Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebeKolleginnen und Kollegen.Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie da-rüber informieren, dass nach einer interfraktionellen Ver-einbarung die Unterrichtung der Bundesregierung zumEntwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeit-nehmer-Entsendegesetzes auf Drucksache 18/1283 fe-derführend dem Ausschuss für Arbeit und Soziales so-wie zur Mitberatung dem Ausschuss für Recht undVerbraucherschutz und dem Ausschuss für Ernährungund Landwirtschaft überwiesen werden soll. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zurReform der Besonderen Ausgleichsregelung fürstromkosten- und handelsintensive Unternehmen.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hatder Bundesminister für Wirtschaft und Energie, HerrSigmar Gabriel. – Bitte, Herr Minister.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Sie wissen, dass es im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes schon immer eine besondere Aus-gleichsregelung gab. Diese regelte, dass für Unterneh-men, die besonders energieintensiv sind, die EEG-Um-lage bis auf einen Mindestbeitrag begrenzt werdensollte. Der Grund dafür ist klar: Wir in Deutschland sindunter anderem deswegen besser durch die Krise gekom-men als viele andere Länder auf der Welt, weil wir einenstarken industriellen Sektor und einen starken Sektor desverarbeitenden Gewerbes mit einem relativ hohen Anteilan energieintensiven Unternehmen haben. Solange an-dere Länder keine ähnliche Klima- und Energiepolitikwie Deutschland betreiben, ist es nötig, unsere Unter-nehmen im internationalen Wettbewerb zu schützen.Zum Vergleich: Bereits heute haben die VereinigtenStaaten nur halb so hohe Strompreise wie Europa, undinnerhalb Europas liegt Deutschland mit an der Spitze.Der Grund dafür ist nicht allein die Produktion von un-konventionellem Gas in den Vereinigten Staaten, son-dern auch das Fehlen vieler der Auflagen und Steuern,die man in Europa kennt, und vor allen Dingen das Feh-len von Zusatzbelastungen, wie sie auch durch die Ener-giewende und durch den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien zustande gekommen sind.In den letzten Jahren wurde immer wieder debattiert,wie sich die Ausnahmeregelung bezüglich der EEG-Um-lage für die deutsche Industrie weiterentwickeln soll. Imvergangenen Jahr, am 18. Dezember 2013, leitete dieEuropäische Kommission ein Verfahren gegen das EEG2012 ein, da sie die Ausnahmeregelungen für 2013 und2014 für nicht vereinbar mit dem Beihilferecht der Euro-päischen Union hält. Wir als Bundesregierung warenaufgrund dieses Klageverfahrens am Anfang dieser Le-gislaturperiode gezwungen, im Rahmen der Neugestal-tung des EEG mit der Europäischen Kommission überdie Frage zu reden, wie denn ein beihilfefähiges, ein no-tifizierungsfähiges EEG aussehen kann und wie die Aus-nahmeregelung für die deutsche Industrie, die besondersenergieintensiv ist und im internationalen Wettbewerbsteht, in Zukunft ausgestaltet werden muss.Wir haben lange verhandelt und sind, wie ich finde,zu einer ausgesprochen guten Lösung gekommen. DieEU-Kommission hat allerdings Wert darauf gelegt, dassdie Lösung, die sie in den neuen Beihilfeleitlinien fürUmwelt und Energie vorschlägt, für ganz Europa giltund nicht nur für Deutschland. Für uns war dies keineganz einfache Herausforderung; denn aufgrund der Zu-satzkosten Deutschlands von mehr als 20 MilliardenEuro durch die erneuerbaren Energien, die in keinem an-deren europäischen Land zu finden sind, hätten mancheRegelungen, die für andere Länder in Europa ohne Wei-teres vertretbar sind, in Deutschland zu großen Schwie-rigkeiten geführt. Zu Beginn der Verhandlungen habenwir noch versucht, Einzelfalllösungen zu ermöglichen;aber das war außerordentlich schwer, denn die EU-Kom-mission wollte Regelungen für ganz Europa schaffen.
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2634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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Sie finden in Europa kaum ein Land, das eine so diffe-renzierte und unterschiedliche Wirtschaftsstruktur hatwie die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen habenwir uns am Ende darauf verständigt, dass für die beson-ders stromintensiven Unternehmen eine Obergrenze derBelastung eingeführt wird. Diese liegt bei 0,5 Prozentder Bruttowertschöpfung der jeweiligen Unternehmen.Die Zahlungen der EEG-Umlage sollen diesen Wertnicht übersteigen. Darüber hinaus haben wir für nichtganz so stromintensive Unternehmen eine Obergrenzevon 4 Prozent vorgesehen. Jedes Unternehmen muss imPrinzip eine EEG-Umlage in Höhe von 15 Prozent be-zahlen, es sei denn, diese 15 Prozent übersteigen die4 Prozent bzw. 0,5 Prozent der Bruttowertschöpfung.Die Kommission hat eine Liste von 68 Branchen vor-gelegt. Wer in einer dieser Branchen ist und bestimmteParameter erfüllt, hat die Chance, von dieser BesonderenAusgleichsregelung Gebrauch zu machen.Nun haben wir in Deutschland eine Reihe von Unter-nehmen, die nicht einer dieser Branchen angehören, dieaber die gleiche Stromintensität auf Unternehmensebenehaben. Deswegen gibt es neben der eben genanntenBranchenliste auch eine weitere Liste handelsintensiverBranchen. Unternehmen in Deutschland, die mehr als20 Prozent Stromintensität auf Unternehmensebene ha-ben, können ebenfalls von der Möglichkeit der Besonde-ren Ausgleichsregelung Gebrauch machen.Damit haben wir ganz wesentlich dazu beigetragen,die deutsche Wirtschaft vor Wettbewerbsschwierigkeitenzu bewahren. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen,die aus der Besonderen Ausgleichsregelung komplett he-rausgefallen wären. Das hätte zu großen Verwerfungengeführt. Deswegen haben wir uns mit der Kommissionauf die Regelung verständigt, dass die Unternehmen, diebisher die Chance hatten, die Besondere Ausgleichrege-lung zu nutzen, und sie in Zukunft nicht mehr haben,dennoch von 80 Prozent der EEG-Umlage befreit blei-ben. Wir haben keine andere Lösung gefunden als diesegenerelle Lösung, dass 20 Prozent der EEG-Umlage be-zahlt werden müssen. Denn der Versuch, Einzelfallrege-lungen zu schaffen, hätte zu massiven Verwerfungen ge-führt, sodass das Ganze am Ende nicht zielführendgewesen wäre.Bevor die Befragung beginnt, möchte ich einige Bei-spiele nennen, damit klar wird, dass es hier nicht umblinden Industrielobbyismus geht, wie es gelegentlichöffentlich dargestellt wurde.Ein mittelständisches Unternehmen der Zementindus-trie mit einigen Tausend Beschäftigten hatte bisher EEG-Kosten in Höhe von 1,7 Millionen Euro. Ohne die Rege-lung, die wir in der EU geschaffen haben, hätte es jetztKosten in Höhe von 6 Millionen Euro. Bei der Neurege-lung, die wir geschaffen haben, steigt die Belastung im-mer noch von 1,7 Millionen Euro auf 2 Millionen Euro;aber eine Mehrbelastung von 300 000 Euro ist eher zuverkraften als eine Vervierfachung der bisherigen Kos-ten.Ein Chemiefaserunternehmen hat bisher 300 000 Eurogezahlt. Es muss in Zukunft 350 000 Euro zahlen. Hät-ten wir die Besondere Ausgleichsregelung nach demVorschlag der Kommission nicht geschaffen, hätte es1,2 Millionen Euro zahlen müssen. Es ist ohnehinschwer, solche Unternehmen in Deutschland zu halten.Hier besteht die Gefahr, dass das Unternehmen nicht inDeutschland bleibt.Ich möchte ein Unternehmen konkret nennen – esstand in der Zeitung, deswegen ist es kein Geheimnis –:Ich war in einem kleinen Unternehmen, einer Eisengie-ßerei mit 450 Beschäftigten in Torgelow. Dieses Unter-nehmen hätte, wenn wir nicht das geschafft hätten, waswir geschafft haben, zum 1. Januar 2015 garantiert In-solvenz anmelden können. Über solche Unternehmen re-den wir.Eine Papierfabrik mit 250 Mitarbeitern zahlte bisher65 000 Euro an EEG-Umlage. Zu Beginn der Verhand-lungen hätte die Kommission diesen Betrag auf400 000 Euro steigen lassen. Ein Unternehmen der Ver-packungsindustrie zahlte bisher 135 000 Euro. Ohne das,was wir erreicht haben, hätte es in Zukunft 1,5 MillionenEuro zahlen müssen. Ein Chemieunternehmen zahltebisher 735 000 Euro und sollte nach Auffassung derKommission in Zukunft 15 Millionen Euro zahlen.All diese Unternehmen wären in massive Schwierig-keiten gekommen. Insofern glaube ich, dass wir einenklugen Vorschlag gemacht haben. Ich bin sehr zufriedendamit, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf dereinen Seite neu gestalten konnten und notifizierungsfä-hig gemacht haben und auf der anderen Seite dafür ge-sorgt haben, dass die Industrie in Deutschland nicht ver-loren geht.Es ist in der Öffentlichkeit behauptet worden, dassjetzt auch Unternehmen der Pelzverarbeitungsindustrieund Urananreicherungsanlagen von der Regelung profi-tieren würden. Ich will deutlich sagen, dass das falschist. Die Tatsache allein, dass ein solches Unternehmeneiner bestimmten Branche angehört, heißt noch garnichts; diese Betriebe müssten auch einen Anteil derStromkosten an der Bruttowertschöpfung aufweisen, jenach Liste von 16 bzw. 17 oder von 20 Prozent. Das hat-ten diese Unternehmen weder in der Vergangenheit,noch wird es in der Zukunft der Fall sein. Insofern kannich nur darum bitten, dass gerade gut informierte Mit-glieder des Deutschen Bundestages bei uns nachfragen,bevor sie solche Tatarenmeldungen in die Welt setzen.Denn sonst entsteht an dieser Stelle ein völlig falscherEindruck. Solche Unternehmen werden durch das, waswir machen, nicht bevorzugt. Es ist relativ einfach, unszu fragen. Dann geben wir gerne Auskunft, in welchenBranchen und bei welchen Unternehmen die Regelungtatsächlich zu einer Befreiung führt. So können wir ver-hindern, dass im Zusammenhang mit der Befreiung vonder EEG-Umlage ein falscher Eindruck entsteht. Es gehtnicht um irgendwelche Unternehmen, sondern um dieUnternehmen, die bestimmte Parameter aufweisen; dazuzählen die Stromkostenintensität und die Handelsintensi-tät der Branche.Ich will darauf hinweisen, dass wir bei der Berech-nungsmethode der Bruttowertschöpfung einen Fort-schritt erreicht haben. Es ist uns jetzt gestattet – das war
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früher nicht so –, zum Beispiel auch Leiharbeitnehmerund Werkvertragsarbeitnehmer bei der Berechnung derBruttowertschöpfung des Unternehmens zu berücksich-tigen, damit nicht das passiert, was in der Vergangenheitmöglich war: Unternehmen konnten Beschäftigte ein-fach über Werkverträge oder Leiharbeitnehmerschaftausgliedern und kamen dadurch auf einmal auf eine hö-here Stromkostenintensität; denn ihre Bruttowertschöp-fung ist dadurch künstlich geschrumpft. Das wird in Zu-kunft nicht mehr möglich sein; wir werden dafür Sorgetragen – Hinweis auf das Thema Schlachtindustrie –,dass das bei der Bruttowertschöpfungsrechnung künftigberücksichtigt wird.Wir haben heute im Kabinett eine Entscheidung ge-troffen, die sicherstellen soll, dass wir nicht über das hi-nausgehen, was wir uns zum Ziel gesetzt haben. Wir hat-ten die Zielsetzung, dass wir den Schutz für dieenergieintensive Industrie, den wir in der Vergangenheitgewährleistet haben, auch in Zukunft gewährleisten. Wirhatten es uns aber nicht zum Ziel gesetzt, dass die deut-sche Wirtschaft insgesamt mehr als in der Vergangenheitvon der EEG-Umlage entlastet wird. Deswegen habenwir in den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Be-sonderen Ausgleichsregelung, der Ihnen zugeleitet wird,drei Regeln aufgenommen:Erstens. Für die erste Gigawattstunde müssen auchdie begünstigten Unternehmen die volle EEG-Umlagezahlen. Das ist ein überschaubarer Betrag, den jedes Un-ternehmen verkraften wird.Zweitens. Wir werden das umsetzen, was in der letz-ten Legislaturperiode von der Vorgängerregierung imZusammenhang mit der sogenannten Strompreisbremseschon vorgeschlagen wurde, nämlich den Mindestbeitragbei der EEG-Umlage für energieintensive Unternehmenvon 0,05 Cent pro Kilowattstunde auf 0,1 Cent pro Kilo-wattstunde anzuheben.Drittens. Wir werden den Versuch unternehmen,durch eine leichte Anhebung des Mindestwertes bei derStromkostenintensität von 14 auf 16 bzw. 17 Prozent zuverhindern, dass in den nächsten Jahren eine Vielzahlvon Unternehmen nur deshalb in die Besondere Aus-gleichsregelung hineinwächst, weil es innerhalb vonzwei Jahren sehr hohe Steigerungen bei der EEG-Um-lage gab, nämlich von etwas mehr als 3 Cent pro Kilo-wattstunde auf 5,2 Cent und dann auf 6,24 Cent. Da dieEEG-Umlage bei der Berechnung der Stromintensitättheoretisch immer als Teil der vollen Stromkosten be-handelt wird, würden so automatisch Unternehmen indie Regelung hineinwachsen, von denen wir glauben,dass sie in der Vergangenheit mit guten Gründen nichtdavon profitieren konnten und es deshalb auch in Zu-kunft nicht tun sollten.Das ist der Vorschlag, der Ihnen zur Beratung zugelei-tet wird. Wir werden in den Gesetzgebungsberatungendes Deutschen Bundestages in den nächsten Wochen si-cherlich über diese Fragen zu diskutieren haben. Selbst-verständlich sind wir gerne bereit – das müssen wir auchim gemeinsamen Interesse tun –, Hinweise dazu entge-genzunehmen, wo wir möglicherweise etwas nachschär-fen müssen oder Dinge etwas modifizieren müssen, undIhnen zur Beratung dieses Gesetzentwurfs gerne und zujeder Zeit zur Verfügung zu stehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vorsorglich mache ich darauf aufmerksam, dass im
weiteren Verlauf der Regierungsbefragung sowohl für
das Stellen der Frage als auch für die Antwort, Herr
Minister, jeweils eine Minute zur Verfügung steht. Wir
unterstützen Sie dabei, nicht nur durch die Uhren, die
überall zu sehen sind, sondern auch durch optische Farb-
signale. Wenn das Signal rot aufleuchtet, ist die Minute
ausgeschöpft. Ich bitte darum, dass alle Beteiligten die
selbst gegebenen Regeln beachten.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Bereich zu stellen,
über den soeben berichtet wurde. – Das Wort hat der
Kollege Oliver Krischer.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – HerzlichenDank für Ihren Vortrag, Herr Bundesminister. Ich freuemich, dass Sie Branchen wie Chemie, Metall, Erzeugungaufgezählt haben – das hören wir immer wieder; darübergibt es auch weitgehend Konsens –, für die selbstver-ständlich Ausnahmeregelungen erforderlich sind. Ich er-kenne da gar keinen Dissens. Es geht mir eher um dieBereiche, die etwas zwiespältig sind.Wenn ich mir Ihren Entwurf anschaue, dann sehe ichzwei Listen, auf denen Branchen aufgeführt werden:68 Branchen auf der EU-Liste und eine weitere Liste mit151 Branchen. Es gibt insgesamt also 219 Branchen, diedie Besondere Ausgleichregelung in Anspruch nehmenkönnen. Angesichts dieser großen Zahl wäre es einfa-cher gewesen, die Branchen aufzuzählen, die von dieserRegelung ausgenommen sind.Wenn ich mir Ihre Liste genauer angucke, dann stelleich fest, dass Hersteller von Fantasieschmuck, vonFruchtsaft, von Pelzwaren – Sie haben eben gesagt, daswäre nicht so; sie stehen aber auf Ihrer Liste –, von Waf-fen und Munition sowie von militärischen Kampffahr-zeugen auftauchen. Ich bitte Sie, mir zu erläutern, inwie-weit diese Branchen nach Ihrer Auffassung energie- undhandelsintensiv sind und welche Notwendigkeit ausSicht der Bundesregierung besteht, die Besondere Aus-gleichsregelung auf sie anzuwenden.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Sehr geehrter Herr Abgeordneter, zunächst ist festzu-halten, dass es nur eine Branchenliste gibt, wo grund-sätzlich die ganze Branche eine Befreiung in Anspruchnehmen könnte, und zwar die der Europäischen Union,die 68 Branchen umfasst.Darüber hinaus gibt es Unternehmen, die bestimmtenBranchen zuzuordnen sind. Das bedeutet aber nicht, dassdamit die ganze Branche befreit ist; den Eindruck könnteman gewinnen, wenn man sozusagen die Zahl der Bran-
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chen, die die EU-Kommission aufgelistet hat, und dieZahl der Branchen, zu der weitere antragsberechtigteUnternehmen gehören müssen, addiert. Der Hinweis, zuwelcher Branche ein antragsberechtigtes Unternehmengehören muss, ist noch kein Hinweis darauf, dass die ge-samte Branche befreit wird. Das ist ein entscheidenderUnterschied.
– Ich bin einfach gestrickt. Meine Auffassung ist: Wennes um die Branche geht, dann gilt die Regel für die ganzeBranche. Wenn es um ein einzelnes Unternehmen geht,dann macht der Hinweis, zu welcher Branche dieses Un-ternehmen gehört, einen klüger; es ist aber kein Hinweisdarauf, dass die ganze Branche antragsberechtigt ist,vielmehr ist nur das einzelne Unternehmen antragsbe-rechtigt.Die Frage, ob ein Unternehmen der aufgeführtenBranchen antragsberechtigt ist, unterscheidet sich vonder Frage, ob es am Ende die Besondere Ausgleichsre-gelung, also die Reduzierung der EEG-Umlage, inAnspruch nehmen kann. Dies hängt davon ab, ob dasUnternehmen 16 Prozent bzw. 17 oder 20 Prozent Strom-kostenintensität vorweisen kann. Weder die von Ihnen inder Öffentlichkeit genannte Urananreicherungsanlagenoch Unternehmen aus der pelzverarbeitenden Industriehaben bislang auch nur 14 Prozent Stromkostenintensitäterreicht. Die Unternehmen der aufgelisteten Branchen,die diese Stromkostenintensität nicht erreichen, werdennicht antragsberechtigt sein.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Caren Lay.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr
Minister; Sie haben sehr viel über die Belastung der In-
dustrie durch die Ökostromumlage gesprochen. Mich
persönlich und auch uns als Fraktion Die Linke interes-
siert die Belastung der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher mindestens im gleichen Ausmaß. Deswegen ist
meine Frage: Wie wird sich Ihrer Auffassung nach die
Gesamtbelastung der Verbraucherinnen und Verbraucher
entwickeln, und welche Berechnungen liegen dem
Ministerium dazu vor? Bisher war die Situation so, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die kleinen
und mittelständischen Unternehmen über die EEG-Um-
lage etwa 5 Milliarden Euro jährlich zu tragen hatten
und so die Großindustrie entlastet haben. Eine Familie
– Sie haben die Zahl selbst genannt – muss im Durch-
schnitt etwa 40 Euro im Jahr für dieses Paket, das Sie in
Brüssel verhandelt haben, zahlen. Bleibt es bei diesen
Zahlen, oder liegen Neuberechnungen auf Grundlage
des neuen Entwurfs vor?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, ich widerspreche Ihnen ausdrücklich,
wenn Sie sagen, dass es sich um Ausnahmen für die
Großindustrie handelt. Das Unternehmen in Torgelow
hat 400 Beschäftigte. Das Papierverarbeitungsunterneh-
men, das ich vorhin angesprochen habe, hat 250 Be-
schäftigte.
– Ich antworte nicht Ihnen, sondern Ihrer Kollegin, die
gerade gesagt hat, die Ausnahmen seien für die Groß-
industrie; denn das ist eine falsche Darstellung. – Über-
wiegend handelt es sich um mittelständische Unterneh-
men. Es gibt auch große Unternehmen, keine Frage. Die
Veränderung gegenüber den alten Regelungen, der Akt
der Fairness besteht ja gerade darin, dass das Kriterium
für die Begrenzung jetzt nicht mehr allein die Größe, der
Stromverbrauch, ist, sondern das Verhältnis der Strom-
kosten zur Bruttowertschöpfung. Das ist das Entschei-
dende: Wie stromintensiv ist ein Unternehmen, und wie
handelsintensiv ist seine Branche in Bezug auf Länder,
die nicht in Europa liegen? Das ist das Kriterium; denn
wir wollen denen etwas Gutes tun, die hohe Stromkosten
haben und die im weltweiten Wettbewerb stehen.
Die Belastung, die dadurch entsteht, dass wir einen
Teil der EEG-Umlage nicht von der deutschen Industrie
einziehen, liegt in der Tat bei 5,1 Milliarden Euro. Dem
gegenüber stehen aber 7,4 Milliarden Euro Einnahmen
aus der EEG-Umlage, die die deutsche Industrie zahlt.
Die privaten Haushalte in Deutschland zahlen etwa
8 Milliarden Euro. Wenn ich der Industrie zusätzlich zu
den 7,4 Milliarden Euro die 5,1 Milliarden Euro auferle-
gen würde, würde das für einen Dreipersonenhaushalt in
Deutschland eine Entlastung von 40 bis 45 Euro pro Jahr
bedeuten, gleichzeitig aber auch den Verlust von mehre-
ren Hunderttausend Arbeitsplätzen in Deutschland. Ich
weiß nicht, ob es uns besonders helfen würde, wenn wir
die privaten Haushalte um 40 bis 45 Euro im Jahr entlas-
ten würden, wenn wir gleichzeitig ein paar Hunderttau-
send Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie re-
lativ schnell verlieren würden. Das ist sozusagen die
Güterabwägung, die man vornehmen muss. Ich habe
mich dafür entschieden, zu akzeptieren, dass ich die Ent-
lastung von 40 bis 45 Euro für einen Dreipersonenhaus-
halt im Jahr nicht erreichen kann, wenn ich ein paar
Hunderttausend Arbeitsplätze in der Industrie in
Deutschland erhalten möchte.
Der Kollege Dirk Becker hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, kei-ner hier mag sich vorstellen, wie wir heute debattierenwürden, wenn sich die Kommission mit ihrem erstenEntwurf durchgesetzt hätte. Dann hätten wir heute wahr-scheinlich auf Antrag der Opposition eine Sondersit-zung, in der dem Wirtschaftsminister vorgeworfen wor-den wäre, sich nicht hinreichend um die deutscheIndustrie gekümmert zu haben. Von daher möchte ich Ih-nen zunächst einmal ausdrücklich danken, dass Sie die-ses Ergebnis erreicht haben. Das ist ein wertvoller Bei-
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trag für den Industriestandort Deutschland, für dieArbeitsplätze. Die Gewerkschaften sehen das genauso.
Herr Minister, dazu gehört natürlich auch die Rege-lung – Sie haben das angesprochen – hinsichtlich Leih-arbeit bzw. Werkverträgen. Es gab in den letzten Tagennoch ein bisschen Verunsicherung bezüglich der Anhe-bung des Schwellenwerts der Energieintensität – Anteilder Stromkosten an der Bruttowertschöpfung – von14 auf 16 Prozent. Sie haben dazu eben einige Ausfüh-rungen gemacht. Wenn ich das richtig verstanden habe,erfolgt diese Anhebung ausschließlich, um dem Anstiegder Energiekosten Rechnung zu tragen, damit nicht nochmehr Unternehmen unter diese Ausgleichsregelung fal-len. Ist das so korrekt?Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Ja, Herr Abgeordneter, das ist korrekt. Wir wollenkeine über die vorgesehenen 5,1 Milliarden Euro hinaus-gehende Entlastung der deutschen Industrie. Wir wollenden Entlastungsbetrag auch nicht verkleinern. Wir wol-len ihn etwa gleich hoch halten. Dazu dient dieser Vor-schlag.
Die Kollegin Dr. Julia Verlinden hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie
haben selbst gesagt, dass Deutschland eine besonders
energieintensive Industrie hat. Gleichzeitig wissen Sie ja
auch, dass es viel Forschung gibt, die zeigt, dass die In-
dustrie in Deutschland, also die Wirtschaft insgesamt,
noch erhebliche Effizienzpotenziale hat. Sie selbst sagen
ja auch immer: Energieeffizienz ist eine tragende Säule
der Energiewende.
Jetzt frage ich mich, wie Sie rechtfertigen, dass in
dem Gesetzentwurf, der uns vorliegt, nicht – so war es
bisher – vorgesehen ist, dass zusätzliche Nachweise er-
forderlich sind, also dass man zum Beispiel Energie-
managementsysteme nachweisen muss. Es gibt keine
Anforderungen bezüglich Energieeffizienzverpflichtun-
gen, die auch dazu führen würden, die Wirtschaft in
Deutschland international wettbewerbsfähiger zu ma-
chen; denn durch solche Anforderungen würde man sie
unterstützen, effizienter mit Strom umzugehen.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Abgeordnete, dafür gibt es zwei Gründe. Der
erste Grund ist, dass es bei besonders energieintensiven
Unternehmen, glaube ich, schon deshalb keine Notwen-
digkeit gibt, zusätzliche Auflagen zu machen, weil zum
Beispiel in der Stahlindustrie die physikalische Grenze
erreicht ist und man dort nicht noch mehr Energie ein-
sparen oder CO2-Emissionen reduzieren kann. Ich lade
Sie gern einmal ein, ein Stahlwerk, ein Elektrostahlwerk
zu besuchen. Das meine ich nicht ironisch, sondern ganz
ernst. Kuppelgase zum Beispiel können nur noch da-
durch eingespart werden, dass weniger Stahl produziert
wird.
Dass die Unternehmen selbst ein Interesse haben – das
ist der zweite Punkt –, drastisch Energie einzusparen, er-
gibt sich doch aus der Wettbewerbslage. Schauen Sie, in
den 80er- und 90er-Jahren hat in Deutschland und in Eu-
ropa eine Diskussion darüber stattgefunden, dass die
internationale Wettbewerbsfähigkeit durch zu hohe Ar-
beitskosten in Deutschland belastet sei. Wir haben einen
enormen Produktivitätsfortschritt, und inzwischen ma-
chen Lohn- und Arbeitskosten in der deutschen Industrie
im Durchschnitt nicht einmal mehr 20 Prozent aus. Die
Energie- und Rohstoffkosten liegen bei 40, 50, manch-
mal 60 Prozent.
– Ja, aber nicht deshalb, Frau Kollegin, weil die Unter-
nehmen alle so ineffizient sind, sondern unter anderem
deshalb, weil in Deutschland und in Europa die Strom-
preise doppelt so hoch sind wie in den Vereinigten Staa-
ten.
– Das habe ich nicht gesagt. Vielmehr sage ich: Es gibt
sozusagen ein riesiges Interesse der Unternehmen selbst,
gerade im energieintensiven Bereich, dafür zu sorgen,
nicht noch mehr Energiekosten zu haben, weil der inter-
nationale Wettbewerb heute nicht mehr von den Arbeits-
kosten, sondern von den Energie- und Rohstoffkosten
bestimmt wird.
Erstmals – das wollte ich noch sagen – schreiben wir
umfassend Energiemanagementsysteme vor. Das gab es,
ehrlich gesagt, vorher nicht so umfassend. Insofern ha-
ben wir auch bei dieser Regelung im neuen EEG einen
Fortschritt. Wir schreiben Energiemanagementsysteme
für alle vor. Aber ich sage Ihnen: Der größte Druck in
den Unternehmen, über die wir hier reden – es geht ja
nicht um Unternehmen, die praktisch keine Energie-
kosten haben –, entsteht schlicht und ergreifend durch
die Tatsache, dass die Kosten für Energie und Rohstoffe
in Zukunft die Überlebensfähigkeit deutscher und euro-
päischer Unternehmer im internationalen Wettbewerb
bestimmen. Ich glaube, dass das dazu führt, dass wir ge-
rade in den sehr energieintensiven Branchen schon jetzt
relativ nah an den Effizienzgrenzen sind, die wir mit der
aktuellen Technik erreichen können.
Die nächste Frage stellt die Kollegin KatharinaDröge.
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Sehr geehrter Herr Gabriel, Sie haben ja gerade in der
Antwort auf die Frage meiner Kollegin Verlinden gesagt,
dass die deutsche Industrie teilweise ein Problem hat,
weil die Strompreise in Deutschland so hoch sind, dass
die Produktion hier ineffizient zu werden droht. Jetzt
wüsste ich gerne von Ihnen konkret: Wenn Sie die
Strompreise für die Industrie nach allen steuerlichen
Ausnahmen, die wir der Großindustrie gewähren, also
nicht nur im Rahmen des EEG, sondern auch der Kon-
zessionsabgabe, von KWK usw., betrachten, auf wel-
chem Platz in Europa sind wir dann?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Je nachdem, welche Berechnung man heranzieht und
wer die Statistik gerade selber erstellt hat, sind wir auf
einem der vorderen Plätze. Das ist aber nicht das Pro-
blem. Die Frage, auf wen die Besondere Ausgleichsrege-
lung der Europäischen Union zutrifft, wird nicht danach
beantwortet, wo man in Europa steht, sondern danach,
welche Handelsintensität mit Räumen außerhalb Euro-
pas man hat. Die eigentliche Wettbewerbslage entsteht
vor der Frage: Siedeln sich Unternehmen in Europa an
bzw. bleiben sie hier, oder gehen sie an Standorte mit
weit geringeren Stromkosten?
Eine der Maßnahmen, die wir uns alle miteinander
wünschen, ist zum Beispiel, dass Kraftfahrzeuge durch
Faserverbundwerkstoffe leichter werden. Eines der Un-
ternehmen, das auf diesem Gebiet am fortschrittlichsten
arbeitet, hat sich in den Vereinigten Staaten angesiedelt.
– Das liegt nicht nur am Absatzmarkt, sondern da sind
die Stromkosten niedriger.
– Es mag ja sein, dass Sie das alles lächerlich finden,
aber ich finde es überhaupt nicht lächerlich. Ich möchte,
dass sich ein solches Unternehmen bei uns ansiedelt und
nicht wegen der halb so hohen Strompreise anderswo.
Wissen Sie, solche Unternehmen haben große Vor-
teile: Sie zahlen anständige Tariflöhne, da werden die
Leute gut beschäftigt, das sind hochqualifizierte Arbeits-
plätze, und es sind technologieintensive Unternehmen.
Deswegen möchte ich, dass sie hier angesiedelt sind,
auch dann, wenn sie stromintensiv sind.
Der Vergleich Ihrer Kollegin zielte auf die Strom-
preise in der EU ab. Das ist aber gar nicht Gegenstand
der Debatte, sondern Gegenstand der Debatte ist die
Frage, wie sich die Strompreise weltweit entwickeln. Da
haben wir in Europa insgesamt ein Extraproblem, und
Italien und Deutschland haben ein besonderes Problem
innerhalb der Europäischen Union. Es ist doch nicht so,
dass man das einfach wegdiskutieren kann, nur weil man
keine Lust hat, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich.
Herr Minister, ich frage mich, warum die Bundesre-gierung von den Unternehmen, die privilegiert werden,nicht eine gewisse Gegenleistung einfordert, zum Bei-spiel in der Form, dass der Strom bzw. die Energie, denbzw. die sie in ihre Unternehmensnetzstruktur integrie-ren, zu einem gewissen Anteil aus erneuerbaren Ener-gien bestehen muss.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Weil wir über europäische Regeln reden. Unsere Be-sondere Ausgleichsregelung hat sich an den Regeln, diedie Europäische Union gesetzt hat, zu orientieren. Wirwaren froh, dass wir das, was wir hier erreichen konnten,bei der EU-Kommission durchgesetzt haben.Übrigens – da Sie die Frage, wie sich die Erneuerba-ren entwickeln, angesprochen haben –: Die EuropäischeUnion hatte am Anfang die Vorstellung, dass ab demnächsten Jahr unmittelbar Ausschreibungen durchge-führt werden sollen. Nur um Ihnen das einmal zu sagen:Wir haben hier nicht im luftleeren Raum operiert, son-dern wir waren an das, was die EU-Kommission zu tunvorhatte, gebunden. Einer Ihrer Vorredner hat ja gesagt,die heutige Debatte sähe ein bisschen anders aus. Wirhaben nicht die Möglichkeit, noch alle möglichen ande-ren Parameter einzuführen, damit man an die BesondereAusgleichsregelung herankommt, sondern wir sind da-rauf angewiesen, dass das, was wir vorschlagen, im Hin-blick auf das, was die Europäische Union für Europa ins-gesamt für richtig hält, notifizierungsfähig ist.Ich habe vorhin vergessen, Ihrer Vorvorrednerin, diemich nach der Effizienz gefragt hat, eine Sache zu sa-gen: Im Gesetzentwurf ist eine Verordnungsermächti-gung für besondere Energieeffizienzanforderungen ent-halten. Das sage ich mit Blick auf die Bereiche derIndustrie, auf die Ihr Vorwurf zielt. Ihr Vorwurf lautet ja,dass man noch nicht genug für die Effizienz getan hat.
Nicht jeder Vorwurf ist gleich moralisch gemeint, son-dern er ist vielleicht erst einmal eine Feststellung.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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– Ja, wie gesagt, mit der Statistik ist es, wie wir alle hierim Parlament wissen, so eine Sache. Aber es gibt natür-lich solche Fälle. Deswegen enthält das Gesetz eine Ver-ordnungsermächtigung, besondere Energieeffizienzan-forderungen zu stellen, falls wir den Eindruck haben,dass in einem bestimmten Industriebereich oder in einembestimmten Unternehmen die Möglichkeiten, mit demEnergieverbrauch effizient umzugehen, noch nicht hin-reichend ausgeschöpft werden. Dem kann man dannauch durch Energieeffizienzanforderungen Nachdruckverleihen.
Herr Minister, auch wenn es Zwischenrufe gibt, bitte
ich, nur den Fragenden oder die Fragende mit einer ent-
sprechenden Antwort zu versorgen. Gegebenenfalls kön-
nen sich diejenigen, die noch Nachfragebedarf haben,
dann zu einer weiteren Frage melden; einige haben das
auch schon getan. Das Wort erteile immer noch ich. Ich
entscheide, wer hier mit wem redet.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Bulling-
Schröter.
Danke schön. – Aus dem EEG ergibt sich ja nicht nur
die EEG-Umlage, sondern auch der stromkostensen-
kende Merit-Order-Effekt. Er hat Auswirkungen auf die
Strompreise auf Großhandelsebene. Die sollen dem-
nächst 3 Cent pro Kilowattstunde betragen; sie liegen
aktuell bei 5 bis 6 Cent pro Kilowattstunde. Die stromin-
tensive Industrie profitiert natürlich, wenn sie Strom
günstig bekommt; das ist ganz klar. Sie macht dadurch
Gewinne und hat Vorteile.
Jetzt ist meine Frage an Sie: Ist denn dieser Effekt
nicht wesentlich höher als die Auswirkungen bei der
Mindestumlage, die jetzt von 0,05 Cent auf 0,1 Cent pro
Kilowattstunde erhöht wird? Da gibt es ja eine Preisdif-
ferenz, und 3 Cent pro Kilowattstunde für Großverbrau-
cher ist ja nicht gerade besonders hoch.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
In den Verhandlungen, die wir mit der Europäischen
Kommission geführt haben, hat die Europäische Kom-
mission sich exakt auch diese Frage angeschaut und ist
deshalb zu den vorgeschlagenen Regeln gekommen, an
die wir uns jetzt halten. Die Europäische Kommission
hat präzise Ihre Fragen gestellt. Dann hat sie einen Vor-
schlag gemacht, der sich beim Begrenzungsumfang an
der Bruttowertschöpfung der Unternehmen orientiert,
um exakt dieser Frage sozusagen ausreichend Raum zu
geben.
Das Wort hat der Kollege Peter Meiwald zur nächsten
Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, erlau-ben Sie mir eine Vorbemerkung: Sie haben – auch mitIhrem Beispiel der Eisengießerei Torgelow – darauf ab-gehoben, wie viel Sie dafür tun, die Arbeitsplätze hier imLand zu erhalten. Das würdigen wir auch ausdrücklich.Die Frage ist aber – auch bei der Eigenstromnutzung –,ob hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Wennman sich anschaut, wie wenig die Bundesregierung ei-gentlich dafür tut, die erneuerbaren Energien zu fördern– da sind ja in den letzten Jahren zuhauf Unternehmen indie Insolvenz gegangen, und es gehen weiterhin viele indie Insolvenz; denen müsste man unter die Arme greifen –,und wie viel Wert darauf gelegt wird, Arbeitsplätze inalten Technologien zu erhalten, passt in den gleichenZusammenhang die Frage: Warum soll der Eigenstrom-verbrauch von Privatverbrauchern, Privatnutzern, Pri-vatinvestoren demnächst mit der EEG-Umlage belastetwerden, während die Bundesregierung für die Industrieoffensichtlich noch sehr weitreichende Ausnahmenschafft? Meine konkrete Frage: Kann die Bundesregie-rung ausschließen, dass zukünftig zum Beispiel der Braun-kohletagebau von der Besonderen Ausgleichsregelungausgenommen wird? Dieser steht ja definitiv nicht im in-ternationalen Wettbewerb.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Deswegen steht der Braunkohletagebau auch nichtauf einer der Branchenlisten. Er verfügt nicht über die4 Prozent Handelsintensität. Daher ist er nicht in derLage, von der Besonderen Ausgleichsregelung Ge-brauch zu machen.Ich würde aber auch gerne auf Ihre Vorbemerkungeingehen: Ich finde die Unterscheidung zwischen neuerund alter Industrie abenteuerlich. Diese Unterscheidunghat den Rest Europas Anfang der 2000er-Jahre in denRuin getrieben. Damals waren alle für die neue Indus-trie. Das sind Kommunikationswissenschaften, Internet,Finanzmärkte. Die alte Industrie, das sind Chemie, Stahl,Automobilbau, Maschinenbau. Dadurch, dass wir die In-dustrie, die Sie „alt“ nennen, haben, sind wir besserdurch die Krise gekommen als andere. Heute redet derRest Europas von Reindustrialisierung und wünscht sichums Verrecken Chemie, Stahl, Maschinenbau, Elektro-technik zurück. Wir haben sie Gott sei Dank noch.
Es gibt keine New oder Old Economy, es gibt immernur – aus meiner Sicht jedenfalls – die Next Economy.Sie können zum Beispiel keine moderne Windenergiean-lage bauen ohne die Eisengießerei Torgelow. Das ist,wenn man so will, eine ganz alte Industrie: harte Arbeit,ziemlich schmutzig, ziemlich heiß, mit viel Hitze undviel Energie. Aber in dieser Eisengießerei werden dieVerankerungen für die Rotorblätter oben auf den Köpfenvon Windenergieanlagen hergestellt. Ohne diese ganzalte Industrie können moderne Windenergieanlagen garnicht gebaut werden. Das Gleiche können Sie beimKunststoff, in der Chemie, im Maschinenbau sehen:Eine Trennung zwischen alter und neuer Industrie ist le-
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2640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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bensgefährlich für unser Land. Ich kann nur raten, sienicht vorzunehmen.Die Tatsache, dass in der Photovoltaik Unternehmenin die Insolvenz gegangen sind, hat etwas damit zu tun,dass es dort durch Importe zu einem Preisverfall gekom-men ist, aber nicht dadurch, dass wir in Deutschland ir-gendwie eine andere Form von EEG gemacht hätten.Wir werden die Windenergie in Deutschland in Zukunftum 2,5 Gigawatt pro Jahr ausbauen. In den letzten zehnJahren haben wir einen Ausbau in diesem Umfang nur ineinem einzigen Jahr geschafft. Demnächst wollen wirdas in jedem Jahr schaffen. Ähnliches gilt für die Photo-voltaik.Diese Industrie wird sehr davon profitieren, dass wirdie traditionelle Industrie in Deutschland haben. OhneMaschinenbau, Elektrotechnik, Chemie, Kunststoff,Stahl gäbe es die Erneuerbaren gar nicht in dieser Form.
Zur nächsten Nachfrage hat die Kollegin Caren Lay
das Wort.
Vielen herzlichen Dank. – Ich muss schon sagen, dass
ich es etwas bedauere, dass wir uns bei der Frage „Wie
soll das EEG novelliert werden?“ nur noch auf die Ent-
lastung der energieintensiven Unternehmen fokussieren
und die Entlastung der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher für die Regierung offenbar keine Rolle mehr spielt.
Deswegen möchte ich Sie fragen, warum es die Regie-
rung bisher unterlassen hat, für eine entsprechende so-
zialpolitische Flankierung dieses Gesetzentwurfes zu
sorgen.
Die SPD hat im Wahlkampf gemeinsam mit der Lin-
ken die Absenkung der Stromsteuer gefordert. Einige
SPD-Ministerpräsidenten fordern das bis heute. Deshalb
möchte ich Sie ganz konkret fragen: Wie stehen Sie zu
dieser Forderung, und können Sie sich vorstellen, dass
das dazu beitragen könnte, diesen Gesetzentwurf im In-
teresse der Verbraucherinnen und Verbraucher auch so-
zialpolitisch zu flankieren?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Kollegin, ich würde Ihrer Darstellung, wir wür-
den uns nur um Entlastungen der Industrie kümmern,
gerne heftigst widersprechen. Mit dem ganzen EEG ver-
folgen wir vor allen Dingen ein Ziel, nämlich die Kos-
tendynamik, die es bei der EEG-Umlage in den letzten
Jahren gab, zu durchbrechen. Denn man kümmert sich
doch nicht als Erstes darum, wie man einem steigenden
Strompreis durch die Senkung von Steuern entgegenwir-
ken kann, sondern man kümmert sich als Erstes darum,
dass der Strompreis nicht weiter steigt.
– Ich versuche nur, zu antworten; mehr tue ich gar nicht.
Sie haben gerade gesagt, bei der Novellierung des
EEG ginge es nur um Ausnahmen. Wir versuchen mit
dem neuen EEG im Kern, die Kostendynamik der letzten
Jahre zu durchbrechen. Übrigens: Hätten wir diese Kos-
tendynamik nicht, dann hätten wir beim Thema „Beson-
dere Ausgleichsregelung“ eine viel entspanntere Situa-
tion. Bei der EEG-Umlage gibt es aber eine solche
Kostendynamik, und deswegen ist es richtig, dass wir
uns im Hinblick auf das neue EEG das Ziel gesetzt ha-
ben, diese Kostendynamik zu durchbrechen, ohne den
Siegeszug der Erneuerbaren auszubremsen. – Das ist das
Erste.
Zweitens. Sie haben recht: Im Wahlkampf hat die
SPD – ich glaube, es waren auch noch ein paar andere,
zum Beispiel Sie – gesagt: Lasst uns doch wenigstens
das aufgrund der steigenden EEG-Umlage auch stei-
gende Mehrwertsteueraufkommen umverteilen. Dies ist
in den Koalitionsverhandlungen von SPD, CDU und
CSU nicht mehrheitsfähig gewesen, und deswegen steht
das auch nicht im Gesetzentwurf. So ist das Leben!
Der Herr Kollege Oliver Krischer hat das Wort.
Herr Bundesminister, Sie haben als Mindestziel aus-gegeben – so habe ich jedenfalls die Meldungen und bei-spielsweise Ihre Rede beim Neujahrsempfang des Bun-desverbandes Erneuerbare Energie verstanden –, dassdie privaten Verbraucher und die nichtprivilegiertenTeile der Wirtschaft mindestens um 1 Milliarde Euroentlastet werden.Sie werden Ihren Vorschlag ja sicherlich ausgiebigevaluiert haben. Meine Frage an Sie ist: Wie stellt sichdie Entlastung dar? Werden die nichtprivilegierten unddie privaten Verbraucher entlastet, oder werden sie zu-sätzlich belastet, und in welchem Umfang?Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Ich habe in einer öffentlichen Diskussion des Bundes-verbandes Erneuerbare Energie auf den Vorhalt geant-wortet, man könne sich doch alle Maßnahmen im Erneu-erbare-Energien-Gesetz, mit denen versucht wird, denKostenanstieg auszubremsen, sparen, indem man ein-fach die Ausnahmen für die stromintensive Industrie ab-schafft, die immerhin zu einer Mindereinnahme von5 Milliarden Euro führen.
– Doch, das war der Vorhalt dort; ich war ja auf der Ver-anstaltung.
– Ich unterstelle einmal, Sie waren schon draußen undnicht mehr im Saal; denn wenn Sie noch da gewesen wä-ren, dann hätten Sie die Frage jetzt nicht zu stellen brau-
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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chen. – Auf diesen Vorhalt habe ich geantwortet: Ichhalte das für eine abenteuerliche Position, weil die ersteFrage nicht ist, wie viel man durch die Abschaffung derAusnahmen einsparen kann, sondern wie man die inter-nationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrieschützen kann. In diesem Zusammenhang habe ich dannfolgenden Satz gesagt: Wenn wir dabei 1 Milliarde Euroweniger an Entlastungen machen, dann hätten wir vielerreicht. – Das war meine Formulierung.
Wir haben dann verhandelt und festgestellt: Das warnicht zu erreichen, jedenfalls nicht ohne einen großenKollateralschaden bei vielen Unternehmen in Deutsch-land. Das ist der Grund dafür, dass es jetzt keine Einspa-rungen durch eine geringere Entlastung der stromintensi-ven Unternehmen gibt.
– Ich weiß nicht, was daran abenteuerlich ist; ich beant-worte nur Ihre Frage. Ich bin von Brüssel gebeten wor-den, 5 Milliarden Euro einzusparen. Daraufhin habe ichgesagt: Das halte ich für eine völlig falsche Position. Ichbin der Überzeugung, dass man sich zuerst darum zukümmern hat, dass die richtigen Unternehmen auch wei-terhin Ausnahmen in Anspruch nehmen können. Und indiesem Zusammenhang habe ich dann gesagt: Wenn da-bei eine Einsparung von 1 Milliarde Euro statt von5 Milliarden Euro herauskäme, dann hätten wir schonviel erreicht.Dann haben wir monatelang verhandelt. Das Ergebnisist, dass auch eine Einsparung von 1 Milliarde Euronicht ohne erhebliche Kollateralschäden bei energie-intensiven Unternehmen in Deutschland zu erzielenwäre. Deswegen haben wir sie nicht erreicht. Wir habenallerdings auch nicht die Absicht, das Volumen der Ent-lastungen zu erhöhen. Wir nehmen die drei Änderungenin dem Gesetzentwurf, die ich Ihnen gerade vorgestellthabe, vor, damit das Entlastungsvolumen mehr oder we-niger so bleibt, wie es ist, nämlich 5,1 Milliarden Euro.Ich habe keine Schwierigkeiten, zu sagen, dass wirauch das, was ich als maximales Ziel überhaupt noch fürdenkbar gehalten hätte, nicht geschafft haben; es seidenn, wir hätten Unternehmen massiv geschädigt. Ichhabe niemandem versprochen, dass ich eine Entlastungvon 1 Milliarde Euro erreichen werde. Vielmehr habeich den Menschen, die ähnlich argumentieren wie Sieund behaupten, man könne das ganze Problem einer stei-genden EEG-Umlage dadurch lösen, dass wir die deut-sche Industrie zur Kasse bitten, heftig widersprochen.Darüber hinaus finde ich: Das, was Sie machen, istnichts anderes als der Versuch, sich darum zu drücken,auch im EEG dafür zu sorgen, dass mit den deutschenGeldern effizienter umgegangen wird.Eine Windenergieanlage, die 1,8 Millionen Euro ge-kostet hat, zu fördern, was dazu führt, dass diese Anlagebereits nach neun Jahren abbezahlt ist und der Betreiberdann elf Jahre lang pro Jahr 160 000 Euro von denStromkunden erhält, ohne etwas dafür zu tun – das istein Fall aus der Praxis, den ich Ihnen hier vorstelle –, istnie das Ziel des EEG gewesen. Das Ziel war nie, dasseine Anlage für 1,8 Millionen Euro nach neun Jahren re-finanziert ist und dann der Betreiber elf Jahre lang vonden Stromkunden jedes Jahr 160 000 Euro geschenkt be-kommt. Das aber ist Gegenstand des heutigen EEG. Des-wegen muss man den Mut haben, an die Fördersubstanzund die Überförderung selbst heranzugehen, und darfsich davor nicht drücken, Herr Kollege.
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, auch
nicht zu weiteren Themen der heutigen Kabinettssit-
zung.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Frau Präsidentin, das bedaure ich.
Das glaube ich sofort. Da Sie heute sowieso zur Ver-dopplung Ihrer Redezeit neigten, haben wir es gerade sogeschafft, in unserem zeitlichen Rahmen zu bleiben.Ich beende die Befragung und rufe den Tagesord-nungspunkt 2 auf:FragestundeDrucksache 18/1293Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Rei-henfolge auf.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Gesundheit. Die Frage 1 der KolleginVeronika Bellmann soll schriftlich beantwortet werden.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. DieFrage 2 des Kollegen Herbert Behrens soll ebenfallsschriftlich beantwortet werden.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht derParlamentarische Staatssekretär Florian Pronold zur Ver-fügung.Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Peter Meiwald wer-den schriftlich beantwortet. Auch die Frage 5 der Kolle-gin Pia Zimmermann wird schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhlauf. – Jetzt haben wir ein Problem. Der ParlamentarischeStaatssekretär steht zur Verfügung, aber die fragendeAbgeordnete nicht. Also wird verfahren, wie in der Ge-schäftsordnung vorgesehen.Herzlichen Dank für die Bereitschaft, Herr Staats-sekretär. Damit sind wir schon am Ende Ihres Geschäfts-bereiches.
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-tung steht der Parlamentarische Staatssekretär StefanMüller zur Verfügung.Zumindest bei der Frage 7 der Kollegin SylviaKotting-Uhl haben wir die gleiche Situation wie eben:Die Kollegin Kotting-Uhl ist nach wie vor nicht einge-troffen. Das heißt, es wird verfahren, wie in der Ge-schäftsordnung vorgesehen.Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Oliver Krischer auf:Beabsichtigt die Bundesregierung, die in der Antwort aufdie Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufBundestagsdrucksache 18/1268 beschriebene Forschung anHochtemperaturreaktoren des Forschungszentrums Jülich in-klusive der Kooperationsaktivitäten mit der VR China weiter-hin gutzuheißen und zu unterstützen, und wenn ja, welchekonkrete Absicht verfolgt die Bundesregierung mit dieser imForschungszentrum Jülich betriebenen Reaktorforschung?Bitte, Herr Staatssekretär.S
Kollege Krischer, Ihre Frage beantworte ich wie
folgt: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage Ihrer Fraktion erläutert, dass die Jülicher
Sicherheitsforschungen zum Hochtemperaturreaktor mit
dem Ende der zweiten Phase der programmorientierten
Förderung eingestellt werden. Der Programmzeitraum
beläuft sich auf die Jahre 2010 bis 2014.
Wie bereits ausgeführt, enthält die Programmplanung
für die nukleare Sicherheitsforschung im Rahmen der
dann folgenden Periode nach Angaben des Forschungs-
zentrums Jülich keine Aktivitäten zur Hochtemperatur-
reaktorthematik.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank, Herr Kollege, für Ihre Ausführun-
gen. – Das Forschungszentrum stellt aber diese Aktivitä-
ten als nicht von den ihm gegenüber gemachten Ein-
schränkungen betroffen dar, sondern definiert die
Zusammenarbeit mit China bei der Entwicklung eines
neuen Hochtemperaturreaktors als Sicherheitsforschung.
Deshalb ist meine konkrete Frage an Sie: Billigt die
Bundesregierung weitere Aktivitäten bzw. eine weitere
Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China, die in ir-
gendeiner Weise mit der Entwicklung eines Hochtempe-
raturreaktors in China im Zusammenhang stehen?
S
Ich nehme an, Sie beziehen sich auch auf die ein-
schlägige Berichterstattung in den Medien. Ich kann
dazu zwei Dinge feststellen. Wenn ich es richtig sehe,
geht es zunächst einmal um die Frage: Findet in Jülich
Forschung zum Thema Hochtemperaturreaktor statt, und
wird das mit öffentlichen Geldern finanziert? Die Frage
habe ich gerade beantwortet.
Die andere Frage ist: Beteiligt sich das Forschungs-
zentrum Jülich am Bau eines Hochtemperaturreaktors in
China? Nach Angaben des Forschungszentrums Jülich
gibt es keine Wissenschaftler aus Jülich, die am Bau des
HTR in China mitwirken.
Das ist eine abenteuerliche Interpretation. Wenn ich
nach China fahre, Auftragsarbeiten für das federfüh-
rende Institut zur Entwicklung dieses Reaktors ausführe
und an Kongressen teilnehme, auf denen diese Frage dis-
kutiert wird, kann man, glaube ich, schon davon spre-
chen, dass eine Zusammenarbeit existiert. Dass Sie jetzt
sagen, das finde nicht statt, ist eine sehr eigenwillige In-
terpretation der Aktivitäten des Forschungszentrums.
Wenn Sie die Frage für die Zukunft nicht klar beant-
worten möchten, dann möchte ich eine klare Frage zur
Vergangenheit stellen: In welcher Höhe insgesamt hat
die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren die For-
schungsaktivitäten für den Hochtemperaturreaktor in
Jülich unterstützt?
S
Ich will auf eines zurückkommen: Das ist nicht meine
Behauptung, sondern ich beziehe mich auf die Angaben
des Forschungszentrums Jülich. Von diesem wird die In-
terpretation vonseiten Nordrhein-Westfalens und viel-
leicht auch von Ihnen, dass sich Wissenschaftler des For-
schungszentrums Jülich am Bau beteiligen, verneint.
Darauf beziehe ich mich.
Was die Frage angeht, inwieweit es eine Unterstüt-
zung gegeben hat bzw. wie hoch diese Unterstützung im
Rahmen der Förderung, die jetzt ausläuft, ausgefallen
ist, bitte ich, mir zu gestatten, die Antwort nachzurei-
chen. Ich will nur eines feststellen: Es findet in diesem
Bereich Sicherheitsforschung statt. Das wird auch nach
wie vor vertreten. Mit der nuklearen Sicherheitsfor-
schung leisten wir letztendlich auch einen Beitrag zur Si-
cherheit von Nuklearanlagen im In- und Ausland, und es
geht auch um den Kompetenzerhalt in Deutschland.
Wenn ich es richtig verstanden habe, wird das auch
von der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-West-
falen unterstützt, die auf Seite 41 ihres Koalitionsver-
trags aus dem Jahr 2012 dazu schreibt – ich zitiere –:
Das Land NRW wird keinerlei Atomforschung
mehr finanzieren, mit Ausnahme der Forschung für
Sicherheit, Endlagerung und Rückbau.
Danke, Herr Staatssekretär.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung. Zur Beantwortung steht der Parlamentari-sche Staatssekretär Thomas Silberhorn zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2643
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:Nach welchen Kriterien wurden die Teilnehmer bzw. Or-ganisationen des runden Tisches des Bundesministers fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. GerdMüller, zum Thema „Siegel in der Textilindustrie“ ausgewählt
,
und was waren die Ergebnisse des Treffens am 30. April2014?Bitte, Herr Staatssekretär.Th
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich darf die erste
Frage nach dem runden Tisch am 30. April wie folgt be-
antworten: Die Teilnehmer sind nach ihrer Bedeutung
für die Textilbranche ausgewählt worden. Wir haben da-
rauf geachtet, dass nicht nur Vertreter der Wirtschaft ein-
geladen werden, sondern auch Arbeitgeberverbände,
Gewerkschaften und Vertreter der Zivilgesellschaft ein-
bezogen sind, sodass unterschiedliche Standpunkte ge-
hört und diskutiert werden konnten.
Es waren insgesamt 27 Teilnehmer. Mit Blick auf die
knappe Zeit wird es mir kaum möglich sein, alle zu nen-
nen. Es sind Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften,
Nichtregierungsorganisationen und Zertifizierer. Das
größte Interesse dürfte an den Unternehmen bestehen. Es
waren Adidas, Adler Modemärkte, Aldi Nord, Aldi Süd,
C & A, H & M, KiK Textilien, Lidl-Stiftung, Metro
Group, Otto und Tchibo. Die großen und wichtigen Un-
ternehmen waren also vertreten.
Als Ergebnis wurde vereinbart, ein Bündnis für einen
nachhaltigen deutschen Textilmarkt zu starten und einen
gemeinsamen Aktionsplan in den Konsultationsrunden
zu entwerfen, die folgen werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für Ihre Antwort. – Es freut mich, dass
das Ministerium meinen Vorschlag aufgegriffen hat,
auch die Zivilgesellschaft zu diesem runden Tisch einzu-
laden; das hat wunderbar geklappt. Meine Frage lautet:
Sie werden bei einer solch großen Gruppe sehr viele
Konfliktlinien berücksichtigen müssen. In welche Rich-
tung, glauben Sie, wird der Trend gehen? Wollen Sie ein
Siegel haben, das für eine breite Durchdringung sorgt,
aber eher für niedrige Standards steht, oder wollen Sie
das Gegenteil, also höhere Standards vertreten und damit
das Risiko eingehen, dass es nicht so breit wirksam
wird?
Th
Sehr geehrter Herr Kekeritz, es handelt sich – das
wird auch Bestandteil meiner Antwort auf Ihre zweite
schriftlich eingereichte Frage sein – um zwei Prozesse.
Es geht darum, zum einen ein Textilsiegel zu etablieren
und zum anderen soziale Standards zu vereinbaren. Wir
setzen insgesamt auf Kooperation; denn wir wollen die
gesamte Lieferkette von den Produktionsstätten in Dritt-
staaten bis hin zum Verbraucher in Deutschland erfas-
sen, also die gesamte globale Lieferkette vom Baum-
wollfeld bis zum Bügel. Da reicht der Aktionsradius der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit jedenfalls wei-
ter als die Direktionskraft des deutschen Gesetzgebers.
Insofern ist die Entwicklungszusammenarbeit berufen,
die Handlungsspielräume zu nutzen, um eine solche glo-
bale Lieferkette zu gestalten sowie soziale und ökologi-
sche Mindeststandards zu vereinbaren und umzusetzen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Herzlichen Dank. – Sie haben von sozialen und öko-
logischen Mindeststandards gesprochen. Ich nehme an,
dass Sie auch die arbeitssicherheitsrelevanten Standards
einbeziehen werden, aber das nur nebenbei.
Mich interessiert noch Folgendes: Seit 2001 mode-
riert das BMZ eine multinationale Stakeholder-Initiative,
einen runden Tisch, bei dem es um Verhaltenskodizes
geht. Wie wollen Sie durch die Schaffung von Doppel-
strukturen zu einer substanziellen Verbesserung beitra-
gen, oder wollen Sie diesen runden Tisch dann auflösen?
So wie ich das interpretiere, ist dieser runde Tisch dann
eigentlich obsolet.
Th
Herr Kekeritz, es ist zutreffend, dass durch diesen
runden Tisch zu den Verhaltenskodizes bereits eine enge
Partnerschaft der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit mit der Bekleidungsindustrie besteht. Wir wollen
keine Doppelstrukturen errichten, sondern die bestehen-
den Initiativen nutzen und breiter verankern. Es ist
durchaus möglich, diesen runden Tisch zu den Verhal-
tenskodizes zu einem Bündnis für einen nachhaltigen
Textilmarkt in Deutschland weiterzuentwickeln.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:
Warum gibt die Bundesregierung einem freiwilligen Sie-
gel für Arbeitsstandards in der Textilproduktion den Vorzug
vor gesetzlichen Maßnahmen, die für alle Marktteilnehmer
gleichermaßen verbindlich wären, und inwiefern soll sich das
von Bundesminister Dr. Gerd Müller angedachte Siegel von
etablierten Siegeln wie GOTS oder Fair Wear unterscheiden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Th
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – BundesministerDr. Gerd Müller hat zunächst ein Textilbündnis initiiert.Ziel dieses Textilbündnisses ist es, eine Selbstverpflich-tung der Textilbranche zur Einhaltung von ökologischenund sozialen Standards zu erreichen. Dabei arbeiten, wieangesprochen, Unternehmen, Verbände, Arbeitgeber-
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2644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn
(C)
(B)
und Arbeitnehmervertretungen sowie Nichtregierungs-organisationen zusammen. Sie haben vereinbart, einengemeinsamen Aktionsplan zu erstellen.Darüber hinaus geht es uns mit dem von Bundes-minister Dr. Müller angekündigten Textilsiegel darum,Sozial- und Umweltstandards in der gesamten Liefer-kette abzudecken, also vom Baumwollfeld bis zum Klei-derbügel. Das wird durch bestehende Siegel nicht geleis-tet. Es ist aber ein wichtiger Schritt hin zu einerumfassenden Einhaltung von Sozial- und Umweltstan-dards in der Textilbranche, die gesamte globale Liefer-kette zu erfassen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Wir begrüßen natürlich sehr, dass Sie tatsächlich die
ganze Lieferkette einschließen wollen. Aber Sie spre-
chen hier von freiwilligen Vereinbarungen. Ich denke,
dass Unternehmensverantwortung nicht mit CSR gleich-
gesetzt werden darf; denn all die Firmen, die Sie genannt
haben, haben schon einen ganz dicken Katalog von auf
dem CSR-Kodex beruhenden Selbstverpflichtungsmaß-
nahmen, was bisher noch nicht den gewünschten Erfolg
gebracht hat.
Welche Rolle will denn das BMZ spielen, wenn sich
wieder herausstellen sollte, dass diese freiwilligen Maß-
nahmen nicht funktionieren? Wie können Sie sicherstel-
len, dass Ihre Initiative von vielen Unternehmen nicht
zum Greenwashing oder Fairwashing verwendet wird?
Th
Herr Abgeordneter, wir zielen darauf ab, dass ge-
meinsam soziale und ökologische Standards festgelegt
werden, denen sich nicht nur die Unternehmen aus
Deutschland verpflichtet fühlen, sondern auch die Pro-
duktionsstätten, die von deutschen Unternehmen in
Asien und andernorts beauftragt werden. Insofern sind
wir auf Kooperation und auch auf Maßnahmen der Ent-
wicklungszusammenarbeit angewiesen, um solche Stan-
dards vor Ort umzusetzen.
Wir loten allerdings alle Handlungsmöglichkeiten
gründlich aus und schließen nichts aus. Wir sind auf ei-
nem guten Wege, in Kooperation mit all den wesentli-
chen Akteuren diesen gemeinsamen Aktionsplan zu er-
arbeiten und uns auf soziale Mindeststandards zu
verständigen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Herzlichen Dank. – Sie haben gerade angesprochen,
dass es auch um die Produktionsstätten in den Entwick-
lungsländern selbst geht. Haben Sie vor, auch mit den
Gewerkschaftsvertretern vor Ort Kontakt aufzunehmen?
Inzwischen gibt es immer mehr soziale Gruppen und an
Ökologie interessierte Gruppen, die sich mit dieser The-
matik auseinandersetzen. Gibt es Initiativen, auch mit
diesen Gruppen in Kontakt zu treten?
Th
Ja, Herr Abgeordneter, das ist der Fall. Das Entwick-
lungsministerium ist bereits seit einigen Jahren unter-
wegs, um mit den Arbeitnehmervertretern darauf hinzu-
wirken, dass die Arbeitsrechte und Mindeststandards bei
den Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Wir bilden
beispielsweise auch Inspektoren aus, die darauf achten,
dass solche Standards umgesetzt werden. Insofern sind
wir breit aufgestellt und schließen nichts aus.
Ich will auch darauf hinweisen, dass wir beispiels-
weise in engem Kontakt mit der Internationalen Arbeits-
organisation, aber auch mit der Europäischen Kommis-
sion stehen. Wir wollen in enger Kooperation mit allen
interessierten Kräften vorankommen, sowohl was die so-
zialen und ökologischen Standards angeht als auch was
ein Textilsiegel angeht, das Transparenz für die Verbrau-
cher in Deutschland schafft.
Danke, Herr Staatssekretär. – Die Kollegin Pfeiffer
hat das Wort zu einer Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
sind Sie mit mir einer Meinung, dass in dem Moment, in
dem die Verantwortlichkeit für dieses Gütesiegel an die
Wirtschaft bzw. die Unternehmen übertragen wird, wir
vor Ort einen besseren Ertrag aus dieser Verpflichtung
heraus haben? Ich glaube, dass der Druck der Wirtschaft
auf die Unternehmen vor Ort, die handelnden Personen
und auch die Regierungen wesentlich größer sein kann
als das, was wir unter Umständen im Rahmen der bilate-
ralen oder von mir aus auch der multilateralen Zusam-
menarbeit leisten können.
Th
Frau Abgeordnete, das ist natürlich der Fall. Die Han-delsunternehmen, die ihre Waren von Produktionsstättenin Drittländern, zum Beispiel in Asien, beziehen, übennatürlich eine große Nachfragemacht aus. Deutschlandist ein großer Markt für die Textilbranche. Wir sind Be-standteil eines großen europäischen Binnenmarkts. Des-wegen wird in der gesamten Europäischen Union mitgroßer Aufmerksamkeit verfolgt, wie wir unsere Debattehier gestalten. Ich habe schon erwähnt, dass wir mit derEuropäischen Kommission in enger Zusammenarbeitstehen. Wir wollen die Handlungsmöglichkeiten, die wirals Nachfrager bzw. Verbraucher in Deutschland haben,mit nutzen, um zu besseren Arbeitsbedingungen vor Ortbeizutragen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2645
Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn
(C)
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Es ist eine für uns nicht hinnehmbare Situation, dassKleidung unter unwürdigen Bedingungen in dritten Staa-ten produziert wird. Wir führen an anderer Stelle Diskus-sionen über Lohnuntergrenzen und Mindestlöhne. Mansollte in diesem Zusammenhang auch sehen, dass wir ineiner globalisierten Weltwirtschaft die Produktionsbe-dingungen in Ländern, aus denen wir importieren, mitberücksichtigen müssen.
Danke, Herr Staatssekretär. – Damit sind wir tatsäch-
lich am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministe-
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Wirtschaft und Energie auf. Zur Beantwortung
der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Uwe Beckmeyer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 11 der Kollegin Inge Höger:
Wie viele Genehmigungsanfragen zum Export eines Ge-
fechtsübungszentrums sind bisher vom Bundessicherheitsrat
beschieden worden – unter Angabe der Empfängerstaaten und
der Entscheidung –, und welche Exportgenehmigungen für
Gefechtsübungszentren wurden bislang zurückgezogen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
U
Liebe Kollegin Höger, gern beantworte ich Ihre
Frage: Die Bundesregierung äußert sich grundsätzlich
weder dazu, inwieweit einzelne Exportgenehmigungen
auf Entscheidungen des Bundessicherheitsrates beruhen,
noch äußert sie sich zu den Sitzungen des Bundessicher-
heitsrates, also auch nicht zu deren Zeitpunkt oder zu de-
ren Inhalt. Diese unterliegen der Geheimhaltung.
Die Koalitionsparteien haben sich im Koalitionsver-
trag jedoch darauf verständigt, über abschließende Ge-
nehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates
unverzüglich zu berichten. Die Bundesregierung bereitet
derzeit die Umsetzung dieser Vereinbarung vor, sodass
für die künftigen Genehmigungsentscheidungen des
Bundessicherheitsrates eine zeitnahe Information des
Deutschen Bundestages sichergestellt ist.
Ich kann Ihnen unabhängig von der Frage einer Be-
fassung des Bundessicherheitsrates mitteilen, dass mit
Ausnahme von Russland und den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten keine Exporte von Gefechtsübungszen-
tren in andere Länder genehmigt wurden. Die Genehmi-
gung für die Ausfuhr in die Vereinigten Arabischen
Emirate ist im Rüstungsexportbericht 2010 und die Ge-
nehmigung für die Ausfuhr nach Russland ist im Rüs-
tungsexportbericht 2011 ausgewiesen. Wie Sie wissen,
hält die Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation
die Ausfuhr des Gefechtsübungszentrums nach Russland
nach wie vor nicht für vertretbar. Sie steht daher in Kon-
takt mit dem entsprechenden Unternehmen. Unmittelbar
stehen keine Ausfuhren bevor. Bei Bedarf wird die Bun-
desregierung die erforderlichen Schritte ergreifen.
Frau Höger, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Gerade im Zusammenhang mit der Genehmigung der
Lieferung eines Gefechtsübungszentrums an Russland
gab es in den Medien sehr widersprüchliche Berichter-
stattungen. Zum einen äußerte sich Außenminister
Steinmeier dahin gehend, dass er sich dafür einsetzen
werde, dass es nicht geliefert werde. Dann gab es Be-
richte, dass aber schon alles ausgeliefert sei. Dazu würde
ich gerne konkret wissen – ich denke, darauf haben wir
als Abgeordnete ein Recht –: Wie ist der Stand? Welche
Teile des Gefechtsübungszentrums sind an Russland ge-
liefert und welche noch nicht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
U
Nach meinem Kenntnisstand sind keine Teile dieses
Gefechtsübungszentrums ausgeliefert worden. Es fin-
den nach meinem Kenntnisstand dort Baulichkeiten
statt, aber nicht mit Gerät, das aus der Bundesrepublik
Deutschland geliefert worden ist.
Frau Höger, Sie haben das Wort zu einer zweiten
Nachfrage.
In diesem Gefechtsübungszentrum können Häuser-
kämpfe, Straßenkämpfe, urbane Kämpfe geübt werden.
Wie verträgt es sich mit einer verantwortungsvollen Si-
cherheits- und Außenpolitik, wenn so ein Übungszen-
trum an Länder wie Saudi-Arabien oder Russland gelie-
fert werden darf?
U
Wir haben kein Gefechtsübungszentrum an Saudi-
Arabien geliefert.
Damit sind Ihre Nachfragemöglichkeiten erschöpft,Frau Höger. Mir liegen keine weiteren Nachfragewün-sche vor.Die Frage 12 des Abgeordneten Dr. André Hahn unddie Frage 13 der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden wieauch die Frage 14 des Abgeordneten Oliver Krischerund die Frage 15 der Abgeordneten Kathrin Vogler sol-len schriftlich beantwortet werden.Danke, Herr Staatssekretär.Wir kommen zum Geschäftsbereich des AuswärtigenAmtes. Sämtliche Fragen hierzu – die Fragen 16 und 17der Abgeordneten Heike Hänsel, die Fragen 18 und 19des Abgeordneten Omid Nouripour, die Frage 20 derAbgeordneten Marieluise Beck, die Fragen 21 und 22
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2646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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der Abgeordneten Christine Buchholz, die Fragen 23und 24 der Abgeordneten Katrin Kunert, die Fragen 25und 26 des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, dieFrage 27 des Abgeordneten Andrej Hunko, die Fra-gen 28 und 29 des Abgeordneten Dr. Alexander Neu, dieFrage 30 der Abgeordneten Ulla Jelpke und die Frage 31der Abgeordneten Sevim Dağdelen – werden schriftlichbeantwortet.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fra-gen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. GünterKrings zur Verfügung.Die Frage 32 der Kollegin Dağdelen wie auch dieFrage 33 der Kollegin Jelpke sollen schriftlich beant-wortet werden.Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Martina Rennerauf:Durch welche Behörde haben welche Bundesbehörden
des Zeitpunktes?Bitte, Herr Staatssekretär.D
Herzlichen Dank. – Das war heute bereits ausführlich
Thema der Sitzung des Innenausschusses. Da wir dort
über die Frage des Neuigkeitswertes gesprochen haben,
bitte ich gleich schon einmal, mir nachzusehen, dass es
hier jetzt wahrscheinlich keinen Neuigkeitswert gibt, je-
denfalls nicht im Vergleich zur Sitzung des Innenaus-
schusses; aber dort waren ja nicht alle Kollegen zuge-
gen.
Auf die Frage zur Kenntniserlangung durch die Be-
hörden kann ich Folgendes sagen:
Mitteilungen über die Existenz der CD erfolgten
durch eine Behörde des Verfassungsschutzverbundes;
sprich: durch eine Landesbehörde. Der Generalbundes-
anwalt beim Bundesgerichtshof und das Bundeskrimi-
nalamt erlangten am 4. März 2014 und das Bundesamt
für Verfassungsschutz erlangte am 10. März 2014
Kenntnis von diesem Datenträger, wobei heute Morgen
die Differenzierung zwischen CD und DVD noch einmal
deutlich gemacht wurde. Dass es den Datenträger gibt,
ist also an den genannten Daten den jeweiligen Behör-
den zur Kenntnis gelangt.
Fragen zu Einzelheiten zu der betreffenden die Infor-
mation veranlassenden Verfassungsschutzbehörde und de-
ren Informationsbeschaffung kann die Bundesregierung
nicht beantworten. Dies folgt – Sie kennen das – aus der
Abwägung zwischen dem Schutz der verfassungsrecht-
lich garantierten Informationsrechte des Deutschen Bun-
destages und seiner Abgeordneten einerseits mit den zu
befürchtenden negativen Folgen für die künftige Ar-
beitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung und den daraus re-
sultierenden Beeinträchtigungen der Sicherheit der Bun-
desrepublik andererseits. Bereits aus der Nennung der
Behörde beispielsweise, wenn man also sagen würde,
welche Landesbehörde es war, könnten Rückschlüsse
auf deren konkrete Arbeitsweise gezogen werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Dr. Krings, für die jetzt auch öffentliche
Erörterung der Frage. Welche Landesbehörde es war,
kann man in der Presse nachlesen.
Ich würde gern wissen: Inwieweit haben Bundesbe-
hörden, also das BKA, aber hier insbesondere das Bun-
desamt für Verfassungsschutz, Einträge im Rechtsaußen-
forum eigentümlich frei im November 2013 ausgewertet,
in denen erstmals auf diese CD mit der Aufschrift „NSU/
NSDAP“ hingewiesen wurde und auch ein Zusammen-
hang mit dem mittlerweile verstorbenen V-Mann Corelli
hergestellt wurde? Inwieweit also hat die Abteilung Aus-
wertung im BfV diesen Foreneintrag zur Kenntnis ge-
nommen, und was ist daraufhin veranlasst worden?
D
Darauf muss ich ehrlich antworten, dass mir dazu ad
hoc keine Kenntnisse vorliegen. Das müssten wir viel-
leicht im Rahmen einer schriftlichen Antwort machen,
soweit es ohne Einstufung oder auch mit Einstufung be-
antwortet werden kann. Ich kann es Ihnen aktuell nicht
sagen.
Würden Sie bitte Ihr Mikrofon einschalten!
Das habe ich. Es hat etwas gedauert. – Ich bedanke
mich erst einmal für die Zusage, dass diese Frage schrift-
lich beantwortet wird.
Generell können Sie mir vielleicht sagen, ob das
Rechtsaußenforum eigentümlich frei Beobachtungsge-
genstand des BfV ist, weil dort jetzt schon zum zweiten
Mal sehr detaillierte Informationen aus dem Kontext des
NSU veröffentlicht wurden.
D
Das kann ich Ihnen ad hoc nicht sagen. Wie gesagt,
wir müssen schauen, welcher Einstufung das gegebenen-
falls unterliegt. Ich bin gern bereit, die Frage ins Haus
und in die nachgeordnete Behörde zu geben.
Gut. Dann gilt das als vereinbart. – Es gibt eine Nach-frage des Kollegen Ströbele zur Frage 34.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2647
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Herr Staatssekretär, ich habe zu Herrn Corelli nocheine Frage. Das beschäftigt ja nicht nur die Medien, son-dern auch den Deutschen Bundestag; darauf haben Sieschon hingewiesen.Es gibt die Behauptung – dazu hätte ich gern eine of-fizielle Stellungnahme der Bundesregierung –, dass HerrCorelli möglicherweise gar nicht Herr Corelli ist, son-dern dass es sich bei der Person, die gestorben ist, umeine andere Person handelt. Können Sie dem DeutschenBundestag und der Öffentlichkeit erklären, ob und wieHerr Corelli als solcher identifiziert worden ist?D
Diese Behauptung, Herr Abgeordneter, höre ich zum
ersten Mal. Es gibt auch keine Anhaltspunkte – mir sind
jedenfalls keine bekannt –, dass das so sein könnte. Er ist
identifiziert worden. Da gab es eine biologische Me-
thode, wenn ich das aus dem Innenausschuss richtig mit-
genommen habe; aber auch sein Bruder hat wohl an der
Identifizierung teilgenommen. Das sind die Informatio-
nen, die ich habe. Insofern wundert mich diese Behaup-
tung oder diese These.
Ich rufe – wir bleiben beim Gegenstand der gerade
behandelten Frage – die Frage 35 der Kollegin Martina
Renner auf:
Welche der auf der genannten CD befindlichen Dateien,
mit welchem Inhalt und Erstellungsdatum, lassen sich nach
Erkenntnissen der Bundesregierung dem V-Mann Corelli zu-
rechnen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Hier geht es um den Inhalt des Datenträgers bzw. um
dessen Zurechnung zu dem V-Mann Corelli. Diese Frage
– so haben wir das heute Morgen noch einmal gehört –
ist Gegenstand eines laufenden Ermittlungsverfahrens
des Generalbundesanwalts. Die Bundesregierung äußert
sich, wie Sie wissen, nicht zu den Einzelheiten laufender
Ermittlungsverfahren, um den Fortgang der Ermittlun-
gen nicht zu gefährden. Es geht nicht nur um den Ver-
storbenen – da muss man nicht mehr ermitteln –, aber es
geht um Personen im Umfeld. Trotz der grundsätzlich
bestehenden verfassungsrechtlichen Pflicht der Regie-
rung, Informationsansprüche des Bundestages zu erfüllen,
tritt hier nach sorgfältiger Abwägung der betroffenen
Belange das Informationsinteresse des Parlaments hinter
der Pflicht zur Durchführung von Strafverfahren zurück.
Das ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Insofern
gibt es hier ein daraus resultierendes Geheimhaltungs-
interesse in Bezug auf ein solches laufendes Ermitt-
lungsverfahren. Auch die Nennung einer Teilbewertung
durch den Generalbundesanwalt ist aus den genannten
Gründen nicht angezeigt.
Kollegin Renner, Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Herr Dr. Krings, dann will ich nicht zu Details, son-
dern zu dem Ermittlungsverfahren fragen, auf das Sie
jetzt verwiesen haben. Um welche möglichen Straftatbe-
stände geht es bei diesem Ermittlungsverfahren, und ge-
gen welche Personen wird es geführt? Oder wird es ge-
gen unbekannt geführt? Wenn Sie die Informationen
jetzt vielleicht nicht vorliegen haben, bitte ich um Nach-
reichung einer schriftlichen Antwort.
D
Das kann ich in der Tat jetzt nicht sagen, Frau Abge-
ordnete. Dabei handelt es sich um eine Behörde, die zum
Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums gehört.
Insofern müssen Sie die Frage noch einmal an das Justiz-
ministerium richten.
Okay.
Gibt es noch eine zweite Nachfrage?
Nein.
Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 36 des Kollegen Hans-
Christian Ströbele:
Werden die drei momentan vom Bundesamt für Verfas-
sungsschutz ausgeschriebenen IT-affinen Sachbearbeiterinnen
und Sachbearbeiter im Bereich „Zentrale Fachunterstützung“,
welche laut Ausschreibung auch mit der „Auswertung gesam-
melter Informationen“ betraut werden sollen, von Mitarbei-
tern des Bundesnachrichtendienstes in der Nutzung von Da-
tensammlungssoftware, wie beispielsweise XKeyscore, Prism
oder anderen, geschult , und in-
wiefern werden die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendiens-
tes, die mit der Schulung beauftragt sind, selbst auch heute
noch vom amerikanischen Geheimdienst NSA oder anderen
für die Schulung ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen
ausgebildet?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Bei der Fragestellung geht es um angeblich drei mo-mentan vom Bundesamt für Verfassungsschutz ausge-schriebene Stellen für IT-affine Sachbearbeiterinnen undSachbearbeiter. Die Ausschreibung im Jahre 2014, HerrAbgeordneter, erfolgte sowohl für Personen mit einemIT-Studium als auch für IT-affine Sachbearbeiter. Siewar aber nicht auf eine bestimmte Anzahl von Personen
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2648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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festgelegt. Die konkrete Verwendung der durch die Aus-schreibung gewonnenen Mitarbeiter ist allerdings offen.Erst nach Festlegung dieser Verwendung wird über denjeweiligen Schulungsbedarf entschieden. So ist das Pro-zedere bei einer Einstellung in der Behörde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke. – Das ist mir natürlich bekannt. Laut Aus-
schreibungstext geht es – das soll die Aufgabe sein – ge-
rade auch um die Auswertung gesammelter Informatio-
nen. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass für die
neuen Mitarbeiter im Bereich von Prism und Tempora
und all der neuen Systeme – sie kommen aus den USA
und stehen dem Bundesnachrichtendienst offenbar zur
Verfügung – eine Beschäftigung in dieser Richtung ge-
plant ist. Dazu können Sie nichts sagen. Das deutet da-
rauf hin: Es handelt sich um gesammelte Daten, die aus-
gewertet werden sollen. Soweit ich weiß, ist Prism das
beste System dafür.
D
Ich glaube, da muss man differenzieren und darf nicht
zu viele Dinge durcheinanderwerfen, Herr Abgeordne-
ter. Prism ist, soweit mir bekannt ist, keine Software,
sondern das Programm einer Behörde. Das ist kein Pro-
gramm im Sinne eines Softwareprogramms, sondern ein
Arbeitsbereich mit einer bestimmten Herangehensweise.
XKeyscore – das hatten Sie ausdrücklich in der Frage er-
wähnt – ist in der Tat eine Software. Dazu gibt es bereits,
wenn ich es richtig sehe, Antworten auf Fragen von Ih-
nen, in denen bestätigt wurde, dass dieses Programm
auch als Software Verwendung findet. Es ist keine Da-
tensammelsoftware, sondern es hilft bei der Auswertung
rechtmäßig gesammelter Daten. Selbstverständlich ist
nicht auszuschließen, dass diese Mitarbeiter – oder ei-
nige von ihnen – diese Software anwenden werden.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Die zweite Nachfrage ist eigentlich schon in der
Frage enthalten, nämlich ob sie jetzt schon vom Bundes-
nachrichtendienst geschult worden sind. Das ist die ei-
gentliche Frage bzw. Teil 1 der Frage gewesen. Teil 2 der
Frage ist, ob sie von der NSA überhaupt oder weiter ge-
schult werden.
D
Der Bundesnachrichtendienst schult bereits jetzt Per-
sonal, das mit dieser Software umgeht. Er hat offenbar
eine Expertise, die beim Verfassungsschutz so nicht vor-
handen ist. Es ist – deshalb habe ich die Frage eben so
beantwortet – die Frage, ob die jetzt Einzustellenden
diese Software überhaupt nutzen werden und ob es dann
Schulungsbedarf gibt. Ob sie sie nutzen werden, ist eine
Frage, die nicht zu beantworten ist. Was Sie wahrschein-
lich aber auch interessiert: Natürlich werden für die Nut-
zung dieser Software bereits jetzt Schulungen durch Mit-
arbeiter des Bundesnachrichtendienstes durchgeführt.
Die Frage, inwieweit diese wiederum von anderen
Diensten – Sie haben zu Recht die Amerikaner ange-
sprochen, weil die Software von da kommt – geschult
werden, ist, wie Sie sich denken können, eine Frage zur
nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, und dazu kön-
nen wir hier, jedenfalls in dieser Form, keine Auskünfte
geben. Es wäre allerdings möglich, so etwas in der Ge-
heimschutzstelle des Bundestages auszulegen, sodass
Sie dann auf diese Art und Weise davon Kenntnis neh-
men können.
Wir kommen zur Frage 37 des Kollegen Hans-
Christian Ströbele:
Teilt die Bundesregierung – entgegen ihrer bisherigen
des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schles-
wig-Holstein, ULD, vom 23. April 2014, wonach sie verfas-
sungsrechtlich „alternativlos“ verpflichtet ist, Edward
Snowden rasch um Einreise nach Deutschland zu bitten, um
hier frei über Gefährdungen informationeller Bürger- und
Grundrechte durch die NSA aufzuklären, was die USA bisher
verweigern, und mit welchen Tatsachen und konkreten Er-
kenntnissen begründet die Bundesregierung ihre bisherige
Annahme, gegenüber ihrer Kooperationspflicht mit dem Un-
tersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wöge ver-
fassungsrechtlich ihre, nach meiner Auffassung unbelegte so-
wie unrealistische Vermutung schwerer, eine Einreise Edward
Snowdens nach Deutschland könne die Kooperation US-ame-
rikanischer mit hiesigen Geheimdiensten einschränken?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Die Antwort kann ich relativ kurz halten, Herr Abge-ordneter: Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen einermöglichen Einreise von Herrn Snowden nach Deutsch-land hat die Bundesregierung dem Untersuchungsaus-schuss des Deutschen Bundestages am 2. Mai 2014 ei-nen umfassenden Bericht vorgelegt. Die Regierung siehtsich mit Blick darauf nicht veranlasst, darüber hinausnoch weiter Stellung zu nehmen. Manchen war ja, wennich das so sagen darf, sogar diese Stellungnahme schonzu weitgehend.
Damit bin ich natürlich überhaupt nicht zufrieden.Wir werden das sicherlich auch im Untersuchungsaus-schuss erörtern, wahrscheinlich sogar öffentlich. Daswird man also sehen.Diese gutachterliche Äußerung bzw. Stellungnahmeder Bundesregierung liegt mir vor. Sie ist aber, wie ich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2649
Hans-Christian Ströbele
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inzwischen festgestellt habe, herabgestuft worden; dasheißt, sie kann allen vorliegen. Bevor sie mir vorlag, lagsie schon – ich weiß nicht – mindestens einem DutzendMedien vor, und die haben daraus auch schon veröffent-licht. Das wollen wir jetzt aber nicht erörtern, sondernmir geht es darum, dass sich da tatsächlich die Passagefindet, dass gerade im geheimdienstlichen Bereich mög-licherweise erhebliche Einschränkungen auf Dauer ent-stehen, wenn Herr Snowden nach Deutschland kommensollte. Nicht in der Stellungnahme findet sich aber: Wiekommt die Bundesregierung darauf? Gibt es da Äuße-rungen, gibt es da Fakten, die dafürsprechen? Nach al-lem, was ich weiß, erscheint mir das doch sehr herbeige-sucht, weil die USA und die NSA mindestens so sehr aneiner guten Zusammenarbeit in diesem Bereich interes-siert sind, wie Deutschland vielleicht daran interessiertist.D
Sie haben ja eben darauf hingewiesen, dass manche
Dinge auch in der Presse zu lesen sind. Wir brauchen uns
gegenseitig nichts vorzumachen, wie eine Reaktion von
ausländischen Diensten – ich sage es jetzt einmal allge-
mein – ausfällt, wenn ein Staat in solchen Situationen
praktisch einen sicheren Hafen, um es einmal untech-
nisch zu sagen, anbietet. Ich glaube, wir können uns aus-
malen, dass das nicht ohne Implikationen bleibt, auch
was die Zusammenarbeit angeht. Ich will jetzt gar nicht
von den grundsätzlichen Außenbeziehungen sprechen;
so hoch will ich gar nicht greifen. Aber dass das Auswir-
kungen auf die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit
haben wird, davon kann man schon ausgehen. Es wäre,
glaube ich, naiv, das auszuschließen.
Noch einmal: Ich kann nur darauf hinweisen, dass in
der Stellungnahme ausführlich die Gründe benannt wer-
den. Die Stellungnahme ist inzwischen offen; sie war
zuerst als NfD eingestuft. Es handelte sich um eine Ab-
wägungsfrage. Der Vorsitzende des Untersuchungsaus-
schusses hat uns gebeten, es als offen einzustufen, um,
wie auch Sie es ja betonen, gerade über die rechtliche
Argumentation, was gegen eine Vernehmung in
Deutschland spricht, transparent und nicht nur in dem
achtköpfigen Untersuchungsausschuss diskutieren zu
können. Die rechtlichen Argumente ergeben sich inso-
fern daraus.
Um sich ausmalen zu können, was das für Implikatio-
nen für die außenpolitische Zusammenarbeit hat, dazu
braucht man – das sage ich noch einmal – keine große
Fantasie.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, dass Sie nicht in
der Lage sind, Fakten zu nennen, die diesen Entschluss
insbesondere hinsichtlich der geheimdienstlichen Zu-
sammenarbeit begründen könnten, also dass Sie keine
kennen?
D
Es gibt presseöffentliche Äußerungen, die wir beide
kennen. Es gibt da für mich hinreichend starke Indi-
zien – Fakten, wenn Sie so wollen. Insofern ist das ein
Punkt, der in die Abwägung einzubeziehen ist. Natürlich
ist die Bundesregierung verpflichtet – das tut sie auch
gern –, dem Untersuchungsausschuss Amtshilfe zu leis-
ten; aber diese Amtshilfe findet ihre Grenze, wenn die
notwendige Hilfe dem Staatswohl zuwiderlaufen würde.
Hierzu zählen eben auch auswärtige Beziehungen und die
von mir eben genannten Fragen der Zusammenarbeit.
Zu einer Zusatzfrage hat die Kollegin Martina Renner
das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. – Auf Seite 25 des Gutach-
tens der Bundesregierung kommen Sie selbst zu dem Er-
gebnis, dass die Einholung einer Stellungnahme durch
eine US-amerikanische Kanzlei außerhalb des Zustän-
digkeitsbereiches der Bundesregierung liegt. Diese
Kanzlei hat sich ja zur Frage, ob sich Abgeordnete des
Deutschen Bundestages strafbar machen, wenn sie Herrn
Snowden einladen und vernehmen, geäußert.
Wenn Sie selbst der Auffassung sind, dass das außer-
halb Ihres Zuständigkeitsbereiches lag, würde mich
zweierlei interessieren – ich stelle also zwei Fragen,
wenn das möglich ist –: Erstens. Warum haben Sie dann
diese US-amerikanische Kanzlei beauftragt? Zweitens.
Teilen Sie unsere rechtliche Auffassung, dass damit die-
ser Teil des Gutachtens, also die Stellungnahme der US-
Kanzlei, nichtig ist und nicht in die Erörterung des Un-
tersuchungsausschusses einbezogen werden kann?
D
Ich verstehe den Satz nicht so, dass wir nicht berech-tigt sind, diese Auskünfte einzuholen und sie dem Aus-schuss zu präsentieren. Das wäre ja ein Widerspruch insich, wenn wir sagen würden, dass wir das gar nicht dür-fen, es aber tun. Vielmehr fällt es in seinen Zuständig-keitsbereich, das auch selber zu machen.Ich finde, auch aufgrund des Antrags, den die Koali-tionsfraktionen geschrieben haben – da gibt es eine Zif-fer 4, in der es auch um die strafprozessualen Konse-quenzen der Arbeit eines Untersuchungsausschussesgeht –, ist es geradezu die Pflicht der Bundesregierung,auf mögliche Implikationen, auch in strafrechtlicherHinsicht und im Hinblick auf andere Staaten – hier ginges ja um Großbritannien und um die Vereinigten Staaten;bei Großbritannien kam man zu einem positiverenErgebnis, bei den USA kam es zu einem „caveat“ –, hin-zuweisen. Ich finde, Abgeordnete des Deutschen Bun-destages und auch Mitglieder des Untersuchungsaus-schusses haben kein Recht auf Nichtwissen. Sie sollten
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2650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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über die strafrechtlichen Implikationen aufgeklärt wer-den. Insofern würde ich nicht mit dem Begriff „Nichtig-keit“ operieren. Es geht schließlich um ein Wissen. Wis-sen kann man nicht für nichtig erklären. Es ist jetzt da,und es sollte auch da sein. Sollte es zu einer Einschlägig-keit amerikanischer strafrechtlicher Vorschriften durchdie Arbeit des Untersuchungsausschusses kommen,heißt das natürlich nicht, dass die Bundesregierung sichnicht trotzdem schützend vor die Mitglieder des Unter-suchungsausschusses stellt. Trotzdem gehört es zum Ge-samtbild, zu wissen, wie die Rechtslage in den USA ist.Diese Informationen haben wir gegeben.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums des Innern. – Danke, Herr Staatsse-
kretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die
Frage 38 der Kollegin Veronika Bellmann, die Fragen 39
und 40 des Kollegen Volker Beck und die Frage 41 der
Kollegin Cornelia Möhring sollen schriftlich beantwor-
tet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette
Kramme zur Verfügung.
Die Frage 42 der Kollegin Cornelia Möhring, die Fra-
gen 43 und 44 der Kollegin Katrin Werner sowie die
Frage 45 der Kollegin Azize Tank sollen schriftlich be-
antwortet werden.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Markus
Kurth:
Wie viele Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr, die inner-
halb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit
mindestens 24 Monate in einem Versicherungspflichtverhält-
nis gestanden haben, wurden im Zeitraum vom 1. April 1999
bis zum 31. Januar 2006 von ihren Arbeitgebern entlassen,
und wie viele Arbeitgeber waren in diesem Zeitraum nach der
Vorschrift des § 147 a des Dritten Buches So-
zialgesetzbuch, SGB III, verpflichtet, der Bundesagentur für
Arbeit das für ältere Arbeitnehmer gezahlte Arbeitslosen-
geld I zu erstatten?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
A
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Kurth, Ihre Frage gliedert sich in zwei Bestandteile. Be-
züglich des ersten Teils liegen der Bundesregierung
keine Erkenntnisse vor. Bezüglich des zweitens Teils,
also zu den angeforderten Zahlen, kann ich Folgendes
sagen: Die Bundesagentur für Arbeit hat uns mitgeteilt,
dass im Jahr 2004 für 794 Zugänge in Arbeitslosengeld
bzw. für 4 021 Bestandfälle eine Erstattungspflicht des
Arbeitgebers nach § 147 a SGB III be-
standen hat. Im Jahr 2005 waren es 1 639 betreffend den
Zugang bzw. 4 148 Fälle betreffend den Bestand. Im
Jahr 2006 waren es 3 099 Fälle betreffend den Zugang
bzw. 4 650 Fälle betreffend den Bestand. Ihre Frage ist
somit beantwortet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Wenn Arbeitgeber Beschäftigte zwei Jahre vor Ren-
teneintritt entlassen, soll die sogenannte Erstattungsrege-
lung im Zuge des Rentenpaketes verhindern, dass es zu
sogenannten Frühverrentungen kommt. Glauben Sie
nicht, dass angesichts der niedrigen Fallzahlen, die Sie
nennen, und auch angesichts der relativ geringen Daten-
grundlage die Erstattungsregelung de facto nicht doch
ein ziemlich stumpfes Schwert ist?
A
Herr Kurth, das denke ich nicht. Man muss wissen,
dass zwei Bestandteile sicherstellen sollen, dass es nicht
zu Frühverrentungen kommt. Der erste Bestandteil ist,
dass die Sperrzeit eines Arbeitnehmers berücksichtigt
werden soll. Das heißt: Wenn der Arbeitnehmer an der
Kündigung mitgewirkt hat, wird es zu solch einer Sperr-
zeit kommen. Das ist der eine Bestandteil.
Der andere Bestandteil, der meines Erachtens das er-
forderliche Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmerschaft
und Arbeitgeberschaft herstellt, ist die ergänzende Rege-
lung der Erstattung des Arbeitslosengeldes. Wenn Sie
die Zahlen aus der Vergangenheit heranziehen, dann
müssen Sie auch berücksichtigen, dass diese Erstat-
tungsregelung nur Sachverhalte für ältere Arbeitnehmer
umfasst. Daher sind diese Zahlen relativierend zu be-
trachten.
Am Montag fand eine Sachverständigenanhörung
statt, in der uns die Experten durchgängig mitgeteilt ha-
ben, dass sie nicht von einer Frühverrentungswelle aus-
gehen.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Ich war bei der von Ihnen angesprochenen Anhörung.
Der DGB ist der Einschätzung der Bundesagentur für
Arbeit gefolgt, dass es eine sehr bürokratische Regelung
ist. Der DGB hat den Vorschlag gemacht, die Erstat-
tungsregelung zu vereinfachen. Gedenkt die Bundesre-
gierung, diesem Vorschlag des DGB zu folgen? Wenn ja,
wie sieht gegebenenfalls eine Vereinfachung und damit
eine höhere Wirksamkeit der Erstattungsregelung aus?
A
Herr Kurth, bislang handelt es sich lediglich um einenVorschlag der Arbeitsministerin, der in den Medienkommuniziert worden ist. Es liegt bislang kein expliziterGesetzestext vor. Wir werden darauf achten, dass die Re-gelung möglichst unbürokratisch wird. Die Verhandlun-gen mit dem Koalitionspartner stehen selbstverständlichnoch aus.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2651
(C)
(B)
Wir kommen damit zur Frage 47 des Kollegen
Markus Kurth:
Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung aufgrund der
hohen Steuereinnahmen, sich bereits in dieser Legislatur-
periode, das heißt deutlich vor dem Jahr 2019, mit zusätz-
lichen Mitteln an den ausgeweiteten Leistungen für Kinder-
erziehung für vor dem Jahr 1992 geborene Kinder zu
beteiligen, und zu welchem Ergebnis kam die Erhebung des
GKV-Spitzenverbandes – GKV: gesetzliche Krankenversiche-
rung –, ob alle Krankenkassen die Datenlücke für den gesam-
ten infrage kommenden Zeitraum schließen können, um zwi-
schen Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld und Zeiten des
Bitte, Frau Staatssekretärin.
A
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Auch diese Frage
von Herrn Kurth gliedert sich in zwei Abschnitte. Auf
die erste Teilfrage antworte ich wie folgt: Es ergeben
sich keine Auswirkungen auf die vorgesehene Finanzie-
rung. Bei der Finanzierung der Leistungsverbesserung
des Rentenpaketes wird berücksichtigt, dass die gesetzli-
che Rentenversicherung finanziell gut aufgestellt ist, auf
lange Sicht aber die Beitragszahler nicht überfordert
werden dürfen.
Zur zweiten Teilfrage ist Folgendes mitzuteilen: Der
GKV-Spitzenverband hat uns mitgeteilt, dass nach einer
Erhebung bei seinen Mitgliedskassen, mit Ausnahme
von zwei Rückmeldungen, nahezu alle Krankenkassen
grundsätzlich in der Lage sind, Auskunft über die Zeiten
der Krankenversicherungspflicht aufgrund des Bezuges
von Leistungen der Arbeitsförderung differenziert nach
Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Arbeitslosenhilfe min-
destens für die Zeit nach 1983 und in den neuen Ländern
ab 1991 zu geben. Diese Aussage gilt im Übrigen grund-
sätzlich auch für die Zeiten der Krankenversicherungs-
pflicht aufgrund der Teilnahme an Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben bzw. von berufsfördernden Maßnah-
men zur Rehabilitation. Daten über Versicherungszeiten
vor 1983 stehen nur noch vereinzelt zur Verfügung.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Zum ersten Fragenkomplex, zur Finanzierung der
Mütterrente, will ich noch einmal nachfragen. Der Deut-
sche Juristinnenbund hat in seiner Stellungnahme sehr
deutlich gemacht, dass die Beitragszahlerinnen und Bei-
tragszahler auch für Mütter zahlen, die eigentlich über
Versorgungswerke abgesichert sind. Er hält das verfas-
sungsrechtlich für problematisch. Angesichts dessen
wäre es doch sachgerecht und geboten, gerade wenn die
Steuereinnahmen so hoch sind wie im Moment, bereits
frühzeitig mit einem höheren Steueranteil zur Finanzie-
rung der Mütterrente beizutragen.
A
Es gibt hierzu eine Koalitionsvereinbarung, die den
Finanzierungsrahmen umschrieben hat. Die Bundes-
ministerin hat überdies aushandeln können, dass ab dem
Jahr 2022 2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen
aus Bundeszuschüssen für die Kosten der Mütterrente;
im Jahr 2022 in Höhe von 6,5 Milliarden Euro.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Eigentlich wollte ich jetzt zu den Daten kommen.
Aber ich muss da nachhaken: Wie sehen Sie denn die
Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes? Darin
wird kritisiert, dass die Erziehungsjahre von Müttern, die
überhaupt nicht in der Rentenversicherung sind, sondern
einen ganz anderen Absicherungsweg – etwa über Ver-
sorgungswerke – gewählt haben, mit Beitragsmitteln fi-
nanziert werden.
A
Bei dieser Frage müsste ich auf eine schriftliche Ant-
wort verweisen. Nach meiner Erinnerung ist es so, dass
das Bundessozialgericht entschieden hat, dass diese
Fälle zusätzlich über die Rentenversicherung abzu-
decken sind. Danach hätte die Rentenversicherung – un-
ter der Annahme dieses Umstandes – gar keine Alterna-
tive.
Wir haben eine weitere Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, darf ich Ihre Antwort – Sie ha-
ben einen Hinweis zur Finanzierung der sogenannten
Mütterrente gegeben und sagten, wenn ich es richtig ver-
standen habe, dass ab dem Jahr 2022 zusätzliche Mittel
aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden sollen,
also eine Steuerfinanzierung ausgehandelt wurde, was
Sie als einen positiven Impuls der Ministerin dargestellt
haben – als ein Teileingeständnis werten, dass die jetzt,
in dieser Legislaturperiode, vorgesehene Finanzierung
im Prinzip nicht dauerhaft sachgerecht ist?
A
Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal auf den
Koalitionsvertrag verweisen. Es ist unsere Sache, diesen
Koalitionsvertrag umzusetzen. Die ursprünglichen Stel-
lungnahmen der einzelnen Parteien haben Sie sicherlich
den Medien entnehmen können.
Danke. – Mit dieser Zusatzfrage der Kollegin Hajduksind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales.
Metadaten/Kopzeile:
2652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Verteidigung.Die Fragen 48 und 49 der Abgeordneten AgnieszkaBrugger sollen schriftlich beantwortet werden.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.Die Frage 50 der Abgeordneten Pia Zimmermann sollschriftlich beantwortet werden.Damit sind die Fragen, die die Kolleginnen und Kol-legen zur heutigen Fragestunde eingereicht haben, er-schöpft.Ich unterbreche die 32. Sitzung des Bundestages biszum Beginn der Aktuellen Stunde zur aktuellen Lage inder Ukraine. Um 15.35 Uhr setzen wir unsere Arbeitfort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treten wieder indie Tagesordnung ein. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undSPDZur aktuellen Lage in der UkraineIch eröffne die Aussprache. Als Erster hat das WortBundesminister Dr. Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es mit ei-nem Wort zu sagen: Die Lage im Osten und im Südender Ukraine ist furchtbar. Wir alle waren über die Fern-sehnachrichten Zeugen von Besetzungen von Häusern,vor allen Dingen in Odessa am vergangenen Freitag, alsmindestens 40 Menschen in einem Haus gestorben sind,in das zwei Gruppen vor der Gewalt auf der Straße ge-flüchtet waren. Ukrainische Sicherheitskräfte und pro-russische Separatisten sind auch gestern und wohl auchim Laufe des heutigen Tages wieder brutal aufeinander-gestoßen. Es gab Verletzte, auch Tote in Donezk,Slawjansk und Odessa. An der Grenze zur Ukraine ste-hen russische Soldaten, und natürlich haben viele Men-schen Angst davor, dass sie irgendwann die Grenzeüberschreiten könnten.Die Nachrichten sind erschreckend. Wir alle spüren indiesen Tagen nicht nur, dass die Nachrichten immerschlechter werden, sondern auch, dass sie immer schnel-ler schlechter werden. Ein Brandbeschleuniger kommthinzu: Je dramatischer die Ereignisse, desto schärfer dieöffentliche Rhetorik. Ich weiß zwar, dass das, was vieleBeteiligte über die politischen Lautsprecher hinausrufen,in der diplomatischen Arbeit oft viel pragmatischerklingt; aber dennoch werden Aktion und rhetorischeReaktion immer mehr zu einem Teufelskreis. Irgend-wann droht der Point of no Return. Dann stehen wir aufunserem Kontinent tatsächlich an der Schwelle zu einerKonfrontation, die wir eigentlich, 25 Jahre nach demEnde des Kalten Krieges, nicht mehr für möglich gehal-ten haben.Ich beschreibe diese Lage nicht düster; ich beschreibesie ehrlich. Ich tue das nicht, um Ängste zu schüren, son-dern ich tue das, weil wir jetzt auch hier in Deutschlandzeigen müssen, dass wir bereit sind, uns gegen jede wei-tere Eskalation mit unseren Möglichkeiten, die nichtuferlos sind, zu stemmen – ich sage und betone: mit al-len diplomatischen Mitteln –, um tatsächlich immer wie-der Auswege zu bahnen. Ich bin davon überzeugt: Nochist es nicht zu spät, noch kann die Vernunft die Oberhandgewinnen; aber sie kann eben nur die Oberhand gewin-nen, wenn alle Beteiligten bereit sind, auf den Weg vonpolitischen Lösungen zurückzufinden, allen voran inMoskau und in Kiew. Darum ringen wir jeden Tag.
Ich weiß es auch: Viel Zeit ist nicht mehr. Am 25. Maisollen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sein. Weilnicht mehr viel Zeit ist, war ich am vergangenen Freitag-morgen beim gegenwärtigen Chef der OSZE, bei DidierBurkhalter, in der Schweiz, hatte Freitagmittag FrauAshton nach Berlin eingeladen und bin gestern nachWien geflogen, um dort den ukrainischen Außenministerzu treffen, am Ende auch Sergej Lawrow, um etwas vor-zubereiten, was ich in der gegenwärtigen Situation fürdringend notwendig halte und was ich in fünf knappenThesen gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitungbeschrieben habe:Erstens. Ich glaube, wir brauchen noch einmal eineZusammenkunft der großen Vier, die in Genf bereitszusammengetroffen sind – Ukraine, Russland, EU undUSA –, und zwar nicht, weil Genf I ein Fehler war, son-dern weil nach Genf nichts folgte, um ein kluges politi-sches Agreement tatsächlich Schritt für Schritt in die Tatumzusetzen.Zweitens. Wir brauchen eine Verständigung darüber– ich sage: eine Verständigung auch mit Russland –, dassdie Wahlen am 25. Mai in der Ukraine tatsächlich statt-finden.
Ich habe gestern mit der Überzeugungskraft, die mir zurVerfügung steht, meinem russischen Kollegen Lawrownoch einmal gesagt: Gerade ihr, die ihr die Legitimitätder gegenwärtigen Führung in der Ukraine bezweifelt,müsstet das allergrößte Interesse daran haben, dass dieerste Institution der politischen Führung in der Ukrainejetzt neu gewählt wird. – Im Verlaufe des Jahres kannman dann über Parlamentswahlen und die Wahl einerneuen Regierung nachdenken. Aber die Präsident-schaftswahl am 25. Mai sollte und muss der Beginn sein.Drittens. Ich glaube, dass es, um die Wahlen am25. Mai durchzuführen, dringend notwendig ist, dass wirzu diesem Zeitpunkt auch das einleiten, was fehlt: einen
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nationalen Dialog. Dafür gibt es ganz viele Ideen. Aberman muss beginnen, diese Ideen umzusetzen. Man kanndas machen, indem man Bürgermeisterkonferenzen ein-beruft. Man kann das machen, indem man Gouver-neurskonferenzen mit Teilnehmern aus allen Teilen derUkraine einberuft. Man kann das machen, was in ande-ren europäischen Ländern in Phasen des Umbruchs Nut-zen gebracht hat: runde Tische, in diesem Fall unter Be-teiligung der Ostukraine und unter Beteiligung dersüdlichen Ukraine und, wo es nicht von selbst läuft, un-ter Mediation der OSZE.Viertens. Wir brauchen die Einleitung einer Verfas-sungsreform, bei der sich alle Regionen des Landes inden Institutionen, in denen diese Reform beraten wird,tatsächlich vertreten fühlen.Fünftens. Wir brauchen einen Prozess, in dem dieSchritte beschrieben werden, mit denen wir zur Entwaff-nung der illegalen Gruppierungen und Räumung öffent-licher Orte bzw. öffentlicher Gebäude kommen.Dies sind fünf klare Vereinbarungen, die man treffenmuss und für die man Umsetzungsschritte vereinbarenmuss. Das kann auf der Grundlage der Genfer Vereinba-rung vom 17. April geschehen. Die Gespräche, die ichdazu geführt habe, haben mir jedenfalls gezeigt: Es gibteigentlich niemanden, der ein erneutes Genfer Treffenablehnt. Aber vor einem nächsten Treffen, einem Treffenfür konkretere Umsetzungsschritte, darf die Latte nichtjeden Tag höher gelegt werden. Es kommt jetzt daraufan, dass alle vier Beteiligten in der Lage und bereit sind,die gelegten Hürden tatsächlich zu überspringen. Daranarbeiten wir.Ich weiß: Die Diplomatie bewegt sich immer zu lang-sam, in kleinen Schritten vorwärts. Natürlich sehe ich,dass jede Besetzung öffentlicher Gebäude, jede Aus-schreitung mit Gewalt uns weiter zurückwirft. Aber trotzaller Enttäuschung – ich teile Ihre Enttäuschung –: Wennuns Gewaltakte zurückwerfen, müssen wir versuchen,uns in die andere Richtung zu bewegen, uns nach vornezu bewegen. Deshalb habe ich geschrieben: Gerade inder gegenwärtigen Situation ist und darf Aufgeben keineOption sein.
Nun weiß ich, dass es überall auf der Welt, auch inEuropa, immer wieder Stimmen gibt, die etwas anderesvon Außenpolitik erwarten. Das findet sich in der Kritikwieder, dass wir angeblich nicht entschieden genugseien, dass wir mehr Entschlossenheit, mehr Stärke,mehr Strength in unserer Außenpolitik zeigen müssten.Das kann man ja sagen. Nur: Man muss sich über dieAlternativen im Klaren sein. Was heißt das, jenseits vondiplomatischen Druckmitteln? Wer wirklich diese be-hauptete Stärke zeigen will, der muss auch zu etwas be-reit sein, wozu ich nicht bereit bin, nämlich dazu, dieAnwendung militärischer Mittel in einer solchen Situa-tion mitzudenken. Ich weiß mich einig mit der großenMehrheit dieses Hauses, dass eine militärische Lösungkeine Lösung wäre, sondern ein Weg in die größere Ka-tastrophe.
Deshalb sage und schreibe ich,
wo immer ich kann – auch gegen Ihre Kritik –: Eskommt nicht auf diese Stärke-Rhetorik an. Nicht Stärkeund Schwäche sind in solchen Situationen entscheidend,sondern es ist Klugheit. Die Außenpolitik, die nur in denKategorien von Stärke und Schwäche denkt, will amEnde Gewinner und Verlierer produzieren. Kluge Au-ßenpolitik – und die brauchen wir in der jetzigen Situa-tion – denkt voraus an Konfliktlösung. Deshalb weißkluge Außenpolitik, dass ein Automatismus vermiedenwerden muss und eine Eskalation vermieden werdenmuss, die am Ende – davon bin ich überzeugt – nur Ver-lierer produzieren wird.Es gab am vergangenen Wochenende einen ganz klei-nen Hoffnungsschimmer; jedenfalls habe ich das sogesehen. Am Samstag ist es uns, sozusagen in letzerMinute, gemeinsam mit der OSZE inmitten der schonstattfindenden Kämpfe um Slowjansk gelungen, diezwölf Militärbeobachter, die jetzt Gott sei Dank in Si-cherheit und bei ihren Familien sind, aus der Geiselhaftzu befreien. Das war ein Hoffnungsschimmer für Diplo-matie. Trotz der umkämpften Situation in Slowjansk war– das habe ich in den letzten Stunden davor kaum nochfür möglich gehalten – ein Mindestmaß an Zusammenar-beit möglich, nicht nur mit unseren Partnern, sondernauch zwischen Kiew und Moskau. Deshalb habe ichmich bei allen Beteiligten bedankt, in Kiew, in Russland,bei der OSZE und insbesondere bei demjenigen, der inletzter Minute geschickt wurde: beim russischen Diplo-maten Wladimir Lukin. Alle haben dazu beigetragen,dass die Freilassung gelingen konnte. Deshalb ist dieseStelle, glaube ich, der richtige Platz für einen Dank.
Ich sage das in aller Offenheit auch deshalb, weil ichmanche Kritik, die es in diesen Tagen an der OSZE ge-geben hat, nicht ganz verstanden habe. Ich habe, ehrlichgesagt, nicht ganz verstanden, warum man plötzlich aufdie Idee kommt, den unterschiedlichen OSZE-Mis-sionen, die ja keine Erfindung dieser Tage sind, eineunterschiedliche Wertschätzung entgegenzubringen. DieOSZE – das darf ich all denjenigen, die es vergessen ha-ben, in Erinnerung rufen – ist eine zentrale Errungen-schaft der internationalen Sicherheitsarchitektur der70er-Jahre, ein Kind der Entspannungspolitik.Mit dem Wiener Dokument, über das so viel fanta-siert worden ist, hat man der OSZE am Beginn der 90er-Jahre ein zusätzliches Instrument der Transparenz an dieHand gegeben – nichts anderes ist passiert –, ein Instru-ment, das in den vergangenen 20 Jahren von allen Seitenimmer wieder genutzt worden ist, auch von Russland.Deshalb war es richtig – ich sage das in aller Offenheit –,dass nach dem Wiener Dokument auch diese Mission inder Ostukraine vor Ort war. Diejenigen, die das kritisie-
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ren, sollten ein bisschen darüber nachdenken, was pas-siert wäre, wenn diese OSZE-Inspektoren nicht Ge-rüchte korrigiert hätten, nach denen Russland schonganz am Beginn der Krim-Krise mit Streitkräften aufukrainischem Boden gestanden habe. Diese Gerüchtegab es, und sie sind von den Militärbeobachtern derOSZE widerlegt worden. Deshalb will ich ganz klar sa-gen: Für mich kommt eine unterschiedliche Wertschät-zung der OSZE-Missionen nicht in Betracht. Sie sind al-lesamt Teil der großen OSZE-Familie. Diejenigen, diesich in Systemen der internationalen Sicherheit bewe-gen, die eine Wertschätzung für die Errungenschaftender Entspannungspolitik haben, sollten und dürften daseigentlich nicht kritisieren, meine Damen und Herren.
Deshalb ganz zum Schluss: So richtig es war, dass dieOSZE in Gestalt der Mission nach dem Wiener Doku-ment vor Ort war, so richtig finde ich es, dass wir denWeg weitergegangen sind mit der Einrichtung einer Be-obachtermission, die langsam aufgebaut wird. Ebensorichtig finde ich es, dass gleichzeitig jetzt der Aufbau ei-ner ODIHR-Wahlbeobachtungskommission stattfindet.Damit sind innerhalb der Ukraine unter einem Dachgleichzeitig drei Missionen der OSZE unterwegs; sie alleversuchen, die Situation dort zu beruhigen und weitereVerschärfungen der Situation nicht zuzulassen.Wer das nicht will, meine Damen und Herren, wer an-dere Wege für richtig hält oder gar kritisiert, dass wir mitdiesem Ansatz einer diplomatischen Entschärfung derSituation scheitern könnten, der hat zwar recht – mankann scheitern –; man muss aber auch einen Augenblicklang an die Alternativen denken, und die sind allesamtviel schlechter. Deshalb sage ich: Aufgeben ist keineOption.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!In einer Frage gebe ich dem Außenminister sofort recht:Es gibt keine sinnvolle Alternative zu diplomatischenLösungen. Die Ukraine steht am Rande eines Bürger-krieges. Wir müssen alle Kraft aufwenden, damit sichdie Situation nicht zu einem Bürgerkrieg weiterent-wickeln kann.
Das ist die politische Aufgabe dieses Hauses, unserer ge-meinsamen Politik. Als ersten Schritt müssen wir unsjetzt darauf konzentrieren, einen Waffenstillstand herbei-zuführen. Das ist die zentrale Frage: einen Waffenstill-stand zu erreichen. Wenn man einen Waffenstillstand er-reichen will – das will ich in aller Deutlichkeit sagen;denn das haben Sie ausgespart, Herr Außenminister –,muss man die Regierung in Kiew, wie immer man siebeurteilt, auffordern, die Armee, die Nationalgarde nichtgegen das eigene Volk einzusetzen; das ist völlig inak-zeptabel.
Erinnern Sie sich an die Erfahrungen, die wir in derWendezeit gesammelt haben! Das war immer eine derKernfragen: Die Armee darf nie gegen das eigene Volk– ich finde, auch nicht gegen fremde Völker – eingesetztwerden. Bitte lassen Sie uns das durchsetzen! Das kannHass aus der ganzen Situation nehmen. Ich bitte Sie sehr,bei den Verhandlungen auch in diese Richtung Überle-gungen anzustellen.Ich bin sehr dafür, dass es zu einer neuen GenferRunde kommt. Ich halte es für dringend notwendig, dassin Genf gesprochen wird. Da kann man überlegen, obnicht auch andere Teile – in bestimmten Formen, im For-mat der OSZE – an den Gesprächen beteiligt werden.Warum soll es unmöglich sein, auch Bürgerinnen undBürger aus der Ostukraine und andere an diesen Gesprä-chen zu beteiligen?
Wenn man einen Frieden will, muss man mit denen spre-chen, mit denen man sich auseinandersetzt. Das sagt Ih-nen sogar Herr Teltschik von der CDU. Ich möchte janicht sagen: „Lernen Sie mal von der CDU!“, aber indieser Frage wäre es nicht ganz schlecht, dies aufzuneh-men. Wir brauchen einen Gewaltverzicht. Wir brauchenSchritte der Entwaffnung. Wer kann denn entwaffnen?Das muss international geschehen, damit die Waffenauch abgegeben werden können.
Ich meine, das ist eine Aufgabe der OSZE – was ichgerne möchte.
Jetzt sage ich Ihnen meine Kritik und meine Sorgen da-bei: Ich empfand die Entsendung dieser militärischenBeobachtermission als eine Gefährdung für die großeOSZE-Mission von bis zu 500 Personen, die bereits ver-einbart war. Sie haben leichtsinnig und leichtfertig – umkein hohes Ergebnis – diese Mission gefährdet. Ichfinde, das kann man nicht akzeptieren.
Das gehört zu den Dingen, wo Sie eskaliert haben, stattzu deeskalieren.Die Genfer Runde muss also stattfinden – das ist drin-gend notwendig –, man muss auf die OSZE setzen.Wenn mir in Moskau gesagt worden ist bei meinen Ge-sprächen,
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dass die OSZE einen neuen Frühling erlebt, ist auch dieFrage, ob nicht auch wir in unserer Politik – in der euro-päischen Entspannungspolitik – die OSZE in den letztenJahren nicht viel zu gering geachtet haben.
Jetzt, da wir sie brauchen, merken wir, was diese Ein-richtungen wert sind.Ich möchte zweitens, dass über Verfassungsreformenverhandelt wird. Dazu braucht man runde Tische. Viel-leicht ist ein Übergang zu Wahlen – ich glaube nicht,dass man unter den jetzigen Bedingungen und bei all derGewalt gesichert wählen kann – über runde Tische mög-lich. Auch hier könnte man aus der Geschichte Deutsch-lands und daraus, wie runde Tische hier gewirkt haben,ein Stück weit lernen. Die runden Tische können zuWahlen führen, die von allen Seiten akzeptiert werden.Ich halte es für dringend notwendig, auch in diese Rich-tung nachzudenken.
Drittens – das gehört auch zu den runden Tischen –muss man ernsthaft über einen föderativen Staatsaufbau,über autonome Rechte und über die Beteiligung allerBürgerinnen und Bürger verhandeln.
Ich sage in allem Ernst dazu: Wenn neben der kulturellenAuseinandersetzung, die es gibt, auch noch die sozialeFrage explodiert, dann werden Sie gar nichts im Griffbehalten. Man muss die Oligarchen in der Ukraine ent-machten
– übrigens auch die Oligarchen in anderen Teilen derWelt, wie immer man sie auch nennen mag.Der vierte Punkt, über den man reden muss, ist dieFrage einer Neutralität der Ukraine, einer Blockfreiheit.Es muss garantiert werden, dass die Ukraine künftig kei-nem Block, keinem Militärbündnis, angehört, und dieNATO muss sich zurücknehmen. Was soll das denn, dassjetzt mit der ständigen Stationierung von NATO-Solda-ten im Baltikum, in Polen und in anderen Ländern ge-droht wird? Damit gießt man doch Öl ins Feuer, statt zuentspannen.
Das gehört auf den Zettel, um Vertrauen wiederherzu-stellen.Auf den Zettel gehört auch, dass die Faschisten in derUkraine aus der Regierung heraus müssen.
Mit Faschisten verhandelt man nicht. Das halte ich fürein Minimum, das wir durchsetzen müssen.Mir wird hier vorne freundlicherweise keine Zeit an-gezeigt; ich kann also unbeschränkt reden. HerzlichenDank! Das wollte ich immer schon mal.
Verehrter Herr Kollege, gestatten Sie mir einen kur-
zen Hinweis: In der Tat versagt im Moment die Technik.
Habe ich ein Glück.
Deswegen hat auch der Bundesaußenminister – es
war aber auch wichtig, was er gesagt hat – etwas länger
geredet, und da wir faire Menschen sind, haben wir ge-
sagt, dass wir auch Sie einen Moment länger reden las-
sen, damit auch die Opposition zu ihrem Recht kommt.
Wenn wir das technisch jetzt nicht anders hinkriegen,
dann werde ich, kurz bevor die folgenden Redezeiten ab-
laufen, ein Signal geben.
Sie haben als alter Parlamentarier aber das richtige
Gespür: Ihre Zeit ist abgelaufen.
Sie dürfen Ihren Gedanken aber noch zu Ende führen,
Kollege Gehrcke.
Wessen Zeit in der Politik abgelaufen ist, wird sich
historisch erst noch herausstellen.
Redezeit, Herr Kollege!
Die Zeit von Gewaltakten ist abgelaufen.Ich sage Ihnen am Ende noch – das ist ein wichtigerGedanke, und ich hoffe, dass die SPD wieder anfängt,darüber nachzudenken –: Wir brauchen das Konzept ei-ner neuen Ostpolitik, einer neuen Entspannungspolitik.Sie können hier sehr viel lernen, wenn Sie mal wiederbei Willy Brandt nachschlagen und dort nachlesen. Wirbrauchen eine neue Ostpolitik!
Ohne eine solche Strategie wird sich nichts entwickeln.Ich erinnere Sie daran: Die große Konferenz in Hel-sinki fand damals zu einem Zeitpunkt statt, als in Afgha-nistan der Krieg tobte, an dem die Sowjetunion beteiligtwar. Es gab andere Militäraktionen, und man hat trotz-dem miteinander verhandelt und das Ergebnis von Hel-sinki erreicht.
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Wolfgang Gehrcke
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Sie müssen mit einer neuen Ostpolitik erst einmal zueinem solchen Ergebnis mit Russland – so, wie das Landist; es kann sich auch verändern – kommen.Dafür steht die Linke: Wir sind für mehr Diplomatie,wir sind für Verhandlungen, wir sind für eine neue Ost-politik. Das hat auch eine Mehrheit in diesem Lande
– Ihnen reicht es schon lange; das ist mir klar –, und da-für treten wir ein.Herzlichen Dank.
Als Nächstes erteile ich Frau BundesministerinDr. von der Leyen das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Gehrcke, Sie haben eben noch einmal den aben-teuerlichen Vorwurf formuliert – ich zitiere –, dieUkraine würde die Armee gegen das eigene Volk einset-zen.
Herr Gehrcke, gerade die OSZE-Militärbeobachtermis-sion, die Sie eben so scharf kritisiert haben,
hat den Zweck, mit solchen abenteuerlichen Unterstel-lungen aufzuräumen und neutral Tatsachen zusammen-zutragen.
Deshalb sage ich: Die OSZE-Mission war richtig undwichtig. Sie war regelkonform; unseren Soldaten ist danichts vorzuwerfen.
Regelkonform bedeutet: Die Mission fand unter demDach der OSZE statt, und zwar nach den Regeln desWiener Dokuments, die übrigens heute noch von Russ-land anerkannt werden. Die Einladung der Ukraine gingan sämtliche Teilnehmerstaaten, auch an Russland.29 Nationen haben sich bereit erklärt, Inspektoren zuschicken, darunter auch neutrale Länder wie Schwedenund die Schweiz. Die Mission wurde von allen57 OSZE-Mitgliedstaaten rechtzeitig durch eine Notifi-kation zur Kenntnis genommen. Die Männer waren nachden OSZE-Statuten unterwegs. Die Region war exaktbezeichnet, und zwar von Odessa über Donezk undSlawjansk bis hoch nach Charkiw. Alle gesammelten In-formationen wurden allen Teilnehmerstaaten des WienerDokuments zur Verfügung gestellt. Mehr Transparenzgeht nicht. Deshalb ist es mir und übrigens auch unsereninternationalen Partnern völlig unverständlich, wenn ausden Reihen der Opposition die Legitimität und die völ-kerrechtliche Basis infrage gestellt werden.
Regelkonform war auch die deutsche Beteiligung. Esgab eine laufende Abstimmung mit dem AuswärtigenAmt, den Partnernationen und der OSZE. Der Generalin-spekteur hat die Entsendung der Beobachter im März imVerteidigungsausschuss angekündigt, und es gab zweischriftliche Unterrichtungen.Noch etwas ist mir wichtig: Oberst Schneider undsein Team haben sich während der Geiselhaft – wir ha-ben sie bei dieser widerwärtigen Zurschaustellung überdas Internet wahrgenommen – absolut besonnen undklug verhalten. Sie haben genau die richtigen Schlüssel-worte gesagt, um klarzumachen, dass sie keine Kriegs-gefangenen sind und dass sie ein Mandat haben. Sie ha-ben aber auch alles unterlassen, um ihr Leben und dasLeben der Kameraden durch unnötige verbale Provoka-tionen der Aggressoren zu gefährden, die sie festgesetzthaben. Ich glaube, ich spreche im Namen der übergroßenMehrheit dieses Hauses, wenn ich sage: OberstSchneider und sein Team haben unsere Hochachtungund unseren Respekt verdient.
Die Diskussion muss wieder vom Kopf auf die Füße ge-stellt werden.
Wenn hier jemand einen Rechtsbruch begangen hat,dann waren das nicht unsere Inspektoren, sondern dieje-nigen, die sie entführt und festgesetzt haben.Wir dürfen auch nicht vergessen: Es ist die Bürgerbe-wegung des Maidan, die wir unterstützen.
Die Bürgerbewegung des Maidan verlangt, als unabhän-giges Land selbstbestimmt entscheiden zu können, wiesie sich aufstellen. Nicht die Frage der Krim und die Pro-vokationen durch Provokateure sollten unsere Debatteund unsere Einstellung bestimmen, sondern unsere Un-terstützung der Bürgerbewegung; denn wir dürfen nichtvergessen, was die Auslöser für diese Konflikte waren.Wir dürfen jetzt nicht anfangen, die Ukraine zu kritisie-ren, sondern müssen anfangen, der Ukraine zu helfen,damit sie den Weg, den die Bürgerbewegung des Maidanbeschreiten wollte, selbstbewusst weitergehen kann.Diese Richtung müssen wir einhalten.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Diejenigen, die die OSZE-Mission kritisieren, sinddoch nicht diejenigen, die sich um unsere Soldaten Sor-gen machen.
Es sind vielmehr diejenigen, die alles tun, um neutraleBeobachter vor Ort zu verhindern, weil sie sich nicht indie Karten schauen lassen wollen. Auch das sollte manvor diesem Hohen Hause sagen.
Wir führen eine fundamentale Auseinandersetzungdarüber, wie wir heute Konflikte lösen. Wir alle dachtendoch, wir hätten die Zeit hinter uns, in der in Europa, zudem ich selbstverständlich die Ukraine und Russlandzähle, mit militärischen Mitteln Tatsachen geschaffenwerden. Gerade weil wir wollen, dass wir diese Zeit hin-ter uns haben, werden wir nicht zulassen, dass die Si-cherheitsarchitektur, die in den vergangenen JahrzehntenStück für Stück mühsam aufgebaut worden ist, jetzt inwenigen Wochen eingerissen und niedergetrampelt wird.Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wirdazu stehen, dass wir eine Sicherheitsarchitektur wollen,die besagt, dass wir unser Miteinander gemeinsam ge-stalten und an runden Tischen in Gesprächsräumen Aus-einandersetzungen führen und Lösungen finden. Dieseund keine andere Form der Auseinandersetzung wollenwir im 21. Jahrhundert, insbesondere nicht die der mili-tärischen Auseinandersetzung.
Deshalb sind die Missionen wichtig, sowohl die Militär-beobachtermission als auch die zivilen Missionen.Die Schlüsselworte in der OSZE sind – das gilt füralle drei Missionen, die derzeit laufen – Transparenz undVertrauen. Es geht darum, Gerüchte und Anschuldigun-gen der streitenden Parteien auseinanderzudividierenund Vertrauen zu schaffen, damit man zusammen an ei-nem Tisch eine Lösung finden kann. Diese Missionensind explizit geschaffen worden, um in die Regionen zugehen, über die wir uns Sorgen machen. Weil das sokostbar ist, bin ich sicher, dass ich auch für die großeMehrheit dieses Hohen Hauses spreche, wenn ich sage,dass Deutschland auch in Zukunft unbeirrbar seine Ver-antwortung in der OSZE und in allen ihren Missionenwahrnehmen wird.
Die OSZE ist fast die letzte Runde, in der die Ukraineund Russland mit dem Westen an einem Tisch sitzen.Deshalb ist es auch wichtig, dass wir durch die OSZEmit ihren Beobachtermissionen Unterstützung gebenkönnen, damit die Ukraine am 25. Mai Wahlen abhalten,den Reform- und Verfassungsprozess und die Dezentra-lisierung vorantreiben, den Regionen mehr Rechte ge-währen und eine inklusive Regierung bilden kann. Dasist etwas, das die Ukraine in den vergangenen Jahrenund Jahrzehnten nie kennengelernt hat. Es hat entwederdie eine oder die andere Seite regiert, ohne auch dieMinderheiten zu vertreten.Ja, Herr Kollege Steinmeier, ich glaube, die gemein-same Erfahrung der vergangenen Woche – ich dankenoch einmal von Herzen für die gute Zusammenarbeitim Krisenstab, die dann auch zu einem guten Ende ge-führt hat – ist gewesen, dass es inmitten dieser Turbulen-zen und der düsteren Situation, die wir zurzeit alle mitgroßer Sorge sehen, einen Moment gegeben hat, in demalle an einem Strang gezogen haben. Dazu gehören dieOSZE – der ich für die Übernahme der Verantwortungdanke, was ein klares Zeichen war –, die von Ihnen, HerrSteinmeier, und der Bundeskanzlerin im Rahmen derDiplomatie geführten Telefonate, aber auch der Einsatzder ukrainischen Regierung ebenso wie der Einsatz desrussischen Menschenrechtsbeauftragten Lukin. Das alleshat dazu geführt, dass die Geiseln ohne Bedingungenund unversehrt freigesetzt worden sind. Ich glaube, ichkann im Namen aller sagen: Wir wünschen uns wiedermehr solcher Momente. Das ist der Weg, den wir ge-meinsam gehen wollen.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem KollegenDr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wiralle haben große Sorge vor einer weiteren militärischenEskalation in der Ukraine, vor Bürgerkrieg und Krieg inEuropa. Es gibt noch die Hoffnung, dass die Initiativenzur Vermittlung und Verhandlung dies noch stoppenkönnen. Es kann und muss doch noch eine politischeLösung für die Ukraine geben. Wir blicken deshalbheute mit großer Anspannung auf die Reise von DidierBurkhalter, dem OSZE-Präsidenten, nach Moskau undauch mit großem Interesse auf den heutigen Besuch vonHerrn Poroschenko hier in Berlin.Herr Außenminister, ich will hier jenseits der übli-chen Rituale von Opposition und Regierung sagen: Siehaben in dieser Krise mit großem Engagement und Au-genmaß gut gehandelt, und Sie haben unsere volle Un-terstützung, wenn Sie versuchen, eine zweite Konferenzin Genf zustande zu bringen. Das ist notwendig und rich-tig.
Wir Grünen ermutigen Sie, im Kampf um eine Verhand-lungslösung nicht nachzulassen. Das ist ein mühseligerProzess. Es gibt Rückschläge, Enttäuschungen und Pro-vokationen; aber es gibt für die internationale Gemein-schaft keine vernünftige Alternative zu den Bemühun-
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Dr. Frithjof Schmidt
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gen um Verhandlungen und Deeskalation. Deshalb istdie Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa auch die richtige Institution, um diesen Prozessvoranzubringen. Die Rolle der OSZE muss gestärkt undausgebaut werden, gerade jetzt, wenn es um die Durch-führung der Präsidentschaftswahlen am 25. Mai geht. Esbraucht viele OSZE-Beobachter im Land. Deshalb habeich auch keine Kritik an der Mission von unbewaffnetenMilitärbeobachtern zur Sicherheitslage in der Ukraine,die nach den Wiener Regeln erfolgt ist, bei der OSZE ge-meldet war und so im OSZE-Rahmen stattgefunden hat.Hier irren Herr Gauweiler und Herr Gehrcke gemein-sam.
Es ist gut, wenn die Bundesregierung den Ablauf dieserMission noch einmal genau überprüft. Aber grundsätz-lich ist gegen diese Mission nichts einzuwenden. Das ge-hört auch dazu, wenn wir die OSZE stärken wollen.Das alles kann aber direkte Verhandlungen zwischenden Akteuren nicht ersetzen. Deswegen ist die Initiativefür ein zweites Genf so wichtig. Entscheidend ist, ob esgelingt, Russland endlich von seiner Destabilisierungs-politik gegenüber der Ukraine abzubringen und zu einerkonstruktiven Rolle in Bezug auf die Wahlen am 25. Maizu bewegen. Hier liegt der politische Schlüssel.
Wichtig ist zum Beispiel, dass Russland endlich die Vor-bereitung separatistischer Referenden in der Ostukrainefür das kommende Wochenende eindeutig und offiziellablehnt und verurteilt.
Das ist ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit eines En-gagements. Darum bleibt es richtig, dass die Europäi-sche Union nicht nur vermittelt, sondern auch die nächs-ten Konsequenzen aus ihrem Dreistufenplan zieht, wennsich Russland weiter an der Destabilisierung der Ukrainebeteiligt und die Präsidentschaftswahlen daran scheitern.Zu den Verhandlungen gehört also dazu, dass weitere ge-zielte Sanktionen vorbereitet werden.Ebenso klar ist aber auch: Eine politische Lösung gibtes nur mit Zugeständnissen und Zumutungen für alleSeiten. Das muss man allen Seiten auch so klar sagen.Wichtig ist auch: Wer in dieser gefährlichen Lage eineChance für Genf und für Verhandlungen will, darf aufgar keinen Fall mit dem Säbel rasseln. Dazu gehört, dassman nicht über einen dritten Weltkrieg schwadroniert,wie das manche in Kiew tun, und nicht die Aufrüstungder NATO und Truppenverlegungen nach Osten fordert,wie das Herr Rasmussen, der scheidende NATO-Gene-ralsekretär, auf provokante Art macht.
Herr Außenminister, ich weiß, dass Sie sich schon gegensolche Dinge gewandt haben. Wir wollen Sie ermutigen,dies weiterhin mit der nötigen Klarheit zu tun. Auch dasgehört zum notwendigen Bemühen um Deeskalation.Danke für die Aufmerksamkeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichhatte Montagabend Gelegenheit, mit PremierministerJazenjuk zu sprechen. Ich habe ihm als Erstes zu den40 Toten in Odessa kondoliert. Ich habe dies, ohne Siezu fragen, im Namen des Bundestages getan.
Ich denke, dass es richtig ist, dass wir alle unsere Betrof-fenheit und Trauer über diese 40 toten Menschen zumAusdruck bringen. Ich habe dem Premierminister ge-sagt: Wir erwarten, dass dieser Vorgang aufgeklärt wirdund dass es eine internationale Beteiligung an der Unter-suchung gibt. – Er hat dies zugesagt genauso wie HerrPoroschenko. Es ist wichtig, dass nicht im Getöse derPropaganda untergeht, was dort passiert ist.Die Situation bereitet uns große Sorgen. Für uns lau-tet die entscheidende Frage: Wie bewerten wir die Posi-tion Russlands in Europa, und welche Schlüsse ziehenwir daraus? Es bleibt dabei: Die Zusammenarbeit istrichtig und wichtig. Wir wünschen uns, dass Russland inEuropa eine konstruktive Rolle spielt und die europäi-schen Verhältnisse konstruktiv mitgestaltet. Das liegt ob-jektiv in unserem Interesse. Aber wir müssen auch denTatsachen ins Auge sehen. Die Tatsachen sind, dass inder Ukraine ein asymmetrischer Krieg stattfindet. In derOstukraine sind russische Spezialeinheiten unterwegs.Russische Panzer sind auf der Krim über fremde Gren-zen gerollt. Putin hat das inzwischen zugegeben. Wirdürfen uns nicht weigern, dieses anzuerkennen, nur weildies unserem Ruhebedürfnis widerspricht oder deutscherSentimentalität.Wir dürfen auch nicht die Augen vor einer massivenantiwestlichen Propaganda der russischen Eliten ver-schließen.
Schauen Sie sich das russische Fernsehen an, und stellenSie sich vor, dass sich ein Iwan Normalverbraucher inder russischen Provinz nur über das russische Fernseheninformiert! Dieser bekommt doch den Eindruck, dieWaffen-SS sei schon wieder unterwegs und die Faschis-
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Karl-Georg Wellmann
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ten kämen, um Russland zu erobern. So ist die wider-liche Propaganda in Russland.
Ich bin überrascht von dem Ausmaß an Chauvinismus,
an Verachtung und an Arroganz.
Russland ist wieder das Land, das Angst und Schreckenverbreitet.
– Bei Ihnen, Herr Dehm, ist das alte Schule. Ich weiß ja.
– Ja doch. Der eine oder andere von Ihnen hat noch dieParteihochschule in Moskau besucht.
Herr Gehrcke, ja? Stellvertretender DKP-Vorsitzender.Lassen wir das lieber.
Nach der schrecklichen Gewalt des 20. Jahrhundertshat es bei uns nach der Wende nicht an Empathie und anWillen zur Verständigung mit Russland gefehlt. Es gabviel Empathie bei uns. Es gab den positiven Mythos ausmehreren Hundert Jahren, eine gute Geschichte vomdeutsch-russischen Verhältnis: von Musik, Literatur,Kunst, Wissenschaft und Unternehmertum. Die russi-sche Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von Beispie-len der deutsch-russischen Symbiose. Es ist richtig, dasskluge Außenpolitik immer die Sorgen der anderen imBlick haben muss.
Aber wir dürfen uns auch nicht auf Legenden einlassen.Es gibt keine Einkreisung Russlands durch die NATO.
Die Beitrittsländer wollten als Erstes in die NATO. Siewollten Sicherheit vor Russland, sie wollten weg vonRussland. Keiner von uns hat sie gezwungen, Mitgliedder NATO oder der Europäischen Union zu werden.
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dassdie russische Regierung im Moment einen neuen Werte-rahmen proklamiert, einen sehr konservativen, reaktio-nären Werterahmen. Es handelt sich um Versatzstückeaus Zarenreich, Orthodoxie, Großmachtchauvinismusund leider auch imperialen und völkischen Elementen,die auch viel mit Fremdenfeindlichkeit und Homophobiezu tun haben. Ich darf einmal sagen: Es wird uns gegen-über massiv Vertrauen verspielt, wenn die russische Re-gierung über die – wörtlich – Verteidigung der positivenLeistungen Stalins spricht. Übrigens ist eine rechte Inter-nationale mit Lichtgestalten wie Le Pen und GeertWilders aus Holland auszumachen.Der eine oder andere ist im Moment unterwegs, redetklug über die Ukraine und gibt seine Urteile ab. Diejeni-gen, die ich meine – ich sehe Herrn Ströbele gerade nichtbei dieser Diskussion –, sind noch nie in der Ukraine ge-wesen und reden wie der Blinde von der Farbe. Viel-leicht nimmt der eine oder andere einmal an einer Wahl-beobachtungsmission der OSZE in der Ukraine teil, wieich das am 25. Mai mache. Die Solidarität mit derUkraine ist keine menschenfreundliche Geste, sondernes geht um die Selbstverteidigung des hohen völker-rechtlichen Guts der Unverletzlichkeit von Staaten undvon Grenzen.
Wenn Europa der Zerstörung der Ukraine tatenlos zu-sähe, würde es sich aufgeben.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Inge
Höger, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gesternhatte meine Fraktion Gespräche mit Aktivisten der Bo-rotba-Partei, die sich für eine föderalistische und demo-kratische Ukraine einsetzen. Was sie über den 2. Mai inOdessa berichteten, als Milizen aus allen Teilen derUkraine zu einem sogenannten Marsch der Einheit zu-sammen mit Fußballfans marodierend durch die Straßenzogen, war erschreckend.Es deutet vieles darauf hin, dass die 46 Toten und200 Verletzten nicht Opfer einer Tragödie wurden; siewurden Opfer eines gezielten Massakers.
Es wurden zwei Borotba-Aktivisten, darunter ein Abge-ordneter aus dem Regionalparlament, zu Tode geprügelt,die aus dem brennenden Gewerkschaftshaus gesprungenwaren, verletzt waren und sich nicht mehr wehren konn-ten. Die Linke fordert deshalb eine unabhängige Unter-suchung dieser Vorfälle in Odessa. Wir fordern gleicher-maßen eine Untersuchung, wer für die Todesschüsse aufdem Maidan, als über 100 Menschen zu Tode kamen,
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Inge Höger
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verantwortlich ist. Dieser Vorgang ist immer noch nichtaufgeklärt.
Ich sehe die reale Gefahr, dass die jetzige Kiewer Re-gierungspolitik den Separatismus in der Ukraine beför-dert. Wenn sich Massaker wie das in Odessa wiederho-len und wenn die ukrainische Armee im Inland weitergegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird, dannstärkt dies den Ruf eines Teils der Bevölkerung nach rus-sischen Truppen zum Schutz der Bevölkerung. Dabeisteht zu befürchten, dass auch eine russische Interven-tion gar kein Schutz, sondern ein weiterer Eskalations-schritt ist. Das kann niemand wollen – Russland nicht,die Ukraine nicht, die EU nicht und auch die USA nicht.
Es ist schon dreist und unappetitlich, wer hierzulandealles sein Süppchen auf dem ukrainischen Feuer kocht.Die NATO präsentiert sich als Garant für Stabilität undrührt doch selbst ganz offen die Kriegstrommeln. DieRüstungsindustrie will mehr Waffen verkaufen und be-kommt dabei Schützenhilfe von NATO-GeneralsekretärRasmussen, der zu mehr Rüstungsinvestitionen aufruft.Die Fracking-Lobby sieht ihre Chance, auch hierzulandeökologische Vorbehalte gegen den brandgefährlichenAbbau von Schiefergas mit dem Verweis auf Energie-autonomie zur Seite zu schieben.In dem zerstörerischen Machtkampf zwischen Ostund West drohen die Menschen in der Ukraine völlig aufder Strecke zu bleiben. Zu dem externen Machtkampf istnun ein innerer Machtkampf hinzugekommen, der baldwohl nur noch als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann.Nun einige andere Fakten: Die Ukraine ist auf die Ko-operation mit dem Osten und dem Westen angewiesen,um ökonomisch überleben zu können. Ein Blick auf dieWirtschaftsdaten macht dies deutlich: Zurzeit gehenmehr als 30 Prozent der ukrainischen Exporte nachRussland bzw. in Staaten der von Russland geführtenZollunion. Die Exporte in die Europäische Union habeneine ähnliche Größenordnung und liegen bei 25 Prozent.Bei den Importen in die Ukraine ist das Bild ähnlich:Über 40 Prozent der Importe kommen aus dem Osten,aus der EU 31 Prozent. Jeder, der die Ukraine zwingt,sich ökonomisch für eine Himmelsrichtung zu entschei-den, entzieht dem Land wesentliche Teile seiner Exis-tenzgrundlage.
Hätte der damalige Präsident Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen unterschrieben, dann hätte diesganze Industriezweige im Osten und Süden der Ukrainegefährdet, die die EU-Produktionsstandards nicht erfül-len, die aber erfolgreich Richtung Osten exportieren.Umgekehrt würde ein Beitritt zur russischen Zollunionden Handel mit der EU erschweren. Wenn nun Men-schen in einigen Regionen der Ukraine für Autonomiekämpfen, dann nicht weil sie Putin unterstützen, sondernweil sie schlicht um ihre Arbeitsplätze, um ihre Existenzund ihre ökonomische Zukunft kämpfen.Die Ukraine exportiert in den Westen hauptsächlichRohstoffe wie Kohle und Stahl. In Richtung Osten wer-den Produkte exportiert, die eine wesentlich höhereWertschöpfung im eigenen Land haben, also Maschinen,Flugzeuge, Fahrzeuge und Lebensmittel. An Letzteremhängen zahlreiche hochqualifizierte Arbeitskräfte. Kannbzw. will die EU hier wirklich Alternativen bieten, odergeht es ihr nur darum, Konkurrenzindustrien niederzu-konkurrieren?Die Ukraine hat nur eine Zukunft, wenn sie nach Os-ten und nach Westen angebunden ist. Das gilt ökono-misch und politisch.
Nur wenn die äußere Zerreißprobe aufhört, dann hörtauch die innere Zerreißprobe auf.Welches politische System sich die Ukraine gibt, istSache der Menschen in der Ukraine selbst. Ich möchteausdrücklich davor warnen, die Forderung nach einemföderalistischen System als prorussisch oder separatis-tisch zu diskreditieren.
Schauen wir einmal auf die Seiten der Bundeszentralefür politische Bildung! Aktuelle Meinungsumfragen inder Ostukraine besagen: Nur 15 Prozent der Bevölke-rung sprechen sich für eine Abspaltung von der Ukraineaus. Der Rest steht aber keineswegs aufseiten der Regie-rung in Kiew. Nur 16 Prozent unterstützten deren Pro-EU-Kurs. Die meisten Menschen im Osten und Südender Ukraine wünschen sich ein föderales demokratischesSystem. Sie hoffen, dass so die Einheit der Ukraine unddie unterschiedlichen Interessen in den Regionen mit-einander versöhnt werden können. Deshalb gibt es keineAlternative zur Diplomatie.
Das Gebot der Stunde ist und bleibt: Waffenstillstandund Verhandlungen.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Ukraine ist ein gespaltenes Land am Rande einesBürgerkriegs und eines Staatsbankrotts und des Risikos,zu zerfallen, wenn man jetzt nicht die Kraft für einefriedliche Lösung des Konflikts hat. Angesichts der dra-matischen Entwicklung der letzten Tage, der Toten undVerletzten, des zunehmenden Hasses, der Gewalt, derWut und der aufkommenden Rachegelüste, kann manvon hier aus eigentlich nur rufen: Haltet ein! Haltet einund beendet das Blutvergießen!
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Franz Thönnes
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Ich will an dieser Stelle ausdrücklich all denen ausden Stäben des Außenministeriums und des Verteidi-gungsministeriums Dank sagen, die sich in den vergan-genen Tagen sehr intensiv, mit Feingefühl und mit Di-plomatie erfolgreich darum bemüht haben, dass unsereOSZE-Beobachter
wieder heil zurückgekommen und heute bei ihren Fami-lien sind. Ein großes Dankeschön an alle Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter und an die Spitzen der Häuser!
Ich glaube, man muss deutlich sagen: Wenn man dieOSZE stärken will, dann darf man ihr keine Taktierereivorwerfen, dann darf man ihr nicht Spionage vorwerfen,sondern dann muss man sie in Gänze stärken, und dazugehören auch die verabredeten Militärbeobachteraktio-nen.
Ich glaube auch, dass man sagen muss: Haltet ein undhaltet euch an die Vereinbarungen, die am 21. Februar inKiew und am 17. April in Genf getroffen worden sind!Haltet euch an die eingegangene Verantwortung – dasgilt für alle, die daran beteiligt gewesen sind –, insbeson-dere zur konkreten Umsetzung! Bildet runde Tische imLand und bezieht die Regionen und alle verantwortli-chen Kräfte aus der Zivilgesellschaft und aus der Politikmit ein! Haltet an der Absicht fest, die OSZE zu stärkenund ihr hierbei eine sehr wichtige Rolle zu geben, auchwenn es darum geht, die oppositionellen Kräfte in derUkraine mit an diese runden Tische zu bringen! Manwird mit denen reden müssen, über die man heute viel-leicht noch sagt, mit denen würde man nie reden. Ichglaube, dass das notwendig ist und dass die OSZE dabeieine zentrale Rolle spielen kann.Haltet vor allen Dingen auch an der Absicht fest, diestaatliche Gewalt wiederherzustellen! Wenn man eineRegierung für illegitim erklärt, dann lässt sich mit ihrkeine staatliche Gewalt herstellen. Aber wenn die staatli-che Gewalt dafür verantwortlich sein soll, dass alle ille-galen Waffenträger, sowohl die vom rechten Sektor alsauch die von den anderen oppositionellen Kräften, ent-waffnet werden, dann muss man die staatliche Gewaltstärken und einer Regierung auch die Kraft dazu geben.
Ich glaube, dass es weiter notwendig ist, an demWahltermin festzuhalten. Aber auch dafür gilt es, dasstaatliche Gewaltmonopol in die Lage zu versetzen, fürRahmenbedingungen zu sorgen für Wahlen, die man alsfair und frei bezeichnen kann, sodass die Menschen vonihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Diese Rah-menbedingungen sind notwendig. Statt der Kraft derWaffen brauchen wir die Kraft der Vernunft, der Verant-wortung und der Versöhnung. Auch deshalb gilt es, dieschrecklichen Gewalttaten, die in den letzten Tagen ge-schehen sind, genauso wie diejenigen, die auf dem Mai-dan geschehen sind, rückhaltlos aufzuklären und dieVerantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Anderswird eine Versöhnung nicht möglich sein.
Dazu gehört auch, dass der Verfassungsprozess trans-parent gemacht wird, dass die Menschen in Ost undWest wie in Nord und Süd der Ukraine das Gefühl ha-ben, dabei auch beteiligt zu sein, dass das nicht anonymläuft, sondern dass sie Einfluss darauf nehmen können,dass Verantwortung mehr dezentralisiert wird, dass auchPflichten mehr dezentralisiert werden und sie am EndeTeil eines Ganzen sind.
Ich glaube auch, dass es notwendig ist, darauf hinzu-weisen, dass wir jetzt viel über den Tag hinausdenkenkönnen; aber wir befinden uns heute und in diesen Tagenam Rande des großen Risikos einer humanitären Kata-strophe in einem Bürgerkrieg, wo Not und Elend so weitgehen, dass die ersten Menschen aus dem Land flüchten.
Es kann eine instabile Situation entstehen, in der alleEU-Mitgliedstaaten, die Nachbarstaaten der Ukrainesind, aber auch Russland davon berührt und betroffensind. Auch deswegen muss man ganz klar und deutlichsagen: Haltet hier ein! Haltet auch endlich ein mit einerPresse-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattung, dienur noch Schwarz-Weiß kennt und bei der man teilweiseden Eindruck hat, als ginge es um einen medialen Waf-fengang!
Ich glaube, das gilt zum großen Teil auf beiden Seiten. –Und haltet die Sozialpartner zusammen, haltet die Ge-werkschaften und die Arbeitgeber in der Ukraine zusam-men, damit über sozialverträgliche Regelungen gespro-chen werden kann! Sie müssen zusammengehaltenwerden, wenn man den großen Herausforderungen, dievor diesem Lande liegen, gerecht werden und nicht dazubeitragen will, dass neben der explosiven politischen Si-tuation, die es zurzeit gibt, auch noch eine Zeitbombetickt, die den sozialen Frieden in der Ukraine gefährdet.Der OSZE-Vorsitzende, Herr Burkhalter, befindetsich gerade in Moskau. Ich glaube, das ist die Chance füreine neue diplomatische Initiative. Russland ist – wiealle anderen – hier in großer Verantwortung auch für dieUmsetzung der Punkte, die man in Genf vereinbart hat.
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Franz Thönnes
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Es hat gute Signale vonseiten Russlands gegeben. Eingutes Zeichen war, dass man nachgewiesen hat, dassman Einfluss hat. Gute Zeichen waren weiter, dass HerrLukin im Februar in Kiew dabei war, dass er jetzt wiedermitgeholfen hat, die OSZE-Geiseln zu befreien, sowiedie Bereitschaft von Moskau, sich in Genf an den Tischzu setzen. Weiter ist es ein gutes Zeichen – was geradeüber die Ticker verbreitet wird –, dass Präsident Putinsagt, dass das für das Wochenende angesetzte Referen-dum verschoben werden sollte.Das alles sind kleine Zeichen; aber es sind mehr zuerwarten. Es sind größere Schritte zu machen. Ein größe-rer Schritt muss sein, dass der klare Aufruf an die be-waffneten oppositionellen Kräfte erfolgt: Legt auch dieWaffen nieder, hört auch mit den Gewalttaten auf undrüstet ab! Genauso sollte auch Russland mit seinen Trup-pen an der Grenze endlich das einhalten, was verspro-chen worden ist, nämlich ein Rückzug in die Kasernen.
Das wäre doch jetzt – –
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. – Wenn
man die OSZE stärken will, heißt das auch, dass man zu
ihren Prinzipien zurückkommen muss. Das gilt auch für
Russland. Das heißt, die zentralen Prinzipien der
Schlussakte von Helsinki einzuhalten, die da lauten: ter-
ritoriale Integrität der Staaten, keine Androhung und
keine Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der
Grenzen und friedliche Lösung der vorhandenen Kon-
flikte. – Gefordert ist jetzt eine Politik der kühlen Köpfe
und nicht der kalten Krieger.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-gin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Morgen hat Staatssekretär Ederer mit uns eine De-batte unter dem Titel „Wie verändert sich die europäi-sche Sicherheitsarchitektur unter dem, was jetzt stattfin-det?“ geführt. Ich glaube, es gibt eine Erschütterung,deren Ausmaß wir noch gar nicht ganz begriffen haben;denn es ist nach 1945 zum ersten Mal unter Anwendungvon Gewalt von außen ein Landesteil eines souveränenLandes annektiert worden.
Darüber hat heute niemand gesprochen. Ich meine, wirdürfen das nicht innerhalb von vier Wochen als quasi ge-geben hinnehmen.
Wir haben es jetzt mit folgenden Eckpunkten zu tun:Ein Land, von dem wir uns alle gewünscht haben, wirkönnten mit ihm eine gemeinsame Sicherheit von Lissa-bon bis Wladiwostok schaffen, kehrt zu geostrategi-schem Denken zurück und ist bereit, Gewalt einzuset-zen, um geostrategische Ziele zu verfolgen. Das stelltuns in der Tat vor eine vollkommen neue Situation. Ichglaube, wir alle sind noch damit überfordert, zu wissen,welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.Leider verändert sich nicht nur etwas im Osten, son-dern auch im Westen. Wir alle ahnen, dass das nächsteEuropäische Parlament anders als das jetzige aussehenwird. Es wird in ihm beunruhigend starke rechtspopulis-tische Kräfte aus vielen Ländern – in Frankreich ist esvielleicht sogar die stärkste Kraft überhaupt – geben.Es ist schon atemberaubend, dass Marine Le Pen der-zeit ständig nach Moskau pendelt, dass die Parlamenta-rier der Lega Nord Russland als „Modellgesellschaft“preisen, wenn es um nationale Identität und Schutz derFamilie geht, wenn westliche Rechtspopulisten sich da-rauf berufen, dass sie mit Russland und Putin einig sindgegen einen multikulturellen Bundesstaat Europa, dassder Vorsitzende der griechischen Partei „Goldene Mor-genröte“ von einer natürlichen Allianz zwischen der„Seemacht“ Griechenland und der „Landmacht“ Russ-land spricht und dass das einigende Band zwischen Putinund diesen Rechten der ethnische Nationalismus und dieAbwehr von allem ist, was als „westliche Dekadenz“ be-zeichnet wird. Doch da sind unsere Werte, die auch dieWerte vieler, vieler Menschen in Russland sind, betrof-fen: Feminismus, die Gleichstellung von Frauen, auchdie Gleichstellung von Homosexuellen, eine liberaleEinwanderungspolitik und eine multikulturelle Gesell-schaft. All das wird auch in Russland derzeit bekämpft.Die Zivilgesellschaft in Russland stirbt mit der zuneh-menden gewalttätigen Auseinandersetzung in derUkraine.
Der Kollege Juratovic und ich sind, wie ich glaube,diejenigen, die am persönlichsten erfahren haben, wohindie Mutation des KP-Mannes Milosevic zu einem erbar-mungslosen Nationalisten geführt hat. Sein Wahlspruchwar ja: Wo ein Serbe lebt, ist Serbien. – Putin bean-sprucht jetzt, dass die russische Nation dort ist, wo Rus-sen leben. Wir erleben jetzt, dass das Gleiche, was inBosnien passierte, nämlich dass der Hass erfolgreich vonaußen in eine Gesellschaft, die es selber nicht glaubenkonnte, hineingetragen wird, in der Ukraine passiert. Ichverehre Herrn Lukin; ich kenne ihn nämlich noch alsMenschenrechtsbeauftragten. Aber wo hat er angerufen?Er hat bei Igor Strelkow, Offizier des russischen Aus-landsgeheimdienstes GRU, angerufen, der sich selbst alsmilitärischer Anführer der Separatisten in Slawjanskfühlt und bezeichnet. Das heißt, es wird derzeit in derUkraine von Kräften aus dem Inneren, aber eben auchmit geheimdienstlichen
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Marieluise Beck
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und sogar gewaltunterstützenden und gewalttätigen Mit-teln an der Destabilisierung des Landes von innen gear-beitet.
Wenn wir dann sagen: „Das Land befindet sich im Bür-gerkrieg“, dann müssen wir auch dazusagen: „DieserBürgerkrieg ist von außen in das Land hineingetragenworden“. Erstaunlich ist – das kann man gar nichtfassen –, wie schnell Hass in einer Gesellschaft dazuführen kann, dass dann wirklich alle aufeinander losge-hen und auch alle Schuld auf sich laden. Wir müssen unsdeshalb anschauen, was derzeit passiert.
Herr Minister, wir unterstützen Sie bei der ernsthaftenund wirklich bis zur Erschöpfung gehenden, da sie nichtaufgegeben werden darf, politisch-diplomatischen Mis-sion. Ich hoffe, dass es Ihnen und uns allen, obwohl wirsehen, dass Russland derzeit an einer Stabilisierung die-ses Landes eher – ich sage: eher – nicht interessiert ist,trotzdem gelingt, Russland auf einen Weg zu ziehen, da-mit diese Ukraine nicht vor unseren Augen zerstört wird.Wir haben vor 20 Jahren gesagt: Mit Bosnien stirbtEuropa. – Ich hoffe, wir müssen nicht ein zweites Malsagen: Mit der Ukraine stirbt Europa.Der verehrte Fraktionsvorsitzende Kauder hat imApril auf einer Veranstaltung zur Ukraine gesagt: DieFlamme der Freiheit leuchtet heller als die vonGazprom. – Herr Kauder, ich hoffe, diese Sache sehenalle Ihre Außenpolitiker so wie Sie.Schönen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich vorweg sagen, dass ich un-endlich froh bin, dass die Mitglieder der OSZE-Mission,die als Geiseln genommen wurden, wieder frei sind. Ichmöchte mich ausdrücklich bei den deutschen Soldaten,vor allem bei Oberst Schneider, bedanken. In dieserexistenziellen Situation hat er sehr besonnen und mitgroßem Verantwortungsgefühl für die ganze Gruppe ge-handelt. Das verdient unseren größten Respekt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Frage: DieOSZE-Mission stand rechtlich auf solidem Fundament.Auch Russland war darüber informiert. Ebenfalls unbe-stritten ist, dass solche Missionen wichtig sind. Sie sindein wichtiges Instrument der multilateralen Diplomatieim Bereich der Konfliktverhütung und der Krisenbewäl-tigung. Sie sind genau für diese Art von Krise, in dersich die Ukraine derzeit befindet, geschaffen worden.Wir dürfen nicht zulassen, dass wir dieses Instrumentverbal kaputtmachen. Es gibt nicht viele andere Instru-mente, die wir zur Verfügung haben.Ich finde es in diesem Zusammenhang wirklich unge-heuerlich und unerträglich, dass Gregor Gysi, der Frak-tionsvorsitzende der Linken, unseren Soldaten, die ers-tens unter dem Dach der OSZE, zweitens auf Einladungder Ukraine und drittens mit Kenntnis Russlands tätigwaren, nun vorwirft, sie seien Spione. Unerträglich!
Zu fragen ist allerdings: Wer waren die Entführer, die of-fensichtlich gut ausgebildet und professionell gehandelthaben? Das sollten wir klären.Die Krise in der Ukraine entwickelt sich mehr undmehr zu einer wirklichen Tragödie. Vor wenigen Wo-chen gab es die Toten auf dem Maidan; darüber wurdeschon gesprochen. Dann erfolgte die völkerrechtswid-rige Besetzung der Krim. Dies wirft uns im Übrigen beiden internationalen Abrüstungsbemühungen und bei denBemühungen, die Verbreitung von Atomwaffen zu ver-hindern, dramatisch zurück. Jetzt erfolgt die Eskalationin der Ostukraine, mit der offensichtlich darauf abgezieltwird, den Staat zu destabilisieren und letztlich auch re-guläre Wahlen unmöglich zu machen, damit es zu keinerdemokratisch gewählten Regierung in der Ukraine kom-men kann.Wir müssen zusehen, wie aktuell lebenswichtige In-frastruktur, Wirtschaftsstrukturen und Gesellschafts-strukturen zerstört werden. Es sterben Menschen, eswird getötet, und es entsteht neuer Hass zwischen Volks-gruppen, die auch in Zukunft miteinander leben sollenund müssen. Es ist eine Tragödie für diese Region, aberauch eine Tragödie für Europa und für Russland.Wir wollten und wollen auch weiterhin eng undfreundschaftlich mit Russland zusammenarbeiten. Wirhaben in der Vergangenheit Werte entwickelt, um dies zuerreichen. Der Verzicht darauf, territoriale Interessen mitWaffengewalt durchzusetzen, sollte eigentlich ein sol-cher unumstößlicher gemeinsamer Wert sein – nicht zu-letzt auch als Lehre aus der Katastrophe des 20. Jahrhun-derts. Diesen Konsens hat Russland leider aufgekündigt.Wenn die Russische Föderation wirklich etwas zurEntschärfung der Lage tun will, muss sie endlich aktivwerden. Angekündigte mögliche Militärparaden auf derKrim sind sicherlich das falsche Signal. Es ist schon er-staunlich, wie gut die Separatisten, die die Ostukraine imMoment in ein Bürgerkriegsgebiet verwandelt haben,ausgerüstet und ausgebildet sind. Angesichts dessen binich sicher, dass Russland viel mehr tun könnte.
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2664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Florian Hahn
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Unsere Kanzlerin und Sie, Herr Bundesminister, ha-ben in den letzten Wochen ausdauernd bewiesen, dassSie nicht aufhören werden, zu versuchen, Russland zuverstehen, und immer wieder das Gespräch mit der russi-schen Regierung zu suchen. Es ist klar, dass zur Deeska-lation des Konflikts alle diplomatischen Mittel ausge-schöpft werden müssen. Die Kommunikation und derAustausch zwischen den Konfliktparteien dürfen nichtabreißen. Für dieses besonnene und bestimmte Handelnin der Krise möchte ich mich ausdrücklich bedanken.Ich glaube aber auch: Sollte Russland nicht endlichbereit sein, die Krise in der Ukraine zu entschärfen, be-darf es weiterer und härterer Sanktionen. WirtschaftlicheInteressen können nicht ausschlaggebend dafür sein,dass man seine eigenen Werte verkauft und sich un-glaubwürdig macht.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Hahn, ich gebe Ihnen vollkommen recht: DieDebatte über die Krise in der Ukraine, die wir zurzeit er-leben, nimmt gelegentlich Züge an, die für Wohlmei-nende nur noch schwer nachvollziehbar sind.Bei aller Erschütterung darüber, wie sich die Frontenzwischen den Parteien in der Ukraine in den letzten Wo-chen verhärtet haben, haben wir in Deutschland wenigs-tens in einem Punkt Anlass zur Erleichterung. DenOSZE-Militärbeobachtern, die acht Tage lang inSlawjansk festgehalten wurden, ist nichts Schlimmeresgeschehen. Sie sind wieder frei. Dass es wenigstens beiihnen gelungen ist, die Dynamik der Eskalation zu über-winden, ist ein Verdienst der Diplomatie als Methodeund der OSZE als der Plattform, auf der Diplomatie ihreWirkung entfalten konnte. Wir sollten daraus die Er-kenntnis ziehen, dass es sich lohnt, auch in scheinbarverfahrenen Situationen dem Gespräch und der Gewalt-freiheit immer wieder eine Chance zu geben.
Ich bin deswegen auch sehr froh darüber, dass derBundestag die Debatte über Lösungswege für dieUkraine heute ganz klar unter außenpolitischen Schwer-punkten führt und dass wir hier sehr deutlich machen,dass eine militärische Option für niemanden in diesemHause infrage kommt, dass wir dem Säbelrasseln auf dereinen Seite den Willen zum Dialog und europäische Ge-schlossenheit auf der anderen Seite entgegensetzen. Da-für ist eine Stärkung der OSZE weiterhin notwendig.Aber wie die Debatte aus Deutschland von der Links-fraktion und einigen Teilen der Medien geführt wird,geht in eine andere Richtung.
Von den Linken und gerade von Ihnen, Herr Dr. Neu, istmehrfach versucht worden, die entführten Militärbe-obachter selbst für die eigene Entführung verantwortlichzu machen.
– Selbstverständlich. Die Vorwürfe an die Opfer der Ent-führung reichten doch von Dummheit bis zum Verdachtder Spionage. In einer völlig indiskutablen Art undWeise hat sich die Linkspartei zum Stichwortgeber fürall diejenigen gemacht, die in den letzten Tagen aktiv dieGrenzen zwischen Recht und Unrecht verwischen woll-ten.
Ich will deswegen noch einmal sehr deutlich festhal-ten: Die bei Slawjansk durchgeführte internationale Be-obachtermission stand fest auf dem Boden des interna-tionalen Rechts und der innerhalb der OSZE gültigenAbsprachen und Verträge.
Ihre Grundlage war das Wiener Dokument von 1990,eine Vereinbarung, die es Mitgliedstaaten der OSZE er-möglicht, Militärbeobachter aus anderen OSZE-Länderneinzuladen, um als vertrauensbildende MaßnahmeTransparenz über Rüstung und Militärbewegung im ei-genen Land herzustellen. Diesen Vorgang nennen wirVerifizierung. Wenn eine solche Mission zustandekommt, dann werden alle anderen OSZE-Mitgliedstaa-ten darüber genau informiert. Im Falle der Entführtenhandelte es sich also um eine Verifikationsmission.Russland war von Anfang an darüber im Bilde.Für die Entführung der Beobachter gibt es also keinewie auch immer rechtlich zu konstruierende oder garmoralische Rechtfertigung. Es war ganz einfach ein kri-mineller Akt, der im Detail aufgeklärt werden muss undfür den die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müs-sen, sobald es in der Region wieder eine staatliche Auto-rität gibt, die dazu in der Lage ist.
Dennoch hätte ich es verstanden, wenn Sie im Zusam-menhang mit der Entführung Fragen aufgeworfen hät-ten, die sich auch aus einer parlamentarischen Fürsorge-pflicht gegenüber den Betroffenen heraus verstehen.Natürlich müssen wir darüber sprechen, ob bei der Vor-bereitung und der Durchführung der Mission für die Si-cherheit der Beobachter ausreichend Vorsorge getroffenworden ist,
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Dr. Fritz Felgentreu
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um in Zukunft aus möglichen Fehleinschätzungen zu ler-nen. Darum ist es Ihnen offenkundig nicht gegangen. Ineiner Situation, in der die Entführten vor allem Solidari-tät gebraucht hätten, haben Sie ihnen öffentlich Vor-würfe gemacht.
Das ist genauso unakzeptabel wie die vorgetragene Kri-tik am Verhalten von Gefangenen, als sie von ihren Ent-führern öffentlich vorgeführt worden sind. Wir könnenals Parlament diese Fehltritte im falschen Moment nichtungeschehen machen. Aber ich möchte mich denjenigenanschließen, die heute die Gelegenheit genutzt haben,um den beteiligten Soldaten der Bundeswehr aus Tsche-chien, Polen, Dänemark und Schweden und ihren Be-gleitern aus der Ukraine zu danken und ihnen für dieausgestandene körperliche und seelische Belastung dasMitgefühl dieses Hauses auszudrücken.
Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dasswir uns nicht noch einmal mit einer vergleichbaren Si-tuation auseinandersetzen müssen. Wenn aber doch,dann hoffe ich, dass es uns als Volksvertretung insge-samt überzeugender gelingt als in der Auseinanderset-zung über die Entführung von Slawjansk, so wie sie inden letzten Tagen geführt worden ist.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Neu fühlt sich vom Kollegen
Dr. Felgentreu falsch zitiert und will es kurz klarstellen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde gesagt,
dass ich gesagt hätte, die Bundeswehrsoldaten seien
„Spione“ gewesen. Weder ich noch irgendjemand ande-
res aus der Linksfraktion hat die Soldaten dort als „Spi-
one“ bezeichnet.
Was ich gesagt habe, ist – zur Klarstellung –: Die Mis-
sion als solches, die sehr viele Widersprüche und Un-
klarheiten enthält, gibt Nahrung für einen Spionagever-
dacht. – Das ist etwas ganz anderes, als zu sagen, diese
Leute seien „Spione“ gewesen. Das ist eine Rückwei-
sung.
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Gunther
Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben die Lage inder Ukraine vorhin sehr zutreffend beschrieben. Wir ha-ben uns als Europaausschuss des Deutschen Bundesta-ges noch vor kurzem, vor knapp drei Wochen, selbst einBild von der Lage im Land verschafft. Wir waren inKiew, wir waren in Donezk, und tatsächlich ist die Lagebrisant, mancherorts explosiv, wiederum andernortsauch seltsam ruhig angespannt. Aber eines ist wahr: Seitdieser Zeit sind die Dinge eskaliert. Wir alle tun gut da-ran, die Lage zu deeskalieren.Eines gilt auch: Die heutige Aktuelle Stunde trägtzwar den Titel „Zur aktuellen Lage in der Ukraine“, aberbesser wäre fast noch der Titel „Zur aktuellen Lage inOst- und Südosteuropa“. Denn längst droht aus der Krisein der Ukraine ein Flächenbrand zu werden.
Denn in Moldau wurde die Armee an der ukrainisch-moldauischen Grenze in Alarmbereitschaft versetzt. Perinoffizieller Twitter-Mitteilung hat der russische Vize-premier Rogosin seinen Besuch einer Militärparade inTiraspol in Transnistrien angekündigt, just für den9. Mai. Wir müssen solche Notizen aufnehmen und auchhier bewerten. Denn all das ist kein Zufall. So wie dieMenschen in Moldau sehr beunruhigt sind, so sind sie esauch im Baltikum und in Polen.Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sehr, sehrviel! Während wir im Zusammenhang mit Moldau schonlange von einem „Frozen Conflict“ sprechen, soll er vonPutin in der Ukraine gegenwärtig kreiert werden. Genaudas dürfen wir nicht zulassen. Durch die Annexion derKrim wurde schon ein erster Konflikt kreiert, und diessoll in einer Annexion faktischer Art der Ostukraineseine Fortsetzung finden, von Odessa ganz zu schwei-gen.Wenn ich sage: „Das dürfen wir nicht zulassen“, dannheißt das: „Wir müssen gegensteuern.“ Was war derAusgangspunkt der ganzen Krise? Ausgangspunkt wardie Nichtunterzeichnung des sogenannten Assoziie-rungsabkommens mit Russland, also nichts anderes, alsdass sich die Ukraine den Standards der EuropäischenUnion annähern wollte, weil es die Menschen dort satt-hatten, in einem Land voller Korruption und mit Demo-kratie- und Rechtsstaatlichkeitsdefiziten zu leben. Des-wegen gibt es die Strategie der Östlichen Partnerschaft,in der Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Weißruss-land, aber eben auch Georgien, Moldau und die Ukraineversammelt sind. Bei nüchterner Betrachtung müssenwir aber auch festhalten, dass wir Armenien und Weiß-russland längst an die eurasische Zollunion verloren ha-ben.
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2666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Gunther Krichbaum
(C)
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Es bleiben noch Georgien, Moldau und die Ukraine.Wir müssen hier gegensteuern; wir dürfen nicht zulas-sen, dass in Europa weitere Frozen Conflicts geschaffenwerden. Denn es geht Herrn Putin allein um eines: umVormachtstreben, um Hegemonie.Die Breschnew-Doktrin ist tot; auch das muss manmit aller Deutlichkeit sagen. Deswegen ist es inakzepta-bel, wenn Russland versucht, sich in die Gestaltung vonVerträgen, die diese Staaten mit der Europäischen Unionabschließen wollen, einzumischen.Wir in Deutschland müssen ganz besonders sensibelsein; denn wir kommen aus einem geteilten Land undsind heute wiedervereinigt. Der ukrainischen Teilungmüssen wir mit aller Macht entgegenwirken.
Ja, es ist richtig: Wir müssen weiter auf die Diploma-tie setzen; denn stirbt die Diplomatie, dann sterben Men-schen. Aber eines gilt auch: Die Ukraine ist ein souverä-nes Land. Sie hat das Gewaltmonopol inne. Beidesstellen wir dieser Tage seltsamerweise hin und wiederinfrage.Putin muss einlenken. Putin selbst hat es in der Hand,den Konflikt zu lösen. Es darf auch daran erinnert wer-den, dass vonseiten Russlands bislang nichts von dem,was in Genf vereinbart wurde, umgesetzt wurde.Heute haben wir über eines noch nicht gesprochen:Die Zeit ist wahrscheinlich reif, eine Stufe weiterzuge-hen und echte Wirtschaftssanktionen nicht länger auszu-schließen.
Wir brauchen Russland – das ist wahr –, aber Russlandbraucht auch uns. Russland begreift seine Wirtschafts-politik als reine Energielieferungspolitik. Das ist dauer-haft sicherlich zu wenig. Russland braucht unser Know-how, unsere Technologie und unser Wissen, aber natür-lich auch die Erlöse aus den Rohstoffen, die es an unsverkauft.Wir müssen stärker und einiger voranschreiten. Ichbegrüße ausdrücklich, dass es bislang gelungen ist, dieEuropäische Union mit einer Stimme sprechen zu lassen.Nun müssen wir den Druck auf Russland erhöhen, sonstwerden wir in Europa noch über ganz andere Länder zusprechen haben als nur über die Ukraine, und das dürfenwir nicht zulassen.Vielen Dank.
Als Nächstem erteilte ich das Wort dem Kollegen
Norbert Spinrath, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die Freilassung derunversehrten OSZE-Beobachter aus der Geiselhaft amvergangenen Wochenende gibt Hoffnung, dass Diploma-tie Konflikte friedlich lösen kann, auch die Konflikte inder Ukraine. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ge-walt in der Ukraine müssen wir den Menschen unermüd-lich klarmachen, dass wir in Deutschland, wir in der Eu-ropäischen Union weiterhin eine gewaltfreie Lösung derKonflikte in der Ukraine wollen und uns dafür engagie-ren.Wir müssen auch klarmachen, dass wir in Deutsch-land und wir in der Europäischen Union seit geschätzt25 Jahren das Wort „Blockdenken“ abgelegt haben. Wirsprechen seit 25 Jahren von „Partnerschaften“. Ich finde,auch die Damen und Herren hier ganz links sollten sichan diesen neuen Sprachgebrauch gewöhnen.
Eine friedliche Lösung in der Ukraine muss vor allenDingen vom überwiegenden Teil der Menschen dort mit-getragen werden. Sie braucht ein demokratisches Funda-ment.Lassen Sie mich zunächst auf die Zustände innerhalbder Ukraine eingehen. Natürlich muss Russland einengroßen Beitrag leisten. Es muss seinen Einfluss auf dieSeparatisten im Osten der Ukraine geltend machen undsie dazu bringen, ihre Waffen kampflos niederzulegenund die Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Straßenund Plätzen zu beenden. Die Meldung von n-tv heuteNachmittag zeigt: Ein erster Schritt auf diesem Weg istimmerhin getan.In der Woche vor Ostern ist eine siebenköpfige Dele-gation des Europaauschusses nach Kiew und Donezk ge-reist. Wir haben wichtige Gespräche mit den Menschenin der Ukraine geführt. Dabei habe ich gelernt, dass eszur Lösung der Probleme im Lande eines grundsätzli-chen Wandels bedarf. Insbesondere muss die in allen ge-sellschaftlichen Ebenen der Ukraine vorherrschendeKorruption bekämpft und endgültig unterbunden wer-den.Wer hat denn noch Vertrauen in eine solche Gesell-schaft, wenn der Platz an einer weiterführenden Schuleoder der Studienplatz für das Kind, wenn der Führer-schein für den Enkel, wenn die Grabstätte für die Omanur noch gegen harte Griwnas zu bekommen ist, wennkein öffentlicher Auftrag vergeben, keine Baugenehmi-gung ohne Schmiergeld erteilt wird, wenn ein großerTeil der Parlamentarier im nationalen Parlament überPrivatvermögen im Wert von zwei- bis dreistelligen Mil-lionen Dollar oder Euro verfügt?
Da ich diese Zustände als Erkenntnisse von der Reisemitbrachte, wundert es mich nicht, dass sich die Jugendin der Ukraine im Herbst des letzten Jahres zum Maidanaufmachte. Sie waren dort schon vor dem 21. Novemberdes letzten Jahres, also bevor sich der ehemalige Staats-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2667
Norbert Spinrath
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präsident Janukowitsch weigerte, das EU-Assoziie-rungsabkommen zu unterzeichnen. Erst als dies geschah,wurde aus dem Protest der Schüler und Studenten gegendie Korruption und gegen die Ausplünderung des Lan-des der sogenannte Euromaidan.Aber ohne die Beseitigung der Korruption, die bis inden Alltag der Menschen geht, ohne die Beseitigung derAusbeutung der Wertschöpfung des Landes durch einigewenige, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen.
Ohne die Beseitigung der Korruption kann kein funk-tionstüchtiger Verwaltungsapparat aufgebaut werden.Der Aufbau einer ordentlichen Verwaltung und einesfunktionierenden Steuersystems sind aber unerlässlichfür ein demokratisches Land. Nicht zuletzt dafür habendie Menschen, haben die Schüler und Studenten auf demMaidan demonstriert.Es bleibt richtig, dass die Europäische Union mithilfevon insgesamt 11 Milliarden Euro und der InternationaleWährungsfonds mit weiteren Milliarden den Staatsbank-rott vermeiden wollen. Genauso richtig ist es aber, dieMilliarden, um die sich das alte Regime Janukowitschdurch den Griff in die Staatskassen persönlich bereicherthat, aufzuspüren und dem Staatshaushalt wieder zuzu-führen. Und genauso richtig bleibt es, die Oligarchen,die unter zweifelhaften Umständen ein persönliches Ver-mögen in Milliardenhöhe angehäuft haben, nicht nur ander politischen, sondern gerade eben auch an der finan-ziellen Sanierung des Landes zu beteiligen.
– Sie müssen mit demokratischen Mitteln dazu gebrachtwerden, sich an der finanziellen Stabilisierung des Lan-des zu beteiligen.
Dies wäre ein wichtiges Signal an die Menschen in derUkraine, damit sie selbst an ihr Land glauben können,damit sie selbst friedlich dafür eintreten können. Dazumüssen wir aber mit allen Menschen in allen Teilen derUkraine reden, mit ihnen Ideen entwickeln und umset-zen, zum Beispiel durch Städtepartnerschaften, durch dieArbeit der politischen Stiftungen
oder die Zusammenarbeit mit anderen NGOs.Die am 25. Mai 2014 anstehenden Präsidentschafts-wahlen sind wichtig. Sie dürfen nicht verschoben wer-den. Aber es muss auch nach dem 25. Mai 2014 schnellzu Parlamentswahlen kommen, damit es einen wirkli-chen Neuanfang gibt; denn viele Menschen in derUkraine zweifeln sicherlich zu Recht daran, dass einigeder alten Köpfe in der Lage sind, die alten Missstände zuüberwinden und komplett neu zu denken.Nachdem sich während unseres Kiew-Aufenthalts dieMeldungen über die Zuspitzung der Lage in Donezkhäuften, wurde angesichts der Sicherheitslage mehrfachder Verzicht auf eine Weiterreise nach Donezk diskutiert.Unsere Entscheidung, doch zu fliegen, erwies sich alsrichtig. Bei der Ankunft in Donezk, abends um 22 Uhr,fanden wir eine ruhige Stadt vor. Bei der Vorbeifahrt amvon Separatisten besetzten Hochhaus des Provinzparla-ments hätten wir die weniger als 20 Vermummten amEingang vermutlich gar nicht bemerkt, wenn nicht einHeer von Journalisten und Kameraleuten aus der ganzenWelt aus gebührendem Abstand ihre Objektive auf dieSzene gerichtet hätte. 50 Meter weiter nahmen Leute ineinem Straßencafé Getränke zu sich. 200 Meter weiter,in unserem Hotel, und in einem nahegelegenen Restau-rant war genauso wenig davon zu spüren wie am nächs-ten Tag auf den Straßen der Millionenstadt Donezk, wodie Menschen ohne Hast und Eile ihrem Alltag nachgin-gen. Am Abreisetag kam die Gruppe an dem eine Stundezuvor gestürmten und besetzten Rathaus der Stadt vor-bei. Alles war friedlich. Auf dem Spielplatz unmittelbarneben dem Rathaus spielten Kinder.Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Lektüre kanneigene Wahrnehmung bei einer Reise ersetzen. Bei demnächtlichen Zappen durch diverse TV-Sender in demHotel in Donezk, durch westliche, östliche, europäische,deutsche, russische, russischsprachige und ukrainisch-sprachige, habe ich fürs Leben gelernt: Es gibt vieleWahrheiten. Aber es gibt auch das, was ich selbst gese-hen, gehört und in Gesprächen mit Menschen erfahrenhabe.
Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Sie deut-
lich über der Zeit sind.
Ich komme sofort zum Schluss. – Wichtig ist, dass der
Fünf-Punkte-Plan von Frank-Walter Steinmeier umge-
setzt wird, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.
Wichtig ist, einen beständigen Dialog mit den politi-
schen Spitzen aller beteiligten Staaten und mit den Bür-
gern der Ukraine zu führen. Gerade jetzt müssen die
45 Millionen Menschen in der Ukraine wieder hoffen
können auf gute Perspektiven, auf ein funktionierendes
Staatswesen, auf eine gute und eine sichere Zukunft, auf
ein friedliches Zusammenleben in einem souveränen
Staat Ukraine.
Danke.
Es tut mir leid, gerade in solch einer Situation zu un-terbrechen, nur haben wir für die Aktuelle Stunde dievöllig kompromisslose Regel, dass die Beiträge nichtlänger als fünf Minuten dauern dürfen.
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2668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-lege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Mai
werden wir nicht nur Präsidentschaftswahlen in der
Ukraine haben, sondern am 25. Mai haben wir auch
Europawahlen. Hier entscheidet die europäische Bevöl-
kerung über das Schicksal von 500 Millionen Menschen.
Europa steht in hartem Ringen seit über 60 Jahren für
Frieden in Freiheit und die Aussicht auf Wohlfahrt. Das
haben wir uns in Europa nach jahrhundertelangem krie-
gerischem Ringen hart erkämpft. Das ist ein Wert an
sich.
Wir wollen mit unserer europäischen Nachbarschafts-
politik, sei es im Norden, im Osten oder im Süden, dass
auch unsere östlichen Nachbarn eine Aussicht auf Frie-
den in Freiheit und Wohlfahrt haben, und das in freier
Selbstbestimmung.
Anfang Februar haben unser Bundesaußenminister
Steinmeier und unsere Bundesverteidigungsministerin
Frau von der Leyen sich in München ganz klar dazu be-
kannt, dass wir nicht zuschauen dürfen, sondern aktiv
gestalten müssen. Wenige Wochen danach zeigen beide
mit großartigem diplomatischem Ansatz in OSZE, EU
und NATO, was es heißt, sich aktiv an einer diplomati-
schen Lösung zu beteiligen. Ich glaube, wir sollten am
Ende dieser Aktuellen Stunde ein Zeichen dieses Hauses
setzen, dass wir diese diplomatischen Lösungen unter-
stützen und dass wir gemeinsam darauf hinwirken, dass
in der Ukraine am 25. Mai in freier Selbstbestimmung
ohne Druck von Kanonen gewählt werden kann.
Ein Zweites. Rund 25 Millionen Russen leben außer-
halb der Russischen Föderation, davon 18 Millionen in
der Ukraine und in der Europäischen Union. Ich bin der
Deutschen Welle sehr dankbar, dass sie in dieser Woche
ihr Programm in Auslandssendungen erweitert hat und
auch auf Russisch und auf Ukrainisch sendet, dass sie
rund um die Uhr informiert. Das ist unabdingbar, weil
die Auslandsrussen einer ungeheuren Propaganda unter-
liegen, die – Kollege Wellmann und auch Gunther
Krichbaum haben es angesprochen – ihresgleichen in der
europäischen Nachkriegsgeschichte sucht. Lassen Sie
uns gegenüber diesen 18 Millionen Auslandsrussen
deutlich machen, was es für ein Wert ist, Frieden in Frei-
heit und Aussicht auf Wohlfahrt genießen zu dürfen.
Ich möchte uns alle – ich erlaube mir das – in zwei
Punkten ermahnen. Der eine ist unsere eigene Sprachdis-
ziplin. Lasst uns doch die Dinge beim Namen nennen.
Der Ponomarjow in Slawjansk ist kein selbsternannter
Bürgermeister. Das ist ein Separatistenführer. Es gab
kein Referendum auf der Krim. Es gab eine Annexion
der Krim, und zwar eine völkerrechtswidrige. Wer die
Begriffe beherrscht, beherrscht auch die Köpfe. Deswe-
gen brauchen wir das Programm der Deutschen Welle.
Wir brauchen auch viel mehr eigene Aufklärung. Des-
halb ist es gut, dass wir heute diese Aktuelle Stunde ha-
ben, die die CDU/CSU-Fraktion angeregt hat.
Vor uns liegen sehr schwierige Monate. Es muss da-
rauf ankommen, dass Russland seinen Einfluss geltend
macht. Wir arbeiten beim Abzug aus Afghanistan mit
Russland zusammen. Wir arbeiten mit Blick auf Koope-
rationen bei Transporten in der Zentralafrikanischen Re-
publik mit Russland zusammen.
Es waren die Europäische Union und die USA, die
darauf hingewirkt haben, dass die Ukraine und Russland
das Genfer Abkommen unterzeichnet haben. Das ist der
zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: die EU und
die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir sind heute
– mehr denn je seit Ende des Kalten Krieges – auf eine
vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit mit den Ver-
einigten Staaten von Amerika geradezu angewiesen. Die
transatlantische Partnerschaft bedarf wieder eines inten-
siven Vertrauens. Lassen Sie uns in dieser Krise gemein-
sam und mit diplomatischen Mitteln daran arbeiten, dass
die ukrainische Bevölkerung in freier Selbstbestimmung
wählen kann, ob sie auch künftig die Aussicht auf Frie-
den, Freiheit und Wohlfahrt haben möchte! Lasst uns in
der Krise gemeinsam daran arbeiten, dass wir wieder ein
besseres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten bekom-
men! Dazu gehören beide Seiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:Vereinbarte DebatteFriedliche Revolution in der DDR – Die Rolleder Kommunalwahl am 7. Mai 1989Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Debatte und erteile als Erstem demBundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, dasWort.
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute vor 25 Jahren, am 7. Mai 1989, kontrolliertenBürgerrechtler die Kommunalwahl in der DDR unddeckten Wahlfälschungen auf. Die Bürger der DDR wur-den Jahrzehnte um das kostbarste Recht gebracht, dasdie Demokratie ihren Bürgern vorbehält: um das Wahl-recht. Die Tatsache, dass wir dieses Tages heute dennochfreudig gedenken können, ist darin begründet, dass sichviele Bürger der DDR dieses Recht ab einem bestimm-ten Zeitpunkt nicht mehr haben nehmen lassen. EinenTag nach der Aufdeckung der Fälschungen demonstrier-ten in Leipzig 500 Bürgerinnen und Bürger gegen dasamtliche Ergebnis der Kommunalwahlen. Sie wusstendas Recht auf ihrer Seite; selbst das Recht der DDRwussten sie auf ihrer Seite. Sie waren drei Jahre nachden ersten erfolgreichen Kontrollversuchen bei denWahlen 1986 gut vorbereitet.So ist in einem Bericht der Staatssicherheit vom19. Mai 1989 zu lesen – ich lese dieses Zitat ungern vor,weil es von der Staatssicherheit ist –:Auf der Grundlage von am Wahltag durchgeführtensogenannten ‚Kontrollen‘ … beabsichtigen innereFeinde den ‚Nachweis‘ einer angeblichen Fäl-schung von Wahlergebnissen in ausgewähltenWahlbezirken zu führen. Dabei ist ein stabsmäßigorganisiertes und koordiniertes Vorgehen feindli-cher, oppositioneller Kräfte … zu erkennen.Ein ungewolltes, geradezu respektvolles Komplimentder Stasi an diejenigen, die wir heute „Bürgerrechtler“nennen dürfen. Opposition gleich Feind, das war dage-gen die Denke des SED-Regimes.Mit entsprechenden Folgen: Am 7. Juni 1989 wurdenin Ostberlin zwei Demonstrationen gegen die Wahlfäl-schung brutal aufgelöst. Dennoch fand einen Tag später,am 8. Juni, in der Berliner Gethsemanekirche eine Pro-testveranstaltung mit nunmehr 1 500 Teilnehmern statt.Wie es weiterging, ist vielen von uns in Erinnerung: Am4. September fand im Anschluss an das Friedensgebet inder Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration inLeipzig statt. Am 7. September ging die Polizei in Ost-berlin brutal gegen Demonstranten vor, die auf demAlexanderplatz gegen den Wahlbetrug protestierten. DieLage spitzte sich zu. Der offene Widerspruch wurde ge-fährlicher, der Protest aber gleichzeitig größer. Am9. Oktober gab es die erste große Massendemonstrationmit 70 000 Menschen in Leipzig und am 4. Novemberdie allergrößte Massendemonstration in der Geschichteder DDR auf dem Berliner Alexanderplatz, allerdingsmit ersten Ambivalenzen und einer merkwürdigen Red-nerliste; sagen wir es einmal so. Ich war selber damalsdabei auf diesem Platz.Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauerdann von Ost nach West geöffnet, von einem Offizier derTruppen der Grenzsicherung, nach Schabowskis Presse-konferenz und durch den physischen, aber friedlichenDruck von Bürgerinnen und Bürgern, die nur von einemTeil ihrer Stadt Berlin in den anderen Teil wollten. Dasformale Ende der DDR und der Teilung Europas nahmseinen Anfang.Wir erinnern heute dankbar an diejenigen, die mit ih-rem Handeln ein Auslöser für die friedliche Revolutionwaren und mit ihrem Mut zu einer moralischen Stützeder Wiedervereinigung unseres Vaterlandes wurden.
In den 90er-Jahren wurde viel darüber diskutiert, obdie Wiedervereinigung eine Einigung von oben war. Zy-niker sprachen vom „Anschluss“ der DDR statt von ih-rem Beitritt. Diese Debatte war wohl genauso falsch, wieheute die Trennung in Ost- und Westdeutschland unnötigist.
Heute wissen wir: Die Demokratie ist von unten entstan-den. Wir wissen auch: Der Wunsch nach Einheit ist vonunten entstanden.Demokratie und Einheit fielen aber weder mit demMauerfall noch mit dem Einigungsvertrag vom Him-mel – sie wurden über Monate hart erkämpft und erar-beitet, Tag für Tag, von Politik und Verwaltung, von denKommunen bis hin zur Außenpolitik.Am Anfang dieses Weges aber stand der Ruf nachfreien Wahlen. Freie Wahlen, das war die zentraleForderung, noch weit vor dem Ruf nach der Wieder-vereinigung Deutschlands. Bis zum 20. November1989 unterzeichneten binnen sechs Wochen mehr als200 000 Menschen einen Aufruf des Neuen Forums mitder Forderung nach freien Wahlen. Freie Wahlen, dasscheint vielen heute nicht mehr einen Gedanken oder einGedenken wert. Freie Wahlen scheinen selbstverständ-lich; aber ein Blick in die Welt – und vielleicht in dieDebatte von eben – zeigt: Freie Wahlen sind nicht selbst-verständlich. Der heutige Tag ist Anlass, uns der funda-mentalen Bedeutung freier, allgemeiner, gleicher undungestörter Wahlen für die Demokratie in Erinnerung zurufen.
Ein starker Ausdruck für gelebte Demokratie ist dasEngagement von 600 000 ehrenamtlichen Wahlhelfern,ohne deren Sorgfalt und Einsatz die Wahlen in unseremLand nicht stattfinden können. Ihnen möchte ich heutebei dieser Gelegenheit einmal herzlich danken – imRückblick auf die zurückliegende Bundestagswahl, imAusblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen unddie Europawahl, aber auch einmal ganz grundsätzlich.600 000 Bürgerinnen und Bürger sorgen in Deutschlandfür freie und geheime und ordentliche und seriöse Wah-len, und das verdient einen Dank.
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2670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Was können wir vom damaligen Aufbruch für heutelernen? Die Bürgerrechtler damals forderten freie Wah-len und stellten sich anschließend auch zur Wahl. Siezeigten Verantwortung für die Gemeinschaft vor Ort undfür das große Ganze im Land – ohne einen vorherigenGrundkurs im Kommunalwahlrecht, ohne zu wissen, wieeine Beamtenversorgung für Bürgermeister nach so-undso vielen Jahren aussieht, mit vollem Risiko, ausFreude und Verantwortung. Die Neuen – als Laienspielerwurden sie zum Teil bezeichnet –, das war eine bunteMischung von Menschen mit den unterschiedlichstenHintergründen: Ingenieure – überproportional viele In-genieure waren dabei –, Handwerker, Techniker, Ärzte,auch Pfarrer. Sie alle haben der kommunalen Selbstver-waltung, ehrlich gesagt, ziemlich gutgetan, weil sie denMut hatten, Probleme pragmatisch zu lösen und Verant-wortung zu übernehmen – ohne Vorbild, ohne nach Ab-sicherung zu fragen, am Anfang ohne Berater, aber mitganz viel Charakter und gesundem Menschenverstand.Damals wie heute verlangt öffentliche VerantwortungMut, Bereitschaft zur Entscheidung und zum Handeln –und damit auch die Bereitschaft, Fehler zu machen.Auch damals sind, wie wir heute wissen, viele Fehler ge-macht worden; aber es ist verdammt viel mehr richtig alsfalsch gemacht worden in dieser Zeit von dieser erstenGeneration in kommunaler Verantwortung.
Wir brauchen Menschen, die sich für das Ganze ein-setzen – zum Beispiel auch Politiker, die sich für diePolis, wovon der Begriff „Politik“ abgeleitet ist, enga-gieren –, indem sie sich organisieren und Verantwortungübernehmen: in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, inder Gemeinde, am Arbeitsplatz, im Verband oder Verein.Dieses Selbstverständnis geht von der Würde des Men-schen aus. Sie wird oft beschrieben, aber nicht durchNichtstun oder Abwarten geschützt, sondern durch denGebrauch von verantworteter Freiheit, auch wenn esstürmt.Ich wünsche uns, dass wir uns nicht nur in dieserStunde möglichst viel von der Begeisterung, der Ent-scheidungsfreude, dem Mut, dem Enthusiasmus und derVerantwortungsbereitschaft bewahren, die im Revolu-tions- und Vereinigungsjahr und Anfang der 90er-Jahreso viel an Fortschritt und Bewegung in unserem Land er-möglicht haben.Das Große fängt im Kleinen an, und das Kleine gehtim Großen auf. Das war auch damals so: beim Protestgegen die Fälschung der Kommunalwahlergebnisseheute vor 25 Jahren. Es war der kleine starke Anfang ei-nes großen Umbruchs in der ehemaligen DDR, einesgroßartigen Aufbruchs für unser Land.
André Hahn von der Fraktion Die Linke ist der
nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich inder Fraktion gebeten wurde, zu diesem Thema zu spre-chen, habe ich mir als Erstes in Erinnerung gerufen, wasich damals, an diesem 7. Mai 1989, gemacht habe.
Ja, ich bin wählen gegangen, und ja – ich gebe es zu –,ich habe die Kandidaten der Nationalen Front gewählt.Die meisten von ihnen kannte ich ohnehin nicht; dennein öffentlicher Wahlkampf mit Vorstellung der Bewer-ber und Befragung durch die Bürgerinnen und Bürgerwar im DDR-System nicht vorgesehen.Ich habe aus dem Bundesarchiv einmal einen Stimm-schein von 1989 mitgebracht.
Außer den Namen der Kandidaten ist daraus nichts zuentnehmen, weder deren Alter noch deren Beruf oderWohnort und schon gar nicht, von welcher Partei oderMassenorganisation sie aufgestellt wurden. Es gab keineMöglichkeit, bei einzelnen Bewerbern mit Ja, Nein oderEnthaltung zu votieren. Auch deshalb konnte von demo-kratischen Wahlen keine Rede sein.
Aber zurück zum 7. Mai 1989. Ich war damals Studentan der Berliner Humboldt-Universität, und ein befreunde-ter Kommilitone erzählte mir davon, dass oppositionelleund kirchliche Gruppen angesichts zu befürchtender Ma-nipulationen die Auszählung in den Wahllokalen besu-chen, die Ergebnisse dokumentieren und anschließendmit den offiziellen Verlautbarungen vergleichen wollten.Er lud mich ein, am Abend mit zu einer der Stellen zukommen, wo die Ergebnisse zusammengetragen wurden.Als jemand, der bei aller grundsätzlichen Loyalitätzur DDR Wahlergebnissen von 99 Prozent plus x schonimmer sehr skeptisch gegenüberstand, wurde ich neugie-rig und wollte mir vor Ort ein eigenes Bild machen. Sowar ich am Abend des Wahltages gemeinsam mit mei-nem Kommilitonen in einer Kirche – wenn ich michrecht erinnere, in Berlin-Pankow. Dort trafen nach undnach immer mehr Menschen ein, die an den öffentlichenAuszählungen in den Wahllokalen teilgenommen hatten.Sie brachten die dort bekannt gegebenen Ergebnisse mit,die mit Reißzwecken in der Kirche ausgehängt wurden.Die jeweilige Wahlbeteiligung schwankte zwischen85 und 95 Prozent. Die Zahl der Gegenstimmen gegendie gemeinsamen Listen der Nationalen Front bewegtesich in den einzelnen Wahllokalen zwischen 7 und12 Prozent.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2671
Dr. André Hahn
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Dann kam die Verkündung des vorläufigen amtli-chen Endergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahl-kommission, Egon Krenz. Darin war für die gesamteDDR von einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent undvon 142 301 Gegenstimmen die Rede, was lediglich1,15 Prozent entsprach. Allen in der Kirche war klar,dass diese Zahlen nicht der Wahrheit entsprechen konn-ten. An einer Fälschung der tatsächlichen Resultate be-standen auch aus meiner Sicht keinerlei Zweifel mehr.Ich persönlich habe nie verstanden, warum der SED-Führung eine tatsächliche Wahlbeteiligung von 88 oder90 Prozent nicht ausgereicht hat und warum man offen-bar Angst vor 10 oder 15 Prozent Gegenstimmen hatte,was nach westlichen Maßstäben für eine Regierung jageradezu ein grandioses Ergebnis gewesen wäre.Meine Damen und Herren, wer sich heute mit denpolitischen Umwälzungen der Jahre 1989/90 in der DDRbeschäftigt, der kommt an der Rolle der Kommunalwah-len vom 7. Mai 1989 nicht vorbei. Die von oben ange-ordneten massiven Manipulationen und Fälschungen beidieser Wahl werten viele Historiker als zentralen Auslö-ser für das Erstarken der Opposition, die zunehmendenProteste gegen die Regierenden und damit letztlich auchfür den späteren Untergang der DDR.Wir als Linke haben uns seit langem mit der DDR-Vergangenheit und auch der Rolle der SED auseinander-gesetzt, und zwar wesentlich intensiver und vor allemselbstkritischer als die ehemaligen Blockparteien, insbe-sondere die CDU.
Man darf doch wohl daran erinnern, dass auf den Listender Nationalen Front nicht nur die Namen von SED-Leu-ten standen, sondern auch die von Mitgliedern der CDU,der LDPD oder auch der Bauernpartei.Ich komme aus Sachsen und weiß daher, dass zumBeispiel auch der jetzige Ministerpräsident und CDU-Landeschef Stanislaw Tillich 1989 im Ergebnis der ge-fälschten Wahlen in den Kreistag Kamenz einzog unddann sogar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Ratesdes Kreises avancierte. Das werfe ich ihm nicht vor; denUmgang mit seiner eigenen Biografie aber schon. Essollte also zunächst einmal jeder vor der eigenen Haustürkehren.
Der Minister hat es gesagt: Entgegen landläufigerMeinung war Wahlfälschung auch in der DDR strafbar.In meiner Fraktion gibt es jemanden, der deshalb bereitsunmittelbar nach dem 7. Mai 1989 beim Generalstaats-anwalt Strafanzeige gestellt hat: Das war Gregor Gysi,damals im Auftrag von Rainer Eppelmann. Vielleichtsollte man bei aller politischen Auseinandersetzung ineiner solchen Debatte auch das einfach einmal zurKenntnis nehmen.
Die offenkundige Wahlfälschung vom 7. Mai 1989war für mich persönlich ein einschneidendes Erlebnis.Auch deshalb habe ich danach neben meinem Studiumnoch stärker versucht, mich politisch einzubringen. Sowurde ich schließlich für die damalige SED/PDS zumzweitjüngsten Mitglied am Zentralen Runden Tisch derDDR, wo ich vor allem in der Arbeitsgruppe „Bildung,Erziehung und Jugend“ tätig war.Noch am 5. März 1990 beschloss der Runde Tisch na-hezu einstimmig das Festhalten am zehnjährigen ge-meinsamen Lernen. Bei aktuellen Umfragen im OstenDeutschlands gibt es dafür immer noch Mehrheiten vonüber 70 Prozent. Was haben wir stattdessen bekommen?16 unterschiedliche Schulgesetze mit 16 unterschiedli-chen Schulsystemen und an staatlichen Schulen gemein-sames Lernen bis maximal zur sechsten Klasse. Auchdas befördert Zweifel am Funktionieren der Demokratie.
Überhaupt finde ich in der aktuellen Politik leidersehr wenig von dem, was von der friedlichen Revolu-tion, die der Minister angesprochen hat, übrig gebliebenist. Wer redet denn heute noch vom sehr fortschrittlichenVerfassungsentwurf des Runden Tisches, von dem sichim geringfügig überarbeiteten Grundgesetz kaum etwaswiederfindet?
Warum gibt es auf Bundesebene immer noch keineVolksentscheide?Ja, wir haben es nicht einmal geschafft, eine neue Na-tionalhymne oder wenigstens einen neuen Text zu ver-einbaren,
obwohl es dazu von Bürgerrechtlern sehr vernünftigeVorschläge gab, wie zum Beispiel die Kinderhymne vonBert Brecht, die sogar auf die derzeitige Melodie passenwürde.
Nicht nur in diesem Fall wurde eine Chance vertan, denOstdeutschen das Gefühl zu vermitteln, im Zuge derEinheit sei man auch im Westen zu erkennbaren Verän-derungen bereit. Auch das war gewiss kein Beitrag zurStärkung der Demokratie.In gut zwei Wochen finden in mehreren Bundeslän-dern Kommunalwahlen statt; der Minister hat daraufhingewiesen. Ich selbst kandidiere wieder für den Kreis-tag Sächsische Schweiz – Osterzgebirge. Aber wäre esnicht angebracht, über die jüngsten Wahlbeteiligungenzu reden? Können wir denn damit zufrieden sein, dasssich nicht nur bei Kommunal-, sondern auch bei Land-
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Dr. André Hahn
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tagswahlen fast jeder zweite Stimmberechtigte nichtmehr beteiligt, sondern zu Hause bleibt?
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir in der Politik da-raus? Über welche Legitimation verfügt ein Landrat oderein Bürgermeister, der im zweiten Wahlgang bei einerWahlbeteiligung von 38 Prozent vielleicht 52 Prozentder abgegebenen Stimmen erhält?Ich komme zum Schluss.
Was lehren uns nun die Kommunalwahlen vom Mai1989? Wer über lange Zeit hinweg am Volk vorbeire-giert, kommt damit auf Dauer nicht durch. Abgehoben-heit und Realitätsverlust der Herrschenden führen zuPolitikverdrossenheit und über kurz oder lang auch zumassiven Protesten der Bürgerinnen und Bürger.
Nicht zuletzt: Zu einer echten Demokratie gibt es keineAlternative. Sie zu schützen und weiterzuentwickeln, istunser aller gemeinsame Aufgabe.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Parlamentarische Staats-
sekretärin Iris Gleicke.
I
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitunserer heutigen Debatte würdigen wir die mutigen Bür-gerinnen und Bürger, die sich am 7. Mai 1989 von denStaats- und Sicherheitsorganen der DDR nicht habeneinschüchtern lassen. Sie haben die im Wahlgesetz derDDR verankerte öffentliche Stimmauszählung ernst ge-nommen und für sich reklamiert. Sie haben die Wahlenals dreiste Fälschung und die DDR als eine lächerlicheDiktatur entlarvt. Dazu gehörte viel Mut.Eigentlich war es uns allen schon immer klar, dass esbei der stets fast 100-prozentigen Zustimmung der Bür-ger zu den Einheitslisten der Nationalen Front nicht mitrechten Dingen zugehen konnte. Viele – wahrscheinlichdie meisten von uns – hatten Leute im Bekanntenkreis,die mindestens eine kritische, gar ablehnende Positionzu diesem Staat hatten. Man wusste Bescheid.Aber die Offenlegung dieser dreisten und unverfrore-nen Fälschung führte zu großem Unmut bei weiten Tei-len der Bevölkerung und brachte das sprichwörtlicheFass zum Überlaufen. Die Erkenntnis, dass es trotz einesbreit aufgestellten und gut gerüsteten Sicherheitsappara-tes möglich war, Bürgerrechte geltend zu machen, hatwie eine Initialzündung für die kommenden Ereignissegewirkt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mich anjene Tage erinnere, dann kommt mir diese Zeit schonmanchmal sehr fern vor, irgendwie auch düster undziemlich skurril. Ich bin damals auch wählen gegangen,in meiner Heimatstadt Schleusingen im Thüringer Wald.Außer dem Bürgermeister habe ich alle Kandidatinnenund Kandidaten durchgestrichen. Als damalige Mitar-beiterin beim Rat der Stadt hatte ich dann am Montagnach der Wahl ein sehr anstrengendes Gespräch mit mei-nem Vorgesetzten. Ich durfte bleiben. Ich hatte ja einegültige Stimme abgegeben.Aber das war die Lebenswirklichkeit in dieser Deut-schen Demokratischen Republik, in der die allermeistenLeute ganz einfach versucht haben, anständig über dieRunden zu kommen.
Wir haben versucht, das richtige Leben im falschen Sys-tem zu führen. Das lässt sich nur ganz schwer beschrei-ben und vermitteln. Das weiß ich.Im Alltag waren auf der einen Seite die Enge, die Er-starrung und die irrsinnigen Widersprüche. Auf der an-deren Seite hatten wir unsere Freunde und Familien, sindauf Partys und in die Disco gegangen, und natürlichwussten wir: Die Stasi tanzt immer mit.Als der Eiserne Vorhang in Ungarn durchlässigwurde, kam eine neue Ausreisebewegung aus der DDRin Gang. Für mich war es schmerzlich, festzustellen: Dieda gingen, das waren gerade die jungen Familien. Daswaren die Munteren, die sich kümmern wollten und dieetwas anderes wollten. Das waren die Freunde und Be-kannten, und sie wurden immer weniger. Es wurde mehrund mehr deutlich, dass die DDR ein Staat im Untergangwar: ohne wirklichen Rückhalt, angewiesen auf die sow-jetische Existenzgarantie und auf eine hermetisch verrie-gelte Grenze.Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, derdie gefälschten Wahlen in der DDR miterlebt hat odernachliest, was damals geschehen ist, der müsste den ho-hen Wert freier Wahlen für eine lebendige Demokratiebegreifen. Ich bin neulich gefragt worden, ob ich Ver-ständnis dafür habe, dass so viele Menschen heutzutagenicht wählen wollen oder nicht mehr wählen gehen. Ichbekenne offen: Ich habe kein Verständnis dafür, dassLeute es schick finden, nicht wählen zu gehen.
Ich habe kein Verständnis für renommierte Journalis-ten, die ein Buch über Die Machtfrage schreiben und esmit dem Untertitel Ansichten eines Nichtwählers verse-hen. Dieses Geschwätz könnte zu einem bösen Erwa-chen führen. Ich jedenfalls will keine Neonazis im Euro-päischen Parlament haben.
Ich will sie nicht im Bundestag haben und nicht imLandtag, und ich will sie in keinem einzigen Rathaus ha-ben. Wer diejenigen wirklich ehren will, die vor 25 Jah-
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Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
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ren mutig darauf bestanden haben, eine echte Wahl zuhaben, der geht wählen und der wählt eine demokrati-sche Partei.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Erbe des7. Mai 1989.Schönen Dank.
Steffi Lemke erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass ausgerechnet eine gefälschte Kommu-
nalwahl der Funke wurde, der die friedliche Revolution
1989 zwar nicht in Gang gesetzt, aber entzündet hat,
mag aus heutiger Sicht angesichts geringer Kommunal-
wahlbeteiligungen oder der Mühen, die alle Parteien im
ländlichen Raum haben, Kandidatinnen und Kandidaten
für Kommunalwahllisten zu finden, seltsam anmuten.
Aber ich glaube, es zeigt hauptsächlich, wie groß, wie
gigantisch der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestim-
mung in der damaligen DDR geworden war. Wir haben
damals nicht etwa eine Volkskammerwahl, sondern eine
gefälschte Kommunalwahl zum Anlass genommen, um
endlich aufzubegehren, um nicht nur zu Hause am
Abendbrottisch oder im Freundes- und Bekanntenkreis,
sondern öffentlich, auf der Straße die Stimme gegen das
SED-Regime, gegen Unterdrückung, gegen Bespitze-
lung, gegen das Eingesperrtsein, gegen Sprech- und
Denkverbote und für Presse- und Versammlungsfreiheit
zu erheben. Das waren die Motive, die uns damals, im
Herbst 1989, ursprünglich auf die Straße gebracht haben.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Minister, dass Sie dies
hier in der Debatte so differenziert dargelegt haben.
Wir haben damals die Stimme erhoben. Wir haben
nicht länger nur geträumt von einer Revolution, von ei-
ner Verbesserung eines Systems, das wir für grundfalsch
hielten. Wir sind für die Veränderung eines diktatori-
schen Systems eingetreten. Sicherlich waren unsere da-
maligen Träume teilweise bunt und naiv. Niemand hat
das für mich so präzise beschrieben wie Bundespräsident
Joachim Gauck, als er sagte: „Wir träumten vom Para-
dies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“
Herr Kollege Kauder, diesen Zuruf hätte ich für ver-
zichtbar gehalten.
Ich mag Nordrhein-Westfalen – offensichtlich im Ge-gensatz zu Ihnen; vielleicht müssen Sie das fraktionsin-tern noch einmal klären –, weil es definitiv lebendiger istals das Paradies, weil ich als Atheistin freien Zuganghabe und weil dort viele freundliche Menschen leben.Ich glaube aber, dass dieser Spruch von JoachimGauck sehr zielsicher beschreibt, wie wir ursprünglich indie friedliche Revolution gestartet sind und wie vieleEnttäuschungen uns auf dem Weg danach widerfahrensind. Natürlich ist die Wiedervereinigung im Nachhineinein Geschenk. Aber sie war nicht das ursprüngliche Zielvieler gerade junger Leute,
die 1989 begonnen haben, mit dem Motto „Wir sind dasVolk“ auf die Straße zu gehen.Ich habe seitdem oft an unserer Demokratie gezwei-felt. Ich bin an unserer Demokratie teilweise verzweifelt.Vieles haben wir nicht erträumt. Vieles wollten wir auchnicht, sei es der Treuhanduntersuchungsausschuss oder20 Prozent Arbeitslosigkeit, sei es der unaufgeklärte Todeines Ausländers in einer Polizeizelle in meiner Heimat-stadt Dessau – manche erheben sogar den Vorwurf desMordes –, den bis heute kein Gericht und keine Polizei-institution klären konnte, sei es die Bild-Zeitung, seienes Schwarzgeldkonten und Ehrenworte oder sei es einBundeskanzler, der Auslandseinsätze mit Vertrauensfra-gen verbindet.Das ist sicherlich ein subjektives Potpourri, aber essind Ereignisse gewesen, die mich am Rechtsstaat undan unserer parlamentarischen Demokratie haben zwei-feln lassen. Ich glaube, dass keine und keiner sich 1989und auch nicht 1990 hat träumen lassen, dass wir25 Jahre nach der friedlichen Revolution in unseremLande darüber diskutieren, wie wir die Totalüberwa-chung unserer elektronischen Kommunikation beendenkönnen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Freiheit auch indieser Frage siegen wird. Ich weiß nicht, wann und wie,aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie es tun wird.Ich will mit einem Gedanken enden, der mir persön-lich sehr wichtig ist. Ich bin letzte Woche in der Eifelund im Hunsrück unterwegs gewesen und habe dort ne-ben Rotäpfelchen das Projekt des Westwalls vorgestelltbekommen, das ich persönlich als sehr faszinierendesProjekt empfinde, weil es die ehemaligen Grenzbefesti-gungen an der Westgrenze – so wie das Grüne Band ander ehemaligen innerdeutschen Grenze – in unsere histo-rische Erinnerungskultur hineinholen will. Ich glaube,dass dieses Projekt die Unterstützung des DeutschenBundestages verdient, weil es zur Erinnerungskultur ge-hört und weil das eine ohne das andere nicht zu denkenist.Ich glaube, dass es deshalb gerade 25 Jahre nach demMauerfall die Verantwortung des gesamten Parlaments,von ganz links bis ganz rechts, ist, dafür zu sorgen, dassin diesem Jahr nicht ein neuer Eiserner Vorhang in Eu-ropa entsteht. Ich wünsche der Bundesregierung, FrauMerkel, Herrn Steinmeier und Frau von der Leyen, alles
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2674 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Steffi Lemke
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Glück und allen Erfolg in dieser Mission. Ich beneide siedarum tatsächlich nicht.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kretschmer,
dem ich zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratu-
liere und alles Gute für das neue Lebensjahr wünsche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VielenDank für die freundlichen Wünsche. – Ich habe nur eineErinnerung an den 7. Mai 1989, nämlich die, dass ichKlaus Feldmann abends im Fernsehen gesehen habe undmit allem gerechnet habe: mit 80 Prozent, mit 85 Pro-zent, vielleicht auch mit 90 Prozent. Ich als 14-Jährigerwar sprachlos, als dann 99 Prozent verkündet wurden.Ich glaube, in diesem Moment war auch mir klar: Hierwird übel betrogen. Das letzte Mäntelchen von Legitimi-tät, das es noch gab und das für die DDR so wichtig war,ist an diesem Tag weggerissen worden. In der Tat hat andiesem Tag alles begonnen, was dann im Wendeherbstendete.
Ich verstehe die Rede der Kollegin Lemke nicht. Ichverstehe nicht, wie man das, was 1989 endete, Gott seiDank endete – jedes Mal, wenn ich zum BrandenburgerTor komme, ist es für mich ein unglaublicher Moment,dort durchgehen zu können; ich erinnere mich, wie wirdavor gestanden und dieses Unverständnis verspürt ha-ben, dass da das eigene Land endet, dass es da nicht wei-ter geht, dass man eingesperrt ist –, in irgendeinen Zu-sammenhang mit den Einsätzen in Bosnien und derschwierigen Entscheidung, die wir verantwortlich ge-troffen haben, bringen kann.Ich verstehe nicht, wie man in diesem Moment, indem es darum geht, diese Diktatur in einer friedlichenRevolution zu überwinden, über Internetüberwachungreden kann, ohne sich Gedanken darüber zu machen,was eigentlich gewesen wäre, wenn die DDR über dieseMöglichkeiten verfügt hätte. Hätte es dann diese friedli-che Revolution überhaupt gegeben, oder wären all dieseLeute, die sich wie auch meine Eltern engagiert haben,irgendwo im Gefängnis oder im Nirgendwo gelandet?
Deswegen kann ich nur sagen: Gott sei Dank ist dasalles vorbei. Was für ein Glück für mich, für meineSchwester, die zwei Jahre jünger ist, und für meinenBruder, der sieben Jahre jünger ist! Was für eine giganti-sche Lebenschance, die wir alle bekommen haben, inBezug auf den Zuwachs an Lebenserwartung, die Ge-sundheit, die Umwelt! Wir stehen heute in der Verant-wortung, daraus etwas zu machen. Wir müssen den jun-gen Leuten in den neuen Bundesländern sagen: Ihr habtalle Chancen, macht etwas daraus! Wir haben großartigeChancen in der Wissenschaft, in der Bildung, in derWirtschaft.Wenn ich lese, dass die deutsche Einheit 2 BillionenEuro gekostet hat, dann muss ich sagen: Ich finde, das istgut angelegtes Geld.
Denn 1989/90 endeten nicht nur ein Land und eine Dik-tatur; vielmehr ist auch ein neues Deutschland entstan-den. Der Satz ist richtig: Ein besseres Deutschland alsdas, das wir heute haben, gab es nie. – Das, was die deut-sche Einheit gekostet hat, ist gut angelegtes Geld.
Ich bin froh darüber, dass wir mit unserem Koali-tionsvertrag auch einen Beitrag dazu leisten, dass dieDDR nicht in Vergessenheit gerät. Mit DDR meine ichein System der Unterdrückung, eine Ideologie des Sozia-lismus und des Kommunismus. Darum geht es im Kern:deutlich zu machen, dass diese Ideologie zu Unfreiheitund zu großen Verbrechen führt. Es geht nicht um dieDDR als irgendetwas, sondern es geht um eine wirklichschlimme, linke, kommunistische, sozialistische Ideolo-gie. Wir sind dafür dankbar, dass die Robert-Havemann-Gesellschaft eine wichtige Aufgabe erfüllt. Wir werdensie in diesem Jahr und in der Zukunft mit zusätzlichenMitteln unterstützen.Wir sind froh darüber, dass Rainer Eppelmann mit derBundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur klar-macht und auch heute noch Erkenntnisse dazu produ-ziert, wie die SED-Diktatur im Kern gewirkt hat. Ichhabe nullkommanull Verständnis dafür, dass man hierberichtet, dass man am 7. Mai 1989 erlebt hat, wie dieeigenen SED-Leute die Wahlergebnisse gefälscht haben,und dass man nonchalant dazu übergeht, zu erzählen:Dann saß ich am Runden Tisch und habe da mitdisku-tiert.
Eine richtig gute Aussage wäre doch gewesen, Herr Kol-lege Hahn: Deswegen bin ich am 7. Mai 1989 aus derSED ausgetreten.
Das Ganze ist auch eine Frage des Umgangs mit derGeschichte. Natürlich gab es in der DDR eine CDU.Aber was hat diese Partei nach der Wiedervereinigungan Aufarbeitung, an einer Bewertung von Geschichte ge-leistet?
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Michael Kretschmer
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Das alles sind Dinge, die Sie als direkte Nachfolgeparteider SED,
als Partei, die sich bewusst die Stasi als Machtinstrumentgehalten hat, nie geleistet haben. Von Ihnen gab es keineEntschuldigung für die Opfer,
kein Anerkenntnis für das Unrecht in der DDR,
übrigens auch heute nicht in Ihrer Rede.
Insofern besteht hier ein großer Unterschied im Umgangmit der Geschichte.
Herr Kollege Kretschmer, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Bitte.
Herr Kollege Kretschmer, würden auch Sie, wie ein
Großteil des Hauses, zur Kenntnis nehmen – Wiederho-
lung 587 –, dass sich die SED bereits auf dem Sonder-
parteitag der SED-PDS entschuldigt hat, dass auf diesem
Parteitag ein Referat gehalten worden ist, in dem wir mit
dem Stalinismus als System unwiderruflich gebrochen
haben, dass wir in unserer Partei beispielsweise Be-
schlüsse haben, die besagen, dass man, bevor man kan-
didiert, seine Biografie offenlegen muss? Würden Sie
zur Kenntnis nehmen, dass es einen Vergleich mit der
Treuhandanstalt gegeben hat, nach dem wir finanziell
bei null angefangen haben?
– Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben
das Geld der CDU Ost eingesackt.
Deswegen wollen Sie nicht hören, wie es bei uns war.
Würden Sie also zur Kenntnis nehmen, dass wir einen
25-jährigen Prozess der permanenten Aufarbeitung der
eigenen Geschichte hinter uns haben
und mit dem Stalinismus als System unwiderruflich ge-
brochen haben?
Ich nehme zur Kenntnis, dass es keine andere Partei
im Deutschen Bundestag oder in einem Länderparlament
gibt, in dem Stasimitarbeiter Parlamentsabgeordnete sein
können.
Das ist etwas, was ich zur Kenntnis nehme und was ich
in vielen Länderparlamenten gesehen habe.
Meine Damen und Herren, wie wichtig es ist, die ei-
gene Geschichte aufzuarbeiten und ein klares Verhältnis
dazu zu haben, sehen wir meines Erachtens gerade in
Russland und in der Ukraine. Es ist total wichtig, Klar-
heit zu haben und dem entgegenzutreten, dass der russi-
sche Präsident sagt: Der Untergang der Sowjetunion ist
die größte Katastrophe des 21. Jahrhunderts. – Nein, so
ist es nicht. Für uns ist es wichtig, dass die Geschichte
vernünftig aufgearbeitet wird und auch lebendig bleibt.
Deswegen werden wir in den nächsten Wochen eine
Kommission einberufen, die für die zukünftige Arbeit
der Stasi-Unterlagen-Behörde Empfehlungen ausspricht.
Uns ist wichtig, dass es diese Institution weiter gibt. Wir
sind froh darüber, dass wir im Koalitionsvertrag gemein-
sam vereinbaren konnten, dass die ehemalige Stasizen-
trale in Berlin-Lichtenberg zu einem Ort der Aufklärung
über Diktatur und Widerstand wird.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Am 7. Mai
1989 begann etwas Großartiges, eine große Geschichte
für unser Land. Es ist ein großer Tag, und es ist gut, dass
wir ihn heute so miteinander begehen.
Vielen Dank. – Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin
Steffi Lemke zu einer Kurzintervention.
Kollege Kretschmer, damit, dass Sie meine Rede
nicht verstehen, kann ich leben.
Ich will Sie nicht noch tiefer reinreiten; ich möchte nur
fürs Protokoll festhalten, dass ich keinen Zusammen-
hang zwischen Bosnien und der friedlichen Revolution
oder den Wahlen am 7. Mai 1989 hergestellt habe.
Vielleicht wollen Sie das einmal in Ruhe nachlesen.
Herr Kollege Kretschmer, möchten Sie darauf nochantworten? – Bitte schön.
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2676 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
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Frau Kollegin, Sie haben mit Bezug auf Gerhard
Schröder diesen Hinweis gebracht. Ich habe da nichts
zurückzunehmen.
Noch einmal: Ich finde, was wir 1989 überwunden
haben
– ja, was wir miteinander überwunden haben –, war et-
was so Schlimmes und es hätte so furchtbar geendet,
dass man es mit nichts in Verbindung bringen kann oder
mit nichts abwägen kann, was in einer Demokratie an
schwierigen Entscheidungen, auch unangenehmen Ent-
scheidungen zu treffen ist, an schwierigen Prozessen zu
bewältigen ist. Gott sei Dank können wir hier im Haus
miteinander diskutieren, können schwierige Entschei-
dungen treffen, ohne Angst haben zu müssen, was uns
passiert, wenn wir nach Hause gehen.
Das, finde ich, sollte man nicht durcheinanderbringen.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bis zur letzten Rede war das eine sehr angemessene De-batte. Aber ich fand die Rede vom Vorredner der CDUunpassend. Sich das vorzuwerfen, muss, finde ich, heutenicht sein.
Man kann sagen: Weder die Ost-CDU noch die dama-lige SED sind die Erben der Bürgerinnen-und-Bürger-Bewegung. Die Erben waren, wenn überhaupt, Bünd-nis 90 und die Grünen sowie die Ost-SDP.
– Ihr wurdet einfach nur übernommen – genauso wie dieBauernpartei.
Das gehört zur Wahrheit dazu und auch die Rolle vonHerrn Tillich bis 1989.
Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen, aber nun sageich es doch.
Ich bin in Leipzig geboren, habe Ende der 80er-Jahrein Leipzig studiert, und die Wahl vor 25 Jahren warmeine erste Wahl. Ich war stolz, nicht zum Zettelfaltenzu gehen, sondern den Mut zu haben, richtig wählen zugehen.Auch in Leipzig und Umgebung wurde die Wahl be-obachtet. Es wurde aufgerufen, mit Nein zu stimmen.Auch in der DDR gab es Wahlkabinen. Die hat nur nie-mand benutzt, weil klar war: Wer dort hineingeht, machtwahrscheinlich irgendetwas, was nicht korrekt ist.Damals, vor 25 Jahren, haben wir die Wahlkabinenbenutzt. Um mit Nein zu stimmen, musste man jedeneinzelnen Vorschlag mit dem „Wahlbesteck“, mit Linealund Kuli, einzeln durchstreichen; das dauerte eine Weile.Wenn man herauskam, hatte man garantiert einen Ver-merk an seinem Namen und danach sozusagen in derAkte. Aber da man nicht allein war, sondern es durchausmehrere gab, hatte auch ich den Mut und war danachganz stolz. Das war aber nur der erste Teil.Um 18 Uhr waren wir wieder im Wahllokal, um beider Auszählung dabei zu sein; wir wollten das beobach-ten. Auch das war in der DDR völlig legal. Alle Auszäh-lungen waren öffentlich. Da ist nur niemand hingegan-gen, weil klar war: Es wählen sowieso 99 Prozent dieKandidaten der Nationalen Front.In dem Wahlbüro, wo ich war, hat man zum Beispielversucht, die Neinstimmen als ungültig zu werten. Dage-gen haben wir protestiert. Dann hat man versucht, das ir-gendwie anders hinzubekommen.An dem Abend gab es eine Demonstration in Leipzig;das ist vorhin schon angesprochen worden. Es gab aucheinen Beschluss der Synode der evangelischen Landes-kirche in Sachsen mit dem Aufruf, entweder nicht zurWahl zu gehen oder die Wahlkabine zu benutzen.Als am nächsten Tag das offizielle Ergebnis verkün-det wurde, konnten alle diejenigen, die dabei gewesenwaren, nur lachen, weil sie wussten: Ungefähr 10 Pro-zent waren Gegenstimmen.Zu dem Tag, denke ich, kann man sagen: Diese Kom-munalwahl war ein Puzzleteil im Vorfeld der friedlichenRevolution; denn die Menschen haben sich immer weni-ger bieten lassen und sind immer mutiger geworden.Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass die Frie-densgebete in der Leipziger Nikolaikirche innerhalb vonwenigen Monaten zu Montagsdemos in Leipzig führenwürden, dass es schon im März 1990 die ersten freienund ungefälschten Wahlen geben würde und dass ich imJahr 1990 in Wahllokalen die Wahlen leiten würde. ZehnMonate davor habe ich noch beobachtet.Ich war in den entscheidenden Jahren bzw. in der ent-scheidenden Zeit in Leipzig dabei und kann immer nochsagen: Das waren für mich die spannendsten Jahre mei-nes Lebens. Man wusste, als man im September 1989auf die Straße ging, nicht, was passieren würde. Es wargefährlich. Dann bekam die Entwicklung eine sehr großeEigendynamik. Ich denke aber: Diese Wahlen vor25 Jahren haben das Ende der DDR mit eingeleitet. Dasmiterlebt zu haben, stärkt einen noch bis heute – manch-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2677
Monika Lazar
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mal auch bei den politischen Streitereien im Bundestagoder auf anderen Ebenen. Denn wer kann schon sagen:„Ich war bei einer Revolution – und dann noch bei einerfriedlichen – dabei“?Danke schön.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort Wolfgang Tiefensee.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ImZusammenhang mit dem 7. Mai 1989 würde ich gerneüber Zivilcourage sprechen. Es gibt ein einfacheres Wortmit drei Buchstaben dafür: Mut. Der 7. Mai 1989 ist einwichtiger Markstein des Countdowns, der am Ende zumSturz des DDR-Regimes geführt hat. Ich wünschte, hierim Haus – von der einen Seite bis zur anderen Seite –würden alle glasklar sagen: Die DDR war ein Unrechts-staat, eine Diktatur. Punkt! Das sieht man an der Wahl-fälschung.
Diese klare Botschaft muss man zum Ausdruck bringen.Wem verdanken wir nun den 9. November, der letzt-lich mit dem am 7. Mai beginnenden Countdown seinenAnfang nahm? Wir verdanken ihn mutigen Menschen.Da stehen die ganz Großen – FriedensnobelpreisträgerWilly Brandt und Gorbatschow – im Rampenlicht. Dastehen ein Vaclav Havel und ein Lech Walesa im Ram-penlicht. Im Kern aber waren es mutige Menschen, dieihre Angst überwunden haben; denn der Nährboden fürDiktatur ist, dass es einem Regime gelingt, Angst zu ver-breiten.Sehr verehrter Kollege de Maizière, ich darf Sie bit-ten, wenn es um den 9. November geht, nicht der Versu-chung zu erliegen, vielleicht doch am Ende zu sagen: Esist Helmut Kohl gewesen, der die Mauer eingerissen hat.
Nein, mit Blick auf den 9. November – die Feierlichkei-ten stehen an – wäre es gut, wenn die Bürgerinnen undBürger, das Volk, im Mittelpunkt stehen würden.
Es gibt in Deutschland mehrere Tendenzen, die unsnicht unberührt lassen dürfen. Ich möchte drei anspre-chen, um konkret zu sagen, was wir jetzt tun müssen:Erstens geht es um Politikerverachtung, Politikver-drossenheit sowie um die Differenz zwischen politi-schem Handeln und der Bequemlichkeit des Bürgers.Wir müssen etwas tun, damit Menschen von Kindheit ansozusagen Muskeln dafür bekommen, sich zu artikulie-ren, einen eigenen Standpunkt zu erlangen, sich in die ei-genen Angelegenheiten einzumischen und von der eige-nen Unmündigkeit wegzukommen. Das fällt nicht vomHimmel. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir mitVolksbefragungen, Volksbegehren und Volksentschei-dungen die Bürger noch dichter an die politischen Ent-scheidungen heranbringen.Ich fordere Sie auf, es meiner Heimatstadt und vielenanderen Städten gleichzutun und Jugendparlamente ein-zurichten, damit man lernt, wie das geht. Die Piraten ha-ben eine nicht uninteressante Diskussion angefacht: Wieist es mit Liquid Democracy? Müssen wir nicht irgend-wann einmal auch neue, moderne Instrumente des21. Jahrhunderts nutzen?Zweitens. Der Mainstream – so sagt Heitmeyer – bisweit in die Bevölkerung hinein ist Ausländerfeindlich-keit bzw. Ausländerverachtung. Es geht darum, diesenMainstream, der immer weiter in die Gesellschaft hi-neinreicht, zu brechen. Wir müssen Initiativen stärken,die das tun.
Ich bin Manuela Schwesig sehr dankbar, dass sie am ver-gangenen Mittwoch solche Initiativen eingeladen hat.Dabei hat sie auch gesagt, dass sie die Förderung auf denPrüfstand stellen will. Wir brauchen unter Umständenmehr institutionelle und langfristigere Förderung.
Ich stelle Ihnen das Projekt WorldCitizen in Berlinvor. Hier hat sich Salahdin Said – er ist in Rheinland-Pfalz geboren – die Frage gestellt: Warum werde ich an-gesichts meines Aussehens immer nur danach gefragt,woher ich komme, und nicht, welche Talente und wel-chen Charakter ich habe? – Wir brauchen Gesprächsfor-men. Das müssen wir unterstützen. Ich rege an, dass wiruns mit aller Kraft bis hinein in unsere Haushaltsgesetz-gebung dafür einsetzen, dass diese Initiativen gestärktwerden.
Und das Dritte: Ein Problem ist, dass die rechtsextre-men und rechtsradikalen Gedankengüter immer weiter indie Mitte der Gesellschaft rücken. In Pirna beispiels-weise – das ist ein Ort nahe Dresden; Dresden war imHerbst 1989 nicht unwichtig, genauso wie Plauen undLeipzig – hat sich eine Initiative um Sebastian Reißiggegründet, die sich Aktion Zivilcourage nennt. MeineDamen und Herren, es ist auf dem flachen Lande nichtso einfach, gegen rechts aufzutreten, wie zum Beispiel ineiner großen Stadt auf einer Demonstration. Auch solcheInitiativen zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie ge-nug Substanz behalten, dass aus diesem bürgerschaftli-chen Engagement Mut erwächst, muss unsere Aufgabesein. Darauf müssen wir den Fokus richten.
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2678 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Wolfgang Tiefensee
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Meine Botschaft ist: Mein Wohl ist nicht Gemein-wohl. Auf die eigenen Fußspitzen zu schauen und nurden eigenen Bereich zu sehen, macht verzagt. Was wirbrauchen, ist ein Ausbrechen aus der eigenen Unmün-digkeit, ein In-die-Hand-Nehmen des eigenen Schick-sals, eine Kultur des selbstständigen Denkens und auchdes Widerstehen-Könnens. Dafür müssen wir alle Mög-lichkeiten nutzen, die uns als Politikerinnen und Politi-ker gegeben sind, damit nie wieder, nicht einmal im An-satz, so etwas passiert, was wir heute als Diktatur undUnrechtsstaat bezeichnen müssen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Christoph
Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Hahn, ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zu-gehört, auch weil Sie der Einzige aus den Reihen derLinken sind, der zu dieser Debatte spricht. Ich will schonsagen, dass Ihre Aussagen ein wenig glaubwürdiger ge-wesen wären, wenn Sie bei der Aufzählung der damalshandelnden Personen nicht nur die Rollen von StanislawTillich und von Gregor Gysi beleuchtet hätten, son-dern auch gesagt hätten – das haben Sie leider ver-schwiegen –, dass der Ehrenvorsitzende der PDS, HansModrow, wegen Anstiftung zur Wahlfälschung rechts-kräftig verurteilt wurde. Auch das zu sagen, hätte zu ei-nem vollständigen Bild gehört.
Die Debatte zeigt, dass das Datum, an das wir heuteerinnern, untrennbar in den Kontext der Erinnerung andie friedliche Revolution vor 25 Jahren gehört. Das, wassich heute vor 25 Jahren ereignete, war ein Meilenstein,wahrscheinlich sogar ein Wendepunkt in der Geschichteder friedlichen Revolution.Es ist richtig, Kollege Tiefensee, hier die Zivilcouragezu würdigen. Ich finde, die Debatte ist ein guter Anlass,diejenigen zu würdigen, die damals den Mut und dieSelbstlosigkeit hatten, die Wahlergebnisse systematischauf der Grundlage des bestehenden Wahlgesetzes zuüberprüfen. Wir sollten vielleicht ein wenig vorsichtigsein, an dieser Stelle schon von „Volk“ zu sprechen.Denn nach meiner Erinnerung waren es nicht so sehrviele, die dies taten und die dann zum Beispiel bei mir zuHause in Halle nach Feststellung offenkundiger Unge-reimtheiten in einem offenen Brief an die gewähltenKommunalvertreter darauf aufmerksam machten, dasssie bei der Wahrnehmung ihres Mandates doch bedenkensollten, dass sie im Zuge eines offenkundig gefälschtenWahlergebnisses ins Amt gekommen sind. Oder ichdenke an diejenigen, die in Leipzig spontan reagiertenund am Abend der Wahlfälschung demonstriert haben.
Meine Damen und Herren, es hat bis zum heutigenTage nicht an Versuchen gefehlt, diese Wahlfälschungenzu bagatellisieren. Die Versuche erstreckten sich auchauf die Prozesse gegen die Wahlfälscher. Weil wir alledie Person kennen, erlaube ich mir, Otto Schily zu zitie-ren, der Strafverteidiger der Wahlfälscher in Dessau war.Er hat eine interessante Argumentation – wohlgemerkt,in seiner Verteidigerrolle; ob es seine Überzeugung war,sei dahingestellt – aufgebracht:Die Scheinwahlen in der DDR waren das Gegen-bild demokratischer Wahlen, das rechtsstaatlicheSystem der Bundesrepublik kompromittiert sichdurch ihren nachträglichen Schutz.Will sagen: Weil die Wahlen in der DDR keine wirkli-chen Wahlen waren, gab es auch keine strafrechtlich zuverfolgenden Wahlfälscher.
Es hat erst der Rechtsprechung des BGH bedurft, umklarzustellen, dass das Strafrecht der DDR, das ja eineVerfolgung von Wahlfälschungen beinhaltete, auch indiesem Fall der Wahlfälschungen zu Recht anzuwendenist.Ich kann die Argumentation von Otto Schily in einemPunkt durchaus verstehen. Diese Wahlen waren absurdesTheater: Eine Einheitsliste wurde unter Aufsicht erstellt.Es gab keinerlei Möglichkeiten zu Alternativentschei-dungen. Es ist surreal, einen solchen Vorgang Wahlen zunennen.Auch wenn man zu dem Schluss kommt, dass es sichletztendlich um einen Akklamationsritus einer selbstge-fälligen Staatsmacht gehandelt hat – das lässt sich durchviele Zitate belegen –, so sollten wir doch bedenken, wiebedeutsam es war, dass nicht alle bei diesem Ritus mit-gemacht haben.Ich selbst habe relativ lange gebraucht – nicht bis1989, aber bis weit in die 80er-Jahre hinein –, bis ich dieNotwendigkeit erkannte und den Mut fand, in die Wahl-kabine zu gehen und den vorliegenden Zettel so zu be-handeln, dass ich hoffen konnte, dass er als Gegen-stimme gewertet wurde. Das war in der DDR gar nichtso einfach. Man musste sich belehren lassen, dass jederName einzeln durchzustreichen war. Alles andere wurdenicht als Gegenstimme gewertet.Mit diesem Schritt habe ich mich eingereiht in dieZahl von Leuten, die wohl erkannt haben, dass dieseWahlen kein Instrument der Volkssouveränität warenund dass es überhaupt keine Entscheidungsalternativengab, über die man reden konnte. Die Gegenstimme hatteaber deshalb eine Bedeutung, weil die Wahlen eineLoyalitätsabforderung des totalitären Staates war. Siewaren sozusagen ein Instrument zur organisierten Unter-werfung eines Volkes geworden.Herr Hahn, weil es das Neue Deutschland heute nochgibt, habe ich die Ausgabe des Neuen Deutschlands vom8. Mai 1989 mitgebracht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2679
Dr. Christoph Bergner
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Dort stand unter der Überschrift „Eindrucksvolles Be-kenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozia-lismus“, dass 98,85 Prozent für die Kandidaten derNationalen Front gestimmt hätten. Das ist das Unterwer-fungsdokument, um das es ging.
Herr Kollege Bergner, denken Sie an die Redezeit.
Ja. – Um zu verschleiern, dass es Menschen gab, die
sich nicht unterwerfen ließen, und um zu verhindern,
dass die Zahl dieser Menschen transparent wurde – sie
hätten ja Vorbild werden können; letztendlich sind sie
1989 Vorbild geworden –, hat man Wahlen gefälscht.
Deshalb war der Kampf gegen die Wahlfälschung so be-
deutsam, und nicht deshalb, weil die Entscheidung, um
die es ging, so bedeutsam war. Das Bekenntnis derjeni-
gen, die sich der Unterwerfung durch den Staat verwei-
gert haben, wurde daher wegen seiner gefürchteten Bei-
spielwirkung über Jahrzehnte verschwiegen.
Das ist ein wunderbarer Schlusssatz.
Ich möchte noch ein letztes Mal, Frau Präsidentin, auf
Herrn Hahn eingehen. Sie haben die Frage gestellt: Wa-
rum war die SED mit 88 und 89 Prozent nicht zufrieden?
Sie war deshalb nicht zufrieden, weil es bedeutet hätte,
dass es 11 bis 12 Prozent gab, die das Ritual nicht mit-
machten. Beim nächsten Mal wären es 20, 30 oder
40 Prozent gewesen. Das ist 1989 endlich so geschehen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! In meinem Wahlkreis Lüchow-Dan-nenberg und Lüneburg liegt die Gemeinde Amt Neu-haus, direkt am östlichen Ufer der Elbe, die bis 1989Niedersachsen und Mecklenburg und damit auch dieBundesrepublik und die DDR voneinander trennte.Solange sich die Menschen dort erinnern konnten, ge-hörte die Gemeinde Amt Neuhaus zur Provinz Hanno-ver. 1945 haben die Briten die Gemeinde an die Sowjeti-sche Besatzungszone übergeben, weil es zu schwierigwar, die Gemeinde über die Elbe hinweg mit Lebensmit-teln und all dem, was nötig war, zu versorgen und zu un-terstützen. 1952 kam dann die Sperrzone, und es wurdeein übermannshoher Zaun errichtet. Von da an konntendie Menschen in dieser Gemeinde nicht mehr auf ihreElbe schauen. Es kam die Aktion Ungeziefer mit denZwangsaussiedlungen; das alles ist Ihnen bekannt. 1993kam die Gemeinde durch einen Staatsvertrag zurücknach Niedersachsen.Es war, wie es eine Zeitzeugin beschreibt, eine Welt,wie mit Brettern zugenagelt, bis am 9. November 1989die Mauer fiel, in den Wochen danach die Zäune abge-baut wurden und der Blick auf die Elbe wieder frei war.Für die Menschen in Amt Neuhaus und auch an anderenStellen der Elbe war dieser Blick auf die Elbe der Inbe-griff der Freiheit.Ich erinnere mich noch sehr genau an mein eigenesGefühl und an das, was ich am 9. November und an denTagen danach erlebt habe. Die Menschen haben das Ge-fühl der Freiheit quasi aufgesogen. Wir alle haben eineunbändige, tiefe und ehrliche Freude empfunden überdas Ergebnis der friedlichen Revolution, die unser Landund damit ganz Europa nachhaltig verändert hat. Bis da-hin war es ein langer Weg; das ist schon angedeutet wor-den. Der Weg begann – das möchte ich an dieser Stelledeutlich sagen – mit Willy Brandt und der neuen Ost-politik.Ein weiterer wichtiger Markstein war der 7. Mai1989, an den wir heute erinnern. Es war der Beginn derfriedlichen Revolution und der Stein, der alles ins Rollenbrachte. Das DDR-Regime wurde an diesem Tag end-gültig des Wahlbetrugs entlarvt und verlor bei den Men-schen jede noch verbliebene Glaubwürdigkeit. MutigeMenschen – das ist schon mehrfach gesagt worden –wollten sich nicht länger für dumm verkaufen lassen. Siesind in die Wahllokale gegangen und haben die Auszäh-lung der Stimmen beaufsichtigt. So konnten sie am Endedes Tages beweisen, was vorher schon viele vermutethaben: dass die fast 99 Prozent Zustimmung für die Ein-heitsliste eine Lüge waren. Der lautstarke Protest, dersich an diesem Wahlbetrug entzündete, war der ersteSchritt zur Selbstbefreiung. Diese Selbstbefreiung hattenoch 1989 für viele einen hohen Preis, indem sie ver-folgt und bespitzelt wurden und zum Teil noch in Haftkamen. Die Menschen haben aber diesen hohen Preis umder Freiheit willen gerne in Kauf genommen. Es war derWille zur Freiheit, der sich an diesem Tag manifestierthat und die deutsche Einheit am Ende ermöglicht hat.Auch ich sage es an dieser Stelle wirklich gerne, liebeKolleginnen und Kollegen: Der heutige Tag ist ein An-lass, diesen Menschen für ihr Engagement und ihrenMut Dank zu sagen. Herzlichen Dank!
Dass wir heute an diesen Tag erinnern und die Ge-schehnisse würdigen, ist richtig und wichtig. Wir könnenaber nicht in dieser Rückschau verharren. Auch ichmöchte deswegen den Blick in die Gegenwart lenken.Dass wir in einer Demokratie leben und an freien Wah-len teilhaben können, ist nicht selbstverständlich. Wirhaben hier gehört: Auch in der Zeit der Nazidiktatur ha-ben die Menschen erlebt, was es bedeutet, nicht frei
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2680 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014
Hiltrud Lotze
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wählen zu können. Die Demokratie und die Freiheit, diewir heute haben, sind hart erkämpft, und sie haben vor25 Jahren buchstäblich die Mauern eingerissen.Heute ist unsere Freiheit so groß wie nie zuvor. Aberwie steht es um den Willen der Menschen, unsere Demo-kratie zu verteidigen und sie lebendig zu halten? UnsereDemokratie ist für viele eine banale Selbstverständlich-keit geworden, um die sie sich nicht mehr bemühen. Wirsind mit sinkender Wahlbeteiligung, mit einem Rückzugder Menschen ins Private und mit Gleichgültigkeit kon-frontiert. Die Menschen nehmen sich eben auch die Frei-heit – das ist die Kehrseite der Medaille –, sich nicht ander Mitgestaltung unserer Gesellschaft und an Wahlenzu beteiligen. Damit können wir uns aber nicht zufrie-dengeben. Wenn nur 50 Prozent der Menschen zu einerKommunalwahl gehen, dann ist das für uns ein Hinweis– darauf hat mein Kollege Wolfgang Tiefensee ebenschon ausführlich und gut hingewiesen –, dass wir die-sen Mut zur Demokratie, den wir vor 25 Jahren hatten,wieder wecken müssen.Wo ist sie denn hin, die Begeisterung für die Freiheit,die Begeisterung, Verantwortung zu übernehmen, dieBegeisterung für die Demokratie, und wie wecken wirsie vor allen Dingen wieder? Das ist die entscheidendeFrage, die wir uns im Zusammenhang mit dem Erinnernund Gedenken an die friedliche Revolution stellen müs-sen. Ich freue mich auf diese Debatte und halte sie fürsehr wichtig. Ich möchte aber trotzdem damit schließen,dass ich kein besseres System als unsere Demokratiesehe.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold
Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ganz besonders möchte ich mich heute an dievielen jungen Leute wenden, die unsere Debatte hierverfolgen. Ihr werdet euch fragen: Was hat denn das ei-gentlich für einen Sinn, dass wir hier über Wahlen reden,die 25 Jahre her sind und über die der Kollege Bergnerganz zu Recht sagt: „Das waren überhaupt keine Wah-len, das waren reine Unterwerfungsrituale“? Wozu redenwir also darüber? Diese Frage möchte ich beantworten.Man kann die Debatte heute nicht verstehen, ohne zuwissen, was es heißt, dass eine ganze Generation – undauch noch eine halbe Generation danach – einen perma-nenten Freiheitsentzug erlitten hat. Das ist ein Problem:Man kann die Wirkungen eines solchen Freiheitsentzugsim Allgemeinen niemandem erklären, der ihn nicht sel-ber erlebt hat. – Das ist das Erste.Das Zweite ist: Diejenigen, die diesen Freiheitsentzugverursacht haben, setzen im Allgemeinen genau darauf,dass er nicht vermittelbar ist, und knüpfen daran dieStrategie, die Zeit damals unzulässigerweise mit der Zeitheute zu verknüpfen. Auf diese Weise werden Dinge, dieuns, die wir dies erlebt haben, klar sind, den jungen Leu-ten plötzlich wieder unklar.Der Wert dieser Debatte, meine Damen und Herren,liegt darin, diese Dinge zu vermitteln. Sie erkennen viel-leicht, mit welch einer Leidenschaft heute über einenUmstand gesprochen wird, der uns einmal wahnsinnigumgetrieben hat.Was muss man dabei wissen? Man muss wissen, dasswir eine Geschichte erlebt haben – jedenfalls alle, dieschon etwas älter waren –, die überaus deprimierendwar. Wir haben am Rand des sowjetischen Imperiumsgelebt. Die gesamte bisherige Geschichte war so verlau-fen, dass es am Rand dieses Imperiums Ausbruchsversu-che gegeben hat und diese aus dem Zentrum dieses Im-periums regelmäßig mit Gewalt niedergeschlagenworden sind, oftmals mit Hunderten und Tausenden vonToten wie beispielsweise in Ungarn 1956. Weil wirwussten, dass Aufbegehren bisher immer lebensgefähr-lich war, hat es so lange gedauert, bis es schließlich imJahr 1989 so weit war. Ich will in diesem Zusammen-hang mit der Legende aufräumen, dass die Entwicklungausschließlich unserem Mut oder der Verleugnung derGefahr geschuldet gewesen wäre; ganz im Gegenteil.Ich will darauf hinweisen, dass die Jahre von 1985 bis1989 für Ostdeutschland zwar ökonomisch verheerendeJahre waren, weil wir gesehen haben, wie die gesamtetechnologische Entwicklung in der Welt wie eine Loko-motive in der Ferne verschwindet, während wir als abge-hängter Waggon zurückbleiben.
Aber politisch waren es – meine Damen und Herren,jetzt werden Sie staunen – optimistische Jahre. Warum?Weil in diesem russischen Imperium zum ersten Mal Pe-ripherie und Zentrum die Rollen gewechselt hatten. Aufeinmal war es so, dass in Moskau selber eine Dynamikder Reform entstanden ist, verbunden mit dem NamenMichail Gorbatschow. Dies hat uns die Hoffnung gege-ben, dass jetzt der Moment gekommen sein könnte, dassunser Aufbegehren nicht mehr damit endet, dass es inBlut erstickt wird.Das ist der Grund, weshalb man in Ostdeutschlandmutiger geworden ist, weshalb – da muss ich sogar nochein bisschen positiver über die DDR reden, als das ge-rade Herr Hahn getan hat – damals in Dresden sogar eineArt Wahlkampfatmosphäre aufgekommen ist. Die Kan-didaten der Nationalen Front – wie wir gerade gehört ha-ben – wurden auf öffentlichen Veranstaltungen mit Fra-gen konfrontiert, auf die sie bislang keine Schulungvorbereitet hatte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Mai 2014 2681
Arnold Vaatz
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Das hatte die Konsequenz, dass die sonst üblichen Ant-worten, die da lauteten: „Auf Provokationen antwortenwir hier gar nicht“, sofort zu Tumulten führten.
In der Evangelischen Akademie in Meißen hatte derdamalige Präses der Landessynode, Herr Domsch, ge-sagt, er hätte sich beim Rat des Kreises erkundigt: Es seidiesmal möglich, die Wahlen zu kontrollieren und beider Auszählung zugegen zu sein. Wir wussten natürlich– alte sozialistische Regel –: Es kommt nicht darauf an,wer wählt, es kommt darauf an, wer zählt, nicht wahr?
Aus diesem Grund haben wir uns in Dresden aufgemachtund mit vielen Gruppen – Herr Hahn hat das eben ausBerlin berichtet – die Wahl überwacht. Wir haben festge-stellt: Das Ergebnis beträgt ungefähr 80 bis 85 Prozent. –Wir haben dann auf die Verkündung der Ergebnisse ge-wartet. Der sich daraus ergebende Befund ist schonmehrfach erläutert worden.Was kam dann? Sie wissen es: Das war eine kalte Du-sche für den politischen Optimismus. Die Menschen ha-ben sich überlegt: „Jetzt oder nie!“ und sind in Scharennach Ungarn abgewandert. Es kam zu einer Ausreise-welle und schließlich zu dem, was wir die sogenannteWende
oder die Vorgeschichte der deutschen Einheit nennen.Nun ist es richtig, Herr Tiefensee: Helmut Kohl hatdie Mauer nicht zu Fall gebracht. Aber als sie dann wegwar, hat er ganz wesentlich die Voraussetzungen für dieWiedervereinigung geschaffen.
– Nein, nein, das müssen Sie sich schon anhören.
– Lassen Sie mich mal ausreden! Frau Präsidentin, derHerr unterbricht mich die ganze Zeit, das ist unglaublich.
Solange das nicht zu lange wird, Herr Kollege.
Ja, ja. – Er hat die Voraussetzung dafür geschaffen –
ganz anders, als das der damalige SPD-Mann Lafontaine
vorgeschlagen hat –, dass es tatsächlich einen Weg zur
Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit
und zur Wiedervereinigung Europas gegeben hat.
Er hat die Selbstbestimmung der Länder im Verhältnis
zwischen Deutschland und Russland zum Thema seiner
Politik gemacht. Ohne das hätte es keine europäische Er-
weiterung gegeben. Das ist die wirkliche Großtat, für die
wir den Grundstein gelegt haben.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, dass Sie mir ein
paar Sekunden Redezeit mehr gegeben haben.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich konnte jetzt so großzügig sein,
weil Sie der letzte Redner heute waren.
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 8. Mai 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.