, wie in den letzten Jahren für die Aufhebung
der bürgerrechtswidrigen Blockade Kubas zu stimmen
und Aktivitäten in diese Richtung in Gang zu setzen?
Ich habe Ihnen die Begründung dargelegt, die die
Bundesregierung dazu veranlasst hat, gegen dieses Em-
bargo zu stimmen. Das ist keine neue Entscheidung.
Ich persönlich freue mich natürlich sehr darüber, von
– das darf ich jetzt mal so sagen – dir ein Lob zu emp-
fangen. Das ist, glaube ich, das erste Mal, seitdem ich im
Amt bin.
Das empfinde ich als eine große Genugtuung.
Noch eine Zusatzfrage, Abgeordneter Gehrcke?
Ja, klar. Wenn ich schon lobe, dann will ich dafür
auch noch etwas haben. – Ich möchte natürlich nicht nur
wissen, was die Bundesregierung wie in den vergange-
nen Jahren zu dieser Entscheidung bewogen hat – das
finde ich alles ganz toll –, sondern ich möchte wissen,
was die Bundesregierung jetzt macht, um ihre Entschei-
dung zur Aufhebung der Blockade durchzusetzen und
zusammen mit anderen EU-Partnern in die Praxis umzu-
setzen. Sie könnte etwa in der EU vorstellig werden, um
den sogenannten Gemeinsamen Standpunkt gegenüber
Kuba aufzuheben.
Sie wissen, Herr Kollege Gehrcke, dass die Bundesre-
gierung Gesprächen über den Ausbau der Beziehungen
zu Kuba offen gegenübersteht. Es laufen bereits diverse
intensive Gespräche innerhalb der Europäischen Union.
Wir sehen den Beginn von Verhandlungen zwischen
der EU und Kuba über ein Abkommen zum politischen
Dialog und zur Zusammenarbeit nicht als einen grundle-
genden Wandel unserer Kubapolitik; denn wir haben
diese Position schon immer vertreten.
Wir haben uns aber – im Rahmen des Verhandlungs-
mandats der Europäischen Union – insbesondere dafür
eingesetzt, dass der Entwicklung der Menschenrechts-
lage bereits während der Verhandlungen eine zentrale
Bedeutung zukommen muss. Die jüngst ausgeschiedene
Hohe Repräsentantin der Europäischen Union, Lady
Ashton, hat dies nach dem Ratsbeschluss über das Man-
dat für die Verhandlungen mit Kuba auch noch einmal
ausdrücklich bestätigt. Das liegt nun schon wieder neun
Monate zurück; es war im Februar dieses Jahres.
Eine Nachfrage der Abgeordneten Frau Hänsel, Die
Linke. – Bitte.
Danke schön. – Jetzt gibt es trotzdem den Fall, dass
europäische Banken aufgrund von Verstößen gegen das
Embargo zu Strafzahlungen verdonnert wurden. Meine
Frage lautet: Was machen Sie konkret dagegen? Gibt es
eine gemeinsame Initiative? Wie gehen Sie dagegen
vor?
Frau Abgeordnete Hänsel, Ihre Frage deckt sich mitder Frage 7 des Abgeordneten Gehrcke, die als Nächstesaufgerufen werden soll. Herr Präsident, es gibt jetzt zweiMöglichkeiten: Ich beantworte jetzt die Frage der Abge-ordneten Hänsel, dann wäre die Frage des Abgeordneten
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5750 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Staatsminister Michael Roth
(C)
(B)
Gehrcke schon beantwortet, oder ich beantworte jetzt dieFrage des Abgeordneten Gehrcke, die er schriftlich ein-gereicht hat.
Wir machen es so: Sie beantworten die Frage 7 des
Abgeordneten Gehrcke. Somit hat er die Möglichkeit,
zwei Nachfragen zu stellen. Damit ist allen inhaltlich
und auch formal am besten gedient, Herr Staatsminister.
Ich rufe also die Frage 7 des Abgeordneten Gehrcke
auf:
Gedenkt die Bundesregierung vor dem Hintergrund ihrer
ablehnenden Haltung zur US-amerikanischen Blockade ge-
genüber der Republik Kuba, sich auch aktiv für die deutschen
Unternehmen und Banken einzusetzen, die wie zuletzt die
Deutsche Bank AG und die Commerzbank Aktiengesellschaft
von Strafmaßnahmen durch die USA aufgrund ihrer Finanz-
beziehungen zu Ländern wie Kuba bedroht sein sollen
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Abgeordneter
Gehrcke, Frau Abgeordnete Hänsel, Sie können sich
vorstellen, dass sich die Bundesregierung in berechtigten
Fällen und im Einvernehmen mit den betroffenen Unter-
nehmen grundsätzlich für deren Anliegen einsetzt. Sie
haben in Ihrer Frage, Herr Abgeordneter Gehrcke, zwei
Beispiele genannt. Aber die Voraussetzung dafür, dass
wir uns für diese Unternehmen einsetzen, ist, dass sich
die Unternehmen mit der Bundesregierung ins Beneh-
men setzen und den Kontakt und das Gespräch suchen.
Ich muss Ihnen sagen, dass entsprechende Bitten deut-
scher Unternehmen bislang nicht an die Bundesregie-
rung herangetragen worden sind. Das beschränkt die
Handlungsmöglichkeiten ziemlich deutlich.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gehrcke? – Bitte
schön.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich in einer
Frage oder in einer politischen Erklärung dafür votiere,
die Deutsche Bank in Schutz zu nehmen. Sonst habe ich
immer gegenteilige Äußerungen von mir gegeben.
Kann ich Ihre Antwort so interpretieren, dass Sie
deutschen Unternehmen, die von den USA auf Grund-
lage der Embargomaßnahmen gelistet werden – benut-
zen wir einmal diesen Ausdruck –, Rechtssicherheit und
Rechtsvertretung versprechen, wenn sich diese Unter-
nehmen an Sie wenden? Das wäre ein beachtlicher Fort-
schritt.
Ich hatte schon in der Antwort auf die vorhergehende
Frage darauf hingewiesen, dass das zentrale Argument,
warum die Bundesregierung gegen das Embargo eintritt,
die negativen Auswirkungen auf die europäische und die
deutsche Wirtschaft sind. Das ist rechtswidrig; das habe
ich Ihnen erklärt.
Insofern haben wir natürlich ein Interesse daran, Un-
ternehmen dabei zu unterstützen, ihre Interessen best-
möglich zu wahren. Aber das setzt voraus, dass diese
Unternehmen auch den Kontakt und das Gespräch mit
der Bundesregierung suchen. Ich glaube, es ist deutlich
geworden, dass wir uns – das ist bislang die Tradition al-
ler Regierungen gewesen – im Rahmen des Außenhan-
dels selbstverständlich für die Interessen der deutschen
Unternehmen einsetzen.
Noch eine Zusatzfrage? – Bitte schön, Herr Abgeord-
neter Gehrcke.
Herzlichen Dank. – Ich freue mich, dass die Bundes-
regierung endlich aktiv wird. Wenn Sie sagen, das sei
schon immer so gewesen, dann ist mir das auch recht.
Haben Sie dabei bedacht, Herr Staatsminister, dass ein
solches verbessertes Verhältnis zu Kuba auch eine Ein-
trittskarte für bessere Beziehungen zu anderen latein-
amerikanischen Staaten sein kann, die sich zusammen
mit Kuba immer mehr für eine andere Wirtschaftspolitik
in Lateinamerika einsetzen?
Sie wissen, dass mein Haus an bestmöglichen Bezie-
hungen zu den lateinamerikanischen und mittelamerika-
nischen Ländern interessiert ist. Gerade in den vergange-
nen Jahren haben wir intensiv dafür geworben, dass es
konkrete Projekte nicht nur wirtschaftlicher, sondern vor
allem auch zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit
– Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, Stärkung von Demo-
kratie und Freiheit, Unabhängigkeit der Justiz – gibt.
Wenn wir uns in diese Richtung bewegen, dann steht
dem überhaupt nichts entgegen. Wenn wir im Zuge sol-
cher Aktivitäten auch andernorts, beispielsweise bei der
Beurteilung des Embargos gegen Kuba, vorankommen,
dann soll mir das nur recht sein.
Danke schön. – Damit kommen wir zur Frage 8 desAbgeordneten Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/DieGrünen:Wie rechtfertigt die Bundesregierung die Bewertung derArbeiterpartei Kurdistans PKK und ihrer syrischen Schwes-terpartei PYD als terroristische Vereinigung, nachdem PKK-Mitglieder im Nordirak in weltweit gefeiertem, erfolgreichemmilitärischem Einsatz gegen den IS die Bevölkerung der Jesi-den vor Zwangsbekehrung, Versklavung und Mord geschützthatten und PYD-Mitglieder in Syrien in und um Kobane dieStadt und die verbliebene Bevölkerung erfolgreich gegen denIS schützen, und sieht die Bundesregierung die Unterstützungdieser Parteien, etwa durch militärische Luftschläge oderWaffenlieferungen in den Nordirak und nach Syrien oderdurch Sammeln von Spenden in Deutschland, als strafbaresHandeln an, das in Deutschland zu verfolgen ist?Herr Staatsminister, bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5751
(C)
(B)
Vielen herzlichen Dank. – Herr Abgeordneter
Ströbele, die Frage „Wie gehen wir jetzt mit der PKK
um?“ treibt nicht wenige um; wenn ich das so sagen
darf. Ich will Ihnen erst einmal den Sachstand kurz dar-
stellen.
Die sogenannte Arbeiterpartei Kurdistans, kurz PKK,
ist in Deutschland schon seit 1993 als eine ausländische
terroristische Vereinigung eingestuft, und sie steht – das
ist das für unsere Entscheidung wesentliche Element –
auf der EU-Terrorsanktionsliste. Die Vorgaben dieser
Terrorsanktionsliste setzt Deutschland uneingeschränkt
um. Der Bundesinnenminister hat im November 1993
vereinsrechtliche Betätigungsverbote gegen die PKK
und die PKK-Europaführung verhängt. Bund und Län-
der haben in der Folge zahlreiche weitere PKK-Organi-
sationen verboten, zuletzt im Jahr 2007 den PKK-TV-
Sender und dessen Deutschlandstudio.
Diese Organisationen verstoßen gegen Strafgesetze.
Sie richten sich gegen den Gedanken der Völkerverstän-
digung, und sie gefährden nach wie vor die innere Si-
cherheit Deutschlands. Auf das Konto der PKK gehen
außerdem zahlreiche terroristische Anschläge in der Tür-
kei, von denen auch Zivilisten betroffen waren.
Nun versucht die PKK, sich wegen des Kampfes der
Kurden gegen den sogenannten Islamischen Staat als
Verfechter von Menschenrechten darzustellen. Sie hat
zwar, wenn auch erst seit 1996 unter dem Eindruck der
Verbote, weitgehend von massenmilitanten öffentlichen
Aktionen abgelassen, sie kalkuliert aber unbeschadet al-
ler bisherigen Friedensbekundungen den weiteren Ein-
satz von Gewalt und Militanz, auch in Europa, ein.
Die Unterstützung der Bundesregierung für die Kräfte
der Region im Norden des Iraks, in Kurdistan, kann
überhaupt nicht mit einer Unterstützung der PKK gleich-
gesetzt werden. Die Kräfte der Region im Norden des
Iraks, in Kurdistan, sind nämlich verfassungsmäßiger
Bestandteil der irakischen Sicherheitsarchitektur. Falls
es konkrete Fälle des Sammelns von Spenden für die
PKK in Deutschland gibt, so ist die Strafbarkeit in
Deutschland von Ermittlungsbehörden oder Gerichten
zu beurteilen. Dazu kann ich nichts weiter ausführen.
Abgeordneter Ströbele, Zusatzfrage? – Bitte schön.
Herr Staatsminister, ich weiß nicht, ob ich mich für
diese Antwort bedanken soll. Ich lasse es mal
und stelle eine Zusatzfrage: Herr Staatsminister, können
Sie verstehen, dass ein Mensch, der in Deutschland ver-
haftet wird – das ist vor ein paar Monaten geschehen –
und in Untersuchungshaft genommen wird unter der Be-
schuldigung, dass er Spenden für die PKK in Deutsch-
land gesammelt und damit eine terroristische Vereini-
gung unterstützt hat, mit der Politik der Bundesregierung
schwer klarkommt, da er gleichzeitig über das Fernsehen
und die Zeitung zur Kenntnis nehmen muss, dass diese
PKK, die er angeblich – wir wissen es ja nicht genau –
durch eine Geldsammlung hier unterstützt hat, von der
Bundesregierung, den USA und anderen Staaten im
Nordirak massiv unterstützt wird, sogar durch Gewalt-
handlungen, durch Bombenangriffe und Ähnliches?
Können Sie das verstehen und nachvollziehen? Was sa-
gen Sie einem solchen Menschen?
Herr Abgeordneter Ströbele, ich habe in meiner ersten
Antwort darauf hingewiesen, dass man die Aktivitäten,
auch die militärischen Verteidigungsaktivitäten der Kur-
dinnen und Kurden im Norden Iraks, die sich im Rah-
men der verfassungsgemäßen Ordnung des Iraks bewe-
gen, nicht gleichsetzen kann mit den Aktivitäten einer
Terrororganisation namens PKK. Das würde ich auch
diesem Bürger gerne erklären. Wenn er für eine terroris-
tische Organisation in Deutschland Geld gesammelt ha-
ben sollte, ist dies zu ahnden. Da stehen – auch das habe
ich Ihnen bereits gesagt – die Ermittlungsbehörden bzw.
die Gerichte in Verantwortung. In dieses juristische Ver-
fahren möchte ich nicht in irgendeiner Weise bewertend
eingreifen.
Aber Sie können hier doch nicht allen Ernstes einen
unmittelbaren Zusammenhang herstellen. Sie wissen
– diese Einschätzung teilt die große Mehrheit dieses
Hauses –, dass der sogenannte Islamische Staat auch mit
militärischen Mitteln bekämpft werden muss. Deswegen
haben wir ja die umstrittene Entscheidung getroffen, ent-
sprechende Ausrüstungs- bzw. Waffenlieferungen an die
Kräfte der Region Kurdistan/Irak zu gewähren. Dies ge-
schieht aber alles in enger Abstimmung mit der iraki-
schen Regierung, und es gibt entsprechende Kontroll-
und Abstimmungsmechanismen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele? –Bitte schön.
Herr Staatsminister, ist es für die Bundesregierungnicht ein Anlass, ihre Politik gegenüber der PKK hier inDeutschland zu überprüfen, wenn dieselbe Organisationja nicht nur im Nordirak, sondern die Schwesterorgani-sation auch im Norden Syriens, insbesondere in Kobane,offenbar sehr humanitäre Aktionen, insbesondere zurRettung von Frauen und Kindern vor Mord, durchführt?Diese sind zwar militärisch, aber bieten Schutz und Hilfefür die Bevölkerung. Muss die Bundesregierung dannnicht über ihre Politik, vielleicht auch die gemeinsameeuropäische Politik, gegenüber einer solchen Organisa-tion nachdenken?Ich füge hinzu: Sind der Bundesregierung nicht vieleandere Fälle bekannt, in denen Organisationen als terro-ristische Vereinigung gestartet sind und sich dann späterso entwickelt haben, dass sie sogar den Staatspräsiden-
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5752 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Hans-Christian Ströbele
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ten stellen, wie es derzeit in El Salvador und in Uruguayder Fall ist?
Herr Abgeordneter Ströbele, Sie können sich darauf
verlassen, dass die Bundesregierung angesichts der dra-
matischen Lage in dieser Region, der Tausende von
Menschen zum Opfer gefallen sind, ständig darüber
nachdenkt: Was ist besser zu tun? Wo müssen wir bishe-
rige Strategien kritisch überprüfen? Wo ist ein Neustart
notwendig? Wo ist Hilfe zu leisten? Sie als Parlamenta-
rier werden in diesen Prozess des Nachdenkens, Überle-
gens und Abwägens eng eingebunden.
Sie haben zum Schluss Ihrer ausführlichen Frage ei-
nen ganz wesentlichen Akteur genannt, nämlich die Eu-
ropäische Union. Es wird und es kann keine Alleingänge
der Bundesregierung geben. Ich habe darauf hingewie-
sen, dass die Einstufung der PKK als Terrororganisation
maßgeblich auf der Terrorsanktionsliste der Europäi-
schen Union fußt. Bislang sind wir in den Institutionen
der Europäischen Union zu keiner anderen Auffassung
gekommen; es bleibt dabei. Aber wir sind in einem stän-
digen Prozess des Abwägens – und dazu haben einige
Abgeordnete schon entsprechende persönliche Beiträge
geleistet; das gilt auch für Mitglieder der Bundesregie-
rung.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Hänsel, Fraktion
Die Linke.
Danke. – Ich möchte da noch einmal nachhaken, Herr
Staatsminister. Konkret möchte ich fragen, ob sich die
Bundesregierung auf europäischer Ebene dafür einge-
setzt hat, dass die PKK anders eingeschätzt wird. Wenn
ich höre, dass Sie sagen, dass der Stand weiterhin ist,
dass sie als terroristische Vereinigung eingestuft wird, ist
es dann richtig, dass der Fraktionsvorsitzende Volker
Kauder hier vor kurzem in Erwägung gezogen hat, Waf-
fen an die PKK zu liefern, also in Erwägung gezogen
hat, eine terroristische Vereinigung mit Waffen zu unter-
stützen? Ist das die richtige politische Analyse?
Die Frage müssten Sie dem Abgeordneten Kauder
selber stellen.
Ich bin Regierungsmitglied, und ich werde hier nicht
über Aussagen eines einzelnen Abgeordneten spekulie-
ren.
Das steht mir als Mitglied der Bundesregierung und
Staatsminister auch überhaupt nicht zu.
Im Übrigen habe ich schon deutlich gemacht, dass die
Bundesregierung derzeit keinen Anlass dazu sieht, die
Einstufung der PKK als Terrororganisation zu verän-
dern. Sollten wir das tun, wird das nur in einer engen
Abstimmung mit den Partnern innerhalb der EU gesche-
hen. Derzeit sehe ich diese Situation noch nicht.
Wir kommen zur Frage 9 ebenfalls des Abgeordneten
Ströbele:
Plant die Bundesregierung, sich der deutschen kolonialen
Verantwortung zu stellen und die Verbrechen der deutschen
Kolonialmacht in Kamerun aufzuarbeiten, insbesondere sich
für die Rehabilitierung des Häuptlings Manga Bell einzuset-
zen, der von der deutschen Kolonialjustiz im August 1914
wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurde, weil er sich
– ausnahmslos friedlich – etwa mit rechtlichen, parlamentari-
schen und publizistischen Mitteln in Deutschland gegen die
umfassende Enteignung des Grundeigentums der Ethnie Douala
zur Wehr setzte, und auf welche Gründe und Fakten stützt die
Bundesregierung die Ablehnung der Forderung der Vertreter
der Douala aus Kamerun, den „Vater des Landes“, Manga
Bell, zu rehabilitieren und mit einem solchen Rechtsakt und
einer solchen Geste ein klares Bekenntnis zur historischen
Verantwortung abzulegen ?
Bitte, Herr Staatsminister.
Vielen Dank. – Herr Abgeordneter Ströbele, die Bun-
desregierung ist sich selbstverständlich der historischen
Verantwortung aus den Jahren der deutschen Kolonial-
herrschaft in Kamerun sehr bewusst. Sie haben die
geschichtliche Erforschung der von Ihnen angeführten
Vorgänge angemahnt. Nach Auffassung der Bundesre-
gierung ist das in erster Linie Aufgabe der Wissenschaft.
Eine Forderung der Vertreter der Douala aus Kame-
run zur Rehabilitierung von Rudolf Douala Manga Bell
wurde gegenüber der Bundesregierung bislang nicht er-
hoben.
Im Jahr 2006 hat die Bundesregierung aus Mitteln des
Auswärtigen Amts im Rahmen des Kulturerhalts ein
Projekt in Douala finanziell unterstützt, mit dem unter
anderem an das Schicksal von Manga Bell und die Ver-
antwortung der deutschen Kolonialverwaltung erinnert
wird. Die Deutsche Botschaft hat dabei sehr eng mit den
Nachfahren des Königs von Douala zusammengearbei-
tet. Es wird auch entsprechende Feierlichkeiten zum
100. Todestag von Manga Bell geben. Diese Feierlich-
keiten werden von der Bundesregierung finanziell unter-
stützt. Auch unsere Botschaft in Jaunde hat ihre Bereit-
schaft bekundet, an diesen Feierlichkeiten zu Ehren des
Verstorbenen teilzunehmen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele? – Bitteschön.
Herr Staatsminister, es ist ja fast genau 100 Jahre her,dass Manga Bell verurteilt und hingerichtet worden ist,nachdem er von einem deutschen Kolonialgericht wegenparlamentarischer und anderer friedlicher und zivilerAktivitäten für sein Volk in Deutschland zum Tode ver-
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Hans-Christian Ströbele
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urteilt worden ist. Nicht nur Manga Bell selber, sondernüber 150 Menschen sind seinerzeit in der deutschen Ko-lonie hingerichtet worden. Es geht hier nicht nur um diehistorische Forschung – da gebe ich Ihnen ja recht; dasist im Wesentlichen Aufgabe der Wissenschaft –, son-dern meine Frage geht auch dahin, ob die Bundesregie-rung bereit ist, ein Rehabilitationsverfahren einzuleitenoder eine solche Erklärung hier im Deutschen Bundestagund gegenüber dem Volk der Douala abzugeben, ganzunabhängig davon, ob dazu ein förmlicher Antrag vor-liegt.
Aber es ist schon entscheidend, ob es ein solches Be-
gehren und einen solchen Wunsch gibt. Er ist bislang
nicht an uns herangetragen worden. Wir stehen mit den
Nachkommen des Ermordeten und mit vielen anderen in
engem Kontakt. Wir werden auch an den Feierlichkeiten
mitwirken und sie finanziell unterstützen. Wie andere
Regierungen vor uns stehen auch wir selbstverständlich
zu diesem ganz schwierigen Kapitel der deutschen Kolo-
nialherrschaft in Afrika. Wir wissen um unsere histori-
sche Verantwortung.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele? –
Bitte schön.
Herr Staatsminister, wollen Sie sich oder will sich der
Minister nicht vielleicht ein Beispiel an der früheren
Entwicklungshilfeministerin Frau Wieczorek-Zeul neh-
men, die in die ehemalige Kolonie Deutschlands, nach
Namibia, gereist ist und dort eine sehr bewegende und
sehr zutreffende Erklärung zu dem Völkermord, den die
deutschen Kolonialtruppen dort zu verantworten hatten,
abgegeben hat? Ich glaube, das hat den Beziehungen zu
Afrika, aber insbesondere natürlich zu dem betroffenen
Land damals gutgetan. Das würde auch in diesem Falle
erheblich helfen.
Herr Abgeordneter Ströbele, Ihre positive Würdigung
der auch im Namen der Bundesregierung vorgetragenen
Bitte um Entschuldigung und Vergebung durch die da-
malige Bundesentwicklungshilfeministerin teile ich aus-
drücklich; das sehe ich genauso wie Sie. Ich werde gerne
einmal mit dem Bundesminister des Auswärtigen da-
rüber sprechen, wie wir mit unserer historischen Verant-
wortung in Kamerun umgehen.
Kamerun war immer ein Schwerpunkt unserer ent-
wicklungspolitischen Zusammenarbeit. Seit der Unab-
hängigkeit sind im Rahmen der Entwicklungszusam-
menarbeit über 900 Millionen Euro in konkrete Projekte
in Kamerun geflossen. Dass Geld die historische Verant-
wortung, die wir haben, nicht in irgendeiner Weise zu re-
lativieren vermag, ist mir natürlich klar. Aber wir stehen
zu dieser Verantwortung. Wir stehen insbesondere zu
Kamerun. Das ist ja auch kein abgeschlossener Prozess.
Dazu gibt es keine weiteren Nachfragen.
Dann kommen wir zur Frage 10 der Abgeordneten
Heike Hänsel:
Teilt die Bundesregierung die Position des EU-Botschaf-
ters in Mexiko, Andrew Standley, dass für das Verschwinden
der 43 Studierenden in Iguala nicht der Staat verantwortlich
ist und deshalb auch keine Konsequenzen bezüglich der Be-
ziehungen mit der EU gezogen werden – speziell das Freihan-
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Abgeordnete
Hänsel, der EU-Botschafter in Mexiko, Andrew
Standley, hat in einem Fernsehinterview für CNN am
23. Oktober dieses Jahres Folgendes klargestellt: Er
sieht aufgrund der Vorfälle in Iguala keine Notwendig-
keit von Konsequenzen für die Beziehungen zwischen
der EU und Mexiko und für das mit Mexiko auf Bundes-
ebene – das möchte ich ausdrücklich unterstreichen –
abgeschlossene Freihandelsabkommen, da die mexikani-
sche Bundesregierung nicht Urheber der Menschen-
rechtsverletzungen im Gliedstaat Guerrero sei.
Er hat dabei die mutmaßliche Verstrickung lokaler
Behörden nicht erwähnt, aber auch nicht in Zweifel ge-
zogen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Re-
solution des Europäischen Parlaments vom gleichen
Tage, die nach seiner Meinung einen ausgewogenen Ton
zwischen der Verurteilung der Taten und gleichzeitiger
Zusage der Unterstützung der mexikanischen Regierung
seitens der EU bei der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität trifft.
Der Resolutionstext des Europäischen Parlaments,
den wir ebenso unterstützen und auch würdigen, ver-
weist im Übrigen, Frau Abgeordnete Hänsel, klar auf die
mutmaßliche Verwicklung lokaler Behörden in diese
schlimmen Vorfälle. Ich erspare es Ihnen jetzt, die ent-
sprechende Formulierung auf Englisch vorzutragen.
Frau Kollegin Hänsel, haben Sie eine Nachfrage
dazu? – Dann haben Sie das Wort.
Danke schön. – Dazu muss man sagen, viele Delega-tionen von uns reisen regelmäßig nach Mexiko. Wir sinddort seit Jahren mit einer fast 100-prozentigen Straflo-sigkeit auf allen Ebenen konfrontiert. Wenn Sie jetztnach Mexiko fahren, stellen Sie eine 98-prozentigeStraflosigkeit fest. Auch vor fünf Jahren bestand schoneine 98-prozentige Straflosigkeit. Das gilt unabhängigdavon, welche Regierung an der Macht ist.Daher können Sie doch nicht davon sprechen, es gebekeine Verantwortung des Staates, wenn schlimme Ver-brechen, egal auf welcher Ebene sie passieren, in gro-ßem Umfang nicht geahndet werden.Der derzeit amtierende Präsident Nieto war seinerzeitals Gouverneur des Bundesstaates Mexiko für einen bru-talen Polizeieinsatz verantwortlich, den er befehligt hat.
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Heike Hänsel
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Über 200 Menschen wurden dabei verhaftet und übelmisshandelt. Ein 14-Jähriger wurde getötet. 40 Frauenwurden massenvergewaltigt durch die Polizei. Das alleshatte keine Konsequenzen.Wie können Sie behaupten, dass es keine Verantwor-tung der Bundesebene für solche Verbrechen gibt? Die43 Studierenden sind nur die Spitze des Eisbergs. In ei-nem anderen Bundesstaat sind 21 Jugendliche in einemKaufhaus öffentlich hingerichtet worden.Das heißt, es gibt natürlich eine Verantwortung desBundesstaates. Diese können Sie hier auch nicht weg-leugnen.
Herr Staatsminister.
Nicht nur Delegationen des Deutschen Bundestages,
sondern auch Delegationen der Bundesregierung reisen
nach Mexiko. Erst kürzlich hat meine Kollegin Böhmer
aus dem Auswärtigen Amt Mexiko besucht, und zwar
vom 19. bis zum 24. Oktober. Ich kann Ihnen versichern,
dass Frau Staatsministerin Böhmer die Vorfälle, die von
Ihnen kritisiert werden, gegenüber hoch- und höchstran-
gigen Stellen der mexikanischen Regierung angespro-
chen hat.
Darüber hinaus hat sie sich zusammengesetzt mit
Menschenrechtsverteidigern Mexikos. In Vorbereitung
dieser Reise hat es eine Fülle von Gesprächen mit Ver-
tretern hiesiger Menschenrechtsorganisationen zu die-
sem Thema gegeben.
Das Auswärtige Amt hat bereits am 8. Oktober zu
diesen Vorfällen Gespräche mit der Nichtregierungsor-
ganisation Menschenrechtskoordination Mexiko und mit
Amnesty International geführt. Ich darf hinzufügen, dass
auch unser Menschenrechtsbeauftragter, Herr Strässer,
ein Gespräch mit der NGO Menschenrechtskoordination
Mexiko geführt hat. Darüber hinaus hat sich unsere Bot-
schaft auch gegenüber der EU-Delegation in Mexiko für
eine entsprechende EU-Erklärung eingesetzt. Diese lo-
kale Erklärung wurde am 12. Oktober veröffentlicht.
Ferner habe ich deutlich gemacht, dass die Bundesregie-
rung die Resolution des Europäischen Parlaments teilt,
das sich sehr kritisch geäußert hat.
Nun möchte ich auf Ihre Forderung zurückkommen
– ich insinuiere das jetzt einfach einmal so –, die Moder-
nisierung des Freihandelsabkommens mit Mexiko aus-
zusetzen bzw. das in Verhandlung befindliche Sicher-
heitsabkommen auszusetzen. Da es gerade um den
Kampf gegen die organisierte Kriminalität geht, wäre es
aus meiner Sicht geradezu hanebüchen, wenn wir jetzt
vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Verbrechen
im Bundesstaat Guerrero unsere Verhandlungen ausset-
zen würden. Wir brauchen mehr Sicherheit. Wir müssen
die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der or-
ganisierten Kriminalität ausweiten. Daher bin ich dafür,
dass wir diese Verhandlungen entschieden fortsetzen.
Frau Kollegin Hänsel, haben Sie noch eine zweite
Nachfrage?
Ja.
Bitte schön.
Danke schön. – Herr Staatsminister, wenn Sie so um-
fassend mit Menschenrechtsgruppen wie Amnesty Inter-
national und anderen sprechen, dann ist es eigentlich
noch schlimmer, dass Sie nicht agieren, weil all diese
Gruppen Ihnen wie auch uns allen bei allen Besuchen er-
zählen, dass der Staat Teil des Problems ist und dass
diese Verbrechen nicht vonseiten der organisierten Kri-
minalität begangen werden, sondern von Teilen des Si-
cherheitsapparates, der Polizei auf lokaler Ebene und auf
Bundesebene und von Teilen des Militärs.
Genau deswegen fordern wir – damit komme ich zu
meiner Frage –, dass man in dieser Situation einer massi-
ven Unterwanderung seitens der Polizei- und Sicher-
heitskräfte, die Teil der organisierten Kriminalität und
Täter dieser staatlichen Repressionen sind, kein Sicher-
heitsabkommen abschließt, bei dem es unter anderem
darum geht, den Datenaustausch weiter zu forcieren und
die Aufstandsbekämpfung weiter zu trainieren. Das
heißt, man trainiert im Grunde Sicherheitskräfte, die kri-
minell vorgehen und für Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich sind. Das können Sie nicht verantworten.
Frau Abgeordnete Hänsel, ich teile Ihre Interpretation
eines Sicherheitsabkommens ausdrücklich nicht. Es geht
gerade darum, Bürgerinnen und Bürger zu schützen und
die individuelle Sicherheit zu erhöhen. Ich will auch vor
dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung hinzufügen,
dass nach aktuellem Stand auf der mexikanischen Seite
die Generalstaatsanwaltschaft, die auch mit der Strafver-
folgung der Täter des Verbrechens von Guerrero beauf-
tragt wurde, gerade über 20 verdächtigte Polizeibeamte
festgenommen hat. Insofern will ich das jetzt nicht wei-
ter bewerten.
Es tut sich etwas, aber Sie können sich darauf verlas-
sen, dass wir in enger Abstimmung sind. Wir verlassen
uns eben nicht nur auf die Gespräche mit der mexikani-
schen Regierung, sondern – ganz im Gegenteil – wir su-
chen den engen Austausch und das direkte Gespräch mit
den NGOs, mit Amnesty und anderen Organisationen,
die ich Ihnen eben genannt habe. Das fließt auch in un-
sere jeweilige Beurteilung mit ein. Die Beurteilung sieht
aber anders aus als die Ihrige.
Der Kollege Ströbele hat noch eine weitere Nach-frage. Darum erteile ich ihm das Wort.
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Danke, Herr Präsident. – Herr Staatsminister, ichglaube, Sie haben etwas an der Frage vorbei geantwortet.Ich finde es gut, dass Sie dort mit Oppositionellen, aberauch mit NGOs und gerade auch mit Menschenrechts-organisationen reden. Das ist dringend erforderlich.Aber dann müssen Sie doch auch die Schreie aus denMassendemonstrationen zur Kenntnis genommen haben,die man aus Mexiko-Stadt bis nach Berlin hört. In Berlinfindet derzeit – ich weiß nicht, ob Sie das wissen – eine43-stündige Mahnwache im Gedenken an die Toten undan die Zustände in Mexiko statt. Sie müssen doch zurKenntnis nehmen, dass die Beschuldigungen sich nichtdarauf beschränken, dass lokale Behörden eine direkteVerantwortung für die mutmaßliche Ermordung – wirwissen noch nicht genau, was passiert ist – haben, son-dern dass man die gesamte Administration bis in die Re-gierung hinein der Komplizenschaft verdächtigt und be-schuldigt. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen,statt einfach zu sagen: Wir liefern denen jetzt Waffenund machen Sicherheitsabkommen und alles Mögliche,weil wir der Regierung vertrauen.Uns interessiert: Welchen Wert legen Sie auf die Ar-gumente der Menschenrechtsorganisationen und der De-monstranten, die solche Feststellungen oder Mutmaßun-gen äußern? Sagen Sie: „Da ist überhaupt nichts dran;die Regierung ist in jeder Hinsicht vertrauenswürdig undduldet diese schrecklichen Geschichten nicht, sondernsie macht wirklich etwas dagegen“? Die Beauftragungeines Generalstaatsanwalts ist wenig wert, solange mannicht weiß, ob er nicht selber mit den örtlichen Behördenin Verbindung steht. Deshalb ist meine Frage: Wie ernstnehmen Sie die anderen Darstellungen? Überprüfen Siesie, und welche Meinung haben Sie dazu?
Herr Staatsminister.
Herr Abgeordneter Ströbele, wir nehmen alle Vor-
würfe sehr ernst. Deshalb befinden wir uns auch mit al-
len Verantwortlichen im engen Austausch. Damit hier
kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin stolz darauf, für
ein Auswärtiges Amt arbeiten zu dürfen, das sich nicht
nur als Ministerium für internationale Beziehungen ver-
steht, sondern vor allem als Menschenrechtsministerium.
Das ist ein wesentliches Element unserer politischen Be-
mühungen auf der internationalen Ebene. Ich darf Ihnen
versichern, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen, die
in meinem Haus in Verantwortung stehen, der Stärkung
der Menschenrechte und ihrer Universalität verpflichtet
fühlen. Dabei ist uns völlig egal, um welches Land es
geht. Wir setzen uns überall für die Einhaltung der Men-
schenrechte ein. Ich freue mich, dass Sie dabei an unse-
rer Seite stehen, Herr Abgeordneter Ströbele.
– Ich beantworte die Fragen so, wie ich meine, sie beant-
worten zu müssen.
Für eine weitere Nachfrage hat der Kollege Lenkert
das Wort.
Sehr geehrter Herr Staatsminister, es gibt zumindest
berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit von Behörden
in einigen mexikanischen Bundesstaaten. Wir haben im
Gegensatz zu Ihnen auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit
einiger Verhaltensweisen der Zentralregierung in Me-
xiko. Vor dem Hintergrund, dass Schusswaffen, die von
Heckler & Koch nach Mexiko geliefert wurden, in völlig
andere Kanäle gelangt sind, möchte ich Sie fragen, ob
Sie zukünftig planen, keine Waffenlieferungen nach Me-
xiko mehr zuzulassen.
Wie Sie wissen, gibt es eine sehr restriktive Regelung
betreffend den Export von Waffen in Länder außerhalb
der Europäischen Union und der NATO. Wir werden
weiterhin – hier ist das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Energie federführend – auf die restriktiven
Maßstäbe bei der Umsetzung achten. Darauf können Sie
sich verlassen.
Damit kommen wir zu Frage 11 der Kollegin Heike
Hänsel:
Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, ob
die extrem rechte Partei Swoboda vor allem deshalb trotz
Scheiterns an der Fünfprozenthürde über Direktmandate im
ukrainischen Parlament vertreten sein wird, weil die Partei
des ukrainischen Präsidenten, Block Petro Poroschenko, in
den Wahlkreisen, in denen Swoboda bei den vergangenen
Wahlen Direktmandate geholt hat, als Dank für die Unterstüt-
zung bei der Auflösung des Parlaments und damit der Aus-
richtung von vorgezogenen Wahlen auf eigene Kandidaten
verzichtet bzw. nur schwache Kandidaten aufgestellt hat und
somit dieser extrem rechten Partei einen Verbleib in der
Werchowna Rada gesichert hat, und teilt die Bundesregierung
die Auffassung, dass diese Art der Organisation des Wahl-
ergebnisses derjenigen stark ähnelt, die die Partei der Regio-
nen unter dem Präsidenten Wiktor Janukowitsch bei den Par-
Das Wort hat wiederum der Herr Staatsminister.
Vielen Dank. – Frau Abgeordnete Hänsel, in IhrerFrage beziehen Sie sich auf die jüngsten Wahlen zumukrainischen Parlament, zu der sogenannten Rada. Beiden Wahlen am 26. Oktober haben – das darf ich persön-lich hinzufügen – erfreulicherweise extremistische, radi-kale Parteien – anders als noch im Jahr 2012 – einen aus-gesprochen geringen Zulauf erhalten. Die Partei RechterSektor scheiterte sehr deutlich an der Fünfprozenthürdeund konnte nur ein einziges Direktmandat erzielen. Dierechtsnationalistische Swoboda scheiterte ebenfalls ander Fünfprozenthürde. Die rechtspopulistische RadikalePartei blieb mit etwa 7,5 Prozent hinter den Erwartungen
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Staatsminister Michael Roth
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zurück. Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus– das ist die Bewertung der Wahlergebnisse –, dass na-tionalistische, extremistische und radikale Kräfte keinenEinfluss auf die Politik der Ukraine haben werden. Auchdieser Hinweis sei mir gestattet: Solche schlechtenWahlergebnisse von Rechtsextremisten und Populistenwürde ich mir auch in manchem Mitgliedsland der Euro-päischen Union wünschen.Der Bundesregierung sind Presseberichte bekannt,nach denen sich der Block Petro Poroschenko und diePartei Swoboda bei der Aufstellung von Direktkandida-ten abgesprochen haben sollen. Bei dieser Abspracheging es vor allem darum, die Erfolgschancen der jeweili-gen Kandidaten beider Parteien zu erhöhen. Absprachendieser Art verstoßen nach Kenntnis der Bundesregierungnicht gegen ukrainisches Recht. Sie werden sich daranerinnern, dass noch im Jahr 2012 der Partei der Regio-nen klar rechtswidrige Handlungen vorgeworfen wordensind wie Wählerbestechung, Missbrauch administrativerRessourcen und direkte Wahlfälschung. Nun liegen dievorläufigen Schlussfolgerungen der OSZE-Wahlbe-obachtungsmission vor. Die OSZE hat bei den jüngstenWahlen am 26. Oktober derartige Praktiken nicht be-obachtet bzw. nur in einigen wenigen Einzelfällen. Da-bei geht es um Wählerbestechung.
Frau Kollegin Hänsel, haben Sie dazu eine Nach-
frage? – Bitte schön.
Danke schön, Herr Staatsminister. – Teilen Sie even-
tuell die Auffassung, dass es schon etwas merkwürdig
ist, dass sich nun der Poroschenko-Block mit Swoboda
einigt, um die gegenseitigen Erfolgschancen zu erhöhen,
und durch Absprachen vor Ort Swoboda sechs Sitze im
ukrainischen Parlament ermöglicht hat? Zwar haben ein-
zelne extremistische Parteien keinen großen Erfolg er-
zielt. Aber zahlreiche extrem rechte Kandidaten sind nun
im Parlament vertreten. Sie haben Absprachen mit ande-
ren Parteien getroffen und wurden so in das Parlament
gewählt. Ich nenne als Beispiel die Volksfront von
Jazenjuk.
Dazu nur ein paar Beispiele: Zum Beispiel sind mitt-
lerweile im Parlament der Gründer der neonazistischen
Nationalen Partei der Ukraine, Andrej Parubij, der zu-
gleich der Führer des Bataillons Dnjepr 1 ist, dann
Tatjana Tschornowol, der die faschistische Miliz
UNA-UNSO nicht radikal genug war und sie deswegen
sogar verließ, Andrej Biletski, bekennender Neofaschist
und Kommandeur des im Kern aus extrem Rechten be-
stehenden Asow-Bataillons – darüber wurde auch in den
Medien berichtet – sowie eine weitere Anzahl von ex-
trem Rechten.
Würden Sie nicht sagen, dass diese Anzahl der rechts-
extremen Abgeordneten auf alle Fälle einen Einfluss auf
die Politikgestaltung des Landes hat?
Frau Abgeordnete Hänsel, ich habe erst einmal darauf
hingewiesen, dass im Vergleich zur Wahl 2012 der Ein-
fluss von rechtsextremistischen, nationalistischen, popu-
listischen Abgeordneten massiv zurückgegangen ist. Das
ist ein großer Erfolg. Bei den Rada-Wahlen sind pro-
europäische Kräfte, die sich der europäischen Wertege-
meinschaft verpflichtet fühlen, gestärkt worden; sie stel-
len eine deutliche Mehrheit.
Sie können sich darauf verlassen, Frau Abgeordnete
Hänsel – wir haben uns hier schon in vielen Fragestunden
darüber kritisch ausgetauscht –, dass diese Bundesregie-
rung sehr wachsam ist, wenn es um Antisemitismus, Aus-
länderfeindlichkeit, Homophobie, Gewalt gegen reli-
giöse Minderheiten geht, egal wo, selbstverständlich
auch in der Ukraine. Ich habe Ihnen immer wieder ge-
schildert, dass wir klare Erwartungshaltungen auch an
die ukrainische Regierung und die anderen ukrainischen
Verantwortlichen haben.
Nun sollten wir doch angesichts eines solchen Wahl-
ergebnisses, das eine drastische Verminderung der Zahl
von Abgeordneten aus populistischen, nationalistischen
und rechtsextremen Bereichen zur Folge hatte, die Dinge
nicht schlechter reden, als sie realiter sind. Das, was Sie
kritisieren, nämlich, dass es vor einer Wahl Absprachen
gegeben habe, steht ja zumindest nach unserer Kenntnis
nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Ukraine. Da
ist kein Gesetz und kein Recht infrage gestellt worden.
Frau Kollegin Hänsel, haben Sie noch eine weitere
Frage? – Dann haben Sie das Wort dazu.
Danke schön. – Herr Staatsminister, so etwas muss
man sich einmal in Deutschland vorstellen: Würde die
CDU Kandidaten der NPD auf ihre Liste nehmen, gäbe
es hier doch einen Aufschrei. Ihn gibt es doch schon bei
der Frage, dass einzelne Abgeordnete in Erwägung zie-
hen, dass die AfD als Bündnispartner nicht ausgeschlos-
sen werden dürfe. Daher müssen wir es doch absolut kri-
tisieren – es gibt doch einen demokratischen Konsens –,
wenn auf der Jazenjuk-Liste – er ist Ministerpräsident
gewesen und wurde von den USA unterstützt – die
Volksfront jetzt stärkste Kraft ist und Anführer des be-
rüchtigten Asow-Bataillons und weitere andere faschisti-
sche Kandidaten stehen, die eindeutige NS-Bezüge in ih-
rer politischen Ausrichtung haben. Angesichts dessen
kann ich doch nicht sagen, wir dürfen das jetzt nicht
überbewerten. Der Poroschenko-Block, der von der
Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird – da gibt es
auch einen direkten Einfluss –, macht vor Ort Abspra-
chen mit Abgeordneten der Swoboda-Partei. Das sind
doch Zustände, die man nicht einfach so negieren kann.
Dazu müssen Sie sich doch politisch verhalten!
Herr Staatsminister.
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Danke, Herr Präsident. – Frau Abgeordnete Hänsel,
darauf habe ich nun nur noch gewartet, dass jetzt die
Vereinigten Staaten von Amerika kommen und dann
gleichzeitig insinuiert wird, dass die auch noch Faschis-
ten in der Ukraine unterstützten. Dass dies genau auf Ih-
rer propagandistischen Linie lieg, das mag ja so sein.
Aber ich habe darauf hingewiesen, dass diese Bundesre-
gierung dem Kampf gegen Rechtsextremismus ver-
pflichtet ist und dass wir alles in unseren Möglichkeiten
Stehende tun, um diesen auch zu ahnden.
Ich kann mich doch nur auf Wahlergebnisse und die
Erkenntnisse der OSZE-Wahlbeobachtermission bezie-
hen, die eine kritische und eine sehr aufmerksame Be-
wertung des Wahlergebnisses vorgenommen hat, und da-
rauf vertrauen. Wenn uns gesagt wird, es sei alles mit
rechten Dingen zugegangen, die Zahl der gewählten
Rechtsextremisten, Nationalisten und Populisten sei
deutlich nach unten gegangen, dann kann ich mich doch
nicht hier hinstellen und ein Gefahrengemälde an die
Wand zeichnen, das sich mit der Realität nicht deckt.
Gleichzeitig bin ich für jeden Hinweis dankbar, und wir
werden diesen Hinweisen auch nachgehen.
Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass wir
sehr frühzeitig beispielsweise die jüdischen Gemeinden
in der Ukraine eingeladen haben. Sofort, nachdem der
Vorwurf erhoben wurde, es habe Handlungen gegen Jü-
dinnen und Juden in der Ukraine gegeben, haben wir uns
mit den jüdischen Gemeinden in Verbindung gesetzt.
Ausschüsse des Deutschen Bundestages haben den Vor-
sitzenden des Vereins der jüdischen Gemeinden eingela-
den und das Gespräch gesucht.
Wir sollten doch hier nicht den Eindruck erwecken,
als sei uns das alles egal oder als seien wir auf dem rech-
ten Auge blind. Aber die Ukraine ist ein Land auf dem
ganz schwierigen und langen Weg in eine Demokratie, in
eine Rechtsstaatlichkeit, und wir wissen doch alle, dass
da vieles noch im Argen liegt. Aber wir haben ein Inte-
resse daran, dass unsere Wertvorstellungen, die sich mit
rechtsextremistischen Vorstellungen nicht vereinen las-
sen, auch in der Ukraine dauerhaft mehrheitsfähig blei-
ben.
Deshalb bleibe ich dabei – dies ist die Auffassung der
Bundesregierung –, dass wir erst einmal froh darüber
sind, dass Parteien und Kräfte, die sich der europäischen
Wertegemeinschaft verpflichtet fühlen, am 26. Oktober
bei den Rada-Wahlen eine deutliche Mehrheit bekom-
men haben.
Für eine weitere Nachfrage hat das Wort der Kollege
Manfred Grund.
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Verwunderung,
dass die Kollegin Hänsel in einem gewagten Konstrukt
einen Einfluss von vorgeblich faschistischen Kräften auf
die kommende ukrainische Regierung konstruiert, aber
gleichzeitig überhaupt kein Wort über den Einfluss der
rechtsextremen Schirinowski-Partei auf die Moskauer
Politik findet und auch kein Wort dazu sagt, dass rechts-
extreme europäische Parteien, angefangen von der deut-
schen NPD über Le Pen in Frankreich, über Ataka aus
Bulgarien bis hin zu Jobbik aus Ungarn, nach Moskau
pilgern und sich dort die Klinke in die Hand geben, nicht
aber nach dem angeblich faschistischen Kiew? Teilen
Sie meine Verwunderung über dieses Konstrukt?
Erst einmal, Herr Abgeordneter, danke ich allen hier
im Hause, die uns dabei helfen, objektive Informationen
über die Lage nicht nur in der Ukraine zu erhalten. Des-
wegen freue ich mich immer, wenn Sie die Länder besu-
chen, wenn Sie sich vor Ort intensiv informieren, wenn
Sie kritisch nachfragen und auch nachhaken.
Mich verwundert derzeit leider fast gar nichts mehr,
Herr Abgeordneter Grund, was die teilweise einseitige
Bewertung anbelangt. Ich kann Ihnen nur versichern,
dass diese Regierung – egal, welches Land es betrifft –
sich immer verpflichtet fühlt, sich zu engagieren und
konsequent für Respekt, für Demokratie, für Freiheit und
Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Wir treten immer für die
Ächtung des Antisemitismus ein. Wir sind für ein friedli-
ches Miteinander der Religionen, der Kulturen, der Eth-
nien. Dieses Verständnis liegt allen unseren Bewertun-
gen zugrunde.
Die Frage 12 der Abgeordneten Marieluise Beck unddie Frage 13 der Abgeordneten Sevim Dağdelen werdenschriftlich beantwortet. Deshalb haben wir den Ge-schäftsbereich des Ministeriums des Auswärtigen abge-schlossen. Ich danke dem Herrn Staatsminister.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern.Die Frage 14 der Kollegin Dağdelen wird schriftlichbeantwortet.Deshalb kommen wir jetzt zur Frage 15 der KolleginPetra Pau:Aufgrund welcher gewissenhaften und sachgerechtenÜberprüfungen des Sachverhalts kam die Bundesregierungdazu, die Frage, welche Differenzen es zwischen dem Bun-desministerium des Innern, dem Generalbundesanwalt, demBundeskriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungs-schutz, BfV, hinsichtlich der Definition des Rechtsterrorismusseit dem Jahr 1992 gab, wie folgt zu beantworten: „Der Gene-ralbundesanwalt und das Bundeskriminalamt orientieren sichbei ihrer Aufgabenerfüllung an dem Begriff der terroristi-schen Vereinigung gemäß § 129 a des Strafgesetzbuchs undden hierzu vom Bundesgerichtshof aufgestellten Vo-raussetzungen, z. B. zur Mitgliederzahl von mindestens dreiPersonen … Im Gegensatz dazu ist die verfassungsschutzrele-vante Definition von ,Terrorismus‘ … nicht zwingend anmehrere Täter gebunden. Dieser Unterschied resultiert ausden jeweiligen gesetzlichen Aufgaben- und Befugnisnormender verschiedenen Behörden. Differenzen zwischen demBMI, dem Generalbundesanwalt, dem Bundeskriminalamtund dem BfV sind der Bundesregierung insoweit nicht be-
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5758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
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rung diese Antwort nach wie vor für richtig halten?Das Wort hat der Staatssekretär Dr. Krings.D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Vizepräsidentin,
Differenzen zur Frage, ob terroristische Bedrohungen im
Bereich des Rechtsextremismus vorlagen, sind der Bun-
desregierung aus dem Kontext dieser ganzen Aufarbei-
tung, darunter der des NSU-Komplexes, und auch nach
nochmaligem Abgleich mit den Aussagen des 2. Unter-
suchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der
letzten, der 17. Wahlperiode, nicht bekannt.
Deshalb: Ja, wir bleiben bei unserer Bewertung, die
wir auch schon in der Antwort auf Ihre im September ge-
stellte Kleine Anfrage gegeben haben.
Sie, Frau Kollegin, haben mit Sicherheit eine Nach-
frage.
Ja, ich habe Nachfragen. – Für all diejenigen, die die
Frage gelesen haben, auf die sich die Antwort des Herrn
Staatssekretärs bezieht, sage ich gleich: Die komplizierte
Formulierung geht nicht etwa auf mich oder meine Frak-
tion zurück, sondern auf eine Antwort, die die Bundesre-
gierung gegeben hat, vielleicht sogar der Herr Staatsse-
kretär selbst im September unterschrieben hat.
Uns interessierte, inwieweit man den Befund, den der
Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex gefunden
hat, nämlich dass es in den unterschiedlichen Behörden
– Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungs-
schutz, Generalbundesanwalt und zum Schluss auch im
Bundesinnenministerium – sehr unterschiedliche Ein-
ordnungen hinsichtlich der Existenz von rechtsterroristi-
schen Strukturen und Gefahren gab, aufgearbeitet hat
und ob man jetzt vielleicht zu einer gemeinsamen Defi-
nition gekommen ist.
Sie haben eben gesagt, Sie hätten alles noch einmal
überprüft. Ich will Ihnen helfen. In der 72. Sitzung des
NSU-Untersuchungsausschusses am 16. Mai 2013 hat
die Leiterin des Referats Rechtsterrorismus im Bundes-
amt für Verfassungsschutz – an diesem Tag hieß sie Rita
Dobersalzka – ausgeführt:
Wir haben aber im BfV diesen Begriff Rechtsterro-
rismus nie so definiert, wie es der Begriff der terro-
ristischen Vereinigung nahelegt und wie es auch
von der Polizei oder vom GBA als Maßstab genom-
men wird, sondern wir haben immer nach den An-
sätzen gesucht … Und diese Ansätze … haben wir
eben in diesem Referat verfolgt.
Dann hieß es weiter im Disput mit dem Kollegen
Binninger von der CDU/CSU-Fraktion:
Die Notwendigkeit für uns, immer zu sagen: „Es
sind keine Strukturen erkennbar“, hat sich daraus
ergeben, dass sich in der Zusammenarbeit mit der
Polizei und mit dem Generalbundesanwalt, ja ich
sage mal, definitorische Unterschiede ergaben.
Wenn wir gesagt hätten: „Es gibt in Deutschland
Rechtsterrorismus“, dann hätten wir das mit keinem
Einzelfall belegen können.
Deshalb, so geht es dann weiter, seien diese Fälle im
Allgemeinen auch nicht verurteilt worden, obwohl
Strukturen festgestellt worden seien, welche Waffen,
Sprengstoff und anderes gehortet hätten. Also übersetzt:
Wenn es nicht drei Personen waren, die Bomben gebaut
und Waffen gehortet haben, sondern nur zwei, dann
durften sie nicht als rechtsterroristische Vereinigung ein-
gestuft werden.
Meine Frage ist: Würden Sie das heute noch – nach
NSU – so bewerten, oder gibt es jetzt eine gemeinsame
Definition?
Herr Staatssekretär.
D
Sie haben zu Recht etwas weiter ausgeholt; auch ichmöchte das tun. Die Frage, ob zwischen dem Bundeskri-minalamt und insbesondere dem Bundesamt für Verfas-sungsschutz abweichende Auffassungen zur Einschätzungder terroristischen Bedrohungslage in concreto vorlagen, istauch im Abschlussbericht des Untersuchungsausschussesdifferenziert nachgezeichnet worden. Man hat sich auchauf Diskussionen in der Informationsgruppe zur Be-obachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer undrechtsterroristischer, insbesondere fremdenfeindlicherGewaltakte bezogen. Aufgabe auch dieser Informations-gruppe war es, Analysen zur Sicherheitslage zu erstellen.Hierzu wurden in dem Zeitraum, der hier untersuchtwurde, Lagebilder zum Rechtsextremismus und Rechts-terrorismus erörtert.1999 führte das Bundesamt für Verfassungsschutzetwa aus, dass es derzeit keine rechtsextremistische Or-ganisation gebe, die zur Durchsetzung ihrer politischenZiele terroristische Aktionen plane. Ich könnte das wei-ter ausführen, will aber vor allem auf eines hinweisen.Das, was Sie ansprechen und ich nicht als Wider-spruch sehe, sondern was ich als unterschiedlichen Zu-gang von verschiedenen Ämtern bezeichnen möchte, istgerade die Folge der verschiedenen Aufgaben der Si-cherheitsbehörden. Wir wollen mit dem Bundesamt fürVerfassungsschutz und den Landesämtern ein Frühwarn-system haben, das schaut, wo es Ansätze und Strukturengibt. Das gilt auch für den Bereich des Rechtsterroris-mus und Rechtsextremismus. Entsprechend weit gefasstmuss natürlich der Begriff des Rechtsterrorismus sein,den die Verfassungsschutzämter zugrunde legen, wäh-rend wir beim Generalbundesanwalt, bei den Polizeibe-hörden und dem Bundeskriminalamt von dem strafrecht-lichen Begriff ausgehen, also insbesondere von § 129 a.Natürlich ist hier durch die Rechtsprechung ein ganz an-derer Zugang definiert worden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5759
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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Wenn es auf die konkrete Bewertung ankam, kam esin all den Jahren im Ergebnis in concreto nicht zu einerDifferenz, so die Aussagen der Sicherheitsbehörden amheutigen Tag.
Frau Kollegin, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Ja. – Jetzt kommen wir einmal zur Praxis im Jahr
2014. Wie ist es denn jetzt? Angenommen, das Bundes-
amt für Verfassungsschutz stellt im Rahmen des Früh-
warnsystems, wie Sie es gerade beschrieben haben, fest,
dass nicht etwa drei, sondern zwei Personen unterwegs
sind, die sich bewaffnen, die sich mit Sprengstoff aus-
rüsten, die Planungen vornehmen. Aber Gott sei Dank ist
noch nichts passiert. Speisen Sie diesen Sachverhalt zu-
mindest als mögliche rechtsterroristische Gefahr in das
Gemeinsame Abwehrzentrum ein? Wird das dann
adäquat behandelt, oder wird es aufgrund der unter-
schiedlichen Zuständigkeiten und Zugänge erst einmal
beiseitegelegt, bis etwas passiert ist? Tauchen solche
Strukturen im nächsten Verfassungsschutzbericht zumin-
dest als heraufziehende rechtsterroristische Gefahr auf,
oder wird das aufgrund dieser unterschiedlichen Defini-
tionen in den einzelnen Behörden weiter unterschiedlich
behandelt und nicht gemeinsam als Rechtsterrorismus
bekämpft?
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank. – Wir haben ja gerade deshalb diese
Möglichkeiten des Informations- und Erfahrungsaustau-
sches zwischen Behörden in den letzten Jahren geschaf-
fen. Aus dem Grunde ist es aus meiner Sicht selbstver-
ständlich, dass diese Informationen ausgetauscht werden
und dass man zu einer gemeinsamen Bewertung kommt.
Wenn es Anhaltspunkte für rechtsterroristische Struktu-
ren gibt, wie Sie es eben dargestellt haben, gehe ich da-
von aus, dass das entsprechend berücksichtigt wird und
dass das in die entsprechenden Berichterstattungen und
in die entsprechenden Analysen aufgenommen wird.
Eine weitere Nachfrage, und zwar des Kollegen
Lenkert.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
wenn ich Sie jetzt richtig interpretiere – korrigieren Sie
mich; ich hoffe, Sie können mich korrigieren –, haben
Sie auch heute noch keine gemeinsame Definition für
„rechtsterroristische Aktionen“ bzw. für „rechtsterroris-
tische Aktivisten“?
D
Es kann keine im Wortlaut identische Definition ge-
ben. Das eine ist die strafrechtliche Definition nach
§ 129 a. Wir haben ja das Bestimmtheitsgebot und an-
dere verfassungsrechtliche Grundsätze zu beachten. Der
Verfassungsschutz in Bund und Ländern muss natürlich
– deshalb gibt es ihn auch – schon zu einem frühen Sta-
dium ansetzen und Informationen sammeln.
Wenn es eine solche Definition gäbe, wäre sie aus
meiner Sicht zu eng. Aus dem Grunde brauchen wir die
beiden Zugänge; aus dem Grunde brauchen wir Informa-
tionsaustausch. In concreto hat sich noch keine Diffe-
renz ergeben, etwa in der Form, dass die eine Behörde
sagt: „Hier geht es um Rechtsterrorismus“ und dass eine
andere sagt: Das ist weit weg davon. – Man hat also
noch immer zueinandergefunden.
Damit ist auch Frage 15 beantwortet.
Die Frage 16 der Kollegin Pau wird unter Hinweis auf
Anlage 4 Nummer 2 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung
– Richtlinien für die Fragestunde und für die schriftli-
chen Einzelfragen – schriftlich beantwortet. Dahinter
verbirgt sich, dass wir im Anschluss an die Fragestunde
eine Vereinbarte Debatte zu diesem Gegenstand führen.
Die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten Martina Renner
sowie die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Dr. André
Hahn werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zu Frage 21 des Kollegen Markus
Tressel:
Ist es zutreffend, dass sich die Bundesregierung für die
umfassende Speicherung von Fluggastdaten auf europäischer
Ebene einsetzen will und sich folglich für eine solche anlass-
lose Datenspeicherung von mehr als 80 Millionen Deutschen
und 500 Millionen reisenden Europäern ausspricht, und, wenn
ja, aus welchem Grund?
D
Herr Abgeordneter Tressel, das Thema Fluggastda-tenspeicherung beschäftigt uns in diesem Hause schonlänger. Ich will vorwegschicken: Dieses Thema bzw. dieEU-Richtlinie, die in Arbeit ist, ist durch den Beschlussdes Europäischen Rates vom August dieses Jahres undauch durch die VN-Resolution vom 24. September 2014im Kontext mit den Terrorkämpfern und ihren Reisebe-wegungen natürlich drängender geworden.Die Europäische Kommission hat 2011 einen Vor-schlag für eine Richtlinie für ein EU-PNR-System vor-gelegt. Der Entwurf der Kommission sieht vor, dass diebei der Buchung von Flügen über EU-Außengrenzen er-fassten Passagierdaten – also Sitzplatz, Reisebüro, Ge-päcknummer usw. – an die jeweilige PNR-Zentralstelleder Mitgliedstaaten übermittelt werden. Es sollen abernur die Daten angefordert werden, die bei den Flugge-sellschaften ohnehin gesammelt werden. Das heißt, dieRichtlinie begründet keine Pflicht für die Fluggesell-schaften, zusätzliche PNR-Daten zu erfassen. Von demRichtlinienvorschlag der EU-Kommission sind natürlich
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5760 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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auch nicht die Daten, wie es in der Frage etwas plakativheißt, von rund 80 Millionen Deutschen oder 500 Millio-nen Europäern erfasst, sondern nur die Daten derjenigenBürger, die Linienflüge über EU-Außengrenzen antretenwollen.Die von den Behörden der Mitgliedstaaten erfasstenPNR-Daten sollen ausschließlich zur Bekämpfung vonterroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität ver-arbeitet werden. Es bleibt darüber hinaus den einzelnenMitgliedstaaten überlassen, zu entscheiden, ob und wel-che Daten einer Analyse unterzogen werden. Die Mit-gliedstaaten sind somit nicht zu einer routinemäßigenDatenanalyse verpflichtet.Nach Ansicht der Bundesregierung ist wegen der Ge-fahr von Anschlägen durch aus Syrien und aus dem Irakzurückkehrende Dschihadisten dringliches Handeln ge-boten. Ein Element, um dieser Bedrohung der innerenSicherheit zu begegnen, ist das Aufspüren verdächtigerReisebewegungen. Hierzu könnten PNR-Daten wich-tige Dienste leisten, indem sie unter anderem die Fest-stellung von Reisebewegungen von terrorismusverdäch-tigen Personen und Rückschlüsse auf den Aufenthaltsolcher Personen in Terrorcamps oder in Kampfgebietenermöglichen.Der Europäische Rat hat am 30. August 2014 vor demHintergrund der Bedrohung durch die sogenanntenForeign Fighters den Rat und das Europäische Parlamentersucht, die Arbeiten an der EU-PNR-Richtlinie vorEnde dieses Jahres abzuschließen. Es ist daher davonauszugehen, dass die Arbeiten an der Richtlinie zur Ein-richtung eines EU-PNR-Systems zeitnah abgeschlossenwerden. Deutschland wird sich hierbei weiterhin für Ver-besserungen insbesondere im Bereich des Datenschutzeseinsetzen.
Herr Kollege Tressel, ich vermute, Sie haben dazu
eine Nachfrage. Dann erteile ich Ihnen dazu auch das
Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
Sie haben gerade gesagt, dass das zeitnah geschehen
soll. Wann rechnen Sie mit einer Umsetzung der Flug-
gastdatenrichtlinie?
Eine zweite Nachfrage. Um den 29. Oktober herum
hat das Justizministerium verlauten lassen, man wolle
Datenschutzschranken in die Fluggastdatenrichtlinie hi-
neinverhandelt sehen. Ist das die Auffassung der gesam-
ten Bundesregierung, und wie können solche Schranken
Ihrer Auffassung nach aussehen?
D
Vielen Dank. – Ich habe mir abgewöhnt, bei solch
sensiblen europäischen Richtlinien exakte Zeitpläne an-
zunehmen. „Zeitnah“ heißt natürlich: Wir sollten, wenn
der Vorschlag in diesem Jahr vorliegt, im nächsten Jahr
zu Ergebnissen kommen. Dann gibt es natürlich noch die
Umsetzungsfristen. Einen genauen Zeitplan können Sie
von mir heute leider nicht bekommen. Jedenfalls ist es
angesichts der aktuellen Bedrohungslage eine dringliche
Angelegenheit.
Ich kenne die Verlautbarung der Kollegen aus dem
Justizministerium und auch den exakten Hintergrund
nicht, aber ich habe Ihnen in meiner Antwort schon ge-
sagt, dass auch wir – da sind wir, glaube ich, die beiden
Häuser und die gesamte Bundesregierung, nicht weit
voneinander entfernt – auf hohe Datenschutzstandards
drängen. Wir haben uns bereits in der Vergangenheit für
relativ kurze Speicherfristen eingesetzt. Man kann auch
überlegen, ob man stärkere Vorgaben braucht, wenn es
um die Weitergabe von Daten an Drittstaaten und ähnli-
che Dinge geht. Verfahrensregelungen kann man ver-
schärfen. Es ist eine ganze Fülle von datenschutzfreund-
lichen Regelungen denkbar und richtig.
Herr Kollege Tressel, haben Sie dazu noch eine Nach-
frage? – Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 22, die ebenso vom Kol-
legen Tressel gestellt worden ist:
Hält die Bundesregierung die Fluggastdatenspeicherung
vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichts-
hofes vom April dieses Jahres zur Vorratsdatenspeicherungs-
richtlinie für mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar, und,
wenn ja, aus welchen Erwägungen?
D
Diese Frage bewegt sich im gleichen thematischen
Kontext und nimmt auf das Urteil des Europäischen Ge-
richtshofes zum Thema Vorratsdatenspeicherung Be-
zug. – Das Urteil des EuGH vom 8. April 2014 betrifft
natürlich in erster Linie die Richtlinie 2006/24/EG zur
Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten.
Darin hatte der Europäische Gerichtshof unter anderem
bemängelt, dass die Richtlinie keine ausreichenden Ga-
rantien für den Schutz der Grundrechte vorsah. Aus der
Entscheidung folgt nicht, dass ein EU-System zur Spei-
cherung von PNR-Daten gegen die Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union verstoßen würde.
Der Innenkommissar Avramopoulos hat erst kürzlich,
in seiner Anhörung vor dem Europäischen Parlament am
30. September, angekündigt, den Entwurf für eine EU-
PNR-Richtlinie auch im Lichte des Urteils des EuGH
zur Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu überprü-
fen. Unabhängig davon wird sich die Bundesregierung
im Rahmen der weiteren Beratungen zwischen dem
Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament über
den Entwurf der EU-PNR-Richtlinie, wie ich das eben
schon gesagt habe, für die Aufnahme weiterer Daten-
schutzgarantien einsetzen.
Der Herr Kollege Tressel hat dazu keine Nachfrage.Dann können wir den Geschäftsbereich des Innenmi-nisteriums abschließen. Ich darf an dieser Stelle dem
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5761
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
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Herrn Staatssekretär für die Beantwortung herzlich dan-ken.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. DieFrage 23 des Kollegen Hunko wird schriftlich beantwor-tet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Finanzen. Die Fragen 24 und 25 derKollegin Karawanskij werden schriftlich beantwortet.Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales. Für die Beantwor-tung steht die Parlamentarische StaatssekretärinLösekrug-Möller zur Verfügung.Ich rufe die Frage 26 der Kollegin Corinna Rüfferauf:Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, dieKosten der Unterkunft in einem ersten Schritt ab 2018 inHöhe von 5 Milliarden Euro und ab 2020 komplett aus Bun-desmitteln zu finanzieren, und welcher inhaltliche und zeitli-che Zusammenhang besteht aus Sicht der Bundesregierungzwischen einer solchen finanziellen Entlastung der Kommu-nen und der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe imSinne der UN-Behindertenrechtskonvention?G
Verehrte Kollegin Rüffer, ich darf Ihnen auf Ihre
Frage antworten: Nach dem Koalitionsvertrag sollen die
Kommunen im Rahmen der Verabschiedung eines Bun-
desteilhabegesetzes im Umfang von 5 Milliarden Euro
jährlich von den Kosten der Eingliederungshilfe entlastet
werden. Die Bundesregierung prüft auch den Vorschlag,
eine Entlastung der Kommunen über eine höhere Bun-
desbeteiligung an den Kosten der Unterkunft zu errei-
chen. Die Bundesregierung steht gleichzeitig zu ihrer
Zusage, in dieser Legislaturperiode den Entwurf eines
Bundesteilhabegesetzes zu erarbeiten, um das Teilhabe-
recht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention
weiterzuentwickeln.
Frau Kollegin, haben Sie dazu eine Nachfrage?
Ja. – Angesichts der Bedeutung dieses Gesetzge-
bungsvorhabens – unheimlich viele Menschen schauen
darauf: betroffene behinderte Menschen, die sie vertre-
tenden Verbände – ist es offensichtlich, dass ein Teil der
Dynamik, die im Gesetzgebungsprozess von Anfang an
wahrzunehmen war, damit zusammenhing, dass es eine
enge Verbindung zwischen der Reform der Eingliede-
rungshilfe, der Vorlage eines Bundesteilhabegesetzes auf
der einen Seite und der Entlastung der Kommunen auf
der anderen Seite gab. Der Vorschlag auf der Grundlage
des Schäuble-Scholz-Papiers, der jetzt im Raum steht,
geht in eine andere Richtung und sieht eine Entkoppe-
lung dieses Zusammenhanges vor; so viel zum Hinter-
grund.
Frau Nahles war heute Morgen im Ausschuss und hat
klar gesagt, dass das BMAS dem Vorschlag, ab 2020
100 Prozent der KdU zu übernehmen, kritisch gegen-
übersteht. Daraus resultiert jetzt meine Frage: Welche al-
ternativen Vorschläge werden gegenwärtig einer tieferen
Prüfung unterzogen, um die Weiterentwicklung der Ein-
gliederungshilfe im Sinne der UN-Behindertenrechts-
konvention mit der finanziellen Entlastung der Kommu-
nen zu verknüpfen? Welche Rolle spielt dabei
gegebenenfalls die stärkere Beteiligung der Sozialversi-
cherung?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
G
Ich kann Ihnen darauf gerne antworten. Auch ich war
heute im Ausschuss zugegen und habe die Ministerin ge-
hört. Für mich stand sehr im Vordergrund, dass sie gar
keinen Zweifel daran gelassen hat, dass ein Bundesteil-
habegesetz in dieser Legislatur nicht nur vorbereitet,
sondern auch verabschiedet wird. Jetzt gibt es einen
neuen Vorschlag über einen Finanzierungspfad. Ich
würde mich wiederholen und merke nur an: Dieser Vor-
schlag wird geprüft. Der Koalitionsvertrag enthält außer
der von mir zitierten Regelung keinen anderen Finanzie-
rungsweg.
Sie können versichert sein, dass wir in der fachlichen
Vorbereitung des Gesetzes sehr stark voranschreiten. Sie
wissen auch um den breiten Beteiligungsprozess, in den
wir eingestiegen sind. Das ist der gegenwärtige Stand
der Arbeit zu diesem aus der Sicht des Ministeriums
wichtigen Gesetzesvorhaben.
Frau Kollegin Rüffer, haben Sie noch eine zweite
Nachfrage? – Dann bitte ich Sie, diese zu stellen.
Genau. – Sie lautet wie folgt: Zieht die Bundesregie-
rung in Betracht, im Zuge des angekündigten Bundes-
teilhabegesetzes ein Teilhabegeld zu schaffen? Wenn ja:
Soll dieses Teilhabegeld in erster Linie der finanziellen
Beteiligung des Bundes an den Ausgaben der Träger der
Eingliederungshilfe oder der Schaffung eines Nachteils-
ausgleichs für Menschen mit Behinderung dienen?
G
Frau Kollegin Rüffer, vielen Dank für diese Frage. –Sie werden wissen, wir haben im Koalitionsvertrag zudiesem Thema aus gutem Grund einen Prüfauftrag ver-einbart. Wir sind in diese Prüfung eingestiegen. Sie istnoch nicht abgeschlossen. Wir haben noch kein Ergeb-nis. Deshalb kann ich Ihnen gar nicht sagen, worauf ge-nau das hinauslaufen wird. Wir befassen uns sehr ernst-haft mit dem Thema, aber es liegt noch kein Ergebnisvor.
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5762 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
(C)
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Wir kommendamit zum Ende der Fragestunde. Die vereinbarte Rede-zeit ist vorüber, und Sie haben auch noch Ihre beiden Zu-satzfragen stellen können. Ich danke der Frau Staats-sekretärin Lösekrug-Möller für das Bundeministeriumfür Arbeit und Soziales und beende damit die Frage-stunde.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:Vereinbarte Debatteanlässlich des 3. Jahrestages der Aufdeckungder NSU-Verbrechen am 4. November 2011Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort fürdie Bundesregierung Herrn Bundesminister Dr. Thomasde Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gut zweiJahre ist es her, da hielt Semiya Simsek, die Tochter ei-nes der ersten Mordopfer des NSU, bei der zentralen Ge-denkveranstaltung im Konzerthaus eine sehr bewegendeRede. Viele von uns waren dabei, und viele werden sichihr Leben lang daran erinnern. Ein Satz von ihr ist mirganz besonders in Erinnerung geblieben. Sie sagte:Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen GewissensOpfer sein.Dieser Satz fasst wie unter einem Brennglas das Ver-sagen des deutschen Staates, vielleicht aber auch unsererGesellschaft insgesamt, im Umgang mit dem NSU zu-sammen. Lange, viel zu lange hatten die Sicherheitsbe-hörden in die falsche Richtung ermittelt, die Lage falscheingeschätzt. Sie haben damit den Opfern und ihren Fa-milien – sicher unbeabsichtigt – im Ergebnis zusätz-liches Leid zugefügt. Es waren aber nicht lediglich ein-zelne Fehler, Ermittlungspannen, die dafür gesorgthaben, dass der NSU so lange unentdeckt bleibenkonnte. Nein, es waren auch die Strukturen und die Hal-tungen von Sicherheitsbehörden, von Verantwortlichen,die dazu führten, dass die Ermittlungen so lange auf dasUmfeld der Opfer begrenzt blieben.Unser Staat – das ist mehrfach gesagt worden, auchbei dieser Veranstaltung, auch durch die Verantwortli-chen der Sicherheitsbehörden selbst – hat mit diesemVersagen Schuld auf sich geladen. Diese Schuld und das,was wir den Opfern und ihren Familien damit angetanhaben, können wir nicht ungeschehen machen. Es war,es ist und es bleibt deshalb unsere erste Pflicht, weiteraufzuklären, wie es zu diesem fürchterlichen Versagenkommen konnte, aufzuklären, welche Strukturen undHaltungen dieses Versagen begünstigt haben. Zugleichkommt es darauf an, das für die Zukunft abzustellen.
Vieles ist getan worden, um Licht in das Dunkel zubringen, um besser zu werden, vor allem auch durch dieParlamente. Seit drei Jahren wurden und werden die Ver-säumnisse von insgesamt sechs parlamentarischen Un-tersuchungsausschüssen aufgearbeitet. Über die Arbeitdes Untersuchungsausschusses dieses Parlaments habenwir viel geredet: 47 kluge, weitreichende und einstim-mige Empfehlungen, die die Koalition komplett umset-zen möchte. Auf Länderseite haben die Untersuchungs-ausschüsse in Thüringen und Sachsen ihre Arbeitbeendet. Die Untersuchungsausschüsse in Hessen undNordrhein-Westfalen nehmen ihre Arbeit auf. Heute hatBaden-Württemberg beschlossen, auch einen Untersu-chungsausschuss einzusetzen.Das Verfahren vor dem OLG München – am Anfangauch kritisch begleitet; es hieß: zu lang, zu aufwendig;gefragt wurde: „Wie ist es mit der Presseberichterstat-tung?“; wir erinnern uns daran – mit fünf Angeklagten,90 Nebenklägern und 600 Zeugen zeigt in seinem bishe-rigen Verlauf eindrucksvoll, mit welcher großen Ernst-haftigkeit und Sorgfalt Gericht und Bundesanwaltschaftan der Aufklärung dieser konkreten Taten arbeiten. Dasist langsam, aber, glaube ich, gerade wegen der Gründ-lichkeit auch im Interesse der Opfer.Im Hintergrund ermitteln Bundesanwaltschaft undBundeskriminalamt unermüdlich und akribisch weitergegen potenzielle weitere Täter. Sie gehen zahllosenSpuren nach, sehen sich Asservate immer und immerwieder im Lichte aktueller Erkenntnisse an. Bund undLänder arbeiten gemeinsam unaufgeklärte Mordfälleauf, die lange zurückliegen, in der Hoffnung, sie dochnoch aufzuklären, indem man jetzt einen anderen Blickauf denkbare Ursachen, auch auf rechtsextremistischeTathintergründe richtet.Unmittelbar nach der Entdeckung der NSU-Terror-zelle sind die Behörden des Bundes im Verbund mit denLändern aktiv geworden. Die Umsetzung der Empfeh-lungen des Untersuchungsausschusses des DeutschenBundestages läuft auf Hochtouren. Das gilt für die Jus-tiz- und Polizeibehörden, aber auch für die Nachrichten-dienste. Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismusund des Rechtsterrorismus hat sich in den vergangenendrei Jahren im Bund und in den Ländern sehr viel verän-dert: angefangen von der innerbehördlichen Organisa-tion über die Zusammenarbeit der Behörden bis zur Aus-und Fortbildung in vielen Bereichen. Stellvertretend fürviele Einzelmaßnahmen steht das Gemeinsame Abwehr-zentrum gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus inKöln. Nach rund zwei Jahren hat es sich zu einer unver-zichtbaren Kommunikations- und Kooperationsplatt-form für die Länder und den Bund entwickelt. Das be-deutet: Heute wissen wir besser, wer die sogenanntengefährdungsrelevanten Personen im Bereich rechts sind,auf wen wir also besonders achten müssen.Auch bei Empfehlungen, die nur von Bund und Län-dern gemeinsam umgesetzt werden können, sind wir aufeinem guten Weg. Viele Änderungen bei der Zusammen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5763
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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arbeit im Verfassungsschutzverbund sind durch die In-nenministerkonferenz bereits beschlossen worden. Auchdas Definitionssystem „Politisch motivierte Kriminali-tät“ – das war ja, Herr Präsident, eben noch Gegenstandder Fragestunde – wird zurzeit zusammen mit den Län-dern grundlegend auf Verbesserungsbedarf geprüft.Das Gesetz über die Arbeit des Bundesamtes für Ver-fassungsschutz ist mit den Ländern weitgehend erörtert,und wir legen es in Kürze, das heißt in wenigen Wochen,vor, sodass es dann im Deutschen Bundestag beratenwerden kann. Da geht es insbesondere um die Beschrei-bung und Führung von V-Leuten und die Informations-weitergabe – all das Dinge, die wir zu kritisieren hatten.Auch bei der Aus- und Fortbildung unserer Mitarbei-ter besteht ein großer Handlungsbedarf. Darauf weisenauch die Mitglieder des Untersuchungsausschusses im-mer wieder hin. Wir müssen kontinuierlich um Mitarbei-ter werben, die eigene Migrationserfahrungen haben.Wir müssen das Versagen bei den Ermittlungen gegenden NSU auch im Hinblick auf unsere Schulungsmaß-nahmen aufarbeiten, gerade mit Blick auf junge Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter. Sie müssen sich mit derFrage beschäftigen: Wie konnte das geschehen?Wir brauchen einen anderen Umgang mit Fehlern.Auch das ist ein Prozess, bei dem wir sicher noch nichtda angekommen sind, wo wir hinwollen. Aber wir habenim Bund und in den Ländern begonnen, Fehler aufzuar-beiten.Wir müssen unsere eigenen Mitarbeiter nachhaltigdazu ertüchtigen und ermutigen, Fehler und Zweifel ander Richtigkeit des bisher eingeschlagenen Weges auchanzusprechen. Nur so können wir aus den Fehlern unddem Versagen im Umgang mit dem NSU lernen.Semiya Simsek sprach vor zwei Jahren von ihrerTrauer um den ermordeten Vater und davon – das hatmich genauso bewegt –, dass Deutschland immer nochihre Heimat sei und bleiben werde, auch wenn sie, diesie sich noch nie in ihrem Leben Gedanken über Integra-tion gemacht habe, erkennen musste, dass es hier in un-serem Land Menschen gibt, die zu Mördern werden, nurweil jemand aus einem anderen Land stamme.Gerade vor diesem Hintergrund – damit will ichschließen – ist es für mich unerträglich, dass vor geradeeinmal zwei Wochen randalierende Rechtsextremistengemeinsam mit anderen gewaltbereiten Chaoten in Kölnrechtsradikale Parolen gebrüllt haben und die Menschenin der Kölner Innenstadt in Angst und Schrecken ver-setzt haben, Polizisten verletzt haben, und all das mit Al-kohol und mit Ansage. Das können und werden wir nichtdulden.
Wir können es erst recht nicht dulden, dass sich dieseRechtsextremisten unter dem Deckmantel des Kampfesgegen Islamisten in unseren Städten zusammenrotten.Hier muss unser Staat hart reagieren, um Grenzen aufzu-zeigen. Wir sind und bleiben eine wehrhafte Demokra-tie, und wenn unsere Polizei, wenn unser Staat und wennunser Zusammenleben derart angegriffen werden, somüssen wir alle Kräfte bündeln, um gemeinsam unserfriedliches Zusammenleben zu verteidigen. Das kannauch mal ein Verbot einer Demonstration sein, vor allenDingen, wenn sich absehen lässt, dass sie wahrscheinlichnicht friedlich verläuft. Ich möchte die Behörden in Han-nover ausdrücklich ermuntern, diesen Weg so zu prüfen,dass ein solches Verbot möglichst auch vor Gericht Be-stand hat.
Aber ein Verbot einer Demonstration allein löst dasProblem natürlich auch nicht. Wir brauchen eine gesell-schaftliche Isolierung von Gewalt als Mittel innenpoliti-scher Meinungsbildung. Toleranz und Vielfalt, Freiheitund Menschenwürde bleiben prägend für unser Land.Toleranz endet dort, wo Vielfalt, Freiheit und Menschen-würde gewaltsam angegriffen werden. Dies gemeinsamanzugehen, auch das sind wir den Opfern des NSUschuldig.
Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Vor 14 Monaten haben wir hier den Abschlussbe-richt des Untersuchungsausschusses zum NSU-Nazi-Mord-Desaster und zum Staatsversagen debattiert.Mein Fazit seither: Die Fragezeichen sind nicht weni-ger, sondern mehr geworden. Der Aufklärungswille derBehörden verharrt weiterhin nahe null. Und: Von den be-schlossenen Veränderungen ist so gut wie nichts tatsäch-lich schon abschließend umgesetzt. Kurzum: Das Staats-versagen geht weiter, so als wäre nichts geschehen. Dasist politisch nicht hinnehmbar, aber auch menschlichnicht.Sie sehen, Herr Minister: Ich befinde mich im deutli-chen Widerspruch zu Ihrer Aussage. Ich komme nachhernoch zu Beispielen.Gestern hat Barbara John, die Ombudsfrau für dieÜberlebenden und die Angehörigen der Opfer des NSU,ein Buch mit dem Titel Unsere Wunden kann die Zeitnicht heilen vorgestellt. Darin beschreiben Angehörigeder NSU-Mordopfer, was ihnen seither widerfahren istund wie mit ihnen umgegangen wurde von Staats wegen.Die Schilderungen sind sehr bedrückend. Ich gestehe:Beim Lesen ergriffen mich Wut und Scham. Seitdemgeht mir das Wort „Opferperspektive“ nur noch schwerüber die Lippen. Es ist mir zu distanziert, zu kalt, zudeutsch. Aber ich gestehe: Ich habe noch kein besseresgefunden.
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5764 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Petra Pau
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Dennoch oder gerade deshalb empfehle ich diesesBuch dringend. Es geht um Menschen und um Mensch-lichkeit. Sie rangieren am Rand der Aufklärung und ge-hören endlich ins Zentrum.Bei fast allen Betroffenen des NSU-Desasters ist dasVertrauen in den deutschen Rechtsstaat tief erschüttert.Wenn es doch noch einen Rest von Vertrauen gibt, hängter an einem sehr seidenen Faden.Sie schauen auch mit Sorge auf den NSU-Prozess inMünchen. Als Innenpolitikerin merke ich an: Wir habennur einen Rechtsstaat, nicht etwa drei, also nicht etwa ei-nen für Urdeutsche, einen für Migranten und einen drit-ten für Asylsuchende. Es gibt zwar für alle drei Gruppenunterschiedliche Rechte, was schon bedenklich genugist, aber spätestens wenn es um Leib und Leben geht, giltder Rechtsstaat entweder für alle oder für keinen. Des-halb betreffen die Schilderungen in diesem Buch unsalle.Umso mehr bringt es mich in Rage, wenn Behördenoder auch Regierungen immer noch versuchen, Untersu-chungen zum NSU-Komplex zu behindern oder gar zuverhindern. Beispiele dieser Art gibt es viele – viel zuviele. Das vorerst jüngste stammte aus Brandenburg, wosich der Verfassungsschutz weigerte, einen ehemaligenV-Mann mit NSU-Bezug vor dem Münchener Gerichtbefragen zu lassen. Ich finde: Wer so agiert, hat keinerleiRespekt vor den NSU-Opfern und ihren Angehörigen.
Außerdem treiben diese Hintertreiber die Bundes-kanzlerin Angela Merkel damit zum Meineid, ohne dasssie etwas dagegen tun kann. Denn sie hat im Februar2012 bedingungslose Aufklärung versprochen. Davonkann bislang keine Rede sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt im Bundes-tag aktuell keinen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex. Gleichwohl ist dieser Komplex für mich nichtabgeschlossen. Ich weiß mich darin einig mit der Kol-legin Eva Högl von der SPD, dem Kollegen ClemensBinninger aus der CDU, der Kollegin Mihalic von Bünd-nis 90/Die Grünen und natürlich vielen anderen hier imHaus.Aber: Der Innenausschuss des Deutschen Bundesta-ges hat dieses Jahr das Gros seiner Zeit dem NSU-Kom-plex gewidmet.
Das kann kein Dauerzustand sein; denn die innenpoliti-sche Palette ist viel breiter. Deshalb haben wir jetzt ge-meinsam eine Lösung gefunden, die den Innenausschussentlastet, ohne die offenen Fragen – auch nicht dieneuen – aus dem Blick zu nehmen.Lassen Sie mich zur Illustration zwei neue Fragen an-deuten. Im Frühjahr starb plötzlich ein ehemaligerV-Mann mit NSU-Bezug namens „Corelli“, ausgerech-net im Zeugenschutzprogramm und just, als seine Aus-sagen gefragt waren. Die Umstände sind bis heute unklarund die Darstellungen des Bundeskriminalamtes und desBundesamtes für Verfassungsschutz dazu wenig über-zeugend; ich habe mich jetzt sehr bemüht, das diploma-tisch zu formulieren.
Im selben Zusammenhang wird bekannt, dass der Ver-fassungsschutz seit Jahren über CDs bzw. Datenträgeraus der Naziszene – eben auch aus dem Hause „Corelli“ –verfügt, die Bezüge zum NSU hatten. Wurden diese le-diglich leichtfertig missachtet, oder wussten die Behör-den lange vor dem 4. November 2011, dem Auffliegender NSU-Bande, mehr, als sie bislang einräumen?Die Brisanz dieser Fragen dürfte klar sein. Deshalbwiederhole ich auch hier für die Linke: Erstens. DerNSU-Komplex und das Staatsversagen sind für uns nichtabgeschlossen; wir bleiben dran. Zweitens. Die Ämterfür Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulö-sen, und die unsägliche V-Mann-Praxis ist sofort zu be-enden.
Vor wenigen Wochen hatte die Fraktion Die Linke zueiner öffentlichen Fachtagung in den Bundestag zumThema „NSU-Komplex: Bilanz und Ausblick“ eingela-den. Es ging um Rassismus in der Gesellschaft, um Ent-wicklungen in der Naziszene, um Probleme in Sicher-heitsbehörden, um Initiativen gegen Rechtsextremismus,Rassismus und Antisemitismus und vieles mehr. Die Ta-gung hat zu zwei Erkenntnissen geführt, die ich hier wie-derholen möchte, obwohl sie nicht neu sind:Erstens. Die rechtsextremen Gefahren hierzulandewerden offiziell noch immer unterschätzt und herunter-gespielt. Herr Minister, Sie haben das Thema bereits an-gesprochen: Wer die aktuellen Ausschreitungen vonHooligans und Nazis gegen Salafisten lediglich als Or-gien unter Gewalttätern brandmarkt, greift zu kurz. Esgeht um militanten Nationalismus und Rassismus undum den Missbrauch von Religionen.Zweitens. Dagegen agieren Initiativen für Demokratieund Toleranz, regional und vor Ort. Ihre Förderung istnoch immer kurzatmig und unzureichend. Hier habenwir vor 14 Monaten fraktionsübergreifend Besserung ge-fordert. Der Entwurf des Bundeshaushaltes 2015 hinge-gen birgt sogar Verschlechterungen – eine schwarzeNull, die sich als braunes Plus erweisen könnte.Beides darf nicht so bleiben, weder die Unterschät-zung des Rechtsextremismus noch die mangelnde Unter-stützung der Initiativen dagegen. Dafür sollten wir unsüber alle Fraktionen hinweg einsetzen.Ich danke Ihnen.
Für die Bundesregierung spricht jetzt BundesministerHeiko Maas.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5765
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Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Als die Verbrechen des NSU vordrei Jahren bekannt wurden, waren alle von uns vor allenDingen eines, nämlich fassungslos: fassungslos ange-sichts der brutalen Taten, aber auch fassungslos, weil esuns nicht gelungen war, die Morde früher zu stoppen undunsere Mitbürger besser zu schützen, fassungslos auchwegen des Versagens unseres Staates und seiner Behör-den. Wir waren aber auch fassungslos, dass neben demLeid des Verlustes eines nahen Angehörigen anschlie-ßend noch das Leid durch Demütigung hinzukam, weilman vielfach aus Opfern Täter gemacht hat, etwa als siein den Ermittlungen in den Zusammenhang mit der orga-nisierten Kriminalität gestellt worden sind. Man mussganz klar sagen, sehr geehrte Frau Pau: Das Leid, dasTerroristen angerichtet haben und das durch das Staats-versagen verstärkt wurde, können wir nicht wiedergut-machen. Aber was wir tun müssen, ist, dafür zu sorgen,dass sich das nie wiederholt.
Damit sich solche Taten nicht wiederholen, sind alle ge-fordert, die Rechtsprechung, die Gesetzgebung, die Exe-kutive, aber auch unsere Gesellschaft, wir alle.Die Rechtsprechung handelt zurzeit in München. Dortfindet vor dem Oberlandesgericht der NSU-Prozess statt.Das ist kein einfaches Verfahren. Wir befinden uns beim155. Verhandlungstag. Die Beteiligten bei Gericht sindmit großer Sorgfalt dabei, die schrecklichen Verbrechenaufzuarbeiten. Dies ist nicht nur sinnvoll, sondern bitternotwendig; denn es trägt dazu bei, neben der Aburtei-lung von Straftaten auch die Wahrheit ans Licht zu brin-gen, vor allen Dingen das, was noch nicht das Licht derWelt gesehen hat. Das ist wichtig für die Angehörigender Opfer, und es hilft vor allen Dingen uns, verloren ge-gangenes Vertrauen in den Rechtsstaat zurückzugewin-nen.Wie wir die Gesetze ändern müssen, damit rassisti-sche oder fremdenfeindliche Taten künftig früher er-kannt und vor allen Dingen auch verhindert werden, da-rüber werden wir zum Beispiel in der nächsten Wochehier im Plenum miteinander diskutieren. Der Gesetzent-wurf der Bundesregierung liegt vor. Er hat vor allen Din-gen ein Ziel: In Zukunft sollen die Extremismusexpertenvom Generalbundesanwalt häufiger und früher in Er-mittlungen eingreifen und sie auch übernehmen können.Schließlich müssen wir darüber hinaus auch die ganzalltägliche Zusammenarbeit der Sicherheitsbehördenverbessern. Auch das ist ein Ergebnis des Untersu-chungsausschusses gewesen. Staatsanwaltschaften müs-sen über die Arbeit des Verfassungsschutzes besser in-formiert werden und häufiger den Kontakt mit diesenÄmtern suchen. Außerdem wird der Generalbundesan-walt auch der Länderjustiz helfen, rechtsterroristischeZusammenhänge besser erkennen zu können: WelcheCodes und Symbole nutzen die Rechtsextremisten? Wieerkennt man, dass sich Verdächtige auf ein Leben in derIllegalität vorbereiten? Diese und viele weitere Informa-tionen müssen und werden wir innerhalb der Justiz bes-ser aufarbeiten, weiter verbreiten und einfacher nutzbarmachen, damit rechtsextreme Taten als solche rechtzei-tig erkannt und auch verhindert werden können.Meine Damen und Herren, vor drei Jahren wurden dieNSU-Verbrechen aufgedeckt. Ein Jahrestag – das klingtein bisschen nach Geschichte. Tatsache ist aber leider:Rechte Gewalt ist keine Geschichte, sondern brennendaktuell. Rechte Hooligans und militante Neonazis habendas kürzlich mitten in Deutschland deutlich gemacht;Herr de Maizière hat es bereits angesprochen. Diese Ge-walttaten – auch das will ich in aller Deutlichkeit sa-gen – waren auch eine Kampfansage an unseren Rechts-staat. Ich sage deshalb sehr deutlich: Wer die Gewalt aufunsere Straßen trägt, der wird die ganze Härte unseresRechtsstaates zu spüren bekommen.
Wer die Versammlungsfreiheit für Gewaltexzesse miss-braucht, für den wird es im Rechtsstaat keine Toleranzgeben. Wir werden deshalb aber ganz sicherlich nichtdas Demonstrationsrecht einschränken müssen. Es ist alsVerlängerung der Meinungsfreiheit in einer Demokratieunantastbar.
Wir brauchen auch nichts einzuschränken; denn Verab-redungen zur Gewaltausübung stehen ganz sicherlichnicht unter dem Schutz von Artikel 8 des Grundgesetzes.Ganz im Gegenteil: Landfriedensbruch ist die bessereBezeichnung, und Landfriedensbruch kann mit Frei-heitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden. Ich binmir absolut sicher, dass Polizei und Justiz diese Gewalt-täter entschlossen ermitteln und auch bestrafen werden.Und ja, wenn das zutrifft, was wir in den letzten Wo-chen wahrgenommen haben, wenn Hooligans undRechtsextreme zukünftig nachhaltig gemeinsame Sachemachen, dann werden wir auch überlegen müssen, obauch Hooligans zukünftig ein Thema für den Verfas-sungsschutz werden können. Wir brauchen ein gutes undfunktionierendes Frühwarnsystem gegen solche Gewalt.Gleichzeitig müssen wir aber auch verhindern, dassjunge Leute in die rechte Szene abdriften. Deshalb ist diePräventionsarbeit so wichtig. Anfang 2015 startet dasneue Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Es ist mitmehr als 30 Millionen Euro ausgestattet und schafft Pla-nungssicherheit für die kommenden fünf Jahre. Dafürhat die Kollegin Schwesig mit gesorgt.Rechtstaatliche Härte gegen Gewalttäter und klugePrävention, damit niemand zum Täter wird – ich meine,das sind die richtigen Antworten auf die rechte Gewalt.Diese Antworten sind wir den Opfern des NSU auch bit-ter schuldig.Ich danke Ihnen.
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5766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
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Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern
vor drei Jahren kamen Ermittlungsbehörden den NSU-
Mördern auf die Spur – und zwar nachdem ein Banden-
mitglied ihr Wohnhaus in die Luft gesprengt hatte und
zwei weitere in einem Wohnwagen – mittlerweile muss
man sagen: vermutlich – Selbstmord begangen haben.
Zuvor konnten sie unbehelligt mehr als ein Jahrzehnt
durch Deutschland ziehen und morden, Angst und
Schrecken verbreiten, Familien ins Unglück stürzen.
Ich stehe mit vielen der Familien der Opfer in Kon-
takt. Jede geschredderte Akte, jede mit Geheimschutz
begründete Aktenschwärzung und jeder verhinderte
Zeuge ist ein weiterer Stich ins Herz der Opferangehöri-
gen, immer wieder aufs Neue.
In letzter Zeit frage ich mich immer häufiger: Leistet
sich eigentlich die Politik einen Nachrichtendienst und
den entsprechenden Apparat, um Gefahren zu erkennen
und abzuwehren, oder haben wir es hier mittlerweile mit
einem gefährlichen Eigenleben der Nachrichtendienste
zu tun? Ich stelle mir die Frage: Wer hat hier eigentlich
gerade das Sagen: wir, die dafür vom Volk Gewählten,
oder der Apparat? Ich finde, diese Frage muss sich jeder
hier in diesem Hause stellen.
Ich will Ihnen eine weitere Frage der Opferangehöri-
gen nicht vorenthalten. Es gibt sehr, sehr gute Berichte
aus Thüringen. Ich war vor Ort, als der Bericht des Un-
tersuchungsausschusses dort fraktionsübergreifend vor-
gestellt wurde. Es gibt einen ausgezeichneten Bericht
dieses Hauses. Auch dieser wurde mit allen Fraktionen
gemeinsam erstellt. Es gibt ein sehr gutes Buch von
Stefan Aust und Dirk Laabs. Aber was es nicht gibt, ist,
dass die Verantwortlichen irgendwo und irgendwann
einmal auch zur Rechenschaft gezogen werden. Sicher,
einige Behördenchefs mussten gehen. Aber was ist ei-
gentlich mit dem Apparat selbst? Steht der Apparat viel-
leicht außerhalb der Gesetze, Herr de Maizière? Wo sind
denn die strafrechtlichen Ermittlungen? Wo gibt es ein
Disziplinarverfahren? Leute werden umgesetzt, okay.
Aber reicht uns das wirklich?
Kann das ein frei gewähltes Parlament zufriedenstellen?
Vielleicht wäre eine Voraussetzung dafür, dass wir auf
diese Frage künftig anders antworten, dass wir endlich
aufhören, von einer NSU-Zelle zu sprechen, sondern
endlich darüber sprechen, was wirklich stattfand, näm-
lich darüber, dass wir es hier mit einem rechtsradikalen
Netzwerk zu tun haben. Ich habe Ihnen sehr aufmerksam
zugehört, Herr Innenminister. Ihren Worten konnte man
entnehmen, dass es sich möglicherweise nicht nur um
drei Täter handelt. Aber wenn stimmt, was der Innen-
minister hier gesagt hat, dann heißt das ja im Klartext:
Da draußen laufen rechtsradikale Mörder herum. Was
heißt das dann? Was folgt daraus? Drei Jahre nachdem
der NSU aufgedeckt wurde, haben wir mehr Fragen als
Antworten.
Ich will mit einem weiteren Mythos aufräumen. Der
Verfassungsschutz war – das sage ich auch an die eigene
Adresse – nicht so dumm, wie manche es dargestellt ha-
ben, und schon gar nicht faschistoid oder so etwas. Ganz
offensichtlich waren die V-Männer sehr nahe dran; viel-
leicht war der Verfassungsschutz in Gänze deutlich nä-
her an den Mördern dran, als wir wissen.
Eines ist jedenfalls bereits heute klar: Die These, so-
bald die drei Täter – von denen zwei Selbstmord begin-
gen und die Dritte gerade in München vor Gericht steht
– endlich verurteilt sind, ist der Fall gelöst, gehört ins
Reich der Märchen. Damit wird man den Fall nicht auf-
klären, meine Damen und Herren.
Mit Blick auf mein eigenes Bundesland will ich sa-
gen: Die Theorie bzw. These, dass mit der Polizeibeam-
tin Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer getroffen
wurde und dieser Fall aufgeklärt sei, da man jetzt die
drei Täter habe, darf weder den Innenminister noch den
Landtag von Baden-Württemberg zufriedenstellen. Da-
rum, glaube ich, kann ich im Namen von uns allen hier
im Hause sagen: Wir begrüßen, dass es jetzt endlich
auch in Baden-Württemberg einen Untersuchungsaus-
schuss gibt. Ich freue mich schon auf die Zusammenar-
beit mit den Kolleginnen und Kollegen.
Zum Schluss will ich ein Wort des Dankes sagen, und
zwar an all diejenigen, die hier im Haus immer noch die
Geduld und die Kraft haben, an diesem Fall festzuhalten.
Ich will aber ausdrücklich auch „NSU-Watch“ und „Tat-
ort Theresienwiese“ danken, ohne die wir viele Erkennt-
nisse nicht hätten. Ich will den Medien, den Journalisten
und denjenigen danken, die bei der Aufklärung große
Verdienste haben und den Prozess in München nach wie
vor besuchen, auch jetzt, da er nicht mehr auf Seite 1 der
Zeitungen zu finden ist.
Meine Damen und Herren, es wird uns nur gelingen,
das Vertrauen der Angehörigen der Opfer zurückzuge-
winnen, wenn wir über diesen Fall nicht nur in Sonn-
tagsreden und wichtigen Debatten reden, sondern wenn
wir das nächste Mal auch sagen können, was tatsächlich
geschehen ist, wer es war und welche Konsequenzen da-
raus gezogen werden.
Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege ClemensBinninger.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5767
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Ernsthaftigkeit der Debattenbeiträge aller vorhe-rigen Redner hat, glaube ich, deutlich gemacht, dassdieses Parlament dem Thema, die Verbrechen des NSUmöglichst umfassend aufzuklären und den Opfern, sogut es eben geht, zu Genugtuung zu verhelfen, überfrak-tionell ein großes Interesse beimisst – nicht erst heute,am Jahrestag, sondern, wie ich glaube, immer wieder inden letzten drei Jahren. Dafür gilt der Dank allen. Er giltauch Ihnen, Herr Minister de Maizière, weil Sie heute,wie ich finde, sehr klar und ohne es nur einen Deut abzu-schwächen, für eine Zeit Verantwortung übernommenhaben, die größtenteils gar nicht in Ihrem Verantwor-tungsbereich liegt, und deutlich gemacht haben, dasshier schwere Fehler passiert sind.Ich will aber auch sagen: Es gab nicht den einen Feh-ler, es gab nicht die eine Ursache. Fehler sind in diesemZeitraum von 13 Jahren nahezu überall passiert: bei derPolizei, beim Verfassungsschutz, bei der Justiz – auchdie Gesellschaft hat es nicht gesehen –, auch bei derPolitik, in den Parlamenten. 4 der 47 Empfehlungen, dieder Untersuchungsausschuss ausgesprochen hat, richtensich übrigens ganz gezielt an das Parlament. Es stehtdort unter anderem sinngemäß drin: Eine wirksame par-lamentarische Kontrolle der Arbeit der Nachrichten-dienste auf dem Gebiet der Bekämpfung des Rechts-extremismus fand nicht statt. – Deshalb haben auch wirhier im Parlament Konsequenzen gezogen und das Parla-mentarische Kontrollgremium reformiert. Wir haben denReformprozess, der schon in der letzten Legislatur ange-stoßen worden ist, fortgesetzt. Wir haben eine Taskforcegebildet, wir haben wirkliche Kontrollaufträge definiert,und wir werden uns unter anderem sehr viel intensiverüber das Instrument der V-Leute beugen als in der Ver-gangenheit.Wenn wir in den Spiegel schauen, stellen wir fest: Wirmüssen ein Weiteres tun. Als der NSU bzw. das Trio am4. November 2011 aufflog, war sehr schnell klar: Dassind Bankräuber und – weil man die Dienstwaffen imWohnmobil gefunden hat – die mutmaßlichen Polizis-tenmörder aus Heilbronn. Aber niemand – niemand inden Medien, niemand in den Parlamenten, niemandsonst irgendwo – hat in den Tagen danach den Gedankenerwogen: Könnten das auch die Täter der – so wurdensie damals ja noch genannt – Ceska-Mordserie sein?Diesen Gedanken hat niemand geäußert, weder am5. noch am 6. noch am 7. noch am 8. November 2011.Erst als am 9. November die Ceska im Brandschutt vordem Haus in Zwickau gefunden wurde, war eine ganzandere Dimension des Verbrechens da. Es muss uns zudenken geben, dass wir nicht einmal, als dieses Trio na-mentlich präsent war und mit einem Verbrechen in Ver-bindung gebracht wurde, die richtige Ahnung hatten.Das heißt für uns alle: Wir alle haben in den vergange-nen Jahren das Phänomen des gewaltbereiten bewaffne-ten Rechtsextremismus unterschätzt. Wenn wir eineLehre ziehen wollen, dann doch die, dass sich diese fa-tale Unterschätzung nicht wiederholen darf.
Ich will nicht noch einmal vertieft auf die Fehler einge-hen; denn das haben wir schon an vielen Stellen ge-macht.Herr Kollege Özdemir, ich begrüße ebenfalls aus-drücklich, dass endlich auch in Baden-Württemberg einUntersuchungsausschuss eingesetzt worden ist. Ich habenie verstanden – Sie auch nicht; da waren wir uns voll-kommen einig, obwohl wir unterschiedlichen Parteienangehören –, warum man in dem Land, in dem 52 Perso-nen zum NSU und zum NSU-Umfeld nachweislich Kon-takte gehabt haben, gesagt hat: Das Parlament muss dasnicht untersuchen. Der Innenminister deckt das mit ei-nem Bericht ab, und dann lassen wir es gut sein. – Dashaben wir beide nie verstanden. Insofern ist die heutigeEntscheidung eine gute und richtige Entscheidung.
Die Fehler sind genannt worden: Opfer wurden noch-mals zu Opfern gemacht, schlechte Zusammenarbeitzwischen Polizei und Verfassungsschutz, Unterschät-zung des gewaltbereiten Rechtsextremismus, schlechteInformationsweitergabe usw. Wichtig ist jetzt, dass wiruns immer wieder fragen, ob wir daraus gelernt haben.Ich will deshalb auf ein aktuelles Thema zu sprechenkommen, Herr Minister. Ein Problem bei der Bekämp-fung des Rechtsextremismus war in der Vergangenheit,dass wir geglaubt haben, immer alles in Schubladen ste-cken zu müssen. Wir haben für alles einen Begriff undeine Organisation gesucht. Da packt man es hinein, unddann hat man es im Blick. Dass dahinter häufig Perso-nennetzwerke stecken, geht dabei ein bisschen verloren.Deshalb werden wir uns jetzt sehr gründlich ansehenmüssen: Was steckt hinter der Bewegung „Hooligans ge-gen Salafisten“? Ist das ein neues Instrument für Neona-zis, um hier mehr Aktion zu finden? Ist das eine Vermi-schung der Szenen? Mischen noch andere mit? Ichempfehle uns, nicht zu früh einen Begriff dafür zu ver-wenden und das einer bestimmten Schublade zuzuord-nen. Vielmehr sollten wir uns sehr genau ansehen, wases damit auf sich hat. Nur dann kann der Rechtsstaatrichtig, treffsicher und zielgenau agieren und solcheUmtriebe, die wir alle auf unseren Straßen nicht wollen,verhindern und auch für die Zukunft ausschließen.Wir sind heute an einem bestimmten Punkt angelangt.Sie haben den Großteil Ihrer Rede darauf verwandt, HerrKollege Özdemir. Ich will auch ein paar Sekunden da-rauf verwenden und aufzeigen, dass es hier einen über-fraktionellen Zusammenhalt gibt. Wir sind nicht beiallem einer Meinung; es wäre unseriös, so etwas zu be-haupten. Wir müssen heute aber auch sagen, dass nochnicht alle Fragen geklärt sind. Wir haben das bereitsnach der Arbeit des Untersuchungsausschusses gesagt.Da hatten wir nicht genügend Zeit. Wir sagen das auchangesichts der Gerichtsverhandlung in München. Es sindnoch viele Fragen offen, die auch die Opferfamilien be-wegen. Diese bitten uns dringend darum, Antworten aufdiese Fragen zu finden.Wir sind dabei keine Ersatzermittler. Manchmal heißtes: Warum kümmert ihr euch jetzt schon wieder darumim Innenausschuss, im Kontrollgremium und im Parla-
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5768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014
Clemens Binninger
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ment? Das ist doch Sache der Ermittlungsbehörden. Wirsind natürlich keine Ermittlungsbehörde und auch keineErsatzermittler. Aber auch uns, dem Deutschen Bundes-tag, liegt die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger indiesem Land am Herzen. Außerdem ist es unsere Auf-gabe, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass offene Fra-gen im Zusammenhang mit einer solchen Verbrechens-serie geklärt werden, dass wir auf Antworten drängen,dass wir das Thema im Blick haben und mit den Instru-menten arbeiten, die wir haben, zum Bespiel den Son-derermittler im Geheimdienstgremium und die Bericht-erstatterrunde im Innenausschuss. Wir leisten alsDeutscher Bundestag unseren Beitrag. Wir haben das inden vergangenen drei Jahren getan und werden es auchin Zukunft tun im Interesse eines friedlichen Zusammen-lebens aller Menschen in diesem Land. Das ist unsereAufgabe.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Gemeinsam erinnern wir uns heute andie Aufdeckung der grausamen Terrorserie des NSU.Die Familien und Freunde der Opfer – das haben heuteschon viele völlig zutreffend beschrieben – werden dassicherlich niemals verwinden können. Auch drei Jahredanach stehen wir tief in der Verantwortung, wirklichrückhaltlos aufzuklären, wie es zu diesem eklatantenVersagen der Sicherheitsbehörden kommen konnte.Einige Details sind mittlerweile bekannt. Andere da-gegen wurden hemmungslos geschreddert. Die unvoll-ständige Aufarbeitung ist ein unfassbarer Skandal, dermit jedem weiteren Tag größer und größer wird. Genauan diesem Punkt würde ich mir wünschen, dass die Bun-deskanzlerin – sie ist leider heute nicht anwesend – dieAufarbeitung bei den Behörden höchstpersönlich ein-fordert. Frau Merkel hat – und das war vollkommenrichtig – den Familien der Opfer im Februar 2012 rück-haltlose Aufklärung versprochen. Sie steht dafür persön-lich im Wort und damit auch in der Verantwortung.
Deshalb hätte ich auch gerne gewusst, wie das allesheute aus ihrer Sicht zu bewerten ist. Hat das Bundesamtfür Verfassungsschutz bisher wirklich alles getan, um dieAufklärung im Parlament nach Kräften zu unterstützen?Was ist zum Beispiel mit der Frage, ob der Begriff „NSU“dort früher schon bekannt gewesen ist? Was ist mit denV-Leuten oder mit der jetzt aufgetauchten NSU-CD, dieseit Jahren beim Bundesamt für Verfassungsschutz ir-gendwo herumgelegen hat? Kann das alles so richtigsein?Wenn die Integrationsbeauftragte – sie wird gleichauch noch in dieser Debatte sprechen – diese Meinungzu haben scheint und sagt, dass die Behörden bereits aufdie Fehler von damals reagiert hätten, dann kann ich nursagen – und ich werde es nicht so diplomatisch ausdrü-cken wie die Kollegin Pau –: Die Reaktion der Behör-den, die ich wahrnehme, ist vor allem Mauern, Verne-beln und Vertuschen.
Das hat mit proaktiver Aufklärung nicht das Geringstezu tun.Auch bei den Ermittlungen des Generalbundesan-walts und des Bundeskriminalamts habe ich persönlichgroße Zweifel, was die Festlegung angeht, dass das TrioZschäpe, Mundlos und Böhnhardt alleine gehandelt hat.Wie können wir denn sicher sein, dass der NSU nur ausdrei Leuten bestand? Wenn die wahre Dimension desRechtsterrorismus nicht erkannt wird, wäre das furchtbarfür die Familien der Opfer und eine große Gefahr für dasErkennen solcher Strukturen in der Zukunft. Dass so et-was nicht erkannt wird, darf in Deutschland nie wiederpassieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Politisch und in der öffentlichen Debatte müssen wirdem Rechtsterrorismus den Boden entziehen. Das bringtmich zu einem letzten Punkt, bei dem ich insbesonderedie Kolleginnen und Kollegen der Union ansprechenmöchte. Ich persönlich finde es unerträglich, wenn an-gesichts der aktuellen terroristischen Bedrohung durchIslamisten Mitglieder Ihrer Partei wieder allzu leichtMenschen mit Migrationshintergrund, die hier in Deutsch-land aufgewachsen und zum Teil auch hier geboren wor-den sind, als „Fremde“ oder als „Gäste“ bezeichnen, dieman in ihre Heimatländer abschieben solle, so die Auto-ren eines Positionspapiers aus Ihrer Fraktion.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei aller Notwendigkeit,dem ISIS-Terror mit Maßnahmen, die auch greifen, zubegegnen, möchte ich die Saat solcher ausgrenzendenÄußerungen nicht aufgehen sehen.
Ich fordere Sie auf – das gilt auch für Herrn Kauder –,sich von einem solchen Sprachgebrauch ganz klar zudistanzieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte FrauBundeskanzlerin – vielleicht hört sie uns irgendwo zu –,rückhaltlose Aufklärung ist mehr als nur eine Redewen-dung. Es geht um Verantwortung für das eigene Han-deln, um Verantwortung für die Sicherheitsbehörden undum Verantwortung für unbedachte Äußerungen. DreiJahre sind schon vergangen, Frau Merkel. Lösen Sie IhrVersprechen ein!Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 62. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. November 2014 5769
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(B)
Die Kollegin Dr. Eva Högl spricht als nächste Redne-
rin für die Sozialdemokraten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Morde und Sprengstoffanschläge des rechts-extremen Terrornetzwerks NSU waren Anschläge aufunsere Demokratie. Wir alle waren gemeint: unser fried-liches Zusammenleben, unsere tolerante Gesellschaftund unser Rechtsstaat. Wir alle sollten getroffen werdendurch diese Anschläge. Wir mussten vor drei Jahrenschlagartig erkennen, dass wir in Deutschland rechts-extremen Terror haben. Wir mussten erkennen, wie ge-fährlich Rechtsextremismus ist und dass Rechtsextre-misten zum Äußersten nicht nur bereit, sondern auch inder Lage sind. Das war für uns eine schlagartige Er-kenntnis. Wir mussten leider auch feststellen – das istsehr bitter –, dass niemand damit gerechnet hat, dass wirsolche rechtsextremen Terrorstrukturen haben, dass nie-mand darauf vorbereitet war und dass die Sicherheitsbe-hörden weder in der Lage waren, das untergetauchte Triozu fassen, noch bis in die letzten Tage hinein die Zusam-menhänge zur Mordserie herzustellen. Deswegen – daswurde schon gesagt; ich betone das, weil das für uns alleeine Verpflichtung ist – ist es unsere Verantwortung, hierim Deutschen Bundestag alles dafür zu tun – das eintuns –, dass so etwas nie wieder passiert.
Zwei Botschaften sind für mich sehr wichtig; das istschon angeklungen, und ich wiederhole es. Wir habenetwas daraus gelernt. Das ist die erste wichtige Bot-schaft. Der NSU stellt eine Zäsur dar, und wir haben et-was daraus gelernt. Die zweite Botschaft lautet: Wir las-sen nicht locker.
Zwei Punkte möchte ich hervorheben. Das Erste ist:Die Aufklärung geht weiter. Wir sind bei der Aufklärungnoch nicht am Ende. Es gibt noch viele offene Fragen.Ich will sie kurz nennen. Es hat uns nie überzeugt – auchim Untersuchungsausschuss nicht –, dass MichèleKiesewetter, die Heilbronner Polizistin, ein Zufallsopfergewesen sein soll. Es hat uns nie überzeugt, dass dasTrio nur ein Trio sein sollte, plus ein paar Unterstützer.Wir sind der Auffassung, dass es sich um ein breitesNetzwerk rechtsextremer Strukturen, verteilt über ganzDeutschland, handelt. Wir sind immer der Frage nachge-gangen – das tun wir noch heute –: Gab es V-Leute, diemehr hätten wissen können und dichter dran waren? Dassind nur drei der vielen offenen Fragen, die uns auch hierim Bundestag bewegen. Es eint uns – hier sollten keineDifferenzen herbeigeredet werden, die es nicht gibt –,dass wir alle gemeinsam weiter aufklären wollen.
Es ist sehr wichtig, dass auch die Landtage aufklären.Wir freuen uns, dass in Hessen und in Nordrhein-Westfa-len Untersuchungsausschüsse eingesetzt wurden. Auch inBaden-Württemberg wurde endlich ein Untersuchungs-ausschuss eingerichtet. Die Thüringer denken darübernach, ihren Untersuchungsausschuss fortzusetzen. Dassteht noch zur Diskussion. Wir erwarten, dass er fortge-setzt wird. Wir im Bundestag bleiben ebenfalls dran.Wie gesagt, wir lassen nicht locker. Das machen wirfraktionsübergreifend, Stichwort „Corelli“. Wir gehenden offenen Fragen nach.Der zweite Punkt ist die Umsetzung der Empfehlun-gen des Untersuchungsausschusses. Hier geht es man-chen nicht schnell genug. Manche Dinge brauchen aberauch Zeit. Es geht um die gemeinsame Verantwortungvon Bund und Ländern. Wir haben uns jedenfalls ge-meinsam darauf verständigt, umfassende Reformen beiPolizei, Verfassungsschutz und Justiz einzuleiten. Dasses dringend erforderlich ist, dass wir besser aufgestelltsind, haben die Ereignisse rund um Köln bei der gewalt-tätigen Demonstration der Rechtsextremen gezeigt. Kölnhat gezeigt, dass die Rechtsextremen in der Lage sind,ein breites Netzwerk zu bilden, sich mit Hooligans zuverbünden, breit zu mobilisieren, und zwar in ganzDeutschland, und mehrere Tausend Leute an einem Ortzu versammeln. Das muss uns große Sorgen machen.Wir müssen besser aufgestellt sein und dürfen die Ge-fahr des Rechtsextremismus auch bei solchen Demon-strationen auf keinen Fall unterschätzen.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der dieEmpfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses be-trifft. Das ist unser Einsatz für Prävention und zivilge-sellschaftliches Engagement gegen Extremismus. Wirhaben bereits einen Punkt der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses umgesetzt. Ich bin sehrdankbar – ich schaue dabei unsere Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend an –, dass wir esgeschafft haben, die Programme verlässlicher zu gestal-ten, für mehr Planungssicherheit zugunsten von Verbän-den, Vereinen und Organisationen zu sorgen und einelangfristigere Finanzierung zu ermöglichen. Das wareine wichtige Forderung, weil viele Projekte insbeson-dere unter der Kurzfristigkeit ihrer Förderung sehr gelit-ten haben.Was wir aber gemeinsam noch nicht geschafft haben,woran wir noch arbeiten müssen und wozu wir einenAuftrag haben – wir haben die Haushaltsdebatte hier imPlenum ja noch vor uns –, ist Folgendes: Wir müssen dieMittel aufstocken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir brauchen mehr Geld im Kampf gegen Rassismus,gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus, gegenpolitischen und religiösen Extremismus.
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Dr. Eva Högl
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Vor allen Dingen brauchen wir mehr Geld für Präven-tion. Wir müssen Anlaufstellen auch zum Beispiel fürdiejenigen schaffen, die sich jetzt den Salafisten an-schließen. Es besorgt uns sehr, dass gerade junge Men-schen den Salafismus attraktiv finden und sich dort indie Moscheen begeben.Deswegen werbe ich auch an dieser Stelle, bei dieserDebatte, dafür, dass wir uns gemeinsam dazu entschlie-ßen, die Mittel nicht nur zu verstetigen, sondern auchaufzustocken, und dass von dieser Debatte das klare Si-gnal ausgeht: Kein Platz in Deutschland, in Europa undüberall für Rassismus und Rechtsextremismus, keinPlatz für Gewalt! Ich habe mich sehr gefreut, dass wir,drei Jahre nachdem der NSU aufgeflogen war, hier nocheinmal zu diesem Thema diskutieren. Es wird sicherlichnicht das letzte Mal gewesen sein; denn wir bleiben andiesem Thema dran.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU der Kollege
Armin Schuster.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Systemversagen, großes Leid,Schuld, die wir auf uns geladen haben – ich möchte nichtalles wiederholen –, all dies führt uns zu der Frage, wasgut ein Jahr danach daraus folgt. Ich empfinde es heuteNachmittag jedenfalls als sehr eindrucksvoll, dass esnicht um eine routinemäßige Gedenkdebatte geht. Dassdas nicht alles sein kann, wurde jetzt schon deutlich; da-für müsste ich nicht hier vorne ans Pult gehen. Nein, derSinn dieser wertvollen 60 Minuten ist es, uns selbst denFinger in die Wunde zu legen, die für mich noch deutlichspürbar ist.Was ist aus unseren Empfehlungen geworden, wiewerden sie umgesetzt? Diese Frage im deutschen Parla-ment jährlich zu stellen, halte ich im Sinne der Opfernoch eine ganze Zeit für unabdingbar, ja, sogar für wür-dig und angemessen.
Ich halte dies auch deshalb für angemessen, weil sichunsere Aufklärungsarbeit noch so unvollendet anfühlt;jedenfalls fühle ich es so. Viele Fragen bleiben offen; ei-nige Rätsel sind ungelöst. Dass wir deswegen eine ei-gene Ermittlungsgruppe einsetzen, Herr Özdemir, er-scheint mir irgendwie merkwürdig. Das ist hier immernoch das deutsche Parlament und nicht die Exekutive.Meine Damen und Herren, dass viele Fragen offenge-blieben sind, heißt aber nicht, dass ich hier ein Plädoyerfür den 3. Untersuchungsausschuss halte. Da sich dieKolleginnen und Kollegen nicht selber loben können,möchte ich an dieser Stelle für die vielfältigen Aktivitä-ten, die hier im Parlament ohne Untersuchungsausschussseit 14 Monaten laufen, den Berichterstattern, wie ichhoffe, fraktionsübergreifend einmal danken, die dieseArbeit ohne Untersuchungsausschussreferenten und wenauch immer intensiv, sensibel und, Frau Mihalic, zu-meist viel konsensualer leisten, als Sie es jetzt hier vor-gestellt haben. Ich glaube, dass Clemens Binninger, EvaHögl, Petra Pau und Irene Mihalic dafür einmal einengroßen Dank von uns entgegennehmen sollten. Das isteine sehr aufwendige, aber wichtige Arbeit.
Frau Mihalic, die Unionsfraktion anzugreifen wegenihrer Haltung zu Ausländern, ist ziemlich an der Sachevorbei. Wissen Sie, diese Fraktion sorgt seit neun Jahrenin wechselnden Koalitionsbesetzungen dafür, dass wirdas Einwanderungsland Nummer 2 auf der Welt sind.Wenn das nicht ein Erfolg von Integrations- und Zuwan-derungspolitik ist! Davon träumen Sie doch in Wirklich-keit.
Meine Damen und Herren, ich werde wie viele andereKollegen auch zu Polizei- und Verfassungsschutzbehör-den eingeladen, um Vorträge über den NSU zu halten:60 Minuten, 90 Minuten, 120 Minuten, toll. Vor allem inNRW – das muss ich einmal sagen – ist man hierbei vor-bildlich. Aber unsere Empfehlung ging einen Schrittweiter.Die Idee, sich den NSU-Fall im Führungsnachwuchsdes höheren Dienstes planspielartig gerne auch mehrereTage vorzunehmen, hat einen besonderen Hintergrund.Fragen des Trennungsgebots, der überregionalen Zusam-menarbeit verschiedenster Behörden deutschlandweit,Ermittlungspannen, Rechtsextremismus und Terrorismussind schon rein kognitiv wichtige Lerneffekte. Wir woll-ten damit aber eigentlich etwas anderes: Planspiele sor-gen für emotionale Betroffenheit. Diese würde ich gernbeim Führungsnachwuchs des höheren Dienstes in Poli-zeibehörden und Verfassungsschutzbehörden sowie beiStaatsanwaltschaften auslösen. Das sorgt für die größteMultiplikationswirkung, die wir unbedingt brauchen, da-mit der Fall lebendig bleibt.
Auch mit und in der Gesellschaft ist das Thema nichteinfach abgehakt worden. Ich erlebe das sogar im eige-nen Wahlkreis immer wieder und bin davon überrascht,wie viel Power da ist. Ich begrüße zum Beispiel die Ini-tiative des Freiburger Filmemachers Peter Ohlendorf,der die Hintergründe zum Mord an Michèle Kiesewetterrecherchieren und in einem Film verarbeiten möchte. Ichmerke für diejenigen an, die Interesse haben: Das Pro-jekt soll über Crowdfunding finanziert werden. Ichkönnte viele andere Beispiele nennen.Es ist in unserer Gesellschaft angekommen, und des-wegen sehe ich nicht alles negativ, Herr Özdemir. Mei-nes Erachtens haben wir Grund zum Optimismus. Dies
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Armin Schuster
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ersetzt nicht unsere Aufklärungsarbeit, aber es ergänztsie.Was haben wir in gesetzgeberischer Hinsicht getan?Meine Damen und Herren, das GAR ist ein voller Er-folg. Es war sehr schnell, konsequent und hat sich kom-plett bewährt. Dafür stehen die Rechtsextremismusdateiund das Bundesamt für Verfassungsschutz mit einemumfangreichen Reformprozess, der nahezu abgeschlos-sen ist. In Kürze werden wir hier einen Entwurf desMinisters beraten, der insgesamt 48 Einzelregelungenbeinhalten wird, die wir allesamt mit den Ländern ab-stimmen mussten.Wenn es Ihnen zu langsam geht, Frau Pau – leider re-gieren Sie ja hier und da mit in den Ländern,
zunehmend mehr –,
dann sollten Sie sich einmal dort informieren, warumdas Verhalten hier und da so sperrig ist und ein Innen-minister immer wieder persönlich Hand anlegen muss,damit die Dinge vorwärtsgehen. – Herr Dr. de Maizière,ich halte es jedenfalls für beachtlich, welches Megapro-jekt das Innenministerium hierbei schultert; wir werdenes demnächst hier im Deutschen Bundestag behandeln.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Abschlussnoch zwei Punkte bringen, die mir sehr wichtig sind. Dererste Punkt bezieht sich auf Kritik. Ich halte es nicht fürakzeptabel, dass angesichts eines Gesetzespakets, daszur Reform des Verfassungsschutzes kommen wird, undangesichts dessen, dass auch bei den Polizeien nichtspassiert, die Länderinnenminister es kategorisch ableh-nen, sich mit dem Bund auf einen Staatsvertrag zu eini-gen, in dem wir regeln, wie künftig ein NSU-Fall 2.0oder andere Fälle länderübergreifend konsequent geführtwerden sollen.Der Leiter der BAO Bosporus hat uns in seinem Er-fahrungsbericht ins Stammbuch geschrieben: So kannkein Mensch führen. Das Gleiche würde wieder passie-ren, wenn wir debattieren und keine Bindungswirkungenentstehen. Solange Nordrhein-Westfalen Angst hat, vonBremen geführt zu werden, ändert sich nichts.
– Entschuldigung, wir finden Bremen gar nicht soschlecht. Immerhin holen wir uns von da, glaube ich,den BKA-Präsidenten. Das kann man doch einmal sa-gen. – Ich denke, wir brauchen diesen Staatsvertrag.Liebe Frau Dr. Högl, wenn ich nur eine Minute ge-habt hätte, dann hätte ich dieses Thema herausgegriffen,das Gegenteil von Frau Pau: Wer dem Bundesamt fürVerfassungsschutz so viele neue Aufgaben aufbürdet wiewir, sie ihm zu Recht aufbürdet, der muss nach demPrinzip „Wer anschafft, bezahlt auch“ in Haushaltsver-handlungen dafür sorgen, dass diese Behörde unserenberechtigten Qualitäts- und Quantitätsanforderungenüberhaupt gerecht werden kann. Das Motto „Du hastzwar keine Chance, aber nutze sie“ kann nicht für dasBfV gelten.Nach meiner Auffassung brauchen wir Nachrichten-dienste. Ich hoffe, ihr schafft das in Thüringen nicht ab.Meines Erachtens sind Nachrichtendienste in dieser Si-cherheitslage unverzichtbar. Das Land braucht mehr alssoziale Sicherheit in diesen Tagen, und deshalb werbeich darum, auf der Zielgeraden der Haushaltsverhand-lungen noch einmal im Sinne des NSU-Abschlussbe-richts und unserer weitreichenden Forderungen, die ent-sprechenden Mittel in Köln zur Verfügung zu stellen.Ich danke Ihnen.
Staatsministerin Aydan Özoğuz spricht jetzt für die
Bundesregierung.
A
Ja, und ich bin sehr tolerant.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Neun Menschen wurden offensichtlich umge-bracht, weil sie eine Einwanderungsgeschichte hatten,und wir wissen auch heute noch nicht, warum gerade sieausgewählt wurden. Eine Polizistin wurde umgebracht,und auch hier wissen wir immer noch nicht, warum.Die eine – „die Einzige“ will ich bewusst nicht sagen;mittlerweile haben wir durchaus einen anderen Ein-druck –, die etwas dazu sagen könnte und die wir ken-nen, schweigt. Diese wichtigen Fragen können auchnach drei Jahren immer noch nicht beantwortet werden.Herr Binninger hat das angesprochen. Es sind viele wei-tere Fragen offen. Aus welchem Grund – ich wiederholedas – wurden diese Opfer ausgewählt? Wer hat auf sieaufmerksam gemacht? Wer hat tatsächlich auf sie ge-schossen?Ich glaube, dass diese Fragen für die Angehörigennicht erst seit drei Jahren quälende Fragen sind.Wer hat den drei mutmaßlich Hauptverantwortlichengeholfen? Das ist eine weitere Frage, die uns sehr be-schäftigt und die wir unmöglich unbeantwortet lassenkönnen. All die anderen Fragen, zum Beispiel, was nunwirklich in dem Wohnmobil geschah, gehören natürlichauch dazu. Waren zwei so abgebrühte Menschen wirk-lich so leicht von nur einem Polizeiwagen aus der Fas-sung zu bringen? Ich bin den Kollegen Binninger undStröbele sehr dankbar, dass sie dies in einem gemeinsa-
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Staatsministerin Aydan Özoğuz
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men Interview noch einmal angesprochen und darge-stellt haben, dass viele Fragen noch offen sind.Ich bin auch dem Kollegen Jerzy Montag sehr dank-bar, der sich nun als Untersuchungsbeauftragter für denBundestag zur Verfügung stellt. Ich denke, er weiß, wel-che schwierige Aufgabe vor ihm liegt. Er verdient jedemögliche Unterstützung dieses Hauses.
Was sich in der Öffentlichkeit festgesetzt hat – FrauMihalic, ich würde es vielleicht ein bisschen anders aus-drücken –, sind natürlich diese Schredderaktionen. Fastjeder spricht einen darauf an. Das ist durchaus ein riesi-ger Vertrauensverlust. Da brauchen wir uns gar nichtsvorzumachen. Daran erinnern sich viele. Nun kommtwieder etwas hinzu: die aktuellen Geschehnisse rund umden V-Mann Corelli, die Geschichte seines Ablebens,die plötzlich wiedergefundene CD mit den NSU-Bezü-gen. Ich will es an dieser Stelle etwas überspitzt formu-lieren: Manchmal kann man schon den Eindruck gewin-nen, wir klärten auf, was vorher bewusst verschleiertwurde. Das ist eine sehr schreckliche Einsicht. Bei deneigentlichen Fragen, die ich ja eben angerissen habe,sind wir hingegen noch nicht zufriedenstellend weiterge-kommen.Richtig ist aber auch, dass die Untersuchungsaus-schüsse im Bund und in den Ländern eine sehr wichtigeAufgabe haben und hatten. Sie haben einiges in SachenAufklärung und Rückgewinnung von Vertrauen geleis-tet, natürlich nur ein Stück weit. Es ist für die Angehöri-gen der Opfer unglaublich wichtig, zu sehen, dass wirmit einer großen Ernsthaftigkeit dabei sind und dass sichnicht jeder mit einer Einwanderungsbiografie fragenmuss: Wie geht man eigentlich mit mir um, wenn ichOpfer werde? Was ist mit meiner Familie? – Das ist docheine schreckliche Frage für ein Einwanderungsland, daswir eben auch sind.Deswegen möchte ich an dieser Stelle schon daran er-innern, dass erst vor einigen Monaten der EuroparatFälle von Rassismus und Diskriminierung in Deutsch-land gerügt hat. Die dem Rat unterstehende EuropäischeKommission gegen Rassismus und Intoleranz hat dabeiauf Gewaltdelikte Bezug genommen, die durch Rassis-mus, Homophobie und Transphobie ausgelöst seien. Wasnachdenklich macht, ist, dass die Kommission eben auchzu dem Schluss kommt, dass Opfer von Diskriminierungin Deutschland unzureichend unterstützt werden.Es kann, wie ich finde, kein verheerenderes Signalgeben. An dieser Stelle müssen wir sehr stark ansetzen.Opferschutz – egal wer das Opfer ist – muss immer ei-nen sehr hohen Stellenwert bei uns einnehmen; denn die-jenigen, denen etwas Schreckliches angetan wurde, müs-sen wissen, dass wir alle neben ihnen stehen und ihnenjede Hilfe zukommen lassen.
Ich möchte zum Schluss nur noch eine Sache anspre-chen. Ich glaube, dass es eine Daueraufgabe bleibt, das,was wir interkulturelle Kompetenz nennen, bei der Poli-zei, der Justiz und den Nachrichtendiensten zu steigernund den Anteil der Menschen, die Einwanderungsbio-grafien haben, überall, auch in den Länderpolizeien, zuerhöhen.Die genannten Einrichtungen sollen die Gesellschaftabbilden. Sie sollen ein Stück weit zeigen, dass sie fürdiese Gesellschaft arbeiten. Sie sollen verstehen, was indieser Gesellschaft vor sich geht. Darum glaube ich, dasses so wichtig ist, dass wir uns vorgenommen haben, alle47 Empfehlungen tatsächlich umzusetzen. Das wird einbisschen Zeit erfordern. Ich glaube, man kann personal-politische Vorstellungen dieser Art nicht in wenigen Mo-naten umsetzen. Wir alle sollten zusammen dafür sorgen,dass wir nächstes Jahr sagen können: Es hat sich an allenPunkten Erhebliches getan, und wir nehmen diese Emp-fehlung alle gemeinsam sehr ernst.Vielen Dank.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich.
Begreifen … bedeutet … die Last, die uns durch dieEreignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und be-wußt zu tragen … Begreifen bedeutet, sich auf-merksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit,was immer sie ist oder war, zu stellen und entge-genzustellen.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Diese Worte stammen von Hannah Arendt. Sie sindin einem anderen, aber nicht wesensfremden Zusam-menhang formuliert worden. Auch heute beschreibendiese Worte unsere Herausforderung, der wir uns dreiJahre nach Aufdeckung des Terrors des NSU zu stellenhaben. Wir haben zu begreifen, dass sich ein Schattenauf das friedliche Zusammenleben in unserem Land ge-legt hat. Verbrechen sind geschehen, die durch ihre Skru-pellosigkeit und Menschenverachtung unser Land er-schüttert haben. Der Schatten bekommt ein Gesichtdurch den Schmerz und die Trauer der Angehörigen. Ih-nen gehören auch heute unser tiefes Mitgefühl und un-sere aufrichtige Anteilnahme.Wir haben neben mitfühlenden Worten und Gesten ei-gene Wut zu verspüren. Es ist die Wut über sprachlosmachende Versäumnisse bei denen, die von Berufs we-gen unsere Verfassung schützen sollten und es nichtkonnten. Unbehagen, ja, mehr noch, tiefe Scham habenwir zu empfinden, dass in der Öffentlichkeit die Opferund ihre Angehörigen über lange Jahre oftmals mit nurwenig Mitgefühl und mit – was sich als zynisch heraus-gestellt hat – an sie selbst gerichteten Verdächtigungenzu kämpfen hatten. Wer also heute keine Fassungslosig-
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Dr. Volker Ullrich
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keit über die Abgründe der Taten und das Umfeld, in de-nen sie geschehen konnten, besitzt, der hat die Dimen-sion ihrer Angriffe auf die Menschlichkeit und dasMiteinander in unserem Gemeinwesen nicht verstanden.Wir haben die Pflicht, verlorengegangenes Vertrauenin den Rechtsstaat und die ihn schützenden Einrichtun-gen wiederherzustellen und zu festigen. Wesentlich da-für ist die Suche nach Wahrheit. Das meint „Begreifen“.Aufklärungsinteresse ist kein Spielball politischenTaktierens. Es ist daher ermutigend, dass der Bundestagund einige Landtage über Parteigrenzen hinweg Unter-suchungsausschüsse eingesetzt und erfolgreich zu Er-gebnissen geführt haben, die wir vollständig umsetzenwerden. Wir suchen nach der Wahrheit nicht aus Inte-resse an einer historisch richtigen Geschichtsschreibung,sondern weil sich der wehrhafte Rechtsstaat die Pflichtzur allumfassenden Aufklärung zu eigen machen muss.Auch wenn dadurch nichts ungeschehen wird und Wun-den vielleicht nicht heilen können: Die Wahrheitsfin-dung ist ein wichtiger Beitrag, damit die Angehörigendie Möglichkeit haben, einen inneren Frieden mit ihrerTrauer und mit ihrem Verlust zu finden.Es sind wesentliche Fragen, die noch der Beantwor-tung harren, beispielhaft sei genannt: Aus wie vielenMitgliedern bestand das Terrornetzwerk tatsächlich? Istdie These, dass nur jene drei bekannten Personen denNSU gebildet haben, tatsächlich haltbar? Es ist zu fra-gen, wie es sein konnte, dass das Trio trotz zahlreicherV-Leute in der rechtsextremen Szene über ein Jahrzehntunentdeckt blieb. Wir wollen wissen, was am 25. April2007 und am 4. November 2011 in Eisenach tatsächlichpassiert ist und wie sich die vielen Ungereimtheiten er-klären lassen.Die Beantwortung von Fragen ist aber nicht ausrei-chend. Wir benötigen Vertrauen in die Geltung desRechts und den Schutz unserer Verfassung. Dazu brau-chen wir fortwährend eine von allen gelebte Kultur derWehrhaftigkeit unserer freiheitlichen demokratischenGrundordnung. Das Wissen um die Bedrohung dermenschlichen Würde und die Zerbrechlichkeit unsererFreiheit zwingt uns stets zur Wachsamkeit. Das gilt indiesen Tagen besonders.Es darf zu keinem Zeitpunkt eine Situation entstehen,in welcher die tatsächliche Fähigkeit des Staates, unserefreiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen,ernsthaft infrage gestellt wird. Gleichwohl ist es keineallein staatliche Aufgabe. Der Einsatz gegen Gleichgül-tigkeit und Vorurteile, das Aufstehen für Toleranz unddas Eintreten für eine demokratische und offene Gesell-schaft gehen uns alle an. Es ist eine notwendige Anstren-gung der gesamten Zivilgesellschaft.Diese Anstrengung für Demokratie und ein friedli-ches Miteinander ist nicht immer bequem. Manchmalsind Passivität und Gleichgültigkeit bei oberflächlicherBetrachtung ein einfacher Weg. Es ist aber der Weg dessüßen Giftes. Wer sich nicht für die Werte einsetzt, dieunsere Gemeinschaft begründen, wird morgen nichtmehr die Umgebung vorfinden, die ihm seine Bequem-lichkeit erst ermöglicht hat.Manche mögen – abschließend – einwenden, dasskeiner abzuschätzen vermag, ob unsere Anstrengungenvon Erfolg gekrönt sein werden. Zweifel dürfen uns abernicht erschüttern. Wir werden erfolgreich sein, weil dasVertrauen in die Idee der Unverletzlichkeit der Würdedes Menschen unerschütterlich ist. Es ist die beste Idee,die wir haben. Hannah Arendt hat die Hoffnung in dasGelingen so formuliert: Es ist nur möglich „im Vertrauenauf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genauzu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf dasMenschliche aller Menschen. Anders könnte man esnicht.“
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 6. November
2014, 9 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder! Die
Sitzung ist geschlossen.