Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich be-
grüße Sie ganz herzlich und eröffne die Sitzung.
Bevor ich die Tagesordnung aufrufe, möchte ich Sie
darauf hinweisen, dass interfraktionell vereinbart wor-
den ist, die heutige Tagesordnung um die Wahl von
Mitgliedern der Kommission „Lagerung hoch radioakti-
ver Abfallstoffe“ zu erweitern und diese Wahl nach der
Fragestunde durchzuführen.
Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden,
die Unterrichtung der Bundesregierung zum Entwurf ei-
nes Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes auf Druck-
sache 18/1418 federführend dem Ausschuss für Ernäh-
rung und Landwirtschaft sowie zur Mitberatung dem
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit zu überweisen.
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung – das hat mir eine besondere Freude berei-
tet – mitgeteilt: Bundesbericht Forschung und Inno-
vation 2014.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, Sie haben jetzt
das Wort für einen einleitenden fünfminütigen Bericht.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben heute im Bundeskabinett
den Bundesbericht Forschung und Innovation 2014 be-
schlossen. Es ist ein ausführliches Werk. Anhand vieler
Zahlen und Fakten wird darin die derzeitige Stellung
Deutschlands in der Welt dargestellt. Es wurden nicht
nur die Forschungs- und Innovationsdaten, die sich auf
den Bund beziehen, sondern auch all die, die sich auf die
Bundesländer beziehen, erhoben und entsprechend ein-
geordnet. Der Bericht ist sehr dick; er umfasst 700 Sei-
ten. Es handelt sich also wirklich um ein ausführliches
Kompendium.
Als Quintessenz kann man sagen: Dieser Bericht
macht deutlich, dass Deutschland als Forschungs- und
Innovationsstandort in den letzten Jahren immer attrakti-
ver geworden ist und an der Spitze liegt. In Bezug auf
die Innovationsfähigkeit gibt es weltweit die unter-
schiedlichsten Rankings. Deutschland ist in diesen Ran-
kings immer im vorderen Feld zu finden. Wenn man den
EU-Leistungsanzeiger bezüglich Innovation anschaut,
sieht man, dass Deutschland in der Gruppe von fünf
Ländern liegt, die als innovationsstärkste Länder in Eu-
ropa, als sogenannte Innovationsführer, gelten. Neben
Deutschland zählen dazu unter anderem die Schweiz,
Schweden und Dänemark.
Es verwundert immer wieder, dass die Bundesrepu-
blik Deutschland mit ihrer sehr kleinen Bevölkerung
– wir machen 1,2 Prozent der Weltbevölkerung aus – an
der Spitze liegt, wenn es um den Export von Hightech-
gütern geht. Deutschland liegt dabei sogar vor großen
Nationen wie China oder den USA. Das spiegelt unsere
Leistungsfähigkeit wider.
Wir können aus diesem Bericht, was die Entwicklung
der letzten Jahre betrifft, viel Erfreuliches herauslesen.
Dieser Bericht setzt sich aber auch damit auseinander,
was uns das Gutachten von EFI, also der Expertenkom-
mission Forschung und Innovation, ins Stammbuch ge-
schrieben hat. Und in den Bericht wurden die Anregun-
gen des EFI-Gutachtens zur Weiterentwicklung der
Innovationskraft Deutschlands aufgenommen; denn die
gute Stellung, über die wir uns jetzt freuen, können wir
ganz schnell verlieren, wenn wir nicht dafür sorgen, dass
die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhalten bleibt
bzw. noch gesteigert wird.
Danke.
Vielen Dank. – Es liegen mir bereits mehrere Wort-meldungen vor. Ich möchte zunächst dem KollegenRupprecht die Möglichkeit geben, seine Fragen zu stel-len.
Metadaten/Kopzeile:
2936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
Vielen herzlichen Dank, Frau Ministerin. Dass
Deutschland im Hinblick auf die Innovationsindikatoren
an der Spitze steht, ist sehr erfreulich und sehr positiv
und macht uns alle ein Stück weit auch stolz.
Im Bericht wird aber auch der Aspekt des Braindrains
angesprochen. Es wird beklagt, dass die klügsten Köpfe
angeblich Deutschland verlassen. Hierzu würden mich
Ihre Einschätzung bzw. Ihre Bewertung sowie Überle-
gungen zu eventuellen Gegenmaßnahmen interessieren.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Über diese Passage im EFI-Gutachten habe ich mich
geärgert. Dort wird ja dargestellt, dass Deutschland da
ein Problem hätte. Die Daten, die die Gutachter als
Grundlage genommen haben, sind aber Durchschnitts-
zahlen aus den Jahren 1996 bis 2011. Die Entwicklung
in diesem Zeitraum wurde überhaupt nicht betrachtet.
1996 hatten wir in diesem Bereich ein Problem. Viele
junge Leute, viele Spitzenforscher sind weggegangen.
Dies hat sich inzwischen grundlegend geändert. Im Mo-
ment sind wir hochattraktiv für Spitzenforscher aus aller
Welt. Dies sehen wir bei den Bewerbungen, zum Bei-
spiel auf Alexander-von-Humboldt-Professuren.
Ich greife zur Verdeutlichung einmal eine For-
schungsgemeinschaft heraus: die Max-Planck-Gesell-
schaft. Sie betreibt Grundlagenforschung, ist aber auch
im Bereich Innovationen tätig. Der Anteil der Doktoran-
den bei ihr, also von allen, die bundesweit bei der Max-
Planck-Gesellschaft promovieren, beträgt 49 Prozent,
bei den Postdoktoranden sind es sogar fast 80 Prozent.
Fast 31 Prozent der Direktoren der Max-Planck-Gesell-
schaft stammen aus dem Ausland. Dies alles ist nur ein
Indiz. Aber auch aus Umfragen wird das deutlich: Zwei
Drittel der deutschen Wissenschaftler, die derzeit in den
USA tätig sind, möchten nach Deutschland zurückkom-
men. Wir haben auch viele Maßnahmen ergriffen, damit
es einfach wird, wenn man nach einem langjährigen
Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurückkommt.
Wir können also sagen, dass Deutschland für interna-
tionale Wissenschaftler hochattraktiv ist, und zwar in al-
len Kategorien: Doktoranden, Postdoktoranden bis hin
zu Spitzenforschern. Über diese Situation freuen wir uns
sehr. Vor Jahren kannten wir sie so nicht.
Als nächster Fragender hat der Kollege Röspel das
Wort.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, es freut uns, dass Sie
sich nach dem Ärgern wieder gut erholt haben und frisch
wie eh und je vor uns stehen. Mir ging es ähnlich.
Ich habe eine Frage zu einer anderen Aussage im EFI-
Gutachten: Teilt die Bundesregierung die dort geäußerte
Auffassung, dass das EEG-Gesetz weder Innovations-
wirkung noch Klimaschutzförderung bewirkt hat?
Frau Ministerin.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Nein, diese Auffassung teilen wir dezidiert nicht.
Wenn man sich die Forschungsergebnisse im Bereich
der erneuerbaren Energien anschaut, dann zeigt sich,
dass es sogar eine anregende Wirkung hat. Sicher kann
an der einen oder anderen Stelle mal ein Hemmnis auf-
treten. Aber die dort geäußerte Einschätzung bezüglich
der Wirkung des EEG teilt die Bundesregierung in kei-
ner Weise.
Jetzt hat als nächster Fragender der Kollege Gehring
das Wort.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, bereits im Jahr 2000
wurde im Rahmen der europaweiten Lissabon-Strategie
beschlossen, bis zum Jahr 2010 mindestens 3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwick-
lung zu investieren. Deutschland hat dieses Mindestziel
als vermeintlicher Vorreiter 2014 quasi fast erreicht. Re-
gierungseigene Kommissionen, Wissenschaftsorganisa-
tionen und Wirtschaftsverbände sagen Ihnen aber seit
Jahren, dass man sich, wenn man bei Innovationen Vor-
reiter sein will, deutlich ehrgeizigere Ziele setzen muss.
Deshalb meine Frage an Sie: Wird sich die Bundesregie-
rung das 3,5-Prozent-Ziel zu eigen machen? Wenn ja,
wann wollen Sie es erreichen und wie wollen Sie es fi-
nanzieren?
Frau Ministerin.Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Danke. – Wir haben die Situation, dass die Zielmarkevon 3 Prozent für 2010 aufgrund der Wirtschafts- undFinanzkrise verändert wurde. In der Lissabon-Strategiehaben wir jetzt das Ziel verankert, dass die EU-Staaten,also die EU 28, im Jahr 2020 3 Prozent erreichen sollen.Davon sind viele Länder weit entfernt. Viele Länder lie-gen noch unter 2 Prozent. Aber auch Länder wie zumBeispiel die USA liegen nur bei knapp 2,8 Prozent. Esgibt auch einige Länder auf der Welt – forschungsstarkewie Korea und Japan –, die über 3 Prozent liegen.Wir erreichen übrigens nicht erst im Jahr 2014 – ob-wohl der Bericht für 2014 ist –, sondern wir haben be-reits im Jahr 2012 das 3-Prozent-Ziel de facto erreicht.Wir möchten in den nächsten Jahren auch gerne mehr er-reichen. Wir haben es aber vermieden, uns eine konkreteZahl vorzugeben. Wir unternehmen einerseits maximaleAnstrengungen, um mehr als 3 Prozent zu erreichen. An-dererseits sind andere Zielsetzungen wie die Konsolidie-rung des Haushalts wichtig. Und schließlich ist 3 Pro-zent des BIP, des Bruttoinlandsprodukts, ein relativerWert. Das heißt, wenn wir beim BIP richtig gut liegen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2937
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
(C)
(B)
dann macht 3 Prozent absolut sehr viel mehr aus. Das istalso nicht ganz genau zu kalkulieren.Wir wollen weiterhin Vorreiter in Europa sein – dassind wir – und wollen auch die anderen mitziehen undanregen, damit die EU-Staaten insgesamt bis zum Jahre2020 einen Anteil der Ausgaben für FuE am Bruttoin-landsprodukt von 3 Prozent erreichen.
Als nächster Fragesteller hat der Kollege Rossmann
das Wort.
Frau Ministerin, ich möchte eine Bemerkung vorweg-
schicken. Uns liegt ja eine Stellungnahme der Bundesre-
gierung zum EFI-Gutachten vor. Darin wird immer da-
rauf abgehoben, dass es im Jahr 2005 einen Turnaround
gegeben hat. Angesichts der Präsidentin muss ich sagen:
In Sachen Bildung und Forschung ist der Turnaround
schon im Jahr 1998 anzusiedeln.
Jetzt zur Frage. In vielen früheren EFI-Gutachten ist
auf die steuerliche Forschungsförderung abgehoben
worden. Nun konnte man jüngst vom Bundesfinanz-
minister, der ja Gewicht hat, lesen, er hielte gar nichts
davon, weil der Fehlleitungseffekt dieser Maßnahme bei
gut 90 Prozent liege, es sich also um Mitnahmeeffekte
handelt. Insofern möchte ich Sie fragen: Welche guten
Ansätze verfolgt diese Regierung, um jenseits der steu-
erlichen Forschungsförderung die Bereitstellung von
Wagniskapital zu stimulieren und insbesondere kleine
und mittlere Unternehmen zu stützen? Welche besonde-
ren Anregungen dazu können Sie dem EFI-Gutachten
entnehmen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Wenn man sich anschaut, was wir in den letzten Jah-
ren unternommen und erreicht haben, dann erkennt man:
Ein großer Teil der Gelder aus der Hightech-Strategie für
die Wirtschaft, fast 50 Prozent, ist den KMU, also den
kleinen und mittleren Unternehmen zugeflossen; aber
gemessen daran ist ihre Innovationskraft, das, was sie in
diesem Bereich leisten, zu gering. Wir glauben also, dass
hier noch eine Schwäche unserer Hightech-Strategie
liegt. Deswegen wollen wir bei der Überarbeitung der
Hightech-Strategie überlegen – ich werde die Eckpunkte
der Weiterentwicklung der Hightech-Strategie, abge-
stimmt mit allen Ressorts, im Sommer vorlegen –: Wel-
che neuen Formate, welche neuen Maßnahmen sind ge-
eignet, um kleine und mittlere Unternehmen noch besser
zu fördern?
Die Aussagen des Finanzministers sind korrekt. Aber
gleichzeitig hat sich der Finanzminister offen gezeigt,
was die Förderung bzw. Erleichterung der Bereitstellung
von Wagniskapital anbelangt; das ist ja gerade für Neu-
gründungen sehr wichtig. Um das Thema der steuerli-
chen Förderung von FuE haben wir in den Koalitions-
verhandlungen lange gerungen. Ich denke, der
Forschungs- und der Wirtschaftsflügel wollten das sehr
gerne, obwohl sie natürlich gesehen haben, welche Kos-
ten damit verbunden sind. Wir werden das nicht heute
oder morgen umsetzen; aber ich glaube nicht, dass die
Diskussion ein für alle Male beerdigt ist.
Jetzt hat der Kollege Lenkert das Wort.
Frau Ministerin, Sie führten aus, wie positiv sich derHightechbereich in der Bundesrepublik entwickelt hat.Sie werden mir sicher zustimmen, dass er natürlich einegesunde Basis braucht, die vor allen Dingen immer wie-der erneuert werden muss. Jetzt nenne ich Ihnen ein paarZahlen: 85 Prozent der Nachwuchswissenschaftlerinnenund -wissenschaftler an Forschungseinrichtungen undUniversitäten sind nur befristet beschäftigt, die Hälftedavon nur in Teilzeit. Diese Jobs sind natürlich wesent-lich weniger attraktiv als Stellen in der Industrie und inder industrienahen Forschung. Aber müssen wir nicht,wenn wir zukünftig unseren Stand halten wollen, sicher-stellen, dass die besten Nachwuchskräfte in die Lehreund in die öffentliche Forschung und nicht in die Indus-trie gehen, weil ansonsten der Abstand zu groß wird unddie Kette reißt? Unter dem Aspekt frage ich Sie: Wiewollen Sie mit Ihrer heutigen Politik sicherstellen, dasswir auch in 15 Jahren noch den guten Stand haben, denwir jetzt haben? Wie wollen Sie, wenn Sie jetzt den Bun-desländern 6 Milliarden Euro geben, sicherstellen, dassdiese wirklich zusätzlich in Bildung und Forschung flie-ßen und nicht zur Schließung von Haushaltslöchern inden Bundesländern eingesetzt werden?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Natürlich brauchen wir die Nachwuchswissenschaft-ler in den Forschungseinrichtungen; aber zwei Drittelder Forschung in Deutschland werden privatwirtschaft-lich, hauptsächlich in großen Unternehmen erbracht.Auch dieser Bereich der Forschung ist attraktiv, und wirbrauchen ihn, wenn wir die Spitzenposition halten wol-len. Von den zehn forschungsintensivsten bzw. -stärkstenFirmen Europas sind fünf in Deutschland angesiedelt,und auch sie brauchen Nachwuchs. Ich würde also nichtvon einem Entweder-oder sprechen.Wichtig ist, für junge Leute attraktiv zu sein. Wir ha-ben viele Programme – Sie kennen sie zum Teil – imRahmen der DFG, aber auch beim DAAD. Der letzteMonitoringbericht bezüglich der Zufriedenheit der Wis-senschaftler weist verbesserte Werte aus, weil wir inDeutschland langfristig Sicherheit und Verlässlichkeitbieten, gerade für die außeruniversitären Forschungsein-richtungen. Natürlich reden wir vonseiten des Bundesauch mit den Ländern, weil sie die Verantwortung für dieHochschulen haben; das ist in Deutschland ja verfas-sungsrechtlich ganz klar so geregelt.Ich glaube, dass die Vorstellung, wir müssten nurmehr unbefristete Stellen in den entsprechenden Einrich-tungen etablieren, grundfalsch ist, weil Wissenschaft ineinem gewissen Maße Fluktuation braucht. Wenn wir– nur theoretisch – sagen würden: „Okay, wir schaffen
Metadaten/Kopzeile:
2938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
(C)
(B)
mehr unbefristete Stellen“, dann wäre dieser Bereich un-ter Umständen den nachfolgenden Generationen ver-schlossen. Man kann die Situation in Deutschland nichteinfach mit der in Österreich vergleichen, wie Ihre Frak-tion das gerne macht. In Österreich bekommen Sie zwarschnell eine unbefristete Stelle, Sie können diese Stelleaber auch ganz schnell wieder verlieren. In Deutschlandist das nicht so. Man muss überlegen, wie man die unter-schiedlichen Systeme vergleichen kann.
Frau Ministerin, ich muss Sie leider darauf hinweisen,
dass wir eine Verabredung haben: Antwortzeit eine Mi-
nute, maximal anderthalb Minuten. Ich bitte Sie um Ver-
ständnis, dass ich Sie jetzt unterbreche.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich kann schon noch schneller reden, aber – –
Als nächster Fragender hat der Kollege Kaufmann
das Wort und dann Herr Rabanus.
Frau Ministerin, unser Wohlstand in Deutschland ba-
siert zu einem erheblichen Teil auf Forschung und Inno-
vation. Was können Sie vor diesem Hintergrund zum
volkswirtschaftlichen Impact der Innovationspolitik sa-
gen? Welche Indikatoren ziehen Sie dafür heran?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Im Bericht sind die üblichen Indikatoren enthalten,
die zur Vergleichbarkeit von verschiedenen Volkswirt-
schaften herangezogen werden: zum Beispiel der Anteil
von Hightechgütern gemessen am Gesamtexport eines
Landes, die Forschungsstärke von Unternehmen – ich
habe die Zahl genannt: fünf der zehn forschungsstärks-
ten Unternehmen kommen aus Deutschland –, aber auch
die Patentanmeldungen. Zu den Patentanmeldungen ist
zu sagen, dass Deutschland, was transnationale, also
große Patente betrifft, die für den internationalen Markt
wichtig sind, jetzt den dritten Platz nach den USA und
Japan erreicht hat. Als weiterer Indikator ist auch die
Zahl der Beschäftigten im Wissenschafts- und For-
schungssystem zu nennen. Die Zahl ist um über 100 000
auf rund 600 000 Beschäftigte gestiegen.
Weitergehende volkswirtschaftliche Effekte auf die
Situation in Deutschland sind zum Beispiel: Wir haben
die höchste Beschäftigungsquote, die wir jemals hatten,
und zugleich auch eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
Wir sind der Meinung, dass diese Effekte dem klugen
Verhalten Deutschlands, während der Zeit der Finanz-
und Wirtschaftskrise in Forschung und Innovation zu in-
vestieren, geschuldet sind. Dies hat auch dazu beigetra-
gen, dass wir uns so schnell erholt haben und unser Brut-
toinlandsprodukt nach der Krise fast doppelt so schnell
gewachsen ist wie das der anderen EU-Staaten.
Das sind aus meiner Sicht Indikatoren, die belegen,
dass Forschung und Entwicklung wirklich und nicht nur
in Sonntagsreden ein ganz zentrales Element für die Ge-
sundheit und die Leistungsfähigkeit einer Volkswirt-
schaft sind.
Jetzt hat der Kollege Rabanus das Wort und dann Herr
Röspel.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie
haben eben betont, wie wichtig Forschung und Entwick-
lung in Unternehmen seien. Meine Nachfrage dazu: Gibt
es eine Einschätzung der Bundesregierung, wie stabil
Forschung und Entwicklung in Unternehmen sind, oder
gibt es vielleicht einen Trend oder Tendenzen hin zur
Abwanderung? Wenn es diese gibt: Welche Strategie
verfolgt die Bundesregierung, um damit umzugehen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Nicht nur unserem Bericht, sondern auch den Gutach-
ten und den Untersuchungen der ZAB liegt die eindeu-
tige Aussage zugrunde, dass wir im Bereich weniger
Branchen sehr stabile Forschungsleistungen haben. Dort
sind wir ausgewiesen spitze. Hinzugekommen ist hier
der IuK-Bereich. Dort verzeichnen wir stärker Innnova-
tionen, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.
Für uns ist es sehr wichtig – ich habe vorhin darauf
hingewiesen –, dafür zu sorgen, dass es für die kleinen
und mittelständischen Unternehmen attraktiver wird, zu
forschen, statt nur Produkte weiterzuentwickeln. Ganz
zentral ist die Tatsache, dass es uns im Rahmen der
Hightech-Strategie, zum Beispiel durch den Spitzen-
cluster-Wettbewerb oder durch die Verbindung von öf-
fentlicher und privater Forschung, gelungen ist, Anreize
zu setzen. So sorgen wir mit den Spitzenclustern dafür,
dass wir in diesen Bereichen in einigen Jahren Welt-
spitze sein werden.
Jetzt hat der Kollege Röspel das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. – Die ExpertenkommissionForschung und Innovation legt uns ja „Gutachten zu For-schung, Innovation und technologischer Leistungsfähig-keit Deutschlands“ vor, und das, wie ich finde, seit Jah-ren in bewährter Manier. Nun ist es so, dass dieserKommission mittlerweile mit Ausnahme des Vorsitzen-den, Professor Harhoff, nur noch – in Anführungsstri-chen – Wirtschaftswissenschaftler angehören. Wird dieBundesregierung bei künftigen Berufungen wieder stär-ker Naturwissenschaftler, Ingenieure und Technologeneinbeziehen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2939
(C)
(B)
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ja, Herr Röspel, das werden wir machen. Es gibt jaimmer wieder Nachbesetzungen.Im Übrigen wurde der Teil des Gutachtens über dasEEG, der uns beiden nicht gefallen hat, von jemandemverfasst, der naturwissenschaftlich qualifiziert ist.
Jetzt hat der Kollege Gehring das Wort.
Seit über einem halben Jahr gibt es in dieser Bundes-
regierung einen großen Konflikt darüber, ob und wie
dieses 6-plus-3-Milliarden-Euro-Paket für Bildung, For-
schung und Wissenschaft so an die Länder verteilt
werden kann, dass es den Bildungs- und Forschungsein-
richtungen zugutekommt. Am Montag gab es einen be-
merkenswerten Vorgang: Die großen Wissenschaftsorga-
nisationen haben sich zum zweiten Mal seit Bestehen der
Bundespressekonferenz mit einem Weckruf bzw. einem
Alarmsignal an die Republik gewendet und darauf hin-
gewiesen, dass in diesem ganzen Bereich keine Pla-
nungssicherheit besteht, weil Sie die großen Finanzie-
rungsfragen noch nicht geklärt haben. Deshalb würde
mich sehr interessieren, wann mit einer Einigung zu
rechnen ist, ob Sie, wenn es am kommenden Wochen-
ende ein Treffen gibt, an den Gesprächen über Ausgabe-
zeitpunkt und Verteilung der Wissenschafts- und For-
schungsmittel beteiligt sind und ob Sie es angesichts des
3,5-Prozent-Ziels, das wir uns eigentlich setzen müssten,
angemessen finden, dass es um nur 6 plus 3 Milliarden
Euro geht? Im Verhältnis zum sehr großen, umfassenden
und teuren Rentenpaket finden wir das unzureichend,
wenn wir innovationsstark bleiben wollen.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Forschung und Innovation in Deutschland bezahlen
wir nicht aus den Rentenbeiträgen
– ja, das ist so –, sondern aus Steuermitteln. In den Ko-
alitionsverhandlungen ist ergänzend zu all dem, was
schon im Plan stand, gesagt worden: 23 Milliarden Euro
Mehrausgaben in dieser Legislaturperiode; und von die-
sen 23 Milliarden Euro werden 9 Milliarden Euro für
den Bereich Bildung, Wissenschaft und Forschung vor-
gesehen. Das ist, wenn ich richtig rechne, mehr als ein
Drittel. Ich denke, das ist eine ganz klare Prioritätenset-
zung seitens der Koalitionsfraktionen.
Die Pressekonferenz von Herrn Hippler, HRK-Chef,
Herrn Strohschneider, DFG-Chef, und Herrn Marquardt,
Chef des Wissenschaftsrats, habe ich sehr genau ver-
folgt. Sie sind nicht wegen mangelnder Sicherheit in
Aufregung; denn alle außeruniversitären Einrichtungen
haben ganz klare Rahmenbedingungen. Und dass sie so
schnell wie möglich eine Lösung haben möchten, ist na-
türlich; dafür haben sie geworben. Das finde ich völlig
legitim. Wir sind bei den Verhandlungen auf der Zielge-
raden. Ich denke, es wird eine gute Lösung.
Als Nächster hat der Kollege Diaby das Wort.
Frau Ministerin, das EFI-Gutachten wurde mehrfach
erwähnt. Ich möchte fragen, welche Forderungen aus
den letzten EFI-Gutachten die Bundesregierung umset-
zen wird bzw. bereits umgesetzt hat.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Herr Diaby – ich habe mir Ihren Namen gemerkt; Sie
haben mich kritisiert, dass ich ihn immer vergesse –, das
EFI-Gutachten wurde vor kurzem veröffentlicht. Viele
der Positionen in diesem Gutachten entsprechen genau
unseren Handlungslinien. Hinsichtlich der Programm-
pauschale ist zum Beispiel das, was die Experten sich
wünschen, bis jetzt noch nicht umgesetzt, aber wir ste-
hen dazu in Verhandlungen mit den Ländern. Wenn sie
sagen, dass sie Verlässlichkeit im Bereich der außeruni-
versitären Einrichtungen wollen, dann sage ich: Das ma-
chen wir auf jeden Fall, hundertprozentig; wir sind im
Gespräch. Wenn sie sich deutlich für die Weiterentwick-
lung der Hightech-Strategie aussprechen, dann sage ich:
Das steht nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern wird
jetzt auch getan. Man kann also sagen, dass wir für den
größten Teil der Schlussfolgerungen ein hohes Maß an
Sympathie haben, aber nicht für jeden Einzelfall. Wo wir
es möglich machen können und es prinzipiell für richtig
halten, versuchen wir seitens der Bundesregierung, diese
Empfehlungen umzusetzen.
Jetzt hat der Kollege Rossmann das Wort.
Frau Ministerin, Kollege Gehring hatte schon auf dasanspruchsvolle 3,5-Prozent-Ziel hingewiesen und nachBraindrain und Braingain gefragt. Ich möchte die Fragezuspitzen, weil der Kollege Fuchtel, der SchutzpatronGriechenlands, hinter Ihnen sitzt: In den südeuropäi-schen Ländern gibt es große Probleme. Griechenlandbeispielsweise investiert aktuell 0,6 Prozent des Brutto-inlandprodukts in Forschung und Entwicklung. Um dieZahl zu wiederholen: Griechenland hat in den letztenzwei, drei Jahren einen enormen Braindrain erlebt, da100 000 wissenschaftlich qualifizierte Menschen ausge-wandert sind. Auf Deutschland bezogen wären das800 000 Menschen. Ich sage das, damit wir wissen, waswir dem Land zumuten und welche Entwicklung sichdort vollzieht. Können Sie sagen, mit welchen Initiativendie Bundesregierung das, was in ihrer Stellungnahmeenthalten ist, ausfüllen will, wie sie also die Entwicklungim Bereich Wissenschaft und Forschung in südeuropäi-schen Ländern, in Ländern, die sich trotz Strukturkrise
Metadaten/Kopzeile:
2940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(C)
(B)
entwickeln sollen, befördern will? Was sind die besonde-ren Anknüpfungspunkte – vom DAAD bis hin zu euro-päischer Einwirkung –, damit wir 2020 das 3-Prozent-Ziel tatsächlich in allen Ländern erreichen und es nichtetwa dazu kommt, dass Deutschland 3,5 Prozent undGriechenland 1,0 Prozent erreichen?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Wir haben eine Reihe von Maßnahmen in diesen Län-dern ergriffen, nicht nur im akademischen Bereich, undhaben auch entsprechende Kontakte. Bezüglich Grie-chenland – das Land haben Sie ja explizit angesprochen –gibt es im Rahmen des DAAD spezielle Programme, umgriechische Studierende und Absolventen zu unterstüt-zen. Wir stocken in der EU die Mittel für ERASMUS– dafür hat Deutschland sehr gekämpft – um 40 Prozentauf. Wir führen auch im Bereich der beruflichen Bil-dung, die in der jetzigen Diskussion noch keine Rollespielte und immer wenig beachtet wird, entsprechendeMaßnahmen durch. Auch daran haben diese Länder Inte-resse. Es gibt ein Memorandum – Griechenland und Spa-nien sind beispielsweise dabei, aber nicht nur diese –, indem wir entsprechende Unterstützung vereinbart haben.Dabei geht es nicht um einen simplen Export, also nichtdarum, das, was wir in Deutschland machen, in diesenLändern vor Ort zu reproduzieren, sondern um Förde-rung. Gleichzeitig wollen wir – das betrifft insbesondereden Bereich des Arbeitsministeriums – Jugendliche, diejetzt die Chance nutzen, in Deutschland eine Ausbildungzu absolvieren, finanziell unterstützen.Es gibt zwischen den Universitäten traditionell schonlange bestehende Kontakte. Diese führen jetzt in dieserspeziellen Situation dazu, dass man auch vonseiten derdeutschen Hochschulen und nicht nur vonseiten desBundes die Möglichkeiten nutzt, die es gibt. Speziellbeim DAAD sind wir auf diese Problematik eingegan-gen.
Jetzt hat der Kollege Lenkert das Wort.
Frau Ministerin, ich hatte vorhin nach den Arbeits-
bedingungen gefragt. Ich möchte Sie noch einmal daran
erinnern: 85 Prozent aller Jungabsolventen, die an Hoch-
schulen beschäftigt sind, haben befristete Arbeitsver-
träge, davon sind zwei Drittel auf weniger als ein Jahr
befristet. Das sind für mich keine Bedingungen, die da-
für sorgen, dass ein Wechsel stattfindet, sondern solche
Bedingungen bieten schlicht keine Planbarkeit. Demzu-
folge wird unserer Industrie irgendwann der Nachwuchs
ausgehen. Die Firma Bayer hat wahrscheinlich aus diesen
Gründen ein riesiges Forschungszentrum in Schanghai
eingerichtet. Dort sind ja die Absolventenzahlen deutlich
höher, und vor allen Dingen bleiben dort die besten Ab-
solventen an den Hochschulen, was die Qualität zukünf-
tiger Absolventen deutlich steigern wird.
Jetzt zum zweiten Teil meiner Frage, auf den Sie vor-
hin nicht eingegangen sind. Sie wollen den Ländern zu-
sätzlich 6 Milliarden Euro für Bildung geben. Wie wol-
len Sie sicherstellen, dass das Geld in der Bildung
ankommt, und wollen Sie das Kooperationsverbot zu
diesem Zwecke aufheben?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich habe die Logik Ihrer Frage vorhin schon nicht
verstanden. Sie sagen: Wenn die Bedingungen an den
Hochschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs
nicht gut sind, dann fehlen die guten Kräfte in der Wirt-
schaft – so Ihre These. Das Gegenteil müsste dann doch
der Fall sein: Nachwuchswissenschaftler müssten ein
großes Interesse haben, zu optimalen Bedingungen in
die großen Forschungsabteilungen der Wirtschaft zu ge-
hen.
Es gibt übrigens auch kein einziges Programm des
Bundes, aus dem sich eine Befristung auf ein Jahr oder
weniger für die Mitarbeiter an den Hochschulen ableitet,
im Gegenteil. Über diesen Punkt haben wir in den Koali-
tionsverhandlungen diskutiert, also darüber, wie man ge-
gen diese Praxis, dass die Hochschulen Arbeitsverträge
oft sehr kurz befristen, angehen kann. Das ist keine
Folge, die sich irgendwie aus unseren Gesetzen ergibt,
aber in der Praxis ist es so. Das sage ich klipp und klar.
Ich kann auch Ihre Dramatisierung, dass es befristete
Arbeitsverhältnisse gibt, nicht nachvollziehen. Wenn
man promoviert, dann hat man natürlich ein befristetes
Arbeitsverhältnis, und danach entscheidet man sich. Das
dauert, je nachdem, drei, vier oder fünf Jahre. Das ist
ganz normal, und das ist, soweit ich weiß, auch an den
Hochschulen in den meisten anderen Ländern so.
Was die Sicherheit betrifft: Ich gehe davon aus, dass
Bund und Länder ein gemeinsames Interesse daran ha-
ben. Mit den 2008 zwischen der Bundeskanzlerin und
den Ländern vereinbarten Zielen, zum einen das 10-Pro-
zent-Ziel und zum anderen das 3-Prozent-Ziel, haben
wir, glaube ich, eine gute Basis. Natürlich kann der
Bund, auch wenn Sie sich das wünschen, die Länder
nicht einfach zwangsverpflichten. Wenn man Vereinba-
rungen trifft, müssen diese aus gegenseitigem Respekt
realisiert werden. Wir haben zum Beispiel beim Hoch-
schulpakt und bei der Exzellenzinitiative – hier gibt es ja
Bund-Länder-Kooperationen; jeder zahlt seinen Teil –
gute Erfahrungen gemacht. Das ist zwar nicht immer
einfach abrechenbar, aber im Prinzip gibt es da klare Re-
geln. Ich bin jedenfalls nicht diejenige, die den Ländern
einfach etwas vorschreibt. Das kann ich nicht.
Noch einen Satz: Für eine Veränderung von Arti-
kel 91 b des Grundgesetzes bin ich sehr. Das halte ich im
Wissenschaftsbereich für zwingend notwendig.
Jetzt hat der Kollege Dr. Thomas Feist das Wort.
Frau Ministerin, Investitionen in Forschung und Ent-wicklung sind immer Investitionen, die, wie ich finde,gerechterweise nur zum Teil mit Wissenschaft zu tun ha-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2941
Dr. Thomas Feist
(B)
ben. Sie haben völlig zu Recht auch auf Ausbildung hin-gewiesen. Wie lautet Ihr Vorschlag, um in die Zukunftunseres Standortes zu investieren und dabei gleichzeitigetwas für die Gleichwertigkeit von akademischen undberuflichen Bildungsabschlüssen zu tun?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Wir haben gemeinsam mit der Kulturministerkonfe-renz im Rahmen des DQR die Gleichstellung vonMeister- und Bachelorabschlüssen beschlossen. In Dort-mund habe ich die ersten Meisterbriefe, in denen dasverankert und dokumentiert ist, zusammen mit dem Chefder Handwerkskammer übergeben dürfen.Was wir brauchen, ist eine größere Wertschätzung derdualen Ausbildung, der beruflichen Ausbildung, derQualität der Arbeit eines Handwerkers und eines Fachar-beiters. Das lässt sich durch bunte Flyer und Plakatenicht so einfach erreichen. Hier tun wir sehr viel, und wirwerden unsere Bemühungen verstärken. Es ist notwen-dig, dass man sich gesamtgesellschaftlich klarmacht, inwelch schwierige Situation wir kommen, wenn wirjunge Menschen nicht in verstärktem Maße für eine du-ale Ausbildung gewinnen. Dieses Thema ist aber auchim Hinblick auf die Lebenschancen des Einzelnen unddie Bildungsgerechtigkeit sehr wichtig.Ich sage es gerne noch einmal – dabei richte ich michinsbesondere an die jungen Menschen, die auf der Zu-schauertribüne sitzen –: Wir haben in Deutschland imMoment eine gute Situation. Die Arbeitslosenquote liegtim Schnitt bei etwas über 5 Prozent; die Lage ist regio-nal allerdings sehr unterschiedlich. In dieser Situationherrscht unter denjenigen, die einen akademischen Ab-schluss haben, eine Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent.In der Gruppe derer, die keinen Abschluss haben, beträgtdie Arbeitslosenquote über 19 Prozent. Das heißt, jederFünfte ohne Abschluss ist ohne Arbeit, und das in einerSituation, in der die Arbeitslosigkeit insgesamt geringist. Deswegen ist es, was die Bildungsgerechtigkeit be-trifft, ganz wichtig, dass sich die Bundesregierung, dasParlament und alle Fraktionen gemeinsam darum bemü-hen, die Akzeptanz der dualen Ausbildung und ihre Be-dingungen zu verbessern.ERASMUS plus bietet sehr attraktive Bedingungen.Wenn jemand zum Beispiel im Rahmen einer Ausbil-dung zum Handwerker für drei Wochen ins Auslandgeht, dann wird dies finanziell und auch in jeder anderenHinsicht sehr viel stärker unterstützt, als es bei Studen-ten im Rahmen von ERASMUS der Fall ist. Das ist einFingerzeig, dass wir uns hier besonders bemühen wol-len.Danke.
Jetzt hat der Kollege Gehring das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben angesprochen, dass Siesich stärker um die klügsten Köpfe bemühen wollen.Das steht durchaus im Widerspruch zum zunehmendenBefristungsunwesen an vielen Hochschulen hierzulande;der Kollege von der Linksfraktion hat darauf hingewie-sen. Deshalb möchte ich Ihnen die Frage stellen – ichbitte Sie um eine Antwort –: Was tun Sie, um im Hoch-schul- und Wissenschaftssystem in Deutschland wettbe-werbsfähige Beschäftigungsverhältnisse zu gewährleis-ten, die fair ausgestaltet sind und eine verlässlichePerspektive bieten? Ganz konkret: Wieso nehmen Siesich kein neues Juniorprofessuren-Programm vor? Wannkommt die Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsge-setz? Wie wollen Sie, wie im Koalitionsvertrag ange-kündigt und versprochen, die Grundfinanzierung derHochschulen verbessern? Das sind drei Bausteine, diePerspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchsschaffen. Es wäre schön, wenn Sie sich hierzu konkretverhalten würden.Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Die Einführung der Juniorprofessur war – FrauBulmahn, Sie erinnern sich – mit großen Widerständenverbunden. Unser Ziel war es, sie zu einem ganz norma-len Instrument der akademischen Karriere zu machen.Das hat funktioniert. Heute gibt es die Juniorprofessur,und sie ist akzeptiert. Allerdings gibt es auch andereWege, die möglich sind.Zum Beispiel ist bei den Juniorprofessuren – das freutmich besonders – ein viel höherer Frauenanteil als bei al-len anderen Professuren zu verzeichnen. Auch in dieserHinsicht sind sie also ein geeignetes Instrument. Es be-steht aber keine Notwendigkeit, Dinge, die angeschobenund initiiert wurden, auf Dauer zu fördern, wenn mandadurch in das normale Regelwerk der Hochschulen ein-greift. Die Hochschulen haben die Freiheit, selbst zu ent-scheiden, wie sie mit diesem Thema – Juniorprofessurenund andere Professuren – umgehen.Ich glaube, wenn der Bund, die Bundesregierung, dieKoalitionsfraktionen sagen würden: „Wir wollen dieGrundfinanzierung der Hochschulen unterstützen“, dannginge das weit über unseren Auftrag hinaus. Dazu be-steht weder eine rechtliche Verpflichtung, noch gibt esohne Weiteres die entsprechenden Möglichkeiten. Eswäre eine kleine Revolution, wenn wir das hinbekom-men würden. Wir wollen, dass die Bedingungen an denHochschulen verbessert werden, auch dadurch, dass dieGrundfinanzierung verbessert wird.Ein Beispiel ist die Exzellenzinitiative. Wozu führtsie? In der Regel hat sie zur Folge, dass in den Hoch-schulen viel Geld für qualifizierte Arbeitsplätze vorhan-den ist. Dass der Anteil junger Menschen, der an einerHochschule oder Wissenschaftseinrichtung befristet– das ist für sie ein großer Nachteil – beschäftigt ist, sogroß ist, hat damit zu tun, dass der Bund die dafür erfor-derlichen finanziellen Möglichkeiten geschaffen hat.
– Das wird angegangen, haben wir uns vorgenommen.
Metadaten/Kopzeile:
2942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
Jetzt hat der Kollege Kaczmarek das Wort.
Frau Ministerin, ich teile das, was Sie zum Thema
„Wertschätzung für das duale System“ gesagt haben,
voll und ganz. Ich wundere mich manchmal, dass – das
haben Sie nicht gesagt; aber so etwas ist manchmal zu
lesen – ein Widerspruch zwischen dualem System und
akademischer Ausbildung konstruiert wird. Wir erleben
doch gerade das Gegenteil: Arbeitgeber fragen nach An-
teilen von beruflicher Ausbildung und akademischer
Ausbildung. Deswegen die Frage: Sehen Sie noch Nach-
holbedarf, was den Zugang beruflich Qualifizierter zu
den Hochschulen angeht? Müssen wir nicht eher über
eine Verschränkung von akademischer und dualer Aus-
bildung reden?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ja, genau das müssen wir. Ich bin sehr froh, dass die-
ser simplen Diskussion, akademische Abschlüsse und
Berufsabschlüsse gegeneinander auszuspielen, beim
EFI-Gutachten dezidiert nicht gefolgt wurde.
Eine wichtige Möglichkeit, um die berufliche Ausbil-
dung zu stärken, ist die Erhöhung der Durchlässigkeit.
Das heißt, wer nach zwei, drei Jahren Berufsausbildung
einen Berufsabschluss erworben und drei Jahre Berufs-
praxis hat, kann in Deutschland – in dieser Hinsicht sind
mittlerweile alle Ländergesetze novelliert worden – mit
dieser beruflichen Erfahrung studieren. Man muss kein
Abitur nachholen, man braucht nicht den zweiten Bil-
dungsweg zu beschreiten. Man darf allerdings nicht je-
des Fach studieren, sondern nur eines, das mit dem Beruf
zusammenhängt. Allerdings sind – da müssen wir noch
stärker argumentieren – in vielen Bundesländern für sol-
che Bewerber noch große Hürden aufgerichtet, weil man
mit Eingangsprüfung, Probesemester oder anderem kon-
frontiert wird. Das schreckt ab. An dieser Baustelle ist
noch zu arbeiten. Rechtlich ist ein solches Verfahren
okay; aber damit das Studieren für Bewerber mit berufli-
chem Hintergrund attraktiv und möglich wird, müssen
wir, Bund und Länder, noch gemeinsam darauf hinwir-
ken.
Jetzt hat der Kollege Kaufmann das Wort.
Frau Ministerin, wir wollen ja eines der Hauptinstru-
mente unserer erfolgreichen Innovationspolitik, die
Hightech-Strategie, weiterentwickeln. Welche Rolle
spielen dabei Ihres Erachtens die „Forschungsunion
Wirtschaft – Wissenschaft“ und eine noch weiter ver-
tiefte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirt-
schaft und Politik?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Wir können es uns nicht leisten, dass gute Ideen, dass
Patente, die in Deutschland entwickelt werden, ohne
Weiteres das Land verlassen. Unser Interesse muss es
sein, dass möglichst viel in Deutschland – oder für
Deutschland im Ausland – umgesetzt wird. Deswegen
kann die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und
Wirtschaft keine simple Transferschiene sein, sondern
dafür braucht man – das ist ein komplexes Gebilde –
neue Formate. Zum Beispiel der Forschungscampus ist
so ein Format. Beim Forschungscampus arbeiten Indus-
trieunternehmen und Hochschulen zusammen, über zehn
Jahre, vom Bund unterstützt und gefördert, um im vor-
wettbewerblichen Bereich abzuklopfen, was für ein Po-
tenzial zum Beispiel eine Bachelorarbeit für ein Produkt
oder etwas anderes hat. Das heißt, eine Aufgabe ist es,
auch über neue Formate nachzudenken – neben denen,
die im Rahmen der Hightech-Strategie schon etabliert
sind –, um die Zusammenarbeit von Wissenschaft und
Wirtschaft, die ja keine Einbahnstraße sein kann, son-
dern sehr komplex ist, noch zu stärken.
Was den Übergang von Ideen aus der Grundlagenfor-
schung zu Produkten angeht, sind wir in Deutschland
sehr, sehr gut. Trotzdem haben wir noch Luft nach oben.
Wichtig ist, dass wir auch in der Grundlagenforschung in
der Lage sind, zukünftige Herausforderungen zu erken-
nen und Ideen an einer Stelle zu fördern und zu unter-
stützen, wo es noch gar nicht um die Verwertbarkeit von
Produkten gehen kann. Das haben wir zum Beispiel bei
der Batterieforschung oder bei der ressourcenschonen-
den Produktion erreicht.
Zum Schluss hat der Kollege Gehring noch einmal
das Wort.
Im Bericht der Bundesregierung ist die Lage wahr-scheinlich nicht nur gut und schön beschrieben. Deswe-gen würde ich Sie jetzt gerne noch einmal fragen: Wo se-hen Sie denn eigentlich, wo sieht der Bericht Lücken imInnovationsprozess in Deutschland? Wo müssen wir bes-ser werden, und wie wollen Sie dazu beitragen?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ich hatte vorhin erwähnt, Herr Gehring, dass wir dieHightech-Strategie weiterentwickeln. Genau an derStelle können wir schauen, wo wir Schwächen haben.Damit kann man vieles, glaube ich, bewältigen.Eine der Schwächen war, dass Kleinunternehmennoch nicht umfassend in den Innovationsprozess einge-bunden sind.Ein anderes wichtiges Thema ist Wagniskapital. Ichfinde nicht, dass wir einfach die amerikanische Variantehier realisieren können. Wir brauchen aber Neuerungenbeim Wagniskapital.Wir haben – da bin ich mir mit dem Wirtschaftsminis-ter einig – viele Instrumente, um Gründungen zu unter-stützen; aber gerade im Hightechbereich ist da noch eini-ges möglich.Was für mich keine Schwäche ist, sondern etwas, wowir stärker werden sollten, ist das Thema „Einbindung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2943
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
(C)
(B)
der Innovation in die Zivilgesellschaft“. Einige wichtigeThemen werden in Deutschland nicht mehr behandelt.Das kann uns Arbeitsplätze kosten. In diesen Bereichenfallen wir zurück.Es ist wichtig, von Anfang an auf die Ängste derMenschen, die es durchaus gibt, zu reagieren, die Sorgender Menschen ernst zu nehmen und sich zu überlegen,wie man dort entsprechend kommunizieren und dasdurch Forschung begleiten kann; das machen wir jetztzum Beispiel im Bereich der Energieforschung mit gro-ßen Projekten.Das sind einige wichtige Punkte. Es gibt aber nochviele andere. Ich möchte zum Beispiel gerne, dass dieFachhochschulen noch sehr viel stärker in der Breite prä-sent sind, weil sie Anlaufstellen für die kleinen und mitt-leren Unternehmen sind. Das ist aus meiner Sicht einWeg, um Innovationen mehr zu befördern.Ich hoffe auf eine gute Diskussion, wenn wir hierüber unsere Eckpunkte für die Weiterentwicklung derHightech-Strategie sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es Fragen zu
anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? – Das
ist nicht der Fall. Damit beende ich den Bereich der The-
men der heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es sonstige Fragen an die Bundesregierung? –
Das ist nicht der Fall. Dann beende ich die Befragung
der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/1433
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung
steht die Staatssekretärin Frau Fischbach zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Kathrin Vogler auf:
Welche Bemühungen unternimmt das Bundesministerium
für Gesundheit, um sicherzustellen, dass Patientinnen und Pa-
tienten in Deutschland sicher vor gefährlichen und verbotenen
Therapieformen wie zum Beispiel „Konversionstherapien“
und „reparative“ Verfahren bei Homosexualität sind, und wel-
che Informationen hat die Bundesregierung über die Verbrei-
tung solcher „Therapien“?
I
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin
Vogler, ich antworte Ihnen gerne auf Ihre Frage wie
folgt: Die Bundesregierung, wie im Übrigen auch die
Bundesärztekammer und der Weltärztebund, vertritt die
Auffassung, dass Homosexualität keine Krankheit ist
und keiner Therapie bedarf. Werden trotzdem fragwür-
dige Therapien angeboten, die geeignet sind, Patientin-
nen oder Patienten zu schädigen, dann sind die Ärzte-
kammern oder die Approbationsbehörden gefordert, im
Einzelfall berufsrechtliche Schritte einzuleiten.
Die Bundesregierung hat keine Informationen da-
rüber, wie häufig sogenannte Therapien angeboten wer-
den, die auf die Veränderung einer homosexuellen
Orientierung zielen.
Frau Vogler.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Hier kann ich
gleich ansetzen. Da diese sogenannten Therapien von
Homosexualität nach Auffassung der Bundesregierung
und auch nach Auffassung der Bundesärztekammer gar
keine Therapien sind, weil sie medizinischen Erkennt-
nissen und dem Stand der Wissenschaft widersprechen,
frage ich, welche konkreten Handlungsmöglichkeiten
die Bundesregierung sieht, auf die Approbationsbehör-
den und die Ärztekammern einzuwirken, damit dort zum
einen intensiver recherchiert wird, in welchem Umfang
es diese Art von seltsamen Therapieversuchen gibt, und
zum anderen Sanktionen gegen Ärztinnen und Ärzte ver-
hängt werden, die derlei betreiben.
I
Frau Vogler, die Aufsicht über die Berufsausübung
der Heilberufe liegt in der Hoheit der Länder. Hier sind
also die Länder gefordert.
Bei den Ärztekammern sind Gutachterkommissionen
eingerichtet, die befragt und angerufen werden können,
und auch die Schlichtungsstellen sollen versuchen, den
Patienten zu ihrem Recht zu verhelfen.
Ich will das noch einmal ganz deutlich sagen: Auf-
grund des Patientenschutzes ist es in Deutschland nicht
möglich, ohne Einwilligung des Patienten eine Therapie
durchzuführen. Wir haben ein Behandlungsvertragsrecht
– das ist im Bürgerlichen Gesetzbuch niedergeschrie-
ben –, das deutlich macht, dass nur allgemein anerkannte
fachliche Standards angewandt werden dürfen und dass
die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und die ärztli-
chen und fachärztlichen Erfahrungen eine Rolle spielen
und mit in die Behandlung einfließen sollen, damit das
Behandlungsziel auch erreicht wird.
Für uns und für die Fachwelt erfüllen die Therapien,
die Sie genannt haben, diese Standards nicht.
Frau Kollegin Vogler hat noch eine zweite Zusatz-
frage.
Vielen Dank. – Die Frage, die ich gestellt habe, undauch die folgenden Fragen der Kolleginnen und Kolle-gen basieren auf den Recherchen des JournalistenChristian Deker, der im Selbstversuch Arztpraxen aufge-sucht hat, in denen diese angebliche Therapie angebotenwurde. Er hat mit Erstaunen festgestellt, dass diese The-rapien auf den Rechnungen – er hatte sich als Privatpa-tient ausgegeben – teilweise unter anderen Bezeichnun-
Metadaten/Kopzeile:
2944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Kathrin Vogler
(C)
(B)
gen abgerechnet wurden. Außerdem musste er beiNachfrage an die gesetzlichen Krankenversicherungenfeststellen – ich zitiere wörtlich –:Auf die Frage, ob das erlaubt sei, antwortet keineeinzige der angefragten Versicherungen mit einemklaren Nein.Ich möchte Sie an dieser Stelle gerne fragen: Wiesieht die Bundesregierung die Erstattung solch zweifel-hafter Verfahren durch private Krankenversicherungenoder gesetzliche Krankenkassen? Halten Sie das für er-laubt?I
Wir müssen hier etwas genauer hinsehen. Es gibt Si-
tuationen, in denen Betroffene – ich sage es einmal so –
krankheitswertige Ausprägungen zeigen. Gerade junge
Menschen werden mit der Situation konfrontiert, dass
sie Fragen haben und noch nicht wissen: Wie sieht es mit
der eigenen sexuellen Identität aus? Wohin will ich? – In
Einzelfällen kann es möglich und auch nötig sein, wenn
es krankheitswertig ist, dass die Therapien verordnet und
abgerechnet werden. Aber ich sage noch einmal: In allen
anderen Fällen muss der Patient seine Einwilligung zu
diesen Therapien geben, sonst dürfen sie nicht durchge-
führt werden.
Jetzt hat der Kollege Petzold das Wort für eine Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin
Fischbach, wenn es diese hohe Übereinstimmung zwi-
schen Ihrem Haus und der Bundesärztekammer gibt,
dann möchte ich Sie gerne fragen, was Sie von der Idee
halten, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der
Bundesärztekammer eine öffentliche Kampagne zum
Thema „Homosexualität ist keine Krankheit“ durch-
führt. Dann wüssten möglicherweise unter anderem die
Jugendlichen, von denen Sie gesprochen haben, dass sie
vielleicht gar keine Krankheit haben und keine zweifel-
hafte Therapie benötigen, sondern anderweitig geklärt
werden kann, was mit ihnen los ist. Was halten Sie von
einer derartigen Kampagne, die dann auch in allen Arzt-
praxen aushängen könnte, um deutlich zu machen, dass
es sich hier um keine Krankheit handelt?
I
Herr Kollege Petzold, die Bundesregierung finanziert
über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
viele Kampagnen und verfügt über wirklich hervorra-
gendes Informationsmaterial. Auf diesem Gebiet laufen
sehr viele Kampagnen, gerade auch für die Schule, also
genau den Bereich, in dem sich junge Menschen, die in
der Persönlichkeitsfindung sind, aufhalten.
Diese Kampagnen sind sehr gut und werden sehr gut
angenommen; das zeigen die Zahlen der Inanspruch-
nahme. Ich bin davon überzeugt, dass wir noch mehr Öf-
fentlichkeitsarbeit betreiben können. Aber wir haben im
Moment einiges an Kampagnen auf den Weg gebracht,
die genau das beinhalten, was Sie fordern.
Jetzt komme ich zur Frage 2 der Abgeordneten Birgit
Wöllert. Hier ist um eine schriftliche Beantwortung ge-
beten worden.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Harald Petzold
auf:
Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um
Betroffene vor den teilweise gesundheitsschädlichen „Kon-
versionstherapien“ bzw. „reparativen“ Verfahren bei Homo-
sexualität zu schützen, und wie werden die Geschädigten von
der Bundesregierung unterstützt angesichts der Tatsache, dass
nicht nur christlich fundamentalistische Gruppen bis heute
meinen, Homosexualität sei eine veränderbare Charakter-
eigenschaft, sondern auch einige approbierte Ärztinnen und
Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
„Konversionsbehandlungen“ anbieten, um Homosexualität zu
„heilen“?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
I
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manches wird jetztwiederholt, weil die Fragestellungen der vorherigen Fra-gen fast identisch sind und sich nur in wenigen Detailsunterscheiden. Nichtsdestotrotz, Herr Kollege Petzold,antworte ich Ihnen gerne wie folgt: Die Bundesregierungist mit der Bundesärztekammer und dem Weltärztebundder Auffassung, dass Homosexualität keine Erkrankungist und deshalb keiner Therapie bedarf. Die in Rede ste-henden auf Beseitigung einer Homosexualität ausgerich-teten Therapien werden in Fachkreisen abgelehnt. Obdie Anwendung oben genannter Therapien im Einzelfallgegen berufsrechtliche Pflichten des Arztes oder Psy-chotherapeuten verstößt, obliegt – das hatte ich vorhinschon gesagt – der Überprüfung der zuständigen Landes-behörden.Mit dem 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtege-setz hat die Bundesregierung wichtige Impulse gesetzt,um Patientinnen und Patienten im Behandlungsverhält-nis zu schützen; denn die Entscheidung darüber, ob undwelche Behandlung durchgeführt werden soll, trifft derBehandelnde nicht alleine. Rechtliche Grundlage füreine Behandlung ist immer die Einwilligung des Patien-ten, nachdem er vom Behandelnden – auch das ist wich-tig – umfassend aufgeklärt wurde. Bei der Aufklärung istauch auf Alternativen zu der beabsichtigten Behand-lungsmaßnahme hinzuweisen. Hinweise zu Risiken undChancen der vorgesehenen Behandlung und zu Behand-lungsalternativen dürfen nicht auf eine abstrakte Risiko-beschreibung beschränkt sein.Mit dem Patientenrechtegesetz wurde auch § 66SGB V geändert. Die Krankenkassen sollen nunmehrVersicherte bei dem Verdacht auf einen Behandlungsfeh-ler unterstützen. Eine fehlerhafte Behandlung kann auchdann vorliegen, wenn keine Erkrankung vorliegt undtrotzdem behandelt wird oder wenn falsche Therapie-methoden angewendet werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2945
(C)
(B)
Kollege Petzold.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe eine Nach-
frage, sehr geehrte Frau Kollegin Fischbach. Was halten
Sie davon, eine Studie in Auftrag zu geben, mit der wis-
senschaftlich fundiert erforscht wird, inwieweit derartige
Behandlungstherapien in der Ärzteschaft verankert sind
und inwieweit durch diese Therapien Schaden angerich-
tet wird?
I
Es gibt sehr viele Studien, die sich mit dem Thema
beschäftigen. Aber anscheinend – so sieht es im Moment
aus – gibt es größere Bedarfe. Wir werden in der Bun-
desregierung darüber reden und gegebenenfalls auch
neue Studien in Auftrag geben.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Petzold.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Parlamentari-
sche Staatssekretärin, Sie hatten Mechanismen ange-
sprochen, mit denen Patientenrechte geschützt werden.
Inwieweit wird das durch die Bundesregierung in der öf-
fentlichen Kommunikation unterstützt, bzw. mit welchen
Maßnahmen sorgen Sie dafür, dass so etwas bekannt ist?
I
Wir haben mit der Neubesetzung des Patientenbeauf-
tragten eine Person innerhalb der Bundesregierung, die
gerade dafür da ist, dafür zu sorgen, dass die Patienten-
rechte geschützt und eingehalten werden. Wir haben ge-
rade heute Morgen im Ausschuss gehört, dass die Zahl
der Rückmeldungen und Anfragen an diese Stelle sehr
groß ist. Bis zu 7 000 Patienten wenden sich an den Pa-
tientenbeauftragten. Das zeigt, dass er in seiner Funktion
wahrgenommen wird und dass die Rückanbindung dann
auch in die Bundesregierung erfolgt.
Frau Vogler hatte sich noch für eine weitere Frage ge-
meldet.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, Sie haben völlig
zu Recht darauf hingewiesen, dass die informierte Ein-
willigung des Patienten bzw. der Patientin die Vorausset-
zung für einen gültigen Behandlungsvertrag ist. Ich
stelle mir die Frage, wie das vor allem bei Jugendlichen
sicherzustellen ist. In diesem Fall sind es ja gar keine Pa-
tientinnen und Patienten, sondern es geht um junge Men-
schen, die gerade in der Phase ihres Coming-out in der
Familie, im Freundeskreis und in der Schule Schwierig-
keiten haben und vielleicht auch tatsächlich unter psy-
chischen Druck geraten, weil ihre sexuelle Identität nicht
allgemein anerkannt ist und sie vielleicht sogar von ihren
Eltern zwangsweise einem solchen Scharlatan oder
Pseudotherapeuten vorgeführt werden. Wie können sich
diese jungen Menschen dagegen wehren, und welche
Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Rechte
junger Schwuler und Lesben zu stärken, damit sie sich
gegen solche Zumutungen wehren können?
I
Ganz klar müssen junge Menschen wissen, wo es Be-
ratungsstellen gibt und wo sie jemanden finden, dem sie
sich anvertrauen können, gerade auch in den Fällen, in
denen die eigene Familie Schwierigkeiten macht oder
dem jungen Menschen nicht die Unterstützung gibt, die
er braucht, um sich in seiner Identität zu finden. Es ist
ganz wichtig, dass er eine Beratungsstelle und eine ver-
trauensvolle Beratungsperson aufsuchen kann, die ihm
hilft.
Aber ich sage es noch einmal: Wir haben sehr viele
gute Kampagnen und Informationsmaterialien der Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung gerade auch
zum Coming-out-Prozess, wenn man sich fragt: Wie
gehe ich damit um? Wie kann ich mein Selbstwertgefühl
stärken? – Das muss noch stärker in die Schulen hinein-
getragen werden. Wir haben viele gute Rückmeldungen
aus den Schulen. Ich glaube, es macht auch Sinn, das
schon in den Sexualkundeunterricht mit einfließen zu
lassen, damit die jungen Menschen früh genug wissen,
welche Hilfestellungen es gibt und an wen sie sich wen-
den können.
Ich rufe jetzt die Frage 4 des Abgeordneten Harald
Petzold auf:
Wie können sich Betroffene gegen eine „Konversionsthe-
rapie“ schützen, da es trotz der Entpathologisierung von Ho-
1991 weiterhin Möglichkeiten gibt, die nichtheterosexuelle
Orientierung einer Patientin oder eines Patienten wie eine Er-
krankung zu behandeln, und welche Initiativen ergreift die
Bundesregierung, um die Möglichkeiten, „Konversionsthera-
pien“ unter dem Deckmantel der ärztlichen oder psychothera-
peutischen Behandlung abrechnen zu können, einzuschrän-
ken?
I
Ich sage es noch einmal: Es wird sich einiges wieder-holen, weil die Fragestellungen nicht sehr voneinanderabweichen.Herr Kollege Petzold, angesichts der Tatsache, dassHomosexualität keine Krankheit ist, sollen Betroffeneund deren Angehörige in die Lage versetzt werden, sichaktiv gegen eine solche Behandlung zu entscheiden. Vo-raussetzung dafür sind eine sachliche Aufklärung undInformation des Betroffenen über Homosexualität, wiesie zum Beispiel – ich habe das gerade in meiner Ant-wort auf die Zusatzfrage gesagt – von der Bundeszen-trale für gesundheitliche Aufklärung erfolgen. Dortwerden Homosexualität, homosexuelles Coming-out
Metadaten/Kopzeile:
2946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
(C)
(B)
und homosexuelle Persönlichkeitsentwicklung umfang-reich im Rahmen der Sexualaufklärung thematisiert so-wie in unterschiedlichen, kostenlosen und leicht zugäng-lichen Medien – es ist auch wichtig, dass der Zugangeinfach ist – als normaler Teil von Sexualität kommuni-ziert.Im Regelfall ist die Durchführung einer psychothera-peutischen Behandlung zulasten der gesetzlichen Kran-kenversicherung und meistens auch zulasten der privatenKrankenversicherung von der Bestätigung des Behand-lungsplans durch einen Gutachter abhängig. Dieser prüftauf der Grundlage eines Berichts des Behandelnden, obdie beantragte Psychotherapie im jeweiligen Behand-lungsfall indiziert ist. Dies dürfte nach der in meinerAntwort auf Frage 3 erwähnten Einschätzung derartigerKonversionstherapien zu verneinen sein.
Kollege Petzold.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich habe die
Nachfrage, was Ihr Ministerium unternimmt angesichts
der Tatsache – Frau Vogler hat darauf hingewiesen –,
dass in der Zwischenzeit in der Öffentlichkeit bekannt
geworden ist, dass derartige Therapien zur Anwendung
kommen. Wenn so etwas bekannt wird, muss doch
staatsanwaltschaftlich gegen die entsprechenden Thera-
peuten zum Beispiel wegen Körperverletzung vorgegan-
gen werden.
I
Ich sage es noch einmal: Die Aufsicht über die Be-
rufsausübung bei den Heilberufen obliegt den Ländern.
Es geht darum, dass sich die Betroffenen melden und
Anzeige erstatten, damit entsprechend gehandelt werden
kann. Die Bundesregierung kann für niemanden einen
Arzt verklagen. Sie kann in den entsprechenden Fällen
nur auf die Länder einwirken, für große Öffentlichkeit
zu sorgen.
Für eine zweite Zusatzfrage hat der Kollege Petzold
das Wort.
Sie haben die Möglichkeiten, Zugang zu den entspre-
chenden Informationen zu bekommen, angesprochen.
Meine zweite Zusatzfrage lautet deswegen: Sind Sie als
Vertreterin des Bundesgesundheitsministeriums bereit,
beispielsweise auf der Startseite Ihrer Internetpräsenta-
tion einen sehr schnellen Zugang zu den entsprechenden
Informationen zu schaffen bzw. das, was Sie hier über
die fachliche Auffassung Ihres Hauses gesagt haben,
dort zu dokumentieren, und zwar leicht auffindbar und
erkennbar?
I
Wir überarbeiten die Internetseite unseres Hauses
ständig und überlegen in Gesprächen immer gemeinsam,
an welchen Stellen bestimmte Sachverhalte aufgenom-
men werden sollen bzw. aufgenommen werden müssen.
Das werden wir auch in diesem Fall tun.
Dann hat die Kollegin Vogler noch eine Frage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben darauf hingewiesen,
dass es umfangreiches Aufklärungsmaterial gibt, das
kostenlos und leicht zugänglich zur Verfügung steht. Sie
haben des Weiteren auf die Sexualaufklärung vor Ort in
Schulen und in den Kommunen hingewiesen. Nun frage
ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass in letzter Zeit in
vielen Kreisen und Kommunen gerade die Projekte zur
Sexualaufklärung Jugendlicher aus Geldmangel oder aus
politischer Opportunität gestrichen worden sind bzw.
erst gar nicht bewilligt worden sind.
Ich war kürzlich in Paderborn, um eine Spende unse-
res Fraktionsvereins an den Verein pro familia zu über-
bringen, der super Aufklärungsarbeit leistet und super
Präventionsprojekte für Jugendliche und Menschen mit
Behinderung durchführt. Dieser Verein bekommt aber
vom Kreis Paderborn keinen einzigen Cent dafür.
Meine Frage lautet: Kann sich die Bundesregierung
vorstellen, Kommunen dabei zu unterstützen und sie
aufzufordern, sich diesen Fragen wieder mehr zuzuwen-
den?
I
Frau Kollegin, Sie verstehen sicherlich, dass ich keine
Zusage machen kann, dass die Bundesregierung jetzt Pa-
derborn unterstützt in der Ausübung der Tätigkeiten, die
die Kommune aufgrund des SGB VIII vor Ort leisten
muss. Aber ich kann Ihnen versichern, dass die Bundes-
regierung über Modellprojekte diese Themen immer
wieder in die Fläche bringt. Das werden wir – genauso
wie bisher – auch in diesem Fall tun.
Wir können an der Stelle nur immer wieder darauf
hinweisen, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung hervorragende Materialien kostenlos zur
Verfügung stellt. Auch die Stadt Paderborn, bei der Sie
waren, könnte darauf zurückgreifen und eine vielleicht
noch bessere Aufklärungsarbeit leisten.
Die Fragen 5 und 6 des Abgeordneten HaraldWeinberg sowie die Fragen 7 und 8 der AbgeordnetenMaria Klein-Schmeink werden schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. DieFrage 9 des Kollegen Dr. André Hahn, die Fragen 10und 11 des Kollegen Stephan Kühn sowie die Fragen 12
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2947
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
und 13 des Kollegen Herbert Behrens werden ebenfallsschriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit.Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Hans-ChristianStröbele auf:In welcher Höhe hat Deutschland in den vergangenen zehnJahren finanzielle Mittel für Bauten des US-Militärs und derNSA in Deutschland, beispielsweise das European Cryptolo-gic Center – „Dagger Complex“ – in Darmstadt bzw. Wiesba-den, beigesteuert – bitte einzeln aufschlüsseln nach Jahrenund Bauprojekten –, und was ist gegebenenfalls der Grund fürdeutsche Zahlungen für einen US-Geheimdienst, der nachDokumenten Edward Snowdens verdächtig ist, Millionen vonKommunikationsverbindungen deutscher Staatsbürger ille-gal, anlasslos und verdachtsunabhängig ausgespäht, gespei-chert und ausgewertet zu haben, und für Zahlungen für dasUS-Militär, die in zehn Jahren 600 Millionen Euro betragen
Zur Beantwortung erhält die Staatssekretärin FrauSchwarzelühr-Sutter das Wort.Ri
Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, entsprechend den
Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut – ZA NTS –
sowie mit den in Deutschland stationierten US-Streit-
kräften bilateral abgeschlossenen Vereinbarungen – das
sind die Auftragsbautengrundsätze – wer-
den die Baumaßnahmen der US-Streitkräfte – Neubau-,
Umbau- und Erweiterungsbauten – sowie Bauunterhalt
in der Regel von der Bundesrepublik Deutschland für die
US-Streitkräfte durchgeführt. Die Baukosten dieser Bau-
maßnahmen werden vollständig von den US-Streitkräf-
ten getragen. Zudem entschädigen die US-Streitkräfte
den Bund für die Durchführung der Baumaßnahmen.
Diese Entschädigung – durchschnittlich 6 Prozent der
Baukosten – deckt nicht die tatsächlichen Kosten der
Planungs- und Bauherrenleistungen, die der Bund den
Ländern für die Tätigkeit der organgeliehenen Bauver-
waltungen erstattet. Diese Differenz, das heißt der Fi-
nanzierungsbeitrag des Bundes, betrug in den letzten
zehn Jahren insgesamt rund 824 Millionen Euro.
Eine detaillierte Aufschlüsselung nach Jahren und
Bauprojekten ist aufgrund der sehr umfangreichen Pro-
jektanzahl in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht
möglich und zudem wegen der Vielzahl und Kleinteilig-
keit der Maßnahmen mit erheblichem Personalaufwand
verbunden. Auftraggeber der vom Bund für die US-
Streitkräfte durchgeführten Baumaßnahmen sind aus-
schließlich Dienststellen der US-Streitkräfte. Baumaß-
nahmen für nichtmilitärische Einrichtungen sind durch
die vorgenannten Abkommen und Vereinbarungen nicht
gedeckt und werden von der Bundesregierung bzw. von
den für den Bund tätigen Bauverwaltungen auch nicht
übernommen.
Herr Kollege Ströbele.
Danke. – Heißt das konkret – ich habe nach der NSA
gefragt –, dass für NSA und CIA – das sind Geheim-
dienste der Vereinigten Staaten von Amerika – keinerlei
Kosten anfallen, seien es Kosten für die Durchführung
der Bauten, seien es Kosten für den Geländekauf oder
Ähnliches? Ich habe auch zwei Beispiele genannt.
Ri
Ich kann meine Antwort nur wiederholen: Es gibt
eine Unterscheidung zwischen denjenigen Baumaßnah-
men, die durch die Abkommen und die bilateralen Ver-
einbarungen gedeckt sind, und denen, die es nicht sind.
Dabei verweise ich auf meine vorherige Antwort.
Herr Ströbele.
Jetzt muss ich die zwei weiteren Fragen miteinander
verbinden, weil Sie meine Frage nicht beantwortet ha-
ben. Heißt das konkret, dass für diese Baumaßnahmen,
also etwa die Verlegung der NSA-Dienststelle von
Darmstadt offenbar nach Wiesbaden, keinerlei Kosten
von der Bundesregierung getragen werden? Sie haben
auch eine weitere Frage nicht beantwortet: Was ist ei-
gentlich der Grund dafür, dass Deutschland rund
800 Millionen Euro insgesamt für solche Baumaßnah-
men ausgibt?
Ri
Der Grund – ich hatte das eingangs gesagt – sind die
Abkommen, die wir mit den US-Streitkräften haben. Sie
beziehen sich auf den Dagger Complex in Darmstadt. Da
wurden in den letzten zehn Jahren verschiedene Bau-
maßnahmen mit einem Gesamtvolumen der Baukosten
von unter 5 Millionen Euro im Auftragsbauverfahren
von der Bundesbauverwaltung für die Streitkräfte durch-
geführt.
Wir kommen damit zur Frage 15 der AbgeordnetenSylvia Kotting-Uhl:Kann das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit, BMUB, ausschließen, dass imletzten und in diesem Jahr in den diversen Gesprächen zwi-schen Vertretern des BMUB und der Atommüll-/Abfallverur-sacher zu Endlager- und Entsorgungsfragen wie beispiels-
von Abfallverursacherseite eine mögliche Veränderung desbisherigen Systems der Entsorgungsrückstellungen ins Spielgebracht wurde, und hatte das BMUB vor dem 11. Mai 2014von etwaigen Gesprächen anderer Bundesressorts, insbeson-dere des Bundeskanzleramtes, mit Vertretern der AKW-betrei-
Metadaten/Kopzeile:
2948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
benden Energiekonzerne bzw. der Abfallverursacher zu einermöglichen Veränderung des bisherigen Systems der Entsor-gungsrückstellungen und/oder übergeordneten Überlegungeneiner Art Bad Bank für Atomkraftwerke und Atommüll in die-ser Wahlperiode gegebenenfalls Kenntnis?Frau Staatssekretärin, auch hier haben Sie das Wort.Ri
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Kollegin Kotting-
Uhl, zu dieser Thematik hat es weder Verhandlungen der
Bundesregierung mit Vertretern der Energiekonzerne ge-
geben, noch gibt es dazu Beschlüsse innerhalb der Bun-
desregierung. Dass am Rande von sonstigen Gesprächen
einzelne EVU-Vertreter an Vertreter des BMUB oder an-
derer Ressorts diese oder ähnliche Überlegungen heran-
getragen haben, kann seitens des BMUB denktheore-
tisch nicht ausgeschlossen werden.
Die Verantwortung für den sicheren Auslaufbetrieb
der Kernkraftwerke, die Stilllegung und die Zwischenla-
gerung der radioaktiven Abfälle liegt bei den Energie-
versorgungsunternehmen. Diese haben uneingeschränkt
sämtliche Kosten der Stilllegung sowie der Entsorgung
zu tragen. Die für die radioaktiven Abfälle verantwortli-
chen Energiekonzerne haben hierfür in den Handelsbi-
lanzen Rückstellungen in Höhe von circa 36 Milliarden
Euro, Stichtag: 31. Dezember 2013, passiviert. Nach
dem geltenden Verursacherprinzip liegt die volle Kos-
tenverantwortung bei den Unternehmen. Dabei muss ge-
währleistet sein, dass die erforderlichen finanziellen
Mittel im Bedarfsfall zur Verfügung stehen. Entspre-
chend dem Koalitionsvertrag wird die Bundesregierung
über die Umsetzung dieser rechtlichen Verpflichtungen
mit den Energieversorgungsunternehmen Gespräche
führen.
Frau Kotting-Uhl, Sie haben das Wort zur ersten
Nachfrage.
Danke, Frau Präsidentin. – Vielen Dank für Ihre Aus-
führungen, Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter.
Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, was den
zweiten Teil betrifft, also die Frage, wer die Verantwor-
tung trägt.
Der erste Teil Ihrer Antwort, was die Kenntnis über
Gespräche, sofern es überhaupt welche gab, betrifft, wi-
derspricht einer Antwort, die mein Kollege Krischer aus
dem Ministerium von Herrn Gabriel bekommen hat. Da-
rin sind nämlich Gespräche zwischen Herrn Gabriel und
Herrn Altmaier einerseits mit Herrn Terium von RWE
und Herrn Teyssen von Eon andererseits durchaus bestä-
tigt worden. Es heißt in dieser Antwort, dass entspre-
chende Überlegungen vonseiten der Kernkraftwerke
betreibenden Energieversorgungsunternehmen in allge-
meiner Form und ohne Konkretisierungen Mitgliedern
der Bundesregierung vorgetragen wurden. Hat Ihr
Ministerium davon überhaupt keine Kenntnis gehabt?
Hat man Sie also durch das Ministerium für Wirtschaft
und Energie über diese Gespräche nicht in Kenntnis ge-
setzt?
Ri
Ich habe gerade betont: Es gab keine Verhandlungen
und auch keine Beschlüsse. Dass dieses Thema am
Rande irgendwelcher anderen Gespräche mit BMUB-
Vertretern behandelt wurde, kann ich denktheoretisch
nicht ausschließen.
Zweite Zusatzfrage.
Halten Sie es denn für möglich, Frau Staatssekretärin,
dass die Energieversorger bei solchen Gesprächen in all-
gemeiner Form darstellen, was sie sich vorstellen, und
dass darauf überhaupt nicht reagiert wird, dass man das
Ganze also stumm zur Kenntnis nimmt? Gab es Ihrer
Kenntnis nach keinerlei Reaktion?
Zweitens. Ist das BMUB davon in Kenntnis gesetzt
worden, dass es gar keine Reaktion gab, bzw. davon,
dass es eine gab?
Ri
Ich möchte noch einmal darauf verweisen, dass es
keine Verhandlungen und Beschlüsse gab, die dieses
Thema zum Inhalt hatten.
Es gibt noch weitere Nachfragewünsche. Zunächst
hat die Kollegin Lemke das Wort.
„Verhandlungen und Beschlüsse“ habe ich verstan-
den, Frau Staatssekretärin. Vielen Dank für die Aus-
kunft.
Ich möchte nur zum Punkt Gespräche nachfragen;
den Punkt „Verhandlungen und Beschlüsse“ lassen wir
einmal außen vor. Habe ich Sie richtig verstanden, dass
Wirtschaftsministerium und Kanzleramt in Gesprächen
mit den EVU über die Frage Entsorgungsrückstellungen
gesprochen haben und dass sie das BMUB darüber nicht
informiert haben?
Ri
Die Liste der Gespräche und Gesprächsteilnehmer istja nachher Gegenstand einer Frage von Herrn Meiwald,gerichtet an das BMUB, und einer weiteren Frage, ge-richtet an das BMWi. Ich möchte jetzt einfach darum bit-ten, dass ich Ihnen diese Liste nachher zukommen lassendarf.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2949
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
(C)
(B)
– Es gab keine Gespräche, in denen dieses Thema imMittelpunkt stand.
Natürlich können Sie eine weitere Nachfrage stellen,
Frau Lemke. Ich bitte Sie aber, dafür meine Wortertei-
lung abzuwarten und nicht dazwischenzurufen. – Bitte,
Frau Lemke.
Ich habe verstanden, dass offensichtlich, so wie Sie es
sagten, keine Gespräche zwischen den EVU und dem
BMUB stattgefunden haben. Aber wir haben in der Ant-
wort auf die Frage des Kollegen Krischer in den letzten
Tagen erfahren, dass BMWi und Kanzleramt mit den
EVU sehr wohl darüber gesprochen haben; nicht verhan-
delt und nicht beschlossen, aber gesprochen haben. Ich
wollte nur wissen, ob das BMUB über diese Gespräche,
die in der Antwort auf die Frage des Kollegen Krischer
dargelegt worden sind, informiert wurde.
Ri
Ich kann das nicht ausschließen, aber ich verweise
dazu noch einmal auf die folgenden Fragen.
Jetzt hat sich noch die Kollegin Höhn zu Wort gemel-
det.
Frau Staatssekretärin, es gab gerade dieser Tage im
Handelsblatt einen Artikel, in dem deutlich wurde, dass
der Vattenfall-Konzern die Haftungsmöglichkeiten für
zukünftige Kosten im Zusammenhang mit dem Atom-
müll jetzt einfach auf seine deutsche Tochter überträgt.
Die Haftung, für die sonst der gesamte Konzern die Ver-
antwortung gehabt hätte, liegt jetzt nur noch bei der
deutschen Tochter. Das Ganze läuft seit 2012.
Ist das BMUB über diese Umstrukturierung nicht in-
formiert worden? Hat es sich darüber nicht informiert?
Das ist doch bekannt! Wie konnte das BMUB in eine
solche Falle laufen angesichts der Tatsache, dass sich die
Unternehmen zunehmend aus der Verantwortung für zu-
künftige Schäden ziehen?
Ri
Frau Höhn, Sie verknüpfen jetzt mehrere Themenbe-
reiche, nämlich das Thema der Entsorgungsfonds und
die Frage, wie Vattenfall sich unternehmerisch aufge-
stellt hat. Ich möchte beide Themen gern trennen.
Zu dem Thema Entsorgung hat es, wie ich es gerade
gesagt habe, keine Verhandlungen und keine Beschlüsse
gegeben. Ich könnte jetzt der Frage von Frau Kotting-
Uhl vorgreifen, die darauf gerichtet ist, zu erfahren, wie
sich die Situation für die Muttergesellschaft durch Be-
herrschungs- und Gewinnabführungsverträge verändert
hat. Ich kann die Antwort auf diese Frage gern vorzie-
hen.
Jetzt hat aber zunächst die Kollegin Verlinden das
Wort.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, Sie haben ge-
rade gesagt, Sie könnten nicht ausschließen, dass es ei-
nen Austausch oder Informationen über diese Gespräche
im Bundeskanzleramt und im Wirtschaftsministerium
gegeben hat. Dann frage ich Sie jetzt ganz direkt: Wel-
che Form von Besprechungen und schriftlichen Abstim-
mungen hat es denn zu dem Thema „AKW-Rückbau“
und zu dem Thema „Atommüllentsorgung und die be-
treffenden Rückstellungen“ zwischen den beiden zustän-
digen Ressorts, also dem Umwelt- und dem Wirtschafts-
ministerium, in dieser Wahlperiode bisher gegeben?
Wann haben diese Besprechungen, insbesondere auf Lei-
tungsebene, stattgefunden, und was war das Ergebnis
dieser Besprechungen grundsätzlicher Art? Solche Be-
sprechungen müssten Sie ja durchgeführt haben, nehme
ich einmal an, weil das Thema ziemlich relevant ist.
Ri
Auch Sie greifen einer Frage vor, nämlich der Fragevon Herrn Meiwald. Aber ich beantworte sie Ihnen gern,Frau Verlinden.Folgende Gespräche auf Leitungsebene des BMUBmit hochrangigen Vertretern von Kernkraftwerke betrei-benden Energiekonzernen fanden in dieser Legislaturpe-riode statt:Am 25. April 2014 gab es ein Telefonat von Staatsse-kretär Jochen Flasbarth mit Dr.-Ing. Bernhard Fischervon Eon Generation GmbH zum Thema Standortzwi-schenlager. Aspekte des Rückbaus und der Entsorgungder AKW bzw. des Atommülls waren kein Gesprächsge-genstand.Am 19. Mai 2014 gab es ein Telefonat von Staatsse-kretär Jochen Flasbarth mit Dr.-Ing. Hans-Josef Zimmervon EnBW. Auch dabei ging es um das Thema Standort-zwischenlager. Aspekte des Rückbaus und der Entsor-gung der AKW bzw. des Atommülls waren kein Ge-sprächsthema.
Metadaten/Kopzeile:
2950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
(C)
(B)
– Sie wollten die Gespräche und die Termine wissen. Ichtrage es Ihnen gerade detailliert vor.
Wir kommen jetzt zur nächsten Frage.
Ri
Schriftverkehr gibt es keinen.
Entschuldigung! Wir haben noch eine ganze Reihe
von Fragen zu dem Themenkomplex. Ich würde einfach
darum bitten, dass im Rahmen der Behandlung der wei-
teren Fragen noch Nachfragen gestellt werden.
Ich rufe jetzt die Frage 16 der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl auf:
Bestehen nach Kenntnis des BMUB jeweils zwischen der
Vattenfall Europe Sales GmbH einerseits und der Kernkraft-
werk Brunsbüttel GmbH & Co. OHG und der Kernkraftwerk
Krümmel GmbH & Co. OHG andererseits jeweils Gewinnab-
führungs- und/oder Beherrschungsverträge, und falls nein,
welche Konsequenzen ergeben sich hieraus aus Sicht des
BMUB bezüglich einer möglichen oder nicht möglichen fi-
nanziellen Heranziehung der Vattenfall Europe Sales GmbH
im nuklearen Haftungsfall oder bei einem Nichtausreichen der
finanziellen Mittel der beiden oben genannten Betreiberge-
sellschaften von Brunsbüttel und Krümmel für Rückbau und
Entsorgung des betreffenden Atomkraftwerks und Atom-
mülls?
Ri
Frau Kotting-Uhl, gemäß der Solidarvereinbarung
zwischen den Energieversorgungsunternehmen ist jedes
Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, Beherr-
schungs- oder Gewinnabführungsverträge in Bezug auf
die Betreibergesellschaften derjenigen Kernkraftwerke
abzuschließen, für die sie die Muttergesellschaften sind.
Hieraus ergibt sich eine unbegrenzte Haftung der jewei-
ligen Muttergesellschaft mit ihrem gesamten Betriebs-
vermögen für finanzielle Verbindlichkeiten, die beim In-
haber des Kernkraftwerks entstehen.
Bei Vattenfall ist die Vattenfall GmbH als Vertrags-
partner der Solidarvereinbarung zwischen den Energie-
versorgungsunternehmen verpflichtet, Beherrschungs-
oder Gewinnabführungsverträge in Bezug auf die Kern-
kraftwerk Brunsbüttel GmbH & Co. OHG und die Kern-
kraftwerk Krümmel GmbH & Co. OHG abzuschießen.
Die in der Frage adressierte Vattenfall Europe Sales
GmbH ist eine für den Vertrieb zuständige Tochterge-
sellschaft Vattenfalls.
Frau Kotting-Uhl.
Danke schön, Frau Staatssekretärin. – Wir wissen be-
reits, dass bei Vattenfall keine Beherrschungsverträge
mehr mit der Mutterfirma – dem großen schwedischen
Konzern – existieren, sondern dass das bereits auf die
deutsche Tochter übertragen wurde. Es gibt durchaus
Hinweise, dass eventuell geplant ist, innerhalb der deut-
schen Holding diese beiden AKW-Betriebsgesellschaf-
ten abzuspalten bzw. zu isolieren.
Ich möchte jetzt gerne von Ihnen erfahren, ob Sie wis-
sen, welche Laufzeit diese Verträge zwischen den Be-
triebsgesellschaften und der Muttergesellschaft haben
und ob die deutsche Vattenfall Holding, solange diese
Verträge bestehen, verpflichtet ist, die Kernkraftwerk
Brunsbüttel GmbH & Co. OHG und die Kernkraftwerk
Krümmel GmbH & Co. OHG finanziell zu unterstützen,
falls deren eigene Mittel – das ist der Hintergrund der
Frage – für die Verpflichtungen in Bezug auf den Rück-
bau und die Entsorgung nicht ausreichen. Ist das BMUB
darüber informiert?
Ri
Zu der finanziellen Verantwortung der VattenfallGmbH: Gemäß der Solidarvereinbarung zwischen denEnergieversorgungsunternehmen ist die Vattenfall GmbHzum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabfüh-rungsvertrages mit der Vattenfall Europe Nuclear EnergyGmbH verpflichtet. Letztere wiederum ist verpflichtet,jeweils einen Beherrschungs- oder Gewinnabführungs-vertrag mit der Kernkraftwerk Brunsbüttel GmbH & Co.OHG und der Kernkraftwerk Krümmel GmbH & Co.OHG abzuschließen.Bis zum Herbst 2012 bestand ein im Jahr 2008 ge-schlossener Beherrschungsvertrag zwischen dem schwe-dischen Mutterkonzern Vattenfall AB und der VattenfallEurope AG, die zum damaligen Zeitpunkt Vertragspart-ner der Solidarvereinbarung zwischen den Energiever-sorgungsunternehmen war. Durch die Verschmelzungder Vattenfall Europe AG mit der Vattenfall DeutschlandGmbH entstand die heutige Vattenfall GmbH, und derBeherrschungsvertrag mit Vattenfall AB endete. Für diefinanziellen Verbindlichkeiten der KernkraftwerkBrunsbüttel GmbH & Co. OHG und der KernkraftwerkKrümmel GmbH & Co. OHG haften aufgrund der in derSolidarvereinbarung angeordneten Verpflichtung zumAbschluss von Beherrschungs- oder Gewinnabführungs-verträgen die Vattenfall GmbH und die Vattenfall EuropeNuclear Energy GmbH.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2951
(C)
(B)
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ich habe noch
eine weitere Frage, um das vielleicht noch ein bisschen
verständlicher zu machen: Hat die Bundesregierung
bzw. das Bundesumweltministerium Erkenntnisse da-
rüber, in welcher Höhe die Betriebsgesellschaften in
Brunsbüttel und in Krümmel ihre Rückstellungen je-
weils auf Rückbau, Zwischenlagerung und Endlagerung
verteilen?
Ri
Es wird regelmäßig überprüft, ob die Rückstellungen
entsprechend vorgenommen worden sind. Ich gehe da-
von aus – mir liegen keine anderen Erkenntnisse vor –,
dass dies geschah.
Danke schön.
Frau Höhn hat sich noch gemeldet; sie hat jetzt das
Wort.
Frau Staatssekretärin, ich hatte eben eine Frage ge-
stellt, die Sie auch jetzt nicht beantwortet haben, obwohl
Sie eine entsprechende Antwort angekündigt hatten.
Seit 2012 gibt es eine Umstrukturierung im Vatten-
fall-Konzern. Danach ist in Bezug auf zukünftige Schä-
den zu befürchten, dass eine ausreichende Haftung nicht
mehr gewährleistet werden kann. Hat es keinerlei Ge-
spräche zwischen dem damaligen BMU, dem jetzigen
BMUB, und Vattenfall darüber gegeben, wie man dieses
Risiko minimieren kann?
Ri
Frau Höhn, mit Ihrer Frage unterstellen Sie im Prin-
zip, dass Vattenfall seinen Haftungsverpflichtungen
nicht nachkommt. Ich habe versucht, Ihnen darzulegen,
dass sich die Rechtsform von Vattenfall zwar geändert
hat, die Verpflichtung als solche aber nicht.
Es gibt noch eine Nachfrage des Kollegen Peter
Meiwald.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, ich möchte Sie fragen: Gibt es vonseiten des BMUB
eine Einschätzung dazu, wie hoch die Summe der Rück-
stellungen eigentlich sein müsste, um die auflaufenden
Kosten für Zwischenlagerung, Rückbau der Kraftwerke
Krümmel und Brunsbüttel und Endlagerung zu decken?
Gibt es dazu Abschätzungen auf Basis der dem BMUB
vorliegenden Referenzstudien für den AKW-Rückbau?
Können Sie einschätzen, ob die Kraftwerksbetreiber
über ausreichend Rückstellungen verfügen?
Ri
Sehr geehrter Kollege Meiwald, ich hatte eingangs
gesagt, dass mit Stichtag Ende letzten Jahres Rückstel-
lungen in Höhe von ungefähr 36 Milliarden Euro vor-
handen waren. Die Energieversorgungsunternehmen sind
zur Übernahme der Kosten für Stilllegung, Rückbau und
Entsorgung verpflichtet. Das ist der Stand der Dinge.
Die Frage 17 des Abgeordneten Oliver Krischer wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 18 der Abgeordneten Steffi Lemke
auf:
Welche neueren schriftlichen Erkenntnisse liegen dem
BMUB zu den Kosten des Rückbaus und der Entsorgung von
Leistungsreaktoren und des betreffenden betrieblichen und
des Rückbauatommülls vor – bitte jeweils konkrete Angabe
von Titel, Autor und Datum machen –, und welche Konse-
quenzen ergeben sich für das BMUB aus diesen Erkenntnis-
sen in Bezug auf einen etwaigen Veränderungsbedarf am bis-
herigen System der Rückstellungen für Rückbau und
Entsorgung der Atomkraftwerke und des Atommülls, insbe-
sondere bezüglich Verfügbarkeit und Insolvenzfestigkeit?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Ri
Sehr geehrte Frau Kollegin Lemke, dem Bundes-
ministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit liegen keine neueren schriftlichen Unterlagen
zu den Kosten der Stilllegung und des Rückbaus von
Leistungsreaktoren sowie der Entsorgung der betreffen-
den radioaktiven betrieblichen und Rückbauabfälle vor.
Frau Lemke, bitte.
Das heißt, die Referenzkostenstudie der Firma NIS
zum Rückbau in Greifswald ist dem BMUB unbekannt?
Ri
Frau Lemke, das muss ich prüfen. Das weiß ich nicht;
das kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten. Ich würde Ih-
nen das schriftlich nachreichen.
Frau Präsidentin, dann würde ich gern meine zweite
Nachfrage stellen, wenn ich darf.
Gern.
Metadaten/Kopzeile:
2952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
Meine Nachfrage bezieht sich auch auf Ihre Antwort
auf die Frage der Kollegin Höhn. Nachdem die EVU in
den letzten Wochen presseöffentlich bekannt gegeben
haben, dass sie die Entsorgungskosten gern auf die öf-
fentliche Hand übertragen möchten: Vertrauen Sie den
EVU, dass es keinerlei Bestrebungen gibt, sich dieser
Kostenrelevanz möglicherweise zu entziehen, zum Bei-
spiel durch Umstrukturierungen in Unternehmen? Die
Bundesregierung scheint auch nach dem Diskurs über
den öffentlichen Entsorgungsfonds darauf zu vertrauen,
dass alle EVU den gesetzlichen Verpflichtungen bezüg-
lich ihrer Entsorgungsrückstellungen freiwillig und voll-
ständig nachkommen werden, und zwar auch in Anbe-
tracht der europäischen Finanzmarktkrise, die wir in den
letzten Jahren erlebt haben.
Ri
Ich verweise noch einmal darauf, dass die Energiever-
sorgungsunternehmen die volle Kostenverantwortung
tragen. Die Rückstellungen wurden in besagter Höhe ge-
bildet. Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir in die-
sem Zusammenhang mit den Unternehmen Gespräche
führen, um sicherzustellen, dass sie ihrer Verpflichtung
nachkommen.
Sie vertrauen ihnen also tatsächlich.
Ri
Das habe ich so nicht gesagt, Frau Kollegin Lemke.
Wir überprüfen die rechtliche Situation. Wir haben keine
Erkenntnisse darüber, dass die rechtlichen Vorgaben
nicht eingehalten werden.
Ich rufe die Kollegin Kotting-Uhl auf, die sich eben-
falls zu einer Nachfrage gemeldet hat.
Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter, ich ent-
nehme Ihren bisherigen Ausführungen, dass die Bundes-
regierung darauf vertraut, dass die Rückstellungen vor-
handen, ausreichend und insolvenzfest sind. Den Vorstoß
der drei Konzerne – es geht dabei um Stiftung, Bad Bank
usw. und um das Angebot, die Rückstellungen dort ein-
zuzahlen; damit werden alle Risiken auf die öffentliche
Hand übertragen – kann man durchaus so interpretieren,
dass innerhalb der Konzerne die Sorge besteht, dass
diese Rückstellungen nicht ausreichen und dass das, was
sich in den Rückstellungen befindet, nicht insolvenz-
sicher ist. Dies erschließt sich schon daraus, dass die
Rückstellungen zum Teil in Kohlekraftwerke und andere
nicht zukunftsfähige Bereiche gesteckt wurden.
Gibt es im BMUB ausgehend von dem Artikel im
Spiegel und den Gesprächen der Energieversorgungsun-
ternehmen mit Minister Gabriel und Minister Altmaier
Überlegungen bezüglich der Insolvenzsicherheit der
Rückstellungen? Oder geht die Bundesregierung nach
wie vor davon aus, dass alles in trockenen Tüchern und
damit sicher ist?
Ri
Die Bundesregierung hat diesen Punkt aus dem Ko-
alitionsvertrag aufgenommen. Über die Umsetzung die-
ser rechtlichen Verpflichtungen werden wir mit den
Energieversorgungsunternehmen sprechen, das heißt,
wir sprechen darüber, wie die Rückstellungen gesichert
werden.
Jetzt hat Frau Höhn das Wort für eine weitere Nach-
frage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, dass
bezüglich des Vorschlags einer Bad Bank keine offiziel-
len Gespräche stattgefunden haben, sondern nur am
Rande darüber gesprochen wurde. Wir haben gerade ver-
schiedene andere Komplexe angesprochen, beispiels-
weise die Umstrukturierung von Vattenfall. Es gibt auch
noch den Komplex der Schadensersatzklage von Vatten-
fall gegen die Bundesregierung in einer Höhe von
3,7 Milliarden Euro wegen der kurzfristig veränderten
Laufzeit, die Angela Merkel durchgesetzt hat. Haben
über all diese Komplexe – also Umstrukturierung und
Klagen; nicht nur Vattenfall, sondern auch die anderen
Konzerne haben entsprechende Klagen angedroht –
keine offiziellen Gespräche zwischen BMU und den Un-
ternehmen stattgefunden?
Ri
Frau Kollegin Höhn, ich habe vorhin gesagt, dass es
keine Verhandlungen und Beschlüsse gab. Was die In-
halte von Gesprächen betrifft, verweise ich auf die Fra-
gen von Herrn Meiwald an das BMUB und an das
BMWi. Natürlich wird es immer wieder Gespräche ge-
ben. Auch in den letzten 14 Jahren – hier schließe ich an-
dere Regierungskonstellationen nicht aus – haben Ge-
spräche mit Energieversorgungsunternehmen immer
wieder stattgefunden. Die Themen und Inhalte werde ich
nachher bei der Beantwortung der nachfolgenden Fragen
detailliert aufzeigen.
Jetzt hat die Kollegin Wilms das Wort für eine weitere
Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Schwarzelühr-Sutter, ich möchte einen Blick nach Schleswig-Holstein,in den Norden werfen. Erwartet das BMUB, falls das Ur-teil des OVG Schleswig zum Zwischenlager Brunsbüttel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2953
Dr. Valerie Wilms
(C)
rechtskräftig wird, zusätzliche Zwischenlagerkosten,und zwar nicht nur unmittelbar für das ZwischenlagerBrunsbüttel, sondern bundesweit? Wie weit sind Sie hiermit Ihren Überlegungen? Sind Sie über den Stand vonGesprächen hinausgekommen?Ri
Sehr geehrte Frau Kollegin Wilms, wir beschäftigen
uns mit dem Castorrücktransport und dementsprechend
mit den Zwischenlagern. Sie können versichert sein,
dass wir alles dafür tun werden, unserer Pflicht und Ver-
antwortung nachzukommen und die Energieversor-
gungsunternehmen, die dafür die Verantwortung tragen
und die Kosten übernehmen müssen, entsprechend mit
einzubeziehen.
Jetzt hat der Kollege Zdebel das Wort für eine weitere
Nachfrage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatsse-
kretärin, die Mittel für Rückstellungen werden im We-
sentlichen investiert; sie stehen also kurzfristig gar nicht
zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund frage ich noch
einmal: Mit welcher Strategie geht die Bundesregierung
in die Gespräche mit den Energiekonzernen, was die
Rückstellungen angeht? Sie haben bisher nur gesagt,
dass Sie Gespräche führen wollen. Es ist mir aber über-
haupt noch nicht klar, mit welcher Strategie Sie diese
Gespräche führen wollen, um dafür zu sorgen, dass die
Rückstellungen tatsächlich insolvenzsicher gestaltet
werden. Dazu muss es doch schon Vorstellungen der
Bundesregierung geben.
Ri
Herr Zdebel, ich hatte schon vorhin auf den Koali-
tionsvertrag hingewiesen. Es ist uns wichtig, dass den
rechtlichen Verpflichtungen nachgekommen wird und
die Rückstellungen sicher sind. Wir nehmen das ernst,
und deswegen wollen wir diese Gespräche führen; das
haben wir schon frühzeitig im Koalitionsvertrag fixiert.
Wir kommen jetzt zur Frage 19 des Abgeordneten
Peter Meiwald:
Welche Gespräche des Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit mit hochrangigen
Vertretern von Atomkraftwerke betreibenden Energiekonzer-
nen fanden in dieser Wahlperiode auf Leitungsebene statt
– bitte differenzierte Angaben machen wie in der Antwort der
Bundesregierung zu Frage 19 der Kleinen Anfrage der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Bundestagsdrucksache 17/11922 in
Verbindung mit der Antwort der Bundesregierung auf die
schriftliche Frage 17 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl
auf Bundestagsdrucksache 17/12042, also Datum, Teilnehmer
und Themen –, und in welchen dieser Gespräche ging es auch
um Aspekte des Rückbaus und der Entsorgung der Atomkraft-
werke bzw. des Atommülls dieser Energiekonzerne?
Frau Staatssekretärin, Sie haben wieder das Wort.
Ri
Herr Meiwald, folgende Gespräche auf Leitungs-
ebene des BMUB mit hochrangigen Vertretern Kern-
kraftwerke betreibender Energiekonzerne fanden in die-
ser Legislaturperiode statt:
Am 25. April 2014 Staatssekretär Jochen Flasbarth
mit Herrn Dr. Bernhard Fischer von der Eon Generation
GmbH: Telefonat zum Thema Standortzwischenlager.
Aspekte des Rückbaus und der Entsorgung der AKW
bzw. des Atommülls waren kein Gesprächsgegenstand.
Am 19. Mai 2014 Staatssekretär Jochen Flasbarth mit
Dr. Hans-Josef Zimmer von EnBW: Telefonat zum
Thema Standortzwischenlager. Aspekte des Rückbaus
und der Entsorgung der AKW bzw. des Atommülls wa-
ren kein Gesprächsgegenstand.
Am 12. Februar 2014 die Bundesministerin mit
Dr. Johannes Teyssen von Eon. Thema des Gesprächs
war die Energiepolitik, und zwar die Energiewende und
der Klimaschutz, die Klimaziele für 2030 und die Re-
form des ETS.
Am 12. Februar 2014 ein Gespräch der Bundesminis-
terin mit Peter Terium, Dr. Johannes Teyssen, Gérard
Mestrallet, Fulvio Conti, Ignacio S. Galán, Dr. Gertjan
Lankhorst, Daniel Benes, Dr. Gerhard Roiss,
Dr. h. c. Tapio Kuula, also mit Vertretern entsprechender
Unternehmen. Hier ging es um ein Gespräch der Bun-
deskanzlerin unter Teilnahme von Bundesminister
Altmaier, Bundesministerin Hendricks und Bundes-
minister Gabriel mit Vorstandsvorsitzenden europäischer
Energiekonzerne zu Fragen der europäischen Energie-
politik.
Am 21. Februar 2014 gab es ein Gespräch der Bun-
desministerin und des Abteilungsleiters KI – Klima-
schutzpolitik – mit Herrn Terium und Herrn Heinacher
von RWE. Da ging es um aktuelle energiepolitische The-
men wie Strompreise, Netzausbau und Klimaziele.
In keinem dieser Gespräche ging es um Aspekte des
Rückbaus und der Entsorgung der AKW bzw. des Atom-
mülls dieser Energiekonzerne.
Kollege Meiwald.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank,Frau Staatssekretärin, für die detaillierte Übersicht. Ichmuss Sie, nachdem Sie mehrfach auf den Koalitionsver-trag und seine Implikationen hingewiesen haben, trotz-dem fragen: Gibt es eine inhaltliche Begründung dafür,dass die im Koalitionsvertrag angedeuteten Gesprächemit dem Ziel, die Verpflichtung zum Rückbau zu klären,noch nicht stattgefunden haben?
Metadaten/Kopzeile:
2954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
Ri
Mir ist keine inhaltliche Begründung bekannt.
Ich habe eine weitere Frage, die ein bisschen in eine
andere Richtung geht: Kann das BMUB bestätigen, dass
es hinsichtlich des bisherigen Systems der EVU-Rück-
stellungen Änderungsbedarf gibt, und wenn ja, welchen?
Ri
Dazu liegen mir keine Erkenntnisse vor.
Jetzt erhält die Kollegin Kotting-Uhl das Wort zu ei-
ner Nachfrage.
Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter, Sie vertre-
ten hier die Bundesregierung und insbesondere das Bun-
desumweltministerium. Ich finde, diese Antworten kann
man so nicht durchgehen lassen; es tut mir leid. Wir ha-
ben den Atomausstieg beschlossen. Da ist klar: Die
AKW müssen rückgebaut werden. Wir haben ein Stand-
ortauswahlgesetz beschlossen, wir haben die Einsetzung
einer Kommission beschlossen, die sich mit Grundsatz-
fragen befassen wird; sie wird morgen zum ersten Mal
tagen. Bei all dem geht es um die Lagerung des hochra-
dioaktiven Mülls.
Davor geht es nun um den Rückbau der Atomkraft-
werke, denn er steht an. Es kann nicht sein, dass Gesprä-
che mit den Energieversorgern über Klimaschutz, euro-
päische Energiepolitik und was weiß ich was alles
stattfinden – all das ist extrem wichtig –, aber kein Wort
über das gewechselt wird, was jetzt in Deutschland akut
ansteht: nämlich der Rückbau und daran anschließend
die Entsorgung, über die man sich jetzt Gedanken ma-
chen muss. Es stellt sich auch die Frage, ob ausreichend
Rückstellungen vorhanden sind und ob diese insolvenz-
sicher sind.
Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen – ansonsten
müsste ich der Bundesregierung und dem BMUB abso-
lute Ignoranz vorwerfen –, dass Sie mit den Energiever-
sorgern kein Jota über diese elementar wichtigen Fragen,
deren Klärung jetzt ansteht, gesprochen haben. Deswe-
gen möchte ich Sie noch einmal fragen: Sind Sie sich ab-
solut sicher, dass in all den Gesprächen oder auch in an-
deren Gesprächen, die Sie uns vielleicht jetzt nicht
aufgelistet haben, nicht über diese wichtigen Fragen ge-
sprochen wurde?
Ri
Frau Kotting-Uhl, die Bundesregierung ist sich ihrer
Verpflichtung bewusst. Sie beschäftigt sich intensiv mit
dem Ausstieg aus der Atomenergie. Dazu sind bereits
gesetzliche Regelungen vorhanden. Es ist kein neuer
Aspekt, dass Kernkraftwerke stillgelegt und rückgebaut
werden, dass Atommüll zwischengelagert und entsorgt
werden muss. Wir befinden uns, wie Sie es angedeutet
haben, in einem Prozess. Auch den Rücktransport der
Castoren möchte ich ansprechen. Aufgrund des in die-
sem Zusammenhang geschlossenen Kompromisses ha-
ben wir das Standortauswahlgesetz auf den Weg ge-
bracht. Morgen findet die konstituierende Sitzung der
Endlagerkommission statt. Insofern ist eine gesetzliche
Grundlage vorhanden.
Ich habe Ihnen bereits gesagt: Mir liegen keine Er-
kenntnisse darüber vor, dass spezifisch zu diesem Thema
Gespräche mit Vertretern geführt wurden, auch nicht am
Rande.
Jetzt hat die Kollegin Bärbel Höhn das Wort zu einer
Nachfrage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staats-
sekretärin, Vattenfall hat wegen der Kürzung der verein-
barten Laufzeit und des Atomausstiegs gegen die Bun-
dessregierung geklagt und fordert eine Entschädigung in
Höhe von 3,7 Milliarden Euro. Auch andere Unterneh-
men klagen. Bei den Klagen geht es um eine Summe von
insgesamt 15 Milliarden Euro. Jetzt wird versucht, diese
15 Milliarden Euro, die ein erheblicher Schaden für den
Steuerzahler wären, quasi in eine Bad Bank zu überfüh-
ren. Es wäre für Angela Merkel natürlich ein schöner Er-
folg, wenn sie über diese 15 Milliarden Euro nicht mehr
reden müsste. Können Sie bestätigen, dass über diese
Aspekte – 15 Milliarden Euro, Bad Bank – in all den Ge-
sprächen, die Sie aufgeführt haben, nicht gesprochen
worden ist?
Ri
Ich kann Ihnen versichern, Frau Höhn, dass die Bun-
deskanzlerin an die Verantwortung der Energieversorger
appelliert und diese an ihre Pflichten erinnert hat. Mir
liegen aber keine weiteren Erkenntnisse vor.
Jetzt hat die Kollegin Verlinden das Wort zu einer
Nachfrage.
Wir haben verschiedene Rückmeldungen über die Ge-spräche mit den EVU bekommen, bei denen es mehroder weniger intensiv um dieses Thema ging. Ichmöchte auf meine Frage von eben zurückkommen. Mirist es wichtig, zu erfahren: Gab es einen Austausch in-nerhalb der Bundesregierung, also zwischen den Res-sorts?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2955
Dr. Julia Verlinden
(C)
(B)
Gab es Besprechungen auf Leitungsebene zwischen Um-weltministerium, Energieministerium und Kanzleramtüber die vielen verschiedenen Gespräche, die jeweils mitden EVU geführt worden sind, um eine gemeinsame Li-nie abzustecken, um gemeinsam festzulegen, wie manpolitisch weiter vorgeht? Dazu haben wir jetzt noch garnichts gehört. Ich würde mich freuen, wenn Sie noch einbisschen konkreter schildern würden, welche Abspra-chen zwischen den verschiedenen Ressorts, die mit sehrunterschiedlichen Positionen in der Öffentlichkeit wahr-genommen werden, stattfanden.Ri
Sehr geehrte Frau Verlinden, natürlich sprechen Res-
sorts untereinander über bestimmte Themen. Es wäre ja
auch schlimm, wenn wir das nicht täten. Aber es gab
keine Absprachen, wie Sie das eben gesagt haben, oder
Beschlüsse. Weitere Erkenntnisse liegen mir dazu nicht
vor.
Jetzt hat der Kollege Miersch das Wort zu einer Nach-
frage.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie richtig verstanden,
dass diese Bundesregierung – im Gegensatz zu früheren
Bundesregierungen, beispielsweise der letzten, die ver-
sucht hat, mit den Atomkonzernen einen Deal über die
Laufzeitverlängerung zu schließen – mit den Energiever-
sorgern keinen Deal dergestalt eingehen will, Forderun-
gen im Rahmen einer Klage vor intransparenten
Schiedsgerichten mit Fragen der Laufzeitverlängerung
und der Endlagerung zu verbinden, sondern darauf ver-
weist, dass es rechtliche Verpflichtungen gibt? Habe ich
Sie richtig verstanden, dass über das, was die vier großen
Konzerne gegenwärtig als Signal aussenden, gegebenen-
falls im Rahmen eines parlamentarischen Verfahrens, ei-
nes Gesetzgebungsverfahrens, gesprochen werden muss,
um die rechtlichen Verpflichtungen möglicherweise
noch rechtssicherer zu machen, als das bisher der Fall
ist?
Ri
Ich glaube, es ist in unser aller Interesse, dass die
Rückstellungen für die rechtlichen Verpflichtungen der
Energieversorgungsunternehmen gesichert sind. Ver-
knüpfungen in diesem Zusammenhang sind mir nicht be-
kannt. Sie sind auch nicht beabsichtigt, weil das schwie-
rig wäre. Wir wollen die volle Kostenübernahme durch
die Energieversorgungsunternehmen für die Aufgaben,
die sie im Bereich Stilllegung, Rückbau, Entsorgung ha-
ben.
Ich rufe die Frage 20 der Abgeordneten Julia
Verlinden auf:
Wann genau – möglichst Datum bitte – hatte das Bundes-
ministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit in dieser Wahlperiode erstmals Kenntnis von Überle-
gungen von Atomkraftwerke betreibenden Energiekonzernen
bezüglich möglicher Veränderungen des bisherigen Systems
der Rückstellungen für Rückbau und Entsorgung der Atom-
kraftwerke und des Atommülls und/oder übergeordneten
Überlegungen einer Art Bad Bank für Atomkraftwerke und
Atommüll – bitte differenzieren nach Fachebene, Leitungs-
ebene und Hausspitze –, und welche Konsequenzen wurden
aus dieser Kenntnis gezogen – bitte mit zeitlicher Angabe?
Frau Staatssekretärin, Sie haben wieder das Wort.
Ri
Liebe Kollegin Verlinden, es fanden in dieser Legisla-
turperiode keine Verhandlungen des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit mit hochrangigen Vertretern der Kernkraftwerke
betreibenden Energiekonzerne über deren Überlegun-
gen zu möglichen Veränderungen des bisherigen Sys-
tems der Rückstellungen für Rückbau und Entsorgung
der Kernkraftwerke und des radioaktiven Abfalls oder zu
Überlegungen einer Art Bad Bank statt.
Die uneingeschränkte Verantwortung für den sicheren
Auslaufbetrieb der Kernkraftwerke, die Stilllegung, den
Rückbau und auch die Zwischenlagerung der radioakti-
ven Abfälle liegt bei den Energieversorgungsunterneh-
men. Diese haben uneingeschränkt sämtliche Kosten der
Stilllegung, des Rückbaus sowie der Endlagerung zu tra-
gen. Entsprechend dem Koalitionsvertrag wird die Bun-
desregierung über die Umsetzung dieser rechtlichen Ver-
pflichtungen mit den Energieversorgungsunternehmen
Gespräche führen.
Frau Kollegin Verlinden.
Heißt das, dass das Umweltministerium keine Kennt-
nisse von den Plänen der EVU hatte, eine Bad Bank zu
installieren? Heißt das, das Umweltministerium hat wäh-
rend der ganzen Gespräche mit den EVU in den letzten
Monaten und Jahren nie erfahren, dass es solche Überle-
gungen geben könnte, dass es in die Richtung gehen
könnte, über die jetzt politisch diskutiert wird?
Ri
Ich hatte vorhin die Themen und Inhalte einzeln auf-
geführt. Wir werden sicherlich im Rahmen dessen, was
im Koalitionsvertrag steht, jetzt Gespräche führen. Ich
möchte diesen Gesprächen aber nicht vorgreifen.
Ich würde gerne eine zweite Nachfrage stellen.
Bitte.
Metadaten/Kopzeile:
2956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
Welche Erkenntnisse hat das Umweltministerium da-
rüber, ob das Kanzleramt, das sich ja auch mit diesem
Thema beschäftigt hat, möglicherweise zu einem Auf-
weichen des bisherigen Verursacherprinzips in dem
Sinne bereit wäre, dass die Kosten für den Rückbau vom
Steuerzahler getragen werden?
Ri
Auch wenn Sie jetzt noch einmal versuchen, mich aus
einer anderen Perspektive heraus festzunageln, kann ich
nur nochmals darauf hinweisen, dass die Gespräche, die
wir geführt haben, andere Themen zum Inhalt hatten. Es
gab ein Gespräch im Kanzleramt über die europäische
Energiepolitik. Insofern kann ich Ihnen keine neuen Er-
kenntnisse meinerseits vortragen.
Jetzt hat die Kollegin Höhn das Wort zu einer weite-
ren Nachfrage.
Wir haben bisher immer über Gespräche geredet. Es
gibt aber auch andere Arten der Kommunikation. Ich
kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Energie-
konzerne Überlegungen hinsichtlich einer Bad Bank an-
stellen und diese Idee in keiner Form an die Bundesre-
gierung herantragen. Hat es denn in irgendeiner anderen
Form – schriftlich, wie auch immer – Ideen bzw. Skizzen
der Unternehmen gegeben, die an das BMU bzw. jetzt an
das BMUB, an das Kanzleramt oder an die Bundesregie-
rung herangetragen wurden, um sich über diese Idee, die
jetzt öffentlich diskutiert wird, vorher in irgendeiner
Form mit der Bundesregierung oder dem BMUB auszu-
tauschen?
Ri
Sehr geehrte Frau Kollegin Höhn, davon ist mir nichts
bekannt.
Jetzt hat der Kollege Krischer das Wort zu einer wei-
teren Nachfrage.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin, für Ihre Aus-
führungen. – Diese kann man ja so zusammenfassen:
Über Gespräche, Überlegungen und Inhalte ist nichts be-
kannt. Man fragt sich dann, worüber gesprochen worden
ist.
Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen. Es gibt einen Bericht des Bundesrechnungs-
hofs aus dem Jahr 2011, in dem sehr dezidiert festgestellt
wird, dass es für die Bundesregierung keinerlei Transpa-
renz bezüglich der Werthaltigkeit der Rückstellungen in-
nerhalb der Konzerne gibt und man sich insofern auf et-
was verlassen muss, dessen Substanz man gar nicht
kennt. Meine Frage lautet: Ist Ihnen dieser Bericht be-
kannt, und wenn ja, welche Konsequenzen zieht die
Bundesregierung aus diesem Bericht, um Transparenz
bezüglich der Werthaltigkeit der Rückstellungen in den
Konzernbilanzen herzustellen?
Ri
Lieber Kollege Krischer, aus diesem Grund ist in den
Koalitionsvertrag die Aussage aufgenommen worden,
dass wir diese rechtliche Verpflichtung sichern wollen.
Wir werden das im Laufe dieser Legislaturperiode tun.
Jetzt hat die Kollegin Kotting-Uhl das Wort zu einer
weiteren Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, der Verweis auf den Passus im
Koalitionsvertrag hilft uns jetzt angesichts der Sachlage
nicht wirklich weiter. Es ist einfach nur erstaunlich, dass
das bisher nur dort steht und die entsprechenden Gesprä-
che nicht geführt wurden. Ich finde das hier heute de-
monstrierte Desinteresse der Bundesregierung an diesen
Fragen schon bemerkenswert. Um ehrlich zu sein, es ist
auch fahrlässig, wenn es denn so ist.
Ich möchte ein Stück zurückgehen, und zwar in das
Jahr 2011. Mir ist bewusst, dass Sie da noch nicht Staats-
sekretärin waren und das BMUB noch nicht in SPD-
Hand war. Trotzdem muss Ihr Haus Sie ja über solche
Dinge informieren, vor allem vor einer solchen Frage-
stunde. Die Idee einer Bad Bank ist ja nicht erst jetzt ent-
standen. Vielmehr hat die Investitionsbank Lazard diese
Idee bereits 2011 entwickelt und publikgemacht. Ist es
Ihrer Kenntnis nach denn so, dass auch in den Jahren
2011 und 2012 – wir haben bisher immer nur von 2013
und 2014 gesprochen –, also in den ersten zwei Jahren
nach Entwicklung dieses Modells, für das sich die Ener-
giekonzerne sicher sehr interessiert haben, bei der Bun-
desregierung kein Interesse daran bestand? Gab es in den
Jahren 2011 und 2012 irgendwann einmal Gespräche mit
den Energieversorgern über diese Idee einer Bad Bank?
Denn bei den Energieversorgern, bei den Konzernen ist
dies garantiert ventiliert worden. Hat sich die Bundesre-
gierung dafür nicht interessiert oder doch?
Ri
Sehr geehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, ich kanndazu jetzt keine Auskunft geben, würde Ihnen aberschriftlich nachreichen, ob und gegebenenfalls welcheGespräche es in jener Zeit zu diesem Thema gegebenhat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2957
(C)
(B)
Jetzt hat der Kollege Zdebel das Wort zu einer Nach-
frage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe noch
eine Nachfrage zu dem Bericht des Bundesrechnungs-
hofs, den der Kollege Krischer gerade erwähnt hat. Mir
kommt das langsam wie ein Stück aus dem Tollhaus vor.
Einerseits haben Sie gerade dargestellt, Frau Staatssekre-
tärin, dass Sie davon überzeugt sind, dass die Rückstel-
lungen sicher sind, und dass Sie Gespräche darüber füh-
ren wollen. Andererseits können Sie jetzt aber nichts
Konkretes dazu sagen, wie Sie den Bericht des Bundes-
rechnungshofs letztlich bewerten. Der Bericht des Bun-
desrechnungshofs enthielt ja eine vernichtende Kritik.
Dort stand, dass die Bundesregierung im Moment über-
haupt nicht in der Lage ist, die Rückstellungen der Kon-
zerne fachlich zu bewerten.
Da stellt sich für mich die Frage: Hat sich diese Situa-
tion seit 2011 geändert? Wenn dem nicht so ist, stellt
sich die Frage, wie Sie dann so überzeugt sagen können,
dass die Rückstellungen der Konzerne im Moment si-
cher sind, wie Sie dies gerade in diversen Antworten auf
Nachfragen immer wieder zumindest vermittelt haben.
Ri
Sehr geehrter Kollege Zdebel, ich habe gesagt: Die
Rückstellungen sind in den Bilanzen vorhanden. Ich
habe auch darauf hingewiesen, dass wir auf die rechtli-
che Verpflichtung und die Umsetzung der rechtlichen
Verpflichtung Wert legen und diese sichern wollen und
dass wir deshalb entsprechende Gespräche aufnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Energie.
Die Fragen beziehen sich zunächst auf den gleichen
Themenkomplex.
Wir kommen zunächst zur Frage 21 des Kollegen
Krischer:
Wann genau – möglichst Datum bitte – hatte das Bundes-
kanzleramt in dieser Wahlperiode erstmals Kenntnis von
Überlegungen von Atomkraftwerke betreibenden Energiekon-
zernen bezüglich möglicher Veränderungen des bisherigen
Systems der Rückstellungen für Rückbau und Entsorgung der
Atomkraftwerke und des Atommülls und/oder übergeordne-
ten Überlegungen einer Art Bad Bank für Atomkraftwerke
und Atommüll – bitte differenzieren nach Fachebene, Lei-
tungsebene und Hausspitze –, und welche Konsequenzen
Frau Staatssekretärin.
I
Lieber Kollege Krischer, auch Sie fragen nach Ge-
sprächen, und zwar im Bereich des Bundeskanzleramtes.
Ich antworte Ihnen wie folgt: Die Idee einer Stiftung für
Kernkraftwerke unter Beteiligung des Bundes ist aus den
Medien bekannt; darüber wird seit geraumer Zeit disku-
tiert. Entsprechende Überlegungen wurden in Gesprä-
chen mit dem Chef des Bundeskanzleramtes am 21. Fe-
bruar 2014 und am 27. März 2014 von Vertretern der
Energieversorgungsunternehmen in allgemeiner Form
und ohne Konkretisierung angesprochen. Konkrete
Pläne sind allerdings nicht vorgestellt worden. Deshalb
hat es weder Verhandlungen der Bundesregierung mit
Vertretern der Energiekonzerne zu dieser Thematik ge-
geben, noch gibt es dazu Beschlüsse innerhalb der Bun-
desregierung.
Herr Kollege Krischer.
Wenn diese Überlegungen vorgestellt worden sind
und Sie sagen, diese Gespräche hätten keinerlei konkrete
Formen angenommen, dann würde mich interessieren,
was dort substanziell vorgetragen worden ist. Ein Ge-
spräch muss ja irgendeinen Inhalt und einen gewissen
Grad an Konkretisierung haben; sonst macht das ja gar
keinen Sinn. Ich bitte, zu erläutern, was dort vorgetragen
worden ist. Ich bitte, weiterhin zu erläutern, wie sich die
Bundesregierung zu den, wie Sie sagen, in unkonkreter
Form dargestellten Vorschlägen positioniert hat oder ob
man am Ende gar keine Meinung dazu geäußert hat und
nur still und schweigend danebengesessen und dann den
Raum verlassen hat. Ich bitte um eine Darstellung, wie
ich mir das vorzustellen habe.
I
Herr Kollege Krischer, es gibt in allen möglichen Ge-
sprächen – das passiert wahrscheinlich auch bei Ihnen –
immer wieder einmal Vorschläge, die sehr unkonkret an
jemanden herangetragen werden. Es gibt also kein kon-
kretes Arbeitspapier oder sonst etwas. Deshalb hat es
auch keine Beschlüsse und keine Verhandlungen zu die-
sem Thema gegeben. Ich war bei den Gesprächen nicht
dabei. Insofern kann ich Ihnen nicht erläutern, was sonst
noch besprochen wurde.
Herr Krischer, Ihre zweite Nachfrage.
Aus welchem Anlass sind diese Gespräche denn ge-führt worden? War der Anlass, dass man konkret überdieses Thema sprechen wollte, oder gab es einen ande-ren Anlass und man ist rein zufällig bei einer nettenTasse Kaffee – so habe ich Sie jetzt verstanden – daraufzu sprechen gekommen? Ich gehe davon aus, dass solcheGespräche nicht spontan entstehen, sondern dass es daeinen gewissen Vorlauf gibt. Deshalb würde mich inte-ressieren: Was waren der konkrete Hintergrund und derAnlass für die Einladungen? Wie, in welcher Form undwo haben diese Gespräche stattgefunden?
Metadaten/Kopzeile:
2958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
(C)
(B)
I
Herr Kollege Krischer, mir ist zum Anlass der Ein-
ladungen und zum Prozedere nichts bekannt. Ich habe
Ihnen nur die beiden Termine genannt, die mir das Kanz-
leramt mitgeteilt hat. Aber ich kann dort gerne nachfra-
gen und Ihnen diese Frage schriftlich beantworten.
Als nächste Fragestellerin hat die Kollegin Höhn das
Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie haben ja zumindest die In-
formation über die Termine dieser Gespräche. In der Re-
gel werden, wenn über solche neuen Ideen diskutiert
wird, Vermerke angefertigt. Gibt es Vermerke über diese
Gespräche? Wenn ja, können wir sie bekommen? Wenn
nein, warum sind über diese Gespräche keine Vermerke
angefertigt worden?
I
Ich kann weder bestätigen noch dementieren, dass
über diese Gespräche des Chefs des Bundeskanzleramtes
mit den Energieversorgungsunternehmen Vermerke an-
gefertigt worden sind. Auch da müsste ich mich erkundi-
gen. Das werde ich gerne tun. Ich kann Ihnen, was das
Rechtliche angeht, jetzt allerdings nicht zusagen, dass
wir solche Vermerke weitergeben dürfen. Aber ich
werde das weiterleiten und Ihnen dann eine entspre-
chende Antwort zukommen lassen.
Die Frage 22 der Abgeordneten Steffi Lemke wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 23 des Abgeordneten Peter
Meiwald:
Von welchen Gesprächen von Vertretern der Bundesregie-
rung mit Vertretern von Atomkraftwerke betreibenden Ener-
giekonzernen, in denen es auch um Überlegungen der Ener-
gieversorgungsunternehmen zu einer Art Bad Bank für
Atomkraftwerke und Atommüll ging, hatte der Regierungs-
sprecher Steffen Seibert am 12. Mai 2014 Kenntnis, als er ge-
genüber Medien sagte, es habe diesbezüglich „keine Verhand-
lungen und Beschlüsse“ gegeben, aber auf Nachfrage
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
I
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär
Seibert hat in der Regierungspressekonferenz am
12. Mai 2014 mit Blick auf die in den Medien themati-
sierte Frage einer öffentlich-rechtlichen Stiftung für die
Kernkraftwerke in Deutschland klargestellt, dass es
keine Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und
den Energieversorgungsunternehmen und keine entspre-
chenden Beschlüsse gegeben hat. Er hat darüber hinaus
auf eine Nachfrage die Vermutung geäußert, dass diese
Thematik in der Vergangenheit in Gesprächen eine Rolle
gespielt hat.
Herr Kollege Meiwald.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, wie muss man
sich das vorstellen: Hat es im Vorfeld der Pressekon-
ferenz Rückfragen explizit nur zu Verhandlungen und
Beschlüssen gegeben, oder lautete die Ressortabfrage
anders? Wie kam es dazu, dass der Kollege Seibert diese
Aussagen da so gemacht hat?
I
Ich war bei der Pressekonferenz nicht dabei. Ich kann
Ihnen nicht sagen, ob es vor der Pressekonferenz eine
Abfrage in den Ministerien gegeben hat.
Ich gehe aber sicher davon aus, dass der Regierungs-
sprecher wusste, dass es keine Beschlüsse und keine
Verhandlungen mit den Energieversorgungsunterneh-
men zu diesem Thema gegeben hat. Der Regierungs-
sprecher wird aber selbstverständlich davon ausgegan-
gen sein, dass wir – allein aufgabenbedingt – vielfältige
Gespräche führen; deshalb hat er solche Gespräche nicht
ausgeschlossen.
Können Sie uns eine Einschätzung dazu geben, wie
das Kanzleramt sich in diesen Gesprächen gegenüber
dieser grundsätzlichen und ja noch eher vagen Idee ver-
halten hat? Wurde deutlich gemacht, dass es für die Bun-
desregierung auf keinen Fall akzeptabel ist, da auch den
Steuerzahler in die Verantwortung zu nehmen? Oder in
welcher Form kann man sich diese Gespräche vorstel-
len?
I
Da fehlt mir einfach die Kenntnis, weil ich selber
nicht Gesprächsteilnehmerin war. Ich kann Ihnen keine
Auskunft dazu geben.
Können Sie das schriftlich nachreichen?
I
Ja, ich kann nachfragen – wenn die Gesprächspartnermich da informieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2959
(C)
(B)
Wir kommen zur Frage 24 der Abgeordneten
Verlinden:
Wann genau – möglichst Datum bitte – hatte das Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie in dieser Wahlperiode
erstmals Kenntnis von Überlegungen von Atomkraftwerke
betreibenden Energiekonzernen bezüglich möglicher Verän-
derungen des bisherigen Systems der Rückstellungen für
Rückbau und Entsorgung der Atomkraftwerke und des Atom-
mülls und/oder übergeordneten Überlegungen einer Art Bad
Bank für Atomkraftwerke und Atommüll – bitte differenzie-
ren nach Fachebene, Leitungsebene und Hausspitze –, und
welche Konsequenzen wurden aus dieser Kenntnis gezogen –
bitte mit zeitlicher Angabe?
Auch hier haben Sie wieder das Wort, Frau Staats-
sekretärin.
I
Danke schön. – Liebe Kollegin Verlinden, die Idee ei-
ner Stiftung für Kernkraftwerke unter Beteiligung des
Bundes ist aus den Medien bekannt und wird seit gerau-
mer Zeit diskutiert. Entsprechende Überlegungen wur-
den vonseiten Kernkraftwerke betreibender Energiever-
sorgungsunternehmen in allgemeiner Form und ohne
Konkretisierung auch Mitgliedern der Bundesregierung
vorgetragen, so zum Beispiel vom Vorstandsvorsitzen-
den der Eon SE, Dr. Johannes Teyssen, oder vom Vor-
standsvorsitzenden von RWE, Peter Terium, in Gesprä-
chen mit dem Bundesminister für Wirtschaft und
Energie am 13. Februar 2014 bzw. am 18. Februar 2014.
Konkrete Pläne sind der Bundesregierung allerdings
nicht vorgestellt worden. Deshalb hat es weder Verhand-
lungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Energie mit Vertretern der Energiekonzerne zu dieser
Thematik gegeben, noch gibt es dazu Beschlüsse inner-
halb der Bundesregierung.
„Pläne“ wäre ja auch spannend: Sie sind ja die Regie-
rung, Sie machen die Politik, nicht die EVU.
I
Sie haben nach Vorschlägen gefragt, die die EVU an
uns herangetragen haben.
Genau. Aber Sie haben gerade von „Plänen“ gespro-
chen.
Zu meiner Nachfrage. Ich würde noch gerne wissen:
Da Sie davon schon wussten, bevor das im Spiegel the-
matisiert wurde und eine öffentliche Debatte darüber
ausgelöst wurde, hatten Sie ja schon Gelegenheit, das
hausintern zu diskutieren und zu beraten. Wie wird denn
jetzt das BMWi darauf reagieren, was sind jetzt die Kon-
sequenzen daraus? Wird es konkrete Initiativen und
Maßnahmen geben? Welche werden das konkret sein?
I
Da es keine konkreten Vorschläge gibt, mit denen
man sich auseinandersetzen könnte, hat es auch keine
konkreten Maßnahmen im BMWi gegeben.
Ich hätte noch eine Nachfrage.
Ja, Sie können noch eine Nachfrage stellen.
Frau Staatssekretärin, können Sie denn zumindest
ausschließen, dass das in der Konsequenz dazu führen
wird, dass öffentliche Mittel zur Abwicklung der privat
betriebenen Atomanlagen eingesetzt werden? Können
Sie ausschließen, dass diese Idee der Bad Bank zur rea-
len Politik wird?
I
Frau Kollegin Verlinden, die Diskussion um eine sol-
che Stiftungslösung oder andere Lösungen dauert ja
schon sehr viel länger an. Es gab auch zu rot-grünen Zei-
ten verschiedene Vorschläge dazu.
Ich meine mich zu erinnern, dass sich letzte Woche
auch Frau Höhn – wenn auch unter anderen rechtlichen
Gesichtspunkten – im Hinblick auf eine Stiftungslösung
öffentlich geäußert hat. Insofern ist bei allem Verständ-
nis zu sagen: Selbstverständlich gibt es unterschiedliche
Vorschläge dazu. Die müssen ordentlich bewertet wer-
den. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass wir uns mit den Energieversorgungsunternehmen
auseinandersetzen und Gespräche dazu führen.
Jetzt erhält die Kollegin Höhn das Wort zu einer wei-
teren Nachfrage.
Über eine solche Lösung wird schon länger diskutiert,schon deswegen, weil man die Rückstellungen sichernwill. Deshalb wundern wir uns ja auch, dass Sie in derBundesregierung offiziell nicht darüber reden. Überall inder Gesellschaft wird darüber geredet, wie man dieseRückstellungen sichern kann, aber offensichtlich nichtinnerhalb der Bundesregierung. Deshalb frage ich: Wiewollen Sie die Probleme eigentlich zusammenbringen?Erstens. Diese 36 Milliarden Euro werden nicht aus-reichen, um die Atomkraftwerke abzubauen. Wie wollenSie also diese 36 Milliarden Euro und zusätzliche Gel-der, die dafür letzten Endes fällig werden, sichern?Zweitens. Wie gehen Sie eigentlich mit den Forderun-gen der Energiekonzerne um, die jetzt aufgrund der zu-rückgenommenen Laufzeitverlängerung mit KlagenSchadensersatz für den Atomausstieg fordern, zu dem esholterdiepolter und ohne Unterschrift der Konzernekam?
Metadaten/Kopzeile:
2960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Bärbel Höhn
(C)
(B)
Hier geht es ja um zweistellige Milliardenbeträge.Das ist also eine richtig fette Summe, die auch den Bun-deshaushalt stark tangiert. Gibt es in irgendeiner Formoffizielle Gespräche und Überlegungen innerhalb IhresHauses oder auch innerhalb des Bundeskanzleramtes da-rüber, wie man damit umgeht und wie man eine best-mögliche Lösung für diesen Bundeshaushalt erreichenkann?I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Höhn, selbstverständlich wird im Bun-
desministerium für Wirtschaft und Energie – und ich
gehe davon aus, auch in den anderen Häusern – zu die-
sen Themenfeldern gearbeitet. Wie gesagt: Es gibt unter-
schiedliche Lösungsmöglichkeiten, an denen gearbeitet
wird, aber es gibt noch keine einheitliche Auffassung der
Bundesregierung. Wir werden nicht mit Einzelvorschlä-
gen oder Einzelbewertungen an die Öffentlichkeit gehen
und uns mit Sicherheit im Parlament damit befassen.
Frau Höhn, Ihre Frage und dieser ganze Fragenkom-
plex sind aber einzig und allein darauf ausgerichtet, wel-
che Verhandlungen es mit den Energieversorgungsunter-
nehmen gegeben hat, und das habe ich beantwortet.
Wir werden im parlamentarischen Raum mit Sicher-
heit Gelegenheit haben, uns über die Sicherung der
Rücklagen, über die Höhe der zu erwartenden Kosten für
den Rückbau der Atomkraftwerke usw. auseinanderzu-
setzen; das ist klar.
Jetzt hat die Kollegin Kotting-Uhl die Möglichkeit zu
einer Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es geht um die mögliche Ände-
rung des bisherigen Rückstellungssystems. Sie haben
jetzt ausgeführt, dass es sehr viele unterschiedliche
Möglichkeiten gibt und dass wir uns darüber auseinan-
dersetzen werden.
Es gibt aber eine ganz klare Trennlinie zwischen die-
sen unterschiedlichen Möglichkeiten. Hier geht es da-
rum, ob wir bereit sind, in öffentlicher Verantwortung
sowohl Haftungsrisiken als auch finanzielle Risiken zu
übernehmen, oder ob wir die Verantwortung für diese
Risiken bei den Konzernen belassen.
Auf den Punkt gebracht: Das eine Modell sieht einen
öffentlich-rechtlichen Fonds vor, für den verschiedene
Ausführungen angedacht sind. In diesen Fonds werden
die Rückstellungen überführt. Alles, was darüber hinaus
geht, bleibt aber in der Verantwortung der Konzerne, das
heißt, sie sind weiterhin über diese 36 Milliarden Euro
hinaus, um die es bisher geht und die in diesem Fonds
verwaltet werden sollen, haftungspflichtig.
Bei dem anderen Modell gibt es auch verschiedene
Möglichkeiten. Im Kern haben die Konzerne jetzt aber
vorgeschlagen, dass mit den 36 Milliarden Euro die fi-
nanzielle Verpflichtung der Konzerne erfüllt ist.
Hier möchte ich Sie schon fragen, ob ganz klar ist,
dass die zweite Variante nicht infrage kommt, sondern
dass die Variante 1 – die finanziellen Risiken verbleiben
auch über die 36 Milliarden Euro hinaus bei den Konzer-
nen – auch Linie der Bundesregierung ist.
I
Noch einmal ganz klar: Die uneingeschränkte Ver-
antwortung für den sicheren Auslaufbetrieb der Kern-
kraftwerke, die Stilllegung, den Rückbau und auch die
Zwischenlagerung des Atommülls liegt bei den Energie-
versorgungsunternehmen. Diese haben uneingeschränkt
sämtliche Kosten der Stilllegung, des Rückbaus und der
Endlagerung zu tragen. Damit haben sie eben auch für
entsprechende Rückstellungen in den Bilanzen zu sor-
gen. Das ist ja das Thema, um das es geht.
Es ist also ganz klar: Die Kostenverantwortung liegt
klar bei den Energieversorgungsunternehmen. Es muss
aber auch geregelt werden – das ist ein anderes Thema –,
wie diese Rücklagen gegen Insolvenz oder was auch im-
mer abzusichern sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Krischer.
Frau Staatssekretärin, ich habe jetzt gehört, dass es
Diskussionen, Gespräche, Meinungsbildungen usw. gibt,
die noch nicht konkretisiert werden können. Ich hätte
jetzt einfach gerne eine Antwort auf die ganz banale
Frage, welches Ressort innerhalb der Bundesregierung
die Federführung in puncto Rückstellungen für den
AKW-Rückbau, für dessen Sicherstellung und auch ge-
gebenenfalls für den Fonds – in welcher Form auch im-
mer – hat und wie ein Arbeitsprozess zu diesem Thema
organisiert wird. Wenn ich die Äußerungen der Kollegin
aus dem Umweltministerium richtig verstehe, sieht man
hier ja doch schon die Notwendigkeit, irgendetwas zu
tun.
I
Herr Kollege Krischer, ich glaube, es ist nichts dage-gen einzuwenden, dass die Mitglieder der Bundesregie-rung, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inden einzelnen Ministerien ihrer Arbeit nachkommen,Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen führen,sich mit unterschiedlichen Vorschlägen befassen und imEndeffekt Vorbereitungen für weiterführende Gesprächetreffen. Die Federführung ist allein schon an der Zuord-nung Ihrer Fragen zu dem entsprechenden Geschäftsbe-reich zu erkennen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2961
(C)
(B)
Die selbstständige Wortergreifung ist jedenfalls nicht
zulässig. Außerdem sage ich allen, die am Thema inte-
ressiert sind: Es gibt noch weitere Fragen von anderen
Kolleginnen und Kollegen zu diesem Komplex, sodass
ich denke, dieses Thema wird noch vertieft werden kön-
nen.
Wir kommen zur Frage 25 der Kollegin Dr. Valerie
Wilms:
Welche Gespräche des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Energie mit hochrangigen Vertretern von Atomkraft-
werke betreibenden Energiekonzernen fanden in dieser Wahl-
periode auf Leitungsebene statt – bitte differenzierte Angaben
machen wie in Bundestagsdrucksache 17/11922 zu Frage 19 in
Verbindung mit Bundestagsdrucksache 17/12042 zu Frage 17,
also Datum, Teilnehmer und Themen –, und in welchen dieser
Gespräche ging es auch um Aspekte des Rückbaus und der
Entsorgung der Atomkraftwerke bzw. des Atommülls dieser
Energiekonzerne?
Frau Staatssekretärin, bitte.
I
Frau Kollegin Wilms, Sie fragen nach den Gesprä-chen, die hochrangige Vertreter des BMWi geführthaben. Aufgabenbedingt pflegen Mitglieder der Bun-desregierung, Parlamentarische Staatssekretärinnen undParlamentarische Staatssekretäre sowie Staatssekretärin-nen und Staatssekretäre der Bundesministerien Kontaktemit einer Vielzahl von Akteuren.Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energiehat für die Beantwortung der mündlichen Frage einehausinterne Abfrage durchgeführt. Insbesondere auf-grund der für die Beantwortung mündlicher Fragen zurVerfügung stehenden kurzen Zeit kann jedoch eine lü-ckenlose Aufstellung nicht garantiert werden.Es wurden Gespräche mit Unternehmensvertreterngeführt, in deren Portfolio sich auch Kernkraftwerke be-finden. Aus den nachfolgenden Daten kann aber nichtder Schluss gezogen werden, dass dort über konkreteVorschläge der Unternehmen bzw. Branchen zum weite-ren Verfahren des Umgangs mit kerntechnischen Anla-gen gesprochen wurde.Dies vorausgeschickt beantworte ich Ihre Frage wiefolgt: Am 28. Januar 2014 hat Bundesminister SigmarGabriel ein Gespräch mit Energieproduzenten zum EEG
Ewald Woste , Andreas Feicht (VKU), FritzBrickwedde , Dr. Günther Häckl (BSW), SylviaPilarsky-Grosch ,Helmut Lamp , Jens Eckhoff (Stiftung Offshore-Windenergie), Dr. Krawinkel , Sven Becker (Tria-nel GmbH), Michael Riechel , Dr. WernerBrinker , Fred Jung (juwi AG), HartmutBrösamle , Hans-Dieter Kettwig (Ener-con), Frank Asbeck , Bernhard Beck
, Dr. Florian Bieberbach (Stadtwerke
Agentur). Aspekte des Rückbaus und der Entsorgungvon Kernkraftwerken bzw. radioaktiven Abfällen wur-den nicht besprochen.Am 12. Februar 2014 hat Sigmar Gabriel ein Ge-spräch mit Peter Terium , Dr. JohannesTeyssen , Gérard Mestrallet (GDF Suez SA ausFrankreich), Fulvio Conti ,Ignacio S. Galán , Dr. GertjanLankhorst , Daniel Benes
, Dr. Gerhard Roiss (OMV AG
kanzlerin mit Vorstandsvorsitzenden europäischer Ener-giekonzerne zu Fragen der europäischen Energiepolitikhaben auch Bundesminister Altmaier und Bundesminis-terin Hendricks teilgenommen. Aspekte des Rückbausund der Entsorgung von Kernkraftwerken bzw. radioak-tiver Abfälle sind nicht besprochen worden.Am 13. Februar 2014 führte Sigmar Gabriel ein Ge-spräch mit Dr. Johannes Teyssen und Dr. LeonhardBirnbaum . Es ging dabei um Kapazitätsmärkte,um das EEG, um Emissionshandel und die Situation vonKernkraftwerken allgemein. Dort wurden auch Aspektedes Rückbaus und der Entsorgung von Kernkraftwerkenund radioaktiven Abfällen besprochen.Am 18. Februar 2014 führte Bundesminister Gabrielein Gespräch mit Herrn Peter Terium , HerrnHeinacher und Alexander Nolden (RWE). Hier-bei ging es um die finanzielle Situation von RWE, Ka-pazitätsmärkte, das EEG, Emissionshandel und die Si-tuation der Kernkraftwerke allgemein. Aspekte desRückbaus und der Entsorgung von Kernkraftwerken undradioaktiven Abfällen wurden in dem Zusammenhangbesprochen.Am 27. Februar 2014 führte Bundesminister Gabrielein Gespräch mit Dr. Frank Mastiaux und MdL Dr. NilsSchmid. Es handelte sich um einen Antrittsbesuch desDr. Mastiaux, und es ging um EnBW allgemein, um dasEEG und die Energiewende, um Kapazitätsmechanis-men, Netzreserve, Emissionshandel und Offshorewind-energie. Aspekte des Rückbaus und der Entsorgung vonKernkraftwerken und radioaktiven Abfällen wurdennicht besprochen.Am 14. März 2014 gab es ein Gespräch des Bundes-ministers Gabriel mit T. J. Hatakka , mit S.Kleimeier , Peter Terium (RWE), Dr. Mastiaux
, Dr. B. Zinow (EnBW), E. Woste (Bundes-
verband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V.), A.Kuhlmann , M. G. Feist (Enercity), Dr. F.Bieberbach , C. Dany
und Raimund Otto (Stadtwerke
Leipzig). In dem Gespräch ging es um Kapazitätsmecha-nismen und die EEG-Reform. Aspekte des Rückbausund der Entsorgung von Kernkraftwerken und radioakti-ven Abfällen wurden nicht besprochen.Herr Parlamentarischer Staatssekretär Uwe Beckmeyerhat am 6. März 2014 ein Gespräch geführt mit ArnaudBellanger, Aufsichtsratsvorsitzender der Areva WindGmbH, Michael Munder-Oschimek, einer der Ge-schäftsführer der Areva Wind GmbH, Wolfgang Wilms,
Metadaten/Kopzeile:
2962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
(C)
(B)
ein weiterer Geschäftsführer der Areva Wind GmbH,und Joachim Arndt, ebenfalls Geschäftsführer der ArevaWind GmbH. Es ging in dem Gespräch um Off-shorewindenergie, die EEG-Novelle und den StandortBremerhaven. Aspekte des Rückbaus und der Entsor-gung von Kernkraftwerken bzw. radioaktiven Abfällenwurden nicht besprochen.Frau Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke– also ich – hat am 7. April 2014 ein Gespräch mit BerndDubberstein , Manfred Paasch, Vorstand derEdis AG und Vorsitzender des Vereins „pro Branden-burg“, und Andreas Kimmel von der Edis AG geführt.Es ging in diesem Gespräch um Infrastruktur- und Netz-ausbau in Ostdeutschland. Aspekte des Rückbaus undder Entsorgung von Kernkraftwerken bzw. radioaktivenAbfällen wurden nicht besprochen.Staatssekretär Rainer Baake führte am 28. Januar2014 ein Gespräch mit Dr. Frank Mastiaux ,Christoph Dany , Dr. LeonhardBirnbaum sowie Vertreterinnen und Vertretern an-derer Organisationen. In dem Gespräch ging es um dasEEG. Aspekte des Rückbaus und der Entsorgung vonKernkraftwerken bzw. radioaktiven Abfällen wurdennicht besprochen.Am 18. Februar 2014 führte Herr Baake ein Gesprächmit Johannes Lambertz , Dr. Ingo Luge (Eon) so-wie mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Organisa-tionen. Auch in diesem Gespräch ging es um das EEG.Aspekte des Rückbaus und der Entsorgung von Kern-kraftwerken bzw. radioaktiven Abfällen wurden nichtbesprochen.Am 18. Februar 2014 führte Herr Baake ein Gesprächmit Peter Terium von RWE. Auch in diesem Gesprächging es um das EEG. Aspekte des Rückbaus und der Ent-sorgung von Kernkraftwerken bzw. radioaktiven Abfäl-len waren nicht Gesprächsgegenstand.Am 14. März 2014 führte Herr Baake ein Gesprächmit Dr. Johannes Teyssen von Eon SE. Bei dem Ge-
Mastiaux , Dr. Florian Bieberbach (StadtwerkeMünchen), Werner Albrecht ,Stephan Schwarz , Herbert König
sowie Vertreter und Vertreterin-
nen anderer Organisationen. Es ging auch in diesemGespräch um das EEG. Aspekte des Rückbaus und derEntsorgung von Kernkraftwerken bzw. radioaktiven Ab-fällen waren nicht Gesprächsgegenstand.Am 20. März 2014 hat Herr Baake ein Gespräch ge-führt mit Eberhard Schomburg von Eon, Fred Schulzvon Eon, Thiess Hansen von Eon und Mike Winkel vonEon. Auch in diesem Gespräch ging es um das EEG. As-pekte des Rückbaus und der Entsorgung von Kernkraft-werken bzw. radioaktiven Abfällen sind auch dort nichtbesprochen worden.Am 10. April 2014 führte Herr Baake ein Gesprächmit Dr. Ingo Luge von Eon, Dr. Frank Mastiaux vonEnBW sowie Vertreterinnen und Vertretern anderer Or-ganisationen. In diesem Gespräch ging es um die Versor-gungssicherheit in Süddeutschland. Aspekte des Rück-baus und der Entsorgung von Kernkraftwerken bzw.radioaktiven Abfällen wurden nicht besprochen.Da Sie sich das nicht alles merken konnten, bekom-men Sie das selbstverständlich schriftlich, genauso wiedie Protokollanten.
Die Bundesregierung hat die Antwortzeit von zwei
Minuten, die normalerweise üblich ist, geringfügig über-
zogen.
I
Ich danke, Herr Präsident. Aber sonst hätte ich nicht
so ausführlich antworten können.
Das diente der Vollständigkeit, hat aber bei dem einen
oder anderen auf der Besuchertribüne zu Irritationen ge-
führt. Die Regierung hat jedenfalls vollständig und sehr
ausführlich geantwortet.
Frau Dr. Wilms, wollen Sie noch eine Zusatzfrage
stellen? – Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
Sie haben meine Frage sehr ausführlich beantwortet.
Herzlichen Dank.
Wenn ich es aber richtig sehe, haben wir zu dem
Punkt, wo es brennt und bei dem es darum geht, dass wir
als Gesamtgesellschaft im Zweifelsfall dafür eintreten
müssen, von Ihnen keine erschöpfende Auskunft bekom-
men. Wir konnten aber anhand Ihrer Aufzählung sehr
gut verfolgen, wie intensiv die Lobbyisten vorbeimar-
schieren, wenn es um das EEG geht. Allein deswegen ist
die Liste, die Sie uns schriftlich zur Verfügung stellen
wollen, wertvoll.
Nun zu meiner Nachfrage. Sie haben gesagt, dass Sie
mindestens zweimal über das Thema „AKW und Rück-
bau“ gesprochen haben. Ich möchte wissen, welche Aus-
sagen das BMWi dabei getroffen hat, welche Positionen
das BMWi dabei vertreten hat und ob dort möglicher-
weise schon Zugeständnisse in Richtung des Vorschlags
der Atomwirtschaft erörtert wurden.
I
Frau Kollegin Wilms, Sie haben mich danach gefragt,mit welchen hochrangigen Vertretern von atomkraft-werkbetreibenden Energiekonzernen wir Gespräche ge-führt haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2963
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
(C)
(B)
Ich kann Ihnen sagen, welche Gespräche wir in der Zwi-schenzeit noch geführt haben. Aber daraus zu schließen,dass an dieser Stelle ein besonders großer Lobbyismusausgebrochen sei, halte ich für ein bisschen abenteuer-lich, wenn ich das bemerken darf. Ich versuche, auf IhreFragen so erschöpfend wie möglich zu antworten.
Wie ich vorhin gesagt habe, ist es in den beiden Ge-sprächen, die ich auch aufgezählt habe, am Rande umsehr unkonkrete Vorschläge gegangen. Es hat keine Zu-geständnisse, Beschlüsse oder sonst irgendetwas gege-ben.
Frau Wilms, Sie haben das Wort zu einer zweiten
Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Gleicke, ich will
auf die Rückstellungen zurückkommen. Liegen Ihnen
Hinweise vor, dass auch andere Stellen Überlegungen in
diese Richtung anstellen? Ich denke zum Beispiel an die
Gewerkschaft IG BCE. Welche Informationen liegen Ih-
rem Hause vor?
I
Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Ich weiß
einfach nicht, ob es dazu Gespräche gegeben hat. Da
müsste ich mich zuerst erkundigen.
Was meinten Sie mit Ihrem Hinweis auf die IG BCE?
Ich frage das, damit ich meinem Haus möglichst kon-
krete Informationen weitergeben kann. Meinten Sie die
Rückstellungen für Atomkraftwerke?
Ja, ich meinte die Rückstellungen.
I
Alles klar.
Jetzt haben Herr Kollege Krischer und Frau Kollegin
Höhn jeweils eine Zusatzfrage.
Frau Kollegin, ich möchte die Frage von eben noch
einmal konkret stellen. Sie haben gesagt, ich hätte an-
hand der Zuweisung der Fragen für die Beantwortung
sehen können, bei wem die Federführung bei Rückstel-
lungen für den Atomkraftwerkerückbau innerhalb der
Bundesregierung liegt. Ich muss leider feststellen: Ich
konnte es nicht sehen. Das ist sicherlich mein Versehen.
Ich bitte Sie deshalb: Vielleicht nennen Sie mir – das
können Sie sehr kurz machen – einfach den Namen des
Ressorts, das in der Frage der Rückstellungen für den
AKW-Rückbau und die Entsorgung die Federführung in-
nerhalb der Bundesregierung hat.
I
Das BMWi hat innerhalb der Bundesregierung die Fe-
derführung für die Rückstellungen. Das BMUB hat die
Federführung für die Vorgaben zur nuklearen Stilllegung
und Entsorgung, das heißt indirekt für die Höhe der
finanziellen Lasten sowie für das Atomhaftungsrecht.
Für die steuerlichen Aspekte hat das BMF die Federfüh-
rung.
Frau Höhn, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, Sie
wollten die genaue Frage wissen, damit Sie den richtigen
Arbeitsauftrag an das Ministerium geben können. Das ist
der richtige Weg. Nun gibt es zwei Termine, bei denen
sich immerhin der Minister mit den Chefs von Eon und
RWE getroffen hat, nämlich am 13. und am 18. Februar,
und über diese Rückstellungen offensichtlich geredet
worden ist. Das haben Sie bestätigt. Gibt es denn Ar-
beitsaufträge des Ministers nach diesen Gesprächen für
das Ministerium?
I
Das ist mir nicht bekannt.
Können Sie da nachforschen und mich darüber infor-
mieren?
I
Das kann ich gerne machen.
Danke.
Wir kommen zur Frage 26 der Kollegin Dr. Valerie
Wilms:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber,
wie werthaltig die Rückstellungen in den Konzernbilanzen
von RWE derzeit noch sind, bitte differenzieren nach Ressort
und Datum?
I
Liebe Frau Kollegin Wilms, diesmal antworte ichetwas kürzer. Zu dieser Thematik hat es weder Verhand-lungen der Bundesregierung mit Vertretern der Energie-konzerne gegeben, noch gibt es dazu Beschlüsseinnerhalb der Bundesregierung. Die uneingeschränkteVerantwortung für den sicheren Ablaufbetrieb der Kern-kraftwerke, die Stilllegung, den Rückbau und auch die
Metadaten/Kopzeile:
2964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
(C)
(B)
Zwischenlagerung der radioaktiven Abfälle liegt bei denEnergieversorgungsunternehmen. Diese haben uneinge-schränkt sämtliche Kosten der Stilllegung, des Rückbaussowie der Endlagerung zu tragen. Dafür haben die Un-ternehmen Rückstellungen in Milliardenhöhe gebildet.Es muss gewährleistet sein, dass die finanziellen Mittelfür diese Zwecke jederzeit gesichert zur Verfügung ste-hen.
Eine Nachfrage, Frau Dr. Wilms.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank für die
kurze Antwort, Kollegin Gleicke, so müssen wir beide
nicht ganz so lange hier stehen. Ich habe doch noch eine
Nachfrage an der Stelle. Das Thema ist jetzt in der
Presse. Wenn ich Ihre Antwort, wie ich sie wahrgenom-
men habe, richtig interpretiere, dann hegen Sie keine
Zweifel an der Bewertung dieser Rückstellungen, näm-
lich ob diese noch ausreichend werthaltig sind.
Was wird das BMWi jetzt machen? Wird es das ein-
fach so stehenlassen – Sie haben eben gesagt, dass Ihr
Ressort zuständig ist –, oder wollen Sie jetzt herangehen,
sich das anschauen, sich intensiv mit den Konzernen
auseinandersetzen und fragen, wo wirklich Rückstellun-
gen vorhanden sind? Es geht darum, ob sie in Euro vor-
handen sind; denn Rückstellungen sind eine theoretische
Geschichte und können irgendwann einmal zu Geld ge-
macht werden, wenn man Glück hat. Werden Sie jetzt
Wirtschaftsprüfer in die Unternehmen schicken, oder
was haben Sie vor?
I
Liebe Frau Kollegin Wilms, es ist ganz einfach so,
dass wir uns tatsächlich im Handelsrecht befinden. Das
heißt, dass die Unternehmen gemäß ihrer Risiken Rück-
stellungen bilden müssen. Das ist auch bei der Nuklear-
wirtschaft so. Insofern werden diese Rückstellungen
selbstverständlich von unabhängigen Wirtschaftsprüfern
geprüft. Auch die Finanzverwaltungen prüfen; denn das
muss im entsprechenden Bereich sein.
Wenn sich Veränderungen ergeben, zum Beispiel weil
sich bestimmte Maßnahmen oder was auch immer ver-
teuern oder Anlagen, in denen diese Rückstellungen an-
gelegt sind, nicht mehr so werthaltig sind, haben die Un-
ternehmen Vorsorge zu treffen und ihre Rückstellungen
zu erhöhen.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Gleicke, das ist
die hehre Theorie; das stimmt alles von der Theorie her.
Aber Sie wissen doch auch, dass in der Praxis sehr viel
Bewertungsspielraum vorhanden ist. Mit anderen Wor-
ten: Offen ist, wie man mit der Bewertung von Rückstel-
lungen umgeht. Bilanzkosmetik – die zulässig ist – wird
durchaus häufig vorgenommen.
Uns ist durch die Presse dargestellt worden, dass die-
ses Thema von den Konzernen – Sie selber haben es
eben gesagt – zumindest in zwei Gesprächen angeschnit-
ten wurde. Wenn sogar die Betreiber dieser Atomkraft-
werke über eine Bad Bank zur Finanzierung des Rück-
baus von Atomanlagen nachdenken, dann frage ich mich
doch wirklich, warum bei Ihnen nicht langsam die
Alarmglocken läuten, warum Sie diese Bewertung nicht
einmal von unabhängiger Seite vornehmen lassen und
wirklich die Details untersuchen, um zu erfahren, für
wann was geplant ist.
I
Frau Kollegin Wilms, ich habe Ihnen gesagt, dass es
sich dabei um sehr unkonkrete Vorschläge handelte, dass
also nicht die gesamte Maschinerie des Ministeriums in
Gang gesetzt worden ist, um entsprechende Vorschläge
auszuarbeiten. Ich habe Ihnen außerdem gesagt, dass für
uns die Energieversorgungsunternehmen die uneinge-
schränkte Verantwortung für den Rückbau der Atomkraft-
werke und für die Zwischenlagerung und die Entsorgung
des Atommülls haben und dass sie dafür Rücklagen zu
bilden haben, genauso wie der Bergbau Rücklagen für
seine Ewigkeitslasten bilden muss. Dies wird von Wirt-
schaftsprüfern und von den Finanzverwaltungen geprüft.
Ich habe keinen Anlass, zu meinen, dass sich die Unter-
nehmen nicht gesetzeskonform verhalten. Ich gehe da-
von aus, dass sie sich, genauso wie es seriöse Kaufleute
tun, mit den rechtlichen Dingen auseinandersetzen.
Sie können versichert sein, Frau Kollegin Wilms:
Dieses Thema verlässt uns nicht; ich habe es vorhin
schon einmal gesagt. Auch das Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie macht sich darüber Gedanken,
wie wir diesen Themenbereich abarbeiten können. Wir
werden Ihnen zu gegebener Zeit Vorschläge unterbrei-
ten.
Es gibt zwei Nachfragewünsche; den einen hat Frau
Kollegin Kotting-Uhl, den anderen Frau Kollegin Höhn,
beide Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Kotting-Uhl, bitte.
Frau Staatssekretärin Gleicke, allein die Tatsache,dass die Konzerne diesen Vorschlag auf den Tisch gelegthaben, muss zum Nachdenken anregen. Jeder politischeMensch fragt sich: Warum haben die das wohl gemacht?Was für Überlegungen gibt es im BMWi bzw. was istIhre Interpretation bezüglich der Frage, warum dieseKonzerne die Überlegung, eine halbstaatliche Bad Bankzu schaffen, überhaupt auf den Tisch legen sollten, wennder Grund dafür doch nur sein kann, dass sie selberZweifel an der Werthaltigkeit ihrer Rückstellungen ha-ben?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2965
(C)
(B)
I
Frau Kollegin Kotting-Uhl, es ist ganz klar, dass die
Opposition sehr frühzeitig Gedankenspiele in den zu-
ständigen Ministerien kennen möchte. Aber ich werde
Ihnen heute in dieser Fragestunde diese Fragen nicht be-
antworten können, da ich nicht bei jedem Vorschlag ei-
ner Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters, der im politi-
schen Raum oder im wirtschaftlichen Raum auf die
Tagesordnung kommt, sofort ins Nachdenken gerate; so
etwas geht ja gar nicht. Wir denken permanent nach.
Wenn wir Vorschläge haben, dann werden wir sie Ihnen
auch unterbreiten.
Frau Kollegin Höhn, Sie haben als Nächste das Wort
zu einer Nachfrage.
De facto ist der Vorschlag der EVU, eine Bad Bank
zur Finanzierung des Rückbaus der Atomkraftwerke zu
schaffen, ein Eingeständnis, dass sie mit den bisherigen
Rückstellungen in Höhe von 36 Milliarden Euro nicht
hinkommen. Deshalb die Frage: Wie bewertet eigentlich
das Ministerium die Rückstellungen der EVU in Höhe
von 36 Milliarden Euro? Gibt es eine Einschätzung, ob
man mit dieser Summe hinkommt oder ob man mehr
braucht?
I
Frau Kollegin Höhn, wir kennen es von anderen The-
menbereichen, dass Preissteigerungen stattfinden – Stich-
wort „Endlagersuchgesetz“ –, dass sich also Kosten ver-
ändern können. Es finden immer wieder Gespräche
miteinander und ein Austausch untereinander statt, da-
mit die Unternehmen Risiken seriös bewerten und Rück-
lagen bilden können.
Ich sage aber noch einmal ganz klar: Die Bundes-
regierung stellt fest, dass nach Recht und Gesetz allein
die Energieversorgungsunternehmen für die Finanzie-
rung des Rückbaus der Atomkraftwerke verantwortlich
sind und Rücklagen zu bilden haben. Ich gehe davon
aus, dass sich die Unternehmen an dieser Stelle nach
Recht und Gesetz verhalten.
Wir kommen nun zur Frage 27 des Kollegen Hubertus
Zdebel, Fraktion Die Linke:
Stimmt die Meldung des Magazins Der Spiegel vom
12. Mai 2014, dass der Bundesregierung ein Vorschlag von
Eon, RWE und EnBW zur Unterbringung ihrer Atomaus-
stiegsrücklagen in einer öffentlich-rechtlichen Stiftung für den
Betrieb und Rückbau der deutschen Atomkraftwerke sowie
für die Atommülllagerung vorliegt?
Frau Staatssekretärin, bitte.
I
Herr Kollege, Sie haben zwei Fragen gestellt. Wegen
des Sachzusammenhangs würde ich sie gern zusammen
beantworten.
Dann rufe ich jetzt auch die Frage 28 des Kollegen
Hubertus Zdebel auf:
Wenn ja, was beinhaltet der Vorschlag der genannten Un-
ternehmen bezüglich des Aufgabenbereiches der vorgeschla-
genen Stiftung und der künftigen Haftung für die Kosten des
I
Der Bundesregierung liegt kein entsprechendes Kon-
zept vor. Das ist hier schon mehrfach deutlich geworden.
Weder hat es Verhandlungen der Bundesregierung mit
Vertretern der Energiekonzerne zu dieser Thematik ge-
geben, noch gibt es dazu Beschlüsse innerhalb der Bun-
desregierung.
Kollege Zdebel, bitte.
Danke schön, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
ist das nicht ein bisschen eine semantische Feinheit? Sie
haben gerade ausgeführt, dass es sehr wohl zumindest
allgemeine Gespräche von Herrn Minister Gabriel mit
RWE und Eon zu der ganzen Frage gegeben hat. Dann
sagen Sie aber: Es liegt uns kein Plan oder ausgearbeite-
tes Konzept vor. – Es geht doch im Prinzip darum, zu-
mindest in dieser Frage: War die Bundesregierung über
entsprechende Überlegungen der Konzerne informiert?
Dazu müssten Sie einräumen, dass bei diesen Gesprä-
chen zumindest in allgemeiner Form darüber informiert
worden ist.
I
Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade gesagt, dass es
diese allgemeinen Gespräche gegeben hat. Sie gehören
zu unserer Arbeit; das ist also systemimmanent, will ich
mal sagen. Aber Sie haben mich gefragt – auf Ihre Frage
bezieht sich meine Antwort –, was Inhalt dieser Vor-
schläge war. Ich habe Ihnen gesagt: Die Vorschläge wa-
ren unkonkret. Ich kann dazu keine Ausführungen ma-
chen, weil es quasi keinen konkreten Vorschlag gibt.
Ich bitte dafür herzlich um Verständnis.
Möchten Sie noch eine Nachfrage stellen? Sie haben
insgesamt vier Nachfragen, weil die beiden Fragen zu-
sammen beantwortet wurden. – Bitte.
Ich würde dann ganz gern noch eine Nachfrage stel-len. Frau Gleicke, wir haben das hier die ganze Zeitschon in unterschiedlichsten Varianten gehört. Mirkommt das ein bisschen weltfremd vor. Was ist denn da-
Metadaten/Kopzeile:
2966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Hubertus Zdebel
(C)
(B)
runter zu verstehen, dass über allgemeine Vorstellungen,was diese Fragen angeht, informiert worden ist?I
Ich will noch einmal betonen: Diese Diskussion ist äl-
ter als die Spiegel-Meldungen oder sonst etwas. Ich habe
das vorhin auch schon auf die Nachfragen der Kollegin-
nen und Kollegen der Grünen gesagt. Natürlich gibt es in
öffentlichen Debatten, auch in der Presse oder so immer
wieder Vorschläge, die hinlänglich unkonkret sind. Sie
fragen mich aber quasi nach Auswirkungen sowie nach
einem Modell, das die Energieversorger vorgelegt haben
sollen. Das haben sie nicht getan; sie haben das Thema
angesprochen, das mit „Rückbau und Entsorgung“ zu
beschreiben ist. Insofern kann ich keine Aussage zu ir-
gendeinem Konzept der Energieversorger machen.
Möchten Sie noch eine Nachfrage stellen? – Das ist
nicht der Fall. Schönen Dank.
Die Fragen 29 und 30 der Kollegin Bärbel Höhn so-
wie die Frage 31 der Kollegin Sevim Dağdelen werden
schriftlich beantwortet. Damit verlassen wir den Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Energie.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amts. Zur Beantwortung steht Staatsminister Michael
Roth bereit.
Die Frage 32 der Kollegin Sevim Dağdelen wird
schriftlich beantwortet.
Wir haben jetzt noch Zeit für die Beantwortung einer
Frage. Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Niema
Movassat auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
dem Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa am 2. Mai
2014, bei dem 46 größtenteils linke oder gewerkschaftlich or-
ganisierte Aktivisten starben, womöglich noch bei weitem
mehr Menschen – bis zu 116 – umkamen, die zum Teil vor
dem Brand erschossen bzw. erdrosselt wurden, und warum hat
sie sich als Reaktion auf diese Morde und zur vollständigen
Aufklärung der Tat nicht umgehend für die Entsendung einer
Das wird die letzte Frage in der heutigen Fragestunde
sein, weil wir dann zum nächsten Tagesordnungspunkt
kommen müssen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich hoffe, dass ich
noch so zu informieren vermag, wie das meine ge-
schätzte Kollegin mit den vielen detailreichen Angaben
zu den Treffen getan hat.
Lieber Herr Kollege Movassat, selbstverständlich lau-
fen in der Ukraine entsprechende strafrechtliche Ermitt-
lungen. Darüber hinaus hat das ukrainische Parlament
bereits am 13. Mai eine eigene Untersuchungskommis-
sion zur Aufklärung der Ereignisse in Odessa am 2. Mai
eingesetzt. Diese Untersuchungskommission wird von
den beiden Abgeordneten Anton Kisse – Partei der Re-
gionen – und von Wadym Merikow – Batkiwschtschyna –
geleitet.
Sie wissen sicher auch, dass für die Bundesregierung
Bundesaußenminister Steinmeier in Kiew und in Odessa
am 14. Mai 2014 mit der ukrainischen Regierung und
den regionalen Behörden über die tragischen Ereignisse
gesprochen hat. Er hat noch einmal die große Bedeutung
unterstrichen, die die Bundesregierung der vollständigen
Aufklärung der Ereignisse beimisst.
Darüber hinaus ist die sogenannte Sonderbeobach-
tungsmission der OSZE seit April 2014 mit einem Team
vor Ort in Odessa. Es beobachtet die Sicherheitslage und
berichtet an alle OSZE-Teilnehmerstaaten.
Diese OSZE-Missionen haben gemäß ihrem Mandat
einen umfassenden Auftrag zur Konfliktprävention. Da-
runter, Herr Kollege, fällt jedoch nicht die Überwachung
einzelner polizeilicher oder auch gerichtlicher Verfah-
ren.
Schönen Dank. – Haben Sie eine Nachfrage, Herr
Kollege?
Ja, danke, habe ich. – Meine Nachfrage bezieht sich
auf Erkenntnisse der Bundesregierung rund um den
Brand. Es war wohl so, dass sich die Polizei in Odessa
zurückzog, als der Brand ausbrach, dass die Feuerwehr
blockiert wurde oder erst gar nicht herausgefahren ist,
während dort Menschen verbrannten. Meine Frage ist:
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, warum
die Polizei nicht gegen die Brandstifter einschritt und die
Feuerwehr das Feuer nicht löschte?
Herr Kollege Movassat, das Problem besteht darin,
dass sehr widersprüchliche Aussagen und Informationen
vorliegen. Insofern hat die Bundesregierung ein außer-
ordentlich großes Interesse, dass die Untersuchungs-
ergebnisse baldmöglichst vorgelegt werden. Es laufen,
wie gesagt, auch strafrechtliche Ermittlungen. Darüber
hinaus hoffen wir, dass auch die Untersuchungskommis-
sion des ukrainischen Parlaments Licht in das Dunkel zu
bringen vermag. – Ich will noch einmal zusammenfas-
sen: Wir haben sehr widersprüchliche Erkenntnisse und
Informationen.
Sie haben das Wort zur zweiten und letzten Zusatz-
frage. Bitte.
Herr Staatssekretär, in der Tat sind die Informationen– das ist wahr – teilweise widersprüchlich. Es ist aber so,dass, nachdem der Brand stattgefunden hatte, die ukrai-nischen Medien davon sprachen, dass hier PatriotenSeparatisten zurückgeschlagen hätten, und der Gouver-neur der Region bezeichnete den Mord an den Menschenim Gewerkschaftshaus als legal. Insofern lautet meine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2967
Niema Movassat
(C)
(B)
Frage an die Bundesregierung: Glauben Sie wirklich,dass diese Kommission der ukrainischen Regierunghierzu einen neutralen und unabhängigen Bericht vorle-gen kann? Oder ist sie nicht durch diese sozusagen ge-lenkte Berichterstattung, die dort stattfindet und die Ge-schehnisse ganz einseitig darstellt, voreingenommen?
Zum einen gibt es strafrechtliche Ermittlungen, zum
anderen gibt es eine vom Parlament eingesetzte Untersu-
chungskommission. Wir haben derzeit keinen Anlass,
daran zu zweifeln, dass diese Untersuchungskommission
ihrer Aufgabe gerecht werden wird. Sie können sich,
Herr Kollege Movassat, darauf verlassen, dass wir uns
selbstverständlich regelmäßig über die Zwischenergeb-
nisse informieren werden. Wir wissen selbstverständlich
auch, dass die unterschiedlichsten Verantwortlichen, die
in der Ukraine präsent sind – egal ob Parlamentarierin-
nen und Parlamentarier oder Vertreter der internationa-
len Organisationen, – dieses Thema in allen Gesprächen
ansprechen. Selbstverständlich gilt das auch für Vertreter
der Bundesregierung, die immer wieder um Aufklärung
bitten.
Schönen Dank. – Wir sind damit am Ende der Frage-
stunde. Die übrigen Fragen werden gemäß den Vor-
schriften unserer Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt 1:
Wahl von Mitgliedern der „Kommission La-
gerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ ge-
mäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 und Satz 3
des Standortauswahlgesetzes
Drucksache 18/1452
Hierzu liegt uns ein gemeinsamer Wahlvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1452 vor. Wer
stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist mit
den Stimmen der einbringenden Fraktionen bei Enthal-
tung der Fraktion Die Linke so beschlossen.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt 2:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Freilassung der von Boko Haram entführten
Schulmädchen in Nigeria
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Vorsit-
zende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Seit einiger Zeit bewegt uns das Schicksal von 200 jun-gen Mädchen und Frauen – vielleicht sind es auch einwenig mehr –, die in Nigeria brutal entführt wurden undnach Ankündigung der Gruppe, die sie entführt hat, alsSklavinnen verkauft oder zwangsverheiratet werden sol-len. Diese Gruppe, Boko Haram, hat sich nicht nur zuder Entführung bekannt, sondern hat diese jungen Mäd-chen und Frauen in einer widerlichen Art und Weise öf-fentlich zur Schau gestellt. Sie hat damit gezeigt, was füreinen Charakter sie hat.Wir alle – bis vielleicht auf diejenigen, die schon vorOrt waren – haben unsere Informationen nur aus zweiteroder dritter Hand. Deswegen habe ich mich heute mitMenschen unterhalten, die im Norden Nigerias unter-wegs sind und die einen genaueren Überblick über dashaben, was dort passiert. Dazu gehören beispielsweisedie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „Open Doors“,aber auch von anderen Organisationen.Es gibt in den großen Zeitungen eine ganze Reihe vonanalytischen Berichten darüber, was hinter dieser Tatsteckt. Es wird über Machtfragen, Geldfragen, ethnischeFragen und Landfragen spekuliert. Das ein oder anderespielt natürlich eine Rolle. Wir brauchen aber gar nichtzu spekulieren. Es gibt nämlich eine Fülle von Doku-menten von Boko Haram, die den Kern der Gruppe auf-zeigen. In diesen Dokumenten wird eindeutig und klarformuliert: Wir wollen – zumindest im Norden Nigerias –,eine islamische Republik, einen Teil Afrikas, in demausschließlich die Scharia herrscht. – Das ist nicht ein-fach so dahingesprochen. In beachtlichen Teilen im Nor-den des Landes wurde die Scharia bereits überfallartigeingeführt.Boko Haram hat nicht nur erklärt, dass die Scharia inganz Nigeria eingeführt werden soll, sondern auch, dasssie in diesem Land keine Christen haben will. Es ist alsonicht wie in anderen Staaten, wo man die Scharia auchauf Minderheiten ausdehnt. Boko Haram will, dass dieChristen aus Nigeria verschwinden. Das ist eine klareAndeutung, die zeigt, dass es im Kern nicht um eineethnische Auseinandersetzung oder etwas anderes geht.Im Kern geht es vielmehr darum, dass Boko Haram dieChristen aus dem Land verdrängen will und nicht davorzurückschreckt, Kindern – es sind übrigens auch Jungenüberfallen worden – in brutalster Art und Weise ein sol-ches Verbrechen anzutun, und zwar, weil sie auch Chris-ten sind oder vielleicht, weil sie Christen sind. Ich finde,wir haben daher allen Grund, dies auch offen anzuspre-chen.
Sie wissen alle, dass mich die Frage der Religionsfrei-heit seit vielen Jahren beschäftigt. Ich bin sehr vorsich-tig, wenn es um die Frage geht: Wo handelt es sich umethnische Konflikte, und wo geht es tatsächlich um Reli-gionsfreiheit? In diesem Fall in Nigeria geht es um Reli-gionen.Warum sich Boko Haram so hat ausdehnen können,hat viele Gründe. Wir stellen seit einiger Zeit eine Verän-derung fest. Waren es früher vor allem Staaten, die Gläu-bige, darunter Christen, verfolgt haben, so sind es nunzunehmend Gruppen, die deswegen stark sind, weil dasstaatliche Gewaltmonopol nicht mehr existiert. Genau
Metadaten/Kopzeile:
2968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Volker Kauder
(C)
(B)
dies ist auch in Nigeria der Fall. Um diese Probleme zubekämpfen, müssen wir alles daransetzen, dass der Staatseinen Aufgaben nachkommen kann. Wir müssen klarund deutlich sagen: Wir werden die Verfolgung vonMenschen, die glauben, nicht zulassen. Dabei geht esuns um die Glaubensfreiheit generell. Aber die Wahrheitist leider, dass die am meisten verfolgte Gruppe dieChristen sind, und zwar vor allem dort, wo Muslime inder Mehrheit sind und die Macht haben. Dies muss offenangesprochen werden. Die Wahrheit ist politisch immerkorrekt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Annette Groth, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wiralle sind berührt von dem Schicksal der über 200 Mäd-chen, die von Boko Haram verschleppt wurden. Dieseunschuldigen Mädchen und jungen Frauen wurden Gei-seln einer kriminellen Bande.Seit vielen Jahren begeht Boko Haram furchtbareMenschenrechtsverletzungen. Tausende Menschen wur-den in den vergangenen Jahren in Dörfern, Kirchen,Schulen und Polizeistationen massakriert. Dies wurdeallerdings lange Zeit in unseren Medien kaum erwähnt.Jetzt müssen alle erdenklichen Mühen unternommenwerden, um die Mädchen zu finden und zu ihren Fami-lien zurückzubringen.
Ich bin aber überzeugt, dass militärische Gewalt nichtgeeignet ist, um dieses Ziel zu erreichen, nicht nur weildadurch das Leben der Mädchen gefährdet würde, son-dern auch weil ich die massive Kampagne, die die nige-rianische Armee gegen Boko Haram führt, keineswegsfür die richtige Antwort halte.
Das Vorgehen der Armee hat bereits Tausende Opfer, da-runter viele unbeteiligte Zivilisten, gefordert. Und vorallem ändert es nichts an den Ursachen, aufgrund derersich viele junge Menschen Boko Haram angeschlossenhaben.Nigeria ist einer der bevölkerungsreichsten Staatenund der größte Ölproduzent Afrikas. Dennoch herrschengroße Armut, Korruption und ein brutaler Polizeiapparatin diesem Land. Im Norden Nigerias, wo Boko Harambesonders stark ist, leben etwa 70 Prozent der Bevölke-rung von weniger als 1 US-Dollar pro Tag. Die Reichenleben in Saus und Braus.Innerhalb der jungen Bevölkerung haben sich Per-spektivlosigkeit und eine weitverbreitete Wut auf diekorrupten Eliten fest verankert. Das ist ein idealer Nähr-boden für fanatische Gruppen, die sich um die Jugendli-chen kümmern und deren Wut und Hoffnungslosigkeitfür ihre Zwecke missbrauchen. Durch den Beitritt zuBoko Haram erhalten diese Jugendlichen ein regelmäßi-ges Einkommen und im Rahmen dieser Gruppe einengesellschaftlichen Status.Vor zwei Wochen ist im britischen Guardian ein Arti-kel erschienen, der die Zusammenhänge zwischen densozialen und politischen Gegebenheiten und dem Terror,den Boko Haram gegen die nigerianische Bevölkerungausübt, sehr klar aufzeigt. Eindrücklich schildert der Au-tor, wie der durch den fortschreitenden Klimawandelentstandene Mangel an fruchtbarem Land und sauberemWasser immer mehr Hunger, Krankheiten und Armutproduziert.Das vom US-Kongress finanzierte Institute for Peacegeht genau wie das nigerianische Militär davon aus, dasszwischen Klimawandel und Gewalt in Nigeria ein kausa-ler Zusammenhang besteht. Sehr viele Soldaten derBoko Haram sind Menschen, die vor Dürre und Nah-rungsmittelknappheit auch aus den Nachbarländern Ni-gerias geflohen sind.Die Ausbreitung von Boko Haram, al-Qaida und ähn-lichen fanatischen Gruppen in Nigeria, Mali und an-derswo wäre ohne Unterstützung zum Beispiel durchden algerischen Geheimdienst nicht möglich gewesen.Auch einige Golfstaaten wie zum Beispiel Katar undSaudi-Arabien unterstützen diese Gruppen. All dies ge-schieht auch mit dem Wissen westlicher Geheimdienste.Kürzlich hat die Bundesregierung wieder einmal Waf-fenexporte in Höhe von 29 Millionen Euro nach Alge-rien und mehr als 31 Millionen Euro nach Saudi-Arabiengenehmigt. Das ist einfach skandalös.
Darüber hinaus haben die Kriegseinsätze der westli-chen Staaten zum Beispiel in Libyen und im Irak dazugeführt, dass riesige Mengen von Waffen in die Regionhineingepumpt wurden und heute von diesen fanatischenGruppen eingesetzt werden. Dort gibt es mehr Waffenals Brot. Das ist doch wirklich wahnsinnig.Die völkerrechtswidrige Kriegslogik des Westens hatein Klima geschaffen, das die Wut auf den Westen alsideologischen Nährboden für diese Gruppen mit ihrenperversen Zielen angeheizt hat. Auch deswegen fordernwir Linke seit vielen Jahren, die militärischen Abenteuerin dieser Region endlich zu beenden und eine zivile Au-ßenpolitik einzuleiten. Statt Waffen brauchen die Men-schen echte Entwicklungsperspektiven.
Die deutsche und die europäische Außenpolitik müssenendlich Verantwortung übernehmen. Diesen fanatischenGruppen muss der finanzielle Nachschub entzogen wer-den. Gleichzeitig müssen ökonomische und sozialeGrundlagen für eine nachhaltige Entwicklung der Staa-ten in der Region befördert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute müssen wiralle mit den Mitteln der Diplomatie auf eine schnelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2969
Annette Groth
(C)
(B)
Freilassung der Mädchen hinwirken, und ich hoffe, dasses bald zu einer Freilassung kommt.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich Edelgard Bulmahn,
SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen!Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben:die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und dieAugen der Kinder.So der italienische Dichter und Philosoph DanteAlighieri im 14. Jahrhundert. Das Kostbarste, was Elternhaben, sind ihre Kinder. Wer Menschen verachtet, wersie zutiefst verletzen will, ihnen den größtmöglichenSchaden zufügen will, der nutzt genau dies aus.Unschuldige Kinder und Jugendliche zu Geiseln zumachen, zeugt von einer unvorstellbar rohen und bruta-len Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit.
Wer so handelt, gibt seine eigene Menschlichkeit auf undverabschiedet sich bewusst von grundlegenden Werten,die allen Kulturen und Religionen der Welt gemeinsamsind.Die Entführung von über 270 Mädchen aus einerSchule in Chibok im Norden Nigerias ist aber auch eineTat, die ein gezieltes Statement gegen die Bildung unddamit auch gegen bessere Lebenschancen von Mädchenund jungen Frauen sein soll. Wer den Islam als Rechtfer-tigung hierfür heranzieht, wie es der Anführer der Ter-rorgruppe Boko Haram tut, verhöhnt den Islam.
Anschläge wie die Entführung der Schülerinnen inNigeria sind leider kein Einzelfall: Seit Jahren – meineVorredner haben darauf hingewiesen – begeht Boko Ha-ram immer wieder Verbrechen gegen die Menschlich-keit. Erst gestern wurden bei einem Anschlag in Jos min-destens 120 Menschen getötet.Nigeria – das dürfen wir in dieser Debatte nicht ver-gessen – war ein von Toleranz geprägter Vielvölkerstaat.Das macht die Dramatik und das Problem dieser Ent-wicklung so deutlich. Die Führer der katholischen undder muslimischen Religionsgruppe betonen immer wie-der, es gebe keinen Krieg der Religionen; Opfer seienChristen und Muslime. Die religiösen Führer – das istein Stück Hoffnung – setzen sich immer wieder für Aus-gleich und Toleranz ein.Eine grundlegende Ursache des Konfliktes liegt in dersozioökonomischen Ungleichheit zwischen dem Nordenund dem Süden. Nährboden für Boko Haram sind wirt-schaftliche und soziale Benachteiligungen der Menschenim Norden des Landes, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Per-spektivlosigkeit, Korruption und Verlust des Vertrauensin staatliche Institutionen. Vom beachtlichen Wirt-schaftswachstum der letzten Jahre und von den wertvol-len Ressourcen, die es in diesem Land gibt, profitierendie meisten Menschen im Norden, aber auch im Südennicht.Die Regierung steht deshalb vor einer doppelten He-rausforderung: Erstens muss sie den Terror bekämpfen.Aber sie darf dabei nicht stehen bleiben. Sie muss zwei-tens Armut bekämpfen und Menschen wieder eine Per-spektive geben, und zwar unabhängig davon, wo sieleben. Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg, an der wirt-schaftlichen Entwicklung, Respekt vor Menschenrech-ten, Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und na-türlich auch die Zusammenarbeit mit den Religionensind wichtige Voraussetzungen dafür, damit dem Terro-rismus in diesem Land und einer solchen Gruppe wieBoko Haram der Nährboden entzogen wird.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus zie-hen? Ja, ich bin sehr froh, dass es die Konferenz in Parisgegeben hat. Sie hat deutlich gemacht, dass eine derartmassive menschenverachtende Verletzung von grundle-genden Menschenrechten von der internationalen Staa-tengemeinschaft nicht akzeptiert werden kann und darf.Das ist ein wichtiges Signal, im Übrigen auch deshalb,weil damit nicht nur Nigeria, sondern auch seine Nach-barstaaten sowie Europa und die USA deutlich gemachthaben, dass wir alle die Verantwortung dafür tragen, dassden Menschen wieder eine gerechtere Teilhabe an wirt-schaftlicher Entwicklung ermöglicht wird. Nur so kannder Nährboden für Terrorismus ausgetrocknet werden.Ich sage ausdrücklich auch: Es darf keine rein militä-rische Antwort geben, sondern eine Antwort muss imechten Sinne des Wortes umfassend sein. Deshalb müs-sen wir über Entwicklungshilfe und über unsere wirt-schaftlichen Hilfen unseren Teil zum Aufbau und zurStärkung rechtsstaatlicher und demokratischer Institutio-nen und Strukturen in diesem Land beitragen. Wir müs-sen dafür sorgen, dass Korruption bekämpft wird unddass sich gute Regierungsführung wieder stärker eta-bliert. Damit können die Voraussetzungen für eine bes-sere ökonomische Entwicklung in allen Teilen des Lan-des geschaffen werden.Ich habe bereits erwähnt, dass auch die Bekämpfungvon Armut, Hunger und Not notwendig ist. Hier stehenwir ebenfalls in der Verantwortung, über die Entwick-lungshilfe zu reagieren. Wir stehen über die Entwick-lungshilfe hinaus auch in der Verantwortung, durch wirt-schaftliche Zusammenarbeit zwischen unserem Land,aber auch zwischen der EU und dieser Region die nach-haltige Entwicklung zu unterstützen.
Metadaten/Kopzeile:
2970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
Meine sehr geehrten Herren und Damen, die deutschePolitik trägt hier eine Verantwortung. Wir müssen un-seren Beitrag leisten, auf einen positiven Wandel hin-zuwirken. Dazu ist es wichtig, dass wir uns auch aufRegierungsebene an einem institutionalisierten Dialogbeteiligen, dass wir diesen Dialog nutzen und dass wirihn tatsächlich führen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen
Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Boko Haram ist ein Synonym für schlimmste Menschen-rechtsverletzungen. Das zeigt nicht nur die Entführungder Schülerinnen und die Drohung, die Mädchen aufdem Markt zu verkaufen oder zu versklaven.Insgesamt wurden bisher weit über 4 000 Menschenermordet, die Verletzten, die Vertriebenen, die Traumati-sierten wurden nie gezählt, konnten vielleicht auch nichtgezählt werden, und das Morden geht bekanntlich wei-ter, wie die gestrigen Nachrichten bestätigten. Deshalbist es verdammt traurig, dass erst die Entführung derMädchen die globale Betroffenheit ausgelöst hat.
Herr Kauder, was Sie zu diesem Thema gesagt haben,war völlig richtig. Aber ich denke, wir sollten hier sehraufpassen: Es ist unsere Aufgabe, klarzustellen, dass dasProblem Boko Haram kein religiöses Problem ist. MitReligion lassen sich diese Hassverbrechen nicht begrün-den und, wie Frau Bulmahn richtig sagte, schon gar nichtmit dem Islam oder dem islamischen Glauben.
Das reiche Land Nigeria hat sich nicht unverschuldetin diese Situation manövriert, aus der es heute alleinenicht mehr herauskommt. Präsident Goodluck hat die Si-tuation lange völlig falsch eingeschätzt und falsch re-agiert. Führende Politiker und hohe Militärs haben sogarlange Zeit versucht, die Terrorakte für ihre politischenZwecke zu instrumentalisieren. Viele Menschen, im Prin-zip die ganze Nation, zahlen dafür einen extrem hohenPreis.Jetzt stellt sich die Frage nach internationaler Solida-rität, die auch dem Schutz der Nachbarstaaten Kamerun,Benin, Tschad, Niger gilt. Diese Länder leiden ebenfallsverstärkt unter dem Terror Boko Harams. Ich denke, esist unser aller Aufgabe, hier einzuschreiten. Boko Haramsucht neue Rückzugsgebiete und neue Ziele. Eine Desta-bilisierung der ganzen Region, die bestimmt zwölfmalso groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, ist nichtausgeschlossen. Auch deshalb haben sich jetzt die USA,Großbritannien und Frankreich mit den genannten Län-dern zusammengetan. Sie versuchen, eine Lösung zu fin-den. Sie versuchen vor allen Dingen, die Mädchen zufinden und zu befreien. Die Mädchen müssen zurück zuihren Familien, und sie müssen zurück in die Schulen.Wir müssen uns viele Fragen stellen: Wer steckt hin-ter Boko Haram? Wie ist die Entstehungsgeschichte?Woher bekommt Boko Haram die Waffen? Welche Rollespielt die nigerianische Regierung? Welche Rolle spielenunsere Waffenexporte? Und wir müssen auch die Fragestellen: Welche Rolle spielt die endemische Korruptionin diesem Land? Der Fairness halber muss ich sagen,dass man diese Frage so nicht formulieren darf. Manmüsste sie anders formulieren, nämlich: Wie lange ha-ben westliche Staaten und Konzerne mit den unter-schiedlichen korrupten Regierungen Nigerias hervorra-gend zusammengearbeitet und die Korruption dadurchbefördert und gefördert? Shell ist doch nur das bekannteBeispiel. Sie erinnern sich: Der Ölkonzern hat mit denunterschiedlichen Regierungen jahrzehntelang bestenszusammengearbeitet. Sie haben letztlich gemeinsam dasVolk der Ogoni bekämpft. Das Volk hat fürchterlich ge-litten. Zusammen haben sie, Shell und die Regierung,letztlich auch den Bürgerrechtler und Schriftsteller KenSaro-Wiwa über ein Gerichtsurteil ermorden lassen. Dafrage ich schon: Tragen wir nicht auch Mitverantwor-tung?
Nigeria ist aus rein ökonomischer Sicht sehr erfolg-reich – Frau Bulmahn hat es angesprochen –, aber es gilteine einfache Regel: Wachstum braucht Regeln; dennsonst wird es zerstörerisch. Es bedeutet sehr oft Aus-grenzung jener, die eben nicht direkt vom Wachstumprofitieren. Damit trägt ein unkontrolliertes, nicht regu-liertes Wachstum oftmals den Kern der staatlichen Zer-störung in sich. Das ist nicht nur in Nigeria der Fall; dasist in vielen Ländern der Fall.Hier kommt auch unsere Verantwortung ins Spiel. Esgibt viele Punkte, an denen unsere Verantwortung an-setzt. Ich greife hier nur einen Bereich heraus: Es ist un-sere Aufgabe, diejenigen Unternehmen, die in Nigeriaund in anderen armen Ländern investieren, zu ermuti-gen, auch weiterhin zu investieren. Wir müssen aber vondiesen Unternehmen zwingend verlangen, dass sie dafürsorgen, dass Menschenrechte, ökologische und sozialeStandards eingehalten werden. Die Konzerne sind fürihren Wirkungskreis verantwortlich. Aber auch wir Poli-tiker im Bundestag und auf europäischer Ebene sindletztlich für europäische und deutsche Konzerne mitver-antwortlich, und ich sehe, dass wir diese Verantwortungnoch nicht wahrnehmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2971
Uwe Kekeritz
(C)
(B)
Ohne soziale und ökologische Gerechtigkeit wird Nige-ria keine Lösungen finden. Einer heutigen Befreiung derMädchen, die wir alle verlangen und wünschen, würdenzukünftig noch mehr Tote durch weitere Terrorakte fol-gen. Wir müssen in vielen Bereichen Verantwortungübernehmen: im Rüstungsbereich, im Finanzbereich, imBereich der Kontrolle der internationalen Unternehmen,im Klimabereich. Nehmen wir unsere Verantwortungdoch endlich ernst! Die Mädchen haben das verdient.Danke schön.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Kollegin
Sabine Weiss, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Meine Damen und Herren! Das Verbrechen der
Entführung von mehr als 200 nigerianischen Mädchen
ist so ungeheuerlich, dass es sprachlos macht, sprachlos
vor der Menschenverachtung der Täter von Boko Haram,
sprachlos vor der Grausamkeit, Kinder für ihre Ziele zu
instrumentalisieren. Für eine solche Tat kann es keine
Rechtfertigung und auch keine Relativierung geben.
Von dieser Aktuellen Stunde heute muss das Signal
ausgehen, dass der Deutsche Bundestag diese Men-
schenrechtsverbrechen geschlossen und uneingeschränkt
verurteilt.
Und sie muss klarmachen, dass wir alle verhältnismäßi-
gen Maßnahmen unterstützen, die zur Befreiung der
Mädchen führen. Diese Zielsetzungen hat heute im Übri-
gen auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung in einer schriftlichen Erklärung
zum Ausdruck gebracht.
Der amerikanische Kolumnist Nicholas Kristof hat
letzte Woche gefragt: Warum habt ihr solche Angst vor
klugen Mädchen? Seine Antwort, etwas zusammenge-
fasst: Weil gebildete Mädchen den größten Albtraum für
Gruppen wie Boko Haram darstellen. – Gebildete Mäd-
chen verwandeln Gesellschaften zum Positiven, sie bele-
ben das gesellschaftliche Leben und die Betriebe, sie tra-
gen zum Wirtschaftswachstum und zur Verbesserung des
Lebensstandards der Menschen bei.
Was also können wir tun? Die internationale Gemein-
schaft – das ist mehrfach angeklungen – muss bei der Su-
che und gegebenenfalls Befreiung der Mädchen engagiert
bleiben. Der von Präsident Hollande am Wochenende
hierzu abgehaltene Gipfel und die dort beschlossene Ko-
operation der Länder der Region und der internationalen
Gemeinschaft sind zu begrüßen. Deutschland sollte sich
hier weiterhin entsprechend seinen Möglichkeiten inten-
siv beteiligen.
Wir müssen aber auch fragen: Wie geht es dann wei-
ter? Die Bewegung Boko Haram wird ja nicht einfach
„weggehen“, sondern sie wächst. Ähnlich wie in Mali
müssen wir neben den akuten, unmittelbaren Maßnah-
men der Terrorbekämpfung eine Doppelstrategie fahren.
Zum einen müssen wir dazu beitragen, die örtlichen Si-
cherheitsstrukturen zu reformieren und die zivile Über-
wachung zu stärken. Diese scheinen in der gesamten Re-
gion überfordert zu sein, mit der islamistischen Gewalt
fertigzuwerden. Als Entwicklungspolitikerin sehe ich
zum anderen aber auch eine Aufgabe darin, mit zivilen
Mitteln Gruppen wie Boko Haram den Nährboden zu
entziehen.
Zivile Mittel der Entwicklungszusammenarbeit die-
nen erstens dazu, Bildung zu stärken, von Mädchen und
Jungen, und zweitens dazu, die Gesundheitssituation der
Menschen zu verbessern. Wie schwierig diese Gesund-
heitssituation in Teilen von Nigeria ist, belegt zum Bei-
spiel der Umstand, dass ein Ausbruch von Polio dort
wieder eine Gefahr ist. Diese Gefahr ist umso größer,
wenn staatliche Institutionen aus Sicherheitsgründen in
manche Regionen gar nicht gelangen, um Impfungen
durchzuführen und präventive Maßnahmen zu ergreifen.
Drittens brauchen wir zivile Mittel, um Arbeitsplätze für
die Menschen zu schaffen. Denn ohne Arbeitsplätze ha-
ben sie keine Perspektive, suchen Flucht in Radikalisie-
rung und finden diese bei Boko Haram. Im März zum
Beispiel wurden in Nigeria 16 Menschen totgetreten, als
sich eine halbe Million Menschen um circa 5 000 Regie-
rungsarbeitsplätze beworben hatten.
Das Trauerspiel ist – auch das ist angeklungen –, dass
Nigeria als Ölexporteur Ressourcen hat und sogar ein
Mitteleinkommensland ist. Dennoch lebt die Hälfte der
Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Wir müssen also zügig und überlegt das angehen, was
für die Zukunft zu tun ist. Aber Priorität muss jetzt ha-
ben, undogmatisch alles Vertretbare zu unterstützen, um
diese Mädchen zu befreien und zurück in ihre Familien
zu bringen und auch zurück in die Schule.
Herzlichen Dank.
Als Nächster erteile ich das Wort Kollegin Kathrin
Vogler, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte meine Rede in der heutigenAktuellen Stunde gerne meiner Tochter und ihren Freun-dinnen widmen. Rosa, Larissa, Chiara, Kira, Diana,
Metadaten/Kopzeile:
2972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Kathrin Vogler
(C)
(B)
Angela und Alice besuchen die 9. Klasse des Gymna-siums in Emsdetten. Sie sind ganz normale Teenager undschon deshalb keine besonders begeisterten Schülerin-nen. Aber sie wissen, dass Bildung, gute Bildung eineVoraussetzung für einen interessanten Beruf und einselbstständiges Leben ist. Sie wollen Lehrerin oder Lek-torin, Steuerberaterin oder Grafikerin werden. Ich wün-sche ihnen von Herzen, dass sie sich diese Wünsche er-füllen können.Am 14. April dieses Jahres endeten ganz ähnlicheTräume von über 200 Mädchen im Norden Nigerias aufbrutale Weise. Aus ihrer Schule wurden sie nachts ent-führt und verschleppt. Eine gewalttätige Sekte namensBoko Haram hat diese Mädchen zu Zielobjekten ge-macht, und das nur, weil sie lernen und sich aus Unwis-senheit und Abhängigkeit befreien wollten. Durch dieseEntführung haben die gewaltsamen Konflikte in Nigeriaerstmals große internationale Aufmerksamkeit erhalten;sie haben sozusagen 200 Gesichter bekommen.Wir können uns einfühlen in die Angst dieser Jugend-lichen, in die Verzweiflung ihrer Eltern oder in die Wutall der Menschen in Nigeria, die sich solche Übergriffenicht mehr gefallen lassen wollen und gegen die Untätig-keit ihrer Regierung auf die Straße gehen. Unsere Ge-fühle sind bei den Menschen dort. Auch wenn die welt-weite Solidaritätskampagne sicher nicht unmittelbar dieFreilassung der Schülerinnen erreichen wird, so hat siezumindest die Verantwortlichen in Nigeria und denNachbarländern wachgerüttelt.Auch ich möchte den Kolumnisten Nicholas Kristofvon der New York Times zitieren, und zwar etwas ge-nauer. Er fragt: „Warum lassen sich Fanatiker so schre-cken durch Bildung für Mädchen?“ Er antwortet:Es gibt keine machtvollere Kraft, um eine Gesell-schaft umzugestalten. Die größte Bedrohung fürden Fanatismus sind nicht Raketen, die von Droh-nen abgefeuert werden, sondern Mädchen, die Bü-cher lesen.Er bedauert deshalb, dass der Westen viel, viel mehr inDrohnen und Raketen investiert als in Bildung. Da, findeich, hat er recht.
Ich möchte auch die nigerianische SchriftstellerinChimamanda Ngozi Adichie zitieren, die sich mehrKomplexität in der Debatte wünscht, auch in den westli-chen Medien. In der FAZ vom Wochenende forderte sievon uns:Hört auf, es euch so leicht zu machen! Es ist nichtwie mit den Taliban. Nicht alles in der Welt muss ineure vorgefertigten kleinen Schubladen passen.Auch sie sieht ein militärisches Eingreifen von außenskeptisch und fragt sich und uns:Wenn ich die Präsidentin von Nigeria wäre, würdeich unsere Soldaten nach Amerika schicken, umdessen innenpolitische Probleme zu lösen?Ich glaube, wir müssen bei aller Betroffenheit undEmpörung gerade auf solche nachdenklichen Stimmenhören. Wir können die innenpolitischen Konflikte in Ni-geria nicht stellvertretend lösen. Nicht wir werden dieje-nigen sein, welche die Mädchen zurückbringen. Aberwir können diejenigen ermutigen, die Wege aus Hassund Gewalt suchen.
Als Beispiele nenne ich den Priester James Wuye undden Imam Muhammad Ashafa. Beide waren militanteGlaubenskämpfer, der eine in einer christlichen Milizund der andere in einer muslimischen – reiner Zufall,dass nicht der eine den anderen tötete. Irgendwann aberbegegneten sie sich und stellten, jeder für sich, fest: Esgeht hier gar nicht um Religion, sondern es geht umMacht, Geld und knappe Ressourcen. – Dann gründetensie das Interreligiöse Zentrum für Mediation, mit demsie seit fast 20 Jahren unter ihren Landsleuten die Ge-danken von Versöhnung und Feindesliebe verbreiten.Beiden gemeinsam wurde im letzten Jahr sowohl derDeutsche Afrika-Preis als auch der Hessische Friedens-preis verliehen.Dass ihr Engagement überhaupt in Deutschland wahr-genommen wurde, ist einem Projekt des Zivilen Frie-densdienstes zu verdanken. Leider aber gibt es imMoment keine solchen Friedensdienstprojekte mit Un-terstützung der Bundesregierung mehr in Nigeria. Pro-jekte in derart schwierigen und umkämpften Regionensind aufwendig und teuer. Die Bundesregierung hat dieMittel für den Zivilen Friedensdienst eingefroren. DieseEntscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein-fach falsch.
Investieren wir doch in die Zukunft! Unterstützen wirFriedenskräfte und Versöhnungsarbeit, nicht nur, abereben auch in Nigeria! Denn auch dieser Konflikt wirdnicht mit Waffengewalt gelöst werden können, sondernnur – dazu haben ja schon einige vor mir Kluges gesagt –mit sozialer Gerechtigkeit und ziviler Konfliktbearbei-tung. So könnten wir Verantwortung übernehmen: fürden Frieden und für die Freilassung dieser Mädchen undaller anderen Entführten.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Kollegin
Michaela Engelmeier-Heite von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Mehr als 200 junge Mädchen verschwinden in Ni-geria, entführt von Terroristen und an einen unbekanntenOrt verschleppt. „Terroristen“ – ja, natürlich –, anderskann man die Entführer, die islamistische Gruppe BokoHaram, nicht nennen. Ich glaube, dass kein Mensch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2973
Michaela Engelmeier-Heite
(C)
(B)
überhaupt ermessen kann, was diese Mädchen erleiden:hilflos Terroristen und ihrer Willkür ausgeliefert, heraus-gerissen aus einem Leben, das vielleicht nicht rundumsorglos war, einem Leben, das ohne Zweifel auch durchArmut geprägt war, aber einem Leben im Kreise ihrerFamilie und in ihrer gewohnten Umgebung.Seit einem Monat – seit einem Monat! – nur nochAngst und Verunsicherung: Angst vor einer ungewissenZukunft, Angst vor möglicher Vergewaltigung, Angstvor einem möglichen Verkauf für wenige Naira, Verskla-vung und Zwangsehe. Immer drängender wird der Ruf:Befreit unsere Töchter! Bring back our girls! – Wer ei-gene Kinder hat, wird verstehen, welchen Schmerz, wel-che Angst die Eltern und Angehörigen der mehr als200 entführten Mädchen in Nigeria seit Wochen durch-leiden. Wo sind die Mädchen? Was ist mit ihnen pas-siert? Fragen, auf die es keine Antwort gibt, noch nicht,auch nicht auf die Frage: Wird mir mein Kind wiederge-bracht? – Und darum muss es gehen, das ist erst einmaldas Wichtigste: Die Mädchen müssen gefunden und be-freit werden.
Und sie müssen so schnell wie möglich zu ihren Fami-lien zurückgebracht werden.Viel zu lange wurde die von der Terrorgruppe BokoHaram ausgehende Gefahr unterschätzt und ignoriert.Seit Jahren überzieht sie das Land mit Anarchie und Ter-ror, verübt feige Mordanschläge und zwingt Menschenzur Flucht aus ihrer Heimat im Norden Nigerias. Mehrals 3 000 Tote gehen auf das Konto von Boko Haram.Gestern wurden bei feigen Anschlägen erneut unschul-dige Menschen Opfer, 118 Menschen; und es ist zu be-fürchten, dass die Zahl der Opfer weiter steigt. Es gibtnoch keinen Bekennerbrief von Boko Haram; aber es istzu befürchten, dass auch für diese Anschläge BokoHaram verantwortlich ist. Deswegen sage ich: BokoHaram muss gestoppt werden!Viel zu lange blieb der Weltöffentlichkeit verborgen,was in Nigeria geschah, aber nicht nur in Nigeria, son-dern auch in der Region. Denn eines ist sicher: BokoHaram verfolgt nicht nur das Ziel, Nigeria zu destabili-sieren. Diese Gruppe breitet sich bereits in den Nachbar-ländern Nigerias aus und stellt eine immer größere regio-nale und internationale Bedrohung dar.Seit der Entführung dieser mehr als 200 Mädchen imvergangenen Monat steht Boko Haram jetzt jedoch nichtmehr „nur“ die nigerianische Regierung entgegen. In die-sem Zusammenhang begrüßt die SPD-Fraktion die Einbe-rufung eines Krisengipfels durch den französischen Präsi-denten François Hollande am vergangenen Wochenendein Paris. Der dort von Nigeria und seinen vier Nachbarn– Benin, Kamerun, Niger und Tschad – gemeinsam mitFrankreich verabschiedete Aktionsplan dokumentiertden festen Willen, an der Seite Nigerias gegen BokoHaram vorzugehen.Auch wir dürfen unsere Augen nicht mehr vor demmenschenverachtenden Vorgehen von Boko Haram ver-schließen. Unser Platz ist an der Seite derjenigen, diedem terroristischen Wirken von Boko Haram Einhalt ge-bieten wollen. Wir alle verurteilen die Terroranschlägeund die Entführung der nigerianischen Mädchen auf dasSchärfste. Zu groß ist die weltweite Anteilnahme amSchicksal der Mädchen, als dass wir tatenlos bleibenkönnten. Es muss daher alles getan werden, um die Mäd-chen sehr schnell aus den Fängen der Terroristen zu be-freien.
Es muss ferner alles getan werden, um zu einer Lö-sung des Konflikts und seiner Ursachen in Nigeria bei-zutragen. Wir dürfen die Ursachen von Konflikten, dieUrsachen, die dazu führen, dass terroristische Gruppenwie Boko Haram – aber auch andere militante Gruppen –junge Frauen, Männer und Kinder für ihre kranken Akti-vitäten und Ziele rekrutieren können, nie aus den Augenlassen. Vielmehr müssen wir alles dafür tun, um möglicheund tatsächliche Ursachen von Konflikten anzugehen. Ge-rade die Armut im Norden Nigerias zu bekämpfen, einemLand mit einem enormen Wirtschaftspotenzial, und dasGefälle zwischen dem reichen Süden und dem armenNorden abzubauen, würde dazu beitragen, solchen Ter-rorgruppen im übertragenen Sinne das Wasser abzugra-ben. Hier ist die internationale Entwicklungspolitikgefordert, hier ist die deutsche Entwicklungspolitik ge-fordert. Hierfür stehen uns äußerst wirksame Maßnah-men und Instrumente zur Verfügung, um unserem Part-nerland Nigeria bei der Gestaltung einer friedlichen undsozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Ent-wicklung zur Seite zu stehen.Heute – und solange die Mädchen nicht befreit wur-den – geht es aber vorrangig darum, alle Möglichkeitenzu eruieren und zu ergreifen, die nötig sind, um sie si-cher zu ihren Familien zurückzubringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Cem
Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, keiner von uns kann sich das Leid der Mädchenund der Familien vorstellen. Chibok ist eine kleine Stadtim Nordosten von Nigeria. Jeder dort kennt mindestensein Mädchen, das entführt wurde. Als Vater zweier Kin-der – darunter eine Tochter – sage ich aber auch: Dies isteben keine innere Angelegenheit Nigerias. Wir alle sindgefragt, alles dafür zu tun, dass einerseits die Mädchenfreikommen und andererseits der TerrororganisationBoko Haram endlich das Handwerk gelegt wird.
Die Weltgemeinschaft hat reagiert. Die Kampagne„#BringBackOurGirls“ hat weltweit das Mitgefühl zumAusdruck gebracht. Sie war ein Weckruf – übrigens auchfür die Regierung in Nigeria, die ja erst noch verstehen
Metadaten/Kopzeile:
2974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Cem Özdemir
(C)
(B)
musste, dass die Bewohner des Nordens ebenfalls ihreBürger sind. Aber Bilder in sozialen Medien alleine– auch das gehört zur Wahrheit – bringen die Mädchennicht zurück.Boko Haram bedroht Hunderttausende Menschen inNigeria und über die Grenzen des Landes hinaus. Siesind verantwortlich für Vertreibung, für Mord, für Bom-benanschläge, für Menschenhandel und Erpressung. IhreTaten sind perfide, und ihre Ideologie ist – um das sehrklar zu sagen – eine Pervertierung des islamischen Glau-bens.Bekämpfen können und müssen wir diese grausamenMenschenfeinde zusammen – egal ob wir Christen, obwir Juden, ob wir Muslime, ob wir Atheisten sind. Aberdie theologischen Grundlagen für die verbrecherischenTaten können ihnen allein nur die Muslime entziehen.Deshalb muss überall dort, wo Religion für niedere Zwe-cke missbraucht wird, klar und deutlich gesagt werden:„Wer sich Boko Haram oder anderen Terrororganisatio-nen anschließt, der beleidigt den Islam, weil er ein Feindaller Muslime in der Welt ist“ – egal welchen individuel-len Grad an Religiosität man hat.
Ja, es stimmt – alle Vorredner und Vorrednerinnen ha-ben darauf hingewiesen –: Nigeria leidet unter Armut,unter Korruption, einem Ressourcenfluch, wie man fastschon sagen muss, und den schrecklichen Folgen desKlimawandels. Wir wissen: Dort, wo Armut und die Fol-gen des Klimawandels am stärksten zu spüren sind, fin-det die Terrorgruppe Boko Haram ihre Kämpfer. Darummüssen wir alle alles dafür tun, um ihnen diese Grund-lage zu entziehen.Trotzdem sage ich: Es kann und darf keine Rechtferti-gung für Terrorismus geben – zumal gegen die Zivilbe-völkerung und besonders, wie in diesem Fall, gegen Kin-der. Wenn die mehrheitlich muslimischen Länder in derWelt den ihnen zustehenden Platz in der menschlichenZivilisation einnehmen wollen, dann werden sie das nurschaffen, wenn die Ketten der Frauen gesprengt werdenund die Frauen 50 Prozent der Macht in diesen Ländernerhalten. Nur dann werden sie den Platz einnehmen kön-nen, der ihnen auf unserem Planeten zusteht.
Der Islam kann schon gar nicht als Rechtfertigungdienen. Mohammed, der Prophet aller Muslime, hat inzahlreichen Überlieferungen auf das Streben nach Wis-sen hingewiesen:Sucht das Wissen, selbst wenn es in China wäre. …Das Streben nach Wissen ist eine heilige Pflicht fürjeden Muslim, Mann oder Frau.Er hat eben nicht nur „Mann“ gesagt; der Prophet sprachvon „Mann oder Frau“.Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut desMärtyrers. … Wer sein Heim auf der Suche nachWissen verlässt, schreitet auf den Wegen Gottes.Er hat also nicht gesagt: Wer sein Heim verlässt und sichBoko Haram anschließt, ist auf den Wegen Gottes.Lesen, Schreiben und Lernen überhaupt: Das ist dasRecht jedes Kindes. Und es ist die Pflicht aller Elternund von uns Erwachsenen, die Grundlagen dafür zuschaffen. Bildung ist eben nicht haram; Morde, Entfüh-rungen und Terror sind haram, und zwar in jeder Reli-gion und in jeder Weltanschauung.Die Bundesregierung muss sich mit der EuropäischenUnion aktiv für die bedingungslose Freilassung derMädchen einsetzen. Wir alle müssen der BevölkerungNigerias eine Zukunftsperspektive bieten: ohne Terror,ohne Korruption und ohne Armut. Das geht uns alle et-was an. Auch wir alle stehen da in der Verantwortung.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dagmar
Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte erst einmal meinen Dank dafür sagen, dass heutediese Aktuelle Stunde zu diesem Thema möglich ge-macht wurde. Es ist wichtig für uns, wichtig für die in-ternationale Gemeinschaft, wichtig für unser Parlament,zu zeigen, dass wir bei Verletzungen von Menschenrech-ten nicht wegschauen, dass wir nicht wegschauen, wennTerror und Gewalt ganze Regionen, Gebiete und Länderdestabilisieren.234 Mädchen wurden im Norden Nigerias entführt,über 40 Mädchen konnten noch flüchten. Sie haben er-zählt, wie ihre als Soldaten verkleideten Entführer siewie Vieh auf Lastwagen geladen haben. Da haben dieMädchen gemerkt, dass sie nicht in Sicherheit gebracht,sondern entführt werden sollten. Diese 40 Mädchenkonnten fliehen, aber von den übrigen 234 Mädchenfehlt jede Spur.Wir sind über den weltweiten Aufschrei über dieseTat froh. Wir sind entrüstet über die Zurschaustellungdieser Mädchen in der Hidschab, dem islamischen Ge-wand, die erste Sure des Koran lesend. Dabei hat mangemerkt, dass sie dazu gezwungen wurden. Wir sindauch deswegen über den weltweiten Aufschrei froh, weilfür das Massaker vor einigen Wochen, bei dem über60 Schuljungen niedergemetzelt worden sind, kein Mit-glied der internationalen Gemeinschaft überhaupt auchnur ein Schulterzucken übrig hatte.Es ist von den Kolleginnen und Kollegen schon er-wähnt worden: Die Entführung hat im Norden Nigeriasstattgefunden, einer der ärmsten Gegenden der Welt ineinem der reichsten Länder Afrikas. Wie geht das zu-sammen? Auf der einen Seite ist der Norden Nigerias dieärmste Region und hat inzwischen Somalia als gewalttä-tigste Region abgelöst. Auf der anderen Seite gibt es imLand Ölvorkommen, Jachten, Klubs, also Reichtum par
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2975
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
excellence, hohe Einnahmen aus Ölgeschäften, die sichjedoch die Eliten des Landes in die eigene Tasche ste-cken, während sie den Norden des Landes, den anderenTeil der Bevölkerung, vergessen.Durch diese Diskrepanz zwischen dem Zerfall einesStaates und dem vermeintlichen Aufschwung wurde derNährboden für die islamistische Terroristengruppe BokoHaram geschaffen. Unsere Aufgabe und die Aufgabe derinternationalen Gemeinschaft ist es, die entstandeneKluft wieder mit überwinden zu helfen.
Boko Haram wird auch als „Taliban Nigerias“ bezeich-net. Diese Gruppe möchte einen neuen Staat, ein mittel-alterliches islamistisches Kalifat in Nigeria errichten.Leider wird Boko Haram immer mächtiger, weil derNährboden für diese Gruppe nun einmal da ist.Über 2 000 Menschen wurden allein dieses Jahr durchBoko Haram getötet. 250 000 Nigerianer sind im Landauf der Flucht, über 60 000 Menschen haben das Landverlassen. Das Töten und Morden nimmt kein Ende. Erstgestern haben wir gehört, dass 118 Menschen in Josdurch eine Autobombe ums Leben gekommen sind, wie-der überwiegend Frauen.Nigeria ist, wie gesagt, eines der reichsten Länder inAfrika. Wie kann es dazu kommen, dass ein Land mitder mächtigsten Armee in Afrika des Terrorismus nichtHerr wird? Wie kann es dazu kommen, dass die Zentral-regierung jegliche Kontrolle in Abuja verloren hat? Wiekann es dazu kommen, dass es Präsident Jonathan nichtschafft, diesem Terrorismus beizukommen?Wir sind dankbar, dass es durch die Social-Media-Kampagne möglich geworden ist, dass die internationaleGemeinschaft auf dieses Problem aufmerksam gewordenist, dass die Präsidenten Nigerias und seiner Nachbarlän-der in Paris zusammengekommen sind. Es ist das ersteMal, dass der nigerianische Präsident mit dem kameruni-schen Präsidenten zusammengetroffen ist. Aber die Afri-kaner müssen hier zusammenhalten.Wir hoffen, dass der Sicherheitsrat am DonnerstagBoko Haram offiziell als Terrororganisation einstuft undauf die Sanktionsliste gegen das Terrornetzwerk setzt.Wichtig ist aber, dass wir im Rahmen unserer Entwick-lungszusammenarbeit mithelfen, die Perspektivlosigkeitdes Nordens zu beseitigen. Für Bildung und Jobs zu sor-gen, das sind die Aufgaben, die sich stellen. GeradeMädchen und Frauen sind in Afrika diejenigen, mit de-nen wir die Hoffnung auf eine nachhaltige Entwicklungverbinden.Das Verbrechen der Terroristen ist ein doppelter An-schlag: sowohl gegen die Menschenrechte als auch ge-gen die Frauen Afrikas. Das Wichtigste ist, die Kinderzurück zu ihren Familien zu bringen.
Wir sind mit unserem Herzen, aber auch mit unserenHoffnungen bei den Familien, die abends mit dem Ge-danken schlafen gehen: Bitte bringt uns unsere Kinderzurück! – Ich glaube, jeder von uns kann das nachvoll-ziehen.Wir können nur an die Entführer appellieren: GebenSie die Mädchen frei! Aber vor allem müssen wir an dieverantwortlichen Akteure appellieren, wirklich alles zutun, was in unserer Macht steht, damit die Mädchen wie-der in Freiheit kommen. Wir appellieren auch an unsalle: Lassen Sie uns nicht unsere Politik von der Handder Terroristen diktieren! Ich glaube, das ist ganz wich-tig.Wir können nur mit Nachdruck den Appell derSocial-Media-Kampagne wiederholen: Bringt dieseMädchen unversehrt und unbeschadet zu den Familienzurück! Bring back our girls!
Liebe Kollegen, ich appelliere auch an Sie: Bitte machenSie mit! Lassen Sie Ihre Website mit der Kampagne ver-linken. Ich glaube, es hilft, auch wenn es nur wenig ist.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich Kollegen Frank
Schwabe, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Damen und Herren! Es ist zwar schon oft ge-sagt worden; aber ich will es dennoch wiederholen: Un-ser ganzes Beileid gehört den Angehörigen der Opfer derterroristischen Anschläge von gestern und der letztenMonate und Jahre. Betroffen sind im Übrigen Angehö-rige vieler Religionsgruppen, Muslime und Christen.Unser Mitgefühl gilt auch den Angehörigen und Freun-den der entführten Mädchen. Die sogenannte Terror-gruppe Boko Haram hat nicht nur die Mädchen, sondernim Prinzip ein ganzes Land in Geiselhaft genommen.Alle Anstrengungen der nigerianischen Regierungebenso wie die internationale Unterstützung durch dieafrikanischen Staaten – ich finde, auch das muss manimmer wieder betonen –, aber auch durch die USA,Frankreich und andere sind richtig und begrüßenswert.Die Debatte heute ist richtig und muss sein. Ihr wohntzwar wieder ein Fehler inne, den man aber machenmuss, wenn solche aktuellen Ereignisse auftreten. Dennwir haben uns eigentlich vorgenommen, Afrika nicht nurals Krisenkontinent wahrzunehmen; wir wollen auchüber Potenziale und Erfolge reden. Gerade die afrika-politischen Leitlinien, die heute durch das Bundeskabi-nett verabschiedet worden sind, bieten dafür einen
Metadaten/Kopzeile:
2976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Frank Schwabe
(C)
(B)
ausgewogenen Ansatz, würdigen die eigenen Anstren-gungen Afrikas im Rahmen eigener Konfliktlösungsstra-tegien und betonen die Notwendigkeit einer sozialgerechten Entwicklung und die Einhaltung von Men-schenrechten und Rechtsstaatlichkeit als Grundlagen je-der Entwicklung.Nigeria selbst ist das ökonomisch stärkste Land Afri-kas, ein Land mit einem enormen Bevölkerungswachs-tum, enormen Rohstoffreserven und stark zunehmenderBedeutung weltweit. Es ist das zentrale Land auf demafrikanischen Kontinent. Nigeria ist aber auch geschüt-telt von Militärdiktaturen, ein Land mit äußerst großenHerausforderungen durch die Vielfalt der Bevölkerung– es gibt allein mehr als 500 Sprachen – und geprägtdurch Rohstoffkonflikte, die schon angesprochen wor-den sind.Genau das ist sicherlich der Hintergrund oder zumin-dest die Hintergrundmelodie des Konfliktes rund umBoko Haram. Es sind Vertreter der katholischen Kircheund muslimische Führer – Kollegin Bulmahn hat ein-gangs darauf hingewiesen –, die betonen, dass es imKern eben nicht um einen Religionskonflikt geht, wasschon dadurch deutlich wird, dass es mindestens ge-nauso viele muslimische wie christliche Opfer gibt. Esgibt aber die Gefahr, dass aus diesem Konflikt ein Reli-gionskonflikt wird. Deshalb – das will ich zweimal un-terstreichen – sollten die internationale Gemeinschaftund insbesondere wir es unterlassen, diesen Konfliktentsprechend darzustellen. Ich finde, wir sollten uns daan die christlichen und muslimischen Führer halten undes entsprechend darstellen.
Auf die Bildung ist schon umfassend eingegangenworden. Deswegen kann ich nur betonen: Die Bildungist eine zentrale Frage auch für die Entwicklungszusam-menarbeit. Leider haben heutzutage in Nigeria nicht alleMädchen eine Schulausbildung. Es darf aber in der Tatniemandem zum Verhängnis werden, dass er sein An-recht auf Bildung wahrnimmt. Wie bereits gesagt, sindinsbesondere Schulen Angriffen von Terrorgruppen aus-gesetzt. Nigeria ist dabei leider kein Einzelfall. In min-destens 30 Ländern weltweit werden Schulen zum be-wussten Ziel von Terroristen und bewaffneten Gruppen.Bildung ist eine Bedrohung für ihre Absichten. Deshalbmuss es ein zentrales, internationales Anliegen sein, dassSchulen einen besonderen Schutz bekommen und dassdas von allen Ländern, im Übrigen auch von Deutsch-land, respektiert und international vereinbart wird.
Viele Konflikte in Nigeria basieren auf der Ausbeu-tung von Rohstoffen, wie das Schicksal von Ken Saro-Wiwa zeigt, das wir sicherlich alle noch in Erinnerunghaben. Deswegen sind Fortschritte bei der Verabredunginternationaler, sozialer, kultureller und ökonomischerStandards von zentraler Bedeutung. Das ist die zentraleAufgabe, die wir hier im Deutschen Bundestag haben.
Der Kampf gegen Terrorismus muss auch immer einKampf um den Erhalt von Menschenrechten und Rechts-staatlichkeit sein. Daher ist es von zentraler Bedeutung,dass Regierungen, die gegen Terrorismus kämpfen, nichtselbst gegen die Prinzipien von Menschenrechten undRechtsstaatlichkeit verstoßen, die sie eigentlich auf-rechterhalten wollen.
Deswegen muss es uns Sorge bereiten, dass die Regie-rung in Nigeria oft gegen Menschenrechte verstößt, auchim Kampf gegen Boko Haram. Am Ende wird Terroris-mus mit den stärksten polizeilichen und militärischenMitteln nicht besiegt werden können, wenn ihm nichtder gesellschaftliche Boden entzogen wird. Doch der ge-sellschaftliche und ökonomische Fortschritt kommt lei-der – das wurde hier bereits mehrfach betont – bei vielenMenschen im Land nicht an. Korruption ist ein riesen-großes Problem. Präsident Jonathan Goodluck hat dazurichtigerweise gesagt: „Ich kann nicht feiern, solangenicht alle Nigerianer die positiven Auswirkungen unse-res Wachstums spüren.“ Der im März 2014 vorgestellteNigeria’s Soft Approach to Counter Terrorism, der aufdie sozioökonomischen Ursachen des Konflikts mitBoko Haram abzielt, ist dazu ein richtiger Ansatz. Aberwir müssen die Regierung auch auffordern, ihn Realitätwerden zu lassen.
Nigeria muss also Fortschritte beim Einsatz für diesoziale Teilhabe und bei der Durchsetzung menschen-rechtlicher Standards machen. Dazu gehört auch dieAbschaffung der Todesstrafe. Der Kampf gegen den Ter-rorismus muss rechtsstaatlichen Prinzipien gerecht wer-den. Wenn die Regierung Nigerias diesen Weg geht,dann hat sie unsere volle Unterstützung verdient.Ich will betonen: Wir alle hoffen, dass die entführtenMädchen schnellstmöglich freikommen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Charles M.
Huber, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Das Thema Boko Haram hat natürlich auf-grund der Schrecklichkeit des Sachverhalts und der Vor-gänge Einfluss auf das Gesamtbild von Afrika. Ich nutzedie Gelegenheit hier, Afrika auch in anderer Form darzu-stellen, und zwar in Bezug auf das Land, aus dem ichstamme bzw. mein Vater stammt. Mein Vater stammt ausdem Senegal und war als Diplomat für dieses Land tätig.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2977
Charles M. Huber
(C)
(B)
Der Senegal ist zu 94 Prozent von Moslems und zu6 Prozent von Christen bewohnt. Mein Vater war alsoDiplomat in einer islamischen Gesellschaft. Sein Onkelwar Staatspräsident Senghor, ein katholisches Staats-oberhaupt bei 94 Prozent Moslems. Wenn ich meine Ver-wandten im Senegal besuche, dann sehe ich, dass zuWeihnachten ein Christbaum aufgestellt wird. Wenn ichden Senegal in Zeiten des Ramadan besuche, dann seheich, dass die Christen zusammen mit den Moslems dasEnde des Fastenmonats feiern.Der Name „Boko Haram“ klingt in unseren europäi-schen Ohren zunächst einmal relativ harmlos. Es gabähnliche Gruppierungen in anderen Bürgerkriegen, zumBeispiel in Sierra Leone die West Side Boys. Auch die-ser Name klingt harmlos. Tatsache ist, dass es sich beidiesen Gruppierungen überwiegend um Jugendlichehandelt, die für eine Mission wie diese rekrutiert werden.Zu Deutsch heißt Boko Haram in etwa: westliche Bil-dung verboten. – Tatsache ist auch, dass es sich um eineTerrorvereinigung handelt. Die Ereignisse der letztenWochen haben gezeigt, wie gefährlich diese Vereinigungist.Seit 2010 gehen 200 Anschläge auf das Konto vonBoko Haram. Nach Erhebungen von Amnesty Interna-tional gab es seit Anfang 2014 bereits 1 500 Tote. Am14. April, dem Tag, an dem die jungen Mädchen entführtwurden, gab es am Rande von Abuja einen Anschlag aufeinen Busbahnhof mit 71 Toten und 200 Verletzten. DieBevölkerung redet von 200 Toten und noch mehr Ver-letzten. Der überwiegende Teil – das wurde hier schonhäufiger angesprochen – waren absurderweise Moslems.Den Gott, der dies angeordnet hat, gibt es meines Erach-tens nicht. Die Zeiten, in denen hier unter religiösemVorwand Christen Christen gemeuchelt haben, hießenMittelalter. Das haben wir längst hinter uns gelassen. Ichkann Ihnen sagen: Afrika will da nicht hin.Was die Ursachenanalyse betrifft, so gibt es interneund externe Faktoren. Es wurden zahlreiche interne Fak-toren angesprochen, zum Beispiel Korruption, Misswirt-schaft und schlechte Regierungsführung. Zu den exter-nen Faktoren gehört, dass Boko Haram einem Netzwerkangehört, welches mit al-Qaida und al-Schabab in Ver-bindung steht und welches sich unter dem Vorwand derreligiösen Läuterung die Destabilisierung eines Konti-nents und die Verhinderung seiner wirtschaftlichen Ent-wicklung zum Ziel gesetzt hat.Ich möchte hier kurz auf eine Bemerkung meines Vor-redners von den Grünen, Herrn Kekeritz, eingehen. HerrKekeritz, Sie haben von Waffenlieferungen gesprochen.Wir wissen – das zeigt das Beispiel Ruanda –, dass in ei-nem Land, in dem sich ein Bürgerkrieg oder Krisen an-bahnen, auch ohne Waffenlieferungen Menschen höchsteffizient anderen Leid zufügen können. In Ruanda gabes 300 000 oder noch mehr Tote; ich habe die genaueZahl nicht im Kopf. Damals gab es keine Waffenliefe-rungen, sondern die Menschen haben Macheten benutzt.Zum anderen: Boko Haram ist, wie bereits angespro-chen, Teil eines Netzwerks. Es steht in Verbindung mital-Qaida. Es gibt einen Gürtel, der sich entlang derSahelzone zieht. Er reicht hinunter bis nach Guinea. InGuinea gibt es einen Austausch von Kokain gegen Waf-fen mit südamerikanischen Gruppen. Dieser Austauschhat nichts mit Waffenexporten aus Deutschland zu tun.Das möchte ich hier klarstellen.Afrika ist dennoch ein Chancenkontinent, und Nigeriaist, wie viele andere Länder Afrikas, ein tolerantes Land.Ich habe in vielen Gesprächen mit Botschaftern ausAfrika diese Angst gespürt. Sie sagten: Wir bekommendas Phänomen des Terrorismus alleine nicht in den Griff. –Das bezieht sich nicht allein auf Nigeria; vielmehr ist dasPhänomen des Terrorismus ein weitgehend unterschätz-tes Problem in Afrika.Da ich sehe, dass ich meine Redezeit schon über-schritten habe, möchte ich zum Ende kommen. AfrikasBevölkerung braucht Vertrauen, vor allen Dingen Ver-trauen in den Staat. Dazu möchte ich sagen: Wir lebenmit dem Staat, und für uns ist der Staat selbstverständ-lich. Wir haben eine Rentenversicherung, wir haben eineKrankenversicherung, wir haben Arbeitslosengeld I undArbeitslosengeld II. Jemand, der das für sich in An-spruch nehmen kann, glaubt an den Staat. Wir müssenhelfen, in Afrika Strukturen aufzubauen, damit die Men-schen an den Staat glauben und solche Phänomene keineChance mehr in der Zukunft haben.Vielen Dank, und entschuldigen Sie, dass ich die Re-dezeit überschritten habe.
Als letztem Redner erteile ich in dieser Debatte dem
Kollegen Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Mehr als 200 Mädchen in Nigeria sindseit Mitte April entführt. Die Aktion „#BringBackOur-Girls“, gerade von meiner Kollegin in diesem Saal an-gesprochen, steht für weltweite Solidarität. Auch derAusschuss, dem ich angehöre, der Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, AwZ, hatdiese Tat einhellig verurteilt. Diese Haltung kommt auchin den Kommentaren der verschiedenen Sprecher heuteNachmittag hier zum Ausdruck. Das ist gut so. Ich binals Menschenrechtler natürlich damit einverstanden,dass wir emotional auf diese Entführung reagieren, dassunser Herz reagiert. Aber es braucht auch unseren Kopfund unsere Hände, die dem folgen müssen; sonst bleibtes am Schluss bei heißer Luft.Das Herz als Erstes. In dem Statement, internationalüber Facebook verbreitet, heißt es: „our Girls“ – unsereMädchen. Das geht uns, wie mein Kollege Özdemir vor-hin gesagt hat, sehr wohl etwas an; schließlich geht esum Menschenrechte, um Sicherheitspolitik, um die welt-weite Fragilität in solchen Umfeldern. Vieles dieser Artexistiert nicht nur latent, sondern ist uns präsent vor Au-gen. Wir sehen es in der Ukraine, in Zentralafrika und in
Metadaten/Kopzeile:
2978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014
Frank Heinrich
(C)
(B)
Syrien. Man könnte noch einige weitere Länder aufzäh-len. Immer wieder ist in solchen Konflikten die Religionein zentraler Faktor. Egal um welche Religion es geht:Eigentlich sollte es um die Herzensbildung, um Aufklä-rung, um interreligiösen Dialog gehen, der in Nigeria anvielen Stellen beispielhaft praktiziert wird. Dem stehenFanatismus und Instrumentalisierung der Religion entge-gen. Das haben Sie, Frau Bulmahn, sehr deutlich ge-macht.Wenn für den Umgang mit Menschenrechten aller-dings nur das Herz zählt, dann kommt es sehr oft zu ei-ner Betroffenheit, die lähmt. Aber wer sich gar nicht erstberühren lässt, wird auch nicht aktiv. Um etwas zu bewe-gen, darf es nicht beim heißen Herzen bleiben; vielmehrbraucht man dazu sehr wohl einen kühlen Kopf. So lässtsich überhaupt auf die Straße und ins Dasein bringen,was es wirklich braucht.Wir dürfen uns auch nicht von der Entwicklung in Ni-geria ablenken lassen – Boko Haram wünscht das wahr-scheinlich –; denn die ist sehr positiv. Wir haben gehört,dass Nigeria ein Vielvölkerstaat, ein toleranter Staat ist.Boko Haram könnte damit Erfolg haben, dass wir ein-fach ins gleiche Horn blasen. Die Islamisten richten ihreBotschaft auch gegen den Westen, auch gegen uns. Vonunserer Reaktion darauf hängt ab, ob sie mehr oder we-niger Erfolg haben.Was die Ablenkung von politischen Aktionen angeht:Es gab kurz nach der Entführung in Nigeria eine Konfe-renz. Darüber ist kaum etwas berichtet worden; denn dieBerichterstattung in den Medien war drei Tage lang vonden Meldungen über die Entführung dieser Mädchen be-herrscht. Als erster Schritt ist das gut. Für einen zweitenSchritt braucht es allerdings mehr.Wir müssen in Erinnerung behalten: Es gibt sehr posi-tive Schritte in der Entwicklung von Nigeria. Nigeria istführend in der ECOWAS; es spielt dort eine tragendepolitische Rolle. Außerdem gibt es viele bilaterale Ver-träge mit diesem Staat. Fortschritte gibt es auch im Be-reich der MDGs. Ich verweise auf die Halbierung derKinder- und Müttersterblichkeit, sehr wohl wissend,dass der Süden und der Norden des Landes hierbei mög-licherweise gravierende Unterschiede aufweisen. Dieabsolute Armut in Nigeria ist von 68 Prozent auf 34 Pro-zent reduziert worden. Auch diese Reduzierung ist, be-zogen auf das ganze Land, ungleich verteilt.Für uns als Menschenrechtler ist es bedeutsam, dasses dort eine demokratisch legitimierte Regierung gibt.Da gibt es eine gewisse Übereinstimmung, eine ArtCode of Conduct. Menschenrechtsverletzungen werdengerichtlich verfolgt. Dies gilt, auch wenn – da haben Sierecht, Herr Kollege – Amnesty International immerwieder von Folterungen und Tötungen berichtet. Diemüssen wir weiter anmahnen, auch wenn sie unrechtmä-ßig an Mitgliedern von Boko Haram vorgenommen wer-den.Insofern müssen wir all die Fragen stellen – ich werdesie nicht wiederholen –, die heute in diesem Saal aufge-worfen wurden. Ziel ist, die tiefer liegenden Konfliktur-sachen zu bekämpfen. Darauf geht die heute Morgen imAusschuss verabschiedete Erklärung ein. Positiv kannbei all dem sein, dass durch die Afrika-Strategie derBundesregierung Dinge auf den Weg gebracht werden,die die Ursachen dieser Konflikte mit bekämpfen.Für den zweiten Schritt ist also wichtig, nach demHerzen den Kopf zu gebrauchen. Bei der Vorbereitungdieser Rede fielen mir heute Morgen Zeilen eines Liedesvon Manfred Siebald ein, die meine Kindheit mit ge-prägt haben. Darin heißt es: „Ist schon alles gesagt? Sindwir wirklich schon dort, wo das Reden aufhört und dieTat folgt dem Wort?“ – Ja, dann braucht es unsereHände.Konkrete Maßnahmen – auch die will ich nicht allewiederholen –: Es braucht zielgesteuerte Entwicklungs-hilfe hin zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Nigeriaist Kooperationsland. Wir fordern, auch als AwZ, alsAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Die in-ternationale Gemeinschaft muss investieren, hauptsäch-lich in Bildung und in Arbeitsplätze. Zivile Mittel, wieKollegin Weiss es vorhin erwähnt hat, müssen ins Landfließen, auch zur Bekämpfung von Energiearmut. An dieRegierung Nigerias appellieren wir, die Zivilgesellschafteinzubeziehen und zu stärken. Es braucht eine Stärkungder NGOs im Land, auch was Menschenrechte angeht,sowie eine breitere Beteiligung an der wirtschaftlichenEntwicklung, zum Beispiel beim Öl.Im konkreten Fall der entführten Mädchen geht es, inAbstimmung mit den USA und anderen Partnern, umHilfe bei der Suche nach den Mädchen sowie möglicher-weise langfristig um gezielte Ausbildung und Begleitungbei Ermittlungen und Terrorbekämpfung. Da können wiruns beteiligen. Ein wichtiger Schritt war letzte Wocheder Gipfel zu Boko Haram in Paris. Zudem müssen dieNachbarländer, vor allem Kamerun, im Kampf gegenBoko Haram unterstützt werden. Sie bilden einen Rück-zugsraum für deren Leute.Ich fasse zusammen: Zum Ersten müssen wir tun, waswir hier heute gesagt haben. Zum Zweiten müssen wirweiterhin den Grundwasserspiegel – ich sage das imübertragenen Sinne – von Wohlstand, von Menschen-rechtsbedingungen zu heben helfen, sowohl im NordenNigerias als auch in der Region allgemein. Zum Dritten:Bring back our girls! Wir verurteilen die Entführungaufs Allerschärfste und fordern von Boko Haram die so-fortige Freilassung der Mädchen. Set them free!Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das war der letzte Beitrag in einer, wie ich denke,sehr ernsten und sehr wichtigen Debatte. Alle Fraktionenhaben gezeigt, dass der Deutsche Bundestag sich alsStimme der Menschenrechte in der Welt versteht. Wirsind zwar am Schluss der Tagesordnung, aber bei diesemThema sicherlich nicht am Ende. Wir werden es auf-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. Mai 2014 2979
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
merksam und mit öffentlicher Wirksamkeit weiter be-gleiten.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Donnerstag, den 22. Mai 2014,9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.