Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbedanke mich für die vielen liebenswürdigen Begrüßun-gen und mache Sie darauf aufmerksam, dass wir vorEintritt in die Tagesordnung wieder einmal eine Wahldurchführen müssen.Für die neue Amtszeit des Beirats beim Bundesbeauf-tragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstesder ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes schlägt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, Frau Petra Morawe als Mitglied zuwählen. – Hierzu stelle ich keinen Widerspruch fest.Dann ist Frau Morawe als Mitglied gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punktezu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Probleme beim Nord-Ostsee-Kanal – Auswir-kungen der Politik von Bundesverkehrsminis-ter Dr. Ramsauer auf den maritimen Wirt-schaftsstandort
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDStarke Fachhochschulen für Innovationen inGesellschaft und Wirtschaft– Drucksachen 17/9574, 17/12813 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel KnoerigOliver KaczmarekDr. Martin Neumann Dr. Petra SitteKrista SagerZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Entschließungsan-trag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,Rolf Hempelmann, Hubertus Heil , weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zuder Beratung der Antwort der Bundesregierungauf die Große Anfrage der Abgeordneten RitaSchwarzelühr-Sutter, Rolf Hempelmann, DirkBecker, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie Energiewende – Kosten für Verbrauche-rinnen, Verbraucher und Unternehmen– Drucksachen 17/10366, 17/12246, 17/12538,17/12874 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas BareißZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErgänzung zu TOP 36a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ElviraDrobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm,Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKennzeichnung von Honig mit Gentech-Pollensicherstellen – Schutz der Imkerei vor GVO-Verunreinigungen gewährleisten– Drucksache 17/12839 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Gehrcke, Jan van Aken, ChristineBuchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEKeine Waffenlieferungen an Syrien– Drucksache 17/12824 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 37a) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 562 zu Petitionen– Drucksache 17/12860 –b) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 563 zu Petitionen– Drucksache 17/12861 –c) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 564 zu Petitionen– Drucksache 17/12862 –d) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 565 zu Petitionen– Drucksache 17/12863 –e) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 566 zu Petitionen– Drucksache 17/12864 –f) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 567 zu Petitionen– Drucksache 17/12865 –g) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 568 zu Petitionen– Drucksache 17/12866 –h) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 569 zu Petitionen– Drucksache 17/12867 –i) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 570 zu Petitionen– Drucksache 17/12868 –j) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 571 zu Petitionen– Drucksache 17/12869 –ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Sicherheit der Sparguthaben in EuropaZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDAggressive Steuerplanung und Steuervermei-dung internationaler Konzerne bekämpfen– Drucksache 17/12819 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaDörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENRückkehrrecht auf Vollzeit gesetzlich veran-kern– Drucksache 17/12843 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieFederführung strittigZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten RüdigerVeit, Rainer Arnold, Klaus Barthel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDSyrische Flüchtlinge schützen– Drucksache 17/12820 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-modell– Drucksachen 17/12697, 17/12878 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding Dr. Gerhard Schick
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 11 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Umverteilungspläne der Koalition und Aus-wirkungen auf Durchschnittsverdiener undsozial Benachteiligte – SchuldenfinanzierteSteuersenkungen und Rente mit 69Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 9, 16 und 19 werden abge-setzt.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einver-ständnis feststellen? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann haben wir das so vereinbart.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c sowieden Zusatzpunkt 2 auf:3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungZukunftsprojekte der Hightech-Strategie
– Drucksache 17/9261 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismusb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten RenéRöspel, Lothar Binding ,Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPDInnovative kleine und mittlere Unterneh-men stärken – Ein nachhaltiges steuerlichesForschungs- und Entwicklungs-Förderkon-zept vorlegen– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInnovationskraft von kleinen und mittlerenUnternehmen durch Steuergutschrift fürForschung stärken– Drucksachen 17/247, 17/130, 17/1600 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Frank SteffelLothar Binding Dr. Birgit Reinemund Dr. Thomas Gambkec) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKESoziale Innovationen und Dienstleistungsinno-vationen erforschen und fördern– Drucksachen 17/8952, 17/12812 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas FeistDr. Ernst Dieter RossmannDr. Martin Neumann Dr. Petra SitteKrista SagerZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDStarke Fachhochschulen für Innovationen inGesellschaft und Wirtschaft– Drucksachen 17/9574, 17/12813 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel KnoerigOliver KaczmarekDr. Martin Neumann Dr. Petra SitteKrista SagerNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Bun-desministerin für Bildung und Forschung, Frau Profes-sor Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die deutsche Volkswirtschaft ist heute die viert-größte – nach den USA, China und Japan. Das ist dieBasis für unseren Wohlstand, für unsere Lebensqualität.Viertgrößte Volkswirtschaft – das muss man in Relationzum Anteil Deutschlands an der Weltbevölkerung sehen:Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland leben nur1,2 Prozent der Weltbevölkerung. Im Zuge der demogra-fischen Entwicklung wird dieser Anteil auf 0,7 oder0,8 Prozent sinken.Was ist die Ursache dafür, dass wir so gut sind? Wa-rum sind wir eine so starke Industrienation? Die Ursa-chen sind eigentlich die Entdeckerfreude und der Erfin-dergeist der Menschen und die Innovationsfähigkeit derBundesrepublik Deutschland. Deutschland gehört zu deninnovativsten Ländern weltweit.
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Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Dass das so ist, zeigen uns zahlreiche Rankings. Ran-kings sind aber immer nur gut, wenn man selber vorneist. Insofern sind sie sehr relativ. Deswegen ist es gut,auch auf andere Indikatoren und Zahlen zu schauen: Derdeutsche Anteil am Welthandel mit forschungs- und ent-wicklungsintensiven Gütern beträgt 12 Prozent – das istein Spitzenplatz –, und jedes zehnte weltmarktrelevantePatent kommt aus Deutschland. Das sind Daten, die zei-gen, dass wir wirklich eine Spitzenposition innehaben,dass wir einen Vorsprung haben.Diesen Vorsprung muss man halten. Deswegen mussder Bereich Forschung und Entwicklung im politischenGeschäft weiterhin Priorität haben. Das ist außerordent-lich wichtig. Wenn wir uns die Prioritätensetzung an-schauen, wenn wir uns anschauen, was der Bund ge-macht hat, dann stellen wir fest, dass auf Bundesebene inden letzten Jahren so viel wie noch nie für Forschungund Entwicklung ausgegeben worden ist.
2005 wurden für diesen Bereich 9 Milliarden Euro aus-gegeben, im vergangenen Jahr waren es über 13 Milliar-den Euro. Messlatte ist das Bruttoinlandsprodukt – auchwenn man darüber diskutieren kann, wie relativ dieserWert ist: Die Zielmarke bei den Ausgaben für Forschungund Entwicklung lag bei 3 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts. Wir liegen bei 2,9 Prozent. Deutschland gehörtdamit zu den wenigen Ländern, die mehr als 2,5 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwick-lung ausgeben. Damit liegen wir auch weit über dem eu-ropäischen Schnitt.Die Erfolge der Strategie Deutschlands in den letztenJahren wurden auch in dem Gutachten der Expertenkom-mission Forschung und Innovation, EFI, gewürdigt.Aber EFI hat auch deutlich gemacht, dass wir, wenn wirzu den innovationsstärksten Nationen gehören wollen,weiter gehen müssen. Deswegen gibt es von dieser Seiteaus die Empfehlung, bis zum Jahr 2020 eine Steigerungauf 3,5 Prozent herbeizuführen und dann diesen hohenLevel – es kann nicht unendlich gesteigert werden – zuhalten. Ich denke, das ist eine sehr wichtige Messlatte,die uns dabei hilft, die Prioritätensetzung in entspre-chende Effekte umzuwandeln. Damit meine ich nichtnur Geld, sondern auch Rahmenbedingungen. Jetzt sindes 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die wir fürForschung und Entwicklung ausgeben, und die Ziel-marke liegt bei 3,5 Prozent.Ich habe bereits gesagt, dass von der Bundesregierungnoch nie so viel Geld für Forschung und Innovation aus-gegeben wurde wie in den letzten Jahren. Das gilt aberauch für die Wirtschaft, die an den 2,9 Prozent ihren An-teil hat. Beim Geld geht es jedoch nicht nur um dieMenge, sondern besonders um die Frage, wie es einge-setzt wird. Es ist nicht so, dass Innovation allein dadurcherreicht wird, dass man im Max-Planck-Institut oder ananderer Stelle eine gute Erfindung macht. Vielmehr gehtes auch um den Transfer, um eine Umsetzung in Ge-schäftsideen bzw. Produkte. Das ist ein außerordentlichkomplizierter Prozess.Die nationale Innovationsstrategie – die Hightech-Strategie 2020 –, zu der wir heute eine Zwischenbilanzziehen, ist ein Instrument, das dazu dient, auch die Wirt-schaft und die Bundesländer einzubeziehen. „Hightech-Strategie 2020“ ist ein toller Name. Aber wie gut dieseStrategie ist, zeigt sich daran, dass sie sich auch auf dieeuropäischen Strategien ausgewirkt hat. Die europäischeInnovationsstrategie ist in ganz starkem Maße von derHightech-Strategie 2020 angeregt und beeinflusst wor-den. Auch im Forschungsrahmenprogramm sind vieleKomponenten davon übernommen worden. Der Chefder EFI-Kommission sagte mir – ich kann das jetzt nichtverifizieren –, dass die Amerikaner versuchen, aus die-sem Konzept Honig zu saugen und es amerikanischenVerhältnissen anzupassen.Was ist das Besondere an dieser Hightech-Strategie?Was ist das, was in den nächsten Jahren Erfolge bringenwird? Für eine erfolgreiche Durchführung der Hightech-Strategie sind drei Punkte entscheidend: Innovation,Qualifikation und Kooperation. Lassen Sie mich zu je-dem dieser Punkte kurz sagen, was beabsichtigt war, wasschon geschafft wurde und – das ist ja eine besonders in-teressante Frage – was noch vor uns liegt, welche Aufga-ben noch bewältigt werden müssen.Der erste Punkt ist Innovation; sie hat erste Priorität.In der Hightech-Strategie sind fünf große Felder defi-niert worden. Sie alle kennen sie, beispielsweise Klima,Mobilität und Sicherheit. Man braucht freie Forschung,bei diesen Größenordnungen aber auch Prioritätenset-zung. Bei der Prioritätensetzung geht es nicht nur umGeld, sondern sie muss sich auch auf die Industrie rich-ten. Und natürlich müssen die Rahmenbedingungen fürdie einzelnen Felder entsprechend günstig gestaltet wer-den.Ich greife zwei dieser Felder heraus, zunächst die Ge-sundheit. Das, was in den letzten Jahren mit den Deut-schen Zentren der Gesundheitsforschung erreicht wurde,stellt im Bereich der Gesundheit eine kleine Revolutiondar.
Das Ziel war es, die großen Volkskrankheiten zu erfor-schen sowie Bekämpfungsstrategien zu entwickeln. DieIdee war es, Gesundheitsforschungszentren – bestehendaus exzellenten universitären und außeruniversitärenEinrichtungen – einzurichten. Das sollte die Struktursein. Mittlerweile sind alle Gesundheitszentren in derPhase, in der sie sich etablieren. Das war ein sehr inte-ressanter und sehr transparenter Prozess der Entschei-dung. Wir haben in dieser Zeit auch viel getan, was dieProjektförderung im Bereich der Lebenswissenschaftenanbetrifft. Jetzt kommt es, da die Struktur, die man hat,richtig und gut ist – natürlich kann man immer darüberreden, ob man noch ein oder zwei Gesundheitszentrenmehr braucht –, vor allen Dingen auf die Translation an.Das heißt, wir müssen die Ergebnisse der Forschung, diein den verschiedenen Bereichen mit den Strategien, dieman verfolgt, betrieben wird, möglichst schnell ansKrankenbett bringen bzw. diese Phase verkürzen.
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Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Ich will ein Beispiel nennen. Es gibt ein DeutschesZentrum für Infektionsforschung. Beteiligt ist unter an-derem das Helmholtz-Zentrum Braunschweig, beteiligtist allerdings auch die TiHo, die Tierärztliche Hoch-schule Hannover. In diesem Rahmen befasst man sichauch mit dem gesamten Feld von Krankheiten, die vonTieren auf den Menschen übertragen werden können,und betreibt sehr weitgehende Forschung. Hier stellt sichdie Frage: Wie können die Forschungsergebnisse ange-sichts sich wandelnder und neuer Krankheitsbilder mög-lichst schnell umgesetzt werden? Ein weiterer bedeuten-der Aspekt ist die individualisierte Medizin. Ganzwichtig ist aber auch das Thema Prävention. Diese The-men sind, was die Gesundheitszentren angeht, Quer-schnittsthemen. Das sind die Aufgaben, die sich uns aufdiesem Feld jetzt stellen.Ein zweiter Punkt, den ich herausgreifen möchte– das ist ein Zukunftsprojekt, das ich genial finde –, istdas Projekt Industrie 4.0. Wir alle haben in der Schuleetwas über die industrielle Revolution gelernt. Wir wis-sen, was damals passierte, Stichwort „Energie“. Wir wis-sen auch, was in den 70er-Jahren geschah. Aufgrund derMöglichkeiten, die das Internet bietet, was die Interak-tion und die Kommunikation zwischen Maschinen be-trifft, hat man heutzutage die Chance, auf ganz andereArt zu produzieren. Man kann individualisiert produzie-ren und große Produktionssysteme nutzen, mit denenman aber sehr individuell und sehr flexibel reagierenkann. Das ist die Idee hinter dem Projekt Industrie 4.0.Das ist ein Zukunftskonzept, das hier gefördert wird.Ich glaube, hier hat Deutschland, hat die deutsche In-dustrie die Chance, eine Spitzenposition einzunehmen.Deutschland hat eine gute industrielle Basis. In Deutsch-land wurden in diesem Bereich Gott sei Dank kaum Ar-beitsplätze abgebaut. Deutschland hat seit vielen Jahrenseine Stärken in der Maschinenbau-, der Verarbeitungs-und der Verfahrenstechnik. Jetzt geht es darum, dies mit-einander zu kombinieren. Deswegen ist dieser Bereichgerade für Deutschland sehr wichtig. Hier eröffnen sichChancen. Im Vergleich zu China und anderen Ländernist Deutschland immer unterlegen, wenn es um die Mas-senproduktion geht. Unsere große Stärke sind vernetzteStrukturen, ist systemisches Denken. Genau dies wird imRahmen des Projekts Industrie 4.0 gefördert.
Ich weiß ja nicht, ob Sie das immer alles kapieren.
Manches, was man von Ihnen hört, klingt ja eher wieScience-Fiction oder Ähnliches; ich jedenfalls habe die-sen Eindruck. Auf der CeBIT wurde all das, damit mansich besser vorstellen kann, wie das überhaupt funktio-nieren soll, an einem sehr schönen Beispiel veranschau-licht. Es ist in der Tat noch viel Science-Fiction dabei.Das Vorhaben befindet sich aber schon im industriellenProzess.Der industrielle Prozess ist, was das Projekt Indus-trie 4.0 betrifft, das eine. Etwas anderes ist aber genausowichtig: das Thema Geschäftsideen. Es geht um die Fra-gen: Wie ist das verwertbar? Wie kann diese ganz neueIndustriekultur verwertet und zum Erfolg geführt wer-den? Das ist nicht nur unsere Aufgabe für die Zukunft,sondern wir müssen uns schon jetzt fragen: Was bedeutetall das für die Arbeitswelt, für die Arbeitsorganisation?Da ich vorhin von „Revolution“ sprach, möchte ich zumAusdruck bringen: Dadurch verändert sich die Arbeits-welt total. Deswegen ist es im Zusammenhang mit derHightech-Strategie sehr wichtig, dass auch in diesemBereich von Anfang an geforscht wird. Hierbei handeltes sich nämlich nicht um ein Schreckgespenst, nach demMotto: Jetzt müssen alle Arbeitnehmer flexibel sein, nurnoch von zu Hause aus arbeiten etc. Vielmehr geht es umden Aspekt: Bedeutet das nicht auch ein großes Plus fürunsere Lebensqualität? Kann es nicht sogar positiv sein,dass wir jetzt ganz andere Arbeitsstrukturen haben, dieauch einen ganz anderen Lebensrhythmus ermöglichen?Ich habe zu zwei der fünf großen Bedarfsfelder Bei-spiele genannt. Ich könnte das jetzt anhand anderer Bei-spiele wie dem Thema Energie ähnlich durchdeklinie-ren; das ist aber zeitlich nicht möglich.Zweiter Punkt: Qualifikation. Ich erinnere mich sehrgut: Als ich in den 90er-Jahren Rektorin war, wurden wirin der KMK gescholten; Herr Oppermann auch noch imJahre 2000 und danach. Es hieß: Viele Studenten verlas-sen Deutschland, keiner will in Deutschland studieren,Deutschland ist nicht attraktiv genug etc.Diese Situation hat sich total gewandelt. Alle OECD-Vergleiche zeigen: Deutschland gehört zu den Nationen,in denen die Zustimmung der Studenten am größten ist.Deutschland belegt, wenn nach den begehrtesten Län-dern gefragt wird, einen der Spitzenplätze und landet im-mer auf Rang drei oder vier. Die Hälfte der gut ausgebil-deten Wissenschaftler an unseren Max-Planck-Institutenkommt aus dem Ausland. Deutschland ist ein attraktiverStandort. Die Studienanfängerzahlen liegen bei über50 Prozent; 2005 waren es gerade einmal 36 Prozent. Eswird sogar schon darüber diskutiert, ob die Studienan-fängerzahlen nicht zu hoch sind. Es besteht vor allenDingen der Bedarf, den Deckel beim Hochschulpakt an-zuheben. Die Bedingungen für ausländische Fachkräftemüssen noch weiter verbessert werden; hier ist aller-dings schon einiges getan worden. Mein letzter Satzdazu: Wir müssen die Ressource Frau besser nutzen. DiePotenziale, die Frauen haben, werden in diesem Prozessdringend gebraucht. Sonst haben wir beim Thema Quali-fikation keine Chance.
Letzter Punkt – ganz kurz, weil die Anzeige am Red-nerpult blinkt.
Ich bin ja immer schon dankbar, wenn das bemerktwird.
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Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Dritter Punkt: Kooperation. Ich war immer ein Fanunseres Systems der Kooperation zwischen Hochschulenund außeruniversitären Einrichtungen etc. Aber die Ko-operation muss funktionieren. Mit vielen neuen Forma-ten wie der Exzellenzinitiative – oder zum Beispiel mitdem Spitzencluster-Wettbewerb, der im Rahmen derHightech-Strategie mitläuft – haben wir in den letztenJahren Enormes erreicht, um die Dinge, bei denen wirwissen, dass wir in zehn Jahren Weltmarktführer sind,richtig zu pushen. Oder nehmen Sie das Kooperations-modell Forschungscampus oder die Fraunhofer-Anwen-dungszentren. Es geht darum, in die Fläche zu gehen mitInnovation, damit auch kleine und mittelständische Un-ternehmen davon profitieren.
Die ersten drei Fraunhofer-Anwendungszentren – dassage ich aus lokalpatriotischem Interesse – sind in Nie-dersachsen entstanden; auch die Länder müssen sichnämlich entsprechend engagieren.Einen wirklich letzten Satz zur Kooperation: WennDeutschland im Wissenschaftsbereich gut sein soll, dannmüssen nicht nur die Hochschulen als Herzstück desWissenschaftssystems gut ausgestattet sein – das könnendie Länder ja machen, wenn sie wollen –, sondern dannmuss auch der Bund Einfluss haben. Wir können nichteine Industrienation der Entdecker und Erfinder sein,wenn der Bund keinerlei Einfluss auf das Herzstück desWissenschaftssystems hat. Das ist völlig unabhängigvom Geld; das wäre auch so, wenn die Länder ganz vielGeld für diesen Bereich bereitstellten. Es ist aus prinzi-piellen Gründen töricht, die Möglichkeiten, die es jetztgibt und an deren Schaffung Annette Schavan und dieseBundesregierung ihren Anteil hatten, nicht dazu zu nut-zen, die Kooperation mit den Hochschulen zu stärken;denn wir brauchen diese Kooperation.
Frau Wanka, Sie hatten vor geraumer Zeit schon ei-
nen letzten Satz angekündigt.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Werte Frau Wanka, ich hatte mich schon gefragt,warum in der Kernzeit – der wichtigsten Zeit einer Ple-narwoche – eine Debatte über eine ein Jahr alte Unter-richtung der Bundesregierung zur Hightech-Strategievorgesehen ist, ja was daran eigentlich so berichtenswertsein soll.Ich habe die Auflösung gerade bekommen: Sie habennur einige wenige Worte dazu gemacht, die individuali-sierte Medizin gerade eben erwähnt; aber zu der Unter-richtung haben Sie eigentlich nichts gesagt. Sie wolleneine Generaldebatte zu Bildung und Forschung. Die kön-nen Sie gerne bekommen – auch wenn ich gerne ein paarFragen gestellt hätte, zum Beispiel wie Sie eigentlich dieKritik der Expertenkommission Forschung und Innova-tion aufnehmen. Sie feiern die Hightech-Strategie mitschönen neuen Worten; aber gleichzeitig hat die Bundes-regierung im letzten Haushalt so wichtige Technologieti-tel wie Mikrosystemtechnologie, neue Technologien,neue Materialien, neue Werkstoffe, optische Technolo-gien, Arbeits- und Dienstleistungsforschung gekürzt. Siehaben das Thema „Industrie 4.0“, mit einem neuen Etikettversehen, gerade genannt.Bei dem, was wir als SPD seit Jahren fordern – mehrin Dienstleistungs- und Arbeitsforschung zu investie-ren –, gehen Sie genau den anderen Weg: Sie kürzen dieMittel dafür real auf Werte von 2009. Dazu hätte ichgerne ein paar Antworten gehabt; aber das ist ja heute of-fenbar nicht Thema.Ich hätte auch gerne gefragt, wie wesentliche Be-standteile dieser Hightech-Strategie, die ja sinnvoll sind– klimaangepasste Stadt –, denn finanziert werden sol-len.Wenn man sich diese Unterrichtung durchliest, siehtman als kleine Fußnote, fast wie in einem Vertrag: „Dasausgewiesene Budget enthält Mittel des Energie- undKlimafonds …“ – wie auf einem Beipackzettel steht: Beinicht sachgerechter Anwendung können Kopfschmerzenauftreten.Auch bei dem wichtigen Titel Elektromobilität stehtwieder diese kleine Fußnote: „Das ausgewiesene Budgetenthält Mittel des Energie- und Klimafonds …“ Auch beider wichtigen Frage des Umbaus der Energieversorgung– genau genommen heißt es: intelligenter Umbau derEnergieversorgung – findet sich der Hinweis auf eine Fi-nanzierung außerhalb des Bildungs- und Forschungsetats,wieder über den Energie- und Klimafonds.Dieser Energie- und Klimafonds, meine Damen undHerren, soll sich aus den Erlösen aus dem Handel mitCO2-Zertifikaten speisen. Wir wissen schon heute, dassdie Erwartungen nicht erfüllt werden: Schon jetzt fehlenda 400 Millionen Euro.
Wenn Sie über die Hightech-Strategie reden, wäre eseigentlich an der Zeit gewesen, auch zu sagen, wie Siedas, was Sie da hineinschreiben, finanzieren wollen.Aber gut, Sie wollen nicht darüber reden. Ich knüllemein Konzept zur Hightech-Strategie jetzt zusammenund schmeiße es weg. Wir machen eine Generaldebatte;das hätten Sie gerne.Ich muss zugeben: Eigentlich ist es nicht fair, wie derFinanzminister Sie als neue Ministerin behandelt;
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denn mit Ihrem Namen, Frau Wanka, wird das Ende von15 Jahren guter und vernünftiger Forschungs- und Bil-dungspolitik in Deutschland verbunden sein.
– Das Protokoll verzeichnet den Sturm der Regierungs-koalition, aber er bleibt im Wasserglas stecken. – Ichwerde Ihnen das auch kurz begründen:Diese gute Zeit der Forschungs- und Bildungspolitiküber übrigens drei Koalitionen hinweg hat 1998 begon-nen, als Rot-Grün endlich wieder Bildungs- und For-schungspolitik auf Bundesebene verantwortet hat.
– Das trifft Sie offenbar. – Wir haben nämlich erstmalsnach Jahren der Stagnation wieder mehr Geld in Bildungund Forschung investiert – und nicht nur mehr Geld,sondern wir haben auch Impulse gesetzt, die wichtig wa-ren für das Land.
In ein Ganztagsschulprogramm, das von Ihnen be-kämpft wurde – mittlerweile schweigen Sie dazu –, ha-ben wir 4 Milliarden Euro investiert.
Von allen Kommunen und Eltern wissen Sie, wie wich-tig das für die Kinder und deren schulische Entwicklungwar.
Wir waren es, die den Pakt für Forschung und Innova-tion, eine verlässliche Finanzierung der Forschung, aufden Weg gebracht haben.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutsch-land wissen wieder, dass es Aufwüchse und verlässlichmehr Geld in Deutschland gibt, um Forschung zu betrei-ben.Auch die Exzellenzinitiative, die viel Bewegung inden Wissenschaftssektor gebracht hat, ist eine sozialde-mokratische Initiative und auch Innovation gewesen.Das hat wichtige Impulse gesetzt.Wir können übrigens alle gemeinsam froh sein, dassDeutschland wieder ein weltweit beachteter guter Stand-ort für Forschung und Wissenschaft ist. Die jungen Wis-senschaftler kommen auch aus dem Ausland wieder zuuns zurück. Ich glaube, das ist etwas, was wir uns alleauf die Fahnen schreiben können.
Was Sie als schwarz-gelbe Koalition seit 2009 richti-gerweise fortgesetzt bzw. gemacht haben, ist dieser Mit-telaufwuchs bzw. die Tatsache, dass Sie an finanziellenMitteln noch eine Schippe draufgelegt haben.
Kompliment und Lob, dass Sie das fortgesetzt haben!Sie haben im Wissenschaftsbereich zwar keine neuenImpulse gesetzt – Sie haben ja gleich noch Redezeit undkönnen uns allen das erklären –, aber Sie haben richti-gerweise mehr Geld in das System gesteckt.Ich bin allerdings gespannt, was Sie gleich auf dieFrage, wo das Geld eigentlich herkam, antworten wer-den. Auch hier kann ich es Ihnen nicht ersparen, zu sa-gen, dass das nicht Ihre Initiative war, sondern dass Siedie Früchte einer Arbeit ernten, die die SPD gemachthat.
– Ja. Sie können gleich Ihre Argumente vorbringen.Ich erinnere mich sehr genau, dass die SPD eine dergrößten Steuersubventionen dieser Republik angegrif-fen und seit Jahren gesagt hat: Wir müssen diese Sub-vention beseitigen und in die Köpfe von Kindern und inBildung und Forschung investieren. Sie können gleichsagen, welche Subvention Sie abgeschafft haben.Beim Stichwort „Subvention“ fällt mir nur ein, dassSie einen neuen Tatbestand geschaffen haben. Sie habennämlich die Mövenpick-Steuer und damit die Erleichte-rung für Hotels eingeführt.
– Ja. Das kostet mein Land NRW jedes Jahr 400 Millio-nen Euro, die weniger für Bildung und Forschung zurVerfügung stehen.
Die SPD hat sich immer gegen die Eigenheimzulageausgesprochen. Erst 2005 ist es uns in der Großen Koali-tion gelungen, diese größte Einzelsubvention in diesemLand zum Januar 2006 abzuschaffen, zu beenden. Ichwill daran erinnern – Sie können die letzten drei Subven-tionsberichte der Bundesregierung gerne lesen –: Im Jahr2006 hat der Staat den Menschen noch 9,2 MilliardenEuro gegeben, die das gerne als zusätzliches Salär entge-gengenommen haben, um ein Haus auf der grünen Wiesezu bauen. Vielleicht für die Zuschauer:
Wenn Sie als Ehepaar 140 000 Euro verdient haben,dann haben Sie noch ein paar Tausend Euro vom Staat
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bekommen, um sich das Haus auf der grünen Wiese zuleisten.
Wir haben gesagt: „Das ist keine Subvention, die wiruns leisten können; wir wollen in Bildung und For-schung investieren“, und haben es geschafft, diese Sub-vention abzubauen.
Sie liegt heute bei über 1,6 Milliarden Euro; 700 Millio-nen Euro davon trägt der Bund.Die Abschaffung der Subvention hat in dem Zeitraumseit 2006 für den Bundesfinanzminister zu Entlastungenin Höhe von etwa 14 Milliarden Euro geführt. Es istrichtig, dass er diese Spielräume genutzt hat, um in Bil-dung und Forschung zu investieren. Das war eine guteTat, und das war wichtig. Aber es war nicht Ihre Idee,diese Subvention abzuschaffen
und Steuermittel für Bildung und Forschung zur Verfü-gung zu stellen, sondern das geht auf die Idee und dasHandeln der SPD zurück.Aber diese Zitrone ist ausgepresst. In zwei Jahrenwird aus dieser Quelle kein Geld mehr kommen. Jetzt istdie Frage an Sie: Woher werden Sie das Geld für weitereForschungs- und Bildungsinvestitionen nehmen? Mansieht es am Haushalt, dass Sie keine Ideen haben. Fürdas Jahr 2013 sind 13,7 Milliarden Euro für den Bil-dungs- und Forschungsetat vorgesehen. 2014 – es istWahlkampf – legen Sie noch eine Schippe drauf
und stellen 13,8 Milliarden Euro bereit. Dann aber sinktdieser Etat das erste Mal seit 15 Jahren auf 13,5 Milliar-den Euro, und da bleibt er.Woher nehmen Sie das Geld? Wo planen Sie die Mit-tel für den Hochschulpakt ein, die wir jetzt schon brau-chen? Die sind in der mittelfristigen Finanzplanung nichtvorgesehen. Sie versprechen als CDU sogar noch einenAufwuchs von 5 Prozent für den Pakt für Forschung undInnovation. Woher nehmen Sie das Geld? Ich bin auf dieAntworten, die Sie gleich geben werden, gespannt.
Weitere Subventionserlöse gibt es nicht mehr. DieAntwort der CSU darauf, Herr Rupprecht: Sie wollen dieEigenheimzulage wieder einführen. Sie wollen dafürwieder Geld ausgeben.
Ich bin gespannt, woher Sie das nehmen wollen.Die Bürger werden im September die Entscheidungzu treffen haben, wie es weitergeht. Die große Lüge üb-rigens ist: Sie erhöhen zwar den Etat um 100 MillionenEuro für das nächste Jahr, aber die globale Minderaus-gabe wird auf 620 Millionen Euro festgelegt. Das ist so,als würde ich meinen Kindern sagen: Ich erhöhe euer Ta-schengeld von 10 auf 11 Euro, aber hinzu kommt eineglobale Minderausgabe von 3 Euro.
Dann werden meine Kinder fragen: Was ist das denn?Meine Antwort: Ihr dürft nur 8 Euro ausgeben; 3 Euromüsst ihr mir zurückgeben. Dann werden meine Kindersagen: Das ist aber Betrug! – Da haben sie recht.
Mit dieser globalen Minderausgabe schreiben Sieschon heute vor, dass die Mittel für Forschungsorganisa-tionen und Projekte gekürzt werden. Auch hier bin ichsehr gespannt auf Ihre Antworten.
Wir als Sozialdemokraten sagen: Wir wollen mehr inBildung und Forschung investieren. Das wird Geld kos-ten. Deswegen sagen wir, dass diejenigen, die als Verhei-ratete 200 000 Euro im Jahr verdienen, einen höherenSpitzensteuersatz bezahlen müssen, weil sich diese In-vestitionen lohnen und die Stärkeren besser an dieser ge-sellschaftlichen Aufgabe beteiligt werden. Ich bin sehrgespannt, wie Sie Ihre Versprechen einhalten wollen.Vielen Dank.
Der Kollege Martin Neumann ist der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es war schon abenteuerlich, lieber KollegeRöspel, was Sie hier für einen unterirdischen Debatten-beitrag abgeliefert haben.
Ich könnte zu all den Fragen, die Sie hier aufgeworfenhaben, sagen, welche Antworten diese Koalition daraufhat; leider fehlt mir die Zeit dazu.
Forschung und Innovation sind Grundlage für denwirtschaftlichen Erfolg, für Wirtschaftswachstum, Be-schäftigung und Wohlstand. Die Ressourcen Bildungund Wissenschaft – das haben wir in den Debatten ge-meinsam immer wieder betont – garantieren als Einzigesden wirtschaftlichen Erfolg unserer Republik.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28773
Dr. Martin Neumann
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Die Hightech-Strategie hat wesentliche Impulse fürWirtschaft und Wissenschaft gegeben. Dieser Erfolg istdieser Koalition zu verdanken. Es war nicht die SPD, lie-ber Kollege Röspel,
die in dieser Legislatur die Hightech-Strategie 2020 wei-terentwickelt hat. Sie brüsten sich zwar damit, die High-tech-Strategie erfunden zu haben.
Tatsächlich aber haben erst FDP und Union die High-tech-Strategie aus dem Wirrwarr dieser einzelnen Maß-nahmen zu einem Gesamtkonzept von Forschung undInnovation gemacht.
Es war die christlich-liberale Koalition, die die High-tech-Strategie genau auf diese fünf zentralen Handlungs-felder zugeschnitten hat. Es war auch die christlich-libe-rale Koalition, die den Schwerpunkt der Hightech-Strategie auf die Förderung von kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen gelegt hat. Dafür dürfen Sie unsgern loben.
Schließlich bestätigt auch die ExpertenkommissionForschung und Innovation, kurz EFI genannt, in ihremJahresbericht 2012, dass die Weiterentwicklung derHightech-Strategie gelungen sei. Auch im EFI-Bericht2013 wird unsere Missionsorientierung – darauf kommtes an –, die Bündelung, diese klare Transparenz auf denForschungsfeldern, gelobt.
Ich betone an dieser Stelle ganz deutlich, dass dieEFI-Kommission eine weitere Schärfung gefordert hat.Dieser Forderung kommen wir mit der Auswahl vonzehn Zukunftsprojekten nach. Das ist genau das, was inZukunft den Erfolg der Hightech-Strategie ausmachenwird.In den Bereichen Klima und Energie, Gesundheit undErnährung, Kommunikation, Mobilität und Sicherheitkonzentrieren sich etwa drei Viertel der Forschungs- undEntwicklungsaufwendungen der Wirtschaft. In diesenfünf Schlüsselsektoren überwiegen die Kooperationsbe-ziehungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowiezwischen den Wissenschaftseinrichtungen. Es war ge-radezu ein Gebot der Hightech-Strategie, die Missions-orientierung fortzuführen. Dass wir mit dieser Ausrich-tung auf dem richtigen Weg sind, zeigt uns vor allenDingen der Vergleich in Europa. So wurde im 8. For-schungsrahmenprogramm genau das, was wir beispiel-haft gefordert haben, übernommen. Was kann es dennfür eine größere Bestätigung geben, als dass man sich inEuropa ein Beispiel an unseren Programmen nimmt?Wir sollten uns als europäische Innovationstreiber weiter-entwickeln.
Wie überall, in Europa und in den westlichen Indus-trienationen, müssen wir uns auf unsere eigenen Stärkenkonzentrieren. Überall geht man dazu über, die Stärkenzu fokussieren, sich auf die zentralen Spitzentechnolo-giefelder zu konzentrieren und – das ist ganz wichtig –eine aktive Innovationsstrategie zu verfolgen. Ich ver-weise in diesem Zusammenhang gern – jetzt kommenBeispiele, Kollege Röspel; hören Sie genau zu – auf dieProjekte, die vom BMBF auf den Weg gebracht wurden.Ich nenne das Projekt „Kooperation international“. Hierkann man sich auf einer Internetplattform die zentralenFelder, Programme und Strategien anschauen und sehen,was andere in Europa machen.Ich muss nicht betonen, dass wir uns in einem interna-tionalen Wettlauf befinden und gerade auf dem Sektorder Hochtechnologien gefordert werden. Wir haben inDeutschland früher als alle anderen die richtigen Wei-chen gestellt. Wir werden also auch in Zukunft mit dervon uns geprägten Hightech-Strategie Erfolg haben.Neben der Hightech-Strategie haben wir weiterewichtige Impulse in das Wissenschaftssystem gegeben.Ich sage es deutlich: Von der Opposition kamen an die-ser Stelle keine Impulse. Ich kenne keine Programme derOpposition, wohl aber die aus dem BMBF. Ich nenne alsBeispiel das Projekt „Nationale ForschungsstrategieBioÖkonomie 2030“.
Hier gab es unter der letzten rot-grünen Regierung, alsozu Zeiten von Technik- und Industriefeindlichkeit, einnur in Ansätzen existentes Rahmenprogramm Biotech-nologie.
Das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung wurde2010 von uns aufgelegt und ragt mit seinen rund5,5 Milliarden Euro Fördervolumen deutlich über alleshinaus, was Rot-Grün im Haushalt 2005 für Forschungund Entwicklung insgesamt eingesetzt hat.Es gibt weitere Programme wie den Aktionsplan Na-notechnologie 2015, das Rahmenprogramm „Forschungfür die zivile Sicherheit“ oder – darüber haben wir jüngstdiskutiert – die Forschungsagenda zum demografischenWandel mit dem Titel „Das Alter hat Zukunft“. Ichkönnte diese Auflistung beliebig fortsetzen.Ich stelle fest: Die Erfolge dieser Koalition sind sicht-bar.
Nur Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,sind für diese Erfolge blind. Das wollen Sie wahrschein-lich auch sein. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir lassenuns unsere Erfolge und guten Ansätze nicht kaputtdisku-tieren. Wir haben die vier Regierungsjahre genutzt und
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Dr. Martin Neumann
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den Haushalt auf 13,8 Milliarden Euro aufgestockt. Indiesen vier Jahren haben wir 13 Milliarden Euro mehr inBildung und Forschung im Vergleich zu Rot-Grün inves-tiert – hören Sie gut zu! –, welche seinerzeit nur900 Millionen Euro eingesetzt haben. Hier sieht man dengroßen Unterschied.
Im Gegensatz zu Ihnen haben wir Bildung und For-schung wirklich wieder in den Mittelpunkt der Politikgerückt.Zum Schluss: Der gravierende Unterschied zu Ihnenist, dass wir nicht große Reden schwingen, sondern Prio-ritäten setzen
und neben der Haushaltskonsolidierung eine klare undkonsistente Strategie verfolgen.Ich bedanke mich.
Petra Sitte ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wol-len mit 1,2 Prozent der Weltbevölkerung unsere Rolleals viertgrößte Industrienation und unseren Wohlstandbewahren. – Wie Sie sich vorstellen können, stammt die-ser Satz nicht von mir,
sondern von der Forschungsministerin Frau Wanka. Erwirft neben einer für mich sehr eigenartigen Subbot-schaft unweigerlich die Frage auf, was Wohlstand fürdas 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet und welchenBeitrag Forschung zu diesem Wohlstand leisten kann.Die Hightech-Strategie gibt weder in der alten noch inder neuen Fassung überzeugende Antworten. Die Zu-kunftsprojekte dieser Strategie, so wird es in der Einlei-tung des Aktionsplans gesagt, sollen sich an den Bedürf-nissen der Menschen ausrichten. Klingt toll, das sagenaber alle hier in diesem Haus.Welche Bedürfnisse haben denn Menschen, die einerHightech-Strategie dieses Zuschnitts bedürfen? DieBundesregierung, so scheint mir, wird es nicht herausge-funden haben; denn Sie stecken seit Jahren in dieses Pro-gramm Milliarden Euro, ohne dass Menschen mit ihremAlltagswissen und ihren Erfahrungen wirklich in die in-haltliche Ausrichtung des Programms eingebunden wor-den wären. Demzufolge bleiben dann eben auch soziale,soziologische, kulturelle und auch viele Alltagsfragen indiesem Programm unberücksichtigt. Unter „nah amMenschen“ verstehe ich etwas anderes.
Das alles glauben Sie mir jetzt wieder nicht, und des-halb habe ich mir ein paar Beispiele herausgesucht. Teilder Hightech-Strategie ist auch das Zukunftsprojekt mitdem klingenden Namen „Auch im Alter ein selbstbe-stimmtes Leben führen“. Das will natürlich jede und je-der in diesem Land, und das ist auch richtig.
Aber warum konzentrieren Sie sich einseitig auf dietechnische Unterstützung von Seniorinnen und Seniorenund von zu Pflegenden? Da werden Sensoren für alleWohnräume und Betten entwickelt, die Daten gehendann an Pflegepersonen und Ärzte, Ältere sollen mit Na-vigationssystemen ausgestattet werden, die ihnen denWeg durch den Verkehrsdschungel zeigen, Pflegendesollen durch Roboter unterstützt werden, ganze Wohnun-gen sollen mit digitalen Steuerungs- und Kontrollsyste-men ausgestattet werden. Das alles klingt ganz toll, aberim Alltag sind diese Technologien überhaupt nicht ange-kommen. Ihnen fehlen nämlich die technikbegeistertenund vor allem die zahlungskräftigen Abnehmerinnenund Abnehmer für solche Technologien. So viel Un-dankbarkeit am Ende aber auch!
Da hat das Ministerium nun aber sofort reagiert, eshat das messerscharf erkannt und letzten Freitag einenneuen Plan veröffentlicht. Es wird eine neue Förderaus-schreibung herausgegeben, noch eine zu den 19 000.Man will jetzt kommunale Beratungsstellen einrichtenmit dem Titel „Besser Leben im Alter durch Technik“.Dem Unwissen über Assistenzsysteme soll durch Auf-klärung bei der Zielgruppe zu Leibe gerückt werden –super.Fällt eigentlich niemandem von den Koalitionsfrak-tionen auf, dass Sie das Pferd von hinten aufzäumen?Müsste nicht vielmehr gefragt werden, was ältere Men-schen brauchen, um sicherer, gesünder und sorgenfreierzu leben? Vermutlich würde jetzt die Hälfte der Bevölke-rung sowieso sagen: Als Erstes brauche ich eine sichereRente. – Aber das kommt in den Hightechträumen garnicht vor.
Wir sagen: Wer wissen will, was Menschen brauchen,muss mit ihnen und ihren Interessenvertretungen redenund darf sich nicht als Erstes an die Vorstandsetagen vonTechnologieunternehmen wenden. Da kann man dochgleich den Storch vor den Krötentunnel setzen. LassenSie endlich Sozial- und Behindertenverbände, lassen SieUmweltorganisationen, lassen Sie Gewerkschaften undKirchen mit an Ihren grünen Tisch. Neues wird so vieleher an den tatsächlichen Bedürfnissen entwickelt, undes wird dann auch von den Leuten angenommen.Ein zweites Beispiel. Die Hightech-Strategie willnachhaltige Mobilität sichern. Auch das klingt super.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28775
Dr. Petra Sitte
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1 Million Elektrofahrzeuge soll auf Deutschlands Stra-ßen bis 2020 fahren. Seit 2008 gab es alleine für diesesProgramm eine fette Milliarde. Hersteller wie Daimlerund BMW konnten sich über großzügige Fördermittelfreuen. Das Problem ist aber: Bis heute düsen kaumElektroautos über die Straßen. Ups – wieso das denn? Zuviele technische Probleme sind ungelöst: Wie bitte schönsoll ein Großstadtbewohner im vierten Stock seine Auto-batterie laden? Infrastruktur zum Laden des Autos decktdie Milliarde gerade nicht ab. Und vor dem alltäglichenStauwahnsinn hilft eben auch kein Elektroauto. Außer-dem muss man das neue Schmuckstück ja auch ir-gendwo parken – großartig für die Städte.Dabei kommt dann genau das heraus, was ich vorhinschon angesprochen habe: Wenn man nur eine Seitefragt, dann wird es einseitig. Die Expertenkommissionfür Forschung und Innovation hat Ihnen das ja auchschon aufgeschrieben; sie hat kritisiert, dass sich dieseHightech-Strategie zu sehr an „kurzfristigen kommer-ziellen Interessen“ orientiert. Eine solche Förderpolitikist – um es zu wiederholen – nicht nachhaltig, sondernbleibt einseitig.
Meine Damen und Herren, wir haben in unserem An-trag „Soziale Innovationen und Dienstleistungsinnova-tionen erforschen und fördern“ gezeigt – so viel, HerrNeumann, zu dem Punkt, dass die Opposition ja nichtseinbringe –,
worin neue Ansätze bestehen könnten. Der Antrag istnicht der Weisheit letzter Schluss, aber wir sollten überdiese Fragen reden.Wir fassen den Innovationsbegriff weiter: Unter Inno-vation verstehen wir eben nicht nur neue Technik, auchwenn sie natürlich an vielen Stellen hilfreich sein kann;das ist überhaupt keine Frage. Denn Innovationen solltenfür alle Lebensbereiche und aus allen Lebensbereichengedacht werden. Die Lösungen sind dann ebenso vielfäl-tig wie manchmal auch verblüffend einfach, und geradedurch diese Einfachheit sind sie oft besonders innovativ.Das kann dann durchaus auch mal bedeuten, dass viel-leicht Verkehrs- und Alltagslotsen aus Fleisch und Blutviel sinnvoller sind. Sie tauchen im Stadtbild als Helfe-rinnen und Helfer auf, sind ansprechbar und können ge-meinsam mit Technik viel flexibler helfen.
Technik – das wissen wir alle; diese Erfahrung habenwir auch in unseren Familien gemacht – kann Ältere,insbesondere natürlich auch Menschen mit Demenz, vieleher einschüchtern, als dass sie ihnen hilft. Andere Län-der sind längst auf solche Ideen gekommen, aber inDeutschland, nein, in Deutschland setzt man immer nochauf wunderschöne dicke Bedienungsanleitungen.Innovationen, meine Damen und Herren, gehörenaber vor allem in den Bereich Dienstleistungen. Werüber Arbeitsplätze und Wohlstand in diesem Landspricht, der kommt an diesem Sektor gar nicht vorbei.Knapp drei Viertel der Beschäftigten arbeiten in diesemSektor, und drei Viertel der Wertschöpfung aus unseremLand kommen aus diesem Bereich. Wissen wird dabeinatürlich immer wichtiger. Wissensintensive Dienstleis-tungen sind mit einem Anteil von 37 Prozent viel bedeu-tender als forschungsintensive Industrieprodukte. Diesehaben nämlich nur einen Anteil von 14 Prozent an derWertschöpfung.Ob nun Klimawandel oder Energiewende, ob Nach-haltigkeit im Verkehrs- oder Gesundheitswesen – ohnemoderne öffentliche und private Dienstleistungen wer-den wir keine dieser Herausforderungen bewältigen.Aber was macht unsere teure Bundesregierung? Siespart. Genau in den Förderprogrammen, wo es umDienstleistungen gehen müsste, steckt fast nichts drin.Da haben Sie sich überhaupt nicht engagiert. Jeder vonuns will einen modernen, leistungsfähigen Staat. Des-halb müssen wir unser Gemeinwesen konditionieren.Das tun Sie aber nicht.
Dabei, meine Damen und Herren, erleben wir jedenTag den Innovationsstau im Dienstleistungsbereich.Denken Sie an die Deutsche Bahn! Da fallen mir auf An-hieb 100 Ideen ein, wie Betriebsabläufe, wie Ausstattungoder wie der Service zu verbessern wären. Oder denkenSie an Ihr kommunales Krankenhaus, an die Jugendäm-ter, die tagtäglich klug und umsichtig handeln müssen,um schwierige Familienprobleme zu lösen.Diese Dienstleistungen müssen Sie genauso fördern.Es geht dabei um bessere Arbeitsabläufe für Bürgerin-nen und Bürger, aber es geht natürlich auch um gute Ar-beitsbedingungen für die Beschäftigten. Die Verwaltungzu modernisieren, heißt nicht, einfach Tausende Leute zuentlassen und den Effektivitätsdruck zu erhöhen. Dienst-leistungen sind nicht das notwendige Übel der Informa-tionsgesellschaft, sondern sie sind ihr Kerngeschäft. Darindrückt sich lebendiges Gemeinwesen aus. Wir fordernseit Jahren bessere Förderung und sind damit nicht al-lein. Gewerkschaften wie Verdi haben dazu Konzepteentwickelt, aber auch die vorhin schon zitierte Experten-kommission Forschung und Innovation hat dazu aufge-rufen.Wie kann nun das neue Wissen beschafft werden? Wirhaben in unserem Antrag folgenden Vorschlag unterbrei-tet: Man könnte den Zugriff auf Innovationsgutscheine– das Bundeswirtschaftsministerium gibt sie bereits he-raus und stellt sie kleinen und mittleren Unternehmenbereit – auf öffentliche Dienstleistungsbereiche auswei-ten. Dann könnten eben auch Universitäten und Hoch-schulen von solchen Aufträgen profitieren. Warum sol-len das kommunale Krankenhaus, die Arbeitsagentur,Kitaträger oder Nahverkehrsunternehmen nicht ebensol-che Aufträge zu ihrer eigenen Innovation auslösen?
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28776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Petra Sitte
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Meine Damen und Herren, wir haben es trotzdem miteiner Innovationsblockade der neueren Art zu tun. DieBundesregierung kündigt seit Jahren die steuerliche For-schungsförderung an. Seit Jahren wird darüber heiß ge-stritten. Der Nutzen dieser steuerlichen Forschungsför-derung ist überhaupt nicht erwiesen. Es gibt dazu ganzunterschiedliche Aussagen. Was aber geblieben ist: DieUnternehmerverbände bohren.So kann man auf der Basis dieser unsicheren Sach-lage feststellen, dass beispielsweise Österreich mit ei-nem solchen Steuerbonus in diesem Bereich einen Auf-schwung zu verzeichnen hat. Aber es gibt auch Beispieledafür, dass Länder, etwa Großbritannien, Frankreichoder die Niederlande, trotz des Steuerbonus in den letz-ten Jahren in der Forschungstätigkeit eingebrochen sind.Die Besten in Europa, Schweden, die Schweiz und Finn-land, kommen gänzlich ohne eine solche Forschungsför-derung aus.Hier ist der steuerliche Bonus vor allem daran ge-scheitert, dass es kein Gegenfinanzierungskonzept gibt.Was ich nun gar nicht verstehe: Sie wollen diesen Bonusnach dem Gießkannenprinzip verteilen. Das Hauptanlie-gen der FDP war doch immer: Bloß kein öffentlichesGeld nach dem Gießkannenprinzip ausgeben. Sehr ei-genartig!
– Ach, das habe ich wohl wieder falsch verstanden; allesklar.Kurzum, wir wollen keine Steuergeschenke. Wir wol-len bei einer zielgerichteten Forschungsförderung blei-ben. – Oh ja, Herr Präsident, meine Redezeit. Es folgtmein letzter Satz.
Die Ankündigung „Kurzum“ war die ideale Überlei-
tung zum Schluss.
Meine Damen und Herren, auch Forschungspolitik
muss man modernisieren. Das Wissen von morgen wird
eben nur dann im Morgen ankommen, wenn es heute of-
fen und demokratisch gewonnen wird. Schließlich wol-
len wir Wissen von allen für alle entwickeln.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die inte-ressante Frage heute ist doch: Was meint die neue Bun-desministerin Wanka, wie es zukünftig in der For-schungspolitik in Deutschland weitergehen soll? EineAntwort darauf bekommen wir sicher nicht aus einerDrucksache der Bundesregierung vom März letzten Jah-res über Aktivitäten, die sich noch auf die Zeit davor be-ziehen.
Aber zu ihrer zukünftigen Forschungspolitik hat dieneue Bundesministerin Wanka so wenig gesagt, dass nurder Schluss bleibt, dass sie selbst davon ausgeht, dass sieim Herbst ihre Zukunft schon hinter sich hat.
Meine Damen und Herren, da bleibt doch nur noch diealte Fußballerregel: Die Wahrheit ist auf dem Platz.Wo ist der Platz, der zeigt, wie es um die Zukunft be-stellt ist? In den neuen Daten zum Etat der neuen Minis-terin! Ein Blick auf diese neuen Daten zeigt: Schon 2014soll es mit plus 0,5 Prozent Haushaltsmitteln nicht ein-mal mehr einen Inflationsausgleich geben. Das istschlechter als die meisten Verträge, die die Länder mitihren eigenen Hochschulen gemacht haben.Frau Wanka, Sie haben zu Recht gesagt: Vorsprungmuss man halten. Wenn aber nicht einmal ein Inflations-ausgleich gewährt wird, gelingt das mit Sicherheit nicht.Schon 2014 sollen Ausgabenkürzungen in der Größen-ordnung von fast 5 Prozent des Budgets umgesetzt wer-den. Wenn man sich die mittelfristige Finanzplanunganschaut, erkennt man, dass weitere Kürzungen undMinderausgaben vorgesehen sind. Wenn man den Partei-tagsbeschluss der CDU einspeist, dass es zukünftig wei-terhin jedes Jahr Aufwüchse um 5 Prozent für den Paktfür Forschung und Innovation geben soll, dann ergibtsich bereits im Jahr 2017 ein Einsparbedarf von über1 Milliarde Euro. Das sind die Tatsachen.
Keiner bestreitet hier, dass Sie in den letzten Jahrenerhebliche Mittel in das Wissenschaftssystem einge-speist haben.
Aber wie nachhaltig ist das? Sie haben in den letztenJahren ein Riesenfeuerwerk veranstaltet, das sich jetztals Strohfeuer herausstellt, weil Sie es nicht durchhaltenkönnen. Was haben Sie im Hinblick auf das 3-Prozent-Ziel – Sie haben zu Recht davon gesprochen, FrauWanka – vor? Wollen Sie das 3-Prozent-Ziel nur einmalkurz antippen, und dann gehen die Mittel wieder nachunten? So wie Sie Ihren Haushaltsplan angelegt haben,werden Sie das 3-Prozent-Ziel mit Sicherheit nicht inRichtung 3,5 Prozent überschreiten, sondern Sie werdendie Mittel wieder nach unten fahren. So sieht das nachIhrer bisherigen Planung aus!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28777
Krista Sager
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Frau Wanka, Sie haben gestern im Ausschuss gesagt,wir sollten uns mal keine Sorgen darum machen. Wennman als wenig verwöhnte Landesministerin auf die Bun-desebene kommt, hat man vielleicht erst einmal den Ein-druck, man sei reich ausgestattet; da werde schon genü-gend Luft sein. Die Frage ist: Wo sehen Sie den Speck,aus dem zukünftig der Hochschulpakt, die von Ihnen an-gekündigte gründliche BAföG-Reform und die Betreu-ungsprämie geschnitten werden sollen? Dazu haben Sieuns gestern nichts gesagt, und dazu haben Sie uns auchheute nichts gesagt.
Ich habe den Eindruck, dass Sie bei Ihrem Parteitags-beschluss – weitere 5 Prozent jedes Jahr für den Pakt fürForschung und Innovation, eine große BAföG-Reform –mit ungedeckten Schecks herumwedeln
und sich ausschließlich darauf verlassen, dass die Ver-handlungen mit den klammen Bundesländern sich soschwierig gestalten, dass Sie gar nicht in die Verlegen-heit kommen, Ihre ungedeckten Schecks am Ende aucheinlösen zu müssen.
Eine besondere Erwähnung verdient an dieser Stelledurchaus auch das Projekt Betreuungsprämie. Wir kön-nen feststellen, dass dieses Projekt den Etat für Bildungund Forschung im nächsten Jahr schon mit 51 MillionenEuro und 2015 mit jährlich 100 Millionen Euro belastet.Zu diesem Projekt haben nicht nur die Bildungsforscher,sondern auch die Expertenkommission für Forschungund Innovation der Bundesregierung gesagt, dass es fürunsere Zukunft ausgesprochen schädlich ist.
Sie finanzieren also ein schädliches Projekt zulasten vonBildung und Forschung und zulasten der Zukunft.Das unterstreicht noch einmal das ausgeprägte Talentder Bundesregierung, immer wieder die falschen Priori-täten zu setzen. Opfer dieses Talents, immer wieder diefalschen Prioritäten zu setzen, wird jetzt auch ein Kern-projekt dieser Regierung, nämlich die steuerliche For-schungsförderung.
Die CDU/CSU liebte die Betreuungsprämie mehr, dieFDP wollte lieber Hotels subventionieren,
und gemeinsam haben sie sich an ein Modell geklam-mert, das hauptsächlich Großkonzerne beglücken sollteund sich letztlich als unbezahlbar herausgestellt hat.Interessant ist, dass in den letzten Tagen der KollegeNeumann von der FDP den grünen Vorschlag wieder zurSprache gebracht hat,
nämlich die steuerliche Forschungsförderung auf kleineund mittlere Unternehmen zu konzentrieren, die nichtunbedingt von der Projektförderung profitieren. DasBlöde ist nur, dass das nicht die Stimme der Vernunft ineiner lieblosen Auslaufehe ist,
sondern dass es hier wie in vielen gescheiterten Bezie-hungen offensichtlich nur noch um Schuldzuweisunggeht, also darum, wer am Ende die Verantwortung dafürübernehmen muss, dass ein Projekt doch nichts wird.
– Eine Lösung haben Sie bisher nicht angeboten.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass deutlichist, dass sowohl von der Regierungsseite als auch vonder Fraktionsseite dieses Beziehungsmodell tatsächlichgescheitert ist und dass wir von dieser Koalition für dieForschungspolitik in Zukunft leider auch nichts mehr zuerwarten haben.
Der Kollege Rupprecht hat nun für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Herr Röspel, Frau Sager, das ist hier je-des Jahr dieselbe Veranstaltung. Es wird gesagt: DerHaushalt ist dramatisch; es wird hier und dort gespart. –Aber im Ergebnis haben Sie schlichtweg nie recht behal-ten.Sie haben am Anfang der Legislatur gesagt, dass wirdie angekündigten zusätzlichen 12 Milliarden Euro nieund nimmer schaffen werden. Das Ergebnis ist, dass wirmit 13 Milliarden Euro das Ziel von 12 Milliarden Euroübertroffen haben.
Sehr geehrte Damen und Herren, die linken Parteienstreiten wieder einmal wie die Kesselflicker über Sinnund Unsinn der Hartz-IV-Reformen. Einige behaupten,die Hartz-IV-Reformen seien die zentrale Ursache fürdie Stärke und den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands.Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Wirtschaftlichist Deutschland deswegen so erfolgreich und so stark,weil wir Spitzenunternehmen mit Spitzenprodukten inDeutschland haben, die die gesamte Welt nachfragt und
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28778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Albert Rupprecht
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braucht. Wegen Hartz IV gibt es keine zusätzlichen Ar-beitsplätze. Wegen Hartz IV gibt es kein einziges zusätz-liches Patent, und es gibt wegen Hartz IV keinen EuroUmsatz mehr.
Entscheidend für die wirtschaftliche Stärke ist die Inno-vationskraft unserer Unternehmen in diesem Land.
Die deutschen Unternehmen liefern deswegen Spit-zenprodukte in die Welt, weil sie eine Infrastruktur inDeutschland vorfinden, die ihnen das ermöglicht.Deutschland hat eine herausragende Forschungsinfra-struktur. Ich versuche, dies an einem konkreten Beispieldarzustellen. Ähnliche Beispiele ließen sich überall inDeutschland finden.Siemens Medizintechnik am Standort Kemnath inNordostbayern ist Weltmarktführer im Bereich der Com-putertomografie. Dort arbeiten 1 400 Beschäftigte, 140 Be-schäftigte ausschließlich in der Entwicklung. Klar ist,dass sie mit ihren Entwicklungen immer zwei Jahre Vor-sprung haben müssen. Die Innovationsgeschwindigkeitist außerordentlich dynamisch. Die Weltmärkte erzwin-gen diese Geschwindigkeit. Dieser Vorsprung ist deswe-gen möglich, weil es eine Forschungsinfrastruktur re-gionaler Art gibt, die eine Verzahnung ermöglicht mitForschungseinrichtungen, mit der Forschungscommunity– Medizincluster in Erlangen; Hochschulen in Erlangen,Nürnberg, München und Weiden – sowie mit kleinen mit-telständischen Unternehmen, die im Forschungsverbundmitarbeiten und als Zulieferer innovative Produkte lie-fern.
Diese gute Forschungsinfrastruktur ist der Grund, wa-rum Deutschland so gut dasteht. Die Menschen, die indiesem Bereich zusammenarbeiten, müssen sich kennen-lernen und zueinander Vertrauen haben. Dies ist nichtüber das Internet zu machen. Regionale und nationaleCluster ermöglichen dies. Ohne diese Forschungsinfra-struktur gäbe es Siemens Medizintechnik an diesemStandort nicht. Ohne diese Forschungsinfrastruktur gäbees auch die Arbeitsplätze bei den Zulieferern im Mittel-stand nicht.
Deswegen: Nicht Hartz IV, sondern Innovationskraft istdas Zauberwort für Wohlstand und Arbeitsplätze inDeutschland.
Es stellt sich dann die Frage: Was trägt der Bund dazubei? In den vergangenen Jahren haben wir massiv in dieForschungsinfrastruktur investiert. Die Zahlen wurdenangesprochen. Wir haben das 3-Prozent-Ziel mit derzeit2,9 Prozent fast erreicht. Wir haben erstmals die USAüberholt. Deutschland ist das zweitwichtigste Ziellandfür Forschungsinvestitionen multinationaler Unterneh-men weltweit. 570 000 Menschen sind in Deutschlandim Bereich Forschung und Entwicklung beschäftigt. Dasist gegenüber 2005, als wir an die Regierung gekommensind, ein Zuwachs um sagenhafte 19 Prozent. Das isteine großartige Entwicklung, auf die wir sehr stolz seinkönnen.
Bund, Länder und Wirtschaft zusammen finanziertenim Jahr 2011 Forschung und Entwicklung mit 75 Mil-liarden Euro – ein Spitzenwert. Das ist gegenüber 2005ein Anstieg um 34 Prozent. Das machen die Unterneh-men nicht aus Liebe zum Standort Deutschland, sondernweil wir mit staatlichen Mitteln eine attraktive For-schungsinfrastruktur aufgebaut haben. Die Bundespoli-tik hat daran einen substanziellen Anteil. Ich sage sogar:Die Bundespolitik ist bei diesem Thema Vorreiter undTaktgeber zugleich.
Wir haben den Haushalt des Forschungsministeriumsgegenüber 2005 um sage und schreibe 82 Prozent er-höht. Die Zuwachsraten im Bundeshaushalt sind wesent-lich höher als die in allen Landeshaushalten und derWirtschaft. Deswegen schneiden wir auch bei allen In-novationsindikatoren weltweit gut ab. Egal, welchen Sienehmen: Wir sind immer in der Spitzengruppe vertreten.Diese Gruppe besteht aus den USA, der Schweiz, ausnordeuropäischen Ländern wie Finnland, Schweden undDänemark sowie aus asiatischen Ländern wie Japan,Singapur und Korea. Ich finde, dass das ein Grund ist,stolz zu sein; dieses gute Abschneiden fällt nicht vomHimmel, sondern es war und ist für die Bundespolitikein riesiger Kraftakt.
Kollege Röspel würde Ihnen gerne eine Zwischen-
frage stellen.
Gerne.
Vielen Dank, Herr Rupprecht. – Ich habe in meinerRede gerade versucht, zu erklären, woher die finanziel-len Spielräume, über die wir uns alle in den letztenJahren gefreut haben, gekommen sind. Nun sind Sie mitIhrer Regierung aufgefordert – der Bundesfinanzminis-ter hat das mehrfach bekräftigt –, den Haushalt zu kon-solidieren, also einzusparen. Gleichzeitig schlägt dieCSU eine neue Subvention, eine Eigenheimzulage, vor.
Sie wollen – was richtig ist – weiter in Bildung undForschung investieren, also mehr ausgeben. Auch wennich nur einen Kaufmannsgehilfenbrief habe, habe ichaber gelernt: Einsparen und gleichzeitig mehr ausgebenist nicht möglich.Sie können uns als SPD politisch dafür schelten, dasswir die Reichen in diesem Land mit höheren Steuersät-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28779
René Röspel
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zen belasten wollen, damit wir in Bildung und For-schung investieren können. Aber Sie müssen als Regie-rung dann auch sagen, wie Sie all das, was Sie hierversprechen, alternativ finanzieren wollen,
woher das Geld dafür kommen soll. Die Menschen indiesem Land haben eine Antwort auf diese Frage ver-dient.
Herr Kollege Röspel, ich beantworte diese Frage
gerne. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie milliardenschwere
Steuererhöhungen planen, gilt bei uns das Prinzip der
Prioritätensetzung. Das wird in der Zukunft gelten, und
das haben wir auch in den letzten Jahren so gehandhabt.
In der Großen Koalition haben wir die Schulden-
bremse gemeinsam beschlossen. Es ist unabdingbar,
dass wir diese Schuldenbremse in Zeiten der internatio-
nalen Krisen, der europäischen Haushaltskrise auch ein-
halten.
Deswegen führt kein Weg daran vorbei, Prioritäten zu
setzen. Das haben wir in den vergangenen Jahren auch
getan. Deswegen geht es in unserem Koalitionsvertrag
nicht um höhere Steuern, sondern um Prioritäten bei
Forschung und Bildung. Genau das haben wir in den
letzten Jahren auch gelebt, Herr Kollege Röspel.
Das EFI-Gutachten besagt im Kern, dass wir keine
Radikalreformen brauchen, weil wir auf dem richtigen
Weg sind, weil die Richtung stimmt. Das EFI-Gutachten
gibt uns allerdings punktuell Aufträge und Ideen mit auf
den Weg. Ich teile diese Bewertung, und deswegen geht
es in einer so grundsätzlichen Debatte wie der heutigen
natürlich auch darum, wohin die Reise gehen soll.
Wichtig ist beispielsweise die Frage des Mittelauf-
wuchses; letztendlich geht es also wieder um die Frage
des Geldes. Frau Ministerin hat bereits angesprochen,
dass sich natürlich die Frage stellt, wie es weitergeht,
wenn wir das 3-Prozent-Ziel erreicht haben. Wir werden
uns dafür verwenden, 3,5 Prozent als Ziel festzuschrei-
ben. Das wird ohne Zweifel ein Kraftakt werden, aber
das werden wir uns gemeinsam vornehmen.
Wir beabsichtigen außerdem, den Pakt für Forschung
und Innovation fortzuführen und einen Mittelaufwuchs
von 5 Prozent für die außeruniversitären Forschungsein-
richtungen zu realisieren.
Ich möchte abschließend die steuerliche Forschungs-
förderung ansprechen. Das, Frau Sager, ist in der Tat das
einzige substanzielle Thema aus unserem Koalitionsver-
trag, das wir in dieser Legislaturperiode nicht geschultert
haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass eine entspre-
chende Initiative im Moment überhaupt keinen Sinn
machen würde, weil der rot-grün dominierte Bundesrat
keinerlei Bereitschaft zeigen würde, ihr zuzustimmen.
Frau Sager, Sie reden davon, in der nächsten Legis-
laturperiode die steuerliche Forschungsförderung aus-
zubauen. Gleichzeitig haben aber sowohl Sie als auch
die SPD Steuererhöhungen in Milliardenhöhe für die
nächste Legislaturperiode angekündigt.
Sie wollen den Unternehmen, denen Sie auf der einen
Seite durch steuerliche Forschungsförderung Eigenkapi-
tal für Investitionen in Innovationen und Forschung zur
Verfügung stellen wollen, auf der anderen Seite Milliar-
den aus der Tasche ziehen.
Sie lassen in Ihrer Steuererhöhungsdiskussion praktisch
keine Steuerart – Einkommensteuer, Vermögensteuer,
Erbschaftsteuer – aus. Das läuft auf das Prinzip „linke
Tasche – rechte Tasche“ hinaus. Sie entziehen den Un-
ternehmen die Substanz und geben ihnen dafür ein paar
Krümel. Das ist verlogen und falsch.
Herr Kollege.
Liebe Frau Sager und liebe Kollegen von der SPD,
solange Sie an diesen Steuererhöhungsplänen festhalten,
ist all das, was Sie über steuerliche Forschungsförderung
schwadronieren, unglaubwürdig.
Danke schön.
Michael Gerdes bekommt nun das Wort für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir diskutieren hier heute an prominenter Stelle einDokument, das ein Jahr lang keine Beachtung fand. Mankönnte meinen, Schwarz-Gelb fände, der Inhalt der vor-liegenden Unterrichtung sei nicht der Rede wert, undganz abwegig ist der Gedanke ja wohl nicht. Hierwerden Vorhaben und Aktionspläne vollmundig an-
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Michael Gerdes
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gekündigt. Es geht um eine gute Zukunft für unsere Ge-sellschaft. Es geht um nachhaltiges Wachstum, Beschäf-tigung und Wohlstand für Deutschland, und das ist diepolitische Botschaft, die wir alle unterschreiben. Kon-kret fassbar werden die Vorhaben der Hightech-Strategieallerdings nur selten.Zahlen allein sagen nicht alles aus. Schauen wir zumBeispiel auf das Projekt „Intelligenter Umbau der Ener-gieversorgung“. Bei der Zielsetzung sind wir uns absoluteinig: Wir alle wollen in naher Zukunft eine saubere,sichere und bezahlbare Energieversorgung. Die Frage istaber: Wie kommen wir da hin? Welche Forschungsakti-vitäten sind nötig? Wo und wie führen wir Ideen zusam-men?Deutschland ist Europas stärkstes Industrieland undgleichzeitig der größte Energieverbraucher in der EU.Vor diesem Hintergrund haben wir uns den komplettenUmbau der Energieinfrastruktur vorgenommen. Das Zielist ambitioniert. Es zu erreichen, erfordert einerseits einschlüssiges, gut koordiniertes Konzept. Andererseitsbrauchen wir dafür eine starke, leistungsfähige und breitaufgestellte Forschungslandschaft. Wir brauchen alleklugen Köpfe, um neue Technologien, neue Materialienund neue Energiedienstleistungen zu entwickeln, und ge-nau hier sehe ich das Problem.Das 6. Energieforschungsprogramm ist zwar seit Sep-tember 2011 in Kraft; aber es wird der Tragweite undBedeutung der Energiewende nicht gerecht, schon alleindeshalb, weil die Energieforschung zerstückelt ist. Zuviele Ressorts wollen mitmischen. Das führt dazu, dassdie Wissenschaft nur schwer erkennen kann: WelchesMinisterium hat den Hut auf, und wer kann gegebenen-falls Forschungsgelder verteilen?
Gerade die kleinen Unternehmen mit wenigen Mitarbei-tern haben es hier, nebenbei bemerkt, noch schwerer. Siehaben zwar gute Ideen, aber es fehlt an Kapazitäten, umdie Bürokratie des Förderdschungels zu durchdringen.Darüber hinaus verhindert die Zerstückelung der For-schungsprogramme notwendige Synergien. Wir brau-chen einen ganzheitlichen Blick, damit die Umgestal-tung der Energieversorgung gelingt. Die vielen kleinenForschungsprojekte müssen zusammengeführt werden,damit sich ein neues System entwickelt.
Zu dieser Einschätzung komme ich übrigens nicht, weilich derzeit Oppositionspolitiker bin. Nein, das sagenauch die Berater der Bundesregierung. Herr KollegeNeumann, auch ich darf die Expertenkommission For-schung und Innovation, EFI, zitieren. In ihrem aktuellenGutachten steht auch: „Die Fragmentierung der Zustän-digkeiten für die Energieforschung in Deutschland istbizarr.“
Vor wenigen Tagen hat sich nun unsere neue Ministe-rin, Frau Wanka, die Kritik der Experten zu Herzengenommen: Sie hat der Öffentlichkeit die Nationale For-schungsplattform Energiewende vorgestellt.
Hier sollen Energien und Ideen gebündelt werden. – Undjetzt lobe ich: Ich begrüße diesen Ansatz.
– Klatschen Sie nicht zu früh. – Schade ist nur, dass be-reits so viel Zeit vergangen ist; denn diese Plattform istbereits vor eineinhalb Jahren angekündigt worden.Jetzt kommen wir zum größten Fehler des 6. Energie-forschungsprogramms: Es ist die mangelhafte finanzielleAusstattung der Energieforschung. Schwarz-Gelb bautauf das Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“.Wir alle kennen die Zahlen: Der Preis der CO2-Zertifi-kate ist deutlich geringer als erwartet. Somit fehlt dasGeld bei der Energieforschung. Der Spiegel berichtetaktuell von einer Streichliste im Ressort von HerrnAltmaier. Demnach stehen die Förderprogramme zurElektromobilität und zur Erforschung von Stromspei-chern vor dem Aus. Das sind zentrale Bausteine derEnergiewende. Mit diesen Förderschwerpunkten habensich Union und FDP gerühmt, und nun findet die For-schungsförderung in diesem Sektor nicht statt. – So vielzum Thema Prioritätensetzung.Das zeigt mir: Diese Regierung hat bei der Energie-wende keinen Plan.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchtenoch einen anderen Teil der Hightech-Strategie anspre-chen. Unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ – Frau Minis-terin, Sie sprachen es an – kann man lesen, wie sich dieArbeitswelt immer mehr automatisiert und wie sehrInformations- und Kommunikationstechnologien dieProduktion der Zukunft bestimmen; das ist so weit rich-tig. Unsere Wettbewerbsfähigkeit hängt davon ab, wieeffektiv und effizient Arbeitsprozesse ablaufen. Compu-ter machen alles smart: das Handy, die Fabrik oder dieProduktion. Wer aber in den Ausführungen der Bundes-regierung deutlich zu kurz kommt, ist der Mensch.
Gute und innovative Produkte gibt es nur mit gut ausge-bildeten Menschen.
Da stellt sich die Frage: Wie werden die Arbeitneh-mer in den Fabriken auf die neuen Technologien vorbe-reitet? Was bietet die Bundesregierung an, um Aus- undWeiterbildung zu verbessern? Wie wird auf neue Berufs-bilder reagiert?Hier muss einerseits die Forschung zur Zukunft derArbeit und Humanisierung der Arbeitswelt verstärktwerden. Andererseits brauchen wir eine Bildungs- undQualifikationsoffensive. Die Industrieprozesse sindzunehmend wissensbasiert. Unsere Chancen sind hoch-
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Michael Gerdes
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qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitproduktionsbezogenem Know-how und großem Fach-wissen. Das Wissen der Menschen muss durch guteBildungsprogramme gesichert und weiterentwickeltwerden. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, denÜbergang zwischen beruflicher Bildung und Hochschulezu verbessern, zum Beispiel durch den Ausbau der Auf-stiegsstipendien.
Deutschland ist ein Industrieland. Damit das so bleibt,müssen wir auf die grundlegenden Herausforderungenunserer Zeit reagieren.
Globalisierung, Umwelt- und Klimaschutz, Rohstoff-verknappung, technologische Innovation und demografi-sche Entwicklung werden die Industrie weiter ver-ändern. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit derkreativen Köpfe in Industrie, Dienstleistungen undWissenschaft an.Aufgabe der Politik muss es sein, die Gestaltung derArbeitswelt von morgen aktiv zu begleiten. Wissen undInformation sind notwendige Bedingungen für den wirt-schaftlichen Erfolg von Unternehmen und die berufli-chen Perspektiven der Beschäftigten.Wir müssen alles tun, um die Möglichkeiten unsererGesellschaft zu verbessern. Dazu gehört die gezielteEinwanderung von Fachkräften. Dazu gehört die Chanceauf Ausbildung. Dazu gehört die höhere Durchlässigkeitdes Bildungssystems. Dazu gehören auch Anreize fürberufsbegleitende Qualifizierungsmaßnahmen.Herzlichen Dank. Glück auf!
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDiskussion heute Morgen gibt uns die Gelegenheit, dieLeistungen der Koalition in dieser LegislaturperiodeRevue passieren zu lassen. Um es gleich zu Beginn zusagen: Wir haben den Haushalt für Forschung und Ent-wicklung im Bund in der Legislaturperiode auf rund14 Milliarden Euro erhöht. Das ist der höchste Betrag,den wir je für diesen Bereich zur Verfügung gestellthaben.
Wir haben in dieser Legislaturperiode im Bereich Bil-dung und Forschung rund 13 Milliarden Euro zusätzlichbereitgestellt. Wir haben 2,9 Prozent des BIP in For-schung investiert. Damit haben wir das 3-Prozent-Zielnahezu erreicht. In dieser Legislaturperiode wurden ei-nige Vorhaben massiv vorangetrieben, und zwar durchdie Schwerpunktsetzungen, die diese Koalition vorge-nommen hat.Herr Röspel, vorhin haben Sie alles Erreichte für dieSPD in Anspruch genommen. Ich sage Ihnen dazu eines:Sie haben gar nichts erreicht. Sie haben davon nur ge-träumt, wir haben es umgesetzt. Wachen Sie endlich auf!
Einige zentrale Themenfelder der Hightech-Strategiewurden genannt. Es ist unglaublich wichtig, dass wirbeispielsweise im Zuge des Projekts Industrie 4.0 – dervierten industriellen Revolution; die Frau Ministerin hatdas hier sehr ausführlich vorgetragen – den Bereich derDienstleistungen gezielt fördern. Aber in anderen Berei-chen haben wir sehr wohl den gesamten industriellenBereich mit einbezogen, weil wir der Auffassung sind,dass wir in Deutschland weiterhin industrielle Produk-tion brauchen, dass das dazugehört, wenn wir erfolgreichsein wollen. Dass wir das ausgerechnet der SPD beibrin-gen müssen, das ist schon bemerkenswert.
Zentraler Aspekt der von uns eingebrachten Änderun-gen ist vor allen Dingen, dass wir in dieser Legislatur-periode großen Wert auf eine Verbindung zwischen Wis-senschaft und Wirtschaft gelegt haben. Wir haben dafürgesorgt, dass diese Verbindung gestärkt wird. Wir sindauf Ideen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse ange-wiesen; denn das führt am Ende zu mehr Innovationen,und zwar zu Produkt- und Prozessinnovationen. DieseInnovationen bringen uns den nötigen Erfolg. Das si-chert den Wohlstand unseres Landes. Deshalb werdenwir weiterhin darauf drängen, dass es eine enge Verzah-nung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gibt. Wirhalten das schlicht für notwendig.
Ich möchte an dieser Stelle eines deutlich machen:Wir sind der Meinung, dass die Förderung vonForschung entsprechende Unterstützung braucht. Dafürhaben wir im Zuge der Exzellenzinitiative gesorgt. Aberdie Exzellenzinitiative kann so nicht weitergeführtwerden, weil wir ein Problem mit der Finanzierung ha-ben, Stichwort: Grundgesetz. Wir haben eine Änderungdes Art. 91 b Grundgesetz auf den Weg gebracht, weilwir vonseiten des Bundes sagen: Wir wollen die Länderbei der Finanzierung der Wissenschaftseinrichtungenweiterhin unterstützen. Dies ist uns ein Anliegen; wirwollen das tun, und dafür muss der Art. 91 b geändertwerden. Das wird augenblicklich von Ihnen im Bundes-
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Birgit Homburger
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rat blockiert. Wenn Sie sagen, dass Sie Unterstützunghaben wollen, dann müssen Sie die Frage beantworten,warum Sie dieses Gesetz im Bundesrat blockieren.
Dafür gibt es einen einzigen Grund – –
– Ach, Herr Röspel, es geht doch nicht um ein paar we-nige Spitzenuniversitäten; es geht darum, dass in diesemLand Exzellenz erhalten bleibt. Dafür müssen Sie auchExzellenz fördern.
Der einzige Grund, warum Sie das blockieren, sindkleinkarierte Eigeninteressen der Länder, die in einer ArtErpressermanier versuchen, mehr Geld vom Bund zu be-kommen, als wir schon angeboten haben. Das ist derGrund, warum Sie diese Änderung blockieren. RiskierenSie nicht weiterhin die Finanzierung der Forschungsein-richtungen!
Die Innovationsindikatoren zeigen deutlich: Wir sindweiter ganz vorne mit dabei. Aber wenn wir diese Posi-tion halten wollen, dann müssen wir auch weiterhin dieVerschränkung von Wissenschaft und Wirtschaft fördern.Wir haben das beispielsweise über das Innovationskon-zept des Bundesministeriums für Wirtschaft getan. Wirhaben dies sehr konkret getan, indem wir beispielsweiseim Bereich des Mittelstands die Mittel für das Projekt„Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand“ aufge-stockt, es ausgebaut, umgebaut und es praxisorientiertund erfolgreich gemacht haben. Dass wir mit unsererPolitik konsequent auf kleine und mittlere Unternehmenauch in diesem Bereich setzen, trägt dazu bei, dass wirso erfolgreich sind.
Es bleibt – das will ich Ihnen an dieser Stelle auch sa-gen – auf unserer Agenda, dass wir das Förderinstru-mentarium, das wir haben, ergänzen. Wir haben es indieser Legislaturperiode beispielsweise durch das„Kompetenzzentrum innovative Beschaffung“ ergänzt,weil wir aus anderen Ländern wissen, dass auch im Be-reich der öffentlichen Beschaffung Schwerpunkte ge-setzt werden können und Unterstützung für Innovationengegeben werden kann. Wir wollen dies auch weiterhintun, indem wir die steuerliche Forschungsförderungnoch auf den Weg bringen. Wir sind der Meinung, dasses gut wäre, unser Forschungsinstrumentarium dadurchzu ergänzen.
– Sie brauchen hier gar nicht dazwischenzurufen. In denProgrammen der SPD steht dies seit 1994. Seither habenSie ein paarmal regiert, und nichts haben Sie auf dieReihe gekriegt – gar nichts! –,
und das unter Finanzbedingungen, die besser waren, alswir sie in dieser Legislaturperiode hatten.
Ich sage Ihnen: Wir haben in dieser Legislaturperiodean der einen oder anderen Stelle unsere Schwerpunktset-zungen ein Stück weit zurücknehmen müssen, weil neueHerausforderungen auf uns zukamen. Ich nenne nurdie Stichworte „Euro-Krise“ und „Haushaltskonsolidie-rung“.
Weil wir insoweit etwas machen mussten, konnten wirnicht alles umsetzen, was wir wollten. Aber Sie könnensicher sein: Wir werden an dem Thema der steuerlichenForschungsförderung weiter arbeiten,
weil wir der Auffassung sind, dass es einer weiteren Er-gänzung des Instrumentariums bedarf, weil wir wollen,dass Innovationen in diesem Land eine Chance haben.Dazu gehört auch, dass wir, dass diese Koalition nichtnur über Risiken redet, sondern auch über die Chancender Forschungspolitik – ganz im Gegensatz zur linkenSeite dieses Hauses.
Wenn wir weiter Innovationen fördern wollen, brau-chen wir auch ein gesundes gesellschaftliches Klima. Zudiesem Klima müssen auch Sie beitragen, zum Beispieldadurch, dass Sie auch einmal über die Chancen undnicht nur über die Risiken von neuen Technologien spre-chen.
Tobias Lindner vom Bündnis 90/Die Grünen ist dernächste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Albert Einstein sagte einmal:Viel mehr als die Vergangenheit interessiert michdie Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.Wenn ich mir die heutige Debatte anschaue, die sichdadurch beschreiben lässt, dass die Redner der Koalition
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Dr. Tobias Lindner
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vielfach Salböl über ihre Politik der letzten vier Jahre ge-gossen haben und wir relativ wenig über die Hightech-Strategie der Bundesregierung gehört haben, frage ichmich schon, wann wir einmal über die Zukunft der For-schungspolitik in Deutschland miteinander diskutieren.
Schauen wir uns einmal Ihre Hightech-Strategie an.Sie ist vielfach eine Sammlung von Allgemeinplätzen.
Es gibt auch Dinge, die andere Teile dieses Hauses in ei-nigen Punkten durchaus unterstützen würden. Aberwenn man den Rest Ihrer Politik danebenlegt, wenn mansich anschaut, wie das Ganze finanziert werden soll,dann fällt eine große Inkonsistenz auf.
Ich nenne Ihnen dazu zwei einfache Beispiele:Erstens. Sie haben viel darüber gesprochen, dass Siedie Ausgaben im Einzelplan 30, die Ausgaben für Bil-dung und Forschung, erhöht haben. Ja, das ist richtig,diese Ausgaben sind gestiegen, und im kommenden Jahrmöchten Sie die Mittel für den Einzelplan 30 – so derEckwertebeschluss – um 287 Millionen Euro erhöhen.Frau Ministerin, Sie haben davon gesprochen, dass manPrioritäten setzen muss, dass man sich konzentrierenmuss, dass man dem Ganzen eine Richtung geben muss.Sie erhöhen auf der einen Seite zwar den Etat um287 Millionen Euro, schrauben aber gleichzeitig die glo-bale Minderausgabe um etwa 370 Millionen Euro hoch.Wenn diese globale Minderausgabe erwirtschaftet wird,ist das zum einen alles andere als ein Mittelaufwuchsund zum anderen auch alles andere als eine Priorisie-rung. Sie verraten nicht, woher das Geld kommen soll.Das ist alles andere als eine klare Richtung in der For-schungspolitik.
Zweitens. Lassen Sie mich etwas zum Thema Energie-forschung sagen. Die Energiewende ist die größteHerausforderung für Deutschland seit der Wiederverei-nigung in den Bereichen Wirtschafts- und Infrastruktur-politik. In Ihrer Hightech-Strategie nennen Sie einigeMaßnahmen. Schauen wir uns einmal die projektbezo-gene Energieforschung an: Darin enthalten sind zwarviele Projekte aus dem Bereich der Erneuerbaren; aberdie Mittel, die Sie dafür bereitstellen, sind gerade einmalhalb so hoch wie die Mittel, die im Bereich der Kernfor-schung ausgegeben werden. Auch an dieser Stelle gebenSie Ihrer Forschungspolitik eine falsche Richtung.
Frau Homburger, Sie haben darüber gesprochen, dassman Wissenschaft bzw. Forschung und Wirtschaft ver-zahnen muss. Im Zusammenhang mit der Energiewendein Deutschland ist Ihnen das Gegenteil gelungen. VieleUnternehmen, mit denen ich spreche – ich rede nicht nurüber Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbarenEnergien; ich rede über ganz konventionelle Energie-konzerne –, sagen mir: Mit ihrem Zickzackkurs beimAusbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mit die-sem Hickhack sorgt diese Bundesregierung für Verun-sicherung; so schafft sie keine stabilen Rahmenbedin-gungen. – So erreichen Sie das Gegenteil von einerguten Verbindung zwischen Wirtschaft und Wissen-schaft im Bereich der Energiepolitik.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen – mankönnte ihn überschreiben mit: „Die Botschaft hör ichwohl, allein mir fehlt der Glaube“ –, die steuerliche For-schungsförderung. Heute liegt ein Antrag meiner Frak-tion vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird,eine steuerliche Forschungsförderung in Höhe von15 Prozent bei kleinen und mittleren Unternehmen aufden Weg zu bringen. Sie haben über enge Spielräume imHaushalt gesprochen. Ja, die Spielräume im Haushaltsind eng. Haushalten hat aber auch etwas mit Priorisie-ren zu tun. Wenn Sie sich für die Mövenpick-Steuer oderdie Herdprämie entscheiden und gegen eine steuerlicheForschungsförderung, dann ist das auch eine Art vonPriorisierung. Diese Priorisierung hat mit Hightechnichts zu tun.Vielen Dank.
Nun erhält der Kollege Heinz Riesenhuber für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindner,Sie haben mit einer erfreulichen Leidenschaft und mitFreude über eine gute Sache, über die steuerliche For-schungsförderung, gesprochen. Ich bin sehr dankbar,dass die Grünen und die SPD hierzu wegweisende An-träge gestellt haben. Es war nicht immer so, dass diesbe-züglich herzliche Einmütigkeit zwischen uns herrschte.Die steuerliche Forschungsförderung ist eines der dickenBretter, an denen wir bohren. Als wir vor 25 Jahren zumersten Mal dieses Thema durchzusetzen trachteten, kamdie deutsche Einheit, und die Prioritäten hatten sich ver-ändert. Dann gab es eine Zeit, in der Sie regiert haben,vielleicht nicht Sie persönlich, aber die Grünen zusam-men mit der SPD. Auch damals wurde das nicht zu-stande gebracht. Dann hatten wir die Große Koalition.
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28784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Heinz Riesenhuber
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Ich erinnere mich an die herzlichen, konspirativen Ge-spräche, die wir geführt haben.
So ganz ist es uns damals nicht geglückt.Und auch in dieser Periode haben wir das noch nichtgeschafft. Aber, Freunde, wir stellen die Notwendigkeitdieses Instruments jetzt so einmütig fest, wie das nochnie der Fall war.
Der Deutsche Bundestag, die Industrie, die Verbändeund auch der Mittelstand stehen dazu. Wir alle sind derÜberzeugung, dass jetzt die große Chance besteht, tech-nikoffen in einer komplexen Welt die Erfindungskraftdes Einzelnen freizusetzen und den Mittelstand zu för-dern.Frau Sager, Sie sagen, das alles sei vor allem für dieGroßkonzerne.
Wir haben hierzu ein Konzept, das streng geheim ist;deshalb kennen es alle.
Darin steht, dass der Mittelstand dreimal mehr gefördertwerden soll als die Großunternehmen. Weiter steht darin,dass die Personalkosten steuerlich gefördert werden –und nicht die Investitionskosten, die bei der Forschungin großen Unternehmen höher sind.
Wir haben auch hier die Strategie, den innovativen Mit-telstand mit seiner Begeisterung für das Neue, den Welt-meister in den Nischen, den Meister der technischenSysteme und die Zusammenführung der unterschied-lichen Techniken so zu fördern, dass der Schwung ineine neue Welt führt. – Das bezog sich auf die steuer-liche Forschungsförderung.Es gab einen zweiten Punkt, bei dem die Oppositionsich nachdenklich gefragt hat, ob sie die Welt noch rich-tig versteht. Ich glaube, Frau Sager, Sie haben ihn ange-sprochen. Ich muss nachschauen. – Nein, Frau Sitte wares. Schön, mit Ihnen reden zu können, Frau Sitte.
Sie haben die Frage gestellt: Was heißt Wohlstand im21. Jahrhundert? Was trägt Forschung dazu bei?
Wir haben mit dem HTS-Aktionsplan ein ziemlich ein-zigartiges Dokument von beachtlicher Intelligenz. Wieist der Weg dahin gewesen?Erstens hat man geschaut, was die prioritären Feldersind, in denen wir Probleme lösen müssen. Das sind dieGesundheit, die Energie, das Klima, die Sicherheit unse-rer Datensysteme, die Kommunikation und die Mobili-tät. Die Probleme auf diesen Gebieten müssen wir lösen,um auf lange Sicht menschliches Zusammenleben zu si-chern. Auf diesen Gebieten werden aber auch die großenMärkte entstehen. Das sind die Gebiete, auf denen dieChancen für die Unternehmen entstehen werden.Von diesen Gebieten ausgehend haben wir das Ganzedann zweitens im Rahmen eines komplexen Prozessesauf die zehn Zukunftsprojekte heruntergebrochen. Sieadressieren in konkreter Weise die Dinge, bei denen esoperativ wird. Die wiederum sind auf die einzelnen Be-reiche bzw. Einzelprojekte wie die der Energieforschungund der Altersforschung heruntergebrochen worden. Beider Altersforschung geht es übrigens nicht nur um dieTechnologie. Wir haben die soziale Altersforschung seit25 Jahren in vernünftiger Weise integriert, mit den Ko-horten, mit den Fragen der Teilhabe, des Zusammenle-bens und der eigenständigen Gestaltung.Manche von uns sind etwas älter geworden.
Dass wir in Fröhlichkeit und mit Eigenständigkeit in ei-ner komplexen Welt leben, ist eine begeisternswerte Tat-sache, an der wir uns alle erfreuen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daraus isteine neue Strategie entstanden. Das ist nicht die klassi-sche Strategie eines Technology Push, mit dem hier si-cher eine Lösung gefunden werden kann. Es gibt heuteso viele Techniken und Erfindungen, dass es überhauptkeinen Zweck hat, zu versuchen, dabei die Gewinner he-rauszupicken. Vielmehr ist es so, dass wir, weil wir einesolche Fülle von neuem Wissen und neuer Technik ha-ben, auf die Ziele, die Probleme und die Herausforde-rung hindenken, eine Welt zu gestalten, in der auf langeSicht eine große Zahl von Menschen in Frieden undNachhaltigkeit leben kann. Das ist eine Strategie, dieüberzeugt.Verschiedene Kollegen haben darauf hingewiesen,dass Europa dies als Denkprinzip übernommen hat. Undes scheint sich zu bewähren. Das heißt, wir haben hierinsgesamt eine überzeugende Strategie aufgebaut. Esheißt nicht, dass wir hier alles „targetten“. Das heißtnicht, dass wir glauben, planen zu können, was Innova-tionsgeist erzeugen kann. Das heißt nicht, dass wir keinengroßen Freiraum haben. Wir sprachen über die steuer-liche Forschungsförderung, mit der technikoffen unddurch Erfindungskraft des Einzelnen neue Produkte fürneue Märkte und neue Problemlösungen geschaffen wer-den können.Auf der anderen Seite heißt das auch, dass wir in Ver-antwortung für eine verletzliche Welt von der Zukunfther denken müssen. Wir müssen überlegen, wie uns dieFülle der Möglichkeiten eine humane Gestaltung derWelt erlauben kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28785
Dr. Heinz Riesenhuber
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Wenn wir in diesem Geist an die Sache herangehen,mit einer frohgemuten Zuversicht, mit dem Unterneh-mungsgeist, der dem ganzen Deutschen Bundestag zu ei-gen ist, mit der fröhlichen Gestaltungskraft, die auf dieZukunft vertraut, in einem Geist, der nicht die Problemeproblematisiert, sondern sich für Lösungen begeistert –
Und mit gelegentlichem Blick auf die Uhr.
– und wenn der Bundestagspräsident mir noch diesen
einen Satz zu sagen erlaubt –,
wenn wir also in einem solchen Geist an die Sache he-
rangehen, getragen von der Zustimmung des Bundes-
tagspräsidenten,
dann, Freunde, werden wir Deutschland in eine Zukunft
führen, an der wir alle Freude haben werden, auch die
Menschen, die gestalten.
Die Verpflichtung zur Überparteilichkeit, Herr Kol-
lege Riesenhuber, verbietet mir, die schiere Begeisterung
über die Schlussempfehlung zum Ausdruck zu bringen.
Das behalten wir jetzt für uns.
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, ichgebe Ihnen recht: Ich glaube, das ganze Haus hat hin-sichtlich Forschung und Entwicklung die Einsichten, diees braucht. Wir alle sind davon überzeugt, dass dieserBereich gefördert werden muss. Wir haben also kein Er-kenntnisproblem. Aber wir haben ein Umsetzungspro-blem. Die Umsetzung ist natürlich Aufgabe der Regie-rung. Da die Umsetzung fehlt, ist die Regierung dasProblem. Das ist unser Problem.
Ich will, bevor ich als Finanzpolitiker zum eigentli-chen Thema spreche, zu einem relativ kalten Begriffkommen. Er lautet: Industrie 4.0. Er klingt modern. Esist auch in Ordnung, dass wir diesen Begriff benutzen.Allerdings hat Siggi Ehrmann vorhin, als MinisterinWanka diesen Begriff in ihrem Vortrag etwas leichtfüßigbenutzt hat, einen leisen Zwischenruf gemacht. Er rief:„Richard Sennett! Der flexible Mensch!“ Ich denke, dasses einer Bildungs- und Forschungsministerin gut ange-standen hätte, sie hätte auch ein wenig darüber geredet,was eigentlich mit den Menschen passiert.
Die Menschen werden in Prozesse ausgelagert, umdieses Stichwort zu nennen, und sie werden individuali-siert. Möglicherweise können Sie den dritten Punkt so-gar selber sehr gut nachvollziehen: Wir leiden auch untereinem gewissen Kommunikationsterror.
Das sind drei Begriffe, die wir mitdenken müssen, wennwir den Begriff „Industrie 4.0“ benutzen. Ich hatte ge-dacht, dass sich einer Ministerin, die für Bildung undForschung zuständig ist, auch diese kulturelle und so-ziale Dimension des Problems erschlossen hätte.
Nach dieser Vorbemerkung darf ich nun über dasThema Geld reden. Ich meine, im Vergleich zu vielenanderen Ländern hat Deutschland eine ganz gut ausge-baute Projektförderung. Offen gestanden hat da auch dieRegierung, wie ich meine, in den letzten Jahren nichtviel kaputtgemacht.
– Das war jetzt aber eine relativ neutrale Bemerkung.
Es ist möglich, Projektförderung zielgerichtet und ef-fizient zu betreiben. Aber man muss zugeben, dass Pro-jektförderung gerade für kleine und mittlere Unterneh-men oft extrem verwaltungsaufwendig und damitschwierig ist. Deshalb müssen wir uns auf diesen Punktkonzentrieren. Wir müssen dort hinschauen, wo die Si-tuation schwierig ist. Das gilt insbesondere für kleineund mittlere Unternehmen. Ihnen wollen wir helfen.Deshalb denken wir, dass man hier eine steuerliche För-derung organisieren muss, um das große Innovations-potenzial zu fördern.
Dass die Grundlagenforschung daneben natürlich eineöffentliche Aufgabe ist und bleibt, ist selbstverständlich.Jetzt komme ich zu einem interessanten Punkt: zursteuerlichen Forschungsförderung. Auch hier haben wirkein Erkenntnisproblem. Das wissen auch Sie; das weißdie Koalition. Deshalb haben Sie die steuerliche For-schungsförderung – das fanden wir gut – in Ihrem Koali-tionsvertrag erwähnt. Jetzt fragen wir uns natürlich:Wurden Sie Ihren Ansprüchen gerecht? Haben Sie IhreAnkündigungen eingehalten? Wurden Ihre Versprechun-gen umgesetzt? Dazu haben wir einiges gehört. Sie ha-ben sich dieses Vorhaben, glaube ich, für die Zukunftvorgenommen.
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28786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Lothar Binding
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Interessant ist: Sogar die Wirtschaft hilft Ihnen bei derSuche.
Sie sucht und sucht und sucht, wo die Versprechen, dieSie in Ihrem Koalitionsvertrag formuliert haben, umge-setzt wurden. Auch wir helfen Ihnen bei der Suche, fin-den aber nichts. Sogar Sie selber suchen noch, findenaber auch nichts. Ich glaube, schon jetzt merken wir: Dasist ein Umsetzungsproblem. Die Umsetzung ist aller-dings Aufgabe der Regierung. Damit haben wir das Pro-blem vollständig beschrieben.
Die Ministerin hat gerade gesagt: Es wurde noch nieso viel Geld ausgegeben wie jetzt. – Das stimmt. AberGeld ausgeben ist kein Eigenwert. Geld ausgeben istkeine Qualität an sich. Die Frage ist, ob die Verknüpfungmit den Anforderungen zur Bewältigung der Zukunfts-aufgaben gelingt. Da hat Michael Gerdes, übrigens auchbezogen auf die Situation „Mensch in der Ausbildung“,schon wichtige Bedarfsfelder genannt – immer unterdem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit –: Klima-, Ener-gie-, Speicherforschung, Übertragungstechnik, Kommu-nikation usw. Dazu finden wir bei der Regierung nichtviel. Ich habe mir hier aufgeschrieben: „Fehlanzeige“,und ich glaube, diese Diagnose stimmt.Man kann vielleicht einfach ein paar Zahlen nennen.Sie behaupten, Sie strengen sich in der Forschung immermehr an und das wird immer wichtiger. Angenommen,Sie projektieren für 2015 die richtige Zahl, und zwar13,6. In der Projektion für 2016 steigern Sie das auf13,6, in der Projektion für 2017 steigern Sie das nocheinmal auf 13,6. – In unserer Sprache heißt so etwasnicht Steigerung, sondern Stagnation; aber vielleicht se-hen Sie das ja anders.
Wir glauben, dass Sie eine weitere wichtige Dimen-sion nicht erschlossen haben; sie wird mit dem engli-schen Begriff „level playing field“ beschrieben. Damitsoll ausgedrückt werden, dass man darauf achten muss,dass die Bedingungen, die in Europa herrschen, so be-schaffen sind, dass es unserem Mittelstand möglich ist,konkurrenzfähig zu sein. So etwas bedarf einer intensi-ven Europapolitik, einer Außenpolitik, die Sorge trägtdafür, dass für die anderen wie für uns ähnliche Regelngelten. Mit Blick auf die Außenpolitik ist diese Regie-rung, das muss man leider sagen, ein Totalausfall.
Ich will mit Blick auf die Zukunft zitieren, was IngridArndt-Brauer gesagt hat: Wer keine Zukunft hat, be-schäftigt sich mit der Vergangenheit. – Dass die Koali-tion heute diese Unterrichtung durch die Bundesregie-rung auf die Tagesordnung gesetzt hat, war, glaube ich,genau das.
Der Kollege Axel Knoerig hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die heutige Grundsatzdebatte zum Aktionsplan „High-tech-Strategie“ macht deutlich, dass CDU/CSU und FDPin der Innovationsförderung mit der Förderung vonSchlüsseltechnologien den richtigen Weg gegangen sind.Wir vertrauen auf Forschung; sie ist die Grundlage fürunseren Wohlstand und sichert die Zukunft des Wirt-schaftsstandortes Deutschland.Das Jahresgutachten der Expertenkommission For-schung und Innovation 2013 bestärkt uns, Frau ProfessorSchavan, dass unser Weg in der Forschungsförderung,durch die Hightech-Strategie auf eine Kooperation zwi-schen Wissenschaft und Wirtschaft zu setzen, richtig ge-wesen ist.
Es wird deutlich, dass durch Forschung gewonneneSchlüsseltechnologien nicht sofort innovative Produkteund Dienstleistungen vorantreiben. Vielmehr muss derNutzen dieser Schlüsseltechnologien unmittelbar in wirt-schaftliche Anwendungen überführt werden, Herr Binding.Für diesen Wissens- und Technologietransfer stehen indieser Wahlperiode drei Instrumente der Hightech-Strate-gie zur Verfügung:Erstens: die dritte Runde der Exzellenzinitiative fürSpitzenforschung, bei der im Sommer 2012 elf Universi-täten mit Exzellenzclustern ausgewählt wurden.Zweitens: die Validierung. Das heißt, es geht um denNachweis, dass im Forschungsprozess von Anfang anauch die Verwertbarkeit des Produktes berücksichtigtwird. Der Forscher ist gleichzeitig auch Unternehmer.Das erhöht die Chancen der Platzierung des Produktesam Markt.
Drittens: das Programm „Forschungscampus“, beidem öffentliche und private Forschung miteinander ko-operieren und von den Universitäten und der Industrie fi-nanziert werden.Der Wissens- und Technologietransfer zeigt sich inPatenten, in Ausgründungen aus der Wissenschaft und inder Platzierung der Produkte am Markt. Es ist, denkeich, erfreulich, dass wir dafür in diesem Jahr einen Bei-trag von 170 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28787
Axel Knoerig
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Das Ganze spitzt sich zu: Mit dem im März 2012beschlossenen Aktionsplan „Hightech-Strategie“, derSpeerspitze der Innovationsförderung, stellen wir zwi-schen 2012 und 2015 insgesamt 8,4 Milliarden Euro fürZukunftsprojekte zur Verfügung
Ich bin schon ziemlich verwundert, meine lieben Kol-legen von der Opposition, mit welch verstaubten Anträ-gen Sie hier in die Grundsatzdebatte dieses Tagesord-nungspunktes eingestiegen sind. Die Anträge der Grünenund der SPD für steuerliche Forschungsförderung kennenwir bereits seit Herbst 2009. Ich frage Sie: Warum wirddie Regierung mit einem rückwärtsgewandten Bewer-tungsstand aus dem Jahr 2009 gemessen?
– Herr Kollege, Sie lassen die Erfolge, die in den letztendrei Jahren erzielt worden sind, völlig außer Acht.
Noch mehr ärgert mich, dass uns von der Opposition ineiner derart verkürzten und falschen Darstellung vorge-halten wird, dass die steuerliche Förderung von For-schung und Entwicklung nicht zustande gekommen ist.
Die Opposition macht jegliche Anstrengungen in diesemBereich zunichte. Sie blockieren doch im Bundesrat!
Die SPD verhindert dort doch die Reform des Art. 91 bdes Grundgesetzes!Wir von der Union sagen klipp und klar: Wer nichteinmal die Kooperation von Universitäten mit außeruni-versitären Instituten fördern möchte, der verhält sich imGrunde genommen forschungsfeindlich.
Diese Blockade ist verantwortungslos und gefährdet dasGemeinwohl.
Mit dem Motto „Die Hightech-Strategie nach Europatragen“ sind wir Schrittmacher für die Kooperation vonWissenschaft und Wirtschaft in der europäischen For-schungspolitik. Frau Ministerin Wanka hat das auch vor-trefflich formuliert.Wir haben das Rahmenprogramm „Horizont 2020“für die kommende EU-Periode aufgenommen. Die gutenErfahrungen mit dem Wissens- und Technologietransferaus der Hightech-Strategie sind im Wesentlichen aufge-nommen und in der Programmförderung berücksichtigtworden. Wir sind damit langfristig erfolgreich, wenn wirForschungsnetzwerke und Cluster miteinander verbin-den.In Gesprächen in meinem Wahlkreis Diepholz –Nienburg I
– Diepholz – Nienburg I, Herr Röspel;
ich sage es gerne noch einmal –
merke ich das immer wieder: Sie nutzen diese Wissen-schaftscluster, sie kooperieren dort, und sie knüpfen vorallem europäische und internationale Kontakte. Dazumüssen wir wissen, wie sich die Wirtschafts- und die Ar-beitswelt durch die Globalisierung verändern; denn wirwissen, dass dieser Wandel nicht aufzuhalten ist, aberwir können ihn erforschen und seine Auswirkungen be-rechenbarer machen.
Deshalb setzt die Hightech-Strategie im Bereich der In-formations- und Kommunikationstechnologie darauf,Deutschlands Stärken in den Kernbranchen auszubauenund neue Anwendungsfelder zu erschließen.
Nehmen Sie deswegen bitte diese drei Punkte zurKenntnis, die bis heute zu 2 Millionen Arbeitslosen we-niger als noch vor vier Jahren geführt haben:
Erstens. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion set-zen auf beides, auf öffentlich-rechtliche und auf öffent-lich-private Partnerschaften in der Forschungskoopera-tion.Zweitens. Wir haben Produkte und Dienstleistungenvom Forschungsprogramm bis zum fertigen Produkt aufihren Marktwert überprüft.
Drittens. Wir verstärken mit der Hightech-Strategiedie Internationalisierung der kleinen und mittelständi-schen Unternehmen. Wir wissen, dass diese Unterneh-men in unseren Wahlkreisen bis zu 80 Prozent der Ar-beits- und Ausbildungsplätze vorhalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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28788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
(C)
(B)
Der Kollege Michael Kretschmer ist nun der letzte
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nicht weil wir ein wirtschaftlich so starkes Land
sind, geben wir so viel Geld für Forschung und Entwick-
lung aus, sondern weil wir so viel Geld für Forschung,
für Wissenschaft, für Entwicklung und für neue Techno-
logien ausgeben, sind wir ein so starkes Land,
haben wir ein so hohes Wohlstandsniveau,
sind wir so gut durch diese wirtschaftliche Krise gekom-
men. Das ist das Ergebnis dieser Koalition, die jetzt re-
giert.
Wir haben die Mittel für den Einzelplan 30 seit 2005
um 80 Prozent gesteigert und geben damit 80 Prozent
mehr für Bildung, Wissenschaft und Forschung aus –
und das in einer Zeit der Haushaltskonsolidierung. Das
ist der große Unterschied zur linken Opposition in die-
sem Land und auch zu den linksregierten Ländern in der
Bundesrepublik Deutschland.
Eine Nachhaltigkeit dieser Zukunftsinvestitionen für
Bildung und Forschung entsteht nur, wenn sie auf einem
soliden Haushalt aufgebaut sind. Es ist kein guter Weg,
wenn man dies über Steuererhöhungen oder Einmalin-
vestitionen macht. Das ist ein Strohfeuer und nimmt, wie
es schon gesagt worden ist, den Unternehmen die Sub-
stanz, die dann nicht vorhanden ist, um tatsächlich For-
schung und Technologieentwicklung zu betreiben.
Sie haben zu Recht ein schlechtes Gewissen,
weil Sie in Ihrer Regierungszeit, in der Zeit von Rot-
Grün, genau das gemacht haben. Der Vertrauensverlust,
der in den 2000er-Jahren entstanden ist, als Rot-Grün die
Haushalte ohne Vorankündigung überrollt und „Stop and
go“ betrieben hat, wirkt auch noch heute in der Wissen-
schaft nach,
und es ist richtig, dass Ihnen das auch heute noch pein-
lich ist.
Wir haben in der Zeit, in der wir regieren, eine andere
Politik gemacht.
Wir haben in der ersten Legislaturperiode 6 Milliarden
Euro und in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden
Euro
für die Zukunftsthemen in diesem Land ausgegeben: für
die Bildung und für ein besseres Leben, für neue Tech-
nologien, für ein wirtschaftliches Wachstum mit der
Hightech-Strategie. Das ist eine große Sache.
Wir haben immer gesagt, dass die Universitäten im
Zentrum, im Mittelpunkt des Wissenschaftssystems ste-
hen. Deswegen haben wir alle unsere Maßnahmen da-
rauf ausgerichtet, die Universitäten zu stärken. Es wäre
eine große Sache, wenn Sie sich nicht nur in diesem
Parlament echauffieren würden, sondern tatsächlich im
realen Leben in den von Ihnen regierten Ländern dafür
sorgen würden, dass dort nicht die Haushalte für Bildung
gekürzt werden, sondern dass das zusätzliche Geld, das
wir bereitstellen, wirklich zusätzlich genutzt wird, an-
statt es als Ersatz von Landesmitteln zu nehmen, die in
den rot-grünen Haushalten eingespart werden.
Wir haben nach der Regierungsübernahme auf der
ersten Dienstreise mit Annette Schavan die Hightech-
Strategie in Japan und in Südkorea erklärt; der eine oder
andere im Haus war mit dabei. Diese Länder haben ge-
staunt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der
Aussage antritt: Wir wollen wieder nach vorne an die
Spitze. – Diese Länder haben sich sicherlich gefragt, ob
wir das ernst meinen. Heute schauen all diese Länder auf
uns und sind beeindruckt, wie man in einer wirtschaftli-
chen Krise durch Prioritätensetzung im Haushalt mehr
Geld für Bildung, für Forschung, für Wissenschaft be-
reitstellen kann. Die Ergebnisse können sich in der Tat
sehen lassen.
Es ist eine überzeugende Aussage, wenn wir jetzt er-
klären: Wir wollen auch in Zukunft die Investitionen in
die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, für den
Hochschulpakt, für den Pakt für Forschung und Innova-
tion um 5 Prozent erhöhen, damit es auch in Zukunft in
einer guten Kooperation vorangeht. Es wäre gut gewe-
sen, wenn Sie dafür gesorgt hätten, dass die Grund-
gesetzänderung, die von jeder Wissenschaftseinrichtung
und die von den meisten Wissenschaftsministern in die-
sem Land gefordert wird, am Ende Wirklichkeit würde.
Es ist Ihr Versäumnis, dass Sie hier nicht mitgemacht
haben.
Herr Kollege Kretschmer.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28789
(C)
(B)
Wenn wir auch in Zukunft sagen: „Wir wollen nicht
nur 3 Prozent, sondern 3,5 Prozent des Bruttoinlands-
produkts in die Forschung investieren“, dann ist das die
nächste Ansage, die in der Welt gehört wird. Damit ist
verbunden, dass wir unseren Beitrag dazu leisten, dass
nicht nur Deutschland, sondern auch die Europäische
Union insgesamt nach vorn gebracht wird. Dazu wollen
wir beitragen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf derDrucksache 17/9261 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b kommen wir zurAbstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanz-ausschusses auf der Drucksache 17/1600. Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-lung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/247 mit dem Titel „Innovative kleineund mittlere Unternehmen stärken – Ein nachhaltigessteuerliches Forschungs- und Entwicklungs-Förder-konzept vorlegen“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mitMehrheit angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/130mit dem Titel „Innovationskraft von kleinen und mittle-ren Unternehmen durch Steuergutvorschrift für For-schungen stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ange-nommen.Unter Tagesordnungspunkt 3 c stimmen wir über dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8952 mit demTitel „Soziale Innovationen und Dienstleistungsinno-vationen erforschen und fördern“ ab. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/12812, den Antrag der Fraktion Die Linke ab-zulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieseBeschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 zur Abstimmung auf.Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung zu dem Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel„Starke Fachhochschulen für Innovationen in Gesell-schaft und Wirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/12813,den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/9574abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlungzu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so-wie den Zusatzpunkt 3 auf:4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEStromsteuer senken für eine konsequent so-zial-ökologische Energiewende– Drucksache 17/12840 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, RalphLenkert, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEEnergiewende sozial gestalten – BezahlbareStrompreise gewährleisten– Drucksachen 17/10800, 17/11704 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg Nüßleinc) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu dem Antrag derAbgeordneten Caren Lay, Dr. Barbara Höll,Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEEnergiewende sozial gestalten – Stromsperrengesetzlich untersagen– Drucksachen 17/11655, 17/12767 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas BareißZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Entschließungsan-trag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,Rolf Hempelmann, Hubertus Heil , weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zuder Beratung der Antwort der Bundesregierungauf die Große Anfrage der Abgeordneten RitaSchwarzelühr-Sutter, Rolf Hempelmann, DirkBecker, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie Energiewende – Kosten für Verbrauche-rinnen, Verbraucher und Unternehmen– Drucksachen 17/10366, 17/12246, 17/12538,17/12874 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
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28790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. – Wi-derspruch höre ich nicht. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der letzten Woche konnten wir der Presseentnehmen, dass der Stromkonzern Eon im vergangenenJahr einen Gewinn von 2,6 Milliarden Euro eingefahrenhat. Das ist zweifellos gut für Eon-Chef JohannesTeyssen. Er wird nicht am Hungertuch nagen müssen;denn er gönnte sich eine Gehaltserhöhung, die sichgewaschen hat. Der Arme musste bislang mit einemJahresgehalt von 4,5 Millionen Euro auskommen.
Jetzt soll sein Einkommen auf 5,7 Millionen Euro jähr-lich steigen.
Immerhin wird er sich zukünftig keine Sorgen darübermachen müssen, wie er die Stromrechnung bezahlt.Ganz anders sieht das für die Beschäftigten aus, die Eonzuvor entlassen hat. Ganz anders sieht es auch für dieHunderttausenden Menschen in diesem Land aus, denender Strom im vergangenen Jahr abgestellt wurde. Dasdarf nicht sein. Das ist eine soziale Schieflage in derEnergiewende, die wir als Linke so nicht hinnehmenkönnen.
Dann stellt sich Eon-Chef Teyssen auch noch hin undfürchtet sich öffentlich vor schwierigen Zeiten für seinUnternehmen. Da kann ich nur sagen: Wenn er auf seineGehaltserhöhung verzichten würde, dann hätte er schonso manchen Arbeitsplatz in seinem Unternehmen sichernkönnen.
Nehmen wir als Beispiel Berlin. Hier lebt jederSechste von Hartz IV. Die steigenden Strompreise wer-den für diese Menschen, aber auch für Geringverdienerzu einem massiven Problem. Die steigenden Kosten fürGas und Heizung kommen hinzu. Nach Angaben derVerbraucherverbände steigt die Zahl derjenigen, die Be-ratung wegen explodierender Strom- und Gaspreisebrauchen, enorm an. Deswegen sagen wir als Linke: Esmuss endlich etwas passieren, um den rasanten Anstiegder Energiekosten, der Strom-, der Heiz- und der Gas-kosten, zu reduzieren.
Und siehe da! Selbst die Bundesregierung hat diesesProblem erkannt und will eine Strompreisbremse nach-liefern. Heute Nachmittag findet der sogenannte Ener-giegipfel im Kanzleramt statt. Ich kann nur sagen: Die-sen Alarmismus hätten Sie sich sparen können, wenn Siehier in diesem Hohen Hause vor zweieinhalb Jahren un-seren linken Vorschlägen für eine effektive Strompreis-bremse zugestimmt hätten. Sie haben sie abgelehnt. Siehaben jedes Jahr abgelehnt, wenn wir ein Strompreis-moratorium gefordert haben. Das muss an dieser Stellegesagt werden.
Die Vorschläge, die Union und FDP bisher vorgelegthaben, sind nichts anderes als ein weiterer Frontalangriffgegen die erneuerbaren Energien. Sie sagen Strompreis-bremse, meinen aber Erneuerbare-Energien-Bremse.Das muss an dieser Stelle ganz deutlich gesagt werden.
Das ist der Unterschied zwischen unserer und IhrerEnergiepolitik: Wir wollen verhindern, dass sich dieChefs der vier großen Energiekonzerne weiterhin aufKosten der Verbraucherinnen und Verbraucher die Ta-schen vollstopfen. Sie betreiben Propaganda gegen dieSolar- und Windkraftbranche.Es ist doch paradox: Ausgerechnet diese schwarz-gelbe Koalition, die sich ansonsten so gerne wirtschafts-nah gibt, lässt die Solarbranche einfach den Bach runter-gehen. Allein in meinem Wahlkreis sind in den letztenMonaten drei Solarfirmen pleitegegangen. Viele Stadt-werke hatten den Bau von Solaranlagen geplant undwollten neue Solarfelder erschließen. Aber durch das Hüund Hott in Ihrer Förderpolitik sind diese Vorhaben ein-fach nicht mehr realisiert worden. Ich finde, so kann manmit einer Zukunftsbranche nicht umgehen. Das kanndoch nicht wahr sein.
Während Sie der Solar- und Windkraftbranche einenFrontalangriff bereiten, sorgen Sie gleichzeitig dafür,dass ausgerechnet diejenigen Industriebetriebe, die vielStrom verbrauchen, auch noch von der Öffentlichkeitunterstützt werden, weil wir als Verbraucher oder alsSteuerzahler deren Stromrechnung mit bezahlen. Das istdoch völlig absurd.
Diese Industrierabatte sind massiv angestiegen. Vor zweiJahren lagen sie noch bei 8 Milliarden Euro. Im letztenJahr waren es schon 10 Milliarden Euro. In diesem Jahrwerden es schätzungsweise etwa 16 Milliarden Eurosein, Milliarden, die wir als Steuerzahler und Verbrau-cher für die Industrie mit bezahlen. Das kann so nichtweitergehen.
Es wäre so einfach, die Strompreise zu senken. Diedeutliche Reduzierung der Industrierabatte ist das eine.Ich kann wirklich nicht erkennen, warum Flughäfen, Ge-flügelzüchter und Saunaanlagen von diesen Stromkostenbefreit werden sollen, und das auf Kosten der Allge-meinheit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28791
Caren Lay
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Ein zweites Beispiel. Sie haben 2007 ohne Not dieStrompreisaufsicht der Länder abgeschafft. Seitdem stei-gen die Preise noch mehr. Deswegen sagen wir alsLinke: Wir wollen eine effektive staatliche Preisaufsicht,die die Preise auch wirklich genehmigt und die eingrei-fen kann. Das ist etwas ganz anderes als die Markttrans-parenzstelle, die nur beschreiben soll und über die wirgleich noch diskutieren.
Drittens sagen wir: Die Energiewende ist notwendig,aber sie darf nicht auf Kosten der Schwachen in dieserGesellschaft gehen. Deshalb wollen wir die Stromsteuer– besser bekannt als Ökosteuer – senken. Wir als Linkehaben schon immer kritisiert, dass sie völlig unsozial ist.Warum soll denn eine vierköpfige Familie mehr Strom-steuer bezahlen als ein Singlehaushalt, der vielleicht bes-serverdienend ist? Ich frage mich sowieso, was an dieserStromsteuer eigentlich öko ist. Dahinter steht doch derGedanke: Wir machen den Strom teuer, und dann wirdnicht so viel verbraucht. – Das ist großer Unsinn und un-sozial noch dazu.
Als wir als Linke die Senkung der Stromsteuer vorein paar Monaten vorgeschlagen haben, haben viele an-dere gesagt: Schon wieder ein absurder linker Vorschlag. –Ich freue mich, dass diese Forderung – so kann ich es derPresse entnehmen – jetzt wenigstens auch von der SPDmit unterstützt wird. Ich freue mich immer, wenn guteIdeen der Linken übernommen werden.
Ich hoffe, dass auch die Grünen jetzt über ihren Schattenspringen und diese alten Zöpfe tatsächlich abschneiden.Ein allerletzter Punkt. Wir als Linke wollen die un-säglichen Stromsperren endlich verbieten. Stellen Siesich das doch einmal vor bei diesem Wetter, bei 20 Zen-timetern Schnee: Das Licht geht nicht an, Sie könnensich keinen Tee und keine warme Suppe kochen. Sokann es einfach nicht weitergehen. Das ist einfach un-menschlich. Deswegen sagen wir: Folgen wir doch bittedem Beispiel von Frankreich, folgen wir dem Beispielvon Belgien, und lassen Sie uns diese Stromsperren ver-bieten, wenigstens im Winter.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Bareiß für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Liebe Frau Lay, Ihr Redebeitrag hat wieder ein-mal bewiesen, dass die Linke immer noch nicht in dersozialen Marktwirtschaft angekommen ist.
Er zeigt aber noch eines, nämlich dass die Linke amProblem vorbeiredet und nur eine Verteilungsdebatteführt, aber nicht das wirkliche Problem adressiert. Siemüssen sich doch die Struktur der Strompreise an-schauen. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass dieEEG-Umlage massiv gestiegen ist. Im letzten Jahr hateine vierköpfige Familie eine EEG-Umlage in Höhe von160 Euro gezahlt.
In diesem Jahr zahlt eine vierköpfige Familie eine EEG-Umlage in Höhe von 240 Euro. Wenn wir nicht aufpas-sen, dann werden wir im nächsten Jahr eine Erhöhungum weitere 75 Euro erleben und bei 315 Euro liegen.
– Wir sind dabei, zu reagieren. – Deshalb muss man dieStrukturen des EEG anpacken, mit Instrumenten desMarkts und des Wettbewerbs. Dann werden wir auch dieStrompreise wieder in den Griff bekommen. Wirbrauchen aber keine Verteilungsdebatten wie die, die Sieangestoßen haben.Die Senkung der Stromsteuer, die anscheinend jetzteinhellig von Rot-Grün gefordert wird,
führt zu einer Ersparnis von nur 22 Euro für eine vier-köpfige Familie. Die Strompreiserhöhung durch dieEEG-Umlage droht aber im Herbst. Diese wird 75 Eurobetragen. Die Senkung der Stromsteuer wird also durchdiese Erhöhung der Umlage komplett aufgefressen. Des-halb ist auch das keine Lösung. Wir brauchen einegrundsätzliche Lösung. Deshalb liegt jetzt die Strom-preisbremse auf dem Tisch.
Darüber wird heute debattiert. Deshalb werden wirgrundsätzliche Fragen aufwerfen,
zu denen auch Sie einmal Stellung beziehen müssen. Wirstellen die grundsätzlichen Fragen, aber Sie präsentierennur unterschiedliche Positionen.
Wenn man an das EEG herangeht und die Frage stellt,wie das EEG zukünftig aussehen soll, dann antwortete
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28792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Thomas Bareiß
(C)
(B)
Sigmar Gabriel: Das EEG muss grundsätzlich reformiertwerden. – So hat er es vor kurzem getan. Aber HerrKelber aus Ihrer Fraktion hat vor zwei Wochen gesagt,das EEG sei genau richtig und dürfe nicht reformiertwerden; es müsse so bleiben, wie es ist. Das ist keineLösung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Kollege Bareiß, darf die Kollegin Wolff Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben gesagt, Sie müssen
die Strompreisbremse einführen, weil Sie das Problem
grundlegend lösen wollen. Sind Sie mit mir gemeinsam
der Auffassung, dass wir die großen Energieversorger
auffordern sollten, die billigen Strompreise am Spot-
Markt – sie sind so billig wie nie zuvor – erst mal an die
Verbraucherinnen und Verbraucher weiterzugeben?
Verehrte Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie das wissen:Über den Spot-Markt werden circa 20 bis 30 Prozent desStromhandels abgewickelt. Es gibt noch viele andereMärkte, etwa die Futures-Märkte, an denen die Zahlenwesentlich anders sind. Deshalb sind die Einzelzahlen,die hier herausgepickt werden, für das Gesamtbild über-haupt nicht maßgebend. Maßgeblich ist in der Tat, dassder Börsenpreis leicht nach unten geht – nämlich um1 Cent pro Kilowattstunde –, aber die EEG-Umlage al-lein im letzten Jahr um 1,7 Cent angestiegen ist. Und imnächsten Jahr wird sie wahrscheinlich wieder um1,7 Cent ansteigen.
Das heißt, diese kleine Reduktion beim Börsenpreis, diees im Schnitt gab, wird innerhalb von einem Jahr kom-plett aufgefressen. Diese Situation wird sich in dennächsten Jahren sogar noch dramatisch verschlimmern.Deshalb kann das auch keine Lösung sein.
Wir müssen – auch da sind sich die Experten jaeinig – grundsätzlich an das EEG herangehen. Die Idee,die EEG-Umlage für die nächsten zwei Jahre einzufrie-ren, um aufzuzeigen, wo wir in den nächsten Jahreninvestieren können und wollen, in welchen BereichenInvestitionen am wirtschaftlichsten sind, bietet den rich-tigen Ansatz dafür, in den nächsten Jahren wirtschaftlichund marktkonform zu agieren.
Ein weiterer Punkt, der zeigt, wie unterschiedlich dieOpposition in die Debatte geht, ist die Befreiung der In-dustrie von der EEG-Umlage, die, wie wir gerade gehörthaben, angepackt werden soll, die aber laut Frau Lay inmanchen Bereichen komplett gestrichen werden soll.Frau Kraft macht sich zur Vorkämpferin für die Indus-trie.
Die SPD-Fraktion hier lamentiert etwas herum, und dieGrünen wollen am liebsten mit der Axt an die Befreiungder Industrie von der EEG-Umlage heran. Wir haben inden letzten zwei Jahren den industriellen Mittelstand,der im Wettbewerb steht,
massiv von der EEG-Umlage befreit und damit Arbeits-plätze gesichert und neue Arbeitsplätze möglich ge-macht.
Das ist eine Industriepolitik, die wettbewerbsfreundlichist und dafür sorgt, dass die Energiewende nicht zum Ar-beitsplatzkiller wird, sondern zum Arbeitsplatzschaffer.
Ich möchte noch an einem weiteren Beispiel zeigen,wie unterschiedlich die Opposition hier in die Debattegeht – das hat mich irritiert –:
Gestern hatten wir eine große Debatte im Wirtschafts-ausschuss, in der sich gezeigt hat, dass die SPD anschei-nend die Stromsteuersenkung will. Die Grünen habengestern im Wirtschaftsausschuss noch gegen die Strom-steuersenkung gestimmt.
Heute muss ich im Tagesspiegel lesen: SPD und Grünewollen die Stromsteuersenkung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28793
Thomas Bareiß
(C)
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesemHin und Her werden wir die Energiewende nicht schaf-fen.
Wir brauchen endlich auch von Ihrer Seite Vorschläge,die umsetzbar sind und uns ein klares Bild liefern.
Wir haben im Gegensatz zu Ihnen in den letzten dreiJahren ganz entscheidende Weichen im EEG gestellt.Wir haben das EEG weiterentwickelt. Wir haben es in-telligenter und vor allem auch bezahlbar gemacht.
Gegen Ihren Widerstand haben wir das EEG im Bereichder Solarenergie reformiert. Wir haben im Bereich derSolarenergie eine Reduktion der EEG-Vergütung um70 Prozent erreicht – von 43 auf 16 Cent. Damit entlas-ten wir die Verbraucher in den kommenden 20 Jahrenum 2 Milliarden Euro. Das ist ein großer Erfolg.
Wir haben einen „atmenden Deckel“ eingeführt, derdie Vergütung intelligent nach Höhe des Zubaus anpasstund sie entsprechend reduziert, wenn der Zubau zu hochwird. Diese Maßnahmen haben Sie immer bekämpft.
Sie haben immer den Untergang der Solarbranche gese-hen.
Das Gegenteil war der Fall. In den letzten drei Jahrengab es Rekordwerte bei den Zubauraten, die es in kei-nem anderen Land auf dieser Welt gibt.Wir haben Effizienz und Einsparungen ermöglicht.Wir haben – Frau Lay, hören Sie zu! – für einkommens-schwache Haushalte ganz konkret Stromsparmaßnah-men durchgeführt. Wir haben Beratungen gemacht.80 000 Haushalte haben davon profiziert; 86 Euro imSchnitt hat jeder dieser Haushalte pro Jahr gespart. Dassind ganz konkrete Maßnahmen, bei denen wir den Men-schen als mündigen Bürger ansehen, der in die Lage ver-setzt werden muss, seine Stromrechnung selbst zu be-zahlen und sich stromsparend zu verhalten.Wir haben die Energieeffizienz im Bereich des Ge-bäudebestandes wie keine andere Regierung vor uns vor-angebracht.
1,8 Milliarden Euro haben wir über das CO2-Gebäude-sanierungsprogramm in den Gebäudebestand investiert,und wir haben dafür gesorgt, dass die Gebäudesanie-rungsrate Stück für Stück nach oben geht. Die Energie-effizienzwerte erreichen auch hier ein Rekordniveau.
Wir haben mehr Transparenz für die Verbraucher ge-schaffen. Verbraucher können unter so vielen Stromlie-feranten wie noch nie auswählen.
Allein dieses Jahr kann jeder im Schnitt unter 50 Strom-anbietern auswählen. Das sind 25 Prozent mehr als nochvor zehn Jahren.
Wir haben die Bedingungen für einen Wechsel wesent-lich erleichtert. Wir haben die Fristen verkürzt. Wennheute ein Verbraucher den Stromanbieter wechselt undzum günstigsten Anbieter geht, kann er im Schnitt200 Euro sparen. Das sind Zeichen dafür, dass Marktund Wettbewerb funktionieren. Dies sollte beispielhaftfür andere Gebiete sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchtenoch einen anderen Bereich ansprechen, der mir sehrwichtig ist, nämlich den Industriestandort Deutschland.Mit Blick darauf müssen wir dafür sorgen, dass wir beider Energiewende keine Arbeitsplätze verlieren, sonderngewinnen. Deutschland hat einen Industrieanteil von26 Prozent, Großbritannien von 13 Prozent, Frankreichvon 12 Prozent. Das zeigt, dass wir ein ganz besonderesAugenmerk auf unsere Industrie richten müssen.Die Industrie hat heute schon einen großen Anteil amEEG-Bereich: 6 Milliarden Euro zahlt die deutsche In-dustrie. 5,7 Millionen Menschen haben in diesem Sektoreinen Arbeitsplatz. Deshalb ist unser Anliegen, dafür zusorgen, dass gerade diejenige Industrie, die im Wettbe-werb steht, nicht über Gebühr belastet wird. Auch dieseBalance werden wir mit der Strompreisbremse entspre-chend hinbekommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,das Wichtigste wird sein, dass wir uns, aufbauend aufder Strompreisbremse, über die langfristige Ausgestal-tung des EEG unterhalten. Die ersten 20 Prozent warenmit dem EEG sicherlich machbar. Es war das richtige In-strument, den Markteintritt zu gestalten. Um aber dienächsten 20 Prozent zu erreichen, brauchen wir eineneue Rahmensetzung.
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28794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Thomas Bareiß
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Da werden vor allen Dingen Sie gefordert sein; denn Siemüssen dann die Anzahl der heiligen Kühe, die Sie über-all haben – ich verweise auf die Subventionsmaschine-rie, die Sie losgetreten haben –, auf ein gesundes Maß re-duzieren.
Sie müssen Wettbewerb und Markt im Bereich der er-neuerbaren Energien zulassen. Das können die erneuer-baren Energien auch leisten, und wir sollten es ihnen zu-trauen.
Wir brauchen eine Synchronisation von Netzausbauund erneuerbaren Energien. Wir brauchen die Verknüp-fung von konventionellen Kraftwerkparks mit den er-neuerbaren Energien.
Wir brauchen mehr Eigenverantwortung, gerade im Be-reich der erneuerbaren Energien, Eigenverantwortungfür mehr Markt und Wettbewerb.
Wir haben konkrete Vorschläge.
Die Frage ist, inwieweit Sie dabei in den nächsten Jahrenmitmachen.Wir brauchen mehr Europa; auch das ist ein wichtigerPunkt. Das wird in den nächsten Jahren eine ganz, ganzgroße Rolle spielen. Da wird sich zeigen, inwiefern Siebei der Energiewende mitmachen und dafür sorgen, dasssie nicht nur eine Subventionsmaschine wird, sondernauch ein Erfolgsfaktor für Deutschland und damit lang-fristig Arbeitsplätze sichert.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Hubertus Heil.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ohne Zweifel ist die Energiewende eine der größtenHerausforderungen, vor denen unser Land, vor denenunsere Wirtschaft, vor denen unsere Gesellschaft steht.Aber, Herr Bareiß, meine Damen und Herren, dafürmuss man nicht solche Reden halten. Wenn man in derRegierungsverantwortung ist – noch sind Sie ja Teil derRegierungsfraktionen –, dann darf man nicht solche Re-den halten, sondern man muss Gesetzentwürfe vorlegen.Dazu sind Sie nicht in der Lage.
– Nein. Zu den Themen, die hier angesprochen wurden,haben Sie keinen einzigen Vorschlag gemacht. Wir redenüber Dinge – ich komme gleich darauf zurück –, dieheute im Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin undden Ministerpräsidentinnen und den Ministerpräsidenteneine Rolle spielen.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ha-ben den Menschen nach Fukushima eine saubere, einesichere und eine bezahlbare Energiewende versprochen,und Sie sind es, die diese drei Versprechen im Momentbrechen. Aus der Verantwortung werden wir Sie nichtentlassen.
Insofern muss man in dieser Debatte eines klarma-chen: Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land ma-chen sich massiv Sorgen über steigende Energiepreiseund auch über steigende Strompreise, die ein Teil derEnergiekosten sind, die auf sie zukommen. In dem Be-fund sind wir uns möglicherweise einig.Weil diese Regierung diese Sorge drei, vier Jahre langignoriert hat, weil sie das Gefühl hat, dass ihr das bei denWahlen auf die Füße fallen könnte, kommt HerrAltmaier kurz vor Toresschluss mit der Wundertüte„Strompreisbremse“ um die Ecke. Herr Bundesumwelt-minister Altmaier,
jemand, der sich mit dieser Materie auskennt – das willich Ihnen mal ein bisschen unterstellen –, weiß, dass das,was Sie vorgeschlagen haben, das Eingeständnis dieserKoalition ist, dass sie in dieser Legislaturperiode nichtmehr in der Lage ist, die grundlegenden Fragen derEnergiewende anzugehen. Was notwendig ist für denNetzausbau – eine neue Ordnung des Strommarkts, einneues Strommarktdesign –, was notwendig ist, um dieEnergiewende besser zu managen, all das findet sichnicht in Ihren Vorschlägen. Deshalb ist die Strompreis-bremse im Wesentlichen erst einmal Überschriftenpoli-tik, nichts anderes.Wenn man dann unter diese Überschriften guckt,kommt man zu dem Schluss: Es ist zweifelhaft, ob das,was Sie vorschlagen, die Energiekosten bremst; aber esist sicher, dass das, was Sie vorschlagen, die Energie-wende bremst, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28795
Hubertus Heil
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Sie wissen ganz genau, dass Sie Vorschläge gemacht ha-ben, die nicht nur im Bereich der erneuerbaren Energien,sondern in der gesamten deutschen Wirtschaft zu Kopf-schütteln führen. Wie man glauben kann, Investorenwürden dadurch nicht verunsichert, wenn man in denAltbestand eingreift, und das Vertrauen in den Industrie-standort Deutschland würde nicht unterminiert, das kannmir keiner vernünftig erklären, und Sie wissen auch ganzgenau, dass dieser Unsinn nicht zu machen ist.
Reden wir doch einmal über das, was heute miteinan-der möglich ist! Wenn diese Koalition einräumen muss– ich beklage das –, dass wir dem Grunde nach die we-sentlichen Entscheidungen dafür, dass die Energiewendewieder vom Kopf auf die Füße kommt, leider erst imHerbst dieses Jahres, nach der Bundestagswahl, angehenkönnen, dann sind wir durchaus bereit, über kurzfristigeMaßnahmen zu reden. Wenn ich von „wir“ spreche,dann meine ich die rot-grün geführten Bundesländer, So-zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam.Wir haben Ihnen vorgeschlagen, dass wir über drei Be-reiche reden:Wir sollten erstens über die Frage reden: Was kannkurzfristig innerhalb des EEG passieren? Da gibt esdurchaus kleinere Maßnahmen, über die man redenkann, die nicht die gesamte Branche verunsichern, dieaber die Möglichkeit schaffen, den Anstieg der EEG-Umlage zu bremsen. Wir können über die Marktprämiereden. Wir können über bestimmte Boni reden, die Sie invielen Bereichen eingeführt haben.Wir sollten zweitens auch über die Frage reden: Wiegehen wir in Deutschland mit energieintensiven Betrie-ben um? Dazu habe ich heute in der Zeitung gelesen,dass Herr Ramsauer, der gerade den Saal verlassen hat,einen offenen Brief an den Bundesminister Altmaierschreibt. Was ist denn das für ein Vorgang, HerrAltmaier? Rösler, Altmaier und Ramsauer, die drei vonder Zankstelle! „Ressortabstimmung“ ist ein Fremdwortin dieser Regierung. Das ist ein Teil des Problems.
Ich habe also in der Zeitung gelesen, dass HerrRamsauer beklagt, dass der Altmaier der DeutschenBahn AG Hunderte von Millionen entziehen will. Er willin diesem Bereich tatsächlich auch die Bahn belasten.Was ist eigentlich die Haltung der Bundeskanzlerin indieser Frage? Gibt es überhaupt einen Standpunkt dieserRegierung? Das würde uns als Opposition interessieren,und die Öffentlichkeit auch.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, dass wir im Bereichder energieintensiven Unternehmen nicht um einzelneBranchen feilschen, sondern dass wir uns auf die Syste-matik konzentrieren. Die Systematik ist, dass energiein-tensive Unternehmen, die Effizienzmaßnahmen ergriffenhaben und die im internationalen Wettbewerb stehen,weiterhin zu Recht befreit sind, damit wir Arbeitsplätzeund Wertschöpfung in Deutschland halten, aber dass wirMaßnahmen ergreifen müssen, damit Trittbrettfahrer, dienicht im internationalen Wettbewerb stehen, da raus-kommen. Lassen Sie uns über die Systematik reden unddieses unwürdige Gefeilsche zwischen Bundesministernbeenden, meine Damen und Herren!
Wir haben Ihnen drittens vorgeschlagen, dass wir,wenn im Bereich der erneuerbaren Energien etwas getanwerden kann und muss, wenn im Bereich der energiein-tensiven Betriebe etwas getan werden muss, auch überuns, über den Staat, reden. Tatsache ist, dass Bundes-finanzminister Wolfgang Schäuble über die gestiegeneEEG-Umlage ungeplant pro Jahr 1 Milliarde Euro mehran Mehrwertsteuer einnimmt. Deshalb ist unser Vor-schlag, im Bereich der Stromsteuer etwas zu tun, nurfair. Wenn alle einen Beitrag leisten sollen, dann sollteauch der Bundeshaushalt einen solchen Beitrag leisten.Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der erneuerba-ren Energien in Deutschland mittlerweile – Gott seiDank – 25 Prozent beträgt, ist es vernünftig, entspre-chend die Stromsteuer in Deutschland zu senken.Warum, meine Damen und Herren von der FDP, höreich eigentlich Einzelstimmen, darunter Ihren Spitzen-kandidaten Brüderle, die das gut finden, Herr Breil?
Die Sächsische Staatsregierung findet das gut. Ich höreSympathien aus Bayern an dieser Stelle. Aber dieBlockierer sitzen auf der Regierungsbank. Die Bundes-kanzlerin ist heute nicht einmal bereit und in der Lage,über das Thema Stromsteuer zu sprechen. Das ist einTeil des Problems. Sie sind die Blockadekoalition andiesem Punkt.
Wir wollen etwas tun, um die Verbraucherinnen und Ver-braucher kurzfristig zu entlasten.Herr Altmaier, der heutige Artikel im Tagesspiegelmit der Überschrift „Stromabwärts“ beschreibt, was imMoment passiert. Sie sind durchaus ein eloquenter Kerl.Als Parlamentarischer Geschäftsführer haben wir Siedurchaus durch Ihre humorige Art schätzen gelernt.Aber dass Sie ein richtiger Trickser sind, haben wir inden letzten Monaten erlebt.
Man muss neidlos anerkennen, dass Ihnen mit demThema Strompreisbremse ein medialer Coup gelungenist. Einige Tage später haben Sie mit der Aussage, dassdie Energiewende 1 Billion Euro kosten kann, einenKlops gelandet. Diese Zahlen haben Sie heute nicht ver-nünftig belegt. Dies ist keine seriöse Debatte. Wir be-kommen die wahren Probleme nicht in den Griff, wennwir die Menschen mit solchen Fantasiezahlen verunsi-
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28796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Hubertus Heil
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chern. Wir müssen Klarheit bekommen, was die Zahlenbetrifft. Und wir müssen das tun, was wir tun können.Herr Altmaier, für Sie gilt deshalb der alte Satz vonAbraham Lincoln – ich darf zitieren –:Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täu-schen, und das ganze Volk einen Teil der Zeit, aberman kann nicht das ganze Volk die ganze Zeit täu-schen!Das, meine Damen und Herren, wird heute offensicht-lich werden. Wir sind bereit für kurzfristige Maßnah-men. Wir wollen aber vor allen Dingen dafür sorgen,dass die Energiewende kein wirtschaftliches und sozia-les Risiko ist, sondern ein wirtschaftlicher und sozialerErfolg für Deutschland. Lassen Sie uns in diesem Hausdarüber streiten und die Menschen mit diesen Ablen-kungsdebatten nicht weiter verunsichern. Wir sind be-reit, Verantwortung zu übernehmen. Die SPD-geführtenBundesländer haben Vorschläge gemacht. Sie wollen imWesentlichen Überschriften produzieren. Das ist der Un-terschied und das Problem in Deutschland. Energie-wende geht anders. Der Unterschied zwischen Ihnen,zwischen Herrn Altmaier und Herrn Rösler, und uns ist:Wir können Energiewende und Sie nicht.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Klaus Breil.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Frau Lay, kurz zu Ihrer Bemerkung über die Ge-
winne von Eon: Wenn Sie diese im Verhältnis zum Um-
satz des Konzerns sehen, dann kommen auch Sie zu der
Frage, ob sie genug verdienen, um Erhaltungsinvestitio-
nen tätigen zu können. Das müssen Sie sich einmal ge-
nau ansehen.
Meine Damen und Herren, dieser Debatte liegen vier
rote Anträge zugrunde, wie sie idealistischer nicht sein
könnten. In dreien will die Linke einerseits für die Bei-
behaltung des EEG in seiner jetzigen Form eintreten,
also für einen tendenziell höheren Strompreis, und ande-
rerseits die Stromsperren verbieten. Sie möchte uns
weismachen, sie hätte Ahnung von Energiepolitik. Gar
nichts haben Sie!
Wer soll das alles bezahlen? Die FDP hat sich als
erste und einzige Partei mit dem Thema „Bezahlbarkeit
von Strom“ beschäftigt.
Meine Damen und Herren, wir haben in der Sommer-
pause eine Arbeitsgruppe eingesetzt,
an der ich ebenso wie meine Kollegen Michael Kauch
und Horst Meierhofer intensiv teilgenommen habe. Ge-
meinsam mit weiteren Kolleginnen und Kollegen aus
den Ländern haben wir ein dreistufiges Verfahren ausge-
arbeitet. Mit diesem Verfahren wollen wir die Energie-
wende, das Energiekonzept dieser Bundesregierung,
auch bei bezahlbaren Strompreisen zum Erfolg führen.
Herr Kollege Breil, die Frau Kollegin Bulling-
Schröter möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Danke schön, Kollege Breil. – Sie haben jetzt behaup-
tet, dass die Linke dafür ist, dass der Strompreis steigt.
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass nur ein Drittel der
Strompreiserhöhung auf die EEG-Umlage zurückzufüh-
ren ist? Zweitens: Ist Ihnen bekannt, dass die energiein-
tensiven Unternehmen zurzeit mit 16 Milliarden Euro
subventioniert werden? Die FDP ist eine Partei, die nicht
so sehr für die soziale Marktwirtschaft eintritt, sondern
für den Wettbewerb.
Die 16 Milliarden Euro sind schon ein bisschen viel.
Also behaupten Sie nicht gleich wieder: „Die Linke will
Arbeitsplätze vernichten“, sondern erklären bitte, warum
Otto Normalverbraucher und die kleinen Unternehmen
– die FDP ist sehr für sie – keine Ausnahmen bekom-
men.
Danke für die Frage, Frau Kollegin Bulling-Schröter. –Auf Ihre erste Frage kann ich Ihnen antworten, dass ichdie Struktur der Strompreise in Deutschland und übri-gens auch ihr Zustandekommen sehr genau kenne. AufIhre zweite Frage kann ich Ihnen sagen: Ich kommegleich darauf zu sprechen. Hören Sie einfach einmal zu!Dann gewinnen Sie vielleicht neue Erkenntnisse.
Herr Kollege Heil, Sie werden jetzt eine weitereStimme unter vielen vernehmen; Sie haben ja gerade dieStimme unseres Fraktionsvorsitzenden, Rainer Brüderle,angesprochen. Unser Vorschlag zur kurzfristigen Entlas-tung der privaten Stromverbraucher war es, die Strom-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28797
Klaus Breil
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steuer in Höhe der zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmeninfolge der Anhebung der EEG-Umlage zu reduzieren.
Das entspräche in etwa einem Windfall Profit in Höhevon 500 Millionen Euro. Darauf könnte der Staat zu-gunsten der Kaufkraft der Bürger verzichten.
Das betrifft Einnahmen, die zuvor in keinem Haushaltbudgetiert gewesen sind.
Ein ähnliches Volumen würde sich bei der Anwendungdes verminderten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozentanstelle von 19 Prozent auf die gesamte EEG-Umlageergeben.
Ich will nur sagen, dass es mehrere Optionen gibt.In einem weiteren Schritt wollen wir dann mehr Anla-gen zur Gewinnung erneuerbarer Energien in die Direkt-vermarktung überführen. Letzten Endes wollen wir denEnergieversorgern und Stadtwerken einen von Jahr zuJahr steigenden Anteil aus erneuerbaren Energien er-zeugten Stroms in ihrem Portfolio vorgeben. Das ent-spricht dem Mengenmodell.
Herr Kollege Breil, wollen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Heil zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Heil.
Lieber Kollege Breil, wenn doch eine große Mehrheit
in diesem Hause von ganz links bis zur FDP – wie die
Position der Union dazu ist, weiß ich jetzt nicht – der Mei-
nung ist, dass wir die Stromsteuer senken könnten, wa-
rum machen wir es dann nicht? Ist die Position, die Sie
hier beschreiben, wirklich die Position der Regierung,
oder ist das Ihre Privatmeinung? Meine letzte Frage: Ken-
nen Sie den schönen Satz von Erich Kästner: „Es gibt
nichts Gutes, außer: Man tut es.“?
Ich fange einmal mit der letzten Frage an: Ja, den
kenne ich.
Im Übrigen vertrete ich hier die Position der FDP.
Sie haben meinen Fraktionsvorsitzenden, Herrn
Brüderle, angesprochen. Außerdem ist das von Anfang an
auch meine Meinung gewesen; im Juli des vergangenen
Jahres habe ich das möglicherweise als Erster gefordert.
Ich fordere das auch weiterhin, und dieser Vorschlag ist
auch Teil der Erörterungen, die heute Nachmittag stattfin-
den werden.
Mal sehen, was dabei herauskommt.
Herr Kollege Breil, der Kollege Fell würde Ihnen
gerne noch eine Zwischenfrage stellen.
Ich wollte meine Ausführungen jetzt eigentlich fort-setzen; denn sonst komme ich aus dem Rhythmus.Jener Vorschlag garantiert, dass mit dem Geld derVerbraucher nur die Stromerzeugungsarten ausgebautwerden, die auch kosteneffizient Strom liefern. Vielenvon Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, muss immer wieder gesagt werden: Wir reden hierüber die Verwendung von Geld, das nicht uns, sondernden Stromverbrauchern gehört.Bis auf den letzten Schritt, bei dem wir bereits sehrvisionär an die Regierungszeit der christlich-liberalenKoalition nach der Bundestagswahl gedacht haben,
waren unsere Vorschläge nicht so weit von denen ent-fernt, die Bundesminister Peter Altmaier Anfang desJahres vorgestellt hat. Daher war es für mich auch nichtverwunderlich, wie schnell die beiden Minister PeterAltmaier und Philipp Rösler sich auf eine gemeinsameLösung einigen konnten. Mit dem Ergebnis konnte ich– abgesehen von den zuletzt besprochenen Eingriffen inbestehende Verträge – leben. Mit Eingriffen in beste-hende Verträge kann ich natürlich nicht leben.Jeder soll seinen Beitrag zur Energiewende leisten,aber auch dazu, dass die Kosten im Rahmen bleiben. Wirsollten davon niemanden ausnehmen – weder die kom-plette Industrie noch die Branche der erneuerbaren Ener-gien. Deshalb ist in den Vorschlägen auch vorgesehen,einige Branchen aus der besonderen Ausgleichsregelungherauszunehmen; Sie wissen das.Dabei müssen wir beachten, dass die Strompreise beiuns im internationalen Vergleich der Industriestaaten ex-
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Klaus Breil
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trem hoch sind. Unternehmen, die im internationalenWettbewerb stehen, fällen ständig und teils subtil Stand-ortentscheidungen. Laut Angaben der statistischen Bei-hefte zu den Monatsberichten der Deutschen Bundes-bank sind die Umsätze der deutschen Industrie an ihrenStandorten im Ausland ebenso hoch wie im Inland. Sta-tistisch gesehen, geht es also bei jeder Standortentschei-dung eines Unternehmens um die Frage: Machen wir dasim Inland, oder machen wir das im Ausland?EU-Kommissar Günther Oettinger hat recht, wenn erimmer wieder vor der schleichenden Deindustrialisie-rung warnt.
Es lässt sich auch durch das geflissentliche Ignorierender Opposition nicht kaputtrechnen, dass die Industrie
einen bedeutenden Beitrag zu unserem Bruttoinlands-produkt leistet und dass dieser Beitrag die Basis für un-seren Wohlstand, für den Erhalt unseres Steueraufkom-mens und des Sozialversicherungssystems ist.Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mitder Strompreisbremse ist des Weiteren vorgesehen, dieVergütung für Neuanlagen bestimmter Energieträger an-zupassen.Bis gestern sah ich das Unternehmen „Strompreis-bremse“ noch auf einem guten Weg.
Allerdings war ich sehr überrascht, als ich lesen musste,dass einige Mitglieder der Opposition, ohne dass sieüberhaupt Teil der Bund-Länder-Arbeitsgruppe waren,die Verhandlungen zur Strompreisbremse für gescheiterterklärt haben. Frau Höhn, Ihre Erklärung dazu kann ichnur als höhnisch auffassen.
Ich appelliere daher an die Ministerpräsidenten derA-Länder, die heute mit der Kanzlerin am Verhandlungs-tisch sitzen: Lassen Sie die Interessen der Verbrauchernicht außer Acht,
und entlassen Sie die erneuerbaren Energien nicht ausder Pflicht, ihren Beitrag zur Bezahlbarkeit der Energie-wende zu leisten.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Josef Fell.
Herr Kollege Breil, Sie haben meine Zwischenfragenicht zugelassen. Deswegen bedanke ich mich beim Prä-sidenten für die Zulassung dieser Kurzintervention.Herr Breil, Sie haben von den drei Punkten, die dieFDP vorschlägt, um die Energiepreise in den Griff zu be-kommen, vor allem einen genannt: Sie nennen es „Men-genmodell“. Sie haben damit einen Vorschlag aufgegrif-fen, den wir schon seit vielen Monaten immer wiedervon Wirtschaftsminister Rösler hören: Sie wollen dieGrundfesten des Erneuerbare-Energien-Gesetzes mit sei-ner garantierten Einspeisevergütung verändern und ei-nen völlig anderen Mechanismus einführen. Dieser Me-chanismus des Quoten- und Mengenmodells wird inanderen europäischen Ländern – besser muss ich sagen:wurde – bereits praktiziert, beispielsweise in Großbritan-nien.In Großbritannien gab es dieses Mengenmodell, mitsehr vielen Ausschreibungen. Es hat dazu geführt, dassdie Windkraftinvestitionen in Großbritannien nur 20 Pro-zent des deutschen Niveaus erreicht haben, obwohl inGroßbritannien wesentlich mehr Wind weht als inDeutschland. In Großbritannien kostet Windenergie etwa13 Cent pro Kilowattstunde, in Deutschland hingegen nur7 Cent, wohlgemerkt, obwohl Großbritannien viel wind-reicher ist.Das bedeutet im Klartext, dass das Mengenmodellzum einen für einen guten Ausbau der erneuerbarenEnergien nicht tauglich ist und zum anderen wesentlichteurer ist.
Das heißt, Sie machen einen Vorschlag, der eine Verteue-rung der Energiewende bedeutet.Wenn Sie nicht glauben, dass dies am Beispiel vonGroßbritannien genügend gut nachzuvollziehen ist– Großbritannien hat deswegen übrigens einen Instru-mentenwechsel hin zur Einspeisevergütung vorgenom-men –, dann bitte ich Sie, einen Beschluss des Industrie-ausschusses des Europäischen Parlaments vom Montagdieser Woche zur Kenntnis zu nehmen. Der Industrieaus-schuss hat dort eine vom Abgeordneten Reul von derCDU unterstützte Entschließung zurückgewiesen, dieeine europaweite Einführung eines Quotensystems vor-sieht. Der Ausschuss hat einen weiteren Beschluss ge-fasst: Der Kommission soll kein Quotenmodell vorge-schlagen werden, sondern die europaweite Einführungeiner Einspeisevergütung; denn sie ist effizienter undeben auch viel erfolgreicher.Ich frage Sie deswegen – ich kann es nicht verstehen–, wie Sie an den alten Vorschlägen, deren Untauglich-keit längst bewiesen wurde und von denen zudem dasEuropaparlament in seiner Mehrheit sagt, dass sie un-tauglich sind, festhalten können, die reine Planwirtschaftbedeuten. Denn ein Mengenmodell bedeutet: Der Staatlegt die Quoten fest – niemand anderes –,
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Hans-Josef Fell
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und die Staatsbeamten machen Ausschreibungen dazu.So etwas kenne ich nur aus der chinesischen Planwirt-schaft, aber nicht aus einer Marktwirtschaft. Deswegenkann ich nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch aneinem Mengenmodell festhalten; denn dieses ist untaug-lich, ineffizient und bietet letztendlich keine Chance fürden Ausbau erneuerbarer Energien.
Herr Kollege Breil zur Antwort, bitte.
Herr Kollege Fell, es war ja ein tolles Plädoyer, das
Sie da gehalten haben.
Sie sollten aber zwischen Mengen- und Quotenmodell
unterscheiden; denn das ging bei Ihnen durcheinander.
Sie sollten vielleicht einmal nachlesen, was wir dazu ge-
sagt haben.
Im Übrigen haben Sie selber davon gesprochen, dass
dieses alte Modell vielleicht nicht mehr ganz up to date
ist, dass man es hätte erneuern müssen. Wir jedenfalls
wollen einen modernen Ansatz. Wir wollen ein Mengen-
modell und kein Quotenmodell. Ich bin davon über-
zeugt, dass wir damit ein funktionierendes Modell haben
werden, mit dem wir unsere Ziele erreichen können.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambkevom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Eine Debatte über die Ener-giewende ist immer sehr wichtig; denn die Energie-wende ist ein zentrales Projekt. Aber anstatt über diewirklich großen Herausforderungen sachlich zu debattie-ren, reden wir hier über die schöne Erfindung „Strom-preisbremse“.Um es gleich ganz deutlich zu sagen und Fehlinter-pretationen vorzubeugen: Wir Grüne nehmen die aktuel-len Kostensteigerungen durchaus ernst. Aber wir müssenin diesem Zusammenhang auch die sozialen Verwerfun-gen in den Blick nehmen, die aktuell in Deutschland undauch in Europa zu verzeichnen sind. Lassen Sie mich auffolgende Tatsache hinweisen: Dass viele Menschen dieEnergiekosten, insbesondere die Stromkosten, als einenicht mehr zumutbare Kostenbelastung sehen, spielt sichvor dem Hintergrund ab, dass ganze Gruppen in der Be-völkerung durch Minijobs, durch fehlenden Mindest-lohn, durch die fehlende Infrastruktur für Bildung abge-hängt werden. Das ist das eigentliche soziale Problem;es sind nicht nur die Energiekosten.
Zur Industrie. Ich kenne einen namhaften Herstellerin Rheinland-Pfalz, der gerade ein Verwaltungsgebäudeerrichtet und in Betrieb genommen hat. Mehr als100 Prozent des Energieverbrauches deckt er durch er-neuerbare Energien ab. Obwohl sich dieses familienge-führte Unternehmen in einem sehr harten Wettbewerbbefindet, ist das möglich,
und zwar dank dem EEG.Ich kenne ein weiteres Unternehmen, einen Zuliefererbei mir in Bayern, mit einem wunderschönen Dach, aufdem man eine tolle Photovoltaikanlage installierenkönnte. Aber hinter dem Unternehmen steht ein Finanz-investor, der sagt: Alle meine Investitionen müssen sichinnerhalb von drei Jahren rechnen. – Obwohl wir mehr-fach vorstellig geworden sind, sagt er: Nein, es gibtkeine Photovoltaikanlage auf dem Dach; denn ich habekeine Investitionssicherheit mehr.
Das zentrale Problem, das Sie heute zu verantwortenhaben, Herr Umweltminister, ist dieses Hin und Her.Dabei denke ich nur an Ihren Kardinalfehler, indem Sieversucht haben, rückwirkend in Verträge einzugreifen.Sie mögen jetzt zurückrudern und sagen: Es gibt auchandere Möglichkeiten. Wenn die erfüllt sind, dann ma-chen wir das nicht. – Aber Sie werden das nicht mehrhinbekommen; da werden alle Dementis und alleAnkündigungen nicht mehr helfen. Sie haben eine tiefeVerunsicherung bei der Industrie herbeigeführt. Sie wirdsich in Zukunft sehr genau überlegen, ob sie nachhaltig,das heißt langfristig, Investitionen in erneuerbare Ener-gien vornimmt, und das haben Sie zu verantworten.
Wir müssen die Strompreiserhöhung in den richtigenKontext stellen. Das wahre Problem der Energiekostenliegt doch im Anstieg der Kosten für alle endlichen Res-sourcen, insbesondere für Öl.
Keiner redet heute über die Heizkostensteigerung durchdie Preissteigerung bei fossilen Brennstoffen. Es ist dochschon eine recht dreiste Lüge – dies ist mehrfach nach-gewiesen worden –, den erneuerbaren Energien denStromkostenanstieg in die Schuhe zu schieben.Meine Damen und Herren, diese Koalition hat seitdrei Jahren die Energiepolitik zu verantworten, und wirhaben mit großer Mehrheit, mit uns, den Ausstieg ausder Atomenergie entschieden. Herr Breil sagt jetzt, dassdie FDP im letzten August eine Arbeitsgruppe gegründethat.
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28800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Thomas Gambke
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Herr Breil, das Thema Energiewende liegt seit drei Jah-ren in Ihrer Verantwortung; in der Verantwortung vonuns allen ist es seit mindestens zehn Jahren. In dieserZeit haben wir gearbeitet; das EEG wurde beschlossen.
Jetzt geht es doch darum, diese drei Dinge – Ausbau dererneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Energieein-sparung – endlich umzusetzen.
Wir müssen uns doch ehrlich machen.Herr Nüßlein, wir gehören beide der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“an. Wir müssen uns doch einfach einmal damit auseinan-dersetzen, dass die Ressourcen endlich sind und dass wir1,6 Erden – die Deutschen sogar 2,5 Erden – pro Jahrverbrauchen.
– Nein, Herr Nüßlein nicht. – Angesichts dessen wollenwir jetzt Preissenkungen vornehmen? Wir wissen dochvon dem von Experten als Rebound-Effekt bezeichnetenPhänomen, dass der Verbrauch steigt, wenn wir dieKosten senken. Was wir brauchen, ist, dass die Energie-zertifikate endlich wieder zur Wirksamkeit gebrachtwerden. Wir müssen anfangen, eine verlässliche Politikzu machen, damit die Industrie weiß, worauf es hinaus-läuft; wir dürfen nicht so herumeiern, wie wir es imMoment erleben.Meine Damen und Herren, ich fasse mich kurz: DieseKoalition ist leider im Begriff, die Energiewende an dieWand zu fahren. Ich vertraue darauf, dass bei den Bür-gern nach wie vor eine hohe Zustimmung zur Energie-wende besteht. Gott sei Dank sind Sie nur noch kurz inder Regierung. Danach werden wir das Thema richtiganpacken.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege
Dr. Georg Nüßlein.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wirdiskutieren hier das wirtschaftspolitische Themaschlechthin, nämlich die Energiewende. Selbstverständ-lich hat Wirtschaftspolitik immer auch eine sozialeDimension. Aber ich kann Ihnen sagen: Es geht hierüberhaupt nicht um Verteilungsfragen. Zunächst einmalgeht es um die Frage, wie wir die Energiewende schaf-fen, ohne unsere Industrie und unser Gewerbe zu be-schädigen. Diese sind in einer schwierigen Situation,weil die Energiepreise steigen. Wenn man über sozialeThemen diskutiert, muss man daher über diese Fragediskutieren. Sozial ist, was Arbeit schafft – das ist dasEntscheidende, nicht die Frage, ob man Sozialtarife ein-führt und was man für den unteren Einkommensbereichmachen kann.
Ich sage das ganz explizit, weil bei uns mittlerweiledie Mittelschicht – damit meine ich nicht nur den ge-werblichen Mittelstand, sondern auch die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer – in allen Bereichen in eineZangenbewegung gerät, ganz gleich, ob es um Ihre Steu-erpläne geht oder das, was wir im Bereich der Energie-wende machen. Man entlastet die ganz oben und dieganz unten, und die in der Mitte zahlen die Zeche. Wennwir darüber diskutieren, bin ich eng bei Ihnen und disku-tiere gerne mit. Ich verteidige aber auch ganz explizit dieBefreiungen im Bereich der Industrie, die wir bei derletzten Novellierung des EEG vorgenommen haben; siewaren wohlüberlegt. Es ging darum, den Mittelstand andieser Stelle einzubeziehen. Mich ärgert, was insbeson-dere von den Grünen hierzu an Meldungen gekommenist. Trittins Behauptung, wir hätten sogar Golfplätze be-freit, ist reine Polemik, ist erstunken und erlogen.
Trotzdem hat das ein Journalist vom anderen abgeschrie-ben, und so wurde es weitergetragen.
Es ging Ihnen doch darum, so zu tun, als ob die EEG-Umlage in Höhe von 5,277 Cent pro Kilowattstundeschlicht und einfach der Tatsache geschuldet war, dasswir zusätzliche Befreiungen eingeführt haben. Das istaber eben nicht wahr. Die Befreiungen gelten für ins-gesamt 94 Terawattstunden; die sind privilegiert. Denerheblichen Teil dieser Privilegierung hat im ÜbrigenRot-Grün wohlüberlegt beschlossen.
Nur 5,2 Terawattstunden sind hinzugekommen. Jetztsind es 94 Terawattstunden. Das muss man sich einmalüberlegen. Sie versuchen, hier einen komplett anderenEindruck zu erwecken. Wenn es Ihnen ernst ist mit derEnergiewende, wenn Sie das Thema unterstützen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28801
Dr. Georg Nüßlein
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wollen, dann bitte ich Sie dringend: Hören Sie auf, dieTatsachen zu verdrehen!
Als Sie diese Befreiungen eingeführt haben, ging esum eine Differenz bei den Kosten von 0,2 Cent. So wardas bei Einführung des EEG. Diese Differenz ist per-manent größer geworden. Warum? Weil der Bereich dererneuerbaren Energien stark ausgebaut wurde – in derTat –, aber auch, weil es uns nicht gelungen ist, die Ent-wicklung auf dem Markt im EEG abzubilden.
Das ist die zentrale Schwäche des EEG, das ich imÜbrigen immer verteidige. Die zentrale Schwäche be-steht darin, dass die Politik ständig nachsteuern muss.
– Bundesminister Altmaier hat einen Reformvorschlagunterbreitet. Er hat Sie doch erst wachgerüttelt. Hat manvorher etwas über Diskussionen in der SPD über dieKosten gehört, Herr Heil? Sie sind auf einen fahrendenZug aufgesprungen. Sie haben den Zug gerade noch er-wischt.
Sie haben quasi gerufen: Halt! Davon sind ja auch un-sere Leute betroffen. Die, die in der Industrie arbeiten,müssen die Zeche zahlen. – Jetzt hängen Sie sich dranund sagen: Wir waren schon immer dabei.
Das gilt im Übrigen für die ganze linke Seite dieses Hau-ses.Ich sage Ihnen ganz offen: Wir haben zum ThemaEnergiewende immer klar gesagt, dass sie nicht zumNulltarif zu haben ist, dass das eine teure Operationwird. Mich ärgert heute noch, dass ich mich von Ihnenallen immer wieder als Lobbyist der Atomwirtschafthabe beschimpfen lassen müssen,
zum Beispiel, wenn es darum ging, RWE und anderen zuhelfen.
Uns ging es um den Wirtschaftsstandort, uns ging es umdie Strompreise. Darum ging es uns. Wir haben genau imBlick gehabt, was an der Stelle passiert.
Um zu vermeiden, dass gleich das übliche Spielchengespielt wird und behauptet wird: „Der stellt die Ener-giewende infrage“, sage ich: Ich stelle die Energiewendeüberhaupt nicht infrage, in keiner Weise. Da ich den Be-reich der erneuerbaren Energien und das EEG immerprotegiert habe,
kann man mir das nicht unterstellen. Es ist schon einSkandal sondergleichen, wenn Sie jetzt so tun, als hättensich die Kosten ganz anders entwickelt, wenn Sie in denletzten drei Jahren die Verantwortung getragen hätten.
Das ist scheinheilig bis zum Anschlag.Ich nenne Ihnen beispielhaft einen Punkt, an dem wirjetzt nachsteuern müssen: die Windkraft. Ich halte es fürvernünftig, hier zu einer Spreizung zu kommen. Es gibtVerträge, nach denen Landwirte 50 000 bis 80 000 EuroPacht für 2 000 bzw. 3 000 Quadratmeter Grund bekom-men sollen, damit auf diesem Land ein Windrad gebautwerden kann. Das sind Hyperrenditen – das kann mangar nicht genauer in einen Vertrag schreiben –; das siehtein Blinder mit Krückstock. An dieser Stelle müssen wirnachsteuern. Wir müssen auf der einen Seite kostengüns-tig mit Wind Strom produzieren können, auf der anderenSeite aber auch den regionalen Ausgleich im Blick ha-ben. Ich halte eine Spreizung für einen sehr guten undsehr richtigen Weg, Herr Umweltminister. Das kann manauf alle Fälle mittragen.Vorhin wurde grundsätzlich über das Thema EEGdiskutiert. Ich kann nicht erkennen, ob es eine bessereAlternative gegeben hätte. Zum Quotenmodell hat derKollege Fell Richtiges und Wichtiges gesagt. Ich sehedas ganz genauso.
Das Quotenmodell ist in der Theorie eine gute Ge-schichte. Da der Markt aber nicht funktioniert, sondernvon einem Oligopol gekennzeichnet ist, ist das keine Al-ternative. Wenn er funktionieren würde, wäre das eindiskutabler Weg.
Weil Sie hier so schreien, sage ich: Ich bin gespannt,wie Ihre Handreichung aussehen wird. Ich bin gespannt,wie Sie das, was Herr Altmaier vorgeschlagen hat, mit-gestalten werden,
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28802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Georg Nüßlein
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wie Sie zeigen werden, dass Sie das Thema wirklichernst nehmen. Darüber wird mit den Ländern gespro-chen werden. Die Öffentlichkeit muss wissen, dass esimmer die Länder sind – Stichwort „Mehrheit im Bun-desrat“ –, die bremsen.
– Ich beschimpfe Bayern nicht. Machen Sie sich keineSorgen! Auch das ist eine bodenlose Unterstellung. Siewissen ganz genau, wie ich an der Stelle positioniert bin.Die Bayern haben immer die richtigen Vorschläge zurrichtigen Zeit gemacht
und das Thema sauber mitgestaltet. Im Übrigen sind wir,wenn es um die erneuerbaren Energien geht, schon viel,viel weiter als manches andere Bundesland.
Herr Kollege Nüßein, der Kollege Kelber würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich habe nur noch eine gute Minute.
Das wird Ihnen nicht angerechnet. – Sie wollen nicht?
Sonst immer gern. Lassen Sie mich aber noch die we-
sentlichen Dinge nennen, von denen ich meine, dass sie
nach der Wahl ganz entscheidend sein werden.
Dabei geht es auch um das neue Marktdesign, für das
wir lastflexible Preise brauchen. Speicherung und Last
können am Ende nur über lastflexible Preise gesteuert
werden. Da besteht für den Staat, was seinen Teil angeht,
in der Tat die Notwendigkeit, über die Belastung durch
den Strompreis – unabhängig vom Stromaufkommen und
von der Stromnachfrage – nachzudenken. Deshalb bitte
ich, an der Stelle auch die Vorschläge der FDP zur
Strompreisbremse im Blick zu haben und darüber nach-
zudenken, wie man über die Steuerseite, aber auch über
die Liquiditätsreserve kurzfristig einen Beitrag dazu leis-
ten kann, dass die Preise nicht weiter steigen. Ich bin
auch dafür, Kollege Breil, dass wir uns dabei sehr stark
an der Mehrwertsteuer orientieren; denn da sind die Län-
der mit im Boot. Die Herrschaften können dann wieder
einmal deutlich zeigen, wie ernst sie es meinen. Wahr-
scheinlich wird das Gleiche wie bei der Energieeffizienz
passieren.
Wenn es darauf ankommt, werden Sie die Hosentaschen
herausziehen und sagen: Da ist nichts drin.
Wir haben lange genug in unseren Ländern schlecht ge-
wirtschaftet; wir können keinen Beitrag zur Energie-
wende leisten, weil wir nichts mehr haben bzw. weil wir
das Geld verpulvert haben. – Das werden wir an der
Stelle erleben.
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen Leis-
tungsmarkt. Dafür sind umfangreiche Umstellungen not-
wendig. Ich glaube, dass die rechte Seite des Hauses
nicht nur die Kraft, sondern auch den ökonomischen
Verstand hat, das sinnvoll und vor allem ideologiefrei zu
machen.
Deshalb bin ich überzeugt, dass die Wählerinnen und
Wähler wissen, wem sie das Thema in Zeiten, die wirt-
schaftlich wieder ein bisschen schwieriger werden könn-
ten, an die Hand geben sollten.
In diesem Sinne vielen herzlichen Dank fürs Zuhören.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ulrich Kelber.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben versucht, das Mär-
chen von den durchgerechneten Vorschlägen des Um-
weltministers zu erzählen, bei denen man nur hoffen
könne, dass die Länder mitspielen. Ist Ihnen eigentlich
bekannt, dass heute bei dem Treffen der Ministerpräsi-
denten mit der Kanzlerin die von SPD und Grünen re-
gierten Länder ein Maßnahmenpaket vorlegen werden,
dass aber der Umweltminister zusammen mit der Kanz-
lerin den Ländern einen Beschlussvorschlag übermittelt
hat, der lautet: „Lasst uns heute nichts beschließen und
bis Sommer weiterverhandeln“? Dabei geht es um zwei
Absätze.
Herr Kollege Nüßlein hat das Wort zur Erwiderung.
Herr Kollege Kelber, ich bin überhaupt nicht imBilde,
was von Ihrer Seite da vorgeschlagen werden könnte. Esist aber auch nicht mein Job als Abgeordneter, das in Er-fahrung zu bringen. Ich sage Ihnen aber ganz klar, dassich erwarte, dass von Ihrer Seite Vorschläge kommen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28803
Dr. Georg Nüßlein
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die in diese Richtung gehen und mit denen dafür Sorgegetragen wird, dass wir am Schluss eine Strompreis-bremse hinbekommen. Wenn Sie das ausbremsen wollen– wovon ich jetzt ausgehe –, habe ich meine Problemedamit. Ich kann nicht erkennen, dass es auf unserer Seitekeinen Einigungswillen gibt.Weil Sie vorhin das Thema Bayern angesprochen ha-ben, sage ich Ihnen ganz klar: Bestandseingriffe werdennatürlich nicht kommen.
Sie waren aus unserer Sicht – aus Sicht der CSU – nieThema. Es ging um die Verhandlungsmasse, damit Sieetwas haben, an dem Sie sich festbeißen können. Auf un-serer Seite gab es aber nie eine Diskussion darüber, in ir-gendeiner Weise Bestandseingriffe zuzulassen. Wir wer-den aber – das ist ganz klar – über die anderen Punkteverhandeln, die darin aufgeführt sind. Ich bin gespannt,wie Sie sich beim Thema Windkraft aufstellen, ob Siesich da dem anschließen, was ich vorhin vorgetragenhabe.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Vor ein paar Tagen hat Herr Minister Altmaier ein fürihn neues Thema entdeckt, und zwar die Kosten derEnergiewende. Die SPD-Bundestagsfraktion befasst sichseit längerem mit diesem Thema.
Im Juni 2012 hat sie dazu eine Große Anfrage an dieBundesregierung gestellt. – Wenn die Mitarbeiter HerrnAltmaier die Chance geben würden, zumindest als Zuhö-rer an dieser Debatte teilzunehmen, wäre das schön. –Sieben Monate hat es gedauert, bis die Bundesregierunggeantwortet hat.
Diese sieben Monate haben wir ihr gegönnt; denn wirhaben erwartet, dass dann eine wirklich substanzielleAntwort kommt. Wenn man sich die Antworten der Bun-desregierung anschaut, kann man sich allerdings nurwundern.Auf die Frage, wie sich die Kosten entwickelt hätten,wenn wir nur in konventionelle Kraftwerke investierthätten – was ja zeitweilig durchaus der Plan der Bundes-regierung war –, wurde geantwortet: Es gibt keine Be-rechnungen. – Man muss doch wissen, wie hoch die Kos-ten ohne Energiewende wären! Aber die Antwort lautete:Es gibt dazu keine Berechnungen. – Auf die Frage, wiesich der CO2-Preis entwickelt hätte, wenn man nur aufkonventionelle Kraftwerke gesetzt hätte, wurde geant-wortet: Es gibt dazu keine Erkenntnisse. – Auf die Fragenach der Entwicklung der Primärenergiepreise und derImporte in den nächsten Jahren wurde geantwortet: Esgibt dazu keine Erkenntnisse. – Auf die Frage nach denexternen Kosten gerade beim Heizen mit Öl und Gas lau-tete die Antwort der Bundesregierung: Dazu wären um-fangreiche Studien notwendig. – Ich weiß gar nicht, wa-rum wir der Bundesregierung sieben Monate Zeitgegeben haben. Auf die Frage nach den Auswirkungender erneuerbaren Energien auf die Börsenpreise antwor-tete die Bundesregierung: Es gibt dazu keine Berechnun-gen. – Außerdem heißt es: „Die Bundesregierung ver-folgt die Diskussion …“
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, will Siedamit aber nicht quälen. Es ist für Sie ja nur noch pein-lich, wenn man sieht, dass Sie nach sieben Monatennicht in der Lage sind, zu den Kosten der EnergiewendeSubstanzielles zu sagen. Das ist offenbar deswegen so,weil Sie an der Kostenfrage nie wirklich interessiert wa-ren.
Im Februar dieses Jahres stellte Minister Altmaier aufeinmal öffentlich fest:
Ich weiß jetzt Bescheid; die Energiewende kostet 1 Bil-lion Euro. –
Er hat zwar nicht genau erklärt, woher diese Erkenntnisgekommen ist,
und er hat auch nicht aufgeschlüsselt, welche Kosten-positionen es im Einzelnen gibt; aber jetzt steht der Be-trag von 1 Billion Euro im Raum. Ich meine, so geht esnicht: dass man auf der einen Seite die offizielle GroßeAnfrage einer Fraktion mit Unkenntnis „beantwortet“und auf der anderen Seite öffentlich den Betrag von1 Billion Euro ins Spiel bringt.Wenn man einen Blick auf die Website der Bundesre-gierung wagt, kann man interessanterweise auch dorteine Zahl lesen.
Da steht nämlich: Die Energiewende wird bis zum Jahre2050 550 Milliarden Euro kosten. – Dort ist also von ei-ner halben Billion Euro die Rede. Da ist Altmaier alsomal eben halbiert worden.
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28804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Rolf Hempelmann
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Gut, das wäre nicht so schlimm;
ich meine die halbe Billion Euro. Das ist aber immernoch ein ordentlicher Betrag.Wenn man sich die Website genauer anschaut – HerrAltmaier, auch Sie werden das in der Zwischenzeit jaeinmal getan haben –, stellt man fest, dass dort auchsteht: Das sind ungefähr 15 Milliarden Euro jährlich. –Das ist eine Zahl, die ein bisschen überschaubarer ist; dabekommt man keinen ganz so großen Schrecken. Außer-dem steht da: Die Einsparungen bei den Rohstoffkostenbetragen schon jetzt – schon jetzt, also bei einem Anteildes Stroms aus erneuerbaren Energien in Höhe von25 Prozent – 5,8 Milliarden Euro im Jahr.
Das ist eine schöne Sache. Darüber reden Sie aber garnicht öffentlich, wenn es darum geht, die Kosten brem-sen zu wollen; denn das könnte in der Debatte eventuellschädlich für Sie sein.Die Einsparungen bei den Rohstoffkosten betragenalso schon jetzt 5,8 Milliarden Euro pro Jahr. Das mussman einmal hochrechnen.
Stellen Sie sich vor, der Anteil der erneuerbaren Ener-gien würde irgendwann einmal 50 Prozent betragen. Wieviel Geld würden wir dann bei den Rohstoffimporteneinsparen? Kann es am Ende vielleicht sogar passieren,dass daraus ein Plusgeschäft wird? Darüber dürfen Sieaber nicht reden; denn dann könnten Sie die Strompreiseja nicht mehr bremsen.Lieber Herr Minister, ich sage es einmal so: Anschei-nend verfügt die Bundesregierung ja doch über ein paarErkenntnisse. Es wäre ganz nützlich, wenn sie in die De-batte eingebracht würden. Wie ich sehe, unterhalten Siesich gerade schon angeregt mit dem ParlamentarischenGeschäftsführer Ihrer Fraktion. Das ist ja vielleicht einerster positiver Effekt.
Zurück zur Website der Bundesregierung. Wahrschein-lich ist der Minister Snookerspieler und schaut hin undwieder Fernsehen. Da gibt es nämlich immer die soge-nannten FAQ, die Frequently Asked Questions. DieBundesregierung hat sich wohl gedacht: Das machen wirauch. Schließlich spielt jeder zweite Deutsche Snooker,und wir wollen ja die Mehrheit der Bevölkerung errei-chen. Wir stellen uns jetzt einmal selber Fragen. – Unteranderem stellt sich die Bundesregierung die Frage, HerrNüßlein: Verteuern die erneuerbaren Energien die Ener-giewende? – Wissen Sie, was die Bundesregierung sichselber als Antwort gibt? Sie sagt: Nein.
Wir wollen den Anstieg der Strompreise wegen der er-neuerbaren Energien bremsen; aber die Bundesregierungselber sagt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energiendie Strompreise gar nicht verteuert. Was ist das denn? Dasteht: Es gibt diesen Effekt an der Börse – nach dem wirübrigens in unserer Großen Anfrage gefragt haben, wo-rauf wir noch keine Antwort bekommen haben. Jetztweiß Herr Altmaier: Da gibt es diesen Börsenpreiseffekt,und deswegen ist das alles gar nicht so schlimm.An einer Stelle weisen Sie dann auf einen kleinenSchlenker hin: Die Maßnahmen schlagen auf die Haus-haltsstrompreise nicht richtig durch. – Das ist richtig.Deswegen sagen wir ja auch: Wir müssen an das Systemran. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie der För-derrahmen für die erneuerbaren Energien aussehenmuss. Das Gleiche gilt für den Marktrahmen für konven-tionelle Stromerzeugung.
Genau da gehen Sie nicht ran. Warum? Weil es kompli-ziert ist. Es genügt nicht, mal eben eine Überschrift zuformulieren, sondern darüber muss man richtig nachden-ken, und man muss auch ein bisschen Expertise einho-len. Das haben Sie, bisher jedenfalls, nicht getan.Die Redner der Koalition haben heute wieder nur An-kündigungen gemacht.
Sie haben nach den Vorschlägen der Opposition zumEEG und zur konventionellen Stromerzeugung gefragt.Wer, bitte schön, stellt denn die Bundesregierung? Siehaben dreieinhalb Jahre Zeit gehabt, und Sie haben zweiJahre Zeit gehabt nach Einleitung der Energiewende. Esgibt von Ihnen immer noch keinen konkreten Vorschlag.
Wir möchten diese Fragen mit Ihnen konstruktiv lösen.Davor drücken Sie sich; deswegen machen Sie diese Ab-lenkungsmanöver und reden lieber über Kurzfristmaß-nahmen, denen wir uns, das sei noch einmal gesagt,nicht verschließen.
– Sie werden es morgen in den Zeitungen lesen. Heutewerden die A-Länder – die SPD-mitregierten Länder, dierot-grünen Länder – einen konstruktiven Vorschlag ma-chen.
– Und die rot-roten Länder.Die Koalition sperrt sich, weil sie im Grunde genom-men nur einen Mediencoup im Auge gehabt hat. MeineDamen und Herren, auf diese Art und Weise werden wirdie Energiewende nicht hinbekommen.Wenn sich Herr Altmaier jetzt mit Frau Höhn be-spricht und mir seine Rückseite zuwendet, hat das si-cherlich auch seine Vorzüge. Von der anderen Seite ist
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Rolf Hempelmann
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die Teilnahme an der Debatte natürlich leichter. Mirwürde dazu einiges einfallen; aber ich will jetzt nichtallzu bildlich werden. Ich schließe lieber meine Redeund danke für die Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Horst Meierhofer.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es geht der SPD hauptsächlich um dieStromsteuer; das war ja einer der zentralen Punkte imSPD-Papier. Diesen Vorschlag machen wir selbst seitlangem. Wenn man, wie Sie das vorgeschlagen haben,nur an der Stromsteuer ansetzt – mit 25 Prozent –, hilftdas nicht viel. Ansonsten kommt von Ihnen gar nichts anVorschlägen.
Sie müssen lesen, was Ihre Leute machen; kein Einzigerdavon sitzt hier. Am Nachmittag sitzen dann alle imBundesrat und blockieren alles. Ihnen geht es nur darum,Wahlkampf zu machen, anstatt zu einer Lösung zu kom-men.
Stephan Weil hat gesagt, er lehne das alles grundweg ab,er wolle Strompreissenkungen, sonst gar nichts.
– Natürlich! Lesen Sie es doch durch! Also das ist wirk-lich köstlich.Kollege Heil, ich erkläre Ihnen einmal, warum wirheute hier stehen: Das ist die logische Folge Ihrer Politikvon 1999, eine Stromsteuer einzuführen. Die Strom-steuer, Herr Heil – das wissen Sie alle –, haben Sie in derrot-grünen Koalition eingeführt.
Jetzt wollen Sie Gott sei Dank, dass die Stromsteuerendlich gesenkt wird. Sie fordern von uns, die Strom-steuer zu senken.
Dabei ist die Stromsteuer von Ihnen eingeführt worden.Ich sage Ihnen noch, warum Sie sie eingeführt haben:Die Begründung in dem Gesetz war:Energie ist ein knappes und endliches Gut. DiePreise für seine Nutzung sind in Deutschland zuniedrig.
Sie bieten zu wenig Anreize, vorhandene Energie-sparpotentiale auszuschöpfen, erneuerbare Energiestärker auszubauen und energiesparende und res-sourcenschonende Produkte und Produktionsver-fahren zu entwickeln.
Das ist das, was Sie in Ihr Gesetz geschrieben haben.Herzlichen Glückwunsch! Sie haben Ihr Ziel erreicht:Der Strompreis geht durch die Decke.
Ich möchte einmal kurz darauf hinweisen, was wir inden letzten Jahren bei einzelnen Industrien, bei einzel-nen Branchen an Senkungen bei der EEG-Umlage er-reicht haben: Allein im Bereich der Photovoltaik wurdedie Umlage um über 50 Prozent reduziert. Hans-JosefFell als letzter aufrechter Lobbyist der Photovoltaik wirdwahrscheinlich am Jüngsten Tag noch sagen: Die Photo-voltaik wird zu wenig gefördert; dafür muss mehr Geldbereitgestellt werden.
Selbst die Grünen geben mittlerweile aber zu, dass mangenügend Geld eingespart hat und das auch weiterhintun könnte.Es ärgert mich sehr, dass kein einziger konkreter Vor-schlag dafür kommt, wie man das besser machen könnte.
Sie blockieren nur und sagen: Nein, wir waschen unsereHände in Unschuld. Wir haben überhaupt kein Interessedaran, irgendjemandem irgendetwas wegzunehmen. –Glauben Sie, dass es für uns besonders angenehm war,dass wir nach den Vorschlägen und Konsensen, die wirmit Herrn Altmaier und Herrn Rösler hatten, in den letz-ten Jahren 50 Prozent weniger für die Photovoltaik gege-ben haben? Das hat ihnen wirklich wehgetan.
Trotzdem haben wir so viel ausgebaut wie noch nie.Es wurde noch nie so viel ausgebaut wie in den letztenJahren; das sage ich in jeder Debatte. Ihr Höhepunkt warein Ausbau um 800 Megawatt im Jahr. Bei uns waren esimmer mindestens 7 200 Megawatt.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrem Handeln und Ih-rem Gewäsch, das Sie verbreiten, ohne inhaltlich tat-
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Horst Meierhofer
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sächlich etwas geleistet zu haben, außer die Kosten nachoben zu treiben
und uns regelmäßig darauf hinzuweisen, dass wir dasGeld des Verbrauchers ausgeben. Das ärgert mich furcht-bar, weil das sehr geheuchelt ist. Sie haben hier keineneinzigen sinnvollen Vorschlag und lehnen unsere einfachnur ab.Ich finde Ihre Große Anfrage mit dem Titel „DieEnergiewende – Kosten für Verbraucherinnen, Verbrau-cher und Unternehmen“ köstlich. Sie halten uns vor– der Herr Heil ist jetzt gegangen –, dass man hier dieKosten dämpfen muss, und fordern die Bundesregierungauf, zur kurzfristigen Dämpfung der Kosten eine Ver-ständigung mit den Ländern und der politischen Opposi-tion herbeizuführen. Das ist natürlich wirklich ganz kon-kret.Zur Erarbeitung eines neuen Strommarkts sei zu-nächst eine belastbare Datenbasis in Bezug auf die Ener-giekosten herzustellen und eine neue Governance-Struk-tur aufzubauen. Liebe Freunde, das ist doch wirklichnicht das Problem, das wir jetzt haben. Wir müssen unsdamit beschäftigen, wie hoch die Kosten sind und wiewir sie senken können.
Mit Blabla werden Sie die Kosten nicht senken, sondernkönnen Sie nur Papier bedrucken. Mehr erreichen Sie alsRot und Grün damit ganz bestimmt nicht.
Jedes Mal, wenn es hinsichtlich der Kostensenkungkonkret wird, kommen Sie mit gegenteiligen Vorschlä-gen und sagen: Nein, wir wollen keinen neuen Netzaus-bau. – Das könnten Sie übrigens auch einmal erklären,denn die Netzkosten spielen eine entscheidende Rolle;man kann sich hier nicht nur über den Strompreis unter-halten. Das führt ja übrigens dazu, dass die Differenzzum Börsenstrompreis noch größer wird, wodurch einTeil des Effekts wieder aufgefressen wird. Damit errei-chen Sie vielleicht, dass wir weniger Geld im Bundes-haushalt haben, aber ansonsten kommt von Ihnen leidernur extrem wenig.Eine solche Schmalspurantwort darauf zu geben, dassuns die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind: Das kannman vielleicht in einer drei- bis fünfminütigen Rede tun.
Wir haben dagegen jetzt wirklich circa 15 ganz konkreteVorschläge zum Thema Wind, zum Thema Biomasse,zum Thema Biogas, zum Thema Wasserkraft und zurFrage, wie man den Netzausbau weiter betreiben kann,gemacht. Diese Punkte tun allen auch weh; das gebe ichgerne zu.
Dass Sie als Opposition nicht bereit sind, sich an denKosten und damit auch an den Belastungen, die man denBürgern und der Industrie zum Teil aufbürdet, zu beteili-gen und mit uns dafür einzustehen, ist Ihr gutes Recht alsOpposition,
aber dann tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie auch nurdas geringste Interesse daran, die Kosten in den Griff zukriegen. Das haben Sie nämlich mit Sicherheit nicht.
Ob die Kosten in den Griff zu kriegen sind, mag denGrünen, Frau Höhn, völlig egal sein. Das hat ja der ge-schätzte Kollege Gabriel gestern in der Zeit ganz schönzusammengefasst. Zu den Grünen und dazu, wie sie mitden Strompreisen umgehen, hat er gesagt:Die Grünen werden nie verstehen, wie eine Verkäu-ferin bei Aldi denkt. Mit einem B-3-Gehalt verstehtman auch nicht, warum einer Krankenschwesternicht egal ist, wie viel der Strom kostet.Das ist Ihr Koalitionspartner. Was sagen Sie denndazu?
Im Gegenteil! Vielleicht hat derjenige sogar das Gefühl,damit noch etwas Gutes zu tun. Geholfen haben Sie denLeuten aber nicht.
Herr Gambke, ich habe vorhin gehört, der Mittelstandhätte jetzt die Möglichkeit, etwas zu produzieren. Natür-lich! Deswegen haben wir übrigens genau darauf geach-tet, dass der Mittelstand nicht schlechter gestellt wird alsdie Großindustrie.
Das, was Ihr geschätzter Vorgänger Trittin gemachthat, war, ausschließlich die Großindustrie von der Um-lage zu befreien –
alles auf Kosten des kleinen Mannes, des kleinen Hand-werkers, des Mittelstandes und vor allem des Verbrau-chers. Aber Herr Gabriel hat ja gesagt: Wenn jeder, der
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Horst Meierhofer
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sich bei den Grünen aufhält, mit B 3 besoldet ist, dannist das für Sie natürlich vollkommen egal.Bei uns betragen die Kosten – das ist auch dem Mit-telstand zu entnehmen – 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowatt-stunde. Herr Trittin hatte 0,8 bis 0,9 Cent pro Kilowatt-stunde beschlossen. Das ist der Unterschied zwischendem, was Sie gemacht haben, und dem, was wir machen.Es ist deswegen immer wieder schön, wenn Sie hierIhre dünnen Vorschläge machen.
Sie sind aber nicht bereit, in eine wirkliche Diskussionmit dem Ziel einzutreten, Ergebnisse zu erhalten.Es ist hier doch vollkommen klar, dass wir als FDPund in der Koalition mit der CDU/CSU am Schluss nichtalles durchsetzen werden. Wir haben gesagt, dass wirkeine rückwirkenden Eingriffe wollen. Wir haben ge-sagt, dass wir beim Thema Güllebonus jederzeit ge-sprächsbereit sind. Sie sind nicht gesprächsbereit.
Es kann doch nicht die Grundlage für eine Debatte sein,dass Sie sich darüber beschweren, dass wir hier nicht al-les alleine entscheiden.
– Geben Sie doch dem Herrn Kelber einmal Redezeit.Das wäre mir lieber; denn er quatscht die ganze Zeit da-zwischen, ohne tatsächlich etwas Vernünftiges beizutra-gen.
Bitte schön, versuchen Sie endlich einmal, sich für ei-nen Kompromiss zu öffnen. Vielleicht schaffen das IhreLändervertreter besser als Sie. Ansonsten wird wiedernichts passieren. Das Ergebnis wäre dann, dass die Men-schen 6,5 oder 7 Cent pro Kilowattstunde EEG-Umlagebezahlen. Schuld sind dann leider Sie.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Eva Bulling-Schröter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Na klar, die Energiewende kostet Geld. Aller-dings relativieren sich die Aufwendungen dann, wennwir auch die Kosten für die Erzeugung von Strom ausKohle und Atomkraft betrachten, die auf keiner Strom-rechnung stehen. Darüber hat heute fast niemand etwasgesagt. Stichworte sind hier Klimawandel, Gesundheits-kosten, Störung des Wasserhaushalts oder atomare Ver-strahlung. Das ist zwar seit langem bekannt, aber ichdenke, man muss es immer wieder erwähnen; denn IhreWählerinnen und Wähler vergessen das.Der geschätzte Kollege der CSU, Josef Göppel, hatnicht umsonst in der Strompreisdebatte eine „gezielteKampagne, um die Energiewende madig zu machen“ ge-sehen. Das ist nachzulesen auf der Webseite klimaret-ter.info; sehr informativ.Die Bundesregierung gibt solche externen Kosten inihrer Antwort auf die Große Anfrage mit 40 bis120 Euro je Tonne CO2 an. Würde das in den Strompreiseingerechnet, kämen wir auf Zusatzkosten von bis zu12 Cent je Kilowattstunde. Darin sind die Langzeitrisi-ken nicht einmal berücksichtigt. Ich finde, die EEG-Um-lage von 5,3 Cent erscheint da in einem ganz anderenLicht. Aber natürlich muss die Energiewende zunächstganz irdisch bezahlt werden, und zwar jeden Monat vonden Menschen und von den Firmen.Die Frage ist doch einfach: Wer bezahlt wie viel? Esist leider so, dass nach wie vor einige wenige Unterneh-men und Aktionäre an der Energieerzeugung Milliardenverdienen, während Bürgerinnen und Bürger immerdraufzahlen. Noch einmal: Eon und RWE erwarten für2012 einen astronomischen Gewinn von insgesamt über19 Milliarden Euro. Das sind 3 Milliarden Euro mehr alsdie gesamte Förderumlage für Ökostrom.Seit der Einführung des Emissionshandels 2005 ha-ben die vier großen Konzerne noch einmal leistungslosrund 30 Milliarden Euro Extraprofite gemacht. Sie habendie CO2-Zertifikate geschenkt bekommen; das wissenSie. Solche Gewinne ausgerechnet mit einem Klima-schutzinstrument! Damit machen sie einen Riesenge-winn. Jetzt jammern diese Unternehmen, weil sich ei-nige Gaskraftwerke angeblich nicht mehr rechnen.Jetzt könnte man einmal auf den Einfall kommen,dass davon oder von dem Gewinn von 19 Milliarden aus2012 ein paar Milliönchen abfallen dürften, um dasGeschäftsfeld Gasturbine, das wir brauchen, zeitweisequerzusubventionieren – das wäre doch einmal ein Vor-schlag –,
etwa so, wie es jedes vernünftige Stadtwerk mit seinemÖPNV macht. Aber da höre ich Sie schon: Um Gotteswillen, das wäre ja ein kommunistischer Eingriff in denheiligen Markt. – Radikal marktwirtschaftlich wird esdagegen sein, den Unternehmen künftig zusätzlichesGeld in den Rachen zu werfen, damit sie ihre Anlagennur nicht abschalten. Ich denke, Wirtschaftshistorikerwerden sich später darüber auf die Schenkel klopfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will überhauptnicht so tun, als wenn Energie in einer gerechten Weltüberhaupt nichts kosten würde und als wenn es einfach
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Eva Bulling-Schröter
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wäre, ein Energiesystem radikal umzubauen. Aber so,wie es die Bundesregierung organisiert, wird die Akzep-tanz verspielt. Bei den Einkommensschwachen geht esganz konkret um Energiearmut. Sie wollen nichts än-dern. Die FDP hat heute wieder über die Strompreiser-höhungen gejammert. Ausgerechnet die Partei, die per-manent privatisieren und prekäre Beschäftigung immermehr ausweiten will sowie Altersarmut befördert, willsich um diejenigen kümmern, die die Strompreise nichtmehr zahlen können. Darüber können alle nur lachen.
Was ist denn mit den Privilegien für energieintensiveUnternehmen und beim Eigenverbrauch? Da wollen Siemagere 700 Millionen Euro streichen. Das ist nur einAchtel dessen, was durch die Industrieprivilegien bei derEEG-Umlage anfällt. Der Stromsektor ist nur der An-fang. Wir brauchen Gelder für die Gebäudesanierung undim Verkehrsbereich. Dort erwarten uns große Herausfor-derungen, wie wir alle wissen. Da haben wir große Pro-bleme. Wie Sie alle wissen, fehlt uns im Energie- undKlimafonds sehr viel Geld, um beispielsweise die Ener-gieeffizienz zu fördern. Hier herrscht einfach Ebbe imTopf, weil die Bundesregierung den Emissionshandelzerschossen hat. Die CO2-Preise liegen am Boden.
– Sie brauchen gar nicht zu brüllen, Kollege Meierhofer.Ihre Fraktion ist es, die in der EU blockiert.Minister Altmaier wäre bereit, hier etwas zu tun; zu-mindest sagt er das immer. Aber Sie zerschießen denEmissionshandel. Was Sie tun, ist nicht marktwirtschaft-lich.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ihnen geht es nur um die Profite der großen Kon-
zerne, nichts anderes. Die Kleinen sollen immer nur be-
zahlen.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin
Bärbel Höhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Nachmittag findet das große Energiegipfeltreffenmit den Ministerpräsidenten bei der Kanzlerin statt. Esgeht um die Kosten der Energiewende. Aus unsererSicht wäre es notwendig, für eine faire Kostenverteilungzu werben,
um die Verbraucherinnen und Verbraucher und den Mit-telstand zu entlasten. Diesen werden bislang die Kosten,Herr Meierhofer, überproportional aufgebürdet. Daswollen wir beenden.
Die Minister Rösler und Altmaier haben einen Vor-schlag gemacht, der eine Entlastung in Höhe von1,8 Milliarden Euro vorsieht. Aber dieser Vorschlagdient nicht einer fairen Kostenverteilung, sondern aus-schließlich dazu, die Erneuerbaren auszubremsen. Einensolchen Vorschlag werden wir nicht unterstützen. Das isteindeutig und klar.
Ich war über die Rede von Herrn Nüßlein entsetzt. Erstellt sich einfach hier hin und sagt, der Vorschlag vonHerrn Altmaier, bei der Förderung der Bestandsanlageneinzugreifen, sei Verhandlungsmasse.
Wer solche Vorschläge macht, der sorgt dafür, dass dieInvestitionstätigkeit bei den erneuerbaren Energien inden Keller geht, weil es keine Planungssicherheit mehrgibt. Einen solchen Vorschlag als Verhandlungsmasse zubezeichnen, ist absolut unverschämt; denn er gefährdetArbeitsplätze in diesem Land.
Herr Nüßlein, Sie selber haben in Ihrer Rede eben ge-sagt: Sozial ist, was Arbeit schafft. – Ihr Minister hat ei-nen Vorschlag gemacht, der Arbeitsplätze gefährdet,nach Ihren eigenen Maßstäben also einen unsozialenVorschlag. Das halten wir hier fest. So wenig interessie-ren Sie sich für die Beschäftigten und die Arbeitsplätzein diesem Land.
Wir Grüne haben schon sehr früh, nämlich im letztenHerbst, Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wiesich 4 Milliarden Euro einsparen lassen.
Alle unsere Vorschläge liegen Ihnen vor. Deren Einspar-volumen ist mehr als doppelt so hoch wie das des Vor-schlags der Minister Rösler und Altmaier, ohne dabei dieerneuerbaren Energien auszubremsen. Das wollen wirweiter verfolgen.
– Ich komme gern auf Sie zurück, Herr Nüßlein.Wir haben darauf hingewiesen, dass es nicht in Ord-nung ist, dass Golfplätze von Netzdurchleitungsgebüh-ren entlastet werden.
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Bärbel Höhn
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Sie haben sich eben hingestellt und haben gesagt, das seifalsch. Richtig ist: Uns hat der Betreiber eines Golfplat-zes angeschrieben und aufgefordert: Ihr Grünen, stelltdoch bitte einmal richtig, dass wir nicht zu 100 Prozent,sondern nur zu 80 Prozent von den Netzdurchleitungsge-bühren befreit werden. – Das stellen wir gerne richtig.Aber diese 80 Prozent Befreiung sind auch nicht in Ord-nung, weil sie zulasten der Verbraucher und des Mittel-standes gehen.
Wir reden jetzt über eine Entlastung der Stromver-braucher in Höhe von 1,8 Milliarden Euro. Ich finde, wirsollten in diesem Zusammenhang auch darüber reden,was das alles bedeutet. Ist das nicht in Wirklichkeit einAblenkungsmanöver? Wenn wir – zu Recht – davon re-den, dass Verbraucherinnen und Verbraucher von Ener-giekosten entlastet werden sollen, dann müssen wir überdie Gesamtenergiekosten der Haushalte reden. Diese set-zen sich aus den Kosten für Wärme, Sprit und schließ-lich für Strom zusammen. Wir müssen über alle drei Be-reiche reden; denn sie alle belasten die Haushalte.Aber Sie reden vor allem über die Stromkosten. Dasfinde ich schon spannend. Sie reden über eine Entlastungvon 1,8 Milliarden Euro. Die haben die beiden Ministerauf den Tisch gelegt. Das bedeutet für eine drei- bis vier-köpfige Familie mit einem normalen Stromverbraucheine Entlastung von 1,5 Euro im Monat. Nach einem sokalten Winter, den wir in diesem Jahr haben, müssen wiraber auch über die Heizkosten reden, darüber, wie wirendlich dahin kommen, Energie einzusparen. Nur dann,wenn wir Energie einsparen, werden wir die Leute aufDauer entlasten. Alles andere sind nur vorübergehendeMaßnahmen.
Die schwarz-gelbe Regierung hat in ihrer Zeit erheb-lich zu der Stromkostenerhöhung beigetragen. Jetzt re-den wir über das EEG, aber Sie sind 2009 ins Amt ge-kommen. Von 2009 bis jetzt ist der Strompreis um6 Cent gestiegen. Im Zusammenhang mit den 1,8 Mil-liarden Euro reden wir über eine Entlastung um0,5 Cent. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns auch über die6 Cent sprechen, um die sich während Ihrer Regierungs-zeit die Kosten erhöht haben. So einfach lassen wir Sienicht davonkommen.
Es geht eindeutig und klar um Energieeffizienz. Dasehe ich von dieser Bundesregierung nichts. Sie müsstensich für einen ehrgeizigeren Klimaschutz einsetzen. Siemüssen dafür sorgen, dass wir mehr Einnahmen überKlimazertifikate erzielen, Sie müssen dafür sorgen, dasswir Dämmmaßnahmen ergreifen können, schließlichmüssen Sie dafür sorgen, dass die Antieffizienzpolitik,die Sie momentan betreiben und die die Energiekostenhochtreibt, endlich gestoppt wird. Das wollen wir näm-lich nicht mehr mitmachen.
Heute gibt es ein Verfahren vor dem EuGH. Gaskun-den klagen dagegen, dass die Gaspreise in vier Jahrenum 50 Prozent erhöht worden sind. Darum müssen wiruns kümmern. Das ist auch eine soziale Frage. Die hat-ten wir allemal früher als Sie, Herr Breil, im Auge. DerAntrag der Grünen ist schon 2008 im Bundestag behan-delt worden. Unsere Vorschläge liegen schon Jahre aufdem Tisch. Ich bin dafür, dass wir diesen Familien hel-fen, aber nicht nur bei den Stromkosten und durch Sym-bolpolitik, sondern auch bei den Kosten für Wärme undSprit; denn alles zusammen belastet die Familien. Des-halb müssen wir ein Gesamtpaket schnüren.Die Lösung ist nicht, gegen erneuerbare Energienvorzugehen, sondern die Lösung des Problems bestehtdarin, auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz zusetzen. Das ist die Lösung, um die Energiekosten in denGriff zu bekommen. Da sollten wir ansetzen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Norbert Schindler das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Gäste auf derTribüne! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen hier imPlenum! Der Antrag behandelt eigentlich die Stromsteu-ersenkung, aber die Generaldebatte betrifft natürlich diegesamte Belastung, die durch die Stromsteuer, aber auchdurch das EEG entstanden ist.Wie hat es angefangen? 2000/2001 wurde die Öko-steuer eingeführt. Trittin hat damals für eine Erhöhungauf über 2 Cent pro Kilowattstunde geworben. Vorge-schlagen hat er Ausnahmen beispielsweise für Alumini-umwerke und für Betriebe, die nicht von der Entlastungdurch die Senkung der Lohnnebenkosten profitierenkönnen. Das war die Ausgangslage, um den Wirtschafts-standort Deutschland zu stärken.Die EEG-Umlage, die damals beschlossen wurde,hatte einen Anteil von 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowatt-stunde. Heute sind wir schon – damit hat niemand ge-rechnet – bei 5,7 Cent.
– 5,7 Cent pro Kilowattstunde.
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28810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Norbert Schindler
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– Danke. Sie haben recht. – Im nächsten Jahr sind wirbei 7,2 Cent oder noch mehr bei der Geschwindigkeitdes Ausbaus.
– Streiten wir uns doch nicht über die Entwicklung drau-ßen, die können wir derzeit nicht aufhalten – genausowenig wie das Schneewetter heute.
Welcher Vorwurf wird gegenüber Herrn Altmaier er-hoben? – Wir alle wissen, wenn wir das so laufen lassen– das sehen auch die Länder so –, dann haben wir imnächsten Jahr wieder einen hohen Anstieg des Strom-preises. In der Debatte reden die Fraktionen der Linkenund auch der SPD über eine Absenkung um 0,5 Cent proKilowattstunde der Stromsteuer für alle; das wären Min-dereinnahmen von 1 Milliarde Euro. Dies muss im Bun-deshaushalt dann irgendwo gegenfinanziert werden.
Und dieser Bundeshaushalt, liebe Gäste, liebe Freunde,wird zu 40 Prozent von den Leistungsträgern im Ein-kommensteuer- und Lohnsteuerbereich finanziert.Jetzt kann man darüber reden, ob wir 500 MillionenEuro aus der Mehrwertsteuer nehmen und sie gezielt ir-gendwo einsetzen. Die Stromsteuer generell linear von2,05 Cent auf 1,5 Cent pro Kilowattstunde abzusenken,wäre der leichteste Weg. Wie das heute Nachmittag oderheute Abend läuft, weiß ich nicht – ich bin auch nicht inGottes Hand –, aber man versucht hoffentlich, einenKompromiss zu erreichen.Ein Vorwurf gegenüber Peter Altmaier war, er wollein Besitzstände aus der Vergangenheit eingreifen; undauch Dr. Nüßlein wurde vorgeführt – Stichwort Poker-spiel.
Natürlich muss man mit den Ländern darüber reden,welche Ideen im politischen Kompromiss umsetzbarsind. Da vermisse ich von der Opposition schon kon-krete Vorschläge.
Noch ein ernstes Wort an die SPD: Lieber Herr Heil,Ihre Klientel ist ja in der Hauptsache mit davon betrof-fen, wenn Investoren wie meine Person Geld in die Handnehmen, mit Kollegen ein Windrad auf einem Wind-standort von 6,0 auf Nabenhöhe bauen, das im achtenJahr bezahlt ist. Im neunten Jahr unterhalten wir fünfoder sechs uns dann darüber, wie wir die Gewinne ver-teilen. Wollen wir dies auf Dauer bei der garantiertenSumme halten?
Ich habe hier einen Vertragsentwurf – Sie können dasnachlesen –
von einem mir sehr gut bekannten Unternehmen über dieMiete für einen Windstandort dabei. Vertragspartner istein Grundeigentümer. Der Vertragsentwurf ist drei Wo-chen alt. Er wird wahrscheinlich unterschrieben werden.Im ersten Jahr ist eine Miete von 47 000 Euro für denStandort – da geht es um ein halbes Hektar – garantiert.Wenn der Stromertrag besser ist, dann beträgt die Miete7,5 Prozent vom Nettostromertrag. Nach dem elften Be-triebsjahr erhöht sich die Miete für dieses Grundstückauf 53 000 Euro. Ich gebe den Vertrag gerne einmal wei-ter.
– Ich will nur auf die Verzerrungen hinweisen.
Dann hat Peter Altmaier doch recht. Bei solchen Sub-ventionierungen und Kapitalzuteilungen der besonderenArt wird mit 9 Cent pro Kilowattstunde an normal gutenWindstandorten richtig Geld verdient. Das ist eine Geld-druckmaschine.
Ich bin Windmüller, ich kann die Kalkulation im neun-ten Jahr bestens nachvollziehen. Wer bei einer Windge-schwindigkeit von 6,0 Metern pro Sekunde ein Windradhat, der hat zwar nicht ausgesorgt, aber das ist wie beiguten Photovoltaikstandorten eine Gelddruckmaschine.
Es ist der Ansatz von Herrn Altmaier, in Zukunft bei die-sen Garantien den Preis abzusenken.
Das hat doch eine Logik! Aber Sie lehnen das einfach abund reden von einem Stopp. Das ist genau das gleicheHorrorszenario wie vor einem Jahr bei der Absenkungder Photovoltaikvergütung. Und was haben wir seit 2009nicht alles probiert, Frau Höhn!
– In meinem Wahlkreis Vorderpfalz.
Herr Kollege Schindler, entschuldigen Sie, dass ichSie unterbreche. Der Kollege Kelber würde gerne eineZwischenfrage stellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28811
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Die Uhr wird aber angehalten.
Bitte.
Vielen Dank für die Möglichkeit zur Zwischenfrage.
Der Vorschlag von dem Kollegen Altmaier zur Ab-
senkung bezog sich ja keineswegs auf so gute Standorte,
an denen der Abgeordnete Schindler anscheinend Geld
verdient, sondern er wollte eine allgemeine Absenkung,
unabhängig vom Standort – wenig an den richtig guten,
aber zu viel für die schlechteren. Das war nicht beson-
ders intelligent, und genau dazu macht Ihnen die Oppo-
sition einen anderen Vorschlag.
Ausgerechnet der größte
Lobbyist im Haus!)
Ich möchte noch eine Frage stellen. Sie haben erzählt,
man könne bei den erneuerbaren Energien Gewinne ma-
chen. Das sei Ihnen gegönnt. Aber ist nicht das größere
Problem, dass unter Schwarz-Gelb, als sich die Aus-
schüttungen an die Betreiber von Erneuerbare-Energien-
Anlagen nur um etwa 80 bis 90 Prozent erhöht haben,
300 Prozent mehr Umlage bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern eingesammelt worden sind, weil Ihre Kon-
struktion des EEG wegen der Ausnahmen, wegen fal-
scher Berechnungsmethoden immer weiter kaputtgegan-
gen ist? Sie haben viermal so viel Geld eingesammelt,
ohne es für erneuerbare Energien auszugeben.
Herr Kollege Kelber, Sie kennen doch selbst die
Liste, Stichwort „Automatismus“, die ebenfalls von Rot-
Grün 2001 vorgelegt wurde; ich habe sie da.
– Ja. Da gab es Verbesserungen und Verschlechterungen,
Herr Kollege Fell. – Aber beim EEG hatten wir eine
Rückvergütung von 5,3 Milliarden Euro. Allein bei der
Stromsteuer, um die es heute geht, hatten wir eine Rück-
vergütung von 3,8 Milliarden Euro. Dieses Geld haben
wir der Wirtschaft zurückgegeben.
Auf die Stromsteuer insgesamt entfallen 10,8 Milliar-
den Euro. Was die 3,8 Milliarden Euro Rückvergütung
bei der Stromsteuer angeht: Allein auf den Spitzenaus-
gleich entfielen 2,1 Milliarden Euro. Auf das EEG – be-
züglich der Kraft-Wärme-Kopplung verweise ich auf
das, was uns die Europäische Union gerade genehmigt
hat – entfällt ein Anteil von 2,3 Milliarden Euro.
– Hier will ich nur entgegnen: Siehe, was Peter Altmaier
macht. Es geht um die Frage der Empfindlichkeit, auch
gegenüber meinen Bauern; ich weiß das schon. Bei be-
stimmten Mietverträgen wird jeder schwach, nicht nur
ein Bürgermeister.
Wenn eine Kürzung von 4 Prozent ins laufende Ge-
schäft hineingekommen wäre, wäre keiner bankrottge-
gangen. Ich rede nicht vom Güllebonus und Sondervor-
fällen. Man bedenke, was im laufenden Geschäft bei
einem Standort mit 6,0 Metern pro Sekunde, einem
schwachen Standort in der Pfalz, geschieht. Wenn man
da Angebote von 50 000 Euro pro Windrad auf einer be-
stimmten Fläche macht, dann muss ich doch feststellen:
Diese soziale Geldverschiebung kann diese Republik auf
Dauer nicht aushalten.
– Ist es anders?
Wir reden über Ausnahmen im Stromsteuerbereich.
Es geht zum Schluss um 1 Milliarde Euro oder eine
halbe Milliarde Euro mehr oder weniger. Es gilt, einen
vernünftigen Kompromiss zustande zu bringen, damit
die Stromkosten für Lieschen Müller genauso wie für die
Oma, die eine geringe Rente hat, auf Dauer finanzierbar
sind. Da müssen Sie uns folgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
– Doch. Das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zu-
sammen, Frau Kollegin Höhn; Sie wissen es doch. Wer
hat denn mit diesen Ausnahmen den Fluch der guten Tat
verursacht?
Das wart doch ihr.
Wer hat denn voriges Jahr bei der Kürzung der Photo-
voltaikförderung den Untergang des Abendlandes pro-
phezeit?
Trotz dieser Kürzungen gab es im letzten Jahr noch ge-
nügend Photovoltaikunternehmen. Auch jetzt noch über-
legen Landwirte in meiner Heimatregion, in Photovol-
taik auf ihren Dächern zu investieren. Das machen sie
nicht, um Verluste zu machen, sondern weil sie wissen,
dass sie ihre Erträge damit steigern.
Kollege Schindler, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Höhn?
Ja, gerne. Wir streiten auch sonst, ohne Mikro.
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Diesmal sollen alle daran teilhaben. Deswegen benut-
zen Sie bitte das Mikrofon.
Danke schön. – Herr Schindler, Sie haben eben ge-
sagt, für diese ganzen Ausnahmen sei Rot-Grün verant-
wortlich. Ist Ihnen bekannt, dass vor wenigen Wochen
das Oberlandesgericht Düsseldorf ein Urteil zu den
Netzdurchleitungsgebühren gefällt hat? Einige hatten
geklagt, und das Gericht hat festgestellt: Die Ausnah-
men, die die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb, geschaf-
fen hat, sind überbordend, und deshalb müssen wir sie
stoppen. Ist Ihnen das bekannt?
Ja.
Ist Ihnen bekannt, dass die EU jetzt ein Beihilfever-
fahren gegen die Bundesregierung wegen der Ausnah-
men bei den Netzgebühren gestartet hat, weil die unter
Schwarz-Gelb geschaffenen und ausgeweiteten Ausnah-
men der EU zu weit gehen?
Sind Ihnen diese beiden Vorgänge bekannt?
Ist Ihnen bekannt, Frau Kollegin Höhn,
dass Peter Altmaier auch mit Blick auf die Besitzständeder Industrie Reduzierungsvorschläge gemacht hat?
– Das war vor diesem Gerichtsurteil. Die zeitliche Ab-folge war so. Ich habe noch kein Alzheimer.
Ich will abschließend sagen – das gilt für jeden Inves-tor; ich verweise darauf nicht nur wegen der Kostenbe-lastung insgesamt –:
Man sollte die Finger von Investitionen in Anlagen aneinem Standort unter 6 Metern pro Sekunde lassen. Aberdie Verkäufer dieser Anlagen haben keine Hemmungen– in der Sprache des Landwirts –, die letzte Kuh in Zah-lung zu nehmen, um die Melkmaschine zu verkaufen.Darum geht es in der Debatte.Nun zu dem, was wir in den Ländern draußen erleben.Da gibt es ja sogar rot-grüne Vorwürfe gegenüber Berlin.Ich verweise nur auf Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg; ich bleibe bei den beiden Bundesländern,die ich über den Rhein hinweg sehe; da wohne ich. Ba-den-Württemberg schlägt zur Energiewende vor: 70 Pro-zent Biomasse. Rheinland-Pfalz schlägt vor: 17 Prozent.Rheinland-Pfalz schlägt im Bereich Windenergie vor:60 bis 70 Prozent. Baden-Württemberg dagegen: 9 bis10 Prozent.Nun kommt also Rot-Grün – bei 16 Programmen derBundesländer! –
und wirft Peter Altmaier oder der Bundesregierung vor,kein Konzept zu haben. Mit diesen Vorschlägen erzeugtihr mehr Durcheinander, als in einem unruhigen Kinder-garten herrscht.
Das Gleiche haben wir in Schleswig-Holstein erlebt.Schleswig-Holstein will die Stromerzeugung aus Wind-energie auf das Siebenfache ausbauen.
Herr Heil, dann sorgen Sie aber auch dafür, dass dieGenehmigungsverfahren für die Durchleitungsrechtedurchgeführt werden!
Wer hat denn die Subventionierung entlang der Auto-bahnen und sonstigen Verkehrsstrecken 2008 unterSigmar Gabriel maßgeblich durchgesetzt, gegen meinenpersönlichen Widerstand?
Das war die schwarz-rote Koalition. Die Bundesländernutzen das jetzt aus.
Daraus können Sie mir doch keinen Vorwurf machen.
Betriebswirtschaftlich hat jeder richtig investiert, ob inPhotovoltaik oder in Windräder, weil er einen Ertraghatte. So haben es die Bundesländer vor Ort auch umge-setzt. Jetzt den Vorwurf zu erheben, Peter Altmaier habekein Konzept,
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Norbert Schindler
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das geht nicht. Wenn wir uns jetzt nicht an einer gemein-samen Linie orientieren, steigen im nächsten und über-nächsten Jahr die Strompreise allein durch die EEG-Umlage, unabhängig von der Stromsteuer,
auf über 7 oder 8 oder 9 Cent. Und was machen wirdann? Dann dreht sich die gesamte Stimmung.
– Die Vorschläge hat Peter Altmaier gemacht.
Kollege Schindler, ich unterbreche den Austausch
zwischen Ihnen und Herrn Heil nur ungern, aber Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Ich hoffe, die Vernunft der
Bundesländer wird heute Abend bei der gemeinsamen
Debatte und der Lösungsfindung zum Tragen kommen.
Was wir für wenige Investoren, die große Profite haben,
Lieschen Müller bei der EEG-Umlage zumuten, kann
man durch die Stromsteuerabsenkung – das macht
0,5 Cent pro Kilowattstunde aus – nicht ausgleichen.
Das ist absolut nicht der richtige Weg, weil dann wieder
die Leistungsträger – es sind nur 38 bis 40 Prozent, die
Steuern zahlen – das schultern müssen.
Das ist wieder genau der Neideffekt. Den hatten wir
auch schon, als es um Maßnahmen gegen die kalte Pro-
gression ging. Wir können doch nicht gegen besseres
Wissen argumentieren.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Groneberg für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! HerrSchindler, ich schätze Sie sehr,
aber: Dieses Engagement, das Sie gerade gezeigt haben,würde ich mir von Ihnen wünschen, wenn es darum geht,dass trotz der hohen Gewinne der Stromkonzerne, dieAtomkraftwerke betreiben, der Steuerzahler letztendlichdie Entsorgungskosten finanzieren muss. Die Entsor-gung wird ja nicht von den Energiekonzernen gemacht.
Ich weiß, dass das Thema „Energie und Energiesi-cherheit“ bei Ihnen mittlerweile überaus unbeliebt ist,weil das kein Feld ist, auf dem Sie sich profilieren kön-nen, und kein Thema, mit dem Sie gewinnen. Es ist wieimmer in den letzten Wochen, wenn wir an diesemThema gearbeitet haben: Sie sagen, dass Sie die Energie-wende wollen. Sie beklagen die hohen Strompreise.Aber Sie handeln nicht. Offensichtlich sind Sie wirklichnicht willens und nicht in der Lage, zu handeln. ImZweifelsfall streiten Sie lieber untereinander, und dieStrompreise steigen derweil. Sie haben auch gleich einenSündenbock dafür gefunden. Sie verunglimpfen dasEEG als Preistreiber – und das in dem Wissen, dass das,was Sie hier erzählen, so nicht richtig ist. Man nehmenur Ihre eigenen Aussagen aus den Fragestunden oderdas, was der Kollege Hempelmann vorhin aus dem Inter-netauftritt des Bundesministeriums für Umwelt ganz an-schaulich geschildert hat.Neuerdings ziehen Sie durch das Land und sagen, Siewollen die Ausnahmeregelungen für die Industrie zurBefreiung der EEG-Umlage überprüfen und eine Strom-preisbremse einführen. Gut, die Worte höre ich wohl,allein mir fehlt der Glaube. Ist es nicht so, dass Sie imOktober letzten Jahres verkündet haben, ein Forschungs-vorhaben in Auftrag zu geben, welches bis zum 31. Juli2014 – wohlgemerkt: 2014 – abgeschlossen sein soll, umfestzustellen, wie es sich mit den ganzen Ausnahmerege-lungen verhält? Bis dahin ist es noch lange hin. Im Zwei-felsfall werden Sie nicht mehr regieren.Das es nicht hilft, wenn wir Ihnen dies vorhalten, zi-tiere ich aus der Rede von Sven Morlok, Staatsministerin Sachsen, nicht unserer Fraktion zugehörig,
sondern eher auf der Regierungsseite zu finden. Im Ok-tober letzten Jahres sagte er im Deutschen Bundestag:An die Adresse der Bundesregierung möchte ichfolgende Worte richten: Herr Altmaier, ich habeIhren Maßnahmenplan gelesen. Ich muss jedochdeutlich sagen: Verschonen Sie uns mit neuen Gut-achten auf Kosten der Steuerzahler. Diese brauchenwir nicht mehr.Jetzt kommt es ganz dicke:
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Gabriele Groneberg
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Die Bundesregierung leidet nicht an einem Mangelan Gutachten, sondern an einem Mangel an Ein-sicht.Dem ist ja wohl nichts mehr hinzuzufügen.
Herr Meierhofer, im Gegensatz zu Ihnen haben wirVorschläge gemacht. Leider fehlt uns zurzeit die Mehr-heit in diesem Hause.
Wenn Sie an eigenen Vorschlägen nicht arbeiten odernicht arbeiten können, so können Sie unsere nehmen.Wir haben nichts dagegen. Wir würden denen dann sogargerne zustimmen. Offensichtlich sind die Regierungs-koalitionen aus CDU/CSU und FDP in den Ländern re-alistischer als diese Bundesregierung. Wir werden sehen,was heute dabei herauskommt, auch wenn dem schonvorgegriffen wurde, indem Herr Altmaier sagte: Heutekommt nichts heraus.Ich zitiere an dieser Stelle noch einmal aus der Reded
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als Sofortmaßnahme muss die Stromsteuer zum1. Januar 2013– mittlerweile abgelaufen –reduziert werden, und zwar auf das europäischeMindestniveau.Na bitte, unsere Vorschläge gehen auch in diese Rich-tung. Warum machen Sie das nicht hier?
Es ist doch so, dass der Staat zurzeit rund 1 MilliardeEuro Mehreinnahmen pro Jahr über die Stromsteuer ge-neriert. Da wäre es doch vernünftig, dieses Geld denVerbraucherinnen und Verbrauchern im Energiebereichzurückzugeben.Der Anlass der heutigen Debatte sind jedoch drei An-träge der Linken sowie unsere Große Anfrage zur Ener-giewende und deren Kosten für die Verbraucherinnenund Verbraucher. Es ist richtig, es gibt in Deutschlandimmer mehr Haushalte, denen der Strom gesperrt wird,weil sie nicht zahlen können. Gründe für die Zahlungs-unfähigkeit sind zum einen sicherlich in den hohen Ener-giekosten zu finde, aber eben nicht ausschließlich. IhreVorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen von denLinken, um diese Misere zu beheben, halten wir zumin-dest in großen Teilen für nicht zielführend. Im Aus-schuss haben wir über diese Vorschläge diskutiert undsie abgelehnt. Wir lehnen sie deshalb ab, weil wir dage-gen sind, neue und vor allen Dingen komplexe Subven-tionstatbestände einzuführen. Sie sind nicht zielführend.Man sollte sich das gründlich überlegen. Ich berufe michauf ein Gutachten von Prognos, aus dem ich auch zitie-ren möchte:Einkommensschwache Haushalte werden mit bis zu8,3 % des verfügbaren Nettoeinkommens stärkerdurch Haushaltsenergiekosten belastet als Haus-halte mit durchschnittlichem und überdurchschnitt-lichem Einkommen. …Sozialtarife …– das ist die Konsequenz, die daraus gezogen wird –haben sich in der Praxis jedoch nicht bewährt. DiePrivatisierung des Strommarkts und die zuneh-mende Anzahl von Anbietern, die ausschließlichüber das Internet kommunizieren, erschwert Verein-barungen mit sämtlichen Stromanbietern einesNetzgebiets zugunsten von einkommensschwachenPersonen.Viele sind ja auch – das sage ich Ihnen – gar nichtmehr in der Lage, diesen Markt mit rund 1 000 Strom-anbietern und 800 Gasanbietern überhaupt noch zuüberblicken. Wer soll das denn noch übersehen können?Darüber hinaus wurden mangelnde Anreize zuEnergieeinsparung und Klimaschutz durch Sozial-tarife kritisiert.Diese Argumente sind zu erwägen. Sozialtarife kannman nicht einsetzen, wenn man keine Spartarife verwen-det.Deswegen plädiert unsere Fraktion dafür, dass mangerade für den Bereich der einkommensschwachenHaushalte Wert auf Energieberatung legt. Es machtSinn, solche Projekte, wie sie zum Beispiel von der Ca-ritas gemacht werden, zu unterstützen und zu fördern.Das ist sicherlich zielführender, als von vornherein nurauf eine reine Subventionierung der Strompreise hin-auszuwollen.Es ist im Übrigen nicht der Strompreis allein, der denMenschen zu schaffen macht, sondern es sind auch dieübrigen Kosten, etwa für Heizung oder für Mobilität.Diese werden vor allen Dingen durch konventionelleEnergieträger verursacht. Deren Preis steigt genausomassiv, und das hat mit den erneuerbaren Energiennichts zu tun.Herr Nüßlein, ich finde das, was Sie in Ihrer Rede imNovember des letzten Jahres gesagt haben, dass nämlichdie Energiekosten die Sozialhilfeträger übernehmen soll-ten, viel zu billig. Was ist das denn schon wieder für einVerschiebebahnhof? Sollen die Kommunen, die schongenug Schwierigkeiten haben, ihre Infrastruktur auf-rechtzuerhalten, in Zukunft auch noch dafür zahlen, dassdie Bundesregierung nicht in der Lage ist, Maßnahmenzu ergreifen, damit der Strompreis nicht übermäßigsteigt?Ich bin der Ansicht: Wir brauchen eine andere Regie-rung. Daran werden wir arbeiten. Sie sind offensichtlichnach wie vor konzeptionslos. Sie sind nicht bereit, Ener-gieeffizienz zu unterstützen, energieeffiziente Geräteund Fahrzeuge auf dem Markt zu platzieren bzw. ersteinmal deren Entwicklung bis zur Einsatzreife zu unter-stützen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28815
Gabriele Groneberg
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Ich setze meine Hoffnungen auf den Bundesrat mitseiner starken rot-grünen Mehrheit, denn hier im Bun-destag ist in der Beziehung mit Ihnen absolut kein Staatzu machen.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Franz
Obermeier für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte versuchen, zusammenzufassen, was heute debat-tiert wurde.
Als Erstes möchte ich dem Kollegen NorbertSchindler ausdrücklich danken,
dass er das System der Umverteilung von unten nachoben plastisch dargestellt hat. Vielen Dank!
– Norbert Schindler ist in diesem Fall als Unternehmeroben.Zweitens. Uns gelingt es nicht, diese Dinge so in denGriff zu bekommen, dass man sie vernünftigerweiseverantworten kann.Ich will nur daran erinnern, welche Horrorbotschaftendie Opposition in den zurückliegenden Jahren ausge-sandt hat, als wir gesagt haben, dass wir die Vergütungs-sätze kappen bzw. herunterfahren müssen, weil sie fürdie deutsche Volkswirtschaft nicht mehr finanzierbarsind. Jetzt haben wir einen Umlagesatz von 5,27 Centpro Kilowattstunde, und alle klagen über die hohenPreise. Dabei wird viel zu wenig diskutiert, dass derPreisanstieg im Prinzip systemimmanent ist; er liegt imSystem.
Herr Bundesumweltminister, wir müssen es schaffen,diesen systembedingten Mangel so zu korrigieren, dassdie Preise nicht weiter so rasch ansteigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem bestehtschlicht und einfach darin, dass der Ausbau der erneuer-baren Energien jedenfalls in den vergangenen zweiJahren viel zu rasch vorangeschritten ist und wir bei dervernünftigen Nutzung des aus erneuerbaren Energien er-zeugten Stroms nicht nachgekommen sind. Die Bürge-rinnen und Bürger unseres Landes haben kein Verständ-nis dafür, dass wir den Ökostrom teilweise an Polen unddie Beneluxstaaten verschenken, mitunter sogar dafürzahlen, dass sie uns den Strom abnehmen, und die Kos-ten auf die Verbraucher hierzulande umgelegt werden.
Das ist ein Missstand, dem wir gemeinsam abhelfenmüssen.
Das, was Sie als Opposition hier leisten, stellt allerdingskeinen Beitrag zur Problemlösung dar.
Kolleginnen und Kollegen, ich will bei der Gelegen-heit noch darauf hinweisen, dass es bei diesem Themakeine Tabus geben darf.
Dass wir zum Beispiel heute noch jedem, der gemäßEEG einen Antrag zur Förderung von Strom aus erneu-erbaren Energien stellt, die Einspeisevergütung für20 Jahre garantieren, müssen wir zur Diskussion stellen.
– Sie sagen, wir sollten es ändern. Ich erinnere an all das,was beim Bundesrat liegt und was Sie dort über Monateaus rein parteipolitischen Gründen blockieren.
Und dann reden Sie mir hier ins Gewissen und sagen,wir sollten einen Vorschlag einbringen! Der Vorschlagwürde im Bundesrat seitens der Opposition aus wahl-kampftechnischen Gründen sofort abgelehnt.
Kolleginnen und Kollegen, ich appelliere auch vor ei-nem anderen Hintergrund an die Opposition: Das, waswir heute diskutieren, nämlich der weitere Aufwuchs beiden Vergütungen nach dem EEG, zu dem es wahrschein-lich im Herbst kommt,
ist nur ein Teil dessen, was uns in den nächsten Monatennoch erhebliche Sorgen machen wird. Es geht hier auchum die Umlage bei den Netzentgelten. Ich führe jetztnicht die Scheindebatte – sie kommt hauptsächlich vonden Grünen –, dass wir die ganzen Strompreisexzessemit den Befreiungen von der Umlage auslösen. Die Lü-gen, Frau Höhn, die die Grünen über Wochen im deut-schen Volk und in den Medien verbreitet haben,
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28816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Franz Obermeier
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sind längst widerlegt.
Ich will vielmehr darauf zu sprechen kommen, dass esdurch den Ausbau der Übertragungsnetze und der Ver-teilnetze zu einem weiteren Aufwuchs beim Strompreiskommen wird.
Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Höhn?
Nein. Frau Höhn hat ihre Ansprache schon gehalten.
Sie kann nachher eine Intervention machen.
Ich will nur sagen: Wenn es uns nicht rasch gelingt,
den Aufwuchs bei den EEG-Vergütungen und bei den
Netznutzungsentgelten so zu begrenzen, dass es zu kei-
nem volkswirtschaftlichen Schaden kommt, der über den
hinausgeht, der schon angerichtet ist, dann werden wir
unser Ziel der Gesundung der öffentlichen Haushalte
bald infrage stellen müssen. Wenn es dazu kommt, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
dann nutzt es Ihnen nichts; das nutzt auch den Koali-
tionsfraktionen nichts. Der Geschädigte wird das deut-
sche Volk sein.
Wir haben uns verpflichtet, die Dinge vernünftig zu
regeln, und das gilt auch für die Opposition, vor allem
dann, wenn sie im Bundesrat eine Mehrheit hat.
Vielen Dank.
Die Kollegin Bärbel Höhn hat das Wort zu einer
Kurzintervention.
Herr Obermeier, Sie haben eben über mich als Person
gesagt, ich sei eine Lügnerin, ich hätte gelogen. Ich er-
warte von Ihnen, dass Sie sich hier in diesem Moment
entweder entschuldigen oder aber klar aufzeigen, wo ich
gelogen haben soll. Wir haben alle Ausnahmetatbe-
stände in allen Unterlagen klar dargestellt. Die entspre-
chenden Listen sind öffentlich. Sie wollen die Tatsachen
nicht hören. Dass Sie mich dann hier einfach der Lüge
bezichtigen, das weise ich zurück.
Es ist eine Unverschämtheit, nicht einmal meine Zwi-
schenfrage oder Bemerkung zuzulassen, obwohl Sie sel-
ber hier Vorwürfe gegen mich erheben, die nicht begrün-
det sind.
Kollege Obermeier, wünschen Sie das Wort? – Dann
haben Sie es jetzt.
Frau Höhn, da haben Sie sicher etwas missverstan-
den.
Ich habe mich vorhin auf die Lüge der Grünen bezogen
– auch auf Ihre Äußerungen –, dass die Befreiung von
Teilen der deutschen Wirtschaft von der Zahlung der
Umlage für den Aufwuchs der Strompreise, für die Ent-
wicklung in diesem Bereich relevant ist.
Das war meine Aussage. Alles andere haben Sie frei er-
funden. Vielleicht plagt Sie das Gewissen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/12840 mit demTitel „Stromsteuer senken für eine konsequent sozial-ökologische Energiewende“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerAntrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abge-lehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktion Die Linke mit dem Titel „Energiewende so-zial gestalten – Bezahlbare Strompreise gewährleisten“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28817
Vizepräsidentin Petra Pau
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auf Drucksache 17/11704, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 17/10800 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-men.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Technologie zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Energiewende sozial gestalten – Strom-sperren gesetzlich untersagen“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12767,den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/11655 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derUnionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktiongegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Wirtschaft und Technologie zu dem Entschließungs-antrag der Fraktion der SPD zur Antwort der Bundesre-gierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD mitdem Titel „Die Energiewende – Kosten für Verbrauche-rinnen, Verbraucher und Unternehmen“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/12874, den Entschließungsantrag der Fraktion derSPD auf Drucksache 17/12538 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegendie Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Frak-tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenangenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 g sowiedie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-gelung des gesetzlichen Messwesens– Drucksache 17/12727 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung von Rechtsvorschriften des Bundes in-folge des Beitritts der Republik Kroatien zurEuropäischen Union– Drucksachen 17/12769, 17/12852 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten DietmarNietan, Axel Schäfer , Michael Roth
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten ManuelSarrazin, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZivilgesellschaft stärker an EU-Beitrittspro-zessen beteiligen– Drucksache 17/12821 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschussd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Graf , Wolfgang Gunkel,Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenVolker Beck , Ute Koczy, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENMenschenrechtslage und humanitäre Situa-tion in der Westsahara verbessern und Klä-rung des völkerrechtlichen Status voranbrin-gen– Drucksache 17/12822 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unione) Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAbhängigen helfen – Substitutionstherapie er-leichtern– Drucksache 17/12825 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEWHO-Tabakrahmenkonvention umsetzen –Vollständiges Tabakwerbeverbot einführen– Drucksache 17/12838 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzg) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweKekeritz, Markus Kurth, Thilo Hoppe, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRechte von Menschen mit Behinderungen inder deutschen Entwicklungszusammenarbeitsichern und Inklusion weltweit ermöglichen– Drucksache 17/12844 –
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28818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsidentin Petra Pau
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ElviraDrobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm,Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKennzeichnung von Honig mit Gentech-Pollensicherstellen – Schutz der Imkerei vor GVO-Verunreinigungen gewährleisten– Drucksache 17/12839 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangGehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Waffenlieferungen an Syrien– Drucksache 17/12824 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussEs handelt sich hier um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 k sowiedie Zusatzpunkte 5 a bis 5 j auf. Es handelt sich um dieBeschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 37 a:– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Abschaffung des Branntwein-
– Drucksache 17/12301 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 17/12765 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Thomas Gambke
– Drucksache 17/12766 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BrackmannCarsten Schneider Otto FrickeDr. Gesine LötzschDr. Tobias LindnerDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/12765, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12301 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 37 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungZweite Verordnung zur Änderung der Depo-nieverordnung– Drucksachen 17/12454, 17/12583, 17/12853 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12853, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 17/12454 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenangenommen.Tagesordnungspunkte 37 c bis 37 k sowie Zusatz-punkte 5 a bis 5 j. Wir kommen damit zu den Beschluss-empfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 37 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 553 zu Petitionen– Drucksache 17/12713 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28819
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 553 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 37 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 554 zu Petitionen– Drucksache 17/12714 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 554 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 37 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 555 zu Petitionen– Drucksache 17/12715 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 555 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 556 zu Petitionen– Drucksache 17/12716 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 556 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 37 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 557 zu Petitionen– Drucksache 17/12717 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 557 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion, derFraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 37 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 558 zu Petitionen– Drucksache 17/12718 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 558 ist gegen dieStimmen der SPD-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 37 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 559 zu Petitionen– Drucksache 17/12719 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 559 ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktio-nen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 560 zu Petitionen– Drucksache 17/12720 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 560 ist gegen dieStimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 561 zu Petitionen– Drucksache 17/12721 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Zusatzpunkt 5 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 562 zu Petitionen– Drucksache 17/12860 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig an-genommen.Zusatzpunkt 5 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 563 zu Petitionen– Drucksache 17/12861 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 563 ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Zusatzpunkt 5 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 564 zu Petitionen– Drucksache 17/12862 –
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28820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 564 ist einstimmig an-genommen.Zusatzpunkt 5 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 565 zu Petitionen– Drucksache 17/12863 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 565 ist gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-men.Zusatzpunkt 5 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 566 zu Petitionen– Drucksache 17/12864 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 566 ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 567 zu Petitionen– Drucksache 17/12865 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 567 ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktio-nen angenommen.Zusatzpunkt 5 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 568 zu Petitionen– Drucksache 17/12866 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 568 ist gegen dieStimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Zusatzpunkt 5 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 569 zu Petitionen– Drucksache 17/12867 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 569 ist gegen dieStimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linkeangenommen.Zusatzpunkt 5 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 570 zu Petitionen– Drucksache 17/12868 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 570 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derSPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Zusatzpunkt 5 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 571 zu Petitionen– Drucksache 17/12869 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 571 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKESicherheit der Sparguthaben in EuropaIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was dieBundesregierung in Bezug auf Zypern angerichtet hat,ist eine politische Katastrophe, und zwar nicht nur einefinanzpolitische, sondern auch eine allgemeinpolitischeKatastrophe.
Sie haben das Vertrauen der Europäerinnen und Euro-päer, auch das der Deutschen, hinsichtlich der Spargut-haben schwer zerstört.Das Problem besteht darin, dass auf einer Tagung, ander auch Bundesfinanzminister Schäuble teilgenommenhat, en détail abgesprochen wurde, dass alle Kleinspare-rinnen und Kleinsparer 6,75 Prozent zu bezahlen hättenund die Besitzer etwas größerer Sparkonten 9,9 Prozent.
– Wie bitte?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28821
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
– Ich sage nicht, dass er das vorgeschlagen hat, aber erhat das genehmigt und gebilligt.
Das hat er auch bei uns erklärt. Weil er das genehmigtund gebilligt hat, musste später eine Telefonkonferenzder EU-Finanzminister stattfinden, um sich auf etwasanderes zu einigen. Wenn man Zypern gleich gesagthätte: „Den Weg müsst ihr alleine finden“, wäre das jagar nicht nötig gewesen. Aber genau das hat man ebennicht gesagt. Man hat das bis ins Detail vereinbart. Da-mit hat die Bundesregierung auch allen Sparerinnen undSparern in Deutschland, egal ob sie bei der Raiffeisen-bank, der Sparkasse oder wo auch immer sind, gesagt:Es kann euch passieren, dass wir euch an einem Wo-chenende 7 oder auch 10 Prozent von euren Spargutha-ben abziehen. – Das ist eine Katastrophe.
Die Bundesregierung hat dadurch nicht nur, wie sie dasimmer nennt, das Vertrauen in die Märkte untergraben,sondern auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgerinsgesamt, und zwar, wie gesagt, nicht nur in Zypern.
Ich bin übrigens sehr zufrieden damit, dass die Men-schen in Zypern Widerstand an den Tag legen. Dassnicht nur die Linke dagegen gestimmt hat – das war jaklar –, sondern sich auch die Konservativen nicht getrauthaben, dafür zu stimmen – sie haben sich der Stimmeenthalten –, das finde ich gut.
Sie finden das bedauerlich. Sie hätten den Sparerinnenund Sparern gerne das Geld abgezogen. Wir nicht. Dasist der Unterschied, meine Damen und Herren von derFDP.
– Ich wusste, dass Sie sich so aufregen, aber ich kanndoch nichts für Ihre Schandtaten. Sie müssten sich übersich selbst aufregen, nicht über uns.
Herr Schäuble – das müssen Sie sich einmal überle-gen – sagte im Fernsehen: Wir mussten das am Wochen-ende machen, damit man vorher nichts erfährt. – Wassagt er denn damit? Damit sagt er den Sparerinnen undSparern: Wenn es kommt, kommt es für euch völligüberraschend. Ihr werdet es vorher nicht erfahren, damitniemand etwas abhebt.
Was soll denn jetzt die Schlussfolgerung für die Spa-rerinnen und Sparer sein? Sie werden sich sehr genauüberlegen, wo sie ihr Geld künftig anlegen. Das Ver-trauen in die Banken war schon verspielt, jetzt ist auchdas Vertrauen in die Politik verspielt. Sie sind mit die-sem Ansinnen gescheitert.
Nun wissen wir nicht, wie das Neue aussehen wird;aber man kann es ahnen. Es gibt eine Agenturmeldung.Danach ist Folgendes geplant: Es soll ein Fonds fürStaatsanleihen gebildet werden. Diesen Fonds sollen dieKirchen, die Pensionskassen und andere Organisationenbezahlen. Das heißt, es sollen – wenn ich das richtig ver-stehe – Schulden gemacht werden, um Schulden zu be-gleichen. Dann haftet man gegenüber den Kirchen, denPensionskassen und anderen Einrichtungen. Die Staats-anleihen müssen auch erst einmal verkauft werden. Da-hinter setze ich noch ein Fragezeichen. Ich lasse das aberalles dahingestellt sein. Dann sollen Inhaber von Spar-guthaben von über 100 000 Euro – so heißt es jetzt; dasbetrifft also nicht mehr die ganz kleinen Sparerinnen undSparer, sondern die etwas größeren Sparguthaben – zurKasse gebeten werden.Ich frage Sie: Wie wollen Sie das eigentlich juristischerklären? Man schließt doch einen Vertrag mit der Bank.In dem steht, dass die Bank mein Geld gut aufbewahrt,dass ich sogar ein bisschen Zinsen bekomme. Nun heißtes übers Wochenende: Pustekuchen, du bekommstnichts, wir ziehen 10 Prozent von deinem Geld ab. – Dasklingt nach Bananenrepublik,
obwohl ich diese Art der Beleidigung Afrikas generellablehne.
Es ist überhaupt nicht zu fassen, was hier läuft.Dann stellen Sie wieder Bedingungen. Mit einer Be-dingung will ich mich auseinandersetzen: Zypern mussdie Häfen und die Telekommunikationseinrichtungenverkaufen. Es gibt bloß ein Problem: Das sind Unterneh-men, mit denen Zypern jedes Jahr Geld macht. Die sindnicht etwa marode. Nun zwingen Sie Zypern zum Ver-kauf – natürlich zu ganz billigen Preisen; das ist ja klar,wenn man sie zwingt. Damit verliert Zypern seine jährli-chen Einnahmen.Wir müssten ganz andere Wege gehen. Ich sehe aber,dass meine Zeit gleich herum ist. Deshalb sage ich Ihnennur so viel:Erstens. Wir müssten uns trauen, die beiden großenBanken in Insolvenz gehen zu lassen.
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28822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Gregor Gysi
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Zweitens. Wir müssten die Großaktionäre heranzie-hen. Das sind nämlich die Eigentümer der Banken.Wieso werden die immer geschont?
Wieso retten wir jede Bank, aber nie die Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler bzw. die Sparerinnen und Sparer?Drittens. Wir könnten dann das isländische Modellwagen und sagen: Wir frieren in Zypern große Spargut-haben aus dem Ausland erst einmal ein. Dann prüfenwir, wer da was warum angelegt hat. Es gibt übrigensdort nicht nur die Oligarchen aus Russland, sondernauch die Oligarchen aus Großbritannien.
Sie vergessen immer, die zu erwähnen. Da sind alsoWege offen.Gehen Sie doch endlich einmal an die Nutznießer derKrise heran. Ziehen Sie denen das Geld ab! VerlangenSie das nicht von den Steuerzahlerinnen und Steuerzah-lern und den kleinen Sparerinnen und Sparern.
Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Lieber Herr Gysi, was Sie gerade gemacht ha-ben, widerspricht eigentlich dem, was Sie mit der Ak-tuellen Stunde beantragt haben. Sie haben beantragt,über die Sicherheit der Sparguthaben in Europa zu re-den. Ich habe aber kein Wort darüber gehört.
Wir machen hier verantwortungsvolle Politik und kei-nen Populismus, so wie Sie, Herr Gysi, es tun.
Sie haben – auch wenn Ihre Fraktion in voller Mann-stärke vertreten ist – keinen einzigen konstruktiven Vor-schlag gemacht, wie man die Sparguthaben in Europa si-chern kann.
Sie haben über etwas gesprochen, was uns diese Wochesehr intensiv beschäftigt hat, Herr Gysi. Da gebe ich Ih-nen vollkommen recht.Ich habe noch den Zwischenruf einer Kollegin vonden Grünen im Ohr, die vorhin gesagt hat: Für Sie gilt je-des Argument, und Sie kämpfen gegen die Märkte. –Aber Sie sprechen in der heutigen Aktuellen Stunde da-von, dass man das Vertrauen in die Märkte sichern muss.Herr Dr. Gysi, die Linken widersprechen sich bei allem,was sie fordern. Ich glaube, das ist keine wirklich verant-wortungsvolle Politik.
– Ich glaube, ich habe sehr wohl und sehr gut zugehört.Ich weiß, was Sie gefordert haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Finanz-politiker arbeiten sehr intensiv daran, die Einlagen inEuropa zu sichern.
Wir haben das im europäischen Dialog gemacht und dieentsprechende Regelung in Deutschland angepasst. DieSpareinlagen sind, so wie es die Kanzlerin versprochenhat, sicher, in Deutschland, aber auch in Europa. Wirwollen dafür sorgen, dass auch Zypern seinen Beitragleisten kann, um diese Krise zu überstehen, und zwarverantwortungsvoll zu überstehen, nicht so, wie Sie,Herr Dr. Gysi, sich bei Ihrer Rede verhalten haben.Zum Hilfsantrag für Zypern. 18 Milliarden Euro, die-ser Betrag entspricht der Wirtschaftsleistung Zyperns;nur so viel kann die Volkswirtschaft Zyperns überhauptleisten. Es ist doch selbstverständlich, dass ein Landnicht allein aus Gründen der Solidarität in Europa18 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt bekommt,wenn die Schuldentragfähigkeit nicht gegeben ist.Ich habe die Aussagen einiger Politiker, die der Op-position im Deutschen Bundestag angehören, gelesen.Manche von ihnen haben gesagt – Herr Dr. Schick, Sieschauen mich gerade an; das gilt auch für Sie –, dassman auch die Bevölkerung von Zypern
– herzlichen Dank für diese Korrektur – und die dortigenSparerinnen und Sparer mit heranziehen muss.
Ich glaube, es ist wichtig, dass man die Bevölkerung be-teiligt, damit ein entsprechendes Bewusstsein wächst.Da Sie gerade den Bundesfinanzminister angespro-chen haben: Die Grenze von 100 000 Euro war bei derTagung der Finanzminister ein Thema. Man hat sich ent-schieden, Einkommen und vor allem Spareinlagen derBevölkerung unterhalb einer Grenze von 100 000 Euronicht anzutasten. Ich denke, dieser Aspekt hat in derdeutschen Diskussion eher dem Populismus und demWahlkampf als einer konstruktiven Diskussion gedient.In der Vorbereitung auf meine Rede habe ich gelesen,dass der Kanzlerkandidat der SPD in der Fraktionssit-zung trotz dieses so wichtigen Themas nicht einmal an-wesend war. Wenn diese Information stimmt, dann frage
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28823
Peter Aumer
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ich mich schon, ob die deutsche Opposition verantwor-tungsvolle Politik für Europa macht.
Das wird Ihrer Verantwortung nicht gerecht.Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzministerhaben vorgelegt, verantwortungsvolle Politik für unserLand gemacht und gezeigt, wie wichtig es für Europaund in Europa ist, die Solidarität aufrechtzuerhalten.Gleichzeitig haben sie allerdings gefordert, dass die Zy-prioten auch selbst einen Beitrag leisten. Wir müssen inEuropa die Balance zwischen Solidarität und Soliditäthalten.Ich kann den Wählerinnen und Wählern in meinemWahlkreis nicht erklären, warum man die Menschen inZypern von der Verantwortung völlig ausnehmen sollte.Schauen wir uns nur die Höhe der Zinssätze an: InDeutschland bekam man für zweijährige Anlagen zuletztcirca 1,5 Prozent Zinsen, in Zypern über 4 Prozent. Dagilt der Markt, Herr Gysi. Wenn man, bedingt durch hö-here Zinssätze, höhere Einkommen hat, muss man natür-lich auch das Risiko entsprechend berücksichtigen. Dastut die Bundesregierung.
– Das ist kein Unsinn.
Das sind wirtschaftliche Daten. Das ist Markt. Aber denMarkt haben Sie, meine sehr geehrten Damen und Her-ren von der Linken, noch nie verstanden.
Wir wollen unserer Verantwortung im Sinne der so-zialen Marktwirtschaft nachkommen. Wir schützen dieSparerinnen und Sparer in unserem Land.
Wir schützen auch die Sparer in Europa; das ist unsereAufgabe, und das ist der Auftrag, den wir haben.
– Das machen wir auch in Bayern.
Deswegen geht es uns in Bayern ja auch so gut: weil wirder Verantwortung für die Menschen in unserem Landnachkommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sieeine Aktuelle Stunde beantragen, dann reden Sie dochbitte auch zur Sache, und lassen Sie den Populismusweg! Das wird den Menschen und der Wichtigkeit desThemas nämlich nicht gerecht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Aumer, ich will einmal versuchen, zu erklären, wo-rum es geht und wo die Probleme liegen.Ludwig Erhard hat einmal gesagt: „Wirtschaft ist zu50 Prozent Psychologie.“ Eigentlich ist das falsch; dennder Prozentsatz liegt deutlich höher. Im Bereich der Ban-ken und im Zusammenhang mit dem Geld der Sparerin-nen und Sparer sind es nach meiner Einschätzung100 Prozent.Im Jahre 2008 haben die Bundeskanzlerin und der da-malige Finanzminister Peer Steinbrück eine öffentlicheErklärung abgegeben, die lautete: Die Spareinlagen derdeutschen Sparer sind sicher; wir garantieren dies. –Dieses Versprechen hat auch gewirkt: Es ist nicht zu dembefürchteten Bank-Run gekommen, sondern die Situa-tion hat sich beruhigt.Schaut man sich die Einlagensituation in Deutschlandan, stellt man fest, dass bei der Kreditwirtschaft insge-samt Einlagen in Höhe von 2,9 Billionen Euro liegen.Ein solches Versprechen – „Die Spareinlagen sind si-cher“ – kann nur dann funktionieren, wenn die Men-schen es auch glauben, wenn ein entsprechendes Ver-trauen da ist.Worauf beruht die Einlagensicherung eigentlich? Inallen entwickelten Ländern bestehen gesetzliche Rege-lungen. In der EU sind die Mindestanforderungen durcheine Reihe von Richtlinien geregelt, in Deutschlanddurch das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi-gungsgesetz. Seit Dezember 2010 sind 100 Prozent derEinlagen bis 100 000 Euro pro Person geschützt. Dane-ben gibt es Einlagensicherungssysteme der Banken; beiden Sparkassen sind es Institutssicherungssysteme.Nun hat es aber im Zusammenhang mit der Zypern-Krise einen Tabubruch gegeben, der letztendlich verant-wortlich war für das Scheitern des Rettungspaketes. DasErgebnis stundenlanger – man kann auch sagen: nächte-langer – Verhandlungen in Brüssel sah vor, dass alleKunden zyprischer Banken sich an der Rettungsaktion zubeteiligen haben. Sparer mit Einlagen bis 100 000 Eurosollten mit einer Zwangsabgabe zur Kasse gebeten wer-den. Dass Sparer mit einer Einlage über 100 000 Euroentsprechend herangezogen werden, versteht sich imFall von Zypern, glaube ich, von selbst, wenn man sicheinfach einmal anschaut: Wer legt dort an?
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28824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Manfred Zöllmer
(C)
(B)
Die Reaktion der Kanzlerin laut Spiegel Online – ichzitiere wörtlich –:Damit werden die Verantwortlichen zum Teil miteinbezogen und nicht nur die Steuerzahler andererLänder. Ich finde, das ist richtig.Anschließend gab es eine heftige Diskussion, weil derEindruck entstanden war: Die Einlagensicherung gilt fürKleinsparer in Zypern nicht. – Wir haben dann vonseitender Bundesregierung ein einzigartiges Schauspiel erlebt,das Schauspiel der zwei Verantwortlichkeiten.
Diese Bundesregierung in der Person von KanzlerinMerkel und Finanzminister Schäuble feiert sich ja gerneselbst als Euro-Retter. Ich erinnere mich noch sehr genauan die legendären Worte von Herrn Kauder: „Jetzt wirdin Europa Deutsch gesprochen.“
Erstaunlicherweise hört man nach dem Zypern-Debakelnun eine andere Geschichte, die da lautet: Im Fall vonZypern wird in Europa Griechisch gesprochen.Mit diesem Ergebnis hatten die Bundeskanzlerin undder Finanzminister angeblich überhaupt nichts zu tun.Herr Schäuble legt in seinen Interviews größten Wert aufdie Feststellung, alles sei nur der Wunsch der Zyprer ge-wesen. Nur, wer einmal genauer hinschaut, stellt fest: Eswar an dem entsprechenden Tag eine Schlussrunde unterBeteiligung des deutschen Finanzministers, in der dieseBedingungen beschlossen worden sind. Er wird sich ab-gestimmt haben mit der Bundeskanzlerin; er saß sozusa-gen stellvertretend für sie mit am Tisch. Das heißt, HerrSchäuble hat den Vorschlag Zyperns, auch die Klein-sparer zu schröpfen, akzeptiert.
Ohne eine deutsche Zustimmung hätte es diesen im End-effekt desaströsen Vorschlag nicht gegeben.
Die politische Verantwortung dafür tragen Frau Merkelund Herr Schäuble.
Diese Verantwortung bezieht sich nicht nur auf dasDesaster in Zypern. Die Euro-Krise ist dadurch leiderauf einen Schlag mit voller Wucht wieder zurückge-kehrt. Mit der Akzeptanz dieses Vorschlags wurden Kol-lateralschäden weit über Zypern hinaus verursacht: DasVertrauen der europäischen Sparerinnen und Sparer indie Einlagensicherung wurde nachhaltig beschädigt. Wergarantiert eigentlich den Menschen in Spanien, dass inkurzer Zeit nicht auch dort die Kleinsparer für marodeBanken haften müssen?Auch in Deutschland hat es aufgeregte Diskussionengegeben. Das Krisengerede ist auch in Deutschland zu-rück. Dies hat die Bundesregierung zu verantworten.
Das Wichtigste ist Vertrauen. Dieses Vertrauen hat dieBundesregierung durch dilettantisches Verhandeln nach-haltig beschädigt.
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, es ist notwendig, dass wir den Menschen inDeutschland sagen, worum es geht, und nicht Nebelker-zen zünden und irgendwelche Geschichten erfinden.
Ich finde es unverantwortlich, in einer Krise, in der Ver-trauen so viel zählt, durch falsche Äußerungen zu versu-chen, Vertrauen zu zerstören.
Viele Bürgerinnen und Bürger schauen uns zu undfragen sich: Was ist jetzt mit den Spareinlagen? Deswe-gen sage ich ganz klar: Die Spareinlagen in Deutschlandsind sicher.
Die Einlagensicherung ist in der BundesrepublikDeutschland selbstverständlich voll gewährleistet.
Wir haben eine Einlagensicherung, die europäisch ge-regelt ist. Damit sind bis zu 100 000 Euro pro Anlegerabgesichert. In Deutschland gibt es dafür die Entschädi-gungseinrichtung der deutschen Banken für die Privat-banken, es gibt die Entschädigungseinrichtung des Bun-desverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands, unddie Sparkassen und Genossenschaftsbanken haften in ih-ren Verbünden gegenseitig für die Spareinlagen.Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, einenZweifel daran zu haben, dass in Deutschland bis zu100 000 Euro pro Anleger sicher sind. Dahinter stehtauch noch der deutsche Staat, die BundesrepublikDeutschland, die die beste Bonität und jederzeit Zugangzu den Kapitalmärkten hat und zum Glück auch eineRegierung, die den Haushalt konsolidiert und mit wachs-tumsfreundlicher Politik Rekordsteuereinnahmen ermög-licht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28825
Dr. Volker Wissing
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Deswegen muss sich in Deutschland keiner Sorgenum seine Spareinlagen machen.
– Wenn Sie Unsinn in dieses Plenum hineinrufen
und in der Öffentlichkeit Unsinn verbreiten, dann sindSie diejenigen, die meinen, Trittbrett fahren und hierVertrauen zerstören zu können,
um billigen Populismus zu betreiben.
Das ist schäbig und unverantwortlich. Das werden Ihnendie Bürgerinnen und Bürger nicht honorieren.
Ich komme jetzt zu Zypern. Liebe Bürgerinnen undBürger, die Sie uns auch an den Bildschirmen zu-schauen, was ist in Zypern los? Das Land braucht Fi-nanzhilfen in Höhe von 17 Milliarden Euro, die es sicham Kapitalmarkt nicht mehr leihen kann. Warum nicht?Weil die Märkte kein Vertrauen mehr in Zypern haben.Das Land hat einen maroden Bankensektor, der im Übri-gen exorbitant hohe Zinsen gezahlt hat und damit in er-heblichem Maße Einlagenkapital in das Land gezogenhat. Wer in Zypern Geld angelegt hat, konnte seit 2008allein durch Spareinlagen 31 Prozent Gewinn machen.Seit Beginn der Finanzkrise konnte man in Zypern31 Prozent Gewinn durch Sparzinsen erreichen!Jetzt stehen die Banken in einer Schieflage. Das Landkann nicht helfen, weil es keinen Zugang zum Kapital-markt hat. Zypern bekommt die 17 Milliarden Euronicht.Dafür haben wir in Europa vorausschauend Vorsorgegetroffen. Wir haben ein Sicherungssystem, das in die-sen Fällen einem Land, das keinen Zugang zum Kapital-markt hat, Hilfe leisten kann. Diese Hilfe kann aber nurin Form eines Kredits geleistet werden. Eine Vorausset-zung für Hilfen an Zypern ist, dass Zypern durch dieseKredite seine Schuldentragfähigkeit nicht verliert.Die Experten vom IWF, von der EZB und auch vonder Europäischen Kommission haben berechnet, dassZypern einen Kredit von maximal weiteren 10 Milliar-den Euro bekommen kann. Es bleibt eine Lücke von7 Milliarden Euro. Diese Lücke muss Zypern jetzt auseigener Kraft schließen. Das Land kann kein Gelddrucken; das ist im Euro-System verboten. Das Landkann diese Lücke von 7 Milliarden Euro nur schließen,indem es Steuern erhebt.Von Zypern selbst kam der Vorschlag – Herr Gysi, esist nicht wahr, dass der Vorschlag von Deutschland odersonst jemandem kam –,
diese Lücke von 7 Milliarden Euro durch Steuern zuschließen, nämlich einmal durch eine Kapitalertrag-steuer, die etwa 1 Milliarde Euro bringt, und durch eineVermögensteuer auf Spareinlagen. Das ist übrigens einKonzept für die Vermögensteuer, die die Linken auch fürDeutschland vorschlagen.
Damit erreicht man in der Summe die fehlenden 7 Mil-liarden Euro.Dann hat Zypern gefragt: Seid ihr als Euro-Gruppeeinverstanden, dass wir diese 7 Milliarden Euro durchSteuern, die wir in Zypern selbst festlegen, erbringen?Dagegen kann niemand etwas haben. Wie die Steuern er-hoben werden und von wem diese Steuern erhoben wer-den, das entscheidet jeder souveräne Staat selbst.
Deswegen war das eine Entscheidung der zyprischenRegierung. Es war die zyprische Regierung, die diesenVorschlag in das dortige Parlament eingebracht hat, undniemand sonst in Europa.
Jetzt hat das dortige Parlament den Vorschlag der ei-genen Regierung abgelehnt. Damit sind wir wieder da,wo wir waren. Wir dürfen einen Kredit von maximal10 Milliarden Euro geben, 7 Milliarden Euro fehlen also.Damit steht die Hilfe für Zypern infrage. Das ist die Si-tuation. Wir können nicht mehr als 10 Milliarden Euroerbringen, weil ansonsten die Schuldentragfähigkeit nichtmehr gegeben ist.Jetzt ist Zypern am Zug. Wie und von wem das LandSteuern erhebt, muss es selbst entscheiden. Wir könnendabei Ratschläge geben. Wir sind der Auffassung, dassman bei Kleinsparern eine Ausnahme machen sollte, ge-nauso wie es das europäische Einlagensicherungssystemvorsieht. Das hat dann natürlich zur Folge, dass man dieAbgabe für die Vermögenderen erhöhen muss.
Diese kann nicht bei 9,9 Prozent bleiben, sondern dannkäme man auf 15 oder 16 Prozent. Das würden wir ge-rechter finden. Aber Zypern muss in eigener Souveräni-tät, in eigener Zuständigkeit seine Steuergesetze be-schließen.
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28826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
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Herr Wissing.
Das ist nicht unsere Aufgabe. Das ist die Wahrheit. Es
wäre gut gewesen, Sie hätten sie den Deutschen gesagt.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fakt ist nun einmal, dass es Unsicherheit in Deutschlandgibt. Deswegen hat sich der Kollege Wissing bemüßigtgefühlt, deutlich zu sagen, dass die Einlagen in Deutsch-land sicher sind. Deswegen hat auch der Regierungs-sprecher für die Kanzlerin in den letzten Tagen noch ein-mal deutlich gemacht: Die Garantie von 2008 gilt.
Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sichseit 2008 zum ersten Mal eine Regierung bemüßigt fühlt,darauf hinzuweisen, dass die Einlagen in Deutschland si-cher sind. Damals ging es um die Entscheidung in denUSA, die Bank Lehman Brothers pleitegehen zu lassen.Es ist auch in diesem Hause immer wieder kritisiert wor-den, dass ein amerikanischer Finanzminister zugelassenhat, dass die Menschen Angst um ihre Einlagen haben.Jetzt haben wir eine ähnliche Situation, die bedingt,dass man über die Sicherheit der Einlagen reden muss.Aber diesmal ist es kein US-amerikanischer Finanz-minister, sondern ein deutscher Finanzminister, der mitam Tisch saß. Deswegen müssen wir hier darüber reden.
Niemand, der diese Debatte seriös führt, würde be-haupten, dass der Vorschlag der konkreten Aufteilungder Belastungen in Zypern von der deutschen Bundesre-gierung kam. Das zu sagen, wäre falsch. Aber richtig istauch – dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen –:Der Bundesfinanzminister war in der entscheidendenkleinen Runde mit wenigen Personen aus der Euro-Gruppe, aus der EZB –
– auch Vertreter der Europäischen Kommission sind beidieser Troika dabei – mit dabei. Er selber hat uns in denFraktionen erklärt, wie dieser Vorschlag zustande kam.
Dann muss man auch die Frage gelten lassen, wer hiereigentlich die Verantwortung trägt. Ich zitiere – damitSie nicht meinen, das sei nur Parteipolitik – den CDU-Europaabgeordneten Werner Langen. Er spricht von ei-ner unverantwortlichen Nacht-und-Nebel-Aktion undsagt: Es bleibt rätselhaft, warum der Beschluss von ein-zelnen Finanzministern nicht blockiert worden ist.
Genau das ist die Frage, die wir hier stellen: Warum hatder Bundesfinanzminister diesen Beschluss nicht verhin-dert?
Aus dieser Verantwortung kommen Sie nicht heraus.Dabei können Sie nicht auf Zypern verweisen, sondernam Ende des Tages steht man in der Verantwortung, da-für zu sorgen, dass die Situation im Euro-Raum stabil ist.Warum ist das eben nicht nur eine einseitige Sache? Weiles Auswirkungen hat. Deswegen ist darüber in dieserDiskussionsrunde abschließend beraten worden. Ausdieser Verantwortung kann man sich nicht davonstehlen,so wie Sie das tun.
Es gibt noch eine zweite Ebene der Verantwortung.Warum wird eigentlich monatelang in solchen Rundenüber Bankenrettungen in Europa diskutiert? Warum ha-ben wir eigentlich noch immer kein Krisenmanagement,das in der Lage ist, Banken so zu stabilisieren oder ab-zuwickeln, dass es eben nicht zu Marktturbulenzenkommt? Die Banken, über die wir nun reden, haben eineähnliche Größenordnung wie Banken in den USA, dievöllig geräuschlos geschlossen wurden und deren ge-samte Einlagen für die Kunden sicher waren.So ist in den USA die IndyMac im November 2008geschlossen worden. Die Bilanzsumme belief sich auf32 Milliarden Dollar. Die Einlagen wurden von der dor-tigen Einlagensicherung gesichert. Es gab keinerleiMarktturbulenzen. Die Laiki Bank in Zypern hat mit31 Milliarden Euro in etwa die gleiche Größenordnung.Warum schafft das bei uns Turbulenzen, und warum ha-ben die Sparer in Europa Angst, während in den USAsolche Banken ohne große Verwerfungen geschlossenwerden können? Weil es dort ein anständiges Krisen-management und eine funktionierende Einlagensiche-rung gibt. Warum haben wir das in Europa nicht? Weildas Krisenmanagement, für das diese Bundesregierungzentrale Verantwortung hat, einen entsprechenden Ban-kenabwicklungsfonds bislang nicht gegründet hat. Ausdieser Verantwortung kommen Sie nicht heraus.
Da wir schon bei der Frage sind, wer eigentlich dieLasten in dieser Krise tragen sollte: Wir Grüne sind derMeinung, dass es richtig ist, Bankanleihen heranzuzie-hen. Es ist auch richtig, dort, wo die gesetzliche Siche-rung nicht mehr greift, Großanleger, deren Vermögen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28827
Dr. Gerhard Schick
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sich auf über 100 000 Euro beläuft, heranzuziehen. Alleanderen Einlagen sind zu schützen.Was passiert aber wirklich in dieser Krise? Die Men-schen, die in Deutschland ihr Geld zur Sparkasse oderzur Volksbank tragen, bekommen einen Zinssatz, der un-ter der Inflationsrate liegt. Sie zahlen also für dieseKrise, nicht mit einer konkreten Abgabe, sondern schlei-chend und kontinuierlich. Der Vorschlag der Grünensieht eine Abgabe auf große Vermögen vor, damit wirzielgerichtet Schulden abbauen können und damit nichtdie kleinen Leute die Kosten dieser Krise tragen müssen.Hier sieht man genau, wo die Unterschiede im Krisen-management in Europa sind. Wir sind für stabile euro-päische Strukturen, damit wir nicht mehr in eine solcheSituation kommen. Wir sind für eine faire Verteilung derLasten.Danke schön.
Norbert Barthle hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Kollege Schick, dass Sie die Bundes-regierung für die Regelung angreifen, für die sich eigent-lich die Zyprioten entschieden haben, ist erstaunlich.
Das weise ich in aller Form zurück. Ich erinnere Sie da-ran, dass Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir die Rege-lung sogar für Kleinsparer mit Einlagen von unter100 000 Euro gebilligt und gutgeheißen hat. Das könnenSie in den Agenturmeldungen der vergangenen Tagenachlesen.Herr Gysi, Sie haben in Ihrer Rede gefragt, welcheSchlussfolgerungen zu ziehen sind. Ich nenne Ihnen eineganz klare: Bei der nächsten Bundestagswahl auf keinenFall eine linke Partei wählen! Denn wer links wählt,wählt die Unsicherheit bei den Sparvermögen.
Alle, egal ob Linke, SPD oder Grüne, sehen in ihrenWahlprogrammen die Erhebung einer Vermögensabgabeoder einer Vermögensteuer vor. Sie unterscheiden sichzwar bei den Vermögensgrenzen, aber das ist nur eineFrage der Größenordnung, nicht des Prinzips. Das istnichts anderes als ein Zugriff auf die Sparguthaben vonMenschen, die ihr Vermögen bei einer Bank liegen ha-ben. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Dass Sie von der Linken diese Aktuelle Stunde bean-tragt haben, ist höchst bedenklich; denn Sie schürendamit völlig unbegründete Ängste bei den Menschen.
Sie als Jurist müssten wissen, Herr Gysi, dass die Erhe-bung einer Steuer oder Abgabe nichts mit der Einlagen-sicherung zu tun hat. Die Einlagensicherung greift erstdann, wenn ein Institut in den Konkurs geht. Alles, waswir auf europäischer Ebene machen, dient dazu, geradedies mithilfe des Europäischen Stabilitätsmechanismuszu verhindern. Wir wollen eben nicht, dass die Bankenpleitegehen. Wir wollen, dass weder die kleinen nochdie großen Anleger ihre Einlagen möglicherweise zu100 Prozent verlieren. Wir suchen nach Lösungen, dieeinen Staatsbankrott Zyperns verhindern und das Landin die Lage versetzen, aus eigener Kraft wieder auf dieBeine zu kommen.In den Reigen derer, die dieses Thema innenpolitischausschlachten wollen, reiht sich leider auch die SPD ein.Herr Gabriel sagte vor kurzem, Merkel sei mitverant-wortlich dafür, dass in Zypern Kleinsparer die Zechezahlen sollen, aber die Bankeigentümer ungeschoren da-vonkommen.
Das ist doppelt falsch; denn erstens war es nicht dieEntscheidung von Angela Merkel oder WolfgangSchäuble, dass auch diejenigen mit einer Einlage vonunter 100 000 Euro herangezogen werden sollten – daswar eine Entscheidung der Zyprioten –, und zweitenssteht in den Papieren klipp und klar, dass auch die Gläu-biger und Anteilseigner der Banken herangezogenwerden sollen. Man muss die Papiere nur lesen. Einenschönen Gruß an Herrn Gabriel: Lesen macht schlau.Dann erzählt man nicht einen solchen Mist.
Im Übrigen hat vor kurzem auch der Kollege CarstenSchneider gemeint, Eigentümer, Gläubiger und Kundender Banken müssten einen maßgeblichen Beitrag leisten:Wenn die 10 Milliarden Euro brauchen, dann sollen sie10 Milliarden Euro dort holen, sagte er in der Welt vorwenigen Tagen. Genau das hat man gemacht. Jetztschreien Sie: So haben wir das aber nicht gemeint.Dann heißt es: Die Grenze von 100 000 Euro habenwir nicht im Blick gehabt. – Jetzt springen Sie auf denfahrenden Zug auf und versuchen, aus diesen Vorgängeninnenpolitisch Profit zu schlagen. Ich halte das für schä-big. Sie reihen sich ein bei denen, die ein Merkel- undSchäuble-Bashing betreiben. Das war eben von den Lin-ken zu hören, das ist ebenfalls von der SPD zu hören,und das hörte man sogar eben von Herrn Schick.Merkel- und Schäuble-Bashing: Wissen Sie, was Sietun? Sie stellen sich an die Seite der zypriotischen Politi-ker, die ihrem Volk genau dasselbe erzählen. Ob Sie gut
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28828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Norbert Barthle
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beraten sind, dieses Bashing zu betreiben, wage ich inZweifel zu ziehen.
Denn die Menschen draußen spüren sehr genau, wer sichfür die Interessen unseres Landes einsetzt und wer ausbilliger Parteipolemik heraus ein Bashing betreibt, dasvöllig unangemessen und in der Sache falsch ist.
Ich kann nur an diejenigen, die in ihrem Partei-programm eine Vermögensteuer stehen haben, appellie-ren, diese zu streichen. Die SPD sagt, das normale Einfa-milienhaus werde davon ausgenommen. Sagen Sie denMenschen die Wahrheit! Was ist ein normales Einfami-lienhaus?
Ist das ein Haus an der nordöstlichen deutschen Grenze,das man für 150 000 Euro kaufen kann, oder ist das einHaus in München, das 1 Million Euro kostet? Was ist beiIhnen ein normales Einfamilienhaus? Nennen Sie eineGrößenordnung.Die Grünen wollen 100 Milliarden Euro durch eineVermögensabgabe einnehmen und sagen, dass es aberkeine Vermögen bis zu 1 Million Euro treffen soll. Sienehmen aber die Betriebe nicht aus. Diejenigen, die einVermögen von 1 Million Euro haben, liebe Freunde vonden Grünen, sind Ihre Wählerinnen und Wähler, diejeni-gen, die in den Halbhöhenlagen von Stuttgart wohnen.Da kostet so ein Haus 1 Million Euro und mehr. Dassollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen.
Die Leute draußen müssen genau wissen: Wer am22. September eine dieser Parteien wählt, der wählt denZugriff auf die Sparkonten von Menschen.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Carsten
Sieling das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der letzte Bei-trag passt in eine Aktuelle Stunde,
wenn man das Ziel hat, die Leute zu verwirren, undwirklich alles durcheinanderwirft.
Herr Kollege, ich darf sagen, dass Sie für Ihre Arbeitin diesem Hause durchaus Wertschätzung genießen – fürIhre Arbeit, nicht immer für Ihre Haltung und Ihre Posi-tionen. Aber wenn Sie sich hier hinstellen und uns, denSozialdemokraten und den Grünen, vorwerfen, dass diePläne für eine Vermögensteuer, bei denen es um Frei-beträge von über 1 Million Euro geht, mit dem Plan zuvergleichen sei, dem die Bundeskanzlerin und der Bun-desfinanzminister zugestimmt haben und demzufolgeauch Leute mit 1 000, 2 000 oder auch 5 000 Euro be-langt werden, dann ist das unredlich.
Deshalb will ich hier sehr deutlich sagen: Wir sindeindeutig dafür, dass Einleger mit einem hohen Volumenherangezogen werden. Das muss auch für Zypern gelten.
Es ist unverantwortlich, was die zypriotische Regierungdort geboten hat; gar keine Frage.
Aber es kommt sehr auf die Grenzen an. Da sage ichmit allem Stolz und aller Gewissheit – ich nehme gernedas auf, was Sie gesagt haben –: Wenn wir Sozialdemo-kraten an die Regierung kommen und die Vermögen-steuer eingeführt wird, dann wird das im Bereich der pri-vaten Vermögensteuer mit Freibeträgen von deutlichüber 1 Million Euro pro Person
bzw. von deutlich über 2 Millionen Euro bei Verheirate-ten einhergehen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Wir sagen deshalb in Bezug auf die Einlagensiche-rung ganz eindeutig, dass gewährleistet werden muss,dass alle Einlagen unter 100 000 Euro sicher sind. DerKollege Wissing hat sich ja sogar hier hingestellt und ander Stelle von einer Vermögensbeteiligung gesprochen.Sie wollen vielleicht mit einer VermögensbeteiligungKleinsparer und kleine Leute heranziehen – wir werdendas nicht machen, meine Damen und Herren.Uns geht es in der Tat auch um die Frage, wo in derDebatte um die Stabilisierung des Euro eigentlich dieBundeskanzlerin gewesen ist.
– Gestern ist sie aufgetreten, aber nicht in den letzten Ta-gen während dieses Prozesses.
Der normale Ablauf ist folgendermaßen: große Insze-nierung, Krisengipfel, vorher im Deutschen Bundestageine Regierungserklärung, dann eine Reise nach Brüssel,auf einem Gipfel bis 4 Uhr morgens tagen, herauskom-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28829
Dr. Carsten Sieling
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men und niemanden vor vollendete Tatsachen stellen,sondern nur Bedingungen formulieren.Dieses Mal: Nichts! Die Bundeskanzlerin war nichtda, aber sie hat den Bundesfinanzminister machen las-sen. Am Freitag war die Bundeskanzlerin da, nachdemsie sich vorher natürlich eingemischt hatte. Sie hat dieganz klare Orientierung gegeben: Man kann auf dieEinlagen zugreifen. – Sie hat das erlaubt. Damit ist eineUnsicherheit in Europa entstanden, die auch nachDeutschland kommt. Wir müssen uns Sorgen machenund uns fragen, ob diese Bundesregierung nicht auchwillens und in der Lage wäre, in anderen Ländern – inSpanien, in Portugal; das wächst sich auch bis Nordeu-ropa aus – den Zugriff auf Spareinlagen zuzulassen.
– Da können Sie schreien, so viel Sie wollen: Das bleibtrichtig.
Ich sage das auch deshalb, weil wir hier über die Si-cherheit von Einlagen reden. Nach diesem Vorgang ruhtmeine Hoffnung nicht mehr auf der Bundesregierung,sondern meine einzige Hoffnung ruht darauf, dass imDeutschen Bundestag und in diesem Land ein ähnlicherAufstand und Protest entsteht wie in Zypern.
Und das ist auch richtig. Wenn Sie mit Vorschlägenkommen, an die Einlagen zu gehen, dann wird es imDeutschen Bundestag und in diesem Land Gott sei Dankeinen Aufstand geben. Das, meine Damen und Herren,macht die Einlagen sicher.Ich will zum Schluss noch sagen: Heute ist klar ge-worden, dass die aktuell vorliegenden Vorschläge wohlnoch nicht die Lösung sein können. Wir als Sozialdemo-kraten legen jedenfalls Wert darauf, dass dann, wennman in Zypern zu einer Lösung kommen will, auch die-jenigen herangezogen werden, die von diesem Vorgangprofitieren. Es muss dazu kommen, dass diese Oase fürSteuerhinterzieher endlich geschlossen wird.
Für diese Politik muss sich Deutschland einsetzen. Aberdass diesbezüglich Druck gemacht wird, konnte man amletzten Wochenende nicht spüren. Vielmehr ist es zu ei-ner Verunsicherung gekommen. Das ist das Ergebnis.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Ich glaube, das, was zu demThema dieser Aktuellen Stunde hier von der Oppositionaufgeführt wird, ist – übrigens auch gemessen an derHeftigkeit und Lautstärke – verantwortungslos, undzwar gegenüber allen Bürgern in diesem Lande.
Sie reden eine Unsicherheit bezüglich der Bankeinlagenin Deutschland herbei und beschweren sich dann da-rüber, dass ein unsicheres Gefühl bei den Bürgerinnenund Bürgern in Deutschland bestünde.
Das ist vor dem Hintergrund dessen, wie ernst es denMenschen in diesem Lande um ihr Sparvermögen ist,wirklich die höchste Form der Verantwortungslosigkeit.
Ich bin in dieser Hinsicht wirklich erschüttert.
Herr Kollege Gysi, sich hier hinzustellen und zu be-haupten, dass die Entscheidung eines souveränen Staa-tes, nämlich Zyperns, sozusagen eine Entscheidung derBundesregierung Deutschlands sei, ist abwegig. Mankönnte fast denken, Sie glaubten, immer noch in Zeiteneines gewissen Kolonialismus zu leben,
wo ein Staat einem anderen Staat irgendwelche Vor-schriften machen kann und wo souveräne, eigene Ent-scheidungen der Republik Zypern nichts gelten. Es istwirklich abwegig, was Sie hier tun.
Das Bemerkenswerte an der ganzen Sache ist, dassSie in einer Hinsicht wirklich vor Schmerzen schreienmüssten. Die Situation auf Zypern ist nämlich das besteBeispiel dafür, woher die Unsicherheit hinsichtlich Spar-einlagen und Bankguthaben eigentlich kommt. Sie resul-tiert eben nicht aus dem Einlagensicherungssystem, son-dern sie kommt aus einer Steuerpolitik, die gerade dieOpposition in diesem Bundestag fordert: den Eingriff indie Vermögenssubstanz über die Vermögensabgabe unddie Vermögensteuer.
Das ist der Grund für die Unsicherheit, die bei den Men-schen, bei den Bürgerinnen und Bürgern besteht.Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Widersprüchlichkeit indieser Hinsicht – Sie werfen alles durcheinander und er-kennen dabei nicht,
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28830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Daniel Volk
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dass ein Eingriff in die Vermögenssubstanz der Bürge-rinnen und Bürger die schlimmste Form der Enteig-nungspolitik ist – sendet ein klares Signal an die Men-schen in diesem Lande.
Der Eingriff in die Vermögenssubstanz ist die größte Un-sicherheit, die in Deutschland für die Bankeinlagen be-steht, und Sie von der Opposition fordern dies. Dazusollten Sie sich ganz offen bekennen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht inDeutschland keine Unsicherheit bezüglich der Bankein-lagen und der Sparguthaben, weil wir Gott sei Dank inDeutschland eine Regierung und im Deutschen Bundes-tag eine Koalition haben, die mit einer verantwortungs-vollen Finanz- und Haushaltspolitik, die zur politischenund wirtschaftlichen Stabilität beitragen, dafür sorgen,dass Deutschland nicht in Schieflage gerät. Dadurch ent-steht in Deutschland keine Unsicherheit.Ich kann die Damen und Herren von der Oppositionwirklich nur auffordern: Lassen Sie das Herbeireden vonirgendwelchen unsicheren Situationen! Es ist allgemeinpolitisch verantwortungslos. Bekennen Sie sich ebenauch dazu, dass eine vernünftige Finanz- und Haushalts-politik in Deutschland gemacht wird, die dazu führt, dassdie Bürgerinnen und Bürger in diesem Land die Sicher-heit genießen, die sie bisher genossen haben.
Andrej Hunko hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zunächst der zypriotischen Bevölkerung unddem zypriotischen Parlament gratulieren. Das zyprioti-sche Parlament hat am Dienstag Nein zu diesem Vor-schlag gesagt und damit einen europäischen Präzedenz-fall verhindert. Dafür erst einmal vielen Dank!
„Willkür in einer Dimension, die nicht mehr in Wortezu fassen ist“, so fasste der international renommierteÖkonom Heiner Flassbeck zusammen, was am Freitagund am Samstag auf dem Gipfel beschlossen worden ist.Recht hat der Mann. Wer die Ereignisse der Nacht vonFreitag auf Samstag rekonstruiert hat, muss zu demSchluss kommen, dass das Auftreten von Schäuble undAsmussen viel mit Erpressung, aber wenig mit gutemUmgang unter Demokraten zu tun hat.
Nicht umsonst ist in den internationalen Medien davondie Rede, dass ein neokolonialer und neofeudaler Stil inEuropa Einzug gehalten hat – nicht erst seit dieser Wo-che.Erinnern wir uns an den Fall Papandreou! Der grie-chische Ministerpräsident hatte die Idee, über die Aufla-gen in Griechenland in einem Referendum abstimmen zulassen. Er wurde sofort zum Rapport zitiert, das Referen-dum wurde zurückgezogen, und wenige Wochen späterwar der Mann weg vom Fenster. – So schafft man keineeuropäische Integration, sondern europäische Desinte-gration.
Jetzt will es niemand gewesen sein; das haben wir ge-rade gehört. „Wir waren es nicht“, hört man aus der Bun-desregierung, „der zyprische Präsident war es.“ Einmalabgesehen davon, dass Herr Schäuble zugestimmt hat– das wurde hier schon gesagt –: Herr Anastasiades warIhr Mann. Sie haben sich dafür starkgemacht, dass er, einKonservativer, in Zypern zum Präsidenten gewählt wird.Warum? Weil mit dem vorherigen linken PräsidentenChristofias
so etwas nicht möglich gewesen wäre. Mit dem wäre dieBeteiligung von Kleinsparern genauso wenig möglichgewesen wie die Verscherbelung der öffentlichen Be-triebe an internationale Konzerne.
Ich sage Ihnen dazu: Kein linker Präsident, keine linkeRegierung irgendwo in Europa würde es zulassen, dassdie Kleinsparer für die Kosten der Krise herangezogenwerden.
Das Erschütternde der Beschlüsse vom vergangenenFreitag ist nicht nur der Tabubruch, an die Einlagen derkleinen Sparer heranzugehen,
und der Stil, mit dem das durchgesetzt wurde, sondernauch die Konzeptionslosigkeit, mit der offenbar an dieKrise herangegangen wird. Wir haben eben die Meldungder Ratingagentur Fitch bekommen. Da wird von„Durchwurschteln“ gesprochen. Anstatt endlich die Ur-sachen der Krise anzugehen, die in den deregulierten Fi-nanzmärkten, in der gigantischen Konzentration derGeldvermögen und in den Konstruktionsfehlern desEuro liegen, stürzen Sie durch Ihre Austeritäts- und Pri-vatisierungsdiktate und jetzt auch durch den Zugriff aufdie Kleinanlagen ein Land nach dem anderen in die Re-zession.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28831
Andrej Hunko
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Schauen wir uns doch einmal um! Griechenland be-findet sich nun im sechsten Jahr der Rezession. DasLand steht am Rande einer humanitären Tragödie. InPortugal sind vor wenigen Wochen 1,5 Millionen Men-schen unter dem Motto „Zum Teufel mit der Troika“ aufdie Straße gegangen. Auch die Wahlen in Italien sind indiesem Kontext zu sehen.Jetzt hat in Zypern zum ersten Mal ein Parlament IhreAuflagen abgelehnt. Nicht ein einziger Abgeordneterwollte dem zustimmen. Die International HeraldTribune schrieb gestern auf der Titelseite: Es gibt einenPunkt, an dem die Bedingungen, die Deutschland aufer-legt, so überdehnt sind, dass die anderen Länder demnicht mehr zustimmen werden. – An diesem Punkt sindwir jetzt. Sie werden als Regierung der europäischenDesintegration in die Geschichte eingehen.Gegenwärtig ist viel davon die Rede, dass man eineisländische Lösung in Zypern anwenden könnte.Schauen wir uns noch einmal kurz an, was in Island pas-siert ist: Man hat die Zockerbuden pleitegehen lassen,stattdessen öffentliche Good Banks eingerichtet, die dennormalen Zahlungsverkehr aufrechterhalten. Man hatKapitalverkehrskontrollen eingeführt. Man hat das hohenordische Sozialstaatsniveau erhalten. Aber das Wich-tigste ist: All das ist in einem intensiven demokratischenProzess zustande gekommen. Nach Massenprotesten gabes Neuwahlen mit dem Ergebnis einer relativ linkenRegierung. Es gab zwei Referenden. Es gab Untersu-chungsausschüsse, die die Verantwortlichen des Zusam-menbruchs herangezogen haben. Es hat funktioniert,besser funktioniert, als alle erwartet hatten.
Von Island lässt sich viel lernen. Kommen Sie endlichzur Vernunft und erkennen Sie Ihr Scheitern in der bishe-rigen Krisenpolitik an! Europa wird demokratisch, sozialund solidarisch sein, oder es wird nicht sein.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bettina Kudla für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! In Ostdeutschland ist die Linke eigentlichimmer sehr engagiert, und manchmal hatte ich schon denGedanken, man könnte auch mit der Linken gute Politikmachen.
Aber nach Ihrer Rede heute, Herr Gysi, haben Sie mirdiese Illusion genommen. Wenn Sie hier schon eine Ak-tuelle Stunde beantragen, dann hätten Sie sich wenigs-tens über den Sachverhalt kundig machen können. Sieverbreiten Falschaussagen und verunsichern die Men-schen bewusst. Das ist keine seriöse Politik.
Es geht darum, die Spareinlagen der Menschen inZypern zu sichern. Herr Dr. Schick, die Lage ist nicht sowie in dem von Ihnen genannten Beispiel aus den USA.Denn es ist nicht der Fall, dass Zypern noch einen funk-tionierenden Einlagensicherungsfonds hat und dass derzypriotische Staat nun einspringen könnte.
Es droht in Zypern eine Insolvenz der Banken. Dies be-deutet für die Menschen, dass sie unter Umständen ihreSpareinlagen verlieren könnten. Wir alle wissen, imFalle einer Insolvenz kommt in der Regel nur eine ge-ringe Insolvenzquote heraus. Dies zeigt übrigens auch,wie wichtig es ist, dass Staaten sich nicht ständig über-schulden, dass sie nicht ständig neue Schulden machen.Dann wird ein Staat irgendwann handlungsunfähig, weiler in solchen Krisensituationen nicht mehr eingreifenkann.
Lassen Sie mich noch einige Punkte zum Sachverhaltnennen. Zypern hat ein überdimensioniertes Kreditpaketbeantragt. Ich halte es, auch in Verantwortung gegenüberallen europäischen Steuerzahlern, für eine verantwor-tungsvolle Politik der Euro-Gruppe, vorzuschlagen, dassZypern einen entsprechenden Eigenbeitrag leisten muss.Die Form des Eigenbeitrags ist sehr durchdacht. DennZypern grenzt die Krise ein, indem es den Beitrag aufdie betroffenen Banken fokussiert. Das heißt, die Anste-ckungsgefahr innerhalb der Euro-Zone wird geringer.Ich wundere mich schon sehr über die harsche Kritikan der Beteiligung der Einlagen an dem Rettungspaket.Es wurde doch kritisiert, dass Zypern eine Steueroase istund dass dort angeblich Schwarzgeld gewaschen wird.Mit dieser Vermögensabgabe trifft man auch alle Anle-ger, die nicht in Zypern ansässig sind. Es ist also fürZypern eine gute Möglichkeit, den Eigenbeitrag zu er-bringen. Ich betone noch einmal – das hat auch HerrBarthle gesagt –: Der Vorschlag, Einlagen auch unter100 000 Euro heranzuziehen, kommt vom zypriotischenStaat selbst; er kommt nicht aus der Euro-Gruppe. Des-halb muss man auch einen solchen Vorschlag akzeptie-ren.
Gerade kam über den Ticker die Meldung, dass manneue Überlegungen anstellt, beispielsweise den Pen-sionsfonds von Zypern zu beteiligen.
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28832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Bettina Kudla
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An dieser Stelle möchte ich eine Frage an die Linke stel-len: Was halten Sie für gerechter: den Menschen ihrePension unsicher zu machen oder die Sparguthaben zubeteiligen? Ich frage dies vor folgendem Hintergrund:Die zypriotischen Banken haben seit Jahren überhöhteZinsen gezahlt, die sie gar nicht erwirtschaften konnten.Darin liegt ja die Ursache der Krise.
Das heißt aber, dass eine solche Vermögensabgabe dieRentner in Zypern nicht schlechterstellt als beispiels-weise die in Frankreich oder Spanien. Die Höhe der Ver-mögensabgabe von 6,75 bzw. knapp 10 Prozent konnteman in den letzten drei Jahren allein durch die höherenZinsen erwirtschaften. Noch einmal zur Verdeutlichung:Sparer in Frankreich oder Spanien konnten dies nicht.Die Rolle der Opposition halte ich für verantwor-tungslos. Sie ist auch unehrlich. In diesem Zusammen-hang will ich einmal an die Diskussion über das Steuer-abkommen mit der Schweiz erinnern. Da wurde eineVermögensabgabe von 39 Prozent vorgeschlagen. Siehaben das Abkommen mit der Begründung abgelehnt,39 Prozent seien zu wenig.
Mit Verlaub, das ist doch keine kontinuierliche Finanz-politik. Das ist eine kontraproduktive Politik.
Auch die Rolle des Präsidenten des EuropäischenParlamentes muss man hinterfragen: Ist die Neutralitäteines Parlamentspräsidenten noch gewahrt, oder wirddem Kanzlerkandidaten der SPD Schützenhilfe gegeben?
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Carsten Schneider das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Frau Kudla, ich weiß nicht, wen Sie so kennen,der Konten in der Schweiz hat, um dort Geld zu ver-stecken. Aber Kleinsparer sind mir diesbezüglich bishernoch nicht untergekommen.
Bei der Entscheidung vom Samstagmorgen, an derder Herr Bundesfinanzminister maßgeblich mitgewirkthat – deshalb reden wir heute darüber –, wurde an einerentscheidenden Stelle ein schwerer Fehler begangen: Essollte in Einlagen unter 100 000 Euro, die durch in natio-nales Recht implementiertes EU-Recht gesetzlich ge-schützt sind, eingegriffen werden.Dieser Vorschlag mag zwar nicht von Herrn Schäublegekommen sein; aber er hat ihn akzeptiert.
Der Euro-Gruppen-Chef Dijsselbloem, der – wie einigeandere auch – an dieser Entscheidung ebenfalls beteiligtwar,
hat sich für diese Entscheidung entschuldigt. Er hat ge-sagt: Das war ein Fehler.Ich hätte von Herrn Schäuble und von Ihnen als Ver-treter der Koalition erwartet, dass Sie hier deutlich ma-chen: Wir entschuldigen uns dafür. Das war ein Fehler.Er hat zu großer Verunsicherung in Europa geführt.
– Herr Volk, Sie haben hier vorhin viel Trara gemacht,aber wenig zur Sache gesagt.Zypern hat vor einem Dreivierteljahr einen Antragauf Hilfsmaßnahmen gestellt. Das hat die Bundesregie-rung ein Dreivierteljahr lang nicht interessiert. Sie habenin keiner Art und Weise Druck auf das Land ausgeübt,Gläubiger zügig an den Kosten der Rettung zu beteili-gen, bevor das Geld abgezogen wird.
Es gibt überhaupt keinen Dissens darüber, dass dasGeschäftsmodell in Zypern nicht mehr trägt und dass essich für ein Land innerhalb der Europäischen Union, inder Solidarität großgeschrieben wird, nicht gehört, durchSteuerdumping und eine sehr schwammige Umsetzungvon Geldwäscherichtlinien Steueraufkommen aus ande-ren Ländern, zum Beispiel aus Deutschland, abzuziehen.Diesbezüglich wollen wir einen ganz klaren Stopp.
Sie haben in dieser Richtung keinerlei Initiativenergriffen. Es ist vielmehr alles auf die nächtliche Ent-scheidung vom vergangenen Wochenende zugelaufen.Als deutlich wurde, dass es innerhalb des EuropäischenRates eine Entscheidung gibt, haben wir als SPD gefor-dert, dass sich die Bundeskanzlerin am letzten Donners-tag hier im Bundestag erklärt. Sie hat es nicht getan.Die Bundeskanzlerin hat genauso wie der Bundes-finanzminister das Verhandlungsergebnis einschließlichder Beteiligung von Einlagen unter 100 000 Euro mit6,5 Prozent gutgeheißen.
Das war ein Fehler, und es gehört sich, dazu zu stehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28833
Carsten Schneider
(C)
(B)
Das Vertrauen in die Währungsunion ist ohnehin brü-chig, wie man schon beim Zeitunglesen sieht. Sogarmeine Regionalzeitung hat mit der Frage aufgemacht, obdeutsche Einlagen sicher sind oder nicht. Der Regie-rungssprecher musste erneut entsprechende Versicherun-gen abgeben. Dies alles zeigt doch, dass das Verhaltender Bundesregierung insbesondere angesichts des klei-nen Betrages, um den es ging, ein Fehler war.
Sie hätten auch aus einem anderen Grund schon vielfrüher handeln müssen: Seit einem Dreivierteljahr hatdie Europäische Zentralbank die zyprischen Banken überihre Notfallmaßnahmen, ELA genannt, finanziert.
Es hat dazu geführt, dass mittlerweile ein zweistelligerMilliardenbetrag auf den Konten aufgelaufen ist, mehroder weniger als Kredit an die nationalen Banken. Ge-hen das Land Zypern und diese Banken pleite, müssenwir für diese Forderung aufkommen; es sind dann di-rekte Schulden, die wir übernehmen müssen. Das hätteman verhindern können. Denn genau in dieser Zeit sindnachrangige Gläubiger dieser Banken, zum Beispiel derhier zitierten Laiki Bank – sie hätten im Falle einerPleite haften müssen –, herausgekauft worden; sie sindverschwunden. Hier geht es um einen Milliardenbetrag,der weg ist; auch das haben Sie durch Nichtstun zu ver-antworten.
Meine Damen und Herren, die Lage in Zypern ist jetztsehr schwierig. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Esmuss einen substanziellen Beitrag der Einleger von Be-trägen über 100 000 Euro geben – die Einlagen sind imDurchschnitt viel höher als in Deutschland –; das ist Be-dingung. Anders ist eine Schuldentragfähigkeit nichtherzustellen.
Das hätte man schneller haben können, und man hättees auch ohne Proteste der Zyprer – er kam von denKleinsparern – haben können.
Ein solcher Beitrag wäre, glaube ich, im Parlamentdurchgegangen. Nun ist das Kind in den Brunnen gefal-len. Ich hoffe, dass sich die Verunsicherung auflösenlässt und wir trotzdem zu einer tragfähigen Lösung kom-men.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Ralph Brinkhaus das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vor-letzte Bemerkung von Herrn Schneider war noch diebeste: Es ist richtig, dass die Zyprer einen substanziellenBeitrag leisten müssen.Es ist aber die souveräne Entscheidung der Zyprer ge-wesen, wie dieser Beitrag geleistet werden soll; sie istjetzt nicht getroffen worden. Uns ist völlig egal, wie derBeitrag geleistet wird; aber wir – damit meine ich nichtnur Deutschland, sondern dies ist auch eine Forderungdes Internationalen Währungsfonds – brauchen diese6 Milliarden Euro, weil Zypern ansonsten trotz Sanie-rung weiterhin überschuldet wäre.Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Wirführen hier angesichts der drohenden Insolvenz Zypernseine Debatte und reden über die angebliche Schuld derDeutschen bzw. der Bundesregierung an dieser ganzenSache. Das ist so etwas von absurd.
Ich bin es von linken Politikern nicht anders gewöhnt.Ich bin jetzt 44 Jahre alt. In den 70er-Jahren haben mirmeine sozialdemokratischen Lehrer erzählt, ich seischuld am Hunger und am Elend der Welt.
In den 80er-Jahren hat mir die Friedensbewegung – auchlinks – erzählt, ich sei schuld an einem drohenden Atom-krieg.
Ende der 80er-Jahre haben mir die Grünen – auch links –erzählt, ich sei schuld am Tod der Wale, am Sterben derWälder und an explodierenden Kernkraftwerken. In den90er-Jahren war es die große Schuld Deutschlands, dasses eine unverdiente Wiedervereinigung gab. Wenn ichheute, im Jahre 2013, in die freudlosen Gesichter einigerVertreter von NGOs schaue, dann weiß ich nicht, woranich heute wieder schuld bin. Und jetzt sind wir daranschuld, dass es Zypern schlecht geht und es keinen Wegaus dieser Krise findet. Das ist absurd; aber das ist seit40 Jahren linke Politik in diesem Land.
Das eigentliche Thema heute ist: Wie können dieSparguthaben gesichert werden? Dazu kann man einessagen: Sparguthaben sind sicher, wenn sich Banken inLändern bewegen, die ein funktionierendes Geschäfts-modell voraussetzen,
und das ist bei Zypern nicht der Fall. Ein Land, das sichin Europa darüber definiert, Steuervorteile zu gewähren,das sich darüber definiert, ein vermeintlich sicherer Ha-fen für irgendwie verdientes Geld aus Osteuropa zu sein,das sich darüber definiert, dass seine Banken überhöhteZinsen zahlen, und das sich darüber definiert, einenBankensektor zu haben, der viermal so groß ist wie dasBruttoinlandsprodukt,
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28834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Ralph Brinkhaus
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muss sich nicht wundern, dass ihm die Banken um dieOhren fliegen und es Probleme mit den Spareinlagenhat.
Zweiter Punkt: Wann sind Spareinlagen sicher? Spar-einlagen sind dann sicher, wenn Banken vernünftig regu-liert werden, und da haben wir in Deutschland etwas ge-macht.
Wir haben dafür gesorgt, dass Banken weniger Fehlermachen, indem wir Großkredite begrenzt haben, indemwir Verbriefungen reguliert haben, indem wir Rating-agenturen und Vergütungsstrukturen reguliert haben.Wir hier in Deutschland haben etwas dafür gemacht,dass die Fehlertragfähigkeit der Banken größer wird –durch bessere Eigenkapitalregeln und bessere Liquidi-tätsregeln. Wir in Deutschland haben etwas für die Si-cherheit der Spareinlagen gemacht, indem wir für einbesseres Aufsichtssystem nicht nur in Deutschland, son-dern auch in Europa gesorgt haben. Wir in Deutschlandhaben etwas gemacht, damit Spareinlagen in der Krisenicht gefährdet sind, und zwar mit unserem Restruktu-rierungsgesetz, mit dem wir übrigens für den Rest derWelt maßgebend sind. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Wenn Zypern auch nur ansatzweise so gehandelt hätte,dann gäbe es nicht die Probleme, mit denen wir es heutezu tun haben.Der dritte Punkt ist: Wann sind Spareinlagen sicher?Spareinlagen sind sicher – Herr Kollege Wissing hat esgesagt –, wenn wir vernünftige Einlagensicherungssys-teme haben. Und die haben wir: bei den öffentlichenBanken, bei den Geschäftsbanken und insbesonderedurch die Institutssicherung bei den Volksbanken undden Sparkassen.Jetzt muss man sich fragen: Wer hat denn die Insti-tutssicherung bei Volksbanken und Sparkassen im euro-päischen Kontext verteidigt?
Wie sehr sind wir denn für das System, das in Deutsch-land funktioniert hat, angegriffen worden? Wer hat sichfür dieses System eingesetzt? Wir haben das hier inDeutschland gemacht, und das war richtig.
Wenn man sich Gedanken über die Sicherheit vonSpareinlagen und über die Einlagensicherungssystememacht,
dann muss man auch darüber nachdenken, ob die deut-schen Einlagensicherungssysteme auch für den Rest Eu-ropas aufgrund einer verfehlten Politik in Zypern und inanderen Ländern gelten sollen. Genau das will unsereKoalition nicht.
Wir können am Ende des Tages sehr viel über die Si-cherheit von Sparguthaben reden. Aber was nützt mirdas, wenn der Staat mit einem Rollgriff über meine Kon-ten und durch mein Portemonnaie fährt und mein Geldeinsammelt? In diesem Zusammenhang sollten wir unsauch einmal über die Pläne von Rot-Grün unterhalten.
Was bedeutet es für die Sparguthaben, wenn die Kapital-ertragsteuer erhöht wird? Sie können jetzt schön sagen,Sie haben einen Freibetrag im Rahmen Ihrer Vermögens-abgabe und Ihrer Vermögensteuer vorgesehen. Aber dasist doch nur der Anfang. Am Ende des Tages wird dieVermögensteuer und die Vermögensabgabe auch denMittelstand betreffen. Das sind normale Anleger, auchhier gibt es Spareinlagen.
Wir können das Ganze weiterspinnen:
Wie sieht es mit den Plänen zur Erbschaftsteuer aus?Sind davon auch Spareinlagen betroffen, oder sind daskeine Spareinlagen?Mal abgesehen von den Spareinlagen: Wie sieht esdenn mit den Spitzensteuersätzen aus? Ihr Kanzlerkandi-dat hat sich nicht dazu geäußert, aber der Parlamentari-sche Geschäftsführer der SPD Oppermann, der nämlichgesagt hat: Mit den höheren Steuersätzen fangen wirschon bei 64 000 Euro an. – Auch in diesem Zusammen-hang können wir uns einmal darüber unterhalten, wie si-cher die Einlagen sind, wie sicher sich die Menschen indiesem Land fühlen.Mein Fazit ist: Diese Bundesregierung hat für einfunktionierendes Geschäftsmodell gesorgt. Diese Bun-desregierung hat die Banken vernünftig reguliert. DieseBundesregierung hat die Einlagensicherungssysteme inDeutschland verteidigt. Diese Bundesregierung wirdeine Steuerpolitik machen, die die Menschen in diesemLand nicht enteignet.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache und beende damit dieAktuelle Stunde.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung desBundesministeriums für Wirtschaft und Techno-logie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28835
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Verordnung zur Markttransparenzstelle fürKraftstoffe
– Drucksachen 17/12390, 17/12441 Nr. 2.5,17/12746 –Berichterstattung:Abgeordneter Oliver KrischerVorgesehen ist es, hierzu eine Stunde zu debattieren. –Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so be-schlossen.Ich gebe das Wort dem Kollegen Professor ErikSchweickert für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Wettbewerb ist der
Kunde König. Wir wissen nicht erst seit dem Abschluss-
bericht des Bundeskartellamts zur Sektoruntersuchung
Kraftstoffe, dass es im Bereich Sprit keinen ausgepräg-
ten Wettbewerb gibt. Was es allerdings auch nicht gibt,
ist ein wettbewerbswidriges Verhalten der fünf Oligopo-
listen. Damit ist ein kartellrechtliches Verfahren leider
nicht möglich.
Wir als schwarz-gelbe Regierungsfraktionen möchten
den Kunden aber wieder zum König machen. Deshalb
haben wir es uns zum Ziel gesetzt, den Wettbewerb um
den günstigsten Preis an der Zapfsäule anzukurbeln;
denn Preiswettbewerb führt zu sinkenden Preisen. Wich-
tig dabei ist, dass der Verbraucher in die Lage versetzt
wird, in diesem Preiswettbewerb mitzuspielen. Dafür
sorgen wir heute in diesem Hause mit der Schaffung der
Markttransparenzstelle und der dazugehörigen Verord-
nung.
Mein ausdrücklicher Dank gilt dabei dem Bundes-
wirtschaftsminister Philipp Rösler, der den Vorschlag
der Koalitionsfraktionen aufgegriffen hat. Wir haben
nicht nur vorgeschlagen, die Daten über Einkaufs- und
Verkaufspreise der Tankstellen bei der Markttranspa-
renzstelle zu sammeln. Wir wollen auch, dass die Ver-
braucher einen Vorteil daraus ziehen, indem die Tank-
stellenpreise öffentlich zugänglich gemacht werden.
Diesen Vorschlag hat Philipp Rösler aufgegriffen, ein
Gesetz gemacht und somit etwas Gutes für die Verbrau-
cher auf den Weg gebracht.
Die Koalitionsfraktionen haben den guten Verord-
nungsentwurf noch besser gemacht: Wir haben die Aus-
nahmen reduziert und dafür gesorgt, dass die Übertra-
gungszeiten der Daten beschleunigt werden. Damit
bringen wir mehr Wettbewerb, mehr Fairness und mehr
Transparenz in den Benzinmarkt. Das hat Rot-Grün in
seiner Regierungszeit nicht geschafft. Sie haben immer
nur geredet, haben aber nichts für den Verbraucher ge-
tan. Der Unterschied zwischen Rot-Grün und Schwarz-
Gelb ist: Sie reden, wir handeln, meine Damen und
Herren.
Wir verpflichten auch die Tankstellenbetreiber, ihre
aktuellen Preise an die Markttransparenzstelle zu mel-
den. Diese gibt dann die Daten an die privaten Anbieter
weiter, welche diese Daten den Verbrauchern zugänglich
machen, entweder im Internet, per App oder per Navi,
ganz wie es die Verbraucher wollen. Denn uns ist beson-
ders wichtig: Die Preisinformationen müssen für die
Verbraucher einfach und schnell abrufbar sein.
Heutzutage vergleichen nur sehr wenige Verbraucher
die Preise an den Tankstellen. Deshalb tanken auch zwei
Drittel aller Autofahrer regelmäßig an der gleichen
Tankstelle. Das wollen und das werden wir nun mit der
Markttransparenzstelle ändern; wir werden das Preisbe-
wusstsein der Verbraucher stärken. Denn bislang werden
die Onlinepreissysteme kaum genutzt. Das liegt insbe-
sondere daran, dass wir eben nicht über flächendeckende
Daten, nicht über valide Daten verfügen. Das ändern wir
mit der Schaffung der Markttransparenzstelle und den
Vorgaben der Verordnung.
Wir machen durch diese Vorgaben den Markt transpa-
rent, wir machen den Markt für die Verbraucher durch-
schaubarer, und wir schaffen eine zuverlässige und um-
fassende Datenbasis über Preise und Preisänderungen.
Es wird zukünftig ein Kinderspiel sein, die billigste
Tankstelle einer Region zu finden und dort zu tanken.
Das wird dazu führen, dass jeder Tankstellenbetreiber
der billigste sein möchte; denn nur dann wird verkauft,
und zwar nicht nur Sprit, sondern auch die Produkte der
Tankstellenshops, die Umsatz bringen. Deshalb hat jeder
Tankstellenbetreiber ein ureigenes Interesse daran, den
günstigsten Spritpreis anzubieten.
Aus diesem Grunde ist unser Modell der Preistranspa-
renz auch ein gutes Modell für die mittelständischen
Tankstellen. Denn diese waren eigentlich schon immer
die günstigsten Anbieter, nur wussten es die Autofahrer
kaum. Jetzt wird dies aber für alle deutlich werden, und
damit wird die Wettbewerbsposition der mittelständi-
schen Tankstellen gegen die Oligopolisten gestärkt.
Wir geben dem Verbraucher damit das Rüstzeug, sich
zu informieren, zu vergleichen und Geld zu sparen. Da-
mit ist dann auch die Zeit vorbei, in der an der Zapfsäule
abgezockt wurde. Die Preise werden sich in Zukunft
eben nicht mehr nach Feiertagen und Ferienzeiten rich-
ten, sondern endlich nach Angebot und Nachfrage.
Das ist Politik für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, und das ist Politik für den Mittelstand, und das,
meine Damen und Herren, ist die Handschrift von
Schwarz-Gelb.
Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
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28836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Frage der Kraftstoffpreise ist eine, die nichtnur ab und an die Boulevardpresse beschäftigt, sondernnatürlich auch die Bevölkerung; denn jeder, der Autofährt, kann an der Zapfsäule feststellen bzw. im eigenenPortemonnaie merken, was es bedeutet, wenn die Preisehinauf- und hinuntergehen.Natürlich gibt es darüber hinaus auch ernst zu neh-mende rechtliche Probleme, die damit zusammenhän-gen, dass man feststellen muss, dass die Benzinpreisevon Tankstelle zu Tankstelle immer im gleichen Rhyth-mus steigen und sinken, und das in der Regel unabhän-gig von der Benzinmarke. Dass da der Verdacht aufkom-men muss, hier lägen wettbewerbsrechtlich unzulässigeAbsprachen bzw. Kartelle vor, mag niemanden verwun-dern, zumal es heute im Zeitalter elektronischer Daten-übertragung ein Leichtes ist, Tausende von Tankstellenund Zehntausende von Zapfsäulen zentral preismäßig zusteuern.Das Bundeskartellamt hat immer wieder Anläufe un-ternommen, um ein derart wettbewerbswidriges Verhal-ten nachzuweisen. Bisher war dies leider nicht von Er-folg gekrönt. Die Ölkonzerne weisen darauf hin, dass dieTankstellenketten rechtlich selbstständig seien. Trotz-dem kommen immer wieder Vorwürfe hoch, hier werdesteuernd eingegriffen. Ein anderer Vorwurf, der erhobenwird, bezieht sich auf die Benachteiligung freier Tank-stellen bei den Raffineriepreisen bzw. bei den Abnahme-bedingungen.Den Verbraucher wundert es allerdings schon, dassdie Preise an den Zapfsäulen zum Teil mehrmals täglichKarussell fahren. Es kommt zu Preissprüngen von bis zu10 Cent oder mehr. Erinnern Sie sich an selige D-Mark-Zeiten zurück: Wann hat es damals Preissprünge gege-ben, bei denen der Preis um 20 Pfennig oder mehrhinauf- bzw. hinuntergegangen ist?Die Konzerne sagen, dass diese Preissprünge mit demSpot-Markt in Rotterdam zusammenhängen. Nun weißaber jeder, dass die Konzerne das Rohöl nicht just intime vom Spot-Markt in Rotterdam zu den Tankstellenbringen, sondern das Rohöl raffiniert werden muss undes eine Lagerhaltung gibt. Insofern dürfte eine Preisstei-gerung auf dem Rohölmarkt eigentlich erst dann Aus-wirkungen für den Verbraucher haben, wenn das, wasdamals eingekauft worden ist, verarbeitet und verkauftwird. Die Tatsache, dass das nicht so ist, führt dazu, dassdie Konzerne an der einen oder anderen Stelle Extra-gewinne machen.Mir ist auch nicht verständlich, warum in meiner Hei-matstadt Hamburg die Preise im Westen der Stadt vondenen im Osten oder Süden differieren. Warum ist dasBenzin im ärmeren Osten von Hamburg oft teurer als imwohlhabenderen Westen?
Das erschließt sich mir nicht; schließlich hängen, glaubtman den Konzernen, doch alle Preise am Marktpreis fürRohöl. Der einzige Grund, der mir einfällt, ist der, dassim reicheren Westen mehr getankt wird – ein PorscheCayenne schluckt mehr als ein VW Lupo – und der Preisim Osten insofern höher sein muss, als die verkaufteMenge dort geringer ist.Bleiben wir ernsthaft. Für den Verbraucher ist die Si-tuation nicht mehr zu überblicken.
– Nun werden Sie doch nicht nervös. Ich komme ja nochdarauf zu sprechen, dass ich Ihren Entwurf auch ganzgut finde. – Für den Verbraucher ist die Situation nichtmehr zu überblicken, so schnell wechselt der Preis. EineRegulierung des Marktes über das Verbraucherverhaltenist daher bisher nicht möglich. Es kann ja schlechter-dings nicht verlangt werden, dass jeder Marktforschungbetreibt. Auch die Möglichkeiten, aktuelle Preise festzu-stellen, sind bisher trotz Internet begrenzt, und einePreisforschungsreise von Tankstelle zu Tankstelle unter-nimmt niemand. Ein Kollege hat gesagt, dass zwei Drit-tel der Verbraucher immer an derselben Tankstelle tan-ken. Ich habe irgendwo gelesen, dass 40 Prozent danntanken, wenn sie tanken müssen, und zwar unabhängigvom Preis. Das zeigt, dass das Verhalten des Verbrau-chers nicht vom Preis abhängt. Das ist gut für die Kon-zerne, aber schlecht für den Wettbewerb und schlecht fürdie Marktwirtschaft.Hier regulierend einzugreifen, ist Aufgabe der Politik.Natürlich könnte man angesichts der Benzinpreise aufdie Idee kommen, den Steueranteil zu senken. Ich haltedas für eine schlechte Idee. Ich glaube, dann würde nurder Profit der Konzerne größer werden; aber der Ver-braucher hätte nichts davon. Das wäre nicht das, was wiralle wollen.Eine staatliche Festsetzung der Preise scheidet in ei-ner Marktwirtschaft meines Erachtens auch aus.Das Bundeskartellamt hat in seiner Sektoruntersu-chung im Bereich Kraftstoffe die Marktstrukturen einge-hend analysiert und Wettbewerbsdefizite aufgrund derhohen Marktkonzentration festgestellt. Wörtlich heißtes:Wegen dieser unverändert fortbestehenden oligo-polistischen Marktstruktur sowie der Homogenitätvon Kraftstoffen und der hohen Transparenz derPreise für Wettbewerber ist es gerechtfertigt, dasseine Behörde die Preisveränderungen im Tankstel-lensektor eingehender betrachtet.In dem entsprechenden Gesetzentwurf heißt es:Ziel des Gesetzes ist es daher auch, die Preisbil-dung bei Kraftstoffen im Hinblick auf ihre Wett-bewerbskonformität zu beobachten. Eine zentralebehördliche und laufende Marktbeobachtung solldie Aufdeckung und Sanktionierung von Kartell-rechtsverstößen erleichtern.Das teilen wir ausdrücklich. Das unterstützen wir.
Nun haben wir in der Anhörung Beispiele aus ande-ren Ländern kennengelernt: Zum Beispiel dürfen inÖsterreich und Westaustralien nur einmal am Tag Verän-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28837
Ingo Egloff
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derungen vorgenommen werden. In der Anhörung wurdegesagt, das sei nicht zielführend. Das hätte nicht denErfolg gehabt, den man sich davon versprochen hat. Dashat sich mir nicht ganz erschlossen. Ich denke, wir soll-ten das im Maßnahmenköcher lassen für den Fall, dassdie Einrichtung einer Markttransparenzstelle nicht denErfolg hat, den sich alle davon versprechen.Die Schaffung einer Markttransparenzstelle ist derVersuch, die Konzerne und alle, die in nennenswertemUmfang Kraftstoffe verkaufen, zu zwingen, jede Preis-veränderung zu melden. Dies ist lästig, zumindest dann,wenn die Meldung nicht für alle Verkaufsstellen einerKette gleichgetaktet erfolgt. Dieses Problem kann manEDV-mäßig lösen.Etwas anderes kann aber die Folge sein: Wenn durchdiese Meldungen offenbar wird, in welch kurzen Ab-ständen herauf- und herunterreguliert wird, und wenndas, was wir bisher nur gefühlsmäßig zu wissen glauben,durch Zahlen dokumentiert ist, könnten die Konzerne inErklärungsnot kommen: Warum wird das so vorgenom-men? Dann sind sie gegenüber dem Verbraucher instärkerem Maße als gegenwärtig zur Rechenschaft ver-pflichtet. Dadurch wird der Druck auf die Konzerne grö-ßer, zu begründen, warum sie diese Maßnahme zu einembestimmten Zeitpunkt ergreifen. Das gilt insbesondere,wenn das Kartellamt zur gleichen Zeit Veränderungenam Rohölmarkt beobachtet.
Wir denken, dass es den Versuch wert ist, mit einemvergleichsweise milden Eingriff zu versuchen, Transpa-renz zu schaffen, um entweder Ansatzpunkte für eineentsprechende Regulierung zu haben oder allein mit derMeldepflicht ein verändertes Marktverhalten der Kon-zerne zu veranlassen.Darüber hinaus besteht für die Verbraucher die Mög-lichkeit – darauf haben Sie hingewiesen –, bei den Ver-braucherinformationsdiensten die aktuellen Kraftstoff-preise zu erfahren. Es ist eine Erleichterung gegenüberder jetzigen Situation, wenn man sehen kann, welcheTankstelle in der Nähe den günstigsten Preis hat.Wir werden also der heute zur Beschlussfassung an-stehenden Verordnung zustimmen, sind aber gespanntdarauf, ob das System den Erfolg hat, den wir uns allezusammen davon versprochen. Wenn nicht, sehen wiruns an dieser Stelle wieder und werden dann über andereMaßnahmen beraten müssen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ichfreue mich, dass wir hier offenbar doch noch in der Lagesind, energiebezogene Themen zu diskutieren, ohne dassder gesamte Saal auseinanderfällt, dass im Gegenteilsehr erfreulich dokumentiert wird, dass es auch Themengibt, zu denen man mit großer Einigkeit Maßnahmen er-greifen kann.In der Tat sind Kraftstoffpreise für den ländlichenRaum ein besonderes Thema. Dort besteht Zwangs-bedarf, weil man sich Mobilität dort nur individuellsichern kann. Deshalb sind die Verbraucherinnen undVerbraucher insbesondere im ländlichen Raum in einerZwangslage.Nun hat der Kollege Egloff in einer exzellenten Artund Weise den Markt und die Problematik beschrieben.Konzentration bzw. Oligopole sind in der Marktwirt-schaft natürlich ein Problem. Wenn homogene Güter da-zukommen, ist das Problem noch sehr viel größer. Ichpflichte dem Kollegen ausdrücklich bei, dass eine Steu-ersenkung – Steuern machen einen erheblichen Teil desSpritpreises aus – angesichts der vermachteten Struktu-ren am Schluss von den Konzernen wieder kassiert wer-den würde. Dass wir das nicht wollen können, ist, glaubeich, jedem klar.Ich habe gemeinsam mit den Kollegen verschiedent-lich überlegt, was man tun kann. Dabei sollten wir stu-fenweise vorgehen und das australische Modell erstmalim Köcher lassen. Es gibt aber Modelle wie das österrei-chische, die schon spieltheoretisch Unfug sind. Das be-trifft die Idee, einmal am Tag den Preis festzusetzen unddann die Möglichkeit zu haben, herunterzugehen. Jederweiß doch, was dann passieren wird: Zuerst einmal wirdein hoher Preis festgesetzt, und dann versucht man, daswieder schön herunterzuskimmen. Das hilft an dieserStelle sicher auch nicht weiter.Ich glaube, dass es, wie es der Kollege Egloff be-schrieben hat, sehr wohl richtig ist, zunächst den Weg ei-nes geringeren Eingriffes zu wählen; dabei geht es ummehr Transparenz. Diese Transparenz herzustellen,sollte ursprünglich dem Kartellamt vorbehalten sein.Das Kartellamt hat im Rahmen seiner Sektoruntersu-chung zu Recht seine Sorgen kundgetan und gesagt: Wirmüssen das noch genauer beobachten, brauchen mehrInformationen. Zumindest die synchron verlaufendenPreisbewegungen sind merkwürdig – ich will mich andieser Stelle juristisch vorsichtig ausdrücken.Diese Transparenz herzustellen, ist das eine. Die an-dere Seite besteht darin, dass man hier die Chance ge-nutzt hat, diese Transparenz dann auch für den Verbrau-cher herzustellen; das ist eine gute Geschichte. In diesemZusammenhang nutzen wir die aktuellen Technologienbzw. die aktuellen Möglichkeiten. Insofern können wirdafür Sorge tragen, dass derjenige, der beispielsweisedirekt im Auto ein Smartphone hat oder das am PCmachen will, in Echtzeit die Chance hat, zu sehen, wodie nächstgelegene günstigste Tankstelle ist. Das halteich für einen ganz entscheidenden Fortschritt hin zumehr Transparenz.
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28838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Georg Nüßlein
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Ich will auch deutlich herausstellen, dass es uns nichtdaran gelegen ist, bestehende Geschäftsmodelle zu zer-stören. Nicht der Staat, die Bundesnetzagentur, das Kar-tellamt oder wer auch immer übernimmt diese Aufgabe,sondern wir organisieren das so, dass diejenigen, die bis-her ein solches Geschäftsmodell hatten und im Internetauf diesem Wege Content lieferten, dieses Geschäftsmo-dell weiter nutzen können. Meine Damen und Herren,60 interessierte Anbieter haben sich schon beim Bundes-kartellamt gemeldet und mitgeteilt, dass sie vermittelnwollen. Das ist doch ein deutlicher Beleg dafür, dass wirauch wirtschaftlich gesehen auf einem guten Weg sind.Ich füge natürlich dazu – man muss ein bisschen vor-sichtig sein, dass das nicht zu ironisch klingt –: Ein biss-chen Sorge macht mir die Transparenz, und zwar des-halb, weil man die Konzerne von der Notwendigkeitbefreit, sich die Preise der Konkurrenz von ihren Tank-warten zu besorgen. Transparenz kann man ja nicht be-schränken, indem man sagt: Sie ist nur für den Verbrau-cher da. – Da ist natürlich auch für die andere Seite einbisschen Musik drin. Entscheidend ist aber nicht, wie dieKonzerne die Informationen behandeln, sondern, wie siesich verhalten. Wenn sie sich so verhalten, dass mansieht: „Da steckt wieder System dahinter; es geht wiederdarum, die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuzo-cken“, dann muss man sich in der Tat ernsthaft Gedan-ken darüber machen, wie man an dieser Stelle eingreift.Ich will deutlich hervorheben, dass wir auch an dieTankstellenbesitzer gedacht haben. Uns als wirtschafts-freundlicher Koalition lag natürlich am Herzen, nieman-den übermäßig zu belasten. Das gewährleisten wir unteranderem durch die Härtefallregelung, die wir in die Ver-ordnung eingebaut haben. Tankstellenbetreiber könnenauf Antrag von der Meldepflicht befreit werden, wenndie Einhaltung dieser Pflicht für sie „eine unzumutbareHärte“ darstellen würde. Ein Beispiel: Der 67-jährigeTankstellenbesitzer, der weiß, dass er sowieso in naherZukunft aufhört, muss diese Auflage natürlich nicht er-füllen. Hier greift die Härtefallregelung. Außerdem ha-ben wir die Regelung getroffen, dass auch die Betreiberkleiner Tankstellen mit weniger als 750 Kubikmeter Ge-samtdurchsatz von Otto- und Dieselkraftstoffen im Jahr– das betrifft nach Marktschätzungen angeblich 400 bis500 Tankstellen – von der Meldepflicht befreit werdenkönnen.
– Der Kollege sagt es zu Recht: Wenn sie wollen. Dasheißt, Betreiber, die sich freiwillig entscheiden, dieserPflicht nachzukommen, weil es auf dem Markt auch einVorteil sein kann, wenn man dokumentiert, dass die ei-gene Tankstelle, obwohl sie klein ist, preislich leistungs-fähig ist, können und dürfen das natürlich tun. Das istaus meiner Sicht ganz wichtig.Ich will ganz besonders betonen, dass ich nicht derfesten Überzeugung bin, dass dies das Problem löst.Aber ich bin der festen Überzeugung, dass dies denWettbewerb befördert und die negativen Eingriffsmög-lichkeiten der Konzerne einschränkt; denn so sind sieleichter zu beobachten. Man kann deutlicher und schnel-ler erkennen, ob da irgendetwas nicht stimmt.Insbesondere die Preis-Kosten-Schere ist immer wie-der ein Thema. Hier geht es darum, dass Dritte zuschlechteren Konditionen als die eigenen Tankstellen be-liefert werden. Das ist in diesem Bereich ein Rie-senthema. Es ist nicht leicht, dieses Problem zu lösen.Allerdings besteht das große Risiko, dass freie Tankstel-len diskriminiert werden, während die eigenen einseitigbevorzugt werden. Das kann man in Zukunft natürlichleichter erkennen. Meine Damen und Herren, ich meine,dass wir mit der Einrichtung einer Markttransparenz-stelle eine gute Basis geschaffen haben, um den Marktweiter beobachten und hoffentlich auch verhindern zukönnen, dass es erneut zu extremen Preissprüngenkommt.
Leider muss ich dazusagen: Bis Ostern wird dieMarkttransparenzstelle nicht eingerichtet sein.
Wer jetzt kritisiert: „Die Politik hat zwar etwas gemacht,aber an Ostern kommt es wieder zum selben Problem“,der verkennt die Tatsache, dass es natürlich nicht soschnell geht, dass wir hier beraten und alles schon an Os-tern funktioniert. Die Markttransparenzstelle muss zu-nächst einmal installiert werden; dadurch werden derBranche übrigens Investitionen in Höhe von 6 Millio-nen Euro abverlangt. Sie wird mit Sicherheit Wirkungenentfalten, die wir genau beobachten werden. Dann wer-den wir, daran anknüpfend, entscheiden, welche weite-ren Maßnahmen wir treffen müssen, um diesen Markt,der vermachtet und hochproblematisch ist, an den aberviele Millionen Bürger gewissermaßen angekettet sind,so zu verändern, dass wir unser Ziel, für mehr und bes-sere soziale Marktwirtschaft zu sorgen, erreichen.Ich möchte ausdrücklich sagen: Die Vorschläge, dievon der linken Seite dieses Hauses manchmal in die Dis-kussion eingebracht werden, dass staatlicherseits etwasgetan werden sollte, sind keine Option.
Das macht es nämlich mit Sicherheit nicht besser.In diesem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören.
Für die Linke hat die Kollegin Johanna Voß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Os-terfest steht bevor. Damit jährt sich der Anlass für dieEinrichtung dieser Markttransparenzstelle; die Vor-schläge sind jetzt schon ein Jahr in der Beratung.Auch dieses Jahr – davon können wir ausgehen –werden die Benzinpreise pünktlich mit der Reisewelle zuOstern steigen. Auch diesmal wird das Bundeskartellamt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28839
Johanna Voß
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nicht in der Lage sein, den Mineralölkonzernen Preisab-sprachen nachzuweisen. Solche – illegalen – Preisab-sprachen sind gar nicht nötig, wo doch ein Blick auf diePreistafeln der Konkurrenz reicht.Der Präsident des Bundeskartellamts, Herr Mundt,hat resigniert.
Er hat in einem Interview erklärt: Die Konzerne habenseit Jahren ein effektives System gefunden, mit dem sie– ich zitiere ihn – „gefahrlos Preiserhöhungen durchset-zen können“. – Das ist so nicht hinzunehmen.
Nun kommt die Bundesregierung mit einer Scheinlö-sung für dieses Problem: Eine Markttransparenzstellesoll eingerichtet werden. Die offenkundige Marktmachtder fünf Oligopolisten wird aber bleiben, und sie werdendiese zu nutzen wissen. Was ist geplant? So gut wie jedeTankstelle – es gibt rund 15 000 – soll in Echtzeit Preiseund Preisänderungen an das Bundeskartellamt übermit-teln. Diese Infos werden dann an Verbraucherinforma-tionsdienste weitergeleitet. Diese betreiben Preisver-gleichsprogramme und bieten ihre Informationen fürNavigationssysteme oder Smartphones an, eine App. DieAutofahrerinnen und Autofahrer sollen dann die güns-tigsten Tankstellen ansteuern. – Das soll das System dergefahrlosen Preiserhöhung aushebeln.Das ist eine naive Hoffnung. Praktisch ändert sich da-mit nichts an der Macht der Mineralölkonzerne. Das ein-studierte Muster der Preissprünge – meist nach oben –wird eher noch erleichtert. Transparenz ist nämlich – daswurde eben schon festgestellt – keine Einbahnstraße: Sowerden auch die großen Tankstellenbetreiber das Systemnutzen und die Preise noch einfacher steuern können.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Spritpreisetrotz Markttransparenzstelle steigen; darauf haben dieExperten in der Anhörung im Wirtschaftsausschussschon hingewiesen.
Selbst die Regierung scheint an die preisdämpfendeWirkung nicht recht zu glauben. Von Herrn Röslers voll-mundigen Erklärungen zur Spritpreiskontrolle bleibt nurdie Hoffnung auf eine – ich zitiere wiederum – präven-tive Abschreckungswirkung, die die Preistreiber zur Rä-son bringen soll. – Das ist lachhaft bei dem Aufwandund den Kosten, die dieses Gesetz mit sich bringt.
Für die Bürgerinnen und Bürger wird dieses Verfah-ren generell teuer. Schon der zusätzliche Verwaltungs-aufwand geht in die Millionen. Das zahlen die Steuer-zahler. Außerdem haben die Mineralölkonzerne bereitsangekündigt, dass sie die Kosten für diese Umstellungund die dauerhafte Bürokratie auf die Preise für Benzinund Diesel aufschlagen werden.
Die engmaschige Preismeldepflicht soll auch die Da-tengrundlage der Kartellbehörde verbessern. Ein ganzentscheidender Teil hierzu wurde aus der Verordnung je-doch herausgenommen: Ursprünglich sollten auch dieGroßhandelspreise der Raffinerien gemeldet werden.Das hätte Sinn gemacht; dann hätte das Kartellamt we-nigstens leichter überprüfen können, ob Aral, Esso oderShell die freien Tankstellen beim Mineralölverkauf dis-kriminieren. Leider wird nichts daraus; denn ganz imSinne der Mineralölindustrie wurde dieser Punkt in derweiteren Beratung des Gesetzes als zu bürokratisch fal-len gelassen.Dr. Nüßlein, bevor es zu den Härtefallregelungenkam, für die Sie sich so gerühmt haben, mussten sich diefreien Tankstellen erst beschweren. Das kam nicht direktvon Ihnen.
Es wird für die Autofahrerinnen und Autofahrer inder Praxis nicht leicht sein, zu einem Preisvorteil zukommen. Nehmen wir einmal an, das Smartphone oderNavi – die erforderliche Technik, um die Kraftstoffpreisein der Umgebung in Echtzeit vergleichen zu können –hat ausgerechnet, dass sich trotz des entsprechendenBenzinverbrauchs der Umweg zu einer weiter entferntenTankstelle, an der das Benzin billiger ist, lohnt. Nehmenwir weiter an, die Autofahrerinnen und Autofahrer ha-ben auch noch die Zeit für diesen Umweg und machensich auf den Weg. Nun kann es sein, dass sie, dort an-gekommen, feststellen müssen, dass der Benzinpreis– schwups! – in der Zwischenzeit schon wieder erhöhtworden ist. – Das ist doch absurd. Nach dem Willen derRegierung bleiben beliebig viele Preisänderungen proTag möglich. Was bringt denn das dann?Natürlich bringt die Meldepflicht etwas mehr Trans-parenz. Wenn man die nötige Technik und die Zeit hat,kann man diese Transparenz nutzen und spart am Endedes Tages vielleicht ein paar Euros. Das Grundproblembleibt aber: Bei Schwarz-Gelb soll allein der Verbrau-cher die Extraprofite der Mineralölkonzerne verhindern.
Die Koalition entzieht sich ihrer Verantwortung, ange-messen zu regulieren; sie lässt den Verbraucher im Re-gen stehen. Sie übersetzt Verbrauchermacht allein mitZugang zur Information – ganz wie es in der Theorie desfreien Marktes vorgesehen ist. In der Praxis ist das völliguntauglich.
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Johanna Voß
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Ich frage Sie: Wie mächtig ist der Verbraucher ange-sichts der marktbeherrschenden Stellung der fünf großenKonzerne mit der Tankstellen-App? Preishopping imCentbereich wird die vermachteten Strukturen kaum auf-lösen können. Die Konzerne sind breit aufgestellt, unddie Markttransparenzstelle setzt nur beim allerletztenGlied in der Wertschöpfungskette an. Die Konzerne ma-chen ihre Gewinne aber bei der Förderung, beim Trans-port, in der Raffinerie, beim Handel und als Letztes ebenan der Tankstelle.
Transparenz nur an der Tankstelle ist aber keine Trans-parenz.
– Das kommt gleich.Wo liegt angesichts der ökologischen Grenzen dieMacht des Verbrauchers durch den Preisvergleich? Wiralle wissen, dass der Spritpreis vom Ölpreis abhängt,und der steigt, weil wir es mit realen Knappheiten zu tunhaben, die obendrein die Spekulationen an der Börse an-heizen.Bezahlbar bleibt Energie langfristig aber nur durchsinkenden Verbrauch und eine schnelle Energiewende.Wir müssen uns schlicht unabhängiger von fossilenEnergieträgern machen. Darum geht es doch, und darummuss es uns doch gehen.
Wie mächtig sind Verbraucherinnen und Verbraucher,wenn sie zwar Preise vergleichen können, aber kaumgleichwertige Alternativen zum Auto haben? Wir brau-chen neue, umweltverträgliche und kostengünstigereFormen der Mobilität. Das wäre es dann!
Wir brauchen ein gutes, solidarisch finanziertes öffent-liches Verkehrsnetz für nah und fern und brauchbareRad- und Fußwege. Wir brauchen eine Stadtplanung, dieden Nahraum stärkt, sodass nahezu alle die Möglichkeithaben, ohne eigenes Auto ans Ziel zu kommen.
Das wäre eine sozial-ökologische Alternative, und da-hin müssten die Überlegungen gehen.
Die Zeiten billiger fossiler Energie sind vorbei, auchwenn der Boom beim riskanten unkonventionellen Ölund Gas für einen kurzen Zeitraum einen äußerstschmutzigen Aufschub gewährt. Scheinlösungen wie dieMarkttransparenzstelle, die nur als Wahlkampfhit dienensoll, helfen uns hier nicht weiter. Sie reichen nicht aus.Lassen Sie uns einen sozial-ökologischen Umbau auchfür den Verkehr anfangen!Danke schön.
Jetzt hat Oliver Krischer das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Dr. Schweickert, Transparenz ist richtig und gut,und diese Markttransparenzstelle trägt auch dazu bei,dass das ganze System des Kraftstoffmarkts insgesamtetwas durchsichtiger wird. Aber zu glauben, dadurchwürde auch nur ein Problem gelöst – Herr Nüßlein hatdas richtig gesagt –, wie Sie das dargestellt haben, istmeines Erachtens eine absolute Illusion. Bestenfallswerden wir das Problem in Zukunft besser beschreibenund vielleicht dagegen vorgehen können, aber dass Siedamit ein Problem lösen und dass dadurch das Paradiesam Kraftstoffmarkt ausbricht, ist doch nun wirklich einesehr überhebliche Darstellung.
Ich sage Ihnen Folgendes: Sie debattieren das Themajetzt, wenn ich das richtig im Kopf habe, zum drittenMal. Zum dritten Mal führen wir für diese Verordnungeine Plenardebatte durch,
und wir haben eine Regierungsbefragung dazu durchge-führt. Das zeigt mir: Sie wollen kurz vor Ostern – wennman herausguckt, hat man nicht das Gefühl, dass wirbald Ostern haben –, wenn die Debatte über die Preise anden Tankstellen wahrscheinlich wieder losgeht, hier einbisschen Show machen,
um zu zeigen, dass Sie etwas tun. Den Anforderungenwerden Sie aber überhaupt nicht gerecht.Die Anforderungen hat Ihr Wirtschaftsminister Röslerselber gesetzt, als er sich in der Bild-Zeitung hat zitierenlassen. Ich gebe das einmal wieder:Da– bei den Spritpreisen –
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Oliver Krischer
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hat sich über die Jahre einiges verzerrt. Das werdeich ändern. Das ist ein Versprechen an die Verbrau-cher.
Dieses Versprechen hat er ja wohl gebrochen, weildiese Smartphone-App, die Sie hier mit der Verordnungvorlegen, ja wohl keine Lösung für das Problem ist. Dasbringt uns an dieser Stelle bestenfalls etwas mehr Trans-parenz, aber keine Gerechtigkeit an den Tankstellen.
Solche Dinge wie die Smartphone-App, die Sie hierjetzt in Form der Verordnung beschließen lassen, gibt esschon lange, zum Beispiel clever-tanken.de. Auf diesenPortalen können Sie sich das alles ansehen. Das wirdjetzt vielleicht etwas besser, weil die Daten aktuellersind,
aber dass Sie damit etwas Neues schaffen, kann ich nunüberhaupt nicht sehen.Wenn das alles so auf der Hand liegt und selbstver-ständlich ist, wie Sie das hier jetzt darstellen, dannstaune ich darüber, dass Sie eine ganze Legislaturperiodegebraucht haben, um uns Ihr Konzept vorzulegen. Wa-rum haben Sie das denn nicht gleich gemacht?
Warum brauchen Sie einen Verordnungsentwurf mit35 Seiten, um das Ganze zu beschreiben? Sie wolltendoch einmal die Bürokratie abbauen. Jetzt aber legen Sieuns ein – ich sage es einmal so – sehr umfängliches Pa-pier vor, was das Gegenteil von Bürokratieabbau ist.
Herr Krischer, möchten Sie zwei Zwischenfragen zu-
lassen, nämlich die von Herrn Schweickert und die von
Herrn Nüßlein?
Gern.
Das scheint mir der Fall zu sein. Dann beginnt Herr
Dr. Schweickert.
Herr Kollege Krischer, vielen Dank für das Zulassen
einer Zwischenfrage. – Darf ich Sie darauf hinweisen,
dass wir den Verordnungsentwurf nicht, wie Sie darge-
stellt haben, hier zum dritten Mal debattieren, sondern
zum ersten Mal? Der Grund, warum wir hier einen Ver-
ordnungsentwurf vorlegen, ist der, dass wir bereits ein
Gesetz auf den Weg gebracht haben, damit sich die
Branche darauf einstellen konnte, damit die Ausschrei-
bungen für den IT-Bereich und sonstige Sachen schon
anlaufen konnten und damit man genau die Punkte, um
die es im Detail ging, klären kann, sodass man nicht
noch Ewigkeiten braucht, bis diese Verordnung mit dem
Gesetz Wirkung entfaltet. Geben Sie mir in dem, was ich
gerade gesagt habe, recht?
Herr Kollege Schweickert, der Verordnungsentwurf
ist hier eingebracht worden. Bevor er eingebracht wurde,
hat die Bundesregierung eigens eine Regierungsbefra-
gung zu diesem Thema durchgeführt. Das heißt, wir ha-
ben uns schon eine ganze Stunde im Plenum mit diesem
Thema auseinandergesetzt. Dann haben wir uns im Aus-
schuss mit diesem Thema beschäftigt. Jetzt machen Sie
schon wieder eine Debatte dazu. Wenn wir zu jeder Ver-
ordnung – da gibt es meines Erachtens wahrlich wichti-
gere – so viele Debatten machen würden, dann wäre das
ein wirklicher Fortschritt. Aber ich glaube, Sie wollen
hier nur eine Show abziehen,
damit Sie draußen deutlich sagen können: Wir tun etwas
gegen hohe Benzinpreise. – In der Sache selber haben
Sie nichts weiter erreicht.
Herr Nüßlein, bitte.
Herr Kollege Krischer, ich habe Ihrer Rede aufmerk-
sam gelauscht und höre allerhand Vorwürfe und Aus-
flüchte, Diskussionen über mehr Bürokratie und was
auch immer. Ich höre von Ihnen aber sehr wenig zum
Thema. Ich meine, Sie beschreiben hier ein Problem, das
wir ähnlich sehen. Jedenfalls haben Sie von einem Pro-
blem gesprochen, nämlich zu hohe Kraftstoffpreise.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass die Grünen
vor etlicher Zeit 5 D-Mark pro Liter Benzin gefordert
haben. Demnach sehen Sie vermutlich nicht wirklich ein
Problem an dieser Stelle. Vielmehr müssten Sie eigent-
lich sagen: Nach dem, was wir propagieren, ist der Sprit-
preis zu billig. – Dazu möchte ich gerne von Ihnen eine
Stellungnahme. Ist jetzt der Sprit zu billig, oder arbeitet
die Koalition tatsächlich an einem Problem? Wie stehen
denn die Grünen zu der ganzen Geschichte?
Herr Nüßlein, danke ganz herzlich für die Frage, obdie Grünen einmal 5 D-Mark für den Sprit gefordert ha-ben. Ergebnis Ihrer jahrelangen Politik ist, dass wir dafast schon angekommen sind.
Das ist doch die Realität. Mit einer Smartphone-App– ich darf doch sehr bitten, Herr Nüßlein –
lösen Sie dieses Problem überhaupt nicht.
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Oliver Krischer
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Was müssen Sie anpacken? Sie müssen die Konzen-tration am Mineralölmarkt vermindern. Damit müssenSie sich auseinandersetzen. Wir erleben seit Jahren, dasses systematisch Fusionen gibt, dass die Konzentrationimmer weiter zunimmt, dass die kleinen Tankstellen ver-schwinden. Sie haben zum Beispiel ein Geschäftsmodellder kleinen Tankstellen für Biokraftstoffbeimischungenkaputtgemacht. Das wäre ein Wettbewerbsvorteil gewe-sen.Sie verhindern – die Kollegin Voß hat das eben richtigdargelegt – in dieser Verordnung, dass wir folgende Fra-gen stellen: Was ist denn mit dem Großhandel zwischenTankstellen und Raffinerien? Wo gibt es da Mitnahme-effekte? Das wollen Sie gar nicht wissen. Das wollen Sieauch nicht bewerten.
Sie wollen nur eine Show machen, damit Sie sagen kön-nen: Wir haben eine Smartphone-App gemacht, wir tunetwas.
Aber in Wirklichkeit haben Sie an den Strukturen garnichts verändert. Genau das ist Ihr Problem.
Ich sage Ihnen: Es geht noch weiter. Was wir nämlichtatsächlich brauchen, ist eine konsequente Strategie:Weg vom Öl!
Weg vom Öl ist die wirkliche Antwort auf steigendeBenzinpreise. Da kommt von Ihnen absolut gar nichts.
Ein Mittel dazu wäre zum Beispiel,
dass Sie sich auf EU-Ebene für schärfere CO2-Grenz-werte einsetzen. Das würde nicht nur der Umwelt nut-zen, sondern auch den Verbrauch reduzieren. Vor allenDingen eröffnet das deutscher Spartechnik eine Chance.Das verhindern Sie, weil Sie bestimmte Interessen ein-zelner Energiekonzerne auf Brüsseler Ebene vertreten.Sie müssten viel mehr für die Förderung alternativer An-triebe tun. Sie haben 1 Million Elektrofahrzeuge bis zumJahr 2020 angekündigt. Schon heute ist klar, dass Siedieses Ziel nicht erreichen werden, weil Sie das ganzeGeld an den falschen Stellen versenken. Sie fördernnicht den Kauf solcher Fahrzeuge. Da machen uns an-dere europäische Länder etwas vor. Jenseits schöner In-ternetseiten und großer Propaganda, die Sie betreiben,hinken Sie hinterher und verschlafen dieses Thema.
Herr Krischer, Herr Nüßlein will Ihnen noch eine
Zwischenfrage stellen.
Aber gerne. So können wir weitermachen.
Ich habe in Ihrer Antwort auf meine Frage – genauso
wie bisher in Ihrer Rede – viele Ausflüchte und Vor-
würfe gehört. Ich hatte eine ganz konkrete Frage gestellt:
Sind Sie für einen Benzinpreis von 2,50 Euro plus X,
oder sind Sie nicht mehr der Meinung, dass der Preis sol-
che Höhen erreichen muss? Die Frage ist ganz einfach
zu beantworten: 2,50 Euro, ja oder nein? Ist ein solch
hoher Benzinpreis weiterhin das Ziel, das die Grünen
verfolgen, oder sind Sie davon abgekommen?
Wir sind gegen Ihre Politik, die die Benzinpreise nachoben treibt.
Herr Nüßlein, es ist doch völlig albern, was Sie machen.Es geht nicht darum, dass die Energiepreise zu hochsind. Die Ursache des Problems sind monopolistischebzw. oligopolistische Strukturen. Dagegen gehen Sieeinfach nicht vor.
Seinerzeit hat Ihre Partei Wahlkampf an Tankstellen ge-macht und gesagt: Wir werden die Ökosteuer abschaf-fen. – Nun regieren Sie seit knapp acht Jahren. Aber ha-ben Sie etwas unternommen? Habe ich zu diesem Themaetwas von Ihnen oder der FDP gehört? Nein, Sie habenkonsequent geschwiegen. Sie sollten hier ein Stück weitehrlich sein und eine ernsthafte „Weg vom Öl“-Strategieverfolgen.Eines ist doch klar: Ursache steigender Energiepreiseund insbesondere steigender Benzinpreise sind schwin-dende fossile Ressourcen. Dagegen müssen wir etwastun. Dagegen tun Sie aber überhaupt nichts. Statt sichmit dem Thema alternativer Kraftstoffe auseinanderzu-setzen, haben Sie selbst – das waren also noch nicht ein-mal wir Grüne – E 10 eingeführt. Als es konkret wurde,herrschte bei Ihnen Schweigen. Das Ganze ist ein Rie-sendesaster. Sie haben es nicht hinbekommen, weil Siees nicht richtig kommuniziert haben. Das ist gescheitert.Sie versuchen nun, das zu kaschieren.Ein weiteres Thema ist die Abschaffung des Dienst-wagenprivilegs, dieses wunderschönen deutschen Uni-kums. Es ist doch unglaublich, dass wir mit Steuermit-teln spritfressende Autos subventionieren. Das gibt es inkeinem anderen Land der Welt.
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Oliver Krischer
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Ich bin froh, dass sich inzwischen auch die Sozialdemo-kraten dieses Themas angenommen haben und sagen:Das muss sich in Deutschland ändern. Wir müssen vomÖl wegkommen und endlich spritsparende Fahrzeugefördern. – Das würde den Menschen helfen.Folgendes kann ich Ihnen auch nicht ersparen: DieVerordnung zur Markttransparenzstelle für Kraftstoffe,wie Sie sie so schön nennen, basiert auf dem Gesetz zurEinrichtung einer Markttransparenzstelle für den Groß-handel mit Strom und Gas. Bei der ursprünglichenMarkttransparenzstelle ging es also um Strom und Gas,also um leitungsgebundene Energie.
– Herr Breil, das darf man doch in der Debatte einmalrichtigstellen.Wir diskutieren ständig über eine Strompreisbremse.Wir müssen endlich die Frage klären, warum die gesun-kenen Börsenpreise nicht bei den Verbrauchern ankom-men. Sie sollten nicht nur über Kraftstoffe und IhreVerordnung reden. Ich frage Sie: Wo ist denn die Markt-transparenzstelle für Strom und Gas, die endlich die Ver-braucher schützt?
Das überlassen Sie den Gerichten und den Verbraucher-zentralen; diese müssen klagen. Darum kümmern Siesich an keiner einzigen Stelle.
Ich kann Ihnen sagen, wie Ihre Politik konkret aus-sieht. Ich habe bei der Bundesnetzagentur nachgefragt,wie es um die Markttransparenzstelle für Strom und Gasbestellt ist. Ich habe die Antwort bekommen: Die Koali-tionsmehrheit hat eine komische Konstruktion aus Bun-desnetzagentur und Bundeskartellamt beschlossen. Jetztmüssen wir erst einmal eine Verwaltungsvereinbarungzwischen Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt aus-handeln. – Das heißt, aufgrund Ihrer unklaren Gesetzge-bung streiten sich jetzt zwei Behörden um Kompeten-zen, statt sich für die Verbraucher einzusetzen undendlich für sinkende Strom- und Gaspreise zu sorgen.Das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nichts anderes.
– Dankenswerterweise haben Sie meine Redezeit verlän-gert, sodass ich noch einiges mehr sagen konnte.Steigende Energiepreise resultieren vor allen Dingenaus Abzocke durch die Konzerne und Oligopole.
Dagegen müssen wir etwas tun. Es reicht nicht aus, nureine Markttransparenzstelle einzuführen, die bestenfallsdas Problem beschreibt, aber nicht löst. Was wir brau-chen, ist Marktmacht für die Verbraucher, was wir brau-chen, ist Transparenz, was wir brauchen, ist eine konse-quente Strategie „Weg vom Öl“, vor allem imMobilitätsbereich. Da kommt von dieser Bundesregie-rung gar nichts, null und nichts.Ich danke Ihnen.
Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Zunächst eine Vorbemerkung zu Frau Voß: HerrPräsident Mundt hat keineswegs resigniert, nein, er hatsogar die Überprüfung der Raffinerien eingeleitet. Wirwerden zum Thema der Preisentwicklung noch vielmehr hören. Zu Ihnen, Herr Krischer, möchte ich sagen:Es ist Ihnen vielleicht entgangen, dass es einen Parla-mentsvorbehalt gibt.
Seitdem bekannt ist, dass unser Bundeswirtschafts-minister Dr. Philipp Rösler an einer besseren Kontrolledes Kraftstoffmarktes arbeitet, kann jeder Autofahrer ei-nes ganz genau beobachten: Die Preise für Treibstoff anden Tankstellen bewegen sich, und zwar erstens wiederin Abhängigkeit zu den Notierungen der Sorten an denBörsen und dem Handelsplatz Rotterdam und zweitenswieder in Abhängigkeit zu dem Wechselkurs Euro zuDollar. Jedenfalls kann ich das im Raum München undOberbayern beobachten.Das hat es in Deutschland schon lange nicht mehr ge-geben. Durch die Politik dieser Bundesregierung werdenPreisentwicklungen wieder nachvollziehbar. PlötzlicheAnstiege wie zum Beispiel jedes Jahr zu den Osterferienkönnen auf tatsächliche Ursachen hin untersucht wer-den. In einer Woche ist es wieder so weit. Wir werdensehen, wie sich die Tankstellenbetreiber verhalten wer-den.Insgesamt hat diese Koalition für einen besserenWettbewerb auf dem Kraftstoffmarkt und damit zur Ent-lastung der Verbraucherinnen und Verbraucher dreiSchritte vorgesehen. Der erste Schritt war das Verbot dersogenannten Preis-Kosten-Schere im Gesetz gegenWettbewerbsbeschränkungen. Derzeit wird es leidernoch im Bundesrat von der Opposition blockiert. Ich for-dere die Opposition hiermit auf, diese Haltung zumWohle der Pendlerinnen und Pendler, die auf ihre Fahr-zeuge angewiesen sind, zu beenden.
Der zweite Schritt ist das im Dezember des vergange-nen Jahres beschlossene Gesetz zur Einrichtung einerMarkttransparenzstelle für den Großhandel mit Stromund Gas. Dieses Gesetz bildet die Grundlage, auf der wirheute den dritten Schritt, die Verordnung für den Kraft-
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Klaus Breil
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stoffmarkt, beraten. Mit dieser Verordnung verpflichtenwir Tankstellenbetreiber, jede Änderung ihrer Preise fürDiesel und Benzin in Echtzeit an eine zentrale Stelle, dieMarkttransparenzstelle, zu übermitteln.Jetzt hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer!
Jetzt können Sie noch etwas lernen.
Eine Anmerkung sei mir an dieser Stelle zu kleinerenTankstellen erlaubt, für die eine technische Aufrüstungaus wirtschaftlichen Gründen keinen Sinn macht. Diesekönnen sich, sofern sie weniger als 750 000 Liter Treib-stoff pro Jahr absetzen, von der Verpflichtung befreienlassen.Die erhobenen Daten helfen zum einen dem Kartell-amt, Preisabsprachen leichter und schneller aufzude-cken, zum anderen werden sie circa 60 sogenannten Ver-braucherinformationsdiensten wie beispielsweise demADAC zugänglich gemacht. Diese registrierten Dienstebauen die Datensätze in Applikationen für Navigations-systeme oder Smartphones ein und stellen sie anderenzur Verfügung. Damit schaffen wir einen gänzlich trans-parenten Markt für Diesel und Benzin in Deutschlandzum Wohle der Verbraucherinnen und Verbraucher.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter hat jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Diese Bundesregierung kündigt eine Bremse nachder anderen an: zum einen die Strompreisbremse – leiderwird sie dieser Bezeichnung nicht im Ansatz gerecht –,zum anderen die Schuldenbremse, die Sie recht unambi-tioniert angehen, und jetzt die Benzinpreisbremse, diedoch ganz schön Erwartungen weckt. Bei so vielen Brem-sen entsteht leider keine Dynamik. Stattdessen verteilenSie eher Beruhigungspillen.Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Bundeswirt-schaftsminister Rösler kurz nach seinem Amtsantritt vorzwei Jahren zur Debatte gestellt hat, den Mineralölkon-zernen zu untersagen, Preise täglich mehrfach zu ändern.Davon ist heute keine Rede mehr. Ein Jahr später hat dergleiche Minister als Antwort auf die steigenden Benzin-preise eine Erhöhung der Pendlerpauschale ins Spiel ge-bracht – mit den Steuern haben Sie es ja immer –, wobeidas eine mit dem anderen eigentlich herzlich wenig zutun hat. Bevor man sich an die Mineralölkonzerne heran-traut, geht man lieber an das Portemonnaie aller Steuer-zahler.
Keinen Deut besser ist der Verkehrsminister PeterRamsauer. Auch er hat sich weit aus dem Fenster gelehntund wollte eigentlich das australische Modell einführen,nach dem Benzinpreise 24 Stunden fest bleiben müssen.Es gab immer wieder Ankündigungen, mal mehr, malweniger, keine durchdachten Vorschläge. Da ist manmittlerweile ja schon froh, wenn man den Spatz in derHand hat anstatt die Taube auf dem Dach. Deshalb tra-gen wir die Einführung der Markttransparenzstelle mit.Sie ist ein erster, aber auch nur ein erster Schritt zu mehrTransparenz – leider auch nicht mehr.
Es stellt sich schon die Frage, wo der echte Mehrwertfür den Verbraucher liegt. Der Verbraucher kann dannzwar in Echtzeit die Preisveränderungen sehen, aber obeine Manipulation vorliegt oder eine Preisabsprachestattfindet, kann er nicht nachvollziehen.Zudem stellt sich die Frage, was eigentlich passiert,wenn der Schuss nach hinten losgeht, wenn die Tankstel-lenbetreiber bzw. Spritlieferanten die Preise nach obennachziehen. Wird die Bundesregierung dann weitereMaßnahmen einleiten, um ihrem ursprünglichen Ziel ge-recht zu werden, die Preissteigerungen für die Verbrau-cher zu bremsen?Herr Staatssekretär Otto, Sie hatten bei der Regie-rungsbefragung am 20. Februar 2013 keine so richtig zu-friedenstellenden Antworten gegeben.
Sie haben allerdings gesagt, dass „mit Hochdruck ander technischen Umsetzung gearbeitet“ wird unddass das quasi bis Ostern – so wurde das in den Raum ge-stellt – schon in trockenen Tüchern ist. Jetzt ist es kurzvor Ostern, und leider wird der Verbraucher bei der gro-ßen Reisewelle zu Ostern noch nicht profitieren, weil dieUmsetzung noch nicht erfolgt ist. Aber ich gehe davonaus, dass Sie die Verordnung bis zu den Sommerferienumsetzen.
Was aber weder ein Spatz noch eine Taube ist, son-dern eine fette Gans, ist eine Stelle in Ihrer Verordnung,in der es heißt, es entstehen „Gehälter für zwei Projekt-mitarbeiter im Zweijahreszeitraum mit ca. 1,2 Mio.Euro“. Das mögen in Anbetracht des GesamthaushaltesPeanuts sein, aber an der Stelle finde ich das schon exor-bitant.
Wir werden darauf schauen, dass diese Stellen auch or-dentlich ausgeschrieben werden
und dass sie keine Versorgungsstellen für Mitglieder Ih-rer ausscheidenden Regierung werden.Herzlichen Dank.
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Rita Schwarzelühr-Sutter
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Das Wort hat nun Matthias Heider für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist noch keine drei Wochen her, da habe ich abends an ei-ner Tankstelle die Erfahrung gemacht, dass sich derSpritpreis innerhalb von zehn Minuten um fast 15 Centändern kann. Da fragt sich der überraschte Tankkunde:Was hat sich in den letzten zehn Minuten seit dem Tan-ken eigentlich verändert? Die Preise auf dem Sport-Markt – abends um 20 Uhr wahrscheinlich nicht mehr;denn der schließt ja auch irgendwann –, der Lager- oderTransportpreis, die Personalkosten? Alle diese Faktorenkönnen nicht daran schuld sein.Meine Damen und Herren, wenige Themen werden inDeutschland so emotional wie der Spritpreis diskutiert.Es kann die Menschen nichts mehr auf die Palme brin-gen, als wenn sich dieser Preis grundlos innerhalb einerkurzen Zeit sogar mehrfach ändert. Und: Die Kraftstoff-preise werden sich wieder ändern; sie werden zu Osternsteigen. Sie werden auch in kleinen Etappen wieder ab-schmelzen, weil es zu den Gesetzen des Marktes und un-ternehmerischem Handeln auf diesem Markt gehört.Die Autofahrer werden diese Erfahrungen in dennächsten Ferien wieder machen können. Sie werdenmehrfach sehen, dass sich die Preise ändern, nicht nureinmal in der Woche, sondern auch mehrmals am Tag.Dieses vermeintliche Naturgesetz wird nicht von einerklaren Logik getragen. Das Ganze ist einzig und alleindarauf angelegt, die Autofahrer, die Verbraucher inDeutschland zu verunsichern und zu verwirren.Entscheidender ist die Frage: Sind die Benzin- undDieselpreise zu hoch, oder unterliegen sie überhauptnoch marktmäßigen Gesetzmäßigkeiten? Egal wie, tan-ken darf auf keinen Fall zu einem Luxusgut werden.
Frau Kollegin Voß, Herr Kollege Krischer, Sie habenzwar kunstvolle Pirouetten über Ihre Parteiprogrammeund über Ihre umweltpolitischen Ziele gedreht, es hataber nicht einen sachdienlichen Vorschlag gegeben, wasSie den Verbrauchern in diesem Lande dafür an die Handgeben wollen.
Herr Kollege Krischer, so viele Pirouetten, wie Sie ge-dreht haben: Sie sind ein Pirouettenkaiser an dieserStelle.
Genauso ist auch das Wahlprogramm der Grünen dazugestrickt.Ich will Ihnen sagen, dass die Verbraucher in diesemLand Ihnen das nicht werden durchgehen lassen. DieLeidtragenden sind an erster Stelle die Familien, die Be-rufspendler in den ländlichen Räumen. Sie sind auf Mo-bilität angewiesen. Sie haben oft keine große Nahver-kehrsinfrastruktur. Sie können nicht einfach mal schnellim Minutentakt zur Kinderbetreuung, zum Einkaufenoder zur Arbeit fahren.
– Herr Kollege Krischer, in meinem Wahlkreis im Sauer-land ist das ein Umstand, der sehr genau beachtet wird.Und nun kommen Sie und bügeln einfach darüber hin-weg. Das ist nicht in Ordnung. Das müssen wir Ihnen andieser Stelle einmal sagen.
Das Ziel der Verordnung zur Markttransparenzstelleist es natürlich, der Preistreiberei entgegenzuwirken.Ziel ist es aber auch, das verlorengegangene Vertrauender Menschen in einen gerechtfertigten Umgang mitPreiserhöhungen zurückzugewinnen. Beide Ziele kön-nen wir erreichen, indem wir für die höchstmöglicheTransparenz sorgen, indem die undurchsichtige Preisge-staltung transparent gemacht wird. Grundlage dafür sindauf der untersten Stufe eine Meldepflicht und die Weiter-gabe dieser Daten an die Verbraucher.Meine Damen und Herren, der Kraftstoffpreis setztsich zusammen aus einem staatlichen fixen Anteil, be-stehend aus der Energie- und Mehrwertsteuer, und einemwirtschaftlich bedingten variablen Anteil, der Rohöl-preis, Transport, Veredelung und Lagerung beinhaltet.Dazu kommt eine, wie ich hoffe, angemessene Marge.Der Grund für die Preissprünge kann wegen der kurzle-bigen Dauer denknotwendigerweise nur in dem varia-blen Kostenanteil oder in der Marge liegen. Die Sektoren-untersuchung des Bundeskartellamtes aus dem Jahr 2011belegt, dass die Preise beispielsweise am Wochenendeund an Feiertagen deutlich ansteigen. Dies ist aber wederauf eine Nachfrageentwicklung zurückzuführen noch aufeine Veränderung der Großhandelspreise. Hierausschlussfolgern unsere Wettbewerbshüter – ich zitiere ausdem Bericht des Bundeskartellamtes –, „dass die zuOstern steigenden Kraftstoffpreise auf gezieltes Preiser-höhungsverhalten der Mineralölunternehmen zurückzu-führen“ sind.Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich ma-chen: Es sind nicht die einzelnen Tankstellenpächter, diewir mit dieser Verordnung in den Fokus nehmen. Siekämpfen zum Teil bei geringen Gewinnmargen selbst
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Dr. Matthias Heider
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ums Überleben. Sie sind ein kleines Glied in einer gigan-tischen Kette dieses Oligopols – der Kollege Egloff hates beschrieben –, dass sich von Bohrlöchern über Raffi-nerien und Tanklagern bis hin zur Zapfsäule erstreckt.
Diese Marktstruktur führt zu einer erheblichen Störungdes Wettbewerbs und zu einer fragwürdigen Preisbil-dung mit Preisausschlägen innerhalb kürzester Zeit.Was wir brauchen, sind Verfahrensregeln, die denPreisbestimmern Grenzen aufzeigen und die letztendlichden Verbotsvorschriften des Untereinstandspreisverkaufsund der Preiskostenschere Geltung verschaffen.
Hier wird die Markttransparenzstelle für ein Höchstmaßan Transparenz sorgen. Wir werden mit dem Gesetz zurEinrichtung dieser Markttransparenzstelle – das wir2012 ja in einem ersten Schritt auf den Weg gebracht ha-ben – für Klarheit sorgen. Wir wollen die Spielregeln anden Märkten nach und nach anziehen. Wenn wir Tank-stellenbetreiber mit einem Gesamtdurchsatz von wenigerals 750 Kubikmetern pro Jahr ausgenommen haben,dann vor allem deshalb, weil der Aufwand für diese sogroß ist, dass man ihnen das nicht ohne Weiteres aufbür-den kann.Mobile IT-Lösungen wie zum Beispiel Apps und an-dere Informationsdienste werden den Verbraucherinnenund Verbrauchern an dieser Stelle helfen.Die Ausschussberatungen haben auf ganz breiter Ba-sis gezeigt, dass die Koalition hier mit Augenmaß vor-geht. Wir freuen uns auch über die Unterstützung ausden Reihen der Opposition. Es ist an der Zeit, zu han-deln, meine Damen und Herren,
und es ist nicht an der Zeit, Herr Krischer, hier in einerVorwahlkampfzeit Schaufensterreden zu halten; dasmüssen Sie noch lernen.Vielen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Mechthild Heil
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist noch keine drei Jahre her, dass ich michbei der Fahrt von meinem Heimatort an den FlughafenKöln/Bonn über die Spritpreise geärgert habe. Der Un-terschied auf der Strecke – eine Stunde Fahrt – betrugdamals 12 Cent. Das hat wirklich nichts mit Angebotund Nachfrage zu tun. Der normale Autofahrer fühlt sicheinfach abgezockt.In Berlin – damals war ich frischgebackene Verbrau-cherschutzbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion – hatteich das erste Gespräch mit einem Journalisten. Damitwar das Thema angestoßen.Ostern, kurze Zeit später, hat sich der damalige Wirt-schaftsminister Brüderle mit dem Thema befasst. Ichmuss ehrlich sagen: Ich bin ihm noch heute dankbar da-für. Das war klasse. Er hat wirklich etwas auf den Weggebracht.
Es ist für die Verbraucher überhaupt nicht nachvoll-ziehbar, dass die Preise so stark schwanken. Warum stei-gen sie eigentlich ausgerechnet immer zu den Hauptrei-sezeiten? An den Rohölpreisen liegt das auf keinen Fall.Das Bundeskartellamt hat die Mineralölunternehmenund die Tankstellen in zwei großen Sektoruntersuchun-gen geprüft, konnte aber leider keine illegalen Abspra-chen feststellen. – Sie haben eben danach gefragt, wa-rum es so lange gedauert hat, bis wir zu Potte gekommensind, warum zwei Jahre ins Land gegangen sind. Es lagan genau diesen Sektoruntersuchungen. Wir handelnerst, wenn wir Daten und Fakten in der Hand haben.
Was hat man herausgefunden? Es besteht ein Oligopol.Was geschieht? Die Konzerne beobachten den Marktnatürlich genau und wissen, was der Sprit bei der Kon-kurrenz kostet. Shell und Aral – um zwei zu nennen –beginnen damit, die Preise zu erhöhen, und die anderenfolgen nach einem exakt festgelegten Zeitraum von 180bis 300 Minuten. Die Unternehmen haben so ein perfek-tes System gefunden, ihre Preiserhöhungen durchzuset-zen. Andreas Mundt, der Präsident des Bundeskartell-amts, hat es wirklich schön formuliert: „Die Unternehmenverstehen sich auch ohne Worte.“Wir sorgen nun dafür, dass der Verbraucher mitredenkann. Wir sind die Ersten, die hier für Transparenz sor-gen. Wir sind die Ersten, die hier etwas für die Autofah-rer tun. Im November 2012 haben wir das Gesetz zurEinrichtung einer Markttransparenzstelle beschlossen.Es verpflichtet die Betreiber von Tankstellen, jede Ände-rung ihrer Kraftstoffpreise in Echtzeit an die Markttrans-parenzstelle beim Bundeskartellamt zu übermitteln.Diese Daten werden dann durch Verbraucherinformati-onsdienste den Verbrauchern zur Verfügung gestellt.Was bedeutet das jetzt konkret, meine Damen undHerren auf den Zuschauerrängen? Was versteht man da-runter? Jeder kann im Internet, per App auf seinemHandy oder auf einem Navigationsgerät sehen, wo diegünstigste Tankstelle ist, in seiner Umgebung oder zumBeispiel auf seiner Fahrt in den Urlaub.Außerdem wertet das Bundeskartellamt die Daten ausund kann so Wettbewerbsverstöße besser aufdecken.
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Mechthild Heil
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Wir schaffen also Transparenz. Jetzt wissen nicht nurdie Tankstellenbetreiber, wie die Preise in der Umge-bung sind, sondern endlich wissen das jetzt auch die Ver-braucher. Wir stärken die Kunden. Wir geben ihnen ei-nen Teil ihrer Marktmacht zurück. Sie entscheidennämlich, wo sie tanken wollen. Demnächst finden siemit einem Klick die günstigste Tankstelle. Das erhöhtden Druck auf die Unternehmen und stärkt den Wettbe-werb. Ein starker Wettbewerb ist immer auch gut für dieKunden, für die Verbraucher.Manch einer unkt – auch heute bei den Grünen –, da-für brauche man kein Gesetz, da es ja heute schon solcheApps und Internetportale gebe. Ja, die gibt es, und sieleisten auch wirklich gute Arbeit. Aber die Markttrans-parenzstelle ist mehr. Sie wird die Daten von fast allen14 300 Tankstellen haben, und zwar innerhalb kürzesterZeit. Das geht weit über das hinaus, was heute an Infor-mationen besteht.Die Verordnung sieht vor, dass sich nur Tankstellenbefreien lassen können, die weniger als 750 Kubikmeterpro Jahr absetzen. Das sind maximal 350 Tankstellen,also gerade einmal 2,4 Prozent aller in Deutschland be-findlichen Trankstellen. Wir schützen diese kleinenTankstellen. Sie dürfen natürlich freiwillig mitmachen,wenn sie wollen. Damit wäre dann auch die ganze Bun-desrepublik abgedeckt. Egal, wo Sie wohnen, überallkönnen Sie ab sofort die Preise an den Tankstellen ver-gleichen und dann auch an der billigsten Tankstelle tan-ken.Die Verordnung sieht ebenfalls vor, dass die Daten inregelmäßigen Intervallen von höchstens einer Minuteüber eine Standardschnittstelle zur Verfügung gestelltwerden. Die Daten sind also immer aktuell.Zwei Dinge werden passieren.Erstens werden die Preise tendenziell sinken; denndie Tankstellenbetreiber sind natürlich daran interessiert,günstiger und damit attraktiver als die Konkurrenz zusein.Zweitens werden die Preise nicht mehr so starkschwanken. Keine Tankstelle möchte ihre Kunden verär-gern, indem sie häufig die Preise ändert, auf die sich dieKunden beim Abrufen ihrer Daten Minuten vorher nochverlassen haben.Zu Beginn der Osterferien werden die Kunden leidernoch nicht in den Genuss dieser Informationen kommen.Das Bundeskartellamt arbeitet mit Hochdruck daran,und alle 14 300 Tankstellen müssen sich ja auch umstel-len. Aber im Sommer soll es dann endlich so weit sein.Dann liegt es an den Verbrauchern, die für sie günstigsteTankstelle auch anzufahren.Die christlich-liberale Koalition steht für die Bezahl-barkeit von Sprit, weil das sozial ist, wirtschaftlich sinn-voll ist und weil es für den ländlichen Raum gerecht ist.Aber was macht Rot-Grün? Beim Gesetz haben Sie da-gegen gestimmt.
Da waren Sie nicht mit an Bord. Nicht erst seit Trittinfindet Rot-Grün hohe Spritpreise klasse – das haben wirin dieser Debatte auch wieder gehört –,
weil die Grünen die Besserverdienenden, ihre Klientel,im Blick haben, die es sich leisten können, weil die Grü-nen nur an städtische Gebiete mit gutem Nahverkehr, dersubventioniert wird, mit vielen Bussen und Straßenbah-nen denken – der ländliche Raum ist ihnen egal –
und weil Rot-Grün immer nur auf Steuererhöhungensetzt. Wir stehen für Spritpreise, die sich am Marktorientieren.
Stimmen Sie heute mit uns,
dann tun Sie für alle Verbraucherinnen und Verbraucher,vor allen Dingen für alle Autofahrer und für diejenigen,die auf das Auto angewiesen sind, das Richtige.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verord-nung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-nologie zur Markttransparenzstelle für Kraftstoffe. DerAusschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksa-che 17/12746, der Verordnung auf Drucksache 17/12390in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPDbei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten UllaSchmidt , Rainer Arnold, SabineBätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDParadigmenwechsel im Konzept zur Auswärti-gen Kultur- und Bildungspolitik des Auswärti-gen Amtes vom September 2011– Drucksachen 17/9839, 17/11981 –Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD vor.
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Ulla Schmidtfür die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, noch inIhrer Koalitionsvereinbarung haben Sie davon gespro-chen, dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikmehr denn je als Beitrag zur Krisenprävention, zumMenschenrechtsschutz und zur Freiheitsförderung ver-standen werden soll, dass sie das Interesse an unseremLand, an unserer Geschichte und unserer Kultur fördernsoll, dass sie die europäische Identität stärken und einenBeitrag zur innereuropäischen Integration leisten soll.Das alles können wir als Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten unterschreiben; denn für uns war undist Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik vor allem einoffener Austauschprozess für die Emanzipation der Völ-ker, für Entwicklung, für Demokratie, für Freiheit undfür Frieden. Das bedeutet Dialog und miteinander inKontakt treten, sich kennenlernen, voneinander lernenund Vertrauen zueinander fassen.Aber kaum etwas davon findet sich im Konzept desAuswärtigen Amtes zur Auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik wieder. Im Gegenteil, das dünne Papierskizziert einen Paradigmenwechsel: Es reduziert dieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik auf Cultural Di-plomacy im Dienste deutscher Außenpolitik und verän-dert das Profil
in Richtung Durchsetzung politischer und wirtschaftli-cher Interessen. Gut ist danach allein das, was Deutsch-land wirtschaftlich direkt nutzt.Das ist ein gefährlicher Weg; denn damit zerstörenwir das wichtigste Kapital deutscher Außenpolitik:Glaubwürdigkeit.
Deutschland hat nach den Gräueltaten der Nationalso-zialisten über 60 Jahre daran gearbeitet, ein verlässlicherund hilfsbereiter Partner in der Welt zu sein, ein Freundunter Freunden. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.
Natürlich stehen wir im 21. Jahrhundert vor den He-rausforderungen der Globalisierung und im Wettstreitmit aufstrebenden Nationen. Aber die ökonomischeKonkurrenz ist doch nicht die einzige globale Herausfor-derung. Migration, Demografie, die Ungleichzeitigkeitvon Entwicklungen, die Unterdrückung der Meinungs-freiheit und vieles mehr sind mindestens gleichwertigeHerausforderungen, auf die wir reagieren müssen. Dabeibrauchen wir die Länder, mit denen wir konkurrieren, alsstarke Partner an unserer Seite. Die Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik kann die zentrale Säule sein, die inder globalisierten Welt kulturelle Brücken baut.
Aber allein groß angelegte Deutschlandjahre oderSprachkampagnen reichen dafür nicht aus. Negativ wirktsich in diesem Zusammenhang der Plan des AuswärtigenAmtes aus, die Aktivitäten der Auswärtigen Kultur- undBildungspolitik im Innern massiv abzubauen. Sie ver-kennen dabei völlig, dass der Dialog im Ausland und dieIntegration im Inland zwei Seiten einer Medaille derAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Staatsmi-nisterin, das Auswärtige Amt rühmt sich gerne, dass derHaushalt für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikin Ihrer Regierungszeit um rund 50 Millionen Euro an-gestiegen ist. Dabei verschweigen Sie nur zu gerne, dassSie zusätzliche Mittel aus dem Bildungsetat in Höhe von243 Millionen Euro erhalten haben, die eingesetzt wer-den sollten, um zusätzliche Investitionen in Bildung undWissenschaft zu fördern.Ich erinnere an den Beschluss der Koalition: Wir wer-den bei Bildung und Wissenschaft nicht kürzen, sondernim Gegenteil 12 Milliarden Euro für zusätzliche Investi-tionen zur Verfügung stellen. – Es war nie vorgesehen,dass Sie dieses Geld nutzen, um Haushaltslöcher zustopfen, und darüber hinaus weitere Kürzungen bei denMittlerorganisationen und an vielen anderen Stellen vor-nehmen.Das ist auch der Grund, warum der Haushalt im Be-reich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik inden letzten beiden Jahren im Unterausschuss für Aus-wärtige Kultur- und Bildungspolitik über alle Fraktionenhinweg keine Mehrheit gefunden hat. Dafür muss manschon einiges leisten, um so etwas zustande zu bringen.
Zusätzlich wurden Kürzungen beim Goethe-Institutangesetzt. Das Goethe-Institut konnte in den letzten Jah-ren viel leisten, weil es in Zusammenarbeit mit demDeutschen Bundestag einen tiefgreifenden Reformpro-zess durchgeführt, die Standorte effizienter aufgestelltund die Netzwerke ausgebaut hat. Aber die willkürlichenEinsparungen, die Sie auch in diesem Jahr vornehmen,rühren langsam an der Substanz des Institutes, das vonvielen von Ihnen immer wieder als die VisitenkarteDeutschlands in der Welt gerühmt wird. Man muss hierauch einmal sagen, dass die Arbeitnehmerinnen- und Ar-beitnehmervertreter zu Recht darauf hinweisen, dass dieRechnung – immer mehr Aufgaben für immer wenigerGeld – mittlerweile nicht mehr aufgeht. Das geschiehtzunehmend auf dem Rücken der Beschäftigten, zulastenihrer Gesundheit und sozialen Sicherheit.
Mir macht das Sorgen.
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Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Ich will Ihnen hier ganz
deutlich sagen: Wenn das Goethe-Institut am Ende die-
ser Sparpolitik nicht viel mehr als eine Deutschlern-
schule für Erwachsene ist, dann verlieren wir alle hier in
diesem Parlament einen wichtigen Impulsgeber, der uns
mit seiner kulturellen Arbeit und den daraus gewonne-
nen Informationen und Netzwerken hilft, traditionelle
Entwicklungen und Strukturen besser zu verstehen, reli-
giöse Identitäten zu akzeptieren und darauf zu achten,
uns sensibel zu verhalten.
Frau Kollegin.
Deshalb appelliere ich zum Schluss an Sie von den
Koalitionsfraktionen: Beenden Sie diese willkürlichen
Sparmaßnahmen, und sorgen Sie dafür, dass unsere Mitt-
lerorganisationen ihre Arbeit durchführen können!
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
2006 – es ist jetzt also die zweite Legislaturperiode –
gibt es den Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bil-
dungspolitik“, einen Unterausschuss des Auswärtigen
Ausschusses. Ich möchte zu Beginn dieser Debatte gerne
eine kleine Bilanz seiner Arbeit ziehen, für die ich sehr
dankbar bin.
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik unter-
stützt die Ziele der Außenpolitik, die mit folgendem
Dreiklang beschrieben werden: Europa stärken, Frieden
sichern, alte Freundschaften pflegen und neue Partner-
schaften gründen. Wenn man eine Bilanz für die Zeit
von 2006 bis 2013 zieht, dann fällt schon auf: Es ist im
Haushalt des Auswärtigen Amtes mehr Geld dafür zur
Verfügung gestellt worden, und zwar insgesamt 240 Mil-
lionen Euro mehr; das entspricht einem finanziellen Zu-
wachs von 43,3 Prozent. Im Einzelnen bedeutet das: Den
Goethe-Instituten stehen 28 Prozent mehr zur Verfü-
gung. Bei den Mitteln für Wissenschaft und Hochschu-
len in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gab
es einen Zuwachs von 52 Prozent. Beim Auslandsschul-
wesen lag der Zuwachs in diesem Zeitraum bei 48,6 Pro-
zent. Sie sehen, Frau Kollegin: Ich beziehe auch die Zeit
der Großen Koalition ein
und auch Ihre Arbeit im Unterausschuss „Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik“. Denn dieser Unteraus-
schuss hat die positive Entwicklung engagiert begleitet
und gefördert, und zwar – auch das wollen wir zu Be-
ginn der Debatte sagen – in großem Einvernehmen, auch
über Fraktionsgrenzen hinweg.
Ich möchte mich deshalb bei Staatsministerin Pieper
und bei der Bundesregierung bedanken, aber auch beim
Vorsitzenden des Unterausschusses, Herrn Gauweiler,
und den Sprecherinnen und Sprechern der einzelnen Frak-
tionen, Frau Grütters, Frau Schmidt, Herrn Leibrecht,
Frau Jochimsen und Frau Roth. Herzlichen Dank für die
Arbeit im Unterausschuss.
Nun gehört es natürlich zu den Aufgaben der Opposi-
tion, Kritik an der Regierung zu üben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Ja.
Darf ich die Frage stellen, ob Sie die Berichterstatter
für diesen Etat im Haushaltsausschuss vielleicht bei Ih-
rem Dank vergessen haben?
Denn wir Berichterstatter haben das Geld aufgestockt.
Ich will mir jetzt eine Bemerkung über die mir auchbekannten Rangeleien zwischen dem Unterausschuss„Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ und denHaushältern verkneifen,
die ich aus Anlass Ihrer Zwischenfrage machen könnte,und schließe Sie einfach großzügig in den Dank mit ein.
Es gehört zu den Aufgaben der Opposition, Kritik ander Regierung zu üben. Aber wenn Sie jetzt Haare in derSuppe suchen, dann sollten Sie nicht vergessen, dass dieSuppe insgesamt schmackhafter geworden ist – dazu ha-ben auch Sie beigetragen –, und vor allen Dingen, dassmehr Suppe da ist.
Daher bitte ich Sie: Lassen Sie die Kirche im Dorf.
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28850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Ruprecht Polenz
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Ich selber möchte einen Punkt ansprechen, bei demich allerdings der Meinung bin, dass Deutschland drin-gend besser werden muss: das Auslandsfernsehen.
Laut einer Übersicht der Deutschen Welle gab es 1992drei Sender, die weltweit ausgestrahlt haben: CNN, BBCund die Deutsche Welle. 2012 sind Frankreich, die Tür-kei, Russland, al-Dschasira und China hinzugekommen.Insgesamt konkurrieren jetzt 20 Sender in einem Wettbe-werb mit der Deutschen Welle um die Meinungsbildungder Weltöffentlichkeit.Ein Blick auf die Ressourcen zeigt, dass der Deut-schen Welle für Fernsehen jährlich 88 Millionen Eurozur Verfügung stehen; das ist mit Abstand das geringsteBudget. Zum Vergleich die Zahlen der anderen Fernseh-sender: Der BBC World Service verfügt über 115 Millio-nen; France 24 erhält 120 Millionen, Voice of America145 Millionen, al-Dschasira 150 Millionen, Russia To-day 275 Millionen, also mehr als dreimal so viel, wie dieDeutsche Welle zur Verfügung hat, um im publizisti-schen Wettbewerb das Russlandbild in der Welt mit zubeeinflussen. Nach Medienberichten wendet China etwa5 Milliarden zum Aufbau eines medialen Auftritts derVolksrepublik China auf, darunter für zwei Fernsehsen-der.Wir haben die Bundesregierung hier im Bundestag2011 mit breiter Mehrheit aufgefordert, gemeinsam mitden Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten derLänder für eine Ausweitung der Kooperation zwischenDeutscher Welle, ARD, ZDF und dem Deutschlandfunkzu sorgen. Seit 2011 tagen Kommissionen; aber so rich-tig herausgekommen ist dabei bis heute leider nichts.Ziel muss sein, dass die Deutsche Welle ein Programmaus dem Besten von ARD und ZDF anbieten kann, dasweltweit konkurrenzfähig ist. Die zusätzlichen Kostenfür Lizenzen und Rechte, Programme weltweit auszu-strahlen – das wurde vor fünf Jahren errechnet –, würdensich auf etwa 70 Millionen Euro belaufen. Diese Summe– jetzt mache ich einen konkreten Vorschlag – könnteleicht durch Werbeeinnahmen gedeckt werden. Nicht nurdie deutsche Automobilindustrie würde gerne weltweitwerben; auch andere Global Player wie Bayer, BASFoder Siemens würden von einer solchen Möglichkeitgerne Gebrauch machen. Etwas Besseres als ein welt-weit ausgestrahltes Deutsche-Welle-Fernsehen mit ei-nem „Made in Germany“-Werbeanteil kann man sich fürdie Exportnation Deutschland nicht vorstellen. Die man-gelnde Finanzierung wäre dann jedenfalls keine Ausredemehr.Der große Wurf ist möglich, wenn die, die man daranbeteiligen muss, ein bisschen über ihren jeweiligen me-dienpolitischen Schatten springen würden: die Länder,die Anstalten und vielleicht auch die Deutsche Welleselbst. Es ist möglich; man kann es schaffen. Ich würdemich freuen, wenn diese Debatte einen Impuls dazu ge-ben würde.
Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiterenPunkt eingehen. Der Unterausschuss hat sich in beson-derer Weise dem deutschen Auslandsschulwesen gewid-met und dessen Ausbau vorangetrieben, vor allen Dingenin Form von Begegnungsschulen, zu denen Schülerinnenund Schülern der jeweiligen Gastländer der Zugang er-möglicht wurde. Für diejenigen, die das nicht wissensollten: Auch unsere Auslandsschulen werden durchSchulgeld finanziert.Man sollte annehmen, dass es selbstverständlich ist,dass sich Deutschland gegenüber den Ländern, die beiuns eine Auslandsschule errichten wollen, ebenso ver-hält wie wir das von anderen Ländern uns gegenüber er-warten: Man organisiert eine Begegnungsschule, mitSchulgeld finanziert. Leider verweigert die nordrhein-westfälische Landesregierung den Niederlanden aktuelleine solche Genehmigung für eine internationale Schulein Münster.
Aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarungzwischen Deutschland und den Niederlanden betreibteine niederländische Stiftung seit 1995 die Hugo deGrootschool in Münster. Das Datum ist kein Zufall. Sei-nerzeit wurde das Deutsch-Niederländische Korps inMünster gegründet. Nach einer Änderung der militäri-schen Strukturen hin zu einer mehr international aufge-stellten Truppe hat die Stiftung 2006 den Auftrag erhal-ten, eine internationale Schule vorzubereiten. Die Schulesollte über Kinder von in multinationalen Verbänden tä-tigen Eltern hinaus – jetzt kommt der springende Punkt –für alle in NRW schulpflichtigen Kinder zugänglichsein. 2011 stellte der niederländische Schulträger einenentsprechenden Antrag beim zuständigen Ministerium inNordrhein-Westfalen, über den bis heute nicht entschie-den wurde. Man hat gesagt: Wir entscheiden darüberauch bis zum Jahre 2015 nicht. Warum? Die Schule sollesich erst bewähren, dann wolle man entscheiden. DerHintergrund ist: In NRW wollen SPD und Grüne keineSchule genehmigen, für die man Schulgeld bezahlenmuss.
Die Schule kann aber nur weiterarbeiten, wenn die nöti-gen Schülerzahlen zum Aufbau einer internationalenSchule erreicht werden. Das wiederum ist nur möglich,wenn die Schule anerkannt ist.In Münster gibt es Bedarf; dort gibt es acht Universi-täten und viele international tätige Unternehmen. Es gibteinen Ratsbeschluss der Stadt, der das unterstreicht. Jetztkommt der wichtige Punkt – nur deshalb spreche ich dasin dieser Debatte an –: Ohne eine schnelle Anerkennungwerden die Niederlande den Aufbau stoppen und die1 Million Euro Aufbaufinanzierung, die sie bereits be-reitgestellt haben, zurückziehen. Zudem wird es zu einerVerstimmung in den Beziehungen mit den Niederlandenführen. Deshalb meine Bitte an die Bundesregierung,dass sie sich um diese Angelegenheit kümmert. Wir kön-nen nicht für unsere Auslandsschulen überall auf der
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Ruprecht Polenz
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Welt bestimmte Rechte fordern und uns für sie einsetzen,aber sie in unserem eigenen Land nicht gewährleisten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Stefan Liebich für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DieGroße Anfrage der SPD bietet Gelegenheit, die Auswär-tige Kultur- und Bildungspolitik dieser Legislaturpe-riode zu resümieren. Die Antwort der Bundesregierungist allerdings abwiegelnd und im Vergleich zu den rechtpräzisen Fragen der SPD schwach.
Es ist auch kein Wunder, dass Sie ausweichen; denn– Frau Schmidt hat es gesagt – es hat ein Paradigmen-wechsel stattgefunden. Das ist auch okay, wenn die Re-gierung wechselt; aber es muss hier einmal ausgesprochenwerden. Statt Dialog steht nun deutsche Interessenvertre-tung im Mittelpunkt. Wir jedenfalls finden das falsch.
Überrascht sind wir aber nicht. Ich habe den Koalitions-vertrag, ehrlich gesagt, insofern anders gelesen, FrauSchmidt. In ihm wurde das eigentlich schon angekün-digt.Den deutschen Kultureinrichtungen, dem Goethe-In-stitut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst,der Humboldt-Stiftung und den deutschen Auslands-schulen wird darin die Rolle von „Brücken unserer werte-orientierten Außenpolitik“ zugewiesen. Weiter heißt es:In der Zeit der Globalisierung muss der Westen zumehr Geschlossenheit finden, um seine Interessendurchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewah-ren.Frau Schmidt, das ist nicht gerade das, was Willy Brandtim Jahr 1969 formuliert hatte. Dialog und politische Of-fenheit gehen anders.
Eine kluge Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikkönnte doch gerade dazu beitragen, Konflikte zu mini-mieren, ihnen vorzubeugen und damit auch den Friedenin der Welt zu sichern.
Auf der anderen Seite gilt aber auch: Keine noch so guteKulturpolitik kann reparieren, was durch Kriegseinsätzeverloren geht.Auch an Ihrer konkreten Arbeit üben wir Kritik. Sosoll die Präsenz der Goethe-Institute nach Brennpunktenausgerichtet werden, sagen Sie. Das klingt gar nicht gutund ist es auch nicht. Die Haushaltsmittel des Goethe-Instituts sind seit Regierungsantritt von Schwarz-Gelbunterm Strich kontinuierlich gesunken.
Herr Polenz hat hier gesagt, die „Suppe“ sei mehr ge-worden. Ich sehe das anders. Zunächst musste die„Suppe“ vor dem Zugriff der hier gelobten Haushälter– genau genommen: einiger Haushälter – verteidigt wer-den,
und dann ist ein Teller Suppe von einem anderen Tischherübergenommen worden. Mehr geworden ist sie aufjeden Fall nicht.Diese Mittelkürzungen haben ganz konkrete Folgen.Lassen Sie mich das an einem Beispiel illustrieren.Heute ist der Nationalfeiertag der Republik Namibia.Nach über 100-jähriger Fremdbestimmung erlangte dasLand am 21. März 1990 endlich seine Unabhängigkeit.Die Parlamentariergruppe für die Staaten des südlichenAfrika unseres Hauses, deren Vorsitzender ich bin, hataus diesem Anlass Kolleginnen und Kollegen des nami-bischen Parlaments eingeladen, die derzeit in unseremLand zu Gast sind. Sie haben uns an etwas erinnert,nämlich daran, dass die Bundesregierung Namibia imJahr 1991 in Aussicht gestellt hat, in Windhuk „mög-lichst bald“ – 1991! – eine Zweigstelle des Goethe-In-stituts zu eröffnen. Sie ahnen es: Das ist bis heute nichtgeschehen. Es gibt ein Goethe-Zentrum mit minimalerfinanzieller Ausstattung. Dabei gäbe es für ein Goethe-Institut in Namibia so viel zu tun. Themen wärenein deutsch-namibisches Jugendwerk, orientiert amDeutsch-Französischen Jugendwerk, oder die Arbeit aneinem gemeinsamen Geschichtsbuch.
Die namibische Seite würde sehr gerne, wie der Delega-tionsleiter Professor Katjavivi in den letzten Tagen im-mer wieder betont hat, ein neues Kapital in der Zusam-menarbeit aufschlagen; aber dazu müssten die Wunden,die Deutschland in der Kolonialzeit geschlagen hat, ge-heilt werden. Die Bundesregierung hat viel über Versöh-nung gesprochen. Hier könnte ein wichtiges Zeichen ge-setzt werden. Auswärtige Kulturpolitik wird hier ganzkonkret.Ähnliches geschah beim Haus der Kulturen der Welthier in Berlin. Die Regelförderung wurde reduziert undin eine kurzfristige Projektförderung umgewandelt. Da-mit steht sie in jedem Jahr erneut zur Debatte. So kannman nicht planen, und so kann man nicht arbeiten.
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28852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Stefan Liebich
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Auch die Situation der Auslandsschulen – an dieserStelle widerspreche ich meinem geschätzten Vorredner –hat sich nicht nachhaltig verbessert.
Die Probleme bei den Versorgungslasten, die zwischenBund und Ländern hinsichtlich der Lehrerinnen undLehrer existieren, sind nach wie vor nicht gelöst.
Ich erinnere schließlich auch noch an die Künstler-akademie Tarabya.
Auch diese konnte nur wegen des parteiübergreifendenEinsatzes im Unterausschuss Auswärtige Kultur- undBildungspolitik an den Start gehen.
Mein Fazit: Das Auswärtige Amt verfügt erstensnicht über die erforderliche Kompetenz im Kultur- undBildungsbereich,
ist zweitens nicht in der Lage, die Bereitstellung der not-wendigen Ressourcen in den Haushaltsdebatten durch-zusetzen, und ist schließlich drittens nicht gewillt, sichbei seinen Entscheidungen auf den Rat der parlamentari-schen Gremien zu stützen. Schade eigentlich.Dem Entschließungsantrag der SPD, der auch unsereKritik verdeutlicht, werden wir hier zustimmen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Koppelin.
Herr Kollege Liebich, Sie werden erstaunt sein, dass
ich das, was Sie zu Namibia gesagt haben, unterstütze.
Der Kollege Frankenhauser und ich sind bemüht, dafür
noch Mittel freizubekommen; ich unterstütze, was Sie
zum Goethe-Institut gesagt haben. Das liegt daran, dass
Namibia, das heute seinen Nationalfeiertag begeht, einen
großen Befürworter hat, nämlich Hans-Dietrich
Genscher, der heute ebenfalls Geburtstag hat.
Das Wort hat nun die Staatsministerin Cornelia
Pieper.
C
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Erstes möchte ich sagen, dass ich für die Große Anfrage
der SPD-Fraktion und die Antwort der Bundesregierung
dankbar bin; denn wir haben normalerweise nie Gele-
genheit, hier im Bundestag über die Auswärtige Kultur-
politik kontrovers zu diskutieren. Ich finde, es ist ganz
wichtig, dass wir diese Debatte auch einmal im Deut-
schen Bundestag führen können.
Weil die Kritik der SPD aus meiner Sicht falsch ist
– zwischen den Zeilen kann man lesen, dass sie der Mei-
nung ist, dass hier ein Paradigmenwechsel stattfindet –,
möchte ich kurz an die Geschichte der Auswärtigen Kul-
turpolitik erinnern. Bundesaußenminister Walter Scheel
und sein Staatsminister Dahrendorf haben Ende der
60er-, Anfang der 70er-Jahre die ersten Leitlinien für
e
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unsere auswärtige Kulturpolitik ist internationaleZusammenarbeit im kulturellen Bereich. Sie ist Teilunserer Außenpolitik, einer Außenpolitik, die derSicherung des Friedens in der Welt dienen will. Siemuß daher zum wechselseitigen Verständnis der in-neren Entwicklung der einzelnen Nationen beitra-gen … vor allem auch helfen, Bande zwischen denMenschen verschiedener Nationalität zu knüpfen.Die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, der Bun-desaußenminister und ich, wir fühlen uns dieser Tradi-tionslinie der Auswärtigen Kulturpolitik verpflichtet.
Der von mir sehr geschätzte und bereits genannte Hans-Dietrich Genscher hat 1977 im Bundeskabinett dieseIdee weiterentwickelt und das Konzept der AuswärtigenKulturpolitik neu gestaltet.
Frau Schmidt, das müssen Sie schon zur Kenntnis neh-men. Auch das aktuelle Konzept zur Auswärtigen Kul-turpolitik, das vom Auswärtigen Amt vorgelegt wurde,zeigt, dass wir uns diesen Ideen verpflichtet fühlen. Siekönnen das im Koalitionsvertrag nachlesen. Darin steht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28853
Staatsministerin Cornelia Pieper
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ganz klar, dass wir auf eine werteorientierte Außenpoli-tik setzen. Ich zitiere:Heute begreift Deutschland seine Auswärtige Kul-tur- und Bildungspolitik noch stärker als Beitragzur Krisenprävention, Menschenrechtsschutz undFreiheitsförderung.
Deswegen investieren wir auch sehr stark in diese Berei-che.Ich will Sie nur daran erinnern – das wird hier gele-gentlich ausgeblendet –, dass es unter Joschka Fischervon 1999 bis 2005 bei der Auswärtigen Kulturpolitikeine Kürzung der Haushaltsmittel von fast 20 Prozentgab.
2005 wurden sechs Goethe-Institute und Außenstellengeschlossen. Das ist auch die Politik der SPD gewesen.Wir haben erreicht – dafür möchte ich insbesondere derRegierungskoalition, eingeschlossen die Mitglieder desHaushaltsausschusses dieses Hauses, Dank sagen –, dassmit 787 Millionen Euro 2013 der größte AKBP-Haus-halt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes beschlos-sen worden ist. Das Gleiche war schon 2012 der Fall.Dabei handelt es sich um enorme Aufwüchse.Man kann sich natürlich wie die Kollegin Schmidtwünschen, einen noch größeren Haushalt zu haben.
Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass trotz der vonder Bundesregierung prioritär verfolgten Haushaltskon-solidierung die Aufwendungen für die Auswärtige Kul-turpolitik bis zu einem noch nie zuvor erreichten Höhe-punkt gesteigert werden konnten. Das ist ein großerErfolg dieser Regierung, meine Damen und Herren.
Ich will auch daran erinnern, dass wir uns konkreteProjekte vorgenommen haben. Gerade in der letzten Wo-che habe ich mit dem Kulturminister von Myanmar unddem Präsidenten des Goethe-Institutes über ein neuesKulturabkommen mit Myanmar gesprochen,
weil uns die Freiheitsrechte und die Menschenrechte sowichtig sind.
Wir sind das erste Land der Welt, das überhaupt Kultur-konsultationen mit diesem Land führt. Das ist uns sehrwichtig, weil wir den Demokratisierungsprozess unter-stützen und die Zivilgesellschaft stärken wollen. Deswe-gen wird das Auswärtige Amt dazu beitragen, dass wirdort noch in diesem Jahr ein Goethe-Institut aufbauenkönnen. Für die Unterstützung der Abgeordneten diesesHauses dafür bedanke ich mich ausdrücklich.Wir haben ein Auslandsschulgesetz auf den Weg ge-bracht und gestern, Herr Kauder, im Kabinett beschlos-sen.
Das war der Wunsch der Vertreter aller Fraktionen die-ses Hauses im Unterausschuss. Diese Regierung hat dasjetzt mit einem Eckpunktepapier auf den Weg gebracht. –Darüber kann die Linke lachen;
aber Sie glauben gar nicht, wie wichtig es für die deut-schen Auslandsschulen ist, einen Rechtsanspruch aufeine Festbetragsfinanzierung für drei Jahre zu haben.Wir werden das noch im Parlament diskutieren.Wir haben mit den Ländern über den Versorgungszu-schlag gesprochen. Sie haben ein verbindliches Eck-punktepapier vom Auswärtigen Amt übernommen, so-dass wir auch da Rechtssicherheit für die Schulen haben.Die Zahl der Partnerschaftsschulen haben wir ausgewei-tet. Auch das ist ein wichtiges politisches Projekt. Bis2014 wollen wir – ausgehend von heute 1 500 – 2 000Partnerschaftsschulen in der Welt haben. Das ist wichtigfür den Dialogprozess und für die Stärkung der Zivilge-sellschaft.
Wir haben die Innovations- und Wissenschaftshäuser aufsichere Beine gestellt und eine Anschubfinanzierungeingeplant.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
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Herr Präsident, ich weiß, dass das Thema nicht nur
für die Abgeordneten dieses Hauses begeisterungswür-
dig ist, sondern auch für mich.
Am Ende will ich noch sagen: Wir haben viele neue
Impulse in der Auswärtigen Kulturpolitik gegeben. Die-
ses Haus hat beschlossen, dass wir die Luther-Dekade
nicht nur im eigenen Land mit Ereignissen feiern,
sondern auch in Washington 2016 und in Südkorea mit
einer großen internationalen Ausstellung auftreten. Ich
habe schon das Konzept, das ich mit Ihnen demnächst
im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss dis-
kutieren werde, und freue mich darauf.
Frau Kollegin!
Metadaten/Kopzeile:
28854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
(C)
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Herr Präsident, ich kann nur sagen: Wenn in der Aus-
wärtigen Kulturpolitik ein Paradigmenwechsel stattge-
funden hat, dann war es ein Paradigmenwechsel zum
Besseren.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Claudia Roth für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist diedritte Säule in der Außenpolitik. Sie schafft ganz eigenepolitische Möglichkeiten; sie kann Türen öffnen undBrücken bauen, wo sonst nichts mehr geht und wo allesverschlossen erscheint. Wir haben das bei unsererschwierigen Reise in den Iran und bei unserer Reise mitdem DFB nach Nordkorea erlebt.Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit sindeigentlich gut. Der Unterausschuss Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik wird von einer unglaublich offenenund kollegialen Atmosphäre getragen, in der wir partei-lich, aber nicht parteipolitisch für wichtige Kultur- undBildungsprojekte kämpfen.Aber es gibt Probleme. Sie liegen in einer – man musses wirklich so sagen – bisweilen festzustellenden Igno-ranz der Exekutive gegenüber uns, der Legislative, undin einem manchmal fast autistischen, verschlossenenKommunikationsstil der Führung des Auswärtigen Am-tes.
Ein Beispiel ist das Konzeptpapier selbst, auf das wiruns heute beziehen. Schon sein Zustandekommen warproblematisch. Das Auswärtige Amt hat die Mittlerorga-nisationen sehr unzureichend einbezogen. Man hat ihnenangeboten, sie könnten ihre Vorschläge ja übermitteln.Wenn das alles ist, dann ist das kein konstruktiver Dis-kussionsprozess mit dem Goethe-Institut, dem DAADund all den anderen Organisationen, die unsere Außen-kulturpolitik Tag für Tag mit Leben erfüllen.Wichtige Bereiche wie der Sport und seine Chancenspielten am Anfang gar keine Rolle. Auch die fachlichzuständigen und, wie ich glaube, wirklich kompetentenMitglieder des Unterausschusses waren in die Erarbei-tung dieses Konzepts mitnichten einbezogen. Wir wur-den nur Knall auf Fall zur Präsentation des sogenanntenKonzepts eingeladen. Danach ist nicht viel passiert. Ichfinde, es ist eine Diskrepanz – das bezieht sich nicht aufSie, Frau Pieper –, wenn der Außenminister das Hohe-lied von der dritten Säule der Außenpolitik singt, es abernicht für nötig erachtet, in dreieinhalb Jahren auch nurein einziges Mal den politisch zuständigen Ausschuss zubesuchen, um mit den zuständigen Personen zu diskutie-ren.
Die Reihenfolge der im Untertitel des Papiers ge-nannten Aufgaben – „Partner gewinnen, Werte vermit-teln, Interessen vertreten“ – kann man getrost umkehren.Die Interessenvertretung rückt eindeutig an die ersteStelle, und zwar so, dass Kunst und Kultur zum Beiwerkeiner reinen Wirtschaftsförderung werden. Das ist in derKonsequenz die Entleerung von Auswärtiger Kulturpoli-tik.
Wo im Konzept von Kunst und Kultur die Rede ist, gehtes mehr und mehr vorrangig um Sichtbarkeit, um großeAusstellungsformate oder – man könnte es auch direktersagen – um die Show und den Showeffekt.
Für das konkrete Alltagsgeschäft der AKBP interessiertman sich deutlich weniger.Problematisch finde ich auch die Heilsversprechen ei-ner fortschreitenden Privatisierung, unter anderem beider Finanzierung von Stipendien, bei Wissenschaftspro-grammen und bei den Auslandsschulen – kein Wort zuden Gefahren, die da drohen. Ich jedenfalls möchtenicht, dass nur noch die Kinder der Geldeliten dieserWelt an deutsche Auslandsschulen geschickt werdenkönnen.
Genau das macht nämlich den Unterschied zwischendeutschen und anderen Auslandsschulen aus. Der Eigen-sinn von Kunst und Kultur wird insbesondere bei denDeutschland-Jahren verfehlt – Großevents in Schwellen-ländern, die im Feuilleton schon einmal als neuer deut-scher Wanderzirkus bezeichnet werden.Bei der Suche nach den nachhaltigen Effekten diesesFormats sind die Antworten auf die Große Anfrage derSPD nicht wirklich schlüssig. Statt auf solch teure Stroh-feuer zu setzen, wäre es doch wirklich besser, die Mittelfür das Goethe-Institut nicht bis tief ins Jahr hinein mitHaushaltssperren zu belegen. Das wäre zumindest einbesserer und günstigerer Weg hin zu mehr Nachhaltig-keit. Das gilt übrigens auch für das Haus der Kulturender Welt, das seit Jahren darunter leidet, dass ein Teil derMittel auf Projektförderung umgestellt wurde. Das be-deutet eine sehr große Unsicherheit bei der Finanzierungund konterkariert die guten Erfolge des Hauses bei derEinwerbung von Drittmitteln.Ich glaube, die völlig unnötigen Konflikte rund umdie Künstlerakademie Tarabya hätten wir uns wirklichsparen sollen. Ihre Einrichtung war vom Bundestag ein-
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Claudia Roth
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mütig beschlossen, musste dann aber nach jahrelangemheftigem Kampf vor allem gegen Teile der Leitung desAuswärtigen Amtes durchgesetzt werden. Dabei habenwir doch allen Grund, den kulturellen Austausch mit derTürkei auszubauen, einem Land, das in der globalisier-ten Welt immer größere Bedeutung bekommt und mitdem wir durch die Migrationsgeschichte seit über50 Jahren in ganz besonderer Weise verbunden sind.Lassen Sie mich noch einen Punkt benennen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Nicht zu Tarabya. – Ich weiß schon: Ich habe Sie
nicht gewürdigt; das stimmt. Ich hätte sagen müssen:
Das war ein langer Kampf gegen Teile des Auswärtigen
Amtes und gegen Haushälter wie Sie, Herr Koppelin.
Ist das ein Ja oder ein Nein zur Zwischenfrage?
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich habe ihn vergessen; das tut mir sehr leid. Ich habe
ihn nicht gewürdigt in dem Kampf, den wir gegen ihn
geführt haben.
Dann ist das erledigt.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ein wirklich überflüssiges Vorhaben war auch Minis-
ter Westerwelles German Academy in New York. Das
Gebäude an der 5th Avenue, ein historischer Ort, an dem
so viel von unserer Geschichte, auch von unserer Nach-
kriegsgeschichte, hängt, sollte zu einer kulturfreien Prä-
sentationsräumlichkeit der deutschen Regierungs- und
Wirtschaftspolitik umgebaut werden. Wir sind dem Aus-
wärtigen Ausschuss wirklich dankbar, dass er dieses
Vorhaben gestoppt hat.
Ein weiterer Schnellschuss war das Vorhaben, die ge-
wachsenen Präsenzen des Goethe-Instituts in Westeu-
ropa auszudünnen, um ein angebliches Ungleichgewicht
im Verhältnis zu Osteuropa auszugleichen. Ich glaube,
man hat sich da einfach ein bisschen verrechnet. Jetzt
wird nachgerechnet, zum Beispiel was die unterschiedli-
chen Bevölkerungszahlen angeht.
Mein letztes Beispiel ist von Vorrednerinnen und Vor-
rednern, auch von Ulla Schmidt, schon benannt worden:
das groß angekündigte 12-Milliarden-Euro-Sonderpro-
gramm der Bundesregierung für Bildung.
– 13 Milliarden Euro. – Die Zuflüsse für das Auswärtige
Amt, die daraus resultieren, sind – daran gibt es nichts
zu rütteln – für Bilanzkosmetik, zum Stopfen von Haus-
haltslöchern benutzt worden, aber nicht für eine Weiter-
entwicklung der Auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-
tik. Das ist wirklich eine Trickserei; das ist nicht seriös.
Es muss ja Gründe haben, warum die Bildungspolitike-
rinnen und Bildungspolitiker im Unterausschuss den
Haushaltsentwurf für 2013 abgelehnt haben. Noch hat
Rot-Grün nicht die Mehrheit in diesem Ausschuss.
Also haben andere dazu beigetragen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ja, ich komme zum Schluss. – Was wir uns wünschen,
ist nicht nur die Ablehnung von getricksten Haushalts-
entwürfen, sondern eine inspirierte Politik, die Gespür
hat für Kunst und Kultur und für die Chancen, die im
Dialog in der Kulturpolitik liegen.
Frau Kollegin!
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, nicht nur in
der Politik, sondern auch in der Regierung.
Das Wort hat nun Peter Gauweiler für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Eine inspirierte Politik wünschen wir
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Dr. Peter Gauweiler
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uns alle; aber ich glaube, dass wir die im Bereich derAuswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auch haben.Ich habe mich nicht nur gefreut, weil Herr Polenzmich gelobt hat – das ist sicherlich richtig –,
sondern weil er als Vorsitzender des Auswärtigen Aus-schusses unsere gemeinsamen Anstrengungen gewürdigthat. Jenseits des Spiels von Opposition und Regierung– das sein muss, aber irgendwo auch langweilt – ist esdoch gut, dass wir die Dinge hier gemeinsam vorange-bracht haben. Es ist völlig egal, mit welchem Fremdwortoder mit welcher Metapher man das beschreibt. Eineneutrale Stimme – die Sie, das weiß ich, auch achten –,der Präsident des Goethe-Instituts, Herr ProfessorLehmann, hat vor wenigen Wochen erklärt: Das Jahr2012 war das erfolgreichste Jahr in der Geschichte desGoethe-Instituts. – Das ist doch etwas; darauf könnenwir alle uns etwas einbilden.
Die Geschichte von Außenminister Fischer brauchtman nicht zu wälzen. Ich habe selber erlebt, Frau Roth,wie Herr Fischer auf Ihre Kollegin Antje Vollmer losge-gangen ist, wie er sie heruntergebügelt hat, als sie übereinzelne Kulturprogramme geredet hat und wohlerzogenund artig gefragt hat, ob man da nicht vielleicht doch ir-gendetwas machen könnte.
Ich habe als Oppositionspolitiker im Goethe-Instituterlebt, wie die sehr geschätzte Präsidentin Jutta Limbachvon Ihrem Generalsekretär vor uns allen, was höchstpeinlich war, darauf hingewiesen worden ist, dass manunter ganz bestimmten Umständen eigentlich auch Insol-venz anmelden müsste.2006 ist es dann mit Herrn Steinmeier als Außen-minister und Frau Merkel als Bundeskanzlerin – das ge-hört zur Wahrheit dazu – besser geworden.
Im letzten Jahr hatten wir in Bezug auf die Auswär-tige Kultur- und Bildungspolitik einen absoluten Re-kordhaushalt.
– Entschuldigung, nicht „Ach“. – Wenn ich Oppositions-politiker wäre, was ich nur gelegentlich bin,
dann würde ich einwenden: Es muss dann aber auchnoch im Kopf stimmen.
Das Geld als solches macht es nicht aus.Hier muss man sagen: Es kann doch wirklich keineRede davon sein, Frau Schmidt, dass sich unsere Rich-tungsbestimmung in irgendeiner Weise zum Negativengeändert hätte. Das krasse Gegenteil ist der Fall.
– „Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten einSystem bereiten …“: Das wissen wir ja alle und könnenwir bei Mephistopheles nachschlagen.Schauen Sie sich allein die Programme der Goethe-Institute an, die wir gemeinsam durchgesetzt haben: In92 Ländern finden Deutschkurse statt, interkulturelleKurse, Bildungsoffensive Deutsche Sprache, 1 000 neueDeutschlehrer für die Türkei, das Programm „1 000 neueSchulen für Indien“, Berufsstart für 100 Deutschlehrer inÄgypten,
die sprachliche Qualifizierung von Fachkräften, die Wer-bung für Deutsch in Polen – dieser berühmte „Deutsch-Wagen“, für den Sie waren – und in Italien, wo jetzt di-verse Fahrzeuge mit riesigen Mengen an Lernmateria-lien herumfahren, die Kampagne „Lernt Deutsch“ inRussland, Tschechien, Frankreich, Großbritannien undKolumbien und die Deutsch-Projekte in vielen anderenLändern, die ich hier jetzt aus Zeitgründen nicht auf-zähle.Es hat einen einzigen doofen Paradigmenwechsel ge-geben, aber der betrifft keinen einzigen und keine Frak-tion hier in diesem Raum. Den gab es irgendwo bei ei-nem Beamten
im Bellevue-Forum. Aus Taktgefühl und Höflichkeitwill ich das jetzt nicht im Einzelnen darstellen, und ichhoffe, dass das ein einmaliger Ausrutscher gewesen ist.Schauen Sie sich auch an, was wir in den letzten dreiJahren in Bezug auf den Deutschen Akademischen Aus-tauschdienst gemacht haben – das war doch mit Ihr Pro-jekt –:
Deutsches Wissenschaftszentrum in Kairo, Deutsch-Ara-bische Transformationspartnerschaft, die ganzen dochsehr teuren, vom Steuerzahler finanzierten Stipendienfür Studenten in Kasachstan, Aserbaidschan und Tsche-tschenien und das große Projekt in Pakistan.Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung hat eine abso-lute Rekordzahl erreicht; das hat es noch nie gegeben.25 000 Humboldtianer sind hier tätig. Diejenigen, diesich mit Bayern auskennen, wissen: Das große, welt-weite Maximilianeum-Projekt wird von Deutschland ausgeführt.Es ehrt den Deutschen Bundestag, dass diese ganzenBeschlüsse dazu einstimmig gefasst worden sind. Reden
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Dr. Peter Gauweiler
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Sie hier also nicht von einem Paradigmenwechsel – au-ßer, dass es positiv anzusehen ist!
Ich will auch sagen: Frau Pieper, wir haben Sie oft ge-nug unterstützt – am liebsten gegen Ihren eigenen Appa-rat. Was Frau Roth hier sagte, ist aber – das wissen Sieselber; Sie brauchen das hier jetzt nicht zu sagen – nichtganz falsch. Da hat es im Einzelfall genug Probleme ge-geben. Es ist aber ein großer Erfolg – das will ich hierschon auch sagen –, dass Sie es bei all den Schwierigkei-ten, die Ihnen hier begegnet sind, geschafft haben, dassdie Bundesregierung Ihren Gesetzentwurf zum Aus-landsschulgesetz gestern doch noch verabschiedet hat.Dafür möchte ich Ihnen an dieser Stelle herzlich gratu-lieren. Das haben Sie gut gemacht.
Das heißt nicht, dass wir hier jetzt nicht noch ein paarVerbesserungsvorschläge machen würden. Zum Teil sindes Vorschläge, die Sie offen oder verdeckt selber schongemacht haben. Wir sind uns klar, dass wir in diesemGesetzentwurf noch etwas für die PASCH-Schulen ma-chen müssen und dass wir den Förderkreis so gestaltenmüssen, dass die vielen kleinen Auslandsschulen nichtwegfallen.Ich habe an dieser Stelle schon einmal gesagt: Ich haltees für einen kulturellen, zivilisatorischen Erfolg, dassvorletztes Jahr, vor 20 Monaten, zum ersten Mal seit über30 Jahren, in Teheran wieder ein deutsches Abitur ange-boten worden ist und dieses von 13 Schülerinnen undSchülern mit Erfolg abgelegt wurde. Wir dürfen diesesGesetz nicht so zuschneiden, dass dann solch kleineSchuleinheiten von der Förderung nicht mehr erfasst wer-den würden. Da ist ein anderer Konstruktionsschlüssel er-forderlich als beim Aufbau und der Organisation einerSchule in Berlin-Tempelhof oder in München-Bogenhau-sen.
Alles in allem glaube ich, dass es gut ist, dass Sie unsmit der Fleißarbeit dieser Großen Anfrage – 127 Fragenwollen erst einmal ausgedacht, formuliert, geschriebenund begründet werden;
jeder von uns, der an solchen Dingen arbeitet, weiß, dassdarin viel Gehirnschmalz steckt – die Gelegenheit ge-ben, uns im Plenum des Deutschen Bundestages mit die-ser Thematik zu befassen.Das nächste Thema wird das Auslandsschulgesetzsein. Es wäre ein großer gemeinsamer Erfolg für unsalle, wenn wir es trotz Wahlkampf schaffen würden, die-ses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verab-schieden.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Edelgard Bulmahn für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Auswärtige Kulturpolitik istnicht nur eine dritte Säule der Außenpolitik, sonderndiese Politik ist es, die häufig Brücken baut, die ganzhäufig erst Türen öffnet und die – so habe ich das oft er-lebt – oft überhaupt erst Wege für politische Beziehun-gen und für gute Partnerschaft und Nachbarschaft ebnet.
Deshalb lohnt es sich auch, darüber zu streiten: Wie kön-nen wir unsere Auswärtige Kultur- und Bildungspolitikweiterentwickeln, damit sie dieser wichtigen Rolle nochbesser gerecht wird, als das vielleicht in der Vergangen-heit geschehen ist?Ich sage ausdrücklich: Der Unterausschuss spielt da-bei eine wichtige und konstruktive Rolle. Was das AA inseinem Konzept niedergelegt hat, dass Auswärtige Kul-tur- und Bildungspolitik dazu beitragen soll, den Dialog,den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Men-schen und zwischen den Ländern zu stärken, das kannvon uns allen sicherlich unterschrieben werden. Dassdann sogar noch gesagt wird, dass sie auch Beiträge zurLösung regionaler und lokaler Konflikte leisten kann,das unterstreiche ich ausdrücklich.So weit die Theorie. Die Praxis sieht aber leider oftetwas anders aus. Wir diskutieren heute jedoch über diePraxis, nicht nur über die Theorie, weil sich daran dieQualität von Politik bemisst. Es geht darum, ob das, wasich als Konzept, als Theorie formuliere, tatsächlich indie Praxis umgesetzt wird. Die Praxis des AA orientiertsich jedoch offensichtlich an der Leitfrage: Was nütztDeutschland wirtschaftlich?
Das ist der Unterschied zwischen uns.Ich erkenne durchaus an – das ist überhaupt keineFrage –, dass Sie die Finanzierung der Auswärtigen Kul-tur- und Bildungspolitik verbessert haben. Ich will aller-dings einen Satz hinzufügen. Ich erinnere an das Jahr2000, in dem wir – damals allerdings seitens des BMBF,nicht vom AA –, GATE-Germany starteten, Ausgrün-dungen von Hochschulen in Ägypten, Jordanien, Singa-pur und China starteten und erfolgreich durchführen,verbunden mit erheblichen Mittelaufstockungen für denDAAD und auch für die Alexander-von-Humboldt-Stif-tung. Diese Initiativen im Ausland haben die folgendenRegierungen weitergeführt. Das freut mich. GATE-Ger-
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Edelgard Bulmahn
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many wurde weitergeführt; die Erhöhung der Zahl derAuslandsstipendien wurde fortgesetzt; das freut mich.Aber ich sage ausdrücklich: Auswärtige Kulturpolitikist aus unserer Sicht noch mehr. Kulturpolitik muss auchimmer gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln.Sie soll das schöpferische und innovative Potenzial einerGesellschaft, eines Landes und das geistige Fundamentdarstellen und vermitteln. Auch das ist eine wichtigeAufgabe der Kulturpolitik, nicht nur die Verfolgungwirtschaftlicher Interessen.
Diese Aspekte kommen uns in Ihrer Politik zu kurz.Ich habe gestern Diskussionen mit über hundert jun-gen Menschen gehabt, Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler. Worüber haben wir diskutiert? Über diegroßen globalen Herausforderungen, vor denen wir ste-hen. Wir haben über den Klimawandel, das Gefälle inder Entwicklung der unterschiedlichen Länder sowieüber die große Kluft zwischen Arm und Reich diskutiert.Es ist notwendig, dass wir genau solche Debatten undDiskussionen führen. Der Wert der Auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik misst sich auch daran, welchen Bei-trag sie dazu leistet, dass es eine direkte, vorurteilsfreieZusammenarbeit von Menschen, Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftlern sowie Kulturschaffenden, gibt. Einfreier Austausch von Ideen, Kenntnissen, Erkenntnissen,Erfahrungen und Sichtweisen sowie zugrunde liegendenWertorientierungen, das ist ein Wert an sich, der sichökonomischen Kategorien erst einmal entzieht, der aberganz erhebliche Bedeutung für das friedliche und pro-duktive Zusammenleben von Menschen hat.
Die erfolgreiche Bewältigung der globalen Heraus-forderungen hängt davon ab, ob hier entscheidende Bei-träge zur Lösung entwickelt werden können. Das ist,finde ich, eine der wichtigsten Aufgaben AuswärtigerKulturpolitik. Bei aller Liebe, Kolleginnen und Kolle-gen, das können Sie nicht durch Ausstellungen leisten.
Das können Sie nur durch das Zusammenführen vonMenschen und die Vergabe von Stipendien leisten. Wirbrauchen davon mehr als bislang.Ich will einen zweiten Punkt nennen, der mir wichtigist. Der Deutsche Bundestag gestaltet die Rahmenbedin-gungen und stellt die Finanzierung sicher. Aber entschei-dend ist, dass die Mittlerorganisationen ihre wichtigeund erfolgreiche Arbeit gut fortsetzen können.
Dazu gehört Verlässlichkeit bei der Finanzierung undden Rahmenbedingungen. Da gibt es, ganz offen gesagt,noch etwas zu tun. Lieber Herr Kollege Vorsitzender desUnterausschusses, der Unterausschuss hat genau diesimmer in den Mittelpunkt seines Wirkens gestellt: Ver-lässlichkeit bei Finanzierung und Rahmenbedingungen.Wenn ich sehe, dass die Goethe-Institute in den letztendrei Jahren 12 Millionen Euro verloren haben, gleichzei-tig aber immer neue Aufgaben und Anforderungen an siegestellt werden, dann ist das das Gegenteil von Verläss-lichkeit. Wir müssen aber für Verlässlichkeit sorgen.
Liebe Kollegen, Bildung ist mehr als schulische Aus-bildung oder das Erlernen der deutschen Sprache; daswissen wir alle doch. Bildung ist die Befähigung zuEmanzipation, Demokratie und Aufarbeitung von Kon-flikten. Dem konkreten Handeln der Bundesregierungfehlt es genau an dieser Dimension des Bildungsbegriffs.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb verwundert es mich nicht, dass Kulturver-
mittler, Fachleute und Politiker nicht nur aus der Opposi-
tion, sondern auch aus den Organisationen hier die Bun-
desregierung kritisieren.
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen. Ich hoffe
sehr, dass der nun erarbeitete Entwurf eines Auslands-
schulgesetzes im Deutschen Bundestag noch deutlich
verändert wird. Warum? Weil es nicht angeht, dass nur
ein Drittel der Schulen Mittel erhalten; das ist wirklich
eine falsche Politik.
Weil es auch nicht angeht, dass die Gemeinwohlorientie-
rung aufgegeben wird. Diese Orientierung ist immer ein
wichtiger Punkt im Hinblick auf die Wertschätzung der
deutschen Schulen gewesen. Weil es auch nicht angeht,
dass die Qualität der deutschen Schulen leidet, weil im-
mer weniger Lehrer – aus unserem eigenen Land – dort
tätig sind und genau das tun, was wir auch wollen, näm-
lich Kultur vermitteln. Deswegen sage ich ausdrücklich:
Wenn wir wollen, dass die deutschen Schulen weiterhin
hohe Anerkennung finden und dazu beitragen, dass
Deutschland als Kulturnation Wertschätzung im Ausland
erfährt, –
Frau Kollegin!
– dann muss dieser Gesetzentwurf verändert werden.
Da baue ich auf Sie alle.
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herzli-chen Dank, dass ich nach den ausleitenden Worten vonFrau Bulmahn doch noch vor Einbruch der Dunkelheithier sprechen kann.
Herzlichen Dank im Namen meiner Fraktion und mögli-cherweise auch aller anderen Kolleginnen und Kollegenan all diejenigen, die weltweit für Deutschland im Be-reich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik tätigsind. Sie sind für das Bild unseres Landes von herausra-gender Bedeutung. Ihre Arbeit wird sehr geschätzt. Vie-len herzlichen Dank für Ihre Arbeit im Ausland.
Herzlichen Dank an Frau Staatsministerin Pieper fürihre Worte hier und an Außenminister Westerwelle, derzur Auswärtigen Kulturpolitik im Auswärtigen Aus-schuss gesprochen hat
und auch den Kulturausschuss besucht hat. JoschkaFischer hat das nie geschafft.
Herr Westerwelle war bereits nach wenigen Monaten beiuns. Auch das muss an dieser Stelle ganz deutlich er-wähnt werden.
– Herr Koppelin – Frau Schmidt, das wissen Sie selber –war nie bei uns im Kulturausschuss. Was soll er auchdort? Denn zeitgleich tagt der Haushaltsausschuss.
Aber das ist eine technische Frage, die der Bundestaghier gar nicht klären muss.
Wenn ich es richtig sehe, formuliert die Opposition indiesem Entschließungsantrag ungefähr drei wirklicheKritikpunkte. Der eine ist, dass sich die Konzeption aufBildung konzentriert, der zweite, dass die AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik jetzt auch auf Osteuropaausgerichtet wird, und der dritte Punkt ist die Konzentra-tion auf das Wesentliche. Sie nennen das „geostrategi-sche Gründe“. Wir sagen: Genau die drei Punkte, die Siekritisieren, sind der Grund für den Erfolg der Auswärti-gen Kultur- und Bildungspolitik seit 2009.Auch in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitikzeigen wir, dass Bildung der erklärte Schwerpunkt die-ser Koalition ist. Das drückt sich nicht nur in den Haus-haltszahlen aus, sondern auch darin, dass wir der Bil-dung Nachdruck und Gewicht verleihen, im Inland undeben auch im Ausland. National wie international wirddie Bildung für uns immer mehr zur Schlüsselfrage. Estreten neue Kraftzentren in der Welt auf; sie sind dabei,in die erste Liga aufzusteigen. Ein rohstoffarmes Landwie Deutschland muss vor allen Dingen in eine Res-source investieren, und das ist Bildung. Keine andereBundesregierung hat das so stark gemacht wie dieseBundesregierung. Die einzelnen Maßnahmen hat HerrKollege Gauweiler eben sehr schön vorgetragen. Diemuss ich nicht wiederholen. Sie sprechen für den Erfolgund für diese Bundesregierung.Das alles geschieht in Zeiten knapper Kassen. Dassdie Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik aus ihremMauerblümchendasein herausgeholt wird, ist ein Erfolg,den insbesondere die FDP und das von ihr geleitete Aus-wärtige Amt für sich verbuchen können. Wir haben esgeschafft, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublikeine Staatsministerin zu berufen, die für AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik zuständig ist.
Was die Ausrichtung betrifft – das ist ein wichtigerPunkt –, so muss man sagen: Wir müssen die Welt wahr-nehmen, wie sie ist, und nicht so, wie sie war. Für dieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik gilt das in ganzbesonderer Weise. Es ist nicht nur Schöngeisterei, dieuns zusammenführt. Bilderausstellungen in Italien oderMadrid sind von Bedeutung, sie sind wichtig; aberSprachkurse in Minsk oder Moskau sind von mindestensgleich großer Bedeutung. Wir müssen darauf hinarbei-ten, dass Bildung endlich wieder einen ordentlichenStellenwert auch im Ausland erhält.
Die Europäische Union ist natürlich das Fundamentder deutschen Außenpolitik. Aber Herr Westerwellesagte ja so schön: Europa ist nicht Westeuropa. – Esheißt schließlich Europäische Union und nicht Westeu-ropäische Union. Deswegen kümmern wir uns verstärktum Osteuropa. Wir wollen nicht irgendwo etwas weg-nehmen, sondern wir wollen Schieflagen beseitigen. Diesind offenkundig in Osteuropa. Deswegen konzentrierenwir uns verstärkt auf Bildung, und wir konzentrieren unsstärker auf Osteuropa.Letztlich zum Vorhalt, den Sie zu den ökonomischenGründen gemacht haben: Wo leben wir denn? Wir lebenin einer Zeit, in der Deutschland im internationalenWettbewerb steht, in der wir uns den Luxus von Fach-kräftemangel erlauben und in der wir entsprechend re-agieren müssen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass dieAuswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht nur einWert als solcher ist; Auswärtige Kultur- und Bildungs-politik kommt vielmehr da zum Tragen, wo die normaleDiplomatie versagt. Dann wird sie ein knallharter Stand-
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ortfaktor. Das hat diese Bundesregierung erkannt. Sieführt diese Politik durch und wird sie weiterhin durch-führen, weil sie erfolgreich ist.Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk-samkeit. Ich bin einer der wenigen Redner, die nichtvom Präsidenten aufgefordert worden sind, zum Ende zukommen. Ich bedanke mich sehr herzlich.Danke schön.
Obwohl auch Sie beinahe eine Minute überzogen ha-
ben. Nur, damit Sie nicht zu stolz davonkommen.
Das Wort hat nun Dagmar Freitag für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik war in der Ver-
gangenheit immer ein ganz bedeutsamer Baustein deut-
scher Außenpolitik. Herr Polenz, Sie haben darauf hin-
gewiesen: Insbesondere die zahlreichen Initiativen des
Auswärtigen Amtes in der Amtszeit von Minister
Steinmeier haben hier Maßstäbe gesetzt. Das gilt im Üb-
rigen für die Steigerung der Haushaltsmittel ebenso wie
für inhaltliche Impulse.
Frau Staatsministerin, selbstverständlich ist es das
gute Recht einer jeden neuen Regierung, eigene, viel-
leicht auch tatsächlich neue Schwerpunkte zu setzen.
Von daher haben wir durchaus mit einem gewissen Inte-
resse im Jahr 2011 Ihrem Konzeptpapier zur Auswärti-
gen Kultur- und Bildungspolitik entgegengesehen.
Doch nicht allein aus Sicht derer, die sich in besonde-
rer Weise dem Sport verbunden fühlen, war das Papier
eine einzige Enttäuschung. Es löste Reaktionen aus, die
von Kopfschütteln bis hin zu völliger Verständnislosig-
keit reichten,
Letzteres übrigens nicht etwa nur aus den Reihen meiner
Fraktion, sondern gleichermaßen von den bewährten
Partnern aus dem organisierten Sport. Unglaublich, aber
Rede von: Unbekanntinfo_outline
kein Wort zurRolle des Sports im gesamten Papier, erst später, dürftignachgebessert, ein dürrer Halbsatz.Aber, Herr Kollege Koppelin, das passt ja ins Bild ei-ner stetigen Kürzung dieses Haushaltsansatzes für denSport im Einzelplan 05 seit 2010. Die Regierung dieserKoalition trägt die Verantwortung für die Reduzierungder Mittel in Höhe von 5 Millionen Euro im Jahr 2010auf mittlerweile nur noch 4,5 Millionen Euro. Das, HerrKollege Koppelin, liegt auch in Ihrer Verantwortung.
– Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Dann könnenSie das gerne tun.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die stiefmüt-terliche Behandlung des Sports in der Konzeption desAuswärtigen Amtes steht nur beispielhaft für eine offen-kundige Neuausrichtung – die Kolleginnen haben bereitsdarauf hingewiesen – der gesamten Auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik.Statt einer werte- und bildungsorientierten, gesell-schaftlichen Entwicklungen angepassten Politik auf Au-genhöhe wird hier ganz offensichtlich ein Kurswechselin Richtung eines von eher wirtschaftlichen, politischenund geostrategischen Zusammenhängen dominiertenRahmens angestrebt. Das ist nicht unser Weg.
Wir fordern deshalb eine Kurskorrektur unter Einbe-ziehung der Expertise von den Trägern und den zivilge-sellschaftlichen Akteuren, die seit vielen, vielen Jahrendurch ihre exzellente Arbeit das Bild Deutschlands inder Welt mitprägen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die KolleginBulmahn hat bereits darauf hingewiesen: Im Kabinett istein Entwurf für ein Auslandsschulgesetz verabschiedetworden. Ein solches Gesetz, Frau Staatsministerin, ist inder Tat der Wunsch aller Fraktionen, damit unsere Aus-landsschulen Planungssicherheit erhalten und die hoheQualität der Ausbildung erhalten bleibt.Für meine Fraktion darf ich Ihnen aber ganz deutlichsagen: Wir werden einem solchen Gesetz wirklich nurdann zustimmen können, wenn die Gemeinwohlorientie-rung gesichert ist, die Planungs- und Finanzierungssi-cherheit für alle 141 Schulen gegeben ist und auch klei-nere Schulen und Schulen im Aufbau Förderung erhaltenkönnen.
Frau Staatsministerin, Sie haben in Ihren Ausführun-gen auf den Koalitionsvertrag verwiesen. Dazu kann ichIhnen nur sagen: Wohlfeile Worte bedeuten noch langenicht gutes Regierungshandeln.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28861
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Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesemJahr begehen wir den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages –in einer Freundschaft zu Frankreich, die noch vor50 Jahren fast undenkbar schien. Und es ist ja kein Zu-fall, dass in diesem Vertrag vor allem die Kulturbezie-hungen und der Jugendaustausch eine maßgeblicheRolle spielen. Warum? Weil die friedensstiftende Wir-kung dieser Instrumente unbestritten ist, gerade in Zei-ten, in denen viele Konflikte weltweit kulturell grundiertsind, also ethnische und religiöse Komponenten bestim-mend sind. Denn dann kommt der Kultur eine ganz be-sondere Rolle zu.Eine so verstandene Kultur gibt Auskunft über dieWertegrundlagen einer Gesellschaft. Sie ist, FrauBulmahn, eben nicht nur ein Standortfaktor, sondernAusdruck von Humanität.
Und genau diesem Geist, Frau Schmidt, ist eben auch dieAuswärtige Kulturpolitik in Deutschland verpflichtet.
Und Herr Liebich, kaum anderswo kann man so au-genfällig und konkret wie in der Auswärtigen Kultur-politik studieren, dass die unmittelbare Nachkriegsord-nung substanziell ergänzt worden ist. Bis zum Fall derMauer stand das größte Goethe-Institut in Paris. Wosteht es jetzt? In Moskau! Wollen Sie etwa ernsthaft be-streiten, dass es sinnvoll ist, in Brennpunkten wie inMyanmar oder in Libyen neue Goethe-Institute aufzu-machen?
Ganz aktuell: Wir haben vor anderthalb Jahren in Niko-sia zum zweiten Mal das Goethe-Institut eröffnet, undzwar an der brisanten Nahtstelle zwischen beiden Insel-teilen. Herr Liebich, wollen Sie ernsthaft behaupten,dass das ein Fehler war?
Die Bedeutung Europas gerade jetzt als Ausgangs-punkt der Vermittlung unserer kulturellen Werte undeben nicht nur vordergründiger wirtschaftlicher Interes-sen drückt sich ja darin aus, dass wir in Europa kein In-stitut schließen, wenn wir woanders ein neues aufma-chen. Das bedeutet übrigens auch, die französischen unditalienischen Präsenzen zu stützen, die im Übrigen in er-heblichem Umfang mit Ortskräften arbeiten, in denendie Sprachkurse mehr Geld einbringen, als sie kosten,
und für die viel mehr Drittmittel eingeworben werden,als Zuschüsse vergeben werden. Es wäre wirklich eingrobes Missverständnis, hier Fragezeichen zu setzen.
Die Arbeit der Goethe-Institute ist für die Integrationin Deutschland wichtig, für die zivilgesellschaftlicheOrdnung und Verantwortung in Europa,
Frau Schmidt, und auch für die Vermittlung unsererWerte in der Welt. Gerade da, wo Politik und Diplomatiean Grenzen stoßen, ist es doch immer wieder die Kultur,die die Brücken baut.
Ich erinnere an die große Ausstellung aus München,Dresden und Berlin, die wir in China, in Peking, durch-geführt haben. So wird Museumspolitik im Dienst derMenschenrechte gemacht. Damit ist einer halben MillionChinesen der Geist der europäischen Aufklärung nahe-gebracht worden.
Es ist so, dass wir die betroffene Zivilgesellschaft her-metisch abgeschlossener Staatengemeinschaften überunser Kulturengagement erreichen. In Nordkorea ge-schah das über einen Lesesaal, in Afghanistan über Mäd-chenschulen. In Teheran haben wir wieder Verträge mitDAAD und DAI unterschrieben. In Vietnam wurde derParzival aufgeführt – das muss man sich einmal vorstel-len –, und in China waren wir vor 14 Jahren die Ersten,die dort ein Kulturinstitut eröffnet haben. Heute sind wirdie Einzigen, die dort zwei haben.Wir glauben zwar nicht, dass man den Funktionärendamit den Kopf verdreht, aber für die Zivilgesellschaft,für die Menschen sind gerade diese Dinge häufig dereinzige Hoffnungsschimmer. Diesem Geist verdankt sichunsere Auswärtige Kulturpolitik. Natürlich gehört indiesen Zusammenhang die Eröffnung der Kulturakade-mie Tarabya. Wir wissen, dass wir in den deutsch-türki-schen Beziehungen in den letzten zehn Jahren tatsäch-lich einiges versäumt haben. Deshalb wollen wir keinKulturengagement mit einem beliebigen Nebeneinanderoder Nacheinander wechselnder Veranstaltungen, son-dern eher ein Artist-in-Residence-Programm, das stabilebilaterale Beziehungen in den meinungsbildenden Mili-eus beider Gesellschaften begründet. Wir wollen also einechtes, nachhaltiges Netzwerk. Darauf hinzuarbeiten,das ist unser Erfolg in der Auswärtigen Kulturpolitik.Wie Sie wissen – auch Frau Schmidt weiß das ja –, le-ben wir in Zeiten großer Haushaltsdisziplin. Auch dassage ich an die Adresse – ich sehe das mit Respekt, HerrKoppelin – des Haushaltsausschusses. Kürzungen in allenRessorts sind nötig; davon nehmen wir nur die Bildungaus. Das ist eine eindeutige Prioritätensetzung. Davon
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Monika Grütters
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profitieren auch die großen Bereiche in der AuswärtigenKultur- und Bildungspolitik. Deshalb haben wir – daranhat unser Fraktionsvorsitzender mitgewirkt – 8 MillionenEuro extra aus einem anderen Bereich für die Sprachar-beit zur Verfügung gestellt. Herr Gauweiler hat die vielenerfolgreichen Projekte in den verschiedenen Ländern auf-gezählt.Noch eins muss man sagen – das ist jetzt wichtig; dasist an alle Ausschüsse hier im Haus gerichtet, auch anden Haushaltsausschuss –: Wir haben Rekordzahlen beiSprachkursen. Sie sind gerade ein riesiger Wachstums-markt in Südeuropa. Das haben wir angesichts der Kri-sensituation dort zwar erwartet, aber das Ausmaß über-rascht dann doch. Es gab mehr als doppelt so vieleAnmeldungen. Fast 200 000 Menschen wollen Deutschlernen. Darauf müssen wir mit Lehrern, die wir zuerstausbilden müssen, reagieren können. Ich bin sicher, dasswir da auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Zum Abschluss. Der deutsche Staat schützt seine Kul-tur und macht sie durch seine – auch finanziell – großzü-gige Förderung unabhängig von der Wirtschaft, vonGeldgebern, vom Zeitgeist. Die staatliche Fürsorge fürdie Kultur, die ihre Freiheit ja aus sich heraus hat, dieMut zum Experiment will, die das Risiko des Scheiternsin Kauf nimmt, diese weltweit beachtete LeistungDeutschlands für seine Kultur hat einen erheblichen An-teil an unserem hohen Ansehen in der Welt. Statt zu kla-gen, sollte die Opposition also auch sehen: Kultur ist derModus unseres Zusammenlebens. Wir können sie ge-nauso wenig neu bestimmen wie unsere Sprache; beideswar immer schon da. Man kann Kultur, so verstanden,nicht für etwas einsetzen; man kann sie nicht instrumen-talisieren, auch nicht für die Wirtschaft. Sie ist mehr alsalles andere ein Wert an sich. Sie ist das Wie einer Ge-meinschaft, einer Gesellschaft und nicht das Was. Genauin diesem Geist betreiben wir auch unsere AuswärtigeKulturpolitik.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache17/12841. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-lehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-gesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Ausbau der Hilfen für Schwan-gere und zur Regelung der vertraulichen Ge-burt– Drucksache 17/12814 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung der Unterrichtung durch den DeutschenEthikratStellungnahme des Deutschen Ethikrates –Das Problem der anonymen Kindesabgabe– Drucksache 17/190 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend InnenausschussRechtsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile MinisterinKristina Schröder das Wort.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie dochbitte Platz. Wenn Sie Ihre Gespräche fortsetzen wollen,tun Sie dies bitte außerhalb des Plenarsaals.Frau Ministerin, jetzt haben Sie das Wort.Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schwer, die Beweggründe einer Mutter zu verstehen,die ihr Neugeborenes so schnell wie möglich weggebenwill. Überforderung und Hilflosigkeit, existenzielleÄngste und tiefe Verzweiflung dürften bei allen betroffe-nen Frauen zu den Motiven gehören. Das bringt sie invielen Fällen dazu, ihr Kind ohne Hilfe zu gebären. Siefinden sich dann in einer Situation wieder, die lebensbe-drohlich ist – für Mutter und Kind – und in der sie oft imAffekt entscheiden, wie sie mit dem Kind umgehen, dassie verheimlichen wollen oder verheimlichen müssen.In Deutschland werden jedes Jahr 20 bis 35 Kinderdirekt nach der Geburt ausgesetzt oder getötet. Das sinddie Fälle, von denen wir wissen. Von 2000 bis 2010 wur-den außerdem 973 Kinder anonym in Krankenhäuserngeboren, anonym übergeben oder in eine Babyklappegelegt. Bestehende Hilfsangebote haben viele Mütterdieser Kinder nicht erreicht, und die Kinder haben, wennsie überlebt haben, später keine Chance, etwas über ihreHerkunft zu erfahren.
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Mit den Babyklappen sind Angebote entstanden, diezwar manchen Kindern helfen, die aber weder den ver-zweifelten Frauen einen Ausweg bieten noch den Rech-ten der Kinder gerecht werden noch die Risiken für Leibund Leben von Mutter und Kind beseitigen; denn dieGeburt findet meist ohne medizinische Begleitung statt.Deshalb haben wir den Gesetzentwurf zur vertrauli-chen Geburt vorgelegt, den wir heute beraten und derziemlich genau das umsetzt, was der Deutsche Ethikratempfohlen hat. Ich danke vor allen Dingen den Kolle-ginnen Ingrid Fischbach, Beatrix Philipp und MiriamGruß, die das sehr intensiv begleitet haben.
Frau Fischbach und Frau Philipp, im Grunde haben Siezwölf Jahre an diesem Thema gearbeitet,
durchaus aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Deshalbhaben Sie mit sich gerungen, und wir haben miteinandergerungen. Ich bin froh, dass wir jetzt diesen Vorschlagmachen können.Wie kann man sich eine vertrauliche Geburt aus Sichteiner schwangeren Frau vorstellen? Zunächst einmal gehtes darum, Schwangere in Notlagen mit Hilfsangebotenüberhaupt zu erreichen. Deshalb ist der Ausbau der Hil-fen für Schwangere in Notlagen wesentlicher Bestandteildes Gesetzentwurfs. Wir werden dafür einen bundeswei-ten Notruf einrichten, der rund um die Uhr zur Verfügungsteht und der eine Hilfe suchende Frau schnellstmöglichan eine Schwangerschaftsberatungsstelle in der Näheweitervermittelt. Hier erfährt die Frau von Hilfsangebo-ten und auch von der Möglichkeit der vertraulichen Ge-burt und kann sich in einer Klinik dafür anmelden lassen.Natürlich wird der Frau auch dann geholfen, wenn sie un-vermittelt und ohne Beratung in die Klinik kommt und ihrKind zur Welt bringt. In jedem Fall gibt es die Möglich-keit zur Beratung, notfalls auch nach der Geburt.Entscheidet sich die Frau für eine vertrauliche Geburt,werden ihre Daten zwar erfasst, aber in einem Umschlagversiegelt und beim Bundesamt für Familie und zivilge-sellschaftliche Aufgaben hinterlegt. Dann gibt es zweiMöglichkeiten. Die Mutter kann sich doch noch für einLeben mit ihrem Kind entscheiden. Dafür bleibt ihr, wiein jedem Adoptionsverfahren, bis etwa ein Jahr nach derGeburt Zeit. In dieser Zeit kann sie ihr Kind zu sich zu-rückholen, wenn es mit dem Kindeswohl vereinbar ist.Oder – das ist die andere Möglichkeit – die Mutter bleibtbei ihrer Entscheidung. Dann wächst das Kind in allerRegel in einer Adoptivfamilie auf, und der Umschlagbleibt im Safe des BAFzA. Nach 16 Jahren kann dasKind dann die Angaben beim Bundesamt einsehen.Möchte die Mutter das nicht, kann sie schutzwürdigeBelange geltend machen. Im Streitfall entscheidet dasFamiliengericht, ob die Belange der Mutter höher zu ge-wichten sind als das Recht des Kindes auf Kenntnis sei-ner Herkunft.Mit der vertraulichen Geburt, meine Damen und Her-ren, haben wir erstmals ein rechtssicheres Angebot, dasanonyme Geburten, die immer in einer rechtlichen Grau-zone stattgefunden haben, durch einen legalen Weg er-setzt.
Für die bestehenden Babyklappen brauchen wir Stan-dards. Diese Standards lassen wir gerade entwickeln.Diesen Prozess haben wir vor zwei Monaten beim Deut-schen Verein für öffentliche und private Fürsorge ge-meinsam mit den Ländern, Organisationen und Verbän-den begonnen. Zu solchen Standards gehört aus meinerSicht zum Beispiel: die Pflicht zur Meldung eines Kin-des, das in die Babyklappe gelegt wurde, beim Standes-amt innerhalb von 24 Stunden; die Überprüfung, ob eineFrau tatsächlich die Mutter ist, wenn sie ihr Kind zu-rückholen will; und bei jedem Hinweis auf eine Baby-klappe auch die Warnung, dass unbegleitete GeburtenLeben und Gesundheit von Mutter und Kind gefährden.Meine Damen und Herren, viele von Ihnen wissen,wie schwierig die ethischen und juristischen Abwägun-gen waren, die wir für dieses Gesetz treffen mussten.Wir wollten eine Regelung, die das Leben und die Ge-sundheit von Mutter und Kind schützt, die der Lebens-wirklichkeit betroffener Frauen gerecht wird, die Frauenin Notlagen mit umfassenden Hilfsangeboten erreicht.Und wir wollten eine Regelung, die den Rechten undBedürfnissen aller Betroffenen gerecht wird: denen desKindes, denen der Mutter, auch des leiblichen Vaters,und bei einer späteren Adoption auch denen der anneh-menden Eltern. Wir wollten auch eine Regelung, dieRechtssicherheit für Ärzte und Klinikpersonal schafft.Es ist völlig klar, dass es dabei Zielkonflikte gibt unddass man hier Prioritäten setzen musste. Ich bin über-zeugt, dass wir die Prioritäten mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf richtig gesetzt haben: im Sinne schwangererFrauen, die dringend Hilfe brauchen, und im Sinne derneugeborenen Kinder, die dringend Schutz brauchen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrte Frau Ministerin, grundsätzlich ist eine gesetzlicheRegelung für eine vertrauliche Geburt zu begrüßen;keine Frage. Dadurch sollen schwangere Frauen in Kon-fliktsituationen unterstützt werden, wie Sie es eben auchgeschildert haben. Ihnen, den Frauen, würde damit einelegale Möglichkeit eröffnet, medizinisch betreut undversorgt zu entbinden und gleichzeitig für einen gewis-sen Zeitraum ihre Anonymität zu wahren. Ebenfallswäre sichergestellt, dass dem Kind die notwendigen In-formationen über die Kenntnis seiner eigenen Herkunftnicht grundsätzlich vorenthalten werden.
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Caren Marks
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Bedauerlich finden wir, dass die schwarz-gelbe Koali-tion und Sie, Frau Ministerin Schröder, mit diesem Ge-setzentwurf auf halber Strecke stehen geblieben sind.Denn einerseits wird damit die vertrauliche Geburt gere-gelt – wie gesagt: das ist zu begrüßen –, und zwar mitder Hinterlegung von Personenstandsdaten, die das Kindmit Erreichen des 16. Lebensjahres einsehen kann, miteiner Stärkung und Erweiterung der Beratungsangebotesowie mit der Sicherung der medizinischen Versorgung.Doch andererseits bleiben die anonyme Geburt in Klini-ken und das Betreiben von Babyklappen weiterhin unge-regelt. Das finden wir nicht nur inkonsequent, sonderndas ist, wenn es so bleibt, auch nicht akzeptabel.
Damit wird nämlich weiterhin eine rechtliche Grauzoneakzeptiert und gleichzeitig das verfassungsrechtlich ga-rantierte Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstam-mung unterlaufen.Entlarvend ist in diesem Zusammenhang, dass dieserGesetzentwurf die Rechte des Kindes so wenig wie mög-lich belasten will; das ist auch im Begründungsteil desGesetzentwurfes nachzulesen. Aber jedes Kind hat dasRecht auf Kenntnis seiner Abstammung. Dieses Rechthat aus gutem Grund sogar Verfassungsrang.Die weitere Duldung der Babyklappen und der ano-nymen Geburt bringt das Kind um ein elementaresGrundrecht. Der Gesetzentwurf erweckt damit den An-schein, dass jene Angebote neben der Neuregelung dervertraulichen Geburt sogar legal seien. Aber genau dassind sie eben nicht. Sie bleiben einfach weiterhin nur un-geregelt. Die Bundesregierung schafft hier keine Rechts-sicherheit für alle Beteiligten.
Momentan erscheint es eher so, als würde die vertrauli-che Geburt zu einem Angebot neben einer anderen Al-ternative werden. Das Vorhaben, damit in Zukunft dieZahl anonymer Geburten und die Nutzung von Baby-klappen zu verringern – so begrüßenswert das wäre –, istaus unserer Sicht eher zum Scheitern verurteilt. Die wei-tere Duldung der anonymen Kindsabgabe in Babyklap-pen konterkariert unseres Erachtens die Rechte des Kin-des.Das wird auch in einer sehr guten und ausführlichenStellungnahme zum Gesetzentwurf von Terre des Hommeskritisiert. Zu Recht führt Terre des Hommes darin aus,dass Babyklappen keine Kindstötungen verhindern, aberdas Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft ver-letzen. Immer wieder, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen, wird das Argument bemüht, Babyklappen würdendazu beitragen, Kindstötungen zu verhindern. Nur fehlendafür Belege. Nach den von Terre des Hommes durchge-führten Recherchen ist die Zahl der tot aufgefundenenNeugeborenen seit Bestehen der Babyklappen nicht – undauch nicht im Zuge ihrer immer größeren Verbreitung –zurückgegangen.Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wirinzwischen, dass der Tötung eines Neugeborenen andereUrsachen zugrunde liegen als der geplanten und vor al-lem zielgerichteten Aussetzung eines Säuglings in einerBabyklappe. Mütter, die ihr Neugeborenes töten, befin-den sich in einem psychischen Ausnahmezustand undsind eben nicht mit Beratungsangeboten oder durch Ba-byklappen zu erreichen. Säuglinge, die in einer Klappeabgelegt oder die anonym geboren werden, gehören alsonicht zu denjenigen Babys, die an Leib oder Leben be-droht waren.Deswegen ist Ihre Aussage, Frau Ministerin: „JederMensch mit Herz ist froh über jedes Kind, das durch eineBabyklappe gerettet wird“, nichts mehr als eine emotio-nale, aber eben durch nichts belegte trügerische Hoff-nung.
Besonders besorgniserregend ist auch, dass inzwi-schen nicht mehr nur Neugeborene, sondern vermehrt äl-tere Säuglinge und auch ältere Säuglinge mit Behinde-rungen in Babyklappen ausgesetzt werden. Auch diessollte Befürworter der Babyklappen nachdenklich stim-men.Die Ankündigung von Ihnen, Frau Schröder, stren-gere Regelungen für Babyklappen zu prüfen, und die imGesetz festgeschriebene Evaluierung nach drei Jahrenhelfen da nicht wirklich weiter. Hier muss der Gesetzge-ber, hier müssen Sie Stellung beziehen.Meine Kolleginnen und Kollegen, was ist denn ei-gentlich mit der elterlichen Verantwortung? Im deut-schen Recht bestehen Normen, die das Eltern-Kind-Ver-hältnis regeln. Eltern sind zur Fürsorge für ihr Kind undzu seiner Pflege und Erziehung berechtigt, aber auchverpflichtet. Babyklappen und Angebote zur anonymenGeburt ermöglichen es ihnen, sich dieser Verantwortungschlichtweg zu entziehen, und zwar mit Billigung desStaates durch Nichtregelung. Diese Billigung macht je-doch die Realisierung der Rechte des Kindes auf Her-kunft schlicht unmöglich.Wir von der SPD-Fraktion haben im Hinblick aufviele zahlreiche Einzelregelungen im Gesetz noch Klä-rungsbedarf. Der Gesetzentwurf sieht grundsätzlich vor,dass das Kind ab dem 16. Lebensjahr die hinterlegtenHerkunftsdaten einsehen kann. Allerdings räumt das Ge-setz ein Widerspruchsrecht für die Mutter ein. Will dieMutter ihre Identität gegenüber dem Kind generell nichtpreisgeben, muss – so sieht es der Gesetzentwurf vor –ein Familiengericht entscheiden, ob die sogenanntenschutzwürdigen Belange der Mutter gegenüber dem In-teresse des Kindes überwiegen. Als schutzwürdige Be-lange werden befürchtete Gefahren für Leib, Leben, Ge-sundheit, aber auch persönliche Freiheit genannt. Auchhier bleibt der Gesetzentwurf sehr unkonkret. Es stelltsich die Frage, ob die persönliche Freiheit der Frau mehrwiegen kann als die Persönlichkeitsrechte des Kindes,seine Herkunft zu erfahren. Diese Regelung halte ich fürsehr kritikwürdig. Ich hoffe, dass es dazu in der Anhö-rung eine Klärung und in der Folge Nachbesserungen amGesetzentwurf gibt.Zum Abschluss, meine Kolleginnen und Kollegen:Die schwarz-gelbe Koalition und die Bundesregierung
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Caren Marks
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hätten unseres Erachtens sehr gut daran getan, sich dieEmpfehlungen des Deutschen Ethikrates und die Er-kenntnisse aus der Studie des Deutschen Jugendinstitutsbei der Ausgestaltung dieses Gesetzentwurfs mehr zu ei-gen zu machen.
So überrascht es auch nicht, dass die Vorsitzende desDeutschen Ethikrates, Christiane Woopen, die ausdrück-liche Billigung von Babyklappen in diesem Gesetzent-wurf als schädlich und sogar widersprüchlich bezeich-net. Das Deutsche Jugendinstitut hält Babyklappen fürdas schlechteste Angebot, das man Mutter und Kind ma-chen kann. Darum wünschen wir uns, dass das Gesetzhier klar Stellung bezieht, damit wir uns hier nicht weiterin einer rechtlichen Grauzone bewegen müssen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin überrascht von dem, was uns gerade von derSPD vorgetragen wurde. Ich freue mich sehr auf die an-stehenden Beratungen und bin gespannt, ob das die Mei-nung der gesamten SPD-Fraktion ist.
Meine Damen und Herren, von Hannah Arendtstammt der Satz, dass mit jeder Geburt ein neuer Anfangverbunden ist. Ein Mensch kommt auf die Welt und hattheoretisch ein langes, aufregendes und chancenreichesLeben vor sich. Für 27 Neugeborene galt dies im letztenJahr nicht: 27 Babys wurden 2012 entweder nach derGeburt getötet oder starben, weil sie nicht versorgt wur-den. Ihre Mütter – das darf man annehmen – waren inschweren Notlagen und sahen keinen anderen Ausweg,als ihr Kind zu töten. Mit dem hier vorliegenden Gesetzzur Regelung der vertraulichen Geburt bieten wir nun insolchen Situationen einen Ausweg an.Ich bin sehr froh, dass es uns nach langen Verhand-lungen gelungen ist, Ihnen heute als Koalitionsfraktio-nen einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Schwangerenein zusätzliches Angebot macht, ihr Kind sicher imKrankenhaus zur Welt zu bringen und dennoch ihreAnonymität zu wahren, um sich selbst zu schützen. Fürdie Liberalen war es wichtig, den schwierigen Balance-akt zwischen dem Schutzbedürfnis der Mutter, der hiermeines Erachtens unbestritten sein dürfte, Frau Marks,und dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunfterfolgreich zu bestehen.Nur wenn die Anonymität gewahrt wird, wird das An-gebot der vertraulichen Geburt auf Akzeptanz stoßen.Deshalb haben wir den Schwangerschaftskonfliktbera-tungsstellen eine zentrale Rolle zugewiesen, die durchihre jahrelange gute Beratungsarbeit – ich will an dieserStelle ein herzliches Dankeschön sagen – gezeigt haben,dass sie das Vertrauen der Schwangeren eher besitzen,weil sie trotz ihrer staatlichen Anerkennung als staats-fern betrachtet werden. Sie sollen ergebnisoffen beratenund Wege aufzeigen, wie Hilfsangebote genutzt werdenkönnen.Das Gesetz sichert der hilfesuchenden Frau Vertrau-lichkeit zu, aber es ermöglicht den betroffenen Kindern,wie bereits erwähnt, ab dem 16. Lebensjahr, ihre eigeneIdentität festzustellen. Damit haben wir eine lange Fristdurchgesetzt – ein herzliches Dankeschön an die ent-sprechenden Berichterstatterinnen, Berichterstatter undVerantwortlichen in der Unionsfraktion –, nach der miteiner hohen Wahrscheinlichkeit die Umstände, die dieMutter nach der Geburt abgehalten haben, ihre Identitätpreiszugeben, der Vergangenheit angehören. Falls demnach Ablauf der langen Frist immer noch Gründe entge-genstehen, so hat die Mutter die Chance, unter Pseudo-nym in einer Beratungsstelle vorzutragen oder eine Per-son ihrer Wahl als Ansprechpartner zu benennen, der imfamiliengerichtlichen Verfahren fungiert, um letztend-lich Klärung herbeizuführen.Der zweite Punkt, der uns als FDP wichtig ist, betrifftdie Babyklappen. Natürlich sind wir uns der rechtlichenGrauzone der bestehenden Babyklappen bewusst undnehmen auch den Bericht des Ethikrates sehr ernst. Aberauch hier galt es, einen Balanceakt zu vollbringen: Dieeinen wollen Babyklappen verbieten, die anderen sehenin ihnen die letzte Rettung für Kinder, die ansonsten– das muss uns allen bewusst sein – getötet oder ausge-setzt würden.Unser Gesetzentwurf arbeitet nach dem Motto: „Dievertrauliche Geburt kann helfen, Babyklappen überflüs-sig zu machen“. Ein Verbot wäre der falsche Weg; dennschon die Rettung eines einzigen Kindes rechtfertigt dieExistenz von Babyklappen.
Wenn aber Mütter in schweren psychosozialen Notlagenwissen und sicher sein können, dass ihre Situation ver-traulich behandelt wird, dann werden sie sich aus Sorgeum ihr Kind für eine sichere Geburt im Krankenhausentscheiden.Meine Damen und Herren, wir ergänzen unser Hilfe-system auch noch durch einen zentralen, bundesweitenNotruf. Nach drei Jahren – so sieht es der Gesetzentwurfvor – wird evaluiert, wie das Angebot der vertraulichenGeburt angenommen wurde. Deshalb ist von entschei-dender Bedeutung, dass Frauen Kenntnis von dieserMöglichkeit haben. Das sollte nicht nur Aufgabe des Fa-milienministeriums sein, sondern alle Parlamentarierin-nen und Parlamentarier – ich appelliere an Sie – solltenin ihren Wahlkreisen über diese Möglichkeit zur vertrau-lichen Geburt informieren und das Infomaterial, das wirbereitstellen werden, verbreiten.
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Miriam Gruß
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Viele Abgeordnete – das ist bereits erwähnt worden –haben über Jahre hinweg an einer gesetzlichen Regelunggearbeitet. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herz-lich bei allen bedanken, die auch in früheren Legislatur-perioden mit viel Herzblut versucht haben, eine Lösungzustande zu bringen. Wir konnten auf ihrer Arbeit auf-bauen. Herzlichen Dank dafür!
Ich denke, Ihnen geht es genauso wie mir: Mir fälltheute ein großer Stein vom Herzen, dass es uns endlichgelungen ist, eine gute Regelung auf den Weg zu brin-gen. Der zweite große Stein wird fallen, wenn die Rege-lung auch im Gesetzblatt steht und somit ein Angebotabsichert, das Leben retten kann und Frauen Schutz bie-tet. Bis dahin ist noch ein parlamentarischer Weg zu ge-hen, aber das Ziel ist in greifbarer Nähe. Wenn wir dasZiel erreichen, dann ist das ein weiterer Meilensteindeutscher Familienpolitik, schwarz-gelber Familienpoli-tik.Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin darauf hin-
gewiesen worden, dass hier Kollegen andere Kollegen
mit dem Handy fotografieren. Ich halte das für keinen
guten Stil. Ich bitte Sie: Wir wollen uns hier nicht wech-
selseitig fotografieren. Hier geht es um den Austausch
von Argumenten und um nichts anderes, nicht um den
Austausch von Handyfotografien.
Damit hat das Wort Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Werte Frau Ministerin, Sie haben in einerPressemitteilung, in der Sie den vorliegenden Gesetzent-wurf, der die Regelungen zur vertraulichen Geburt ent-hält, vorgestellt haben, gesagt – ich darf Sie zitieren –:Jeder Mensch mit Herz ist froh über jedes Kind, dasdurch eine Babyklappe gerettet wird. Wir müssenaber dringend schon viel früher verzweifeltenSchwangeren ein Angebot machen, das ihnen unddem Kind wirksam und dauerhaft hilft.Ich gebe Ihnen völlig recht, dass wir dringend ein Ange-bot brauchen. Ich frage mich aber, warum es so lange ge-dauert hat, dem Parlament einen Gesetzentwurf zu die-sem Thema vorzulegen; denn es ist weder neu nochbesteht eine Erkenntnislücke.Wir haben ja bereits in der vergangenen Legislatur imDeutschen Bundestag über Auswertungen der Erfahrun-gen mit anonymer Geburt und Babyklappe diskutiert.Damals hat übrigens die Oppositionsfraktion FDP dieGroße Koalition angezählt, Frau Gruß. Es wurde gefragt,warum sie es nicht geschafft hat, in diesem Bereich et-was zu unternehmen, obwohl es doch im Koalitionsver-trag stand. Dieselbe Frage müssen Sie sich jetzt leiderauch von mir gefallen lassen: Warum hat es fast eineganze Legislatur gedauert, bis ein Gesetzentwurf vorge-legt wurde?
Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, wer da wen blo-ckiert hat. Jedenfalls stellt sich die Ministerin jetzt vordie Presse und preist diesen Gesetzentwurf als großenWurf. Wir werden in den Beratungen in den Fachaus-schüssen und vielleicht auch in einer Anhörung sehen,ob es sich tatsächlich um einen so großen Wurf handelt.Denn bei aller Freude über eine längst überfällige Initia-tive der Bundesregierung muss man doch festhalten,dass der Gesetzentwurf weit hinter dem zurückbleibt,was sich diese Regierung in ihrem Koalitionsvertrag fürdiese Amtszeit vorgenommen hat. Dort steht:Frauen können bei einer Schwangerschaft aus un-terschiedlichen Gründen in eine Notlage geraten.Das Angebot der vertraulichen Geburt … [ist] zuprüfen. Die Entscheidung für ein Kind darf nicht anfinanziellen Notlagen scheitern. Die Bundesmittelfür Schwangerenberatung werden zur Unterstüt-zung eines pluralen Trägerangebotes gleichmäßigvergeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, von diesem „plura-len Trägerangebot“ sind wir, glaube ich, noch weit ent-fernt. Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurfmuss deshalb auch dringend darüber diskutiert werden,inwieweit sich der Bund einbringen und wie viel er zueinem solchen pluralen niedrigschwelligen Beratungsan-gebot für Frauen beitragen will.Der Ethikrat hat bereits im Jahr 2009 eine umfassendeStellungnahme zu diesem Thema vorgelegt. Wir werdenin den weiteren Beratungen abschätzen müssen, inwie-weit die Bundesregierung dieser Empfehlung des Ethik-rats gefolgt ist. Denn es gibt Beratungsbedarf. Das ma-chen die Stellungnahmen aus Fachverbänden undInstitutionen deutlich. Die Stellungnahme von Terre desHommes ist bereits angesprochen worden. DiverseRechtsstellungen, sowohl des Kindes, aber auch desVaters – der ist heute noch gar nicht angesprochen wor-den –, sind immer noch offen. Sie scheinen nach diesenStellungnahmen ebenso unklar wie die Lösung des Pro-blems der rechtlichen Grauzone von Babyklappen undanonymer Geburt, die ja in ihrer jetzigen Form über-gangsweise erhalten bleiben sollen.Ebenso ist mitnichten klar, wie die verschiedenen Be-ratungssysteme wie Schwangerschaftskonfliktberatung,Erziehungsberatung etc. so ineinandergreifen können,dass sie Schwangeren und jungen Müttern über einenlängeren Zeitraum tatsächlich einen kontinuierlichen Be-ratungsverlauf ermöglichen. Auch insoweit müssen wir,wie ich finde, darauf achten, dass das nicht wieder in ei-nem Kompetenzgerangel zerrieben wird; denn, liebe
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Diana Golze
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Frau Ministerin, werte Kolleginnen und Kollegen, dieBetroffenen dürfen nicht wieder, weil sich der Bund aufdie Zuständigkeit der Länder und deren Verpflichtungzur Umsetzung beruft, während die Länder auf ihreklammen Kassen verweisen, hinten runterfallen.
Das ist ein weiteres Beispiel, an dem klar wird, dassauch von den Macherinnen und Machern der Föderalis-musreform von 2006 nicht an alles gedacht wurde unddass damals auch Fehler gemacht worden sind. Unver-bindliche Verpflichtungserklärungen helfen weder denMüttern noch den Kindern noch allen anderen in diesemZusammenhang Betroffenen. Deshalb gibt es bei diesemGesetzentwurf noch viel zu beraten. Ich bin darauf ge-spannt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Ziele, die mit diesem Gesetzent-
wurf verfolgt werden, unterstützen wir als Grüne unein-
geschränkt. Es ist wichtig, eine rechtssichere Alternative
zu den Babyklappen zu schaffen und Babyklappen mög-
lichst überflüssig zu machen. Frauen, die sich in einer
solchen Ausnahmesituation befinden, dass sie die Baby-
klappe in Erwägung ziehen, sollen nicht gezwungen
sein, ohne medizinische Begleitung zu entbinden und
damit ihr eigenes Leben und das Leben ihres Kindes zu
gefährden.
Es ist wichtig, durch eine neue gesetzliche Regelung
für das betroffene Kind die größtmögliche Chance si-
cherzustellen, Kenntnis über seine Abstammung zu er-
langen. Wir wissen, dass viele Menschen, die ihre Wur-
zeln nicht kennen, darunter ein ganzes Leben lang
leiden. Das, was Frau Marks gesagt hat, ist richtig: Bei
der Kenntnis der Abstammung handelt es sich um ein
Grundrecht. Aber wir müssen, wenn sich Frauen in einer
solchen Notlage befinden, zunächst einmal die Voraus-
setzung dafür schaffen, dass dieses Recht für die betrof-
fenen Kinder auch verwirklicht werden kann. Das ist
schon ein bisschen komplexer, als es unsere Kollegin
Marks hier eben dargestellt hat.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, damit diese Ziele
erreicht werden, müssen die neuen gesetzlichen Rege-
lungen einen für die betroffenen Frauen tatsächlich
gangbaren Weg gewährleisten. Ob das mit diesem Ge-
setzentwurf gelingt, ob also die Interessen der Mütter
– Stichwort: Anonymitätsbedürfnis – und die Interessen
der Kinder – Stichwort: Recht auf Kenntnis der eigenen
Abstammung – in einen guten und tragbaren Ausgleich
zueinander gebracht werden, ist in meiner Fraktion tat-
sächlich umstritten. Da gibt es bei uns unterschiedliche
Einschätzungen.
Ich selbst bin an dieser Stelle skeptisch. Das hat mit
dem Anonymitätsbedürfnis der Frauen zu tun. Wir spre-
chen von Frauen, die in einer aus ihrer Sicht absolut aus-
weglosen Situation sind. Viele verdrängen die Schwan-
gerschaft. Viele verheimlichen die Schwangerschaft bis
kurz vor der Geburt selbst vor den engsten Familienan-
gehörigen. Ein reguläres Adoptionsverfahren wird auf-
grund der eigenen Situation als völlig unmöglich erach-
tet und das Leben mit dem Kind sowieso. Studien
belegen, dass die Zusicherung der absoluten Anonymität
für diese Frauen eine Grundvoraussetzung dafür ist, sich
überhaupt in einen Beratungs- und Unterstützungspro-
zess zu begeben, was wir ja alle wollen. Zu diesem Er-
gebnis kommt auch die DJI-Studie für Deutschland. Es
muss doch unser Hauptinteresse sein, Frauen in einer
Notlage zu erreichen, zu stabilisieren und ihnen Wege
und Alternativen aufzuzeigen. Da ist Beratung eben das
A und O.
Mit der nun vorgeschlagenen Regelung wird der Mut-
ter aber die Letztentscheidung über die Aufgabe der An-
onymität aus der Hand genommen. Ich halte das ehrlich
gesagt für einen Webfehler in diesem Gesetzentwurf. Es
ist sehr schwer vorstellbar, dass es für eine werdende
Mutter, die sich über das Verfahren einer vertraulichen
Geburt beraten lässt, angesichts der beschriebenen Aus-
nahmesituation akzeptabel ist, dass im Zweifelsfall ein
Familiengericht darüber entscheidet, ob ihre Anonymität
dem Kind gegenüber preisgegeben wird, selbst wenn das
erst nach 16 Jahren der Fall sein sollte.
Es ist ein großer Vorteil einer vertraulichen Geburt
– das ist hier mehrfach erwähnt worden –, dass die Daten
der Mutter hinterlegt werden, weil damit die Möglich-
keit eröffnet wird, dass das betroffene Kind Kenntnis
über seine Abstammung erlangt, dass Mutter und Kind
sich eventuell kennenlernen; denn auch viele Mütter
– das wissen wir – haben später selbst das Bedürfnis, mit
ihrem Kind in Kontakt zu treten. Damit die vertrauliche
Geburt für die Mütter ein wirklich gangbarer Weg ist,
halte ich es aber für notwendig, dass beide, Mutter wie
Kind, die Preisgabe der Identität wollen und hier kein
Zwang im Spiel ist.
Aufgrund meiner Skepsis gegenüber der vorgesehe-
nen Regelung des Verfahrens bin ich persönlich froh,
dass – ich halte das für konsequent und notwendig – die
bestehenden Angebote zur anonymen Kindsabgabe und
die vorhandenen Babyklappen zunächst bestehen blei-
ben und evaluiert werden. Aber auch dazu gibt es in mei-
ner Fraktion unterschiedliche Einschätzungen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss.
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Katja Dörner
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich gehe davonaus, dass wir in den nächsten Monaten auf breiter Basiseine Diskussion über den Gesetzentwurf, auch unter Ein-beziehung der Expertise der Verbände, organisieren wer-den. Gegebenenfalls lassen sich die offenen Fragen, dievon unserer Kollegin Diana Golze formuliert wordensind, noch klären. Eventuell lässt sich auch meine Skep-sis noch abschwächen. Ich freue mich jedenfalls auf diegemeinsamen Beratungen zu diesem Thema, die sicher-lich sehr spannend werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist all denen zu danken, die über mehrere Le-gislaturperioden hinweg dieses Thema beraten haben,insbesondere Frau Philipp. Aber auch Ihnen, sehr ver-ehrte Frau Ministerin, und Ihrem Haus ist dafür zu dan-ken, dass Sie uns heute diesen Entwurf eines Gesetzeszur vertraulichen Geburt mit einer sehr ausführlichenund gut gelungenen Begründung vorlegen.Wir reden hier, wie Sie richtigerweise gesagt haben,Frau Dörner, über einen Ausnahmezustand. Das ist einmenschlicher Ausnahmezustand. Da ist eine Frauschwanger, und sie freut sich nicht auf die Geburt ihresKindes, sondern hat Angst. Sie hat Angst vor ihrem Um-feld. Sie hat vielleicht Angst vor den eigenen Eltern.Vielleicht hat sie auch Angst vor dem eigenen Mann. Je-denfalls verdrängt sie die Schwangerschaft und die be-vorstehende Geburt. Sie verheimlicht ihre Schwanger-schaft. Dann steht sie vor der Geburt, und dann brichtdie Panik aus. Es kann dann durchaus dazu kommen,dass eine solche Frau keinen anderen Ausweg mehrsieht, als ihr Kind zu töten.Das kommt nicht ganz selten vor. Das Kriminologi-sche Forschungsinstitut Niedersachsen stellt fest, dassbei Tötungen von Kindern im Alter zwischen null undsechs Jahren der prozentual höchste Anteil – nämlich37,2 Prozent – auf die Zeit unmittelbar nach der Geburtbzw. innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt entfällt.Das muss uns skeptisch stimmen. Da mag die Baby-klappe durchaus – das möchte ich schon sagen – einewichtige Funktion haben. Vielleicht kann sie doch Lebenretten. In den Krankenhäusern, wo es sie gibt, sagt manuns, dass das durchaus möglich ist.Natürlich wollen wir nicht verschweigen, welche Pro-bleme mit dieser Babyklappe verbunden sind. Sie sindteilweise schon aufgezählt worden. Die Mutter wird zu-nächst einmal bei der Geburt allein gelassen. Das istschon eine gefährliche Situation. Dann wird sie in ihremSchmerz allein gelassen, wenn sie das Kind abgebenmuss, es ein für alle Mal verliert. Später wird sie über-haupt keine Möglichkeit mehr haben, Kontakt zu ihremKind zu haben. Das ist eine schwierige Situation. Nie-mand steht ihr bei. Sie ist allein, weil niemand von derSchwangerschaft und der Geburt Kenntnis hat.Hinzu kommt, dass das Kind keine Ahnung von derMutter hat. Wir wissen aus der Säuglingsforschung, dassdie Säuglinge ganz am Anfang sehr wohl ihre eigeneMutter an der Sprache bzw. der Stimme und an der Artund Weise erkennen, wie sie das Kind in den Armenhält. Dieses Verhalten der Mutter gegenüber dem Kindvermittelt diesem ein Urvertrauen, das für die weitereEntwicklung des Kindes unbedingt notwendig ist. Beider Babyklappe geht das verloren; da ist das nicht mög-lich. Das ist ein Verlust, den man sehen muss.Zu bedenken ist auch, dass das Kind niemals seineAbstammung erfahren kann. Wir haben längst erkannt– das wissen wir aus vielen Studien und Forschungs-arbeiten –, dass es für die Entwicklung eines Menschenund seine Identität von entscheidender Bedeutung ist,dass er seine Herkunft kennt. Bei einer Babyklappe istdas – auch das müssen wir sehen – nicht möglich. Des-wegen ist der vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur ver-traulichen Geburt von entscheidender Bedeutung. Es istein wichtiger Gesetzentwurf, auch wenn er nicht vielebetreffen mag. Er ist wichtig mit Blick auf das gesamteBewusstsein und auch auf die Kultur unserer Gesell-schaft.Ich will, wenn Sie mir erlauben, noch auf einzelnePunkte eingehen.Es ist jetzt eine vertrauliche Geburt möglich, ohnedass die Mutter ihre Identität preisgeben muss. Sie kannins Krankenhaus gehen und dort ärztliche Hilfe bekom-men, ohne dass die Ärzte bzw. das Krankenhauspersonalunbedingt wissen müssen, mit wem sie es zu tun haben.Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir dieFrauen – überhaupt die Menschen draußen – auf dieseMöglichkeit hinweisen. Frau Marks hat schon gesagt,dass wir alles tun müssen, damit dies auch bekannt wird.Das ist im Gesetzentwurf so vorgesehen. Auch die Bera-tung, die die Mutter erfahren kann, ist wichtig. Sie kannanonym, mit einem Pseudonym, zur Beratungsstelle ge-hen. In der Beratungsstelle kann sie beraten werden, wiesie mit diesem Thema umgehen kann. Vielleicht gelingtes den erfahrenen Beraterinnen und Beratern dann sogar,die Mutter davon zu überzeugen, doch den Versuch zuübernehmen, mit dem Kind zusammenzuleben. Erstdann, wenn das nicht gelingt, kommt es zur sogenanntenanonymen Geburt. Dann wird sie darüber unterrichtet.Das ist der Ausweg, der bleibt.Entscheidend ist, dass die Mutter dann ihre Daten aneine Person, der sie vertrauen kann, weitergibt. Das istdie Beraterin, die wiederum diese Daten an das Bundes-amt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgabenweitergeben muss. Dort werden sie aufbewahrt. Wir wis-sen, dass das Kind nach dem 16. Lebensjahr das Rechthat, zu erfahren, wer die Mutter ist. Vielleicht kann esdann sogar erfahren, wer der Vater ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28869
Norbert Geis
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Ich meine, das ist ein vernünftiger Mittelweg zwi-schen dem Bedürfnis der Mutter, anonym zu bleiben,dem Recht der Mutter, ihre Identität nicht preisgeben zumüssen, und dem Recht des Kindes, zu einem bestimm-ten Zeitpunkt, nämlich ab dem 16. Lebensjahr, zu erfah-ren, woher es kommt und wer seine Eltern sind. Ichglaube, das ist uns mit diesem Gesetzentwurf gut gelun-gen. Ich hoffe auf eine gute Beratung. Ich bin sicher,dass wir zu einem guten Ergebnis kommen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/12814 und 17/190 an die Aus-schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-schlossen.Somit rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a und8 b auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Cornelia Behm, HaraldEbner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTiergerechte Legehennenhaltung stärken– Drucksache 17/12842 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Nicole Maisch, Cornelia Behm, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKennzeichnungspflicht auf verarbeitete Eierausweiten– Drucksachen 17/9170, 17/9973 –Berichterstattung:Abgeordnete Franz-Josef HolzenkampElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertKarin BinderFriedrich OstendorffVerabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ver-fahren wir so.Ich gebe das Wort dem Kollegen Friedrich Ostendorfffür Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zypernist dieser Tage in aller Munde. Auf Zypern tummelnsich, wie wir hören, zahlreiche russische und ukrainischeInvestoren. Einer davon heißt Avangardco von HerrnOleg Bakhmatyuk. Avangardco ist auf Zypern registriertund mit 22,8 Millionen Hennen zweitgrößter Eierprodu-zent der Welt. Avangardco hat in der Ukraine geradezwei zusätzliche Legehennenfabriken aufgebaut, dieeine für 3 Millionen, die andere für 5 Millionen Tiere.Diese Anlagen sind mit überwiegend deutschen Käfigenausgestattet, die in Deutschland und der EU schon langeverboten sind. Aus der Ukraine erreichen uns Meldun-gen über heftige Proteste gegen Avangardco wegen mas-siver Luft- und Wasserverschmutzung. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, dieses Geschäft wurde geschmiert mitHermesbürgschaften – also mit Steuergeldern –, dieMinister Rösler bewilligt hat.
„Deutschland ist Vorreiter beim Tierschutz“ behaup-tete die FDP per Pressemitteilung vor wenigen Tagen.
Meine Damen und Herren von der FDP, der Name Avan-gardco bezieht sich auf den Begriff Avantgarde. Avant-garde, so sagt uns Wikipedia, heißt Vorreiter.
Avangardco ist für Sie also der Vorreiter in Sachen Tier-quälerei. Das ist Avangardco eindeutig.
Meine Damen und Herren, wir haben die Bundes-regierung gefragt, ob die Eier aus den Anlagen vonAvangardco und anderen in die EU geliefert werden. DieAntwort von Minister Rösler lautete – ich zitiere –:Nach den der Bundesregierung vorliegenden Infor-mationen exportiert der ukrainische Besteller nichtin die EU …Diese Antwort ist falsch. Oder hat der Bundeswirt-schaftsminister im September 2012 etwa nicht gewusst,dass das Abkommen zwischen der Ukraine und der EUüber den Import von Eiern unmittelbar vor dem Ab-schluss stand? Avangardco selbst erklärt auf seinerHomepage – ich zitiere –:Avangardco betrachtet den europäischen Markt alseinen der prioritären Exportmärkte …
Entweder hat Herr Rösler also nichts von diesem Ab-kommen gewusst;
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28870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Friedrich Ostendorff
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dann hat er sich als Bundeswirtschaftsminister disquali-fiziert. Oder er hat davon gewusst; dann hat er das Parla-ment, also uns alle, bewusst getäuscht.
Meine Damen und Herren, es ist sehr wahrscheinlich,dass vor allem verarbeitete Käfigeier von Avangardcobei uns auf den Markt kommen; schließlich kontrolliertAvangardco 52 Prozent der ukrainischen Eierproduk-tion.
Diese Käfigeier können aber nur unerkannt auf den deut-schen Markt kommen, weil sich Ministerin Aigner, wievor wenigen Tagen noch einmal bestätigt wurde, wei-gert, die Pflicht zur Kennzeichnung verarbeiteter Eiereinzuführen.
Wären diese Eier gekennzeichnet, hätten entsprechendeProdukte auf dem deutschen Markt keine Chance; denn95 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher kau-fen die Eier nicht, wenn auf der Verpackung „Käfigeier“steht.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie päp-peln nicht nur die Billigkonkurrenz der deutschen Geflü-gelhalter im Ausland – das haben uns Vertreter der Ge-flügelwirtschaftsverbände bestätigt, als sie vor wenigenWochen hier zu Besuch waren; sie haben wirkungsvolleMaßnahmen gegen Billigimporte gefordert –, Sie ver-hindern gleichzeitig, dass die Verbraucherinnen und Ver-braucher die Wahlfreiheit bekommen.
Für Herrn Rösler und die FDP mag es ja schwer sein, dasethische Problem dieses Handelns zu erkennen.
Aber von Frau Aigner, einer Ministerin der Christlich-Sozialen Union, erwarten wir allemal, dass sie derartigunmoralische Geschäfte unterbindet.
Wir Grüne fordern Frau Ministerin Aigner auf: Ma-chen Sie Schluss mit der Verbrauchertäuschung! ÄndernSie die Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung, da-mit auch bei verarbeiteten Eiern endlich Angaben zurHaltungsform vorgeschrieben werden – wie es bei jedemunverarbeiteten Ei im Laden heute der Fall ist!
Setzen Sie sich in Brüssel endlich für eine entsprechendeEU-weite Regelung ein, Frau Aigner! Und stoppen SieHermesbürgschaften für Tierfabriken, egal in welcherSteueroase die Nutznießer dieser Garantien sitzen!
Dieter Stier hat jetzt das Wort für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassenuns heute mit zwei Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Kennzeichnungspflicht auf verarbeiteteEier ausweiten“ und „Tiergerechte Legehennenhaltungstärken“.
Nun will ich Ihnen, lieber Kollege Ostendorff, nachIhrer Rede ja nichts unterstellen; aber es ist für michschon durchsichtig, wenn Sie pünktlich vor Ostern
einen fast ein Jahr alten Antrag herauskramen, in wel-chem es um Eier geht. Damit fällt mir zumindest auf,dass Sie das nahende kirchliche Fest auch in diesem Jahrzum Anlass nehmen, um Verbraucher zu verunsichern,anstatt zur Lösung von Problemen beizutragen.
Sie haben in dieser Woche einen zweiten Antragnachgeschoben, mit dem Sie tiergerechte Legehennen-haltung stärken wollen, merken aber gar nicht mehr, dassSie diese tiergerechte Legehennenhaltung mit IhremAgieren im Bundesrat schon fast aus Deutschland ver-trieben haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28871
Dieter Stier
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Fakt ist: Seit 2004 gibt es nach EU-Recht eine klareKennzeichnung von Eiern. Seitdem haben sich die Hal-tungsformen für Legehennen in Deutschland grundle-gend verändert und auch deutlich verbessert. Nachdemwir seit 2010 auch noch die Haltung in konventionellenBatteriekäfigen verboten haben,
erfolgt die Legehennenhaltung in Deutschland derzeitnoch in Kleingruppen in Boden- und Freilandhaltungund auch in Biohaltung, und das sogar schon zwei Jahrefrüher als nach dem am 1. Januar 2013 in der EU inKraft getretenen Verbot der konventionellen Käfighal-tung.
Die Forderung, die Kennzeichnungspflicht auch aufverarbeitete Eier auszuweiten, zeigt einmal mehr,
dass die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen nochnicht begriffen haben, dass wir in einem europäischenBinnenmarkt leben.
Konkret bedeutet dies nämlich: Nationale AlleingängeDeutschlands sind nicht zielführend.
Sie würden damit – das habe ich hier wiederholt gesagt –heimische Produzenten diskriminieren, Betriebe und Ar-beitsplätze vernichten. Das würde dazu führen, dass wei-tere Produktionen ins Ausland verlagert werden. Wirkönnen doch nicht deutsche Lebensmittelprodukte einerverschärften Kennzeichnungspflicht unterwerfen unddabei unsere Unternehmen ohne Not
Wettbewerbsnachteilen in Europa aussetzen.
Ihre Forderungen nach zusätzlicher Kennzeichnung rich-ten sich überdies gegen die bäuerliche Tierhaltung, dieSie doch angeblich fördern wollen, und würden geradeKleinbetriebe in Not bringen.
Die positive Entwicklung in Richtung artgerechterHaltungsformen ist nicht nur ein überzeugendes Beispielfür die Macht des Verbrauchervotums, sie wird auch vonder christlich-liberalen Koalition weiter unterstützt, zumBeispiel mit den in den Bundeshaushalt eingestelltenMitteln für die Tierschutzforschung.
Meine Damen und Herren, der Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen auf Änderung der derzeit gültigen Le-bensmittel-Kennzeichnungsverordnung wurde vom fe-derführenden Ausschuss, dem Agrarausschuss, beratenund bereits am 9. Mai des vergangenen Jahres mehrheit-lich abgelehnt.
Eine solche Änderung wäre aus unserer Sicht nur inÜbereinstimmung mit dem EU-Recht möglich. Ein ent-sprechender Verordnungsentwurf von Österreich ist be-reits 2008 – das müsste Ihnen bekannt sein – auf euro-päischer Ebene gescheitert. Eine Regelung, die alleinedeutsche Produkte der Kennzeichnungspflicht unterwer-fen würde, würde zu Nachteilen für unsere Produzentenführen.Deshalb befürworten wir vielmehr die Stärkung derEigenverantwortung der Tierhalter und auch des Lebens-mittelhandels.
Sie wissen, dass Deutschland auch auf EU-Ebene dietreibende Kraft für ein freiwilliges Tierschutzlabel ist,das dem Verbraucher umfassende Informationen liefert.
Aus diesen Gründen schließen wir uns der Beschluss-empfehlung des zuständigen Ausschusses auch heute an.Wir lehnen Ihre Forderung nach einer Ausdehnung derKennzeichnungspflicht ganz klar ab.
Verbrauchermacht und freiwillige Initiativen des Han-dels wirken in diesem Falle schneller und zielgerichteterals Staatseingriffe.
In Ihrem Antrag mit dem Titel „Tiergerechte Lege-hennenhaltung stärken“ fordern Sie die Bundesregierungauf, die im Bundesrat beschlossene Fünfte Verordnungzur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverord-nung unverzüglich in Kraft zu setzen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass sich beim Ausstiegaus der Kleingruppenhaltung Bund und Länder nicht aufeine gemeinsame zeitlich befristete Übergangsregelungeinigen konnten.
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28872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dieter Stier
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– Herr Paula, das ist Ihre Interpretation. – Das BMELVhatte die Länder gebeten, eine verfassungskonforme undmehrheitsfähige Lösung für die Übergangsfristen vorzu-legen.
Daraufhin legte sich der Bundesrat auf 2023 bzw., beiunbilligen Härten, auf 2025 fest.
Gegen diesen Beschluss bestehen – das wissen Sie auch –verfassungsrechtliche Bedenken dahin gehend, dass derBestandsschutz für bestehende Haltungseinrichtungenan deren tatsächlicher Nutzungsdauer orientiert seinmuss.
Die rot-grünen Landesregierungen haben im Bundes-ratsverfahren also aus polemischen Gründen einenrechtskonformen Kompromiss bewusst an die Wand fah-ren lassen.
Sie sollten sich jetzt also nicht darüber beklagen, dassnun die einzelnen Bundesländer selbst gefordert sind,eine verfassungskonforme Regelung zu treffen.
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü-nen, auch der geforderte Stopp von Hermesbürgschaftenfür den Export
und den Bau von Tierhaltungsanlagen ist aus unsererSicht nicht zielführend.
In vielen Ländern gibt es keine EU-Standards. DieseLänder sind noch auf dem Weg hin zu mehr Tierschutz.Sie brauchen auch Zeit und stärkere Anreize, um unsereund europäische Standards zu erreichen.Ich möchte hier in aller Deutlichkeit betonen: Voraus-setzung für die Übernahme einer solchen Exportkredit-garantie ist natürlich die Einhaltung des Standards desBestellerlandes. Laut der von Ihnen zitierten Antwortder Bundesregierung auf Ihre Anfrage werden diese in-ternationalen Referenzstandards, die sanitäre und veteri-närmedizinische Mindeststandards vorschreiben, aucheingehalten. Damit läuft auch diese Forderung aus unse-rer Sicht ins Leere.Meine Damen und Herren, in Ermangelung einer wei-teren Gelegenheit, an diesem Rednerpult zu sprechen,
wünsche ich Ihnen schon heute ein frohes Osterfest.Essen Sie auch mal ein Ei!
Trotz mir bewusster einzelner Verfehlungen haben wir inDeutschland die sichersten Lebensmittel der Welt.
Herr Kollege.
Auch wenn das Gegenteil öfter behauptet wird: Da-
durch wird es nicht unbedingt wahrer.
Herzlichen Dank.
Heinz Paula spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Gäste! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich stand vor einem Jahr an diesem Pultund plädierte dafür, dass Sie unserem Antrag mit demTitel „Kleingruppenhaltung für Legehennen endgültigbeenden“ Folge leisten und eine entsprechende, einstim-mig beschlossene Bundesratsinitiative übernehmen. Ichhabe eindringlich an Sie appelliert: Schluss mit derKleingruppenkäfighaltung! Schluss mit dem Elend vonüber 5 Millionen Käfiglegehennen in Deutschland!Sie wissen doch ganz genau: Es herrscht eine drang-volle Enge – nicht einmal die Fläche eines DIN-A4-Blat-tes pro Huhn –, und nicht einmal ansatzweise kann art-typisches Verhalten ausgelebt werden. Die Folgen sindklar: erhebliche gesundheitliche Schäden, Federpickenbis hin zu Kannibalismus. Was macht die Regierungsko-alition in Anbetracht dieser Tierquälerei? Sie lehnt die-sen Antrag ab. Unerträglich, sage ich Ihnen!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28873
Heinz Paula
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Dass Sie so ganz nebenbei Ihre eigenen Kollegen vonCDU/CSU und FDP in den entsprechenden Bundeslän-dern bloßstellen, das sei einmal Ihr Problem. Aber eszeigt, dass Ihre eigenen Parteikollegen in den Bundes-ländern im Gegensatz zu Ihnen die Probleme erkannt ha-ben.Ich muss feststellen: Ein Jahr später hat diese Regie-rungskoalition immer noch nichts dazugelernt.
Man liest die heutige Pressemitteilung der christlichenKollegen, und ich muss sagen: Glückwunsch! Sie habentatsächlich recht, und zwar mit einem einzigen Satz, demersten Satz – ich zitiere –: „Unwahrheiten werden auchbei ständiger Wiederholung nicht wahr.“ Wie wahr, Kol-lege Stier!
Zu Ihrem ewigen Märchen mit den verfassungsrecht-lichen Bedenken kann ich nur sagen: Sie sind doch hierdie Einzigen, die diese Bedenken haben. Das ewige Mär-chen, dass eine einheitliche Regelung an Rot-Grün ge-scheitert sei: Vergessen Sie es! An Ihnen ist eine bundes-einheitliche Regelung gescheitert.
Diese Regierungskoalition gibt sich ständig als derSchutzpatron der deutschen Landwirtschaft.
Dabei lassen gerade Sie die ehrsamen Landwirte buch-stäblich im Regen stehen. Statt Politik zu machen, kom-men Sie mit großen Broschüren an. Das Neueste ist dasAgrarpapier der CDU/CSU. Man muss sich das, was Sieschreiben, auf der Zunge zergehen lassen. Ich zitiere:Wir wollen mehr Tierschutz … Dabei geht es umdie Verbesserung der bestehenden Haltungsfor-men …
Ich sage Ihnen: Nicht labern – handeln Sie endlich ent-sprechend!
Doch diese Schaumschlägerei wird noch – KollegeOstendorff hat vorher darauf hingewiesen – durch dieseunsäglichen Hermesbürgschaften gesteigert. Zig Millio-nen für eine Haltungsform im Ausland bereitzustellen,die bei uns seit 2009 aus Tierschutzgründen zu Rechtverboten ist, zeugt von einer unerhörten Doppelmoral.
Zu Recht spricht der Geflügelwirtschaftsverband Rhein-land-Pfalz von einem „Hammer auf die Füße der deut-schen Geflügelwirtschaft“. Das sind die Folgen IhrerPolitik.
Ich werde Sie immer wieder an Ihre weltliche Ver-pflichtung mit dem Hinweis auf unser Grundgesetz erin-nern, Art. 20 a: „Der Staat schützt … die Tiere“, nichtdie Tierquälerei. Ich erinnere Sie auch an Ihre morali-sche Verpflichtung. Als christliche Politiker hören Siezumindest auf Franz von Assisi. Sie wissen: Namensge-ber von Papst Franziskus. Zitat:Gott wünscht, dass wir den Tieren beistehen, wennes vonnöten ist. Ein jedes Wesen in Bedrängnis hatgleiches Recht auf Schutz.
CDU/CSU und FDP: Handeln Sie endlich entsprechend!Machen Sie Schluss mit dem millionenfachen Elend vonLegehennen!Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Rainer Erdel für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich habe die Anträge der Grünen zu diesemThema sehr aufmerksam gelesen. Lieber FriedrichOstendorff, ich habe darin kein Wort über Zypern, keinWort über russische Oligarchen gelesen. Ganz offen-sichtlich war das der falsche Redetext; denn der Inhaltder Anträge ist ein ganz anderer.
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28874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Rainer Erdel
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Ich will auf die Hermesbürgschaften, die Sie erwähnthaben, nicht näher eingehen; denn der Kollege Stier hatdas Nötige dazu bereits gesagt.Die Kadenz der Skandale steigt, beginnend mit demvon Ihrer ehemaligen Landwirtschaftsministerin Künastso perfekt präsentierten BSE-Skandal, der Hundertelandwirtschaftliche Betriebe an den Rand des finanziel-len Ruins gebracht hat, über Ehec, Dioxineier, Schimmelim Mais, über Pferdefleisch, das als Rindfleisch verkauftwurde, bis hin zu Bioeiern, die eigentlich keine sind. Sieschmeißen alles in einen Topf, rühren um und konstruie-ren dann eine diffuse und vor allen Dingen gesundheitli-che Bedrohung der deutschen Bevölkerung.Bei all diesen Skandalen muss man sehr deutlich un-terscheiden. Es gibt sicherlich betrügerisches Handeln.Es ist nicht akzeptabel, dass Pferdefleisch als Rind-fleisch verkauft wird.
Es ist nicht akzeptabel, dass konventionelle Eier als Bio-eier verkauft werden. Es ist aber genauso wenig akzepta-bel, dass Sie einen Skandal daraus machen und danneine Verbindung zu internationalen Warenströmen unddem internationalen Handel herstellen; denn die deut-schen Verbraucher profitieren gerade bei Lebensmittelndurchaus vom internationalen Handel.
Sie versuchen, einen Keil zwischen die konventionelleLandwirtschaft und die Biolandwirtschaft zu treiben.Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Im Kern Ihres Antrags geht es um tiergerechte Lege-hennenhaltung. Sie bauen das Ganze auf den jüngstenVorfällen in Niedersachsen auf. Ich empfehle Ihnen dieLektüre der Unterlagen, die vom niedersächsischenLandtag zur Verfügung gestellt werden. Dort ist dieRede davon, dass von 201 untersuchten Betrieben mit2,6 Millionen Tieren ein Betrieb auffällig war. Dieserhatte die Besatzdichte überschritten. Er hatte nämlichden Hühnern zu wenige Nester zur Verfügung gestellt.Die Grundfläche war in Ordnung. In einem Papier heißtes, dass 40 Biobetriebe untersucht wurden. In einem an-deren heißt es, dass 34 Biobetriebe untersucht wurden,von denen vier Betriebe auffällig waren. Weiter heißt es,dass 139 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. AmEnde des Papiers ist zu lesen, dass der niedersächsischeLandwirtschaftsminister ganz offensichtlich den Über-blick verloren hat; denn er verwechselt die Überbele-gung von Ställen – er hat sicherlich recht, darauf hin-zuweisen, dass das den Tierschutzkriterien und denVorschriften widerspricht – mit betrügerischen Handlun-gen wie dem Verkauf von konventionellen Eiern alsBioeier.
Das heißt, Sie leben von der Skandalisierung der deut-schen Landwirtschaft.
Mein Kollege Birkner hat vollkommen recht: Sie sto-chern im Nebel. Sie wollen politischen Geländegewinndadurch erreichen, dass Sie die deutschen Verbraucherverunsichern.In einem früheren Gesellschaftssystem in Deutsch-land gab es einmal einen Plan, der mindestens zu er-füllen war. Sie fordern seit neuestem einen Plan, derhöchstens erfüllt werden darf. Sie fordern nämlich Leis-tungsobergrenzen ein. Eine Kuh darf nicht mehr als einebestimmte Menge Milch geben.
Die Landwirte dürfen nicht mehr den Höchstertrag an-streben. Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie denn?
Ganz spannend wird es, wenn Sie die Forderung erhe-ben, künftig Produkte aus verarbeiteten Eiern zu kenn-zeichnen.
Ich frage Sie: Wie wollen Sie sicherstellen, dass in Zu-kunft deutlich wird, ob die Eier, die in einer Gaststättefür ein paniertes Schnitzel verwendet werden, aus Käfig-haltung, Bodenhaltung, Freilandhaltung oder von einemBiobetrieb stammen? Nennen Sie mir einen Wissen-schaftler, der einen wissenschaftlichen Nachweis für dieentsprechenden Haltungsformen erbringen kann!
Wir unterstützen ein freiwilliges Labeling, keineFrage.
Wenn sich jemand damit einen Markt erobern kann,dann ist das durchaus richtig. Aber eine entsprechendegesetzliche Vorschrift wird letztendlich dazu führen,dass bestimmte Produktionsformen aus Deutschlandabwandern. Ob das dem Tierschutz als Ganzes dient,bezweifle ich sehr.Sie fordern in Ihrem Antrag des Weiteren ein Verbotvon irreführender Werbung. Meine Damen und Herrenvon den Grünen, sind Sie der Meinung, dass der deut-sche Verbraucher so dumm ist, dass er nicht weiß, dasses keine lila Kühe gibt und dass es keine Bären gibt, diemit Milchkannen über Almwiesen im Allgäu laufen? Sieunterschätzen den Verbraucher nicht nur, nein, Sie ver-unsichern ihn auch noch.Ich gehe einen Schritt weiter als mein KollegeBirkner aus dem Niedersächsischen Landtag. Sie stehennicht im Nebel, Sie fahren im Nebel, und zwar mitHöchstgeschwindigkeit. Das kann äußerst gefährlichwerden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28875
Rainer Erdel
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Sie betreiben einen Wahlkampf mit der Verunsicherungder Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Sie machendiesen Wahlkampf auf dem Rücken der deutschen Bau-ern, indem Sie ihnen, wie es Herr Paula in der letztenDiskussion getan hat, millionenfache Tierquälerei unter-stellen. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb gebe ich IhremAntrag keine Zukunft.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Eier und Fleisch sollen nichtaus einer quälerischen Massentierhaltung kommen. Dasist der klare Wunsch vieler Verbraucherinnen und Ver-braucher. Dazu muss jedoch jeder Mann und jede Frauan der Ladentheke nachvollziehen können, woher dieErzeugnisse kommen und wie die Tiere gehalten wur-den. Versprechen helfen hier wenig.
Bilder mit glücklichen Hühnern geben keine Aus-kunft über deren Herkunft und Haltungsform. Für vieleKonsumentinnen und Konsumenten ist Werbung vonechter Verbraucherinformation kaum zu unterscheiden.Ich behaupte: Das ist zumindest von der Lebensmittelin-dustrie durchaus beabsichtigt. Deshalb sind klare gesetz-liche Regeln unverzichtbar. Ein bekanntes Beispiel istder berühmte Schwarzwälder Schinken, der eigentlichein Schinken Schwarzwälder Art ist.
Der Schinken wird zwar im Ländle geräuchert, dieSchweine aber haben den Schwarzwald nie gesehen. Siewerden aus ganz Europa herangekarrt. Tierschutz siehtanders aus.
Apropos Tierschutz: Das neue blaue Siegel „Für mehrTierschutz“ soll auch bei der Geflügelhaltung mehrKlarheit bringen – natürlich freiwillig. Aber wer nichtwirklich gut informiert ist und den Unterschied nichtkennt, den ein Stern oder zwei Sterne auf dem Label aus-machen, hat Pech gehabt. Wer nicht genau auf die Sterneachtet, erwischt nämlich vielleicht nur die sogenannteEingangsstufe mit einem Stern. Die Produzenten sindnämlich mehr oder weniger noch am Üben. Also, bittegenau hinsehen beim Einkaufen!Meiner Meinung nach hat das Verbraucherministe-rium mit diesem halbherzigen Label lediglich eineKonkurrenz zu dem seit langem anerkannten und be-währten Neuland-Programm aufgelegt. Gegründet vonverantwortungsbewussten Landwirten, Umwelt- undTierschützern, stellt Neuland seit 1988 eine tiergerechteund umweltschonende Nutztierhaltung sicher. So siehtTierschutz aus.
Krass dagegen ist die Industrialisierung der Legehen-nenhaltung auch in Deutschland. 29 Millionen Legehen-nen werden in Beständen mit mehr als 10 000 Tierengehalten, insgesamt in nur 600 Betrieben in Deutsch-land. Das entspricht 83 Prozent aller Legehennen inDeutschland.
Probleme bei der Gesunderhaltung dieser Tiere sind da-mit vorprogrammiert.
Die restlichen 17 Prozent der Hühner verteilen sich auf55 600 Betriebe, sagt das Statistische Jahrbuch derLandwirtschaft 2012.
Mit dem neuen Label soll der Tierschutz allzuoffensichtlich an die industrielle Erzeugung angepasstwerden. Das schadet der Glaubwürdigkeit im Bemühenum ernstgemeinten Tierschutz. Die Linke sagt: Verbrau-cherpolitik darf nicht „herumeiern“.
Kundinnen und Kunden des Einzelhandels haben ihreEntscheidung schon lange getroffen: Käfigeier wollensie nicht. Bei frischen Eiern sind der Weg vom Stall zumTeller und die Haltungsform eindeutig nachzuvoll-ziehen, wenn wir vom bandenmäßigen Betrug bei Eier-betrieben in Niedersachsen einmal absehen.An dieser Stelle muss ich noch betonen, dass ent-scheidende Hinweise über unsägliche Zustände in Hüh-nerställen in der Regel von engagierten Tierschützernkommen. Deren Arbeit wird auch weiterhin notwendigsein. Deren prüfender Blick in die Ställe, in die Beständeder Bodenhaltung und der industriellen Biohaltung istwirksamer als jede Behördenkontrolle.
Dennoch kommt jedes zweite Ei, das wir essen, ausQualzucht. Der Grund ist: Für verarbeitete Eier fehlteine Kennzeichnungspflicht. Wo eindeutige, nachvoll-ziehbare Informationen fehlen, werden uns auch weiter-hin Käfigeier untergejubelt. Das nenne ich bewussteVerbrauchertäuschung.
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Karin Binder
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Die Linke fordert deshalb, die Angabe der Haltungs-form für alle Lebensmittel, die Ei enthalten, verpflich-tend einzuführen.
Die Haltungsbedingungen für Legehennen müssen durchein Verbot der Kleingruppenkäfighaltung verbessertwerden. Zudem brauchen wir klare und verbindlicheRegeln für die Aufmachung und Werbung bei Lebens-mitteln, um Irreführung und Täuschung endlich zu un-terbinden.
Die Anträge der Grünen unterstützen wir deshalb.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Josef Rief hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich danke zunächst den Kolleginnenund Kollegen von den Grünen für ihre Anträge zur Lege-hennenhaltung. Um es klar zu sagen: Ihre Forderungenund auch die Debatte heute müssen wir leider wiedereinmal unter „Wahlkampfgetöse“ verbuchen.
– Das ist so. – Wir haben aber jetzt die Gelegenheit, denBürgerinnen und Bürgern noch einmal die tatsächlichenFakten klarzumachen.Die verzerrende Berichterstattung und das ewige„Skandal!“-Geschrei hilft uns und den Verbrauchernnicht weiter. Die Mehrheit der Bevölkerung – davon binich überzeugt – durchschaut zum Glück den zeitlichenZusammenhang zwischen Ostern und Ihren Eieranträ-gen.
Wir sind uns ja alle einig, dass wir die Käfighaltungin Deutschland nicht mehr haben wollen. Seit 2009 istsie bei uns verboten, in der EU seit 2012. Wir waren hierVorreiter. Die deutschen Erzeuger haben dies mit Verlus-ten von Marktanteilen teuer bezahlt. Betriebe hörten aufoder gingen in Konkurs. Unser Selbstversorgungsgradbei Eiern ist von 72 Prozent in 2008 auf unter 58 Prozentgesunken und erholt sich im Augenblick nur sehr lang-sam.Momentan setzt sich unsere Ministerin richtigerweisedafür ein, dass dieses europaweite Verbot der Käfig-haltung auch in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt wird.Am 31. Dezember 2012 stammten immerhin noch13 Prozent der europäischen Eier aus der alten Käfighal-tung. Das muss sich dringend ändern.
Hier sehen wir, dass Alleingänge schädlich sind und imeuropäischen Binnenmarkt niemandem nützen.
Damit schadet die Opposition den heimischen Bauernund der Ernährungswirtschaft in Deutschland.
Nur europaweit abgestimmte und auch von allendurchgesetzte Erhöhungen von Standards – wenn wirdas schon brauchen – führen zum Erfolg. Niemandem istgeholfen, wenn wir ausschließlich deutsche Landwirtezu höheren Standards zwingen und der Markt dann mitden preiswerter produzierten Produkten von den euro-päischen Lieferanten überschwemmt wird. Bei Eiern inverarbeiteter Form passiert nun genau das – und wirdgleichzeitig von den Grünen wieder beklagt.Die Verbraucher zeigen übrigens mit ihrem Einkaufs-verhalten, welcher Haltungsform sie den Vorzug geben.So sind inzwischen kaum noch Kleingruppeneier imHandel zu finden. Wer sichergehen will, dass er keineEier aus der verbotenen Käfighaltung in verarbeitetenProdukten mitkauft, kann dies auch heute schon mit demKauf von freiwillig deklarierten Produkten oder vonBioprodukten erreichen. Das Angebot ist da.
Der Handel und auch die Verarbeiter richten sich nachKundenwünschen. Bisher liegt der Bioanteil aber nur bei7,5 Prozent. Das gehört eben auch zur Wahrheit.Ein deutscher Alleingang bei der Deklaration ist hierdie schlechtere Lösung. Denn auch hier gilt: Ein euro-päischer Binnenmarkt muss einheitliche europäischeRegeln haben, sonst schaden wir der deutschen Ernäh-rungswirtschaft, ohne dem Verbraucher oder den Tierenzu helfen. Sie wissen ganz genau, dass auf EU-Ebenemomentan an einem Bericht zur Herkunftskennzeich-nung von Lebensmitteln gearbeitet wird. Ihn müssen wirabwarten, bevor wir zu weiteren EU-einheitlichen Re-geln kommen können.
Aber nun zu den Fakten bei der Legehennenhaltung.Deutschland hat die Käfighaltung abgeschafft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28877
Josef Rief
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– Ich komme sofort dazu, Herr Paula. – Alternativ hattenwir nun die Kleingruppenhaltung. Viele Landwirte ha-ben dann investiert und ihre Ställe neu eingerichtet. DasBundesverfassungsgericht hat diese Neuregelung ausformalen Gründen kassiert und Bund und Ländern auf-gegeben, bis 2012 eine neue Verordnung vorzulegen.Die Bundesregierung hat fristgemäß eine neue Ver-ordnung zum Auslaufen der Kleingruppenhaltung vorge-legt, die für bestehende Betriebe eine verträgliche Über-gangsfrist vorsieht. Sie, meine Damen und Herren vonder Opposition, waren dagegen und haben eine vernünf-tige Regelung im Bundesrat scheitern lassen. Eine ver-kürzte Übergangsfrist – das wissen Sie ganz genau, unddennoch ignorieren Sie das – ist mit der Verfassung nichtvereinbar.
Ohne eine neue Bundesverordnung lassen Sie die Ge-flügelhalter im Regen stehen. Die rot und grün geführtenLänder sind für den föderalen Flickenteppich verant-wortlich, der uns in der Legehennenhaltung droht.
Sie sorgen damit für Unsicherheit bei den Landwirten.Sie wissen genau, dass wir ohne Verordnung auch beimTierschutz deutschland- und europaweit nicht weiter-kommen. Der Vorwurf der Untätigkeit an die Bundesre-gierung ist ebenso abwegig wie die mehrfache Forde-rung nach Alleingängen in der Deklaration. Wir lehnendaher Ihre Anträge ab.Ich wünsche Ihnen – ein bisschen verfrüht – ein fro-hes Osterfest, hoffentlich mit heimischen Eiern.Vielen herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort an die Kollegin Elvira Drobinski-
Weiß für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren aufden Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland nimmt beim Tierschutz in der Legehennen-haltung europaweit eine Spitzenstellung ein – das sagtjedenfalls die Bundesregierung –, weil sich der Anteilder Legehennen, die in Bodenhaltung, Freilandhaltungoder ökologischer Erzeugung gehalten werden, gegen-über 2008 extrem erhöht hat.
Na klar ist das so; denn seit 2010 ist die Haltung von Le-gehennen in Käfigen verboten, und die betreffenden Be-triebe mussten umstellen.Leider wird dem Leser auf der Homepage desBMELV nicht erklärt, warum sich der Anteil an der Bo-denhaltung verdreifacht hat, während der Anteil derTiere in ökologischer Erzeugung nur um 3 Prozent stieg.Sie schreiben nicht, dass für die Landwirtschaft und dieIndustrie einfach der Investitionsanreiz fehlt, noch stär-ker in die ökologische Erzeugung zu investieren.Im Jahr 2011 hat laut Statistischem Jahrbuch jedervon uns im Durchschnitt 212 Eier gegessen. Nur einengeringen Teil davon haben wir jedoch als Schalenei ge-kauft. Den größten Teil haben wir in Form von verarbei-teten Produkten wie Nudeln, Kuchen, Eis oder in unter-schiedlichen Formen als Flüssigei verspeist.Hier ist das Dilemma: Seit 2004 muss bei Schalen-eiern das Haltungssystem der Tiere eindeutig gekenn-zeichnet sein. Als Verbraucherin habe ich also die Wahl.Ich kann mich bewusst für Eier aus ökologischer Pro-duktion oder eben aus Bodenhaltung entscheiden. Abergenau diese Informationen werden den Verbrauchern aufProdukten, in denen Eier verarbeitet werden, in Gaststät-ten und auch auf Eiern, die gekocht oder gefärbt werden,bewusst vorenthalten. Ich unterstreiche: Bewusst werdenden Verbrauchern diese Informationen vorenthalten; dieStärkung ihrer Marktmacht ist nämlich nicht erwünscht.Das können Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegenvon den Koalitionsfraktionen, natürlich nicht so offensagen. Die Beratung heute zeigt leider wieder einmal,dass Sie sich bei unangenehmen Themen gerne hinterder EU verstecken.
Schnell kam der Satz: Eine Kennzeichnungspflichtbenachteiligt deutsche Firmen in Europa, ein Alleingangwird abgelehnt.
Der Kollege Rief hat das gerade auch noch einmal for-muliert. Kommt Ihnen, Herr Rief, aber auch den anderenKolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen die-ser Satz bekannt vor? Offensichtlich eine Allzweck-waffe, wenn es um Transparenz geht!Die Interessen der Wirtschaft zählen abermals eindeu-tig stärker als die der Konsumenten. Die artgerechte Hal-tung von Hühnern liegt vielen Verbraucherinnen undVerbrauchern tatsächlich am Herzen; das lässt sich sogarin Ihren eigenen Veröffentlichungen erkennen. Danachsteigt die Anzahl der Haltungsplätze für Legehennen inökologischer Erzeugung ebenso wie die Anzahl der ver-kauften Eier aus ökologischer Erzeugung. Warum igno-rieren Sie diesen Trend?Die Anzahl könnte wesentlich stärker steigen, wennSie die Kennzeichnungslücke schließen und damit fürdie Tierhalter, die ökologisch erzeugte Produkte vertrei-ben, einen Ansporn schaffen würden. Doch statt schnellund unkonventionell zu handeln und der Landwirtschaftund Industrie durch eine Ausdehnung der Kennzeich-nung auf verarbeitete Produkte einen Investitionsanreizzu bieten, wartet das BMELV lieber auf den Dezember2014 – 2014! –;
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Elvira Drobinski-Weiß
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denn die EU-Kommission hat für den Termin in Aus-sicht gestellt, die Herkunftskennzeichnung von Lebens-mitteln zu regeln.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir fordernSie nochmals auf, diese Kennzeichnungslücke zu schlie-ßen. Auch gekochte und gefärbte Eier müssen eindeutiggekennzeichnet sein. Dann können wir uns in einer Wo-che wirklich „Frohe Ostern!“ wünschen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12842 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Kennzeichnungspflicht auf verar-
beitete Eier ausweiten“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9973, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9170 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Ent-
haltungen! – Damit ist die Beschlussempfehlung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen; die Oppositionsfraktionen haben dagegen ge-
stimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zu-
satzpunkt 7 auf:
11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Unterstützung der Initiative der G 20 und der
OECD zur Bekämpfung der Aushöhlung der
Steuerbemessungsgrundlage und der Gewinn-
verschiebung internationaler Konzerne
– Drucksache 17/12827 –
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Aggressive Steuerplanung und Steuervermei-
dung internationaler Konzerne bekämpfen
– Drucksache 17/12819 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verabredet ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ver-
fahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin, ganz herzlichen Dank. – Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren!Wir haben in den letzten Jahren einen enormen Wandelin der Wirtschaft erlebt, vor allen Dingen angetriebendurch das Internet und durch den E-Commerce, alsodurch den elektronischen und digitalen Handel. Dadurchhaben sich der Warenaustausch und die internationaleArbeitsteilung noch weiter verstärkt. Aber was sichdurch den Handel per Internet auch verändert hat, ist dieStruktur des Warenaustausches und auch die Struktur derRechtsgeschäfte, die dahinterstehen.Wenn man heute bei dem Onlinehändler Amazon einProdukt, zum Beispiel ein Taschenbuch, einkauft, dannmeint man, man würde das bei Amazon in Deutschlandkaufen. Man macht in dem Moment, wo man klickt unddie Bestellung aufgibt, aber ein Geschäft mit Amazon inLuxemburg. Die Umsätze bei Amazon werden dem-zufolge nicht in Deutschland, sondern in Luxemburg ge-tätigt. Die Gewinne und Erträge, die Amazon inLuxemburg erzielt, werden über verschiedene Tochter-gesellschaften weitergereicht: erst in die Niederlande,dann nach Irland und schließlich landen sie auf karibi-schen Inseln. Ähnlich ist auch das Modell von Google inDeutschland.Das führt dazu, dass diese Gewinne dem deutschenFiskus und dem deutschen Steuergesetzgeber verloren-gehen, weil unsere Steuergesetzgebung traditionell beiden Betriebsstätten in Deutschland anknüpft. Amazonhat aber im rechtlichen Sinne gar keine Betriebsstätte inDeutschland, sondern agiert, wie gerade erklärt, vonLuxemburg aus.Das wiederum führt dazu – der Internethandel wirdweiter rasant wachsen –, dass wir mehr und mehr anSteuersubstrat, also an Geschäftsmasse, die wir besteu-ern können, verlieren. Geschäfte, die eigentlich inDeutschland getätigt werden – die Wertschöpfung findetalso in Deutschland statt –, werden nicht mehr inDeutschland besteuert. Die Gewinne landen woandersauf der Welt und bleiben vielfach unbesteuert.Ein Onlinehändler, der wie der Otto-Versand inDeutschland versteuert, hat eine normale Steuerquote inHöhe von 20 bis über 30 Prozent. Google oder Applezum Beispiel, große internationale Konzerne, habenzwar in den USA Konzernsteuerquoten von etwa 20 bis24 Prozent, aber die ausländischen Gewinne, die auch inDeutschland gemacht werden, werden nur noch mit 1 bis3 Prozent besteuert. Das zeigt, dass Gewinne, die inDeutschland oder Europa gemacht werden, nicht mehrvernünftig besteuert werden können. Das ist kein Pro-blem, das wir mit unserem deutschen Steuerrecht lösenkönnen, sondern ein Problem, das wir nur internationalangehen können.
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Dr. Mathias Middelberg
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Das hat die Bundesregierung jetzt getan. Deswegenbegrüßen wir ausdrücklich die Initiative unseres Bundes-finanzministers Wolfgang Schäuble, der gemeinsam mitdem französischen und dem britischen Finanzministerdieses Thema angestoßen hat und auf der Ebene derOECD und der G 20 ein Projekt in die Wege geleitet hat– BEPS; Base Erosion and Profit Shifting –, mit dem ge-nau überprüft werden soll, wie die Base Erosion, alsodas Erodieren der Steuer, abläuft und wie wir eine ver-nünftige Besteuerung dieser künstlich verlagerten Ge-winne erreichen können. Wir begrüßen mit Nachdruck,dass Wolfgang Schäuble aktiv geworden ist und diesesProjekt angestoßen hat und dass wir bei diesem Themaendlich vorankommen.
Gestern hatten wir ein sehr ausführliches Fachge-spräch. Ich fand es sehr bedauerlich, dass vonseiten derOpposition immer wieder die Fragen aufgeworfen wur-den: Was ist mit der Zinsschranke? Geht uns nicht etwasverloren? Was ist mit der Verlustnutzung und mit diesemoder jenem Nebentatbestand? Ich sage Ihnen ganz ehr-lich: Wir haben in Deutschland ein vernünftiges und gu-tes Unternehmensteuerrecht. Wir haben auch ein gutesAußensteuerrecht. Bei uns gehen im Wesentlichen keineGewinne verloren. Das ist also nicht das Kernproblem.Das Kernproblem ist das, was ich beschrieben habe,nämlich der Internethandel der großen multinationalenKonzerne. Durch diese neuen Strukturen gehen uns Ge-winne verloren, weil wir nicht an sie herankommen. DasProblem müssen wir angehen. Wir sollten aber nichtweiter darüber nachdenken, wie wir womöglich für un-sere heimischen Unternehmen, auch für unseren Mittel-stand, der immer mehr dem internationalen Wettbewerbausgesetzt ist, die Daumenschrauben anziehen können.Das gilt beispielsweise auch für Ihre Überlegungen, dieSie in Ihrem Wahlprogramm vorgestellt haben. Stich-wort: Unternehmensteuer, höhere Einkommensteuer,Zinsschranke verschärfen. Zu Ihren Überlegungen ge-hört auch, alle Regelungen, die wir zu Beginn dieserLegislaturperiode auf den Weg gebracht haben, zurück-zudrehen, was dazu führt, dass sich für unsere Unterneh-men die Situation am Standort verschlechtert.Im Gegenteil: Wir müssen jetzt für faire Wettbe-werbsbedingungen sorgen. Das heißt, derjenige, der inDeutschland Geschäfte macht, muss zu vergleichbarenKonditionen besteuert werden, unabhängig davon, dasser seinen Sitz irgendwo im Ausland hat. Ansonsten wür-den wir unsere deutschen Unternehmen – große, aberauch mittelständische Unternehmen – massiv benachtei-ligen. Fairness und gleiche wettbewerbliche Bedingun-gen im Steuerrecht sind die Stichworte.
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in Ihrem Antragauch die Schweiz erwähnt haben. In einem Unterpunktfordern Sie die Einführung eines automatisierten Infor-mationsaustauschs bei Kapitaleinkünften. Das ist einAnliegen, dass man durchaus verfolgen kann; das findeich völlig in Ordnung. Aber das erweckt so ein bisschenden Eindruck, als ginge es dabei um ganz andere Bau-stellen als die Kernbaustelle, die ich eben erwähnt habe.
Sie haben in Ihrem Antrag viele Dinge durcheinan-dergeworfen und eine Menge Nebenthemen genannt.Das lässt falsche Schlüsse zu. Wir haben aber in ersterLinie kein Problem mit der Schweiz. Wenn Sie demSteuerabkommen mit der Schweiz Ende letzten Jahreszugestimmt hätten, hätten wir jetzt hier wie in derSchweiz die gleiche Besteuerung von Kapitaleinkünften.Das hatten Sie in der Hand. Hätten Sie zugestimmt, hät-ten wir überhaupt keine Schwierigkeiten mit derSchweiz.
Damit lenken Sie vom eigentlichen Thema ab, wasich sehr bedauerlich finde. Die Aufgabe lautet, interna-tional vergleichbare steuerliche Rahmenbedingungenund damit vergleichbare wettbewerbliche Bedingungenzu schaffen, damit unsere Unternehmen im internationa-len Wettbewerb unter den gleichen Spielregeln wie an-dere große multinationale Konzerne antreten können.Die wesentlichen Schritte dafür haben wir in dieWege geleitet. Die OECD wird uns bis zum Juni kon-krete Vorschläge in einem Aktionsplan vorlegen. Aufder nächsten G-20-Finanzministerkonferenz könnendann die nächsten konkreten Schritte in die Wege gelei-tet werden. Wir unterstützen dabei mit vollem Engage-ment unseren Finanzminister Wolfgang Schäuble, derauf dem richtigen Weg ist.Vielen Dank.
Jetzt hat Lothar Binding das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeMiddelberg hat die Problemlage hinsichtlich der interna-tionalen Steuergestaltung schon ganz gut beschrieben.
– Ja, alle sind irgendwie gut, aber manchmal auch nichtgut genug.Schauen wir uns einmal an, wie groß das Problem ei-gentlich ist, und nehmen als Beispiel Google. In der An-hörung zu diesem Thema wurde uns geschildert, dassGoogle eine Reihe von Töchtern hat, etwa auf denBermudas und in Irland, dass es eine doppelt ansässigeGesellschaft gibt, dass Gewinne über Lizenzgebühren-vereinbarungen verschoben werden, dass es keine Hin-
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Lothar Binding
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zurechnungsbesteuerung auf den Bermudas gibt, wennman eine aktive Tochter in Irland hat, und dass Googleneben diesen beiden Töchtern eine weitere Tochter inHolland hat, über die man die Lizenzgebühren zurück indas Sitzland von Google verschiebt. Man merkt – ichhoffe, dass niemand verstanden hat, was ich eben be-schrieben habe –, wie kompliziert die Gewinnverlage-rung tatsächlich ist.Jetzt schauen wir einmal in den Antrag der Koalition,um zu sehen, wie sie versucht, auf diese komplexe Situa-tion zu reagieren. Sie schreiben darin, die politischenBemühungen der Regierung sollten fortgesetzt werden,und Sie fordern die Regierung auf, weiter aktiv mitzuar-beiten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Wirglauben, dass dieser Abstraktionsgrad uns nicht weiter-hilft. Wir müssen sehr viel konkreter werden.Offen gesagt hätten wir Ihren abstrakten Antrag den-noch fast unterstützt. Allerdings steht auch darin:Die Bundesregierung hat das Thema Gewinnverla-gerung rechtzeitig erkannt und mit auf die interna-tionale Agenda gebracht.Außerdem wird Wolfgang Schäuble beglückwünscht,weil er sich an die Spitze der internationalen Initiativegesetzt habe.
Das ist, offen gesagt, blanker Hohn. Schauen wir ein-mal, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben: Sieselbst haben Schlupflöcher hinsichtlich der internationa-len Gestaltung geschaffen und versucht, sie zu erhalten.
Wir haben gestern in der Anhörung gelernt, dass dieZinsschranke ein exzellentes Instrument ist. Sie habendie Vorschriften zur Zinsschranke aber verschlechtert.
Der Mantelkauf ist ein Mittel, um strategisch Gewinnezu vernichten; die Verlustverrechnung ist, anders als Siesagen, kein marginales Problem. Außerdem haben Siedie Funktionsverlagerung in einer Weise erleichtert, diedem deutschen Fiskus schadet.Damit den Staaten nicht weiter Steuersubstrat entzo-gen wird, muss hinsichtlich der Vermeidung der doppel-ten Nichtbesteuerung und hinsichtlich der Vermeidungeiner unterschiedlichen Situation in Quellen- und Ansäs-sigkeitsstaat sehr viel mehr geschehen. Ihr Antrag istdeshalb keinesfalls hinreichend.Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen.
Herr Kollege, bevor Sie zu den Beispielen kommen:
Herr Kollege Middelberg würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen.
Ich versuche einmal, qualifiziert auf diese Frage zu
reagieren.
Lieber Kollege Binding, vielen Dank. – Ich habe eine
konkrete Zwischenfrage. Vielleicht können Sie dem
Hohen Haus erklären, welche Rolle die Zinsschranke im
konkreten Fall von Google spielt,
den wir gestern ausführlich erörtert haben; hier kommt
es ja zu einem erheblichen Verlust von Steuersubstrat.
Ich glaube, uns allen ist gestern deutlich geworden, dass
die Zinsschranke, also die Möglichkeiten, die unser
Steuerrecht in dieser Hinsicht vorsieht, in den Fällen von
Google und Amazon sowie in allen anderen genannten
Fällen, um die es hier geht, keine Rolle spielt.
Modelltheoretisch ist da eine Analogie zu sehen. DieZinsschranke funktioniert so: Jemand macht in Deutsch-land einen Gewinn und will ihn nicht versteuern. Was tuter? Er gründet eine kleine Tochtergesellschaft im Aus-land. Diese Tochtergesellschaft gibt Kredite an die Mut-tergesellschaft im Inland, und die Muttergesellschaftüberweist ihre Gewinne als Zinsen an die eigene Toch-tergesellschaft im Ausland. Diese Überweisung des Ge-winns als Zinsen an sich selbst im Ausland führt dazu,dass der Gewinn in Deutschland null ist. Damit ist natür-lich auch das Steueraufkommen null.
– Einen kleinen Moment.Hätten wir das Modell der Zinsschranke weiterentwi-ckelt, dann wäre heute Folgendes nicht mehr möglich:dass man eine Lizenzverwaltungsgesellschaft im Aus-land entwickelt und dann die Lizenzen aus Deutschlandan die eigene Tochter im Ausland überträgt,
um den Gewinn, der bei uns entsteht, als Lizenzgebüh-ren bei der eigenen Tochter im Ausland zu haben, damitder Gewinn in Deutschland auf null sinkt. Hätten wir diesehr gute Zinsschranke – das wurde Ihnen gestern bestä-tigt – modelltheoretisch weiterentwickelt, dann hättenwir heute sehr viel weniger Probleme mit Lizenzgebüh-ren und anderen Gestaltungsmomenten; dann hätten wirein Anrecht, international etwas Entsprechendes einzu-fordern – von den Iren, von den Niederländern, von de-nen, die eine solche Gestaltung heute möglich machen.Wir sind deshalb international so schlecht aufgestellt,weil wir selbst kein gutes Beispiel geben. Mit der
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Lothar Binding
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Weiterentwicklung der Zinsschranke hätten wir ein gutesBeispiel geben können. Das wäre eine exzellente Sachegewesen, die man auf internationaler Ebene hätte fort-setzen können.
Gleichwohl versuchen Sie das mit Ihrem Antrag auch.Ich habe nur kritisiert, dass Sie meinen, Sie wären an derSpeerspitze der Bewegung. Nein, Sie kommen damitdrei bis vier Jahre zu spät.
Das erkennt man daran, dass es gegenwärtig Verlagerun-gen bei Google, Amazon und anderen gibt. Warum gibtes das gegenwärtig? Sie sind doch seit dreieinhalb Jah-ren an der Regierung und hätten in dieser Hinsicht schonetwas tun können. Das ist aber nicht passiert.
– Ja, wir waren auch schon mal an der Regierung. Aberwir haben ja gerade von Herrn Middelberg gehört, dassdie Verlagerungen erst in den letzten Jahren verschärftaufgetreten sind. Zu den letzten Jahren gehören auch dieletzten dreieinhalb Jahre, in denen Sie Verantwortunggetragen haben.Wir merken, dass das Problem sehr viel komplexerist, als Sie es jetzt angehen. Wir meinen, Sie müssen daetwas tiefer einsteigen. Ich will ein paar Stichwortenennen:Zum Beispiel ist die Frage, warum Sie die Ideen, diedie OECD in diesem Zusammenhang hatte, nicht schonnational umsetzen. Es gibt eine ganze Reihe von gutenIdeen, die die OECD schon formuliert hat; aber aufnationaler Ebene passiert nichts.
Sie haben sogar etwas ganz Interessantes gemacht:Sie haben ein Zwölf-Punkte-Programm zur Unterneh-mensbesteuerung entwickelt, aber Ihr eigenes Programm– das ist so ähnlich wie bei der Koalitionsvereinbarung –nicht umgesetzt. Wir beklagen ja nicht, dass die OECDkeine Ideen hat; wir beklagen vielmehr das Umsetzungs-defizit, das die gegenwärtige Regierung an den Tag legt.Es gibt natürlich auch Qualifizierungskonflikte undProbleme mit hybriden Finanzierungen. Es ist völligklar: Wenn Fremdkapital und Eigenkapital in den ver-schiedenen Ländern unterschiedlich qualifiziert werden,dann kommt es natürlich zu einem Gewinntransfer in ei-nen anderen Staat. Wenn der Quellenstaat die Betriebs-ausgaben anerkennt, aber die Gewinne bei uns nichtversteuert werden, hat man ein doppeltes Problem. Dashätten Sie eigentlich schon lösen können. Aber nein, dashaben Sie nicht angepackt.
Deshalb ist es so, dass die Dividenden im Empfänger-staat freigestellt sind, und der Gewinntransfer nimmtseinen Lauf.So ähnlich verhält es sich mit dem Problem des dop-pelten Abzugs aufgrund der Qualifikationskonflikte imZusammenhang mit Gewinnen in Personengesellschaf-ten. Auch da fehlt eine gute Regelung. Wir glauben, dassin diese Richtung sehr viel mehr hätte passieren können.Nun komme ich zu einer Kernlösung. Wir denken jaschon sehr lange über die Gemeinsame konsolidierteKörperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage nach. DieFrage ist, warum Sie in dieser Richtung – diese Harmo-nisierung fällt in Europa auf durchaus fruchtbaren Boden –nicht einen Schritt weitergegangen sind.
Es wäre gut gewesen, das auf internationaler Ebene zuverhandeln.Es gibt sogar einen ersten kleinen, aber rudimentärenAnsatz in dem gemeinsam mit Frankreich vorgelegtenGrünbuch. Frankreich ist uns sehr weit entgegengekom-men. Leider ist es jetzt in der Schublade versackt, und esist nichts daraus geworden. Man hat die Verhandlungenin Europa nicht fortgesetzt. Das ist eine traurige Sache.Man hätte mit dieser Bemessungsgrundlage sehr erfolg-reich Steuergestaltungen vermeiden können. Leiderhaben Sie darauf verzichtet.
Es gibt Leitlinien der OECD zur Zurückverfolgungvon Geldflüssen. Das ist ein wichtiges Instrument, um zubeobachten: Was passiert da? Sie sind diesen Leitlinienaber nicht gefolgt. Die OECD hat uns Maßnahmen zurVerbesserung von Risikomanagementtechniken vorge-schlagen, insbesondere hinsichtlich des Compliance-Risikomanagements. In dieser Richtung ist nichts pas-siert. Es besteht die Möglichkeit, die Eurofisc auf denBereich der direkten Steuern auszudehnen. Auch indieser Hinsicht ist nichts passiert. Wir hatten die Mög-lichkeit, die Mutter-Tochter-Richtlinie zu überarbeiten.In dieser Hinsicht ist ebenfalls nichts passiert. Auch dieMissbrauchsbekämpfungsbestimmungen wurden nichtin nationales Recht umgesetzt.Es wurde vorhin gesagt, die Verlustnutzung bzw.grenzüberschreitende Gewinngestaltung sei ein „Neben-tatbestand“. Das beschreibt sehr genau, wo unser Pro-blem liegt: Wir meinen, die Problemlage sei eigentlichgar nicht so dramatisch. Dabei ist völlig klar: Internatio-nale Gestaltungen dienen dazu, Nationalstaaten auszu-zehren.Wir können ja mal schauen, welche Gestaltungen ne-ben Google andere Unternehmen vornehmen.
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Lothar Binding
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Ich will aus der Anhörung zitieren. Man muss sich zumBeispiel fragen, warum ein deutsches Unternehmenweltweit 2 100 Töchter hat. Die Finanzchefin des Unter-nehmens erklärte, der Gründung der 2 100 Töchterunter-nehmen weltweit liege keinerlei steuerliche Motivationzugrunde. Ich muss schon sagen: Das gibt mir sehr zudenken. Jetzt wissen Sie, warum ich sage: Man mussetwas genauer hinter die Kulissen schauen; das führt zueiner konkreteren Gesetzgebung, zu besseren Lösungen.Wir hoffen, dass wir gemeinsam Lösungen erarbeitenkönnen. Eine abstrakte Beschreibung des Problems istIhnen zwar gelungen, aber in der konkreten Umsetzungist leider ein Versagen festzustellen; so kann man dieSituation zusammenfassen. Nun werden wir uns auf denWeg der Gesetzgebung begeben.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Herr Kollege Binding, Sie habengerade mündlich das wiedergegeben, was sich als Fehlerdurch Ihren gesamten Antrag zieht.
Lassen Sie mich mit Ihrem letztgenannten Beispielanfangen. Allein die Tatsache, dass ein Unternehmen1, 2, 20 oder 2 100 Töchter im Ausland hat, lässt nochnicht den Rückschluss zu, dass das eine rein steuermiss-bräuchliche Gestaltung oder Ähnliches sei.
Zunächst ist festzuhalten: Jedes Unternehmen hat dasRecht auf die freie Entscheidung, wie es sich struktu-riert. Sie sollten deswegen auch nicht sofort den Gene-ralverdacht aufbauen,
alles, was in diese Richtung strukturiert ist, sei steuer-missbräuchliche Gestaltung.In dem von Ihnen vorgelegten Antrag machen Sie ge-nau diesen Fehler. Sie werfen den Begriff „Steuerge-staltung“ mit den Begriffen „Steuerhinterziehung“ und„Steuerbetrug“ in einen Topf.
Dabei muss man das deutlich auseinanderhalten, wennman sich dem Thema „Besteuerung von multinationalenUnternehmen“ seriös nähern möchte.
In dem gestrigen Fachgespräch, an dem auch Sie teil-genommen haben, sind die Experten deutlich zu demSchluss gekommen, dass wir in diesem Bereich keinProblem mit der nationalen Gesetzgebung haben. Viel-mehr ist es ein Problem der internationalen Zusammen-arbeit mit anderen Sitzstaaten von Unternehmen.
Das muss man berücksichtigen, wenn man sich diesemThema seriös nähern will. Es ist kein Problem des natio-nalen Gesetzgebers. Vielmehr müssen wir dort zu einerstärkeren internationalen Zusammenarbeit kommen.
Das hat die Bundesregierung, das hat Bundesfinanz-minister Wolfgang Schäuble gemacht. Er ist übrigens dererste Bundesfinanzminister, der das Thema GKKB, alsodie Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Be-messungsgrundlage, aufgegriffen hat. Das ist wirklichein sehr interessanter Ansatz. Ich meine nicht, dass esangemessen ist, dass Sie hier einzig und allein den Vor-wurf erheben, es sei Ihnen nicht schnell genug gegangen.Vorgänger von Wolfgang Schäuble sind das nämlichnicht angegangen. Insofern ist das wirklich ein Verdienstvon Wolfgang Schäuble.Das Bundesfinanzministerium arbeitet in der OECDund in der Gruppe der G 20 ganz vorne mit, wenn es da-rum geht, wie wir die internationale Zusammenarbeitverbessern können, wie wir trotz einer Gewinn- und Ver-lustverschiebung zwischen den einzelnen Sitzstaaten dieSteuerbemessungsgrundlage sichern können. In dieserFrage schreitet das Bundesfinanzministerium voran. Ichdenke, das ist tatsächlich ein großes Verdienst auch die-ser Koalition. Denn es geht ja auch darum, dass wir mitdiesen Maßnahmen das Thema der Steuergerechtigkeitmit aufgreifen. Es kann nicht sein – das ist völligrichtig –, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerhier in Deutschland das Gefühl haben, sie seien dieDummen, die in die Röhre schauen, während sich großeUnternehmen wie Google oder Starbucks durch irgend-welche Gestaltungen der Besteuerung entziehen. Ichdenke, hierüber herrscht auch Einigkeit in diesem Haus.
Wenn man international zusammenarbeiten will, dannmuss man aber auch bereit sein, mit den internationalenPartnern auf Augenhöhe zu verhandeln.
Damit bin ich beim Thema des Verhältnisses zwischenDeutschland und der Schweiz.
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Dr. Daniel Volk
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Das ist wirklich ein Beispiel dafür gewesen, dass geradedie andere Seite des Hauses nicht bereit war, auf gleicherAugenhöhe zu verhandeln.
Da wurden Begriffe wie „Kavallerie“ und Ähnliches voneinem SPD-Finanzminister in den Raum geworfen, dersich jetzt anschickt, Bundeskanzler werden zu wollen.Wenn man eine internationale Zusammenarbeit zu einemfruchtbaren Ergebnis führen will, dann muss man ebenbereit sein, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln,
und muss auch bereit sein, Kompromisse einzugehen.
Das deutsch-schweizerische Steuerabkommen, das Bun-desfinanzminister Schäuble ausgehandelt hat, ist Ergeb-nis einer solchen Kompromissfindung zwischen zweigleichberechtigten Partnern. Das wurde von Ihnen abge-lehnt. Es ist am Widerstand der Opposition im Bundes-tag
und am Widerstand der von der hiesigen Opposition re-gierten Bundesländer gescheitert.
Sie haben damit allerdings erreicht, dass wir weiterhinden Zustand haben, dass Geld, das in der Schweiz liegt,nicht vom deutschen Fiskus versteuert wird. Das ist dochdie wirklich schädliche und ärgerliche Konsequenz, diewir Ihrem Verhalten zu verdanken haben.
Deswegen ist es wirklich nicht angemessen, dass Siesich jetzt hierhinstellen und den Vorwurf erheben, dieBundesregierung tue nichts gegen den internationalenSteuerwettbewerb. Auch als Opposition sollten Sie kon-struktiv daran mitwirken, in den internationalen Ver-handlungen gute Ergebnisse herbeizuführen. Ich fordereSie dazu auf; denn das dient wirklich allen Bürgerinnenund Bürgern in diesem Staat.
Der Kollege Dr. Axel Troost hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir befürworten natürlich die Absichtserklärung, derSteuerhinterziehung, der Steuerverlagerung nachzuge-hen. Aber das, was im Augenblick hierzu vorliegt, isteben nur eine Absichtserklärung. Diese hätten Sie auchin Form einer Pressemitteilung abgeben können.In Ihrem Antrag dazu wird der Eindruck erweckt– das ist auch gestern in der Anhörung geschehen –, dassSie jetzt die Vorreiterrolle übernehmen. Dazu kann ichIhnen nur sagen: Organisationen wie Attac, das Netz-werk Steuergerechtigkeit, die Memorandum-Gruppe undandere kämpfen seit 15 Jahren gegen die Steuergestal-tung zulasten der Finanzeinnahmen.
Jetzt sagen Sie im Grunde: Es gibt ein paar böse inter-nationale Konzerne, Google, Starbucks und andere. An-sonsten ist aber alles in Ordnung; in der Bundesrepublikhaben wir überhaupt keine Probleme. – Das ist aus mei-ner Sicht bis ins Letzte verlogen, weil es generell um dieSteuergestaltung international agierender Konzerne geht,um die, wie wir gestern gehört haben, sogenannte ag-gressive Steuergestaltung.Um das an einem konkreten Beispiel zu zeigen – dasist jetzt schon zweimal angesprochen worden; der Kol-lege Gambke hat das gestern konkret gezeigt –: Ein Un-ternehmen mit vielen Untergesellschaften ist die Deut-sche Bank. Wenn diese Deutsche Bank in ihremGeschäftsbericht schreibt, dass die Steuerquote aufgrundder „vorteilhaften geografischen Verteilung des Konzern-ergebnisses“ so gut war, dann weiß man genau, was da-mit gemeint ist, nämlich dass man Steuerlöcher nutzt,um möglichst wenig Steuern zu zahlen. Das ist aus unse-rer Sicht völlig unakzeptabel und muss insgesamt ange-gangen werden.
Man soll an dieser Stelle ja nicht zu viel Schleichwer-bung machen; aber ich kann alle nur auffordern, in denStern der letzten Woche zu schauen, in dem unter demTitel „Legale Staatsfeinde“ ein sehr schöner Artikel ver-öffentlicht wurde. In diesem Artikel wird sehr genau ge-zeigt, wie Steuergestaltung und Steuerhinterziehung inder Bundesrepublik funktioniert.Dass es das gibt, hängt natürlich auch damit zusam-men, dass unsere Finanzverwaltungen personell und fi-nanziell ausgesprochen schlecht aufgestellt sind. Die Be-hauptung von gestern, dass die Steuererhebung bei unsgut funktionieren würde, ist einfach unsinnig; das weißjeder.
Es gibt Kienbaum-Gutachten, die besagen, dass bis zu9 Milliarden Euro pro Jahr dadurch verloren gehen, dass
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Dr. Axel Troost
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die Länder die ausschließliche Hoheit auf diesem Gebiethaben. Der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,Herr Eigenthaler, sagt völlig zu Recht: Wer an der Fi-nanzverwaltung spart, der spart Einnahmen.
– Das ist nun nicht so witzig.
Das hat wenig Bezug zum Thema.Es ist also nicht alles in Ordnung. Auch unsere Kon-zerne wirken gestaltend. Das, was diese Koalition in die-sem Bereich bisher zustande gebracht hat, bewirkte– das ist schon angesprochen worden – genau das Ge-genteil. Man hat im Bereich der Zinsschranke genau dasGegenteil gemacht: Man hat wieder Öffnungsmöglich-keiten geschaffen. Gestern ist deutlich geworden, dassdie Zinsschranke so gut wie keine Rolle mehr spielt,weil die eigentliche Idee durchlöchert worden ist.
Es muss darum gehen, das gesamte Thema „Steuerge-rechtigkeit und Steuerpflicht international agierenderKonzerne“ in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei geht esnicht um den kleinen Handwerker oder den kleinen Mit-telständler, wie hier gesagt wird, sondern es geht umgroße Konzerne, die es mit ihren Steuerabteilungenschaffen, so gut wie nichts zur Finanzierung des Staatesbeizutragen, was völlig unakzeptabel ist.Danke schön.
Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat jetzt das Wortfür Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Thema, über das wir heute sprechen, ist in derPresse intensiv erörtert worden. Dieses Thema hat auf-grund der sehr spektakulären Tatsache, dass einige Fir-men – die Namen wurden genannt –, insbesondere inter-netbasierte Unternehmen, ihre Gewinne mit 1, 3 oder5 Prozent versteuern, eine besondere Brisanz.Aber, Herr Middelhoff, wir müssen schon ein biss-chen weiterschauen.
– Das ist immer der Name. Es tut mir leid.
Wir dürfen uns nicht nur das letzte Jahr und auchnicht nur diese spektakulären Fälle anschauen, sondernwir müssen uns auch anderes ansehen. Ich bin ja schonein bisschen länger im Bereich der Industrie unterwegs.Schon 1990 wusste ich, dass Singapur einen Pioneer Sta-tus hat und 0 Prozent Körperschaftsteuer erhebt. Schondamals war bei denjenigen, die das gewusst haben, Fan-tasie vorhanden. Ich will jetzt keinen Schwarzen Peterverteilen, aber da wurde in der Tat wenig getan.Es gibt ein berühmtes Möbelhaus, bei dem die Fragewar: Wie schaffen die das, in Deutschland so wenigSteuern zu zahlen?
– Ja, aber die haben Möbelhäuser in Deutschland.
– Sehen Sie! – Die haben Lizenzgebühren verrechnet. Esgab übrigens ein Gegeninstrument, die sogenannten Hin-zurechnungen, die Sie von der Koalition abschaffenwollten; denn Sie wollten die Gewerbesteuer kaputtma-chen. Das war schon ein wirksames Instrument, welchesman genau deshalb eingeführt hat, um Steuersubstratver-lagerungen ins Ausland zu verhindern.
Das Problem ist schon ein bisschen länger bekannt.Es gibt noch einen zweiten Punkt, den Sie übersehen.In Ihrem Antrag steht ein richtiger Satz: Wettbewerbsbe-dingungen müssen gleich sein. – Das ist richtig. Siemüssen aber nicht nur im Verhältnis der internationalenKonzerne zueinander gleich sein, so wie Sie es beschrie-ben haben. Sie betreiben da so ein bisschen Bashing undprangern zu Recht Dinge an. Wir müssen auch schauen,wie die Wettbewerbsbedingungen insgesamt sind.Ich kenne viele Mittelständler in Deutschland, die sa-gen: So gehen nicht nur Google und Apple vor, sondernauch andere. – Da kommt ein Punkt zum Tragen, der beiIhrem Antrag vollkommen fehlt. Wie richtig bemerktwurde, fehlen eine Menge konkreter Dinge. Es stehtüberhaupt nichts Konkretes darin. Herr Troost hat zuRecht gesagt, dass er sich wie eine Presseerklärung liest.Wir müssen doch schauen, was wir konkret machenmüssen, um da richtig zu steuern. In diesem Zusammen-hang fehlt das Wort „Transparenz“. Der automatische In-formationsaustausch ist angesprochen worden. AlsGrüne haben wir einen Antrag vorgelegt, der unter ande-rem mit „Country-by-Country Reporting“ überschriebenwar. Auf Deutsch heißt das: Wir wollen, dass die Unter-nehmen ihren Umsatz, aber auch ihre Gewinnsituationund ihre Kopfzahl länderbezogen darstellen, damit wiruns ein Urteil machen können und wissen, wo wir ein-greifen müssen.Es hat mich sehr gewundert, dass Herr Meister einePresseerklärung herausgegeben hat, die sich so las, alswolle er auf alle Konzerne eindreschen. Nein, wir wollengenau wissen, wo die Schwierigkeiten liegen. Dann wol-len wir zielgerichtet das tun, was unter anderem im SPD-Antrag steht, uns nämlich mit unangemessenen konzern-internen Verrechnungspreisen, Zinszahlungen und Li-
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Dr. Thomas Gambke
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zenzgebühren befassen. Wir wollen also sehr konkretwerden. Damit wir das tun können, brauchen wir Trans-parenz. Das vermisse ich in Ihrem Antrag. Deshalb kannman ihn nur ablehnen. Das ist eine allgemeine Aufforde-rung.
Wir brauchen konkrete Maßnahmen, damit wir gegendiese Gestaltungen vorgehen können, und sollten nichtnur auf die OECD schauen. Wir vom Finanzausschusswaren gerade in England und haben uns dort genau mitdiesem Thema beschäftigt. Ich war ein wenig enttäuscht,als uns Finanzminister Osborne sagte: Na ja, wirschauen auf die OECD.In diesem Fall müssen wir sehr viel konkreter werdenund – neben all den internationalen Verpflichtungen, dierichtig genannt wurden – wissen, wo Substrat ins Aus-land verschoben wird. Dann müssen wir tätig werdenund Maßnahmen ergreifen. Ein paar sind im SPD-An-trag benannt worden. Da könnten wir noch mehr ma-chen; aber damit müssen wir anfangen. Wir dürfen nichtwarten, bis sich die G-20-Minister zusammengesetzt ha-ben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem vorliegenden Antrag setzt die Bundesregierungihre Bemühungen auf der Ebene der G 20 und derOECD fort, die Aushöhlung der Steuerbemessungs-grundlage und Gewinnverschiebungen entschieden zubekämpfen. Ziel ist es, die künstliche Gewinnverlage-rung international tätiger Unternehmen zu unterbinden,die Ursachen für niedrige effektive Steuerbelastungendieser Unternehmen zu ermitteln, wirksame Maßnahmengegen Gewinnverlagerung auf dem internationalen Par-kett umzusetzen und gegen den Nebeneffekt der Verla-gerung, die Erzielung ungerechtfertigter Wettbewerbs-vorteile, vorzugehen.Das alles soll geschehen, damit auch multinationaleAuslandskonzerne einen fairen Anteil an nationalenSteuern zahlen. Das sind wir dem Mittelstand, den deut-schen Unternehmen als Steuerzahler der Nation schul-dig.
Darum geht es – und nicht um Unternehmen, die Sie miteiner falschen Zinsschranke beharken wollen.Natürlich, meine Damen und Herren, haben wir heut-zutage eine globale Wirtschaft. Die SPD verwechselt da-bei immer die Ursachen und Wirkungen einer Zins-schranke. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, dassdas Globalisierungstempo der letzten Jahre in Deutsch-land zu gewaltigen Wettbewerbsverzerrungen und zu ge-waltigen Wettbewerbsvorteilen für ausländische Groß-konzerne geführt hat, die eine unwahrscheinlich niedrigeKonzernsteuerquote haben.
Darum geht es, meine Damen und Herren.
Die Bekämpfung der Aushöhlung der Steuerbemes-sungsgrundlage und der Gewinnverschiebung funktioniertnatürlich, da es ja um ausländische Konzernunterneh-men geht, nur international. Es geht um die Steuerquotenausländischer Konzerne, aber nicht um einen General-verdacht gegenüber Unternehmen.
Wir müssen die Fakten betrachten. Es gibt Tabellen,anhand derer man sie gut deutlich machen kann. MartinSullivan von Tax Analysts hat eine solche Tabelle ange-fertigt.
Da heißt es: hoher Gewinn, geringe Steuern. Es geht umdie hohen Gewinne ausgewählter US-Konzerne 2010 inMilliarden Dollar und die geringe Steuerbelastung derausländischen Gewinne in Milliarden Dollar. Es ist ganzeindeutig zu sehen: Apple machte im Jahr 2010 13 Mil-liarden Dollar Gewinn und zahlte 0,1 Milliarden DollarSteuern; das entspricht einer Steuerbelastung von 1 Pro-zent. Die Steuerbelastung von Google lag 2010 bei3 Prozent und die von Cisco Systems bei 5 Prozent; dasgeht so weiter und ließe sich fortsetzen. Es gibt in dieserTabelle kein amerikanisches Unternehmen, das eineSteuerbelastung von über 19 Prozent hatte.Um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, mussman sich allerdings in die Details einarbeiten, statt glo-bale Unternehmen pauschal an den Pranger zu stellen.
Hier sehen Sie, wie die Besteuerung von Lizenzgebüh-ren auf Bermuda vonstattengeht:
Die Lizenzgebühren fließen von den USA in eine irischeHolding, dann von der irischen Holding in die Nieder-lande – alles ganz ohne Besteuerung –, und dann fließtdas Ganze zurück in die USA. Das ist verwerflich. Daskönnen wir nicht akzeptieren. Darum geht es, meine Da-men und Herren. Das sind Fakten, die man zur Kenntnisnehmen muss.
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Dr. h. c. Hans Michelbach
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Es gibt die Globalisierung, und wir wollen sie natür-lich auch akzeptieren. Die Globalisierung eröffnet Chan-cen, aber eben auch Schlupflöcher, in denen rechtmäßigeSteuereinnahmen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.International operierende Konzerne führen fragwürdigeSteuergestaltungen durch und nutzen Steueroasen. Lei-der gibt es solche Steueroasen auch in der EuropäischenUnion. Deswegen muss jetzt international gehandeltwerden. Wir wollen die Steueroasen in Zypern, Irlandund anderen Ländern austrocknen. Darum geht es, meineDamen und Herren.Steueroptimierungsstrategien, wie sie so schön hei-ßen, haben zum Ziel, Gewinne möglichst in Steueroasenanfallen zu lassen. Es darf aber nicht sein, dass sich Kon-zerne mithilfe von Lizenzgebühren und allen möglichenanderen Konstruktionen Vorteile verschaffen. Deswe-gen, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns eine ganzklare und vernünftige Abgrenzung vornehmen! Dass Siedeutsche Unternehmen unter einen Generalverdacht stel-len, ist völlig falsch.
Hierzulande haben wir ganz andere Konzernsteuerquo-ten als in den Fällen, die wir vor Augen haben. Es gehtallein darum, dass wir den Missbrauch jetzt auf interna-tionaler Ebene bekämpfen. Deutschland hat in vielenBereichen der Finanzmarktregulierung eine Vorreiter-rolle übernommen. Wir werden auch bei der Austrock-nung der Steueroasen eine Vorreiterrolle übernehmen.Dabei lassen wir uns von niemandem überbieten, meineDamen und Herren.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/12827 mit dem Titel „Unterstützung der Initia-
tive der G 20 und der OECD zur Bekämpfung der Aus-
höhlung der Steuerbemessungsgrundlage und der
Gewinnverschiebung internationaler Konzerne“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch
die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Linke
hat sich enthalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12819 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann verfahren wir so.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten erhalten –
Psychische Belastungen in der Arbeitswelt re-
duzieren
– Drucksache 17/12818 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Da-
mit sind alle einverstanden. Dann verfahren wir so.
Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Josip Juratovic.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! In meinem Wahlkreis bin ich regelmäßig inBetrieben unterwegs. Ich schaue mir nicht nur die schö-nen innovativen Unternehmen an, sondern auch die Be-dingungen, unter denen die Menschen in unserem Landarbeiten. Überall stößt man auf Klagen der Beschäftig-ten, dass der Leistungsdruck enorm zugenommen hat.An vielen Arbeitsplätzen in unserem Land hat sich derStress in den letzten Jahren deutlich erhöht.Besonders in der Pflege wird das sichtbar. Meine Frauist als Krankenschwester tätig. Sie steht permanent unterZeitdruck. Oft kann sie nicht die Zeit für die Patientenaufbringen, die diese tatsächlich brauchen, sondern mussihre Arbeit hastig erledigen. Durch Leistungsvorgabenund Dokumentationspflichten, die immer mehr Arbeits-zeit verschlingen, steht sie oft unter enormem Druck.Die in der Pflege tätigen Menschen empfinden per-sönlich die Verantwortung, jedem einzelnen Menschengerecht zu werden. Gleichzeitig müssen sie die Leis-tungsvorgaben erfüllen. Viele Menschen geraten inStress und Verzweiflung, weil im Zweifel die Mensch-lichkeit, die ihnen selbst so wichtig wäre, wegen der in-dustrieähnlichen und betriebswirtschaftlichen Arbeitsab-läufe verloren geht. Das ist kein Einzelfall in derKranken- und Altenpflege, einem Bereich, in dem wirdas Menschliche der Arbeit nicht aufgeben dürfen.Kolleginnen und Kollegen, am Beispiel einer Kran-kenschwester wird besonders deutlich, dass Stress in derArbeitswelt allen schadet: Er schadet der Kranken-schwester, weil sie durch psychische Belastungen undStress selbst krank wird. Er schadet dem Arbeitgeber,weil er die Ausfallzeiten seiner Arbeitnehmer zu ver-kraften hat. Er schadet den Krankenkassen, weil sie beiKrankheiten, die durch psychische Belastungen entste-hen, die Kosten tragen müssen. Er schadet der Qualitätder Arbeit; denn mit psychischen Belastungen am Ar-beitsplatz kann keine Krankenschwester wirklich guteArbeit leisten. Das schadet natürlich auch dem Patienten.Das Gesundheitswesen leidet, weil niemand mehr diepsychisch und physisch harte Arbeit in der Pflege ma-chen will – so viel zum Thema Fachkräftemangel. DerStress schadet der gesamten Gesellschaft; denn Familienund Freunde müssen zurückstecken, wenn jemand unterpsychischen Belastungen am Arbeitsplatz leidet.Kolleginnen und Kollegen, diese Analysen sind be-kannt. Es ist offensichtlich, dass wir mehr und besserenArbeits- und Gesundheitsschutz brauchen, insbesondere
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Josip Juratovic
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um psychische Belastungen in der Arbeitswelt zu redu-zieren.Leider haben wir auch im Bereich des Arbeitsschut-zes eine Bundesregierung des Zögerns und Zauderns.
– Ja. – Arbeitsministerin von der Leyen tut in der Öffent-lichkeit wieder einmal betroffen und organisiert eineKonferenz. Aber es gibt kein Ergebnis dieser Konferenz.Das ist typisch für diese Bundesregierung: Dauernd wer-den Gipfeltreffen abgehalten und die Ergebnisse werdenzwar medial vermarktet, aber politisch nie umgesetzt.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,Gipfel und Konferenzen helfen keinem Betroffenen. DieBetroffenen brauchen konkrete politische Handlungenund keine warmen Worte.Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Siehaben nun durchgesetzt, dass die Anhörung zu den bis-her vorliegenden Oppositionsanträgen zu psychischenBelastungen in der Arbeitswelt verschoben wird. Viel-leicht passiert in der Bundesregierung also doch noch et-was.Wenn hier noch eine Initiative kommt, dann aber nurauf massiven Druck aus der Gesellschaft, von den Ge-werkschaften sowie von den Millionen Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern, die unter psychischen Belastun-gen leiden. So agiert keine Bundesregierung, die eineVision von einem fairen Arbeitsmarkt hat; vielmehr ha-ben wir eine getriebene Bundesregierung ohne eigeneIdeen.Wir als SPD haben mit unserem Antrag einen klarenFahrplan zur Modernisierung des Arbeits- und Gesund-heitsschutzes mit einem Fokus auf die psychischen Be-lastungen in der Arbeitswelt.
Wir brauchen dringend eine Anti-Stress-Verordnung,in der für Arbeitnehmer und Arbeitgeber klar definiertist, wie der Arbeitsschutz im Bereich „Psychische Belas-tungen“ auszusehen hat.Wir haben im Arbeitsschutz alle möglichen Verord-nungen, beispielsweise auch eine Biostoffverordnung.Im Bereich „Psyche“ besteht aber eine Regelungslücke,die wir dringend schließen müssen.
Die Gefährdungsbeurteilungen, in denen der Arbeits-platz auf Gefahren hin analysiert wird, müssen deutlichhäufiger als bisher durchgeführt werden. Derzeit führentrotz gesetzlicher Vorschriften nur 51 Prozent der Be-triebe Gefährdungsbeurteilungen durch, und in vielenBeurteilungen werden psychische Belastungen nicht be-rücksichtigt. Das muss besser werden.Betriebliche Akteure müssen bezogen auf den Be-reich „Psychische Belastungen“ besser informiert undqualifiziert werden. Zudem müssen beispielsweise Ver-einbarungen zum Abschalten von Firmenhandys getrof-fen werden, damit die arbeitenden Menschen auch tat-sächlich einen Feierabend bekommen.Wir müssen die Umsetzung des betrieblichen Ein-gliederungsmanagements verbessern. Wenn einst krankeArbeitnehmer in den Betrieb zurückkehren, muss derArbeitsplatz so gestaltet worden sein, dass der Arbeit-nehmer nicht erneut arbeitsunfähig wird. Für den Fall,dass das Unternehmen das betriebliche Eingliederungs-management nicht umsetzt, brauchen wir auch eineSanktion. Wir schlagen vor, dass der Arbeitgeber dieLohnfortzahlung im Krankheitsfall dann länger leistenmuss.Wir fordern, dass die Zusammenarbeit zwischenKrankenkassen und Arbeitgebern besser werden muss,um mehr Konzepte für den betrieblichen Gesundheits-schutz zu erarbeiten.Wir alle wissen, dass es ohne Kontrolle nicht geht.Deswegen fordern wir umfassendere Kontrollen durchdie Arbeitsschutzbehörden. Fehlender Arbeitsschutzmuss angemessen sanktioniert werden. Die Kürzungenbeim Aufsichtspersonal müssen rückgängig gemachtwerden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen mit unse-rem SPD-Antrag detaillierte Forderungen für den Ar-beits- und Gesundheitsschutz vor; denn Arbeitsschutz istfür die gesamte Gesellschaft wichtig. Leider räumt dieBundesregierung diesem Thema keinerlei Priorität ein.Wir müssen den Arbeits- und Gesundheitsschutz aberdringend modernisieren, damit wieder gilt: Arbeit darfnicht krank machen.
Leider hat die Bundesregierung jedoch nur warmeWorte, aber keinen Willen zu gesetzlichen Aktivitäten.Ich verspreche allen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern in unserem Land, die unter psychischen Belas-tungen am Arbeitsplatz leiden: Wir Sozialdemokratenwerden dafür sorgen, dass der Arbeits- und Gesundheits-schutz aus seinem schwarz-gelben Dornröschenschlafgeholt wird – spätestens im Herbst nach der Bundestags-wahl.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer fürdie CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr-ter Kollege Juratovic, wir teilen natürlich Ihre Sorge undhaben die sich verändernde Arbeitswelt im Blick. Auchwir beobachten eine zunehmende Verdichtung von Arbeit,eine Erhöhung von Effizienzanforderungen und eineneue Präsenzkultur am Arbeitsplatz, Tendenzen einerallzeitigen Erreichbarkeit. Hier ist es natürlich richtig:Das Handy ist zwar manchmal ein schönes Spielzeug,aber manchmal kann es auch ein ganz schöner Fluchsein.Wir sehen mit großer Sorge, dass die Zahl psychischbedingter Fälle von Arbeitsunfähigkeit zunimmt. Psy-chische Erkrankungen und Erschöpfungszustände habenin erster Linie verheerende Folgen für die Betroffenenselbst, aber auch für die Gesellschaft. Insofern aner-kenne ich wirklich, dass wir hier einen Handlungsbedarfhaben.Sie haben nun den Antrag vorgelegt. Sie haben ihnam Dienstag in einer Pressekonferenz angekündigt. AmMittwoch ließen Sie uns den Antrag zukommen, derheute debattiert wird. Sie haben natürlich recht: WennTermindruck einer der Belastungsfaktoren ist, dannsollte man ihn vermeiden, zumal dann, wenn es dabeium einen so substanziellen Antrag wie den Ihrigen geht.In der Analyse steckt, Herr Kollege Juratovic, sehr vielRichtiges und Tiefgründiges. Ich hätte nur gerne mehrZeit gehabt, darüber nachzudenken.
Sie hatten nach den Anträgen der Linken und derGrünen im vergangenen Jahr Monate Zeit, den Antragzu formulieren, und geben uns nicht einmal einen Tag,um darüber nachzudenken. Unter dem Gesichtspunktdes vermeidbaren Stresses ist das etwas unfair. Deswe-gen will ich auch nur einige erste Hinweise geben.
Wir haben in einigen Punkten indes – das scheint jetztschon klar zu sein – unterschiedliche Auffassungen. DieSPD schlägt, ähnlich wie die Grünen und Linke das be-reits getan haben, den Erlass einer Anti-Stress-Verord-nung vor.
Die ausgeübten Tätigkeiten müssten dann gar der Ge-sundheit zuträglich sein. Das wirft natürlich die Frageauf, welche Tätigkeiten der Gesundheit überhaupt zu-träglich sind und warum.Ich kann mir beispielsweise kaum vorstellen, dass esder Gesundheit der Mitarbeiter der SPD zuträglich ist,laufend Forderungen zu formulieren, die ohnehin nichtdurchgesetzt werden, oder, noch schlimmer, im Be-wusstsein zu arbeiten, dass man vermutlich auch nachdem 22. September für weitere vier Jahre nicht den Be-weis des Gegenteils antreten kann.
Aber was folgt daraus? Für mich jedenfalls nur die Frag-würdigkeit einer Formulierung, alle Tätigkeiten müsstender Gesundheit zuträglich sein.Der Schutz der seelischen Gesundheit im Betriebsteht und fällt mit einer mitarbeiterorientierten Unter-nehmenskultur. Diese basiert insbesondere auf Teilhabeund Mitgestaltung der Beschäftigten, auf partnerschaftli-cher Kommunikation und einem sorgfältigen Umgangarbeitsplatzbezogener Anforderungen mit individuellenFähigkeiten.Diese Zusammenhänge lassen sich nur schwer imWege rechtlicher Vorgaben festlegen. Insbesondere An-forderungen, die auf eine Verbesserung des sozialenUmgangs gerichtet sind, sind schwer regelbar. Antistressper Gesetz würde in diesem Bereich also mit großer Si-cherheit ins Leere laufen. Das können wir vielleicht ganzpraktisch einmal prüfen, wenn wir unser eigenes Verhal-ten als Arbeitgeber beobachten. Was nützen die bestenGesetze, wenn sie nicht in den Köpfen der Führungs-kräfte angekommen sind? Führen durch Vorbild wärehier sinnvoller.Ich bin auch sehr dafür, die Führungskräfte zu qualifi-zieren, zu informieren. Ich halte es aber für wenig sinn-voll, wenn sich – diese Tendenz ist in Ihrem Antragdurchaus enthalten – Arbeit und Führung nur noch alstherapeutische Gesamtveranstaltung verstehen.Ich meine auch, dass einige grundsätzliche Unter-schiede zwischen uns und der SPD deutlich werden. ImAntrag wird gefordert, die Bundesregierung solle für dieAnwendung des betrieblichen Eingliederungsmanage-ments Sorge tragen. Sie wollen den Staat als regelnde In-stanz in allen Lebenslagen und Bereichen. Wir setzenauf subsidiäre Lösungen zwischen den Beteiligten vorOrt, also in dem Fall den Beschäftigten, den Interessen-vertretungen und den Betriebsärzten.
Nachdenkenswert ist meines Erachtens Ihr Vorschlag,dass Arbeitgeber und Krankenkassen gemeinsame Kon-zepte zur betrieblichen Gesundheitsförderung erarbeitensollen. Das könnte ich mir zwischen den Interessenver-tretungen und den Krankenkassen vor Ort noch ein we-nig gewinnbringender vorstellen. Dennoch halte ich esfür lobenswert, dass Sie an dieser Stelle unsere Überzeu-gungen teilen, vor Ort anzusetzen. Auch für überlegens-wert halte ich Ihren Vorschlag – Sie haben es eben wieder-holt, Herr Kollege Juratovic –, psychische Belastungen ineiner Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutzgesetzmit zu erfassen. Da sind wir ganz nah beieinander.Die christlich-liberale Koalition plant, zu diesemThema zeitnah einen eigenen Antrag in den Bundestageinzubringen. Nachdem der Antrag der SPD substanziel-ler und besser war als der Antrag der Linken und derGrünen aus dem letzten Jahr, dürfen Sie von uns erwar-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28889
Dr. Matthias Zimmer
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ten, dass wir es noch einen Tick besser machen als Sie.Auf diese Debatte freue ich mich.Vielen Dank.
Für die Linke hat jetzt Jutta Krellmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Tolle
an diesem Thema ist, dass es ziemlich viel Übereinstim-
mung gibt. Der Anstieg der Zahl der arbeitsbedingten
Erkrankungen wegen psychischer Belastungen ist be-
sorgniserregend. Es ist höchste Zeit, dass hier etwas pas-
siert. Die Forderungen der SPD sind in vielen Punkten
mit unseren deckungsgleich – das ist aus meiner Sicht
eine gute Voraussetzung für eine Lösung des Problems –:
die Anti-Stress-Verordnung, die stärkere Kontrolle der
Einhaltung von Arbeitsschutzgesetzen, die größere Rolle
von Betriebs- und Personalräten bei der Arbeitsplatzge-
staltung und der Wiedereingliederung. Der große Unter-
schied ist: Sie behandeln in Ihrem Antrag die Symptome
und nicht die Ursachen. Sie schreiben in Ihrem Antrag,
dass die Zunahme der Zahl der Stresskrankheiten durch
den „Wandel in der Arbeitswelt“ verursacht wurde. Das
ist richtig. Aber woher kommt dieser Wandel der Ar-
beitswelt? Das alles ist doch keine Naturkatastrophe. Die
Entwicklung wurde durch politische Entscheidungen der
letzten Jahre bewusst herbeigeführt. Deswegen geht es
heute auch um die Deregulierung und Liberalisierung
des Arbeitsmarktes. Das sind die Ursachen. Darüber
müssen wir sprechen. Sonst springen Sie mit Ihren Vor-
schlägen zu kurz.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Ers-
tens. Sie stellen fest: Befristet Beschäftigte stehen unter
erhöhtem Leistungsdruck. – Das sehen wir ganz ge-
nauso. Deswegen wollen wir Befristungen ohne Sach-
grund verbieten und haben das auch in unseren Antrag
geschrieben. Eine ganzheitliche Betrachtung ist ange-
sagt. Die sachgrundlose Befristung muss weg. Dann
können psychische Erkrankungen aus diesem Grund erst
gar nicht entstehen. Die Ursachen müssen beseitigt wer-
den.
Zweites Beispiel, Leiharbeit. Den Leiharbeitnehmern
wird gesagt: Strengen Sie sich an! Dann haben Sie eine
Chance auf Übernahme. – Blödsinn, sage ich. Die Über-
nahme in reguläre Beschäftigungsverhältnisse klappt
lediglich bei 7 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und
-arbeitnehmer. Die Situation – dauernde Unsicherheit,
das ständige Gefühl ungerechter Behandlung und hoher
Leistungsdruck – macht Menschen krank. Die Konse-
quenz kann nur sein: Verbot der Leiharbeit.
Atypische und unregelmäßige Arbeitszeiten erzeugen
Stress. Auch das ist eine richtige Feststellung. Ihr Antrag
enthält aber leider keine Regelung, aus der hervorgeht,
wie im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes eine Mög-
lichkeit zur Vermeidung von Stress geschaffen werden
kann. Die Betriebs- und Personalräte werden an dieser
Stelle im Grunde alleine gelassen.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, gehen
die Frage der Deregulierung des Arbeitsmarktes nicht
grundsätzlich an, im Gegenteil. Noch letzte Woche ha-
ben Sie die Agenda 2010 gefeiert; sie ist überhaupt kein
Grund zum Feiern. Deswegen bleiben Ihre Forderungen
auf halbem Wege stecken und werden unglaubwürdig,
obwohl sie im Einzelnen richtig sind. Wir werden Ihre
Forderungen unterstützen. Aber Sie müssen sich ent-
scheiden, ob Sie den Weg der Agendapolitik fortsetzen
oder konsequent für die Gesundheit der Beschäftigten
sorgen und eintreten.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Da wir heute über das Thema psychische Gesundheit amArbeitsplatz sprechen, muss man zuerst und ohne jegli-che Wertung feststellen, dass in den letzten Jahren dieZahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen unddementsprechend auch die Fehlzeiten der Arbeitnehmeraufgrund dieser Erkrankungen deutlich gestiegen sind.Mittlerweile gehen 13 Prozent aller Tage, an denen Ar-beitnehmer krankgeschrieben sind, auf psychische Er-krankungen wie Depressionen oder Angststörungen zu-rück. Vor zehn Jahren waren das gerade einmal6,6 Prozent. Mit knapp 40 Prozent aller Erwerbsminde-rungsrentenfälle sind psychische Krankheiten inzwi-schen Hauptgrund für einen vorzeitigen Rentenbezug.Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Er-schöpfungszustände wie das Burn-out-Syndrom habenschwerwiegende Folgen für die Betroffenen, aber auchfür die Unternehmen sowie für die Gesamtwirtschaft unddas Sozialversicherungssystem. Nach Angaben des Sta-tistischen Bundesamtes entstehen der deutschen Wirt-schaft allein durch psychische Erkrankungen Kosten vonjährlich knapp 29 Milliarden Euro.Früher war unser größtes Problem, dass Menschen anihrem Arbeitsplatz starken physischen Belastungen aus-gesetzt waren. Ich selbst stamme aus einer Unternehmer-familie und habe als Kind im Betrieb beobachten kön-nen, wie hart gearbeitet wurde. Seitdem hat sich vielgeändert. Arbeitsabläufe in den Betrieben wurden ange-passt, viele der Aufgaben, die früher stark physisch be-lastend waren, werden heute mithilfe, von oder durchMaschinen erledigt. Damit rücken natürlich – das istklar – auch in der Statistik die psychischen Erkrankun-gen umso deutlicher in den Vordergrund.
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28890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Heinrich L. Kolb
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Ich finde es wichtig, dass wir eine Enttabuisierung ha-ben. Die TU München hat festgestellt, dass nur 16 Pro-zent der Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber überhaupt mit-teilen, dass sie Probleme haben. Das ist das gute Rechtder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das könnenund wollen wir nicht ändern. Aber es muss klar sein,dass dieser Anstieg auch ein Stück weit den geändertenDiagnoseverfahren bei psychischen Erkrankungen ge-schuldet ist. Diese Krankheiten können heute besser er-kannt werden, als es früher der Fall war.Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen – das spielt eineRolle bei der Schuldzuweisung –, dass die Hälfte allerpsychischen Störungen sich schon vor dem 15. Lebens-jahr, also völlig unabhängig von einer Berufstätigkeit,entwickelt hat. Ärzte weisen immer wieder darauf hin,dass psychische Probleme in den ganz überwiegendenFällen dann entstehen, wenn auch im privaten BereichSchwierigkeiten vorhanden sind. Wenn das private Um-feld nicht als Stütze, als Ressource, wie es im „Stressre-port Deutschland 2012“ heißt, vorhanden ist, sondernwenn das private Umfeld selbst noch belastet, dann wie-gen eben auch die Belastungen am Arbeitsplatz umsoschwerer. Wenn diese Belastungen dauerhaft und über-mäßig auftreten, dann wird es schwierig; denn – auchdas kann man aus dem „Stressreport Deutschland 2012“herauslesen – wenn die Arbeitnehmer keine Erholungs-möglichkeiten haben, treten die Probleme konkret undverschärft auf.Ich will darauf hinweisen, dass wir als Politiker eineganze Menge tun können und auch schon getan haben,wir also nicht so untätig sind, wie es die Opposition inihren Anträgen gerne glauben machen will. Es mussnicht alles in Form eines Gesetzes oder einer Verordnungkommen. Ich will beispielhaft Folgendes nennen: DasBundesministerium für Arbeit und Soziales hat die „Ini-tiative Neue Qualität der Arbeit“ ins Leben gerufen, dieVertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Unter-nehmer, der Sozialversicherung, des Bundes und derLänder an einen Tisch bringt, um die Arbeitsqualität derBeschäftigten zu erhöhen.
Das Qualifizierungsprogramm „work-life-compe-tence“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend richtet sich vor allem an kleine undmittlere Unternehmen. Die Koordinationsplattform „Na-tionale Arbeitsschutzkonferenz“, die an einer gemeinsa-men deutschen Arbeitsschutzstrategie arbeitet, und diegesetzliche Krankenversicherung sind wichtige Stützenfür Unternehmen, um eine umfassende und passgenaue,am neuesten Stand der Wissenschaft orientierte betriebli-che Gesundheitsförderung zu etablieren. Mit der Kam-pagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“ hat dasBundesministerium für Gesundheit eine Vielzahl vonBeispielen guter Praxis der betrieblichen Gesundheits-förderung veröffentlicht und motiviert so Arbeitgeberund Arbeitnehmer dazu, gemeinsam gesundheitsför-dernde Angebote zu entwickeln.Mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits-medizin ist zudem eine kompetente Ressortforschungs-einrichtung im Geschäftsbereich des BMAS geschaffenworden. Um das öffentliche Bewusstsein und die Sensi-bilität für das Thema psychische Gesundheit zu stärken,fördert das BMG zudem das „Aktionsbündnis SeelischeGesundheit“, das mit seinen über 70 Mitgliedsorganisa-tionen bundesweite und regionale Initiativen zur Aufklä-rung und zur Förderung der seelischen Gesundheit amArbeitsplatz durchgeführt hat. Das stärkt eine sachlicheDiskussion und trägt zu einem präventiven gesellschaft-lichen Klima bei, welches insbesondere auch für eine ge-sundheitsförderliche Unternehmenskultur von großerBedeutung ist.Ich könnte hier noch fortfahren mit der Aufzählung.Allein, meine Redezeit reicht nicht aus.Ich glaube, es ist erforderlich, dass wir unsere Öffent-lichkeitsarbeit ausweiten auch mit dem Ziel, das Be-wusstsein bei den Unternehmen und Unternehmernselbst zu schärfen. Gerade in kleinen und mittleren Un-ternehmen ohne große Strukturen ist die Aufmerksam-keit und Sensibilität der Chefs in diesem Bereich wich-tigste Voraussetzung. Gerade für kleine und mittlereUnternehmen in Deutschland brauchen wir Angebote,die einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen undgeringen Umsetzungsaufwand erfordern, und keine Stra-tegie, die den Unternehmen aufgrund bürokratischerVorschriften primär mehr Arbeit macht, aber keinemeinzigen Arbeitnehmer nützt.
Herr Kollege!
Hier vorne blinkt es schon ganz heftig. Ich bitte um
Nachsicht, dass ich so abrupt abbrechen muss, und be-
danke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Kollegin Beate Müller-Gemmeke hat jetzt das Wortfür Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrPräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Esist gut, dass nun auch die SPD einen Antrag zu psychi-schen Gefährdungen am Arbeitsplatz vorgelegt hat. DreiAnträge für die anstehende Anhörung – das ist ein sehrklares Signal von der Opposition an die Bundesregie-rung. Wir hoffen, dass dieses Signal auch ankommt.Denn noch hat die Bundesregierung ja Zeit, aktiv zuwerden.
Stress gehört zum Arbeitsalltag; das hat der Stress-report 2012 nochmals bestätigt. Bei 43 Prozent der Be-fragten hat der Arbeitsstress in den letzten zwei Jahren
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28891
Beate Müller-Gemmeke
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zugenommen; 52 Prozent arbeiten unter starkem Ter-min- und Leistungsdruck. Ein Viertel der Beschäftigtenlässt die Pausen ausfallen, weil sie nicht in den Arbeits-ablauf passen oder sonst das Arbeitspensum nicht zuschaffen ist. Es wundert also nicht, dass die Fehltageaufgrund psychischer Belastungen in den letzten 15 Jah-ren laut DAK-Gesundheit um 165 Prozent angestiegensind. Stress am Arbeitsplatz macht krank. Diese Tatsa-che brauchen wir hier nicht mehr zu diskutieren. Han-deln ist angesagt.
Und was kommt von der Bundesregierung? Als derStressreport vorgestellt wurde, sagte Frau von der Leyen– ich zitiere –:Stress bei der Arbeit kann vorkommen, aber nichtdauerhaft. Und er darf auch nicht krank machen. …Ich will dem chronischen Stress den Kampf ansa-gen und erwarte, dass die Betriebe mitziehen.Im Gespräch war ja damals eine Anti-Stress-Verord-nung. Doch die Arbeitgeber sind dagegen, und daran istauch eine gemeinsame Erklärung gescheitert. Kaumhatte der Kampf von Frau von der Leyen begonnen, warer auch schon wieder zu Ende. Das war wieder einmaldie folgenlose Ankündigungspolitik der Ministerin.
Aus dem Kampf wird jetzt eine gesetzliche Minirege-lung. Im Arbeitsschutzgesetz soll die Regelung in § 5durch die Worte „psychische Belastungen am Arbeits-platz“ ergänzt werden. Das ist weder eine Kampfansagean die Arbeitgeber, noch hilft es gegen den Stress am Ar-beitsplatz. Damit wird Handeln vorgetäuscht. Das isteine Placebomaßnahme. Und das wird dem Thema undden Beschäftigten nicht gerecht.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, bei diesemThema geht es um die Gesundheit und die Lebensquali-tät der Beschäftigten. Die Menschen leiden darunter,wenn sie der Arbeitsverdichtung nicht mehr gewachsensind. Psychische Erkrankungen isolieren die Menschenund belasten zugleich die ganze Familie. Aber es gehtauch um die Betriebe. Sie müssen den demografischenWandel und den drohenden Fachkräftemangel bewälti-gen. Das geht jedoch nur mit einer tragfähigen Arbeits-kultur.Und wenn wir über Stress reden, dann geht es auchum das Thema Altersarmut, über das die Ministeringerne redet, aber bei dem sie nichts zustande bringt. WerAltersarmut verhindern will, der muss dafür sorgen, dassdie Beschäftigten auch gesund bis zur Rente arbeitenkönnen.
Deshalb fordern auch wir eine Anti-Stress-Verord-nung. Die Arbeitgeber müssen sensibilisiert werden. Siemüssen wissen, wann und wie Stress am Arbeitsplatzentsteht, und vor allem, wie er vermieden werden kann.Eine Anti-Stress-Verordnung wäre ein konkretes Werk-zeug, das wir den Betrieben an die Hand geben wollen.Die Ergänzung im Arbeitsschutzgesetz reicht, wie ge-sagt, einfach nicht aus. Damit verfährt die Ministerinwieder einmal nach dem Grundsatz: Augen zu unddurch. Das wird der Lebensrealität der Menschen nichtgerecht. In einer älter werdenden Gesellschaft müssendie Menschen mit ihren Fähigkeiten, aber auch mit ihrenBelastungsgrenzen im Mittelpunkt stehen. Wir braucheneine alters- und alternsgerechte Arbeitswelt.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Beate Müller-Gemmeke. –
Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU:
Kollege Ulrich Lange. Bitte schön, Kollege Ulrich
Lange.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
– Lieber Kollege Schaaf, es kommen wahrscheinlichnoch zwei, drei richtige Sätze. – Wir sind uns einig überdie grundsätzlichen Erkenntnisse, dass die psychischenErkrankungen in den letzten Jahren stark zugenommenhaben, dass wir insbesondere im Bereich der Erwerbs-minderungsrente, wie der Kollege Kolb schon ausge-führt hat, eine eklatante Zunahme an Fällen von psychi-schen Erkrankungen haben, die dann als Hauptgrund zurVerrentung führen. Insoweit sind wir uns bei der Ana-lyse der nackten Zahlen sicherlich einig.Was die Analyse der Ursachen angeht, so haben wirin gewissen Punkten eine Übereinstimmung. Ja, es istgut, dass das Krankheitsbild enttabuisiert ist. Die be-rühmtesten Fälle haben wir im letzten Jahr insbesondereim Leistungssport gesehen. Ja, es ist gut und richtig, dasssich die Menschen inzwischen trauen und keine Schammehr haben, darüber offen zu reden, sodass wir be-stimmte psychische Belastungen besser als Krankheit er-kennen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Siemich noch eins anfügen: Die Ursachenkette ist sicherdeutlich multikausal. Die Ursachen liegen auch in unse-ren Familien. Eine Ursache ist die Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf. Eine weitere Ursache ist – das möchteich ebenfalls sagen – unser persönliches Lebens- undFreizeitumfeld. Da sollten wir schon auch uns ganz of-fen einmal selber fragen. Darüber hinaus ist eine Ur-sache natürlich die wachsende Belastung am Arbeits-platz selber: der schon mehrfach genannte Termindruck,der Leistungsdruck, die monotonen Tätigkeiten. Wenn
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Ulrich Lange
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ich so in unsere Reihen schaue, dann sehe ich auch: Eineandere Ursache ist das berühmte Multitasking. Jeder vonuns ist dauerhaft und ständig erreichbar. Wir brauchenuns nicht zu wundern, dass wir mit diesem Vorbild nichtimmer positiv wirken.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch hier hatder Kollege Kolb schon einiges angeführt –, wir arbeitenan der Verbesserung der Situation. Lieber KollegeJuratovic, man kann nicht einfach die Schuld für diesesPhänomen jetzt der Bundesregierung und einer angeb-lich nicht handelnden Ministerin zuschieben.
Das kann man wirklich unter der Rubrik „Wahlkampf“abhaken. Auch dieses reflexartige Schreien nach neuenGesetzen und Verordnungen ist nicht das, was michüberzeugt. Was wir vielmehr brauchen, ist ein gutes so-ziales Miteinander in den Betrieben.
Da will ich schon eine Lanze für die Unternehmerin-nen und Unternehmer und für die Betriebsräte brechen.In vielen Betrieben gibt es viele gute Ansätze, und diesollten wir auch honorieren und akzeptieren.
Unsere Bundesregierung hat inzwischen viele Initiativenund zahlreiche Maßnahmen begonnen. Wir sind in derUmsetzung.Ich habe vorhin als eine Ursache das familiäre Um-feld genannt. Der Ausbau von Kindertagesstätten ist inden letzten Jahren massiv vorangekommen. Wir habenzahlreiche schon vorhandene gesetzliche Regelungen,die die Gesundheit am Arbeitsplatz gewährleisten, etwadas Arbeitsschutzgesetz, über das schon gesprochenwurde, aber auch solche Dinge wie die Arbeitsstätten-verordnung oder die Bildschirmarbeitsverordnung. Dasalles sind viele kleine Bausteine, die dazu beitragen, dassdie Arbeitswelt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer im Hinblick auf ihre Gesundheit ein Stück weitbesser geworden ist. Dort, wo das Ganze nicht funktio-niert und gegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird,vertraue ich weiterhin – das habe ich in vielen Redenschon gesagt – auf unsere Arbeitsgerichte und auf dieJustiz.Wir haben die vom Kollegen Kolb angesprochene Ini-tiative „Neue Qualität der Arbeit“. Damit haben wir,glaube ich, gute Zeichen gesetzt. Wir haben die Qualifi-zierungsprogramme. Wir haben die Koordinationsplatt-form „Nationale Arbeitsschutzkonferenz“ – auch siewurde schon angesprochen – und die Kampagne „Unter-nehmen unternehmen Gesundheit“. Es gibt viele guteBeispiele, viele richtige Ansätze, die wir in den letztenJahren auf den Weg gebracht oder verwirklicht haben,zahlreiche Netzwerke, etwa das Deutsche Netzwerk fürBetriebliche Gesundheitsförderung, die Bundesanstalt fürArbeitsschutz und Arbeitsmedizin und den Ausschussfür Arbeitsmedizin. Überall dort wird fachübergreifendam Thema „Arbeitsschutz und Gesundheit am Arbeits-platz“ und damit auch stressvorbeugend gearbeitet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen– da waren wir in der Debatte heute, glaube ich, schonauf dem richtigen Weg –, ist eine sachliche Diskussionin Richtung auf ein gesellschaftliches Klima für einepräventive, gesundheitsförderliche Unternehmenskultur.Sie ist von großer Bedeutung. Daran wollen wir gemein-sam weiter arbeiten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Ulrich Lange.Unser Kollege Ulrich Lange war auch der letzte Red-ner in unserer Aussprache, die ich damit schließe.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12818 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Da niemand widerspricht, haben wir dieÜberweisung in die Ausschüsse gemeinsam so beschlos-sen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Schlichtung im Luftverkehr– Drucksache 17/11210 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/12876 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder Marco BuschmannJens PetermannIngrid Hönlingerb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Rechtsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten UlrikeGottschalck, Heinz Paula, Sören Bartol, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDSchlichtung für Luftfahrtunternehmen ver-kehrsträgerübergreifend einführen– Drucksachen 17/7337, 17/9228 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder Marco BuschmannJens PetermannIngrid Hönlingerc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28893
Vizepräsident Eduard Oswald
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Herbert Behrens, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEFluggastrechte stärken– Drucksachen 17/2021, 17/4125 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder Marco BuschmannHalina WawzyniakIngrid HönlingerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Alle sinddamit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat in unsererAussprache das Wort unsere Kollegin Frau JudithSkudelny für die Fraktion der FDP. Bitte schön, FrauKollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Als wenn wir es gewusst hätten: Anfang der Wochehat es angefangen zu schneien, heute haben die Gewerk-schaften angefangen, eine Fluglinie zu bestreiken – esgibt wieder viele Hundert Verbraucherinnen und Ver-braucher, die teils frustriert, teils genervt, auf jeden Fallnicht amüsiert auf den Flughäfen stehen
und eines Transports, eines sehr verspäteten Transportsharren –, und gerade in dieser Zeit verabschieden wir –in Klammern: endlich – das Gesetz zur Schlichtung imLuftverkehr.
2009 wurde bereits die Fahrgastrichtlinie für Bahn-und sonstige Reisende beschlossen, damals noch mit ei-ner EU-Richtlinie im Rücken. Für die Verbraucherinnenund Verbraucher in Deutschland geht diese Regierung,geht diese Koalition jetzt voran. Es ist auf europäischerEbene gerade erst in der Diskussion, eine entsprechendeRichtlinie zu schaffen, und wir verabschieden schon dasGesetz, das die Rechte der Verbraucherinnen und Ver-braucher extrem stärkt.
Bei Nichtbeförderung, beispielsweise wegen Überbu-chung oder Annullierung, oder bei extremer Verspätungkann jetzt nach 60 Tagen die Schlichtungsstelle angeru-fen werden, nach 60 Tagen deshalb, weil natürlich derdirekte Kontakt zwischen Fluggast und Fluglinie an ers-ter Stelle steht. Wir denken, dass die beiden Vertrags-parteien zuerst einmal versuchen müssen, miteinanderklarzukommen. Kommen sie nicht klar, kann der Ver-braucher kostenlos die Schlichtungsstelle anrufen mitdem Ziel, mithilfe der Schlichtungsstelle eine einver-nehmliche Lösung zu finden.Damit wird der Rechtsweg nicht abgeschnitten. Wirdeine einvernehmliche Lösung nicht gefunden, könnendie Gerichte noch immer angerufen werden. Aber derEinstieg ist einfacher. Wenn früher eine einvernehmlicheLösung auch nach drei, vier Monaten nicht gefundenwerden konnte, musste der Verbraucher am Ende zumGericht gehen und da erst einmal mit Geld in Vorleis-tung treten. Jetzt kann er sich kostenlos einfach an dieSchlichtungsstelle wenden. Das ist natürlich eine mas-sive Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger inDeutschland.
Aus der Erfahrung mit anderen Schlichtungsstellenwissen wir: 90 Prozent der Beschwerden, das heißt einsehr hoher Anteil, können in den Schlichtungsstelleneinvernehmlich reguliert werden. Was erreichen wir mitder Schlichtungsstelle deswegen? Wir entlasten die Ge-richte, wir sparen Bürokratiekosten ein, und wir machenes für die Menschen einfacher, gleichberechtigt, auf Au-genhöhe, mit den Verkehrsträgern einvernehmlich Ver-einbarungen zu treffen. Über alle drei Punkte freuen wiruns natürlich.An dieser Stelle sei ein Dank auch der Ministerin ge-sagt, weil ich glaube, dass es nicht sehr einfach war, mitden Fluggesellschaften – die Verhandlungen haben sichzwei Jahre hingezogen –
diese Vereinbarungen zu treffen.
Vielen Dank für diese Hartnäckigkeit.Zurück zum Ausgangspunkt. Wir können und wollennicht verhindern, dass es schneit, wir wollen auch nichtverhindern, dass die Gewerkschaften streiken, wir wol-len diese Rechte beibehalten. Wir können aber die jet-zige Situation dadurch verbessern, dass, wenn es schneit,wenn gestreikt wird,
wenn Fehler passieren, man einfacher zu seinem Rechtkommt, einfacher mit den anderen eine Vereinbarungtreffen kann. Das ist eine Verbesserung für die Verbrau-cherinnen und Verbraucher, die diese Koalition geschaf-fen hat, schneller, als es die EU wollte. Ich bin stolz darauf,dass wir dieses Gesetz heute gemeinsam verabschiedenkönnen.
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28894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
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Vielen Dank, Frau Kollegin Judith Skudelny. –
Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokra-
ten: unsere Kollegin Frau Marianne Schieder. Bitte
schön, Frau Kollegin Marianne Schieder.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wer kennt es nicht, das wunderschöne Lied vonReinhard Mey?Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlossein.Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,Blieben darunter verborgen und dannWürde, was uns groß und wichtig erscheint,Plötzlich nichtig und klein.Aber so ist es nicht. Für so manchen Fluggast sind Är-ger und Sorgen über den Wolken ganz und gar nicht vor-bei, wenn der Flug zum Beispiel wieder einmal massiveVerspätung hat oder nicht klar ist, ob der Anschlussflugnoch erreicht werden kann, oder die Informationen derAirline wieder einmal ganz unzureichend waren. Dannkann man sich gleich auch Gedanken darüber machen,wie schwer es sein wird und welchen Ärger es bereitenwird, wenn man sich um die Durchsetzung der Entschä-digung bemühen muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2009nach langen und intensiven Verhandlungen die Rechtevon Bahnkunden gestärkt. Wir haben dafür gesorgt, dassKundinnen und Kunden der Bahn auf klar geregelteFahrgastrechte bauen können und nicht mehr als Bittstel-lerinnen und Bittsteller auf das Entgegenkommen derBahn hoffen müssen. Wenn es Probleme gibt, leistet dieSchlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr,kurz söp genannt, eine hervorragende Arbeit.Bereits seit Februar 2005 ist die EU-Fluggastrechte-verordnung in Kraft. Auf dieser Grundlage sollen dieFluggäste ihre Rechtsansprüche gegenüber den Flugge-sellschaften geltend machen können. Eigentlich solltensie es können. Seit Jahren zeigt sich aber, dass das allesganz und gar nicht einfach ist und Verbraucherinnen undVerbraucher, auf sich allein gestellt, oft nicht zum Zielkommen. Es gibt keine echte Möglichkeit der außer-gerichtlichen Streitbeilegung, also keine Schlichtungs-stelle. Gerichte müssen tätig werden, um den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern zu ihrem Recht zuverhelfen. Fast einmal im Monat entscheidet zum Bei-spiel der Europäische Gerichtshof über entsprechendeKlagen. In den meisten Fällen werden die Rechte derFluggäste gestärkt.Die Europäische Kommission hat letzte Woche Vor-schläge zur Änderung der Fluggastrechteverordnungvorgelegt. Diese Vorschläge versuchen, wenigstens ei-nen Teil dieser Urteile umzusetzen. Auf diese Vor-schläge wird Frau Kollegin Gottschalck noch näher ein-gehen.Die meisten Fluggäste aber wollen kein langes undaufwendiges Gerichtsverfahren. Für sie ist es einfachwichtig, dass Ansprüche, zum Beispiel auf Entschädi-gung, unbürokratisch und schnell durchgesetzt werdenkönnen und dann, wenn es zu keiner Einigung kommt,Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfü-gung stehen, die beraten und unterstützen. Dies kann undsoll über die Schlichtung geschehen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, über denwir heute diskutieren, ist nicht im Sinne der Verbrauche-rinnen und Verbraucher,
weil es wiederum zu keiner verkehrsträgerübergreifen-den Schlichtungsstelle kommt. Es wird den Fluggesell-schaften wieder einmal ermöglicht, ein Extrawürstchenzu braten. Das kann aber nicht richtig sein; denn diemeisten Verbraucherinnen und Verbraucher benutzenoft, um an ihr Ziel zu kommen, mehrere Verkehrsmittelund wollen nicht lange herumsuchen, wer nun wo undfür was zuständig ist. Deswegen brauchen wir eineSchlichtungsstelle für alle Verkehrsunternehmen, alsoauch für den Bereich des Luftverkehrs. Natürlich ist klar,dass die Schlichtung ein ordentliches Beschwerde-management bei den Verkehrsunternehmen selber nichtersetzen kann. Aber sie ist eine sinnvolle Ergänzung,dient der Entlastung der Gerichte und ist im Sinne derVerbraucherinnen und Verbraucher.Wir haben in der Anhörung des Rechtsausschussessehr intensiv diskutiert.Die Mehrzahl der Sachverständigen hat uns hinsicht-lich unserer Forderung nach einer verkehrsträgerüber-greifenden Schlichtungsstelle recht gegeben. Ich mussaber auch in aller Deutlichkeit sagen: Die Uneinsichtig-keit der Vertreter der Fluggesellschaften sucht ihresglei-chen.
Die unübersichtliche Aufsplitterung der Zuständig-keiten – nach Verkehrsträgern und auch danach, ob be-hördlich oder privatrechtlich organisiert – ist nicht imSinne der Verbraucherinnen und Verbraucher und des-wegen keine gute Lösung.Dabei wäre das Ganze so einfach. Ich habe bereits diesöp erwähnt, eine Schlichtungsstelle, die verkehrsträger-übergreifend konzipiert ist und an der sich die Luft-verkehrsunternehmen einfach nur beteiligen müssten.Erfreulicherweise hat Ryanair sich inzwischen ent-schlossen, sich der söp anzuschließen. Das ist der rich-tige Weg.
– Ja, das ist aber nur eine Fluggesellschaft.Ich hoffe, dass dieses Beispiel Schule macht und un-sere Vorstellung von einer verkehrsträgerübergreifendenSchlichtungsstelle doch noch umgesetzt wird. Das habenim Übrigen die Verbraucherschutzminister der Länderschon im Jahre 2010 gefordert und beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28895
Marianne Schieder
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Das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP, uns heute vorlegen, ist nicht ver-braucherfreundlich.
Deswegen müssen wir es leider ablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Marianne Schieder. – Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU: Kollege
Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Marco
Wanderwitz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieEinführung ist bereits erfolgt. Gegenwärtig sehen wirwieder, wie es zu Flugausfällen, Annullierungen undVerspätungen kommen kann. Ein weiterer klassischerFall, der sich häufig ereignet, sind Schäden am Gepäck.
2004 kam die EU-Fluggastverordnung. Wir habenmittlerweile bei Bahn, Bus und Flugzeug ein Massenge-schäft aufseiten der Anbieter – sei es die Deutsche Bahn,seien es ihre privaten Wettbewerber, seien es die Flugge-sellschaften: In vielen Bereichen gibt es relativ einfache,ähnlich gelagerte Ansprüche, die man als Massenge-schäft bezeichnen kann. Diese Ansprüche werden vonden Anbietern zumeist auch in einem außergerichtlichenVerfahren relativ einfach abgehandelt.Aber es gibt eben auch eine ganze Reihe von Ansprü-chen, die nicht unter dieses Massengeschäft fallen, beidenen es sich um atypische Fälle handelt oder bei denenes einer gewissen Prüfung bedarf. Damit das nicht allesgleich bei Gericht landet, ist eine Schlichtung auf jedenFall sehr sinnvoll. Bisher gab es sie noch nicht für Flug-gesellschaften.
– Frau Schieder, Sie haben doch schon vier Minuten re-lativ laut geredet. Deshalb fände ich es gut, wenn Siejetzt einmal zuhören würden.
Frau Schieder, Sie sind ja selbst Juristin, und wir ha-ben in diesem Hause schon mehrfach über das Themagesprochen. Ich kann es wirklich nicht verstehen, wieSie immer wieder die falsche Behauptung aufstellenkönnen, dass wir eine gesetzliche Lösung für eine ein-heitliche Schlichtungsstelle schaffen könnten, obwohlSie ganz genau wissen, dass eine Schlichtung Freiwillig-keit voraussetzt.
Das, was Sie den Leuten hier vorgaukeln – die Ein-richtung einer einheitlichen Schlichtungsstelle –, könnenauch Sie nicht liefern, weil unser Zivilrecht es schlichtnicht zulässt: Man kann niemandem den Rechtsweg ab-schneiden.
Deswegen stelle ich mir die Frage, warum Sie hier im-mer wieder diesen Popanz aufbauen.Im Übrigen habe ich die Anhörung als weniger inten-siv erlebt. Es wurden nämlich ziemlich wenige Fragengestellt. Die Anhörung war sehr konsensual. Ich gebeganz offen zu: Ja, auch wir hätten uns diese einheitlicheSchlichtungsstelle gewünscht. Ich freue mich deshalbsehr, dass wir von der söp, der bestehenden Schlich-tungsstelle für den Bahn- und Busbereich, die erfreu-liche Meldung erhalten haben, dass Ryanair sich ihranschließt. Auch der Vertreter des BDL, des Bundesver-bandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft e. V., hatin der Anhörung schon das gesagt, was heute auch wie-der in der Pressemitteilung der söp steht, nämlich dassman sich immer noch in intensiven Verhandlungen be-findet. Insofern würden wir uns wünschen, dass es keinebesondere Schlichtungsstelle der privaten Luftfahrtun-ternehmen geben wird, weil die söp so gut arbeitet.
– Herr Behrens, ich habe es doch gerade erklärt. HabenSie wieder nicht zugehört? Wir können es nicht gesetz-lich vorschreiben, weil wir uns hier im Zivilrecht bewe-gen.
– Ich glaube, die zuständige Bundesministerin wird sichwirklich nicht vorwerfen lassen müssen, sich nicht inten-siv in die Verhandlungen eingeschaltet zu haben. Die söpselbst sagt, dass es nach wie vor gute Verhandlungensind; gerade heute ist in den Verhandlungen mit einemLuftfahrtunternehmen ein Erfolg erzielt worden. Deswe-gen finde ich, dass man gewisse Dinge nicht immer wie-der machen muss.Ich meine, wir sollten unter anderem nicht immerwieder in der Art und Weise, wie es hier getan wird, aufdie Fluggesellschaften eindreschen. Die Vielzahl derFälle wird ordentlich gelöst. Und wir müssen festhalten:Es gibt auch eine ganze Menge von unberechtigt geltendgemachten Ansprüchen.
– Es kann schon sein, dass ich weniger fliege als Sie.
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28896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Marco Wanderwitz
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Wir alle haben aber reichlich mit den Beschwerden derFluggäste zu tun. Wir alle haben auch reichlich mit demzu tun, was uns die Verbraucherschutzverbände dazusagen. Meine Wahrnehmung ist, dass das alles etwas we-niger aufgeregt vorgetragen wird.Ich will auf einige Punkte etwas intensiver eingehen.An dieser Stelle will ich die Eckdaten benennen: Es solleine Bagatellgrenze von 10 Euro geben. Sprich: Ansprü-che, die unterhalb von 10 Euro liegen, sind der Schlich-tung entzogen. Das hat niemand kritisiert. Auch ichfinde es vernünftig, dass man eine solche niedrige Baga-tellgrenze einzieht. Die Obergrenze für die Geltendma-chung von Ansprüchen soll bei 5 000 Euro liegen. Auchdiese Grenze ist aus meiner Sicht sinnvoll, weil sie fastalle Fälle abdeckt, in denen es nicht um Personenschä-den geht. Wir haben eine ausdrückliche Öffnungsklauseleingefügt, die es zulässt, dass es zu einer Öffnung fürSchadensfälle mit Ansprüchen über 5 000 Euro kommt,wenn sich die Schlichtungsstelle in ihrer Verfahrensord-nung darauf verständigt. Bei solchen relativ hohenStreitwerten macht es aber vielleicht doch Sinn, die Ge-richte zu befassen.Wir haben im parlamentarischen Verfahren eine Ver-änderung vorgenommen. Frau Kollegin Schieder hat ge-rade schon den kürzlich vorgelegten Vorschlag für eineNovelle der entsprechenden EU-Richtlinie angespro-chen. Im Regierungsentwurf war eine Frist von 30 Tagenvorgesehen, die wir den Fluggesellschaften geben woll-ten, um Themen im Rahmen des eigenen Beschwerde-managements schon im Vorfeld abzuräumen. Da schlägtdie EU eine Zweimonatsfrist vor. Wir halten eineZweimonatsfrist für vernünftig. Deshalb haben wir siejetzt in unseren Gesetzentwurf eingearbeitet. Denn ichhalte es für ein tragendes Argument – es wurde häufigvorgetragen –, dass bei Flügen, anders als bei Bahn undBus, sehr oft ein Auslandsbezug vorhanden ist, mit demeinhergeht, dass es ein Stück weit länger dauert, weiletwa hier und da die Notwendigkeit besteht, Übersetzun-gen anzufertigen. Manche forderten auch eine Frist von90 Tagen. Ich glaube, wir haben mit der Frist von zweiMonaten eine gute Frist gefunden.
Wir haben uns des Weiteren auf ein Inkrafttreten zum1. November geeinigt. Das ist eine relativ kurze Frist.Sie ist, glaube ich, gut zu begründen: Wir haben langegenug darüber geredet, insofern gibt es genügend Vor-lauf. Gleichwohl geben wir einige Wochen Zeit, in de-nen man sich darauf einstellen kann, wahlweise eine ei-gene Schlichtungsstelle für den Luftverkehr einzurichtenoder sich der söp anzuschließen.Letzter Punkt meinerseits. Ich komme zu dem Ein-wand, all das sei unheimlich kompliziert. Sollte es zurEinrichtung einer eigenen Schlichtungsstelle für denLuftverkehr kommen, dann kann man es, wie schonangekündigt, über eine gemeinsame Onlineplattform ab-wickeln. Anderenfalls kann man das sogenannte Y-Mo-dell heranziehen: ein Eingang, zwei Ausgänge. Sprich:Der Verbraucher findet einen Eingang vor und kanndann sehr einfach schauen, welchen Ausgang er nehmenmuss, je nachdem, ob er Bahn gefahren, Bus gefahrenoder geflogen ist. Ich meine, dass dieses Modell nichtdie optimale Variante wäre. Aber ich halte es nicht fürganz so problematisch, wie es hier dargestellt worden ist,als ob es eine Katastrophe für den Verbraucherschutz sei.Wir haben ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht;das ist die eigentliche Botschaft des Tages. Das Gesetzist auf dem Weg und wird in Kürze kommen. Das ist einguter Tag für den Verbraucherschutz.
Offensichtlich muss die Koalition dieses Gesetz leiderallein, also ohne Sie, auf den Weg bringen.
Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. – Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Herbert Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Der Laden läuft“, schreibt die Schlichtungsstelle fürden öffentlichen Personenverkehr, söp, in ihrem Jahres-bericht 2012. Sie begründet das auch: In den vergange-nen drei Jahren haben sich 10 000 Bürgerinnen und Bür-ger an die söp gewandt, weil sie eine Reise nicht antretenkonnten, weil das Gepäck verschwunden war, weil dieUrlaubsplanung aufgrund massiver Verspätungen zu-sammenbrach. Egal ob jemand mit der Bahn, mit demFernbus oder mit dem Schiff unterwegs war, klar war:Im Falle eines Konfliktes ist eine Stelle zuständig.Im vergangenen Jahr wurden rund 2 700 Schlichtungs-verfahren abgeschlossen; knapp 2 300 Schlichtungsemp-fehlungen aus diesen Verfahren wurden sowohl von denReisenden als auch von den Verkehrsunternehmen akzep-tiert. Der Streit war damit beendet, ein Gerichtsverfahrenwurde überflüssig. Das ist eine beeindruckende Bilanz.Allein das wäre schon ein guter Grund, den Luftver-kehr mit unter das Dach der söp zu nehmen. Aber dieBundesregierung behauptet, das ginge nicht – das wurdeeben bestätigt –; denn eine Schlichtung müsse freiwilligsein, und die Luftfahrtverbände lehnten nun einmal eineEinbindung in die Schlichtungsstelle der söp ab.
Verbraucherschützer sprachen sich zwar für eine ver-kehrsübergreifende Schlichtungsstelle aus; aber für Siewiegen Verbraucherinteressen offenbar nicht so schwer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28897
Herbert Behrens
(C)
(B)
wie Unternehmerinteressen. Das ist bezeichnend fürdiese Bundesregierung.
Nun liegt uns der Gesetzentwurf vor, mit dem eine ei-gene Schlichtungsstelle für den Luftverkehr eingerichtetwerden soll. Jetzt wird es ein wenig kompliziert – ich zi-tiere einmal aus dem Gesetzentwurf –: In § 57 Luftver-kehrsgesetz geht es um die privatrechtlich organisierteSchlichtung, in § 57 a um die behördliche Schlichtung.Sie greift immer dann, wenn ein Luftverkehrsunterneh-men der privatrechtlichen Schlichtung nicht beitritt. Dannhaben wir noch § 57 c. Dort heißt es: Das Bundesminis-terium der Justiz regelt im Einvernehmen mit dem Bun-desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz und dem Bundesministerium fürWirtschaft und Technologie durch Rechtsverordnung dieEinzelheiten des Verfahrens zu Kosten und zur behördli-chen Schlichtung. – Alles klar?Der vorliegende Gesetzentwurf ist extrem kompli-ziert, und er ist sinnfrei. Bis auf die Einrichtung einer be-hördlichen, also staatlichen Schlichtungsstelle weist ernichts auf, wofür es überhaupt eines Gesetzes bedürfte.Selbst wenn sich die Luftfahrtverbände nicht an derSchlichtungsstelle für öffentlichen Personenverkehr be-teiligen wollen, hätten Reisende schon heute die Mög-lichkeit, ein sogenanntes schiedsrichterliches Verfahrenin Anspruch zu nehmen, wenn es überhaupt nicht mehrgelingt, sich persönlich zu einigen.In der Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf istes den Experten zum Thema Verbraucherschutz nicht ge-lungen, Sie, meine Damen und Herren von der Koali-tion, von Ihrem Plan abzubringen. Edgar Isermann, derLeiter der söp, sprach sich gegen die Schaffung zusätzli-cher Schlichtungsstellen aus, weil die Verbraucher dannnicht wissen, an wen sie sich wenden müssen. Außerdemsei die Kostenentwicklung für die Luftfahrtunternehmennicht zu unterschätzen. Der Verbraucherzentrale Bun-desverband sprach sich dafür aus, die bestehende söp alsverkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle zu stär-ken. Diese Anregung wurde nicht aufgenommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierunghat mit Verbraucherschutz nichts zu tun. Im Gegenteil:Er entzieht dem Verbraucher den Schutz gegenüber denmächtigen Luftfahrtunternehmen und deren Rechtsabtei-lungen.
Die Linke zeigt in ihrem Antrag, der hier auch zurAbstimmung steht, verbraucherfreundliche Initiativenauf. Wir fordern unter anderem die Beteiligung der Flug-gesellschaften an einer unabhängigen, verkehrsträger-übergreifenden Schlichtungsstelle. Wir fordern Sie auf,unserem Vorschlag zu folgen. Machen Sie den Flugge-sellschaften klar, dass Verbraucherschutz an erster Stellesteht und erst dann die wirtschaftlichen Interessen dererkommen, die Geld damit verdienen.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Herbert Behrens. – Nächs-
ter Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
unser Kollege Markus Tressel. Bitte schön, Kollege
Markus Tressel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ineinem sind wir uns einig: Außergerichtliche Streitbeile-gung ist sinnvoll. Die entscheidende Frage ist aber, wieman das effektiv und verbraucherfreundlich gestaltet. IhrGesetzentwurf ist da nicht der richtige Weg.Den richtigen Weg haben Sie paradoxerweise in Ih-rem Koalitionsvertrag aufgezeigt. Darin heißt es, es solleeine Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger gesetzlichverankert werden. Genau das wäre im Sinne der Reisen-den. Ich hätte mir gewünscht – das werden Sie aus mei-nem Munde ansonsten selten hören –, dass wir am Endebei dem herausgekommen wären, was Sie in Ihrem Ko-alitionsvertrag vereinbart haben. Da ist ja sogar – das ha-ben wir heute schon gehört – Ryanair weiter als Sie, unddie haben nicht gerade einen verbraucherfreundlichenRuf. Ryanair ist gestern der söp beigetreten und lässtseine Streitfälle dort schlichten.
Das spricht ausdrücklich dafür, dass unser Ansatz mitder söp wohl nicht so falsch sein kann.
Ihr Gesetzentwurf steht im genauen Gegensatz dazu,liebe Kolleginnen und Kollegen. Er ist verbraucherun-freundlich und – ich sage es nochmals – widerspricht Ih-rem eigenen Koalitionsvertrag, in den Sie das damalsvermutlich nicht ohne Grund geschrieben haben.In keinem Rechtsbereich – das ist eine ganz wichtigeFeststellung – ist die Diskrepanz zwischen Anspruchund Wirklichkeit momentan so eklatant wie bei denFluggastrechten. Die EU-Kommission hat am 13. Märzein durchaus kritisches Memorandum zur Überarbeitungder Fluggastrechte veröffentlicht. Darin schreibt dieKommission: Das Hauptproblem besteht darin, dass dieReisenden Schwierigkeiten haben, ihre Rechte geltendzu machen. – Um eine Zahl zu nennen: Nur 2 bis 4 Pro-zent der Fluggäste, die Anspruch auf einen finanziellenAusgleich hatten, haben diesen tatsächlich erhalten.
Deutlicher kann man das nicht sagen. Wir haben ein Pro-blem mit der Rechtsdurchsetzung, und das liegt auch da-ran, dass sich viele Fluggäste nicht trauen, ihre Rechtegegenüber den Airlines geltend zu machen.
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28898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Markus Tressel
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Eine Schlichtungsstelle könnte da Abhilfe leisten, wennsie entsprechend verbraucherfreundlich gestaltet ist,wenn sie niedrigschwellig erreichbar ist und wenn dieFluggäste Vertrauen haben.
All das gewährleisten Sie mit diesem Gesetzentwurfgerade nicht. Mit diesem Gesetzentwurf öffnen Sie dieTür für eine Vielzahl von Schlichtungsstellen.
Es wurde bereits gesagt: Es gibt die behördliche Schlich-tung. Es gibt privatrechtlich organisierte Schlichtung.Für den Fluggast entsteht ein Wirrwarr, das er im Zwei-fel nicht überblicken kann; die Kollegin Schieder hat dasschon gesagt. Das ist ineffizient. Es führt zu einer Zer-splitterung der Zuständigkeiten, und es führt, was auchden Fluggesellschaften nicht gefallen kann, zu höherenKosten.
Das hilft dem Verbraucherschutz nicht weiter.Das Gleiche gilt für Ihre Missbrauchsklausel, die Siein diesen Gesetzentwurf aufgenommen haben. Ein Flug-gast wird es sich zweimal überlegen, sich unter diesenUmständen an die Schlichtungsstelle zu wenden, weil erAngst hat, am Ende vielleicht mit Kosten belastet zuwerden, die er vorher nicht überblicken kann. Hier wirdmit der Androhung eines Missbrauchsentgeltes eineneue Hürde aufgebaut, die Fluggäste potenziell von derSchlichtung fernhält.Zudem schließen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf 40 Pro-zent der Flugreisenden, nämlich die Geschäftsreisenden,weiterhin von der Schlichtung aus. Wie soll man denneinem Freiberufler oder dem kleinen Selbstständigen er-klären, dass er von der Möglichkeit außergerichtlicherEinigung ausgenommen ist? Auch das ist nicht nachvoll-ziehbar. Das macht keinen Sinn.Insgesamt ist festzustellen: Ein Schritt nach vorne,zwei Schritte zurück für den Schutz der Fluggäste – dasist ein verbraucherpolitischer Totalausfall. Deswegenkönnen wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Formnur ablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Erik
Schweickert. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Schweickert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Fluggäste, lieber MarkusTressel, haben viele Rechte.
Es mangelt nicht an einschlägigen EU-Verordnungen,die dem Kunden bei Annullierungen, Verspätungen,Überbuchungen und verpassten Anschlussflügen einenumfassenden Schutz geben. Auch die Rechtsprechungdes EuGH hat erst Ende Februar die Rechte gestärkt:Beim Anspruch auf Ausgleichszahlung ist nicht die Ver-spätung auf einer Teilstrecke, sondern die Gesamtver-spätung am Zielort maßgeblich. Aber es mangelt bisheran einer kundenfreundlichen Möglichkeit zur Rechts-durchsetzung.Allein im Jahr 2010 gingen 4 788 Beschwerden beimLuftfahrt-Bundesamt ein. Aber das Luftfahrt-Bundesamtkann keine Vorschläge zur Regulierung zivilrechtlicherAnsprüche vorlegen.So gibt es viele Verbraucher, die zwar der Ansichtsind, von ihrer Fluggesellschaft nicht ausreichend ent-schädigt worden zu sein; aber nicht jeder Fluggast ver-fügt über eine Rechtsschutzversicherung. Gerade bei ge-ringen Flugpreisen wird oftmals darauf verzichtet, seineRechte auf dem Klageweg durchzusetzen, weil der Auf-wand im Vergleich zum Streitwert zu gering erscheint.
Deshalb ist es der Anspruch dieser schwarz-gelben Bun-desregierung, den Kunden zu ihrem Recht zu verhelfen,und zwar einfacher als bisher,
und deshalb beschließen wir heute die Einrichtung einerSchlichtungsstelle Luftverkehr. Diese wird den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit eröffnen,einen Streitfall außergerichtlich klären zu lassen. Wennsich die Fluggesellschaft nicht innerhalb von zwei Mo-naten mit dem Fluggast auf eine Entschädigungsleistungverständigen kann, kann der Fluggast das Schlichtungs-verfahren beantragen. Damit hat er deutlich mehrRechtssicherheit als bisher.
Gerade die unklaren Streitfälle werden für den Kun-den nun besser zu klären sein, zum Beispiel Streitigkei-ten darüber, ob es sich bei einer konkreten Verspätungum höhere Gewalt handelt oder nicht. Diese entschei-dende Frage kann man als Fluggast in der Regel nichtbeurteilen; ich weiß nicht, wie es dem Kollegen Tresselgeht. Wenn ein Flugzeug nicht fliegt, wissen wir nicht,ob der Schaden gerade eben entdeckt worden ist – dann
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28899
Dr. Erik Schweickert
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wäre das höhere Gewalt – oder ob er schon beim Routi-necheck aufgefallen ist – dann muss die Fluggesellschaftzahlen. Wenn ein Kunde an der Version der Flugliniezweifelt, kann er das nun von der Schlichtungsstelle klä-ren lassen.Ich bin sehr froh, dass wir nicht nur die deutschenAirlines, was mancher hier im Haus angedacht hat, son-dern auch die im Board of Airline Representatives inGermany, BARIG, organisierten ausländischen Flugge-sellschaften dabei haben. Wenn Ryanair jetzt Mitgliedbei söp wird, dann ist auch das eine gute Lösung desProblems. Auch damit kommen wir voran. Es ist unserAnspruch, eine freiwillige Schlichtung aufzubauen. Wernicht freiwillig mitmacht, der wird sich bei uns keinenschlanken Fuß machen können; denn diese Fluglinienwerden dann einer behördlichen Zwangsschlichtung un-terstellt.
Sie sehen, Schwarz-Gelb lässt keinen Verbraucher imRegen, heute muss man vielleicht besser sagen: imSchnee stehen. Wenn dann doch einmal ein Verbraucheram Flughafen zurückgelassen wird oder sein Reisezielmit Verspätung erreicht, dann kann der Flugpassagierseine Rechte nun einfacher durchsetzen.
Das ist effizienter Verbraucherschutz der MarkeSchwarz-Gelb.
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schweickert. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
sere Kollegin Ulrike Gottschalck. Bitte schön, Frau Kol-
legin Gottschalck.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Auch wenn wir im Moment eher noch Frostbeulen
bekommen, steht Ostern vor der Tür. Viele Bürgerinnen
und Bürger, aber sicherlich auch viele Kolleginnen und
Kollegen werden die freien Tage nutzen, um in wärmere
Länder zu fliegen, Sonne zu tanken und ein mildes
Klima zu genießen.
Ich wünsche Ihnen allen, dass Ihre Reise reibungslos
verläuft und Sie sich nicht über Ausfälle, Verspätungen
oder verlorene Koffer ärgern müssen.
Seit Februar 2005 gibt es eine EU-Fluggastrechte-
Verordnung, die Standards für Unterstützungs- und Aus-
gleichsleistungen für Fluggäste festlegt. Aktuell hat die
EU-Kommission festgestellt, dass es für Reisende leider
nicht immer einfach ist, diese festgelegten Rechte gel-
tend zu machen. Kollegin Schieder hat ja recht: Es ist et-
was anderes, recht zu haben, als recht zu bekommen.
Nach einer dänischen Erhebung – Kollege Tressel hat
das schon angesprochen – erhalten nur zwischen 2 und
4 Prozent der betroffenen Fluggäste den finanziellen
Ausgleich, auf den sie einen Anspruch haben. Nach ei-
ner aktuellen Erhebung in Deutschland – es wird noch
schlimmer – erhielten mehr als 20 Prozent der Fluggäste,
die eine Beschwerde eingereicht haben, überhaupt
keine Antwort ihrer Fluggesellschaft. Deshalb plant die
EU-Kommission, wirksame Beschwerdeverfahren für
Flugreisende und strengere Durchsetzungs- und Sank-
tionsmaßnahmen einzuführen. Die EU-Kommission will
eine weitere Stärkung der Fluggastrechte, eine Stärkung
der nationalen Durchsetzungsstellen und die Stärkung
einer außergerichtlichen Schlichtungsstelle.
Ich konstatiere also: Die EU will eine weitere Stär-
kung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Gut so! Leider genießt der Verbraucherschutz bei der
Bundesregierung offensichtlich nicht diesen hohen Stel-
lenwert.
Dies konnten wir bei Lebensmittelskandalen feststellen,
aber auch bei diesem Gesetzentwurf.
Intermodalität wird heute von jeder und jedem prakti-
ziert. Ergebnisse verschiedener Untersuchungen und
Umfragen zeigen, dass zwei Drittel der Reisenden einen
Mix aus verschiedenen Verkehrsmitteln nutzen. Mit
77 Prozent weist Deutschland von allen europäischen
Ländern die höchste Multimodalität auf. Die Politik
muss die Rahmenbedingungen dafür setzen. Ich kann
nur sagen: Mit Blick auf die Intermodalität wäre eine
verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle, an die
sich Reisende bei Problemen wenden können, zukunfts-
weisend und hilfreich gewesen.Egal ob Bahn, Flugzeug,
Schiff oder Bus – ein Ansprechpartner, das wäre ver-
braucherfreundlich.
Der hier vorgelegte Gesetzentwurf sieht leider das Gegen-
teil vor. Statt einer verkehrsträgerübergreifenden ver-
pflichtenden Schlichtungsstelle werden Parallelstrukturen
aufgebaut. Behördliche und privatrechtliche Schlich-
tungsstellen werden zu einer unübersichtlichen Aufsplit-
terung führen. Das, meine sehr verehrten Damen und
Herren, ist weder verbraucherfreundlich noch effektiv.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenMarco Wanderwitz?
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Ich erlaube gerne eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Kollege Marco Wanderwitz.
Das ist nett, Frau Kollegin. Ich hätte diese Zwischen-
frage fast schon dem Kollegen der Grünen gestellt; aber
da war seine Redezeit zu Ende. – Sie beide haben die be-
hördliche Schlichtungsstelle als Teil von Wirrwarr und
schlechten Regelungen kritisiert.
Was für eine Auffangregelung hätten Sie denn für dieje-
nigen, die Sie, wie ich vorhin ausgeführt habe, nicht in
eine gesetzliche Pflichtschlichtung zwingen können? Es
gibt doch nur die behördliche Schlichtung als Alterna-
tive. Oder haben Sie eine andere?
Lieber Kollege, es ist sehr schön, dass Sie diese Zwi-
schenfrage gestellt haben; denn das gibt mir die Mög-
lichkeit, meine Redezeit ein wenig zu verlängern.
Wir brauchen eine einzige Schlichtungsstelle;
das ist verbraucherfreundlich. Mich haben Ihre eben ge-
machten Ausführungen nicht überzeugt.
– Genau. – Ich bin noch nicht fertig, ob Ihnen das nun
gefällt oder nicht.
Sie bauen mit diesem Gesetzentwurf Parallelstruktu-
ren auf: die behördliche und gegebenenfalls sogar meh-
rere privatrechtliche Schlichtungsstellen. Stellen Sie sich
das einmal vor: Sie sind ein ganz normaler Fluggast, der
sich tierisch geärgert hat. Vielleicht sind Sie vorher noch
mit der Bahn gefahren. Die Bahn war schuld, dass Sie
den Flieger nicht bekommen haben etc.
Dann wandern Sie von Schlichtungsstelle zu Schlich-
tungsstelle. – Eine Schlichtungsstelle ist der beste An-
sprechpartner.
Dann weiß jede Verbraucherin und jeder Verbraucher,
wohin er sich wenden soll.
Frau Kollegin, es gibt einen weiteren Wunsch nach
einer Zwischenfrage, und zwar von unserer Kollegin
Judith Skudelny. Erlauben Sie die?
Aber bitte, gern. Die nachfolgenden Redner werden
es uns nachsehen.
Bitte schön.
Ich verlängere Ihre Redezeit noch einmal. – Mir ist
nicht ganz klar: 2009 wurde die söp in ihrer jetzigen
Form unter der damaligen Justizministerin eingerichtet.
Können Sie mir sagen, wer damals im Justizministerium
verantwortlich war?
Sie haben damals die Fluggastrechte nicht dafür zuge-
lassen. Das haben wir jetzt nachgeholt. Warum wurde
nicht schon damals die Regelung eingeführt, zu der Sie
heute reklamieren, dass wir sie nicht bringen?
Darauf antworte ich sehr gerne, Frau Kollegin. Wir
hatten nämlich zu dieser Zeit eine sehr hervorragende
Ministerin.
Brigitte Zypries war es, die die söp auf den Weg ge-
bracht hat. Diese verkehrsträgerübergreifende Schlich-
tungsstelle hat zum Beispiel bei der Bahn hervorragende
Arbeit geleistet. 90 Prozent der Fälle werden von der söp
positiv geschlichtet. Das müssen Sie erst einmal nach-
machen.
Liebe Frau Kollegin, einen Gesetzentwurf kann man
immer nacharbeiten. Wir sind mit einer verkehrsträger-
übergreifenden Schlichtungsstelle gestartet. Die Flugge-
sellschaften haben sich quergestellt; aber man kann na-
türlich nacharbeiten. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen.
Sie haben dreieinhalb Jahre Zeit gehabt. Noch dazu ha-
ben Sie das im Koalitionsvertrag stehen. Ich kann nur sa-
gen: ein volles Versagen Ihrerseits.
Die Redezeit läuft wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich, wa-rum Sie die verkehrsträgerübergreifende Schlichtungs-stelle unter dem Dach der söp so scheuen. Die söp leistet
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Ulrike Gottschalck
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gute Arbeit. Fluggesellschaften wie Ryanair ziehenschon nach. Die sind also weiter als diese Bundesregie-rung.Ich frage mich auch, meine sehr geehrten Damen undHerren, warum Sie den missbräuchlich erhobenen Be-schwerden in Ihrem Gesetzentwurf so viel Raum einräu-men. Es steht fest: Bei der söp kommt es nur in 1 Pro-zent der Beschwerden zu Missbrauch. – Ich finde, daszeugt von einem unglaublich großen Misstrauen gegen-über allen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Sie wol-len damit von Beschwerden abschrecken. Auch das istnicht besonders verbraucherfreundlich.Wir stehen nach wie vor für eine einheitliche Schlich-tungsstelle, für eine Schlichtungsstelle, die Ansprech-partner für alle ist.
Auch die Verbraucherminister haben das schon 2010überparteilich gefordert.
Diese Forderung ist nach wie vor richtig. Deswegenwerden wir Ihrem angestaubten und unmodernen Ge-setzentwurf nicht zustimmen.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
sere Kollegin Frau Marlene Mortler. Bitte schön, Frau
Kollegin Marlene Mortler.
Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Gestern hat uns der Früh-lingsanfang Schnee beschert. Wir bescheren Ihnen heuteeinen guten Gesetzentwurf.
Das heißt, wir lassen heute hier im Plenum die Sonnescheinen.
An diesem Gesetzentwurf waren viele beteiligt, undviele haben sich konstruktiv eingebracht. Ich richte einherzliches Dankeschön an die Regierung,
an das Bundesjustizministerium,
natürlich auch an das BMVBS, das Verkehrsministe-rium,
und, auch wenn es nur indirekt beteiligt war, an das Ver-braucherschutzministerium, das BMELV.
Warum soll man sich nicht einmal über den Abschlusseines Gesetzgebungsverfahrens freuen, bei dem es vieleGewinner gibt? Zu nennen ist hier an erster Stelle derVerbraucher, der Fluggast.
Auch für die Fluggesellschaften bedeutet dieses Gesetzeine Stärkung.
Ich gebe zu: Einige haben es noch nicht begriffen; abersie werden es noch begreifen.
Ich als Tourismuspolitikerin weiß: Auch der Tourismusprofitiert. Auch deshalb habe ich für den Abschluss die-ses Gesetzgebungsverfahrens gekämpft.Ich betone noch einmal: „Außergerichtliche Streit-schlichtung“ heißt das Zauberwort. Entscheidend warund ist für mich, dass die freiwillige Schlichtung kommt.Sie war und ist überfällig. Für mich war am Ende nichtentscheidend, ob sie verkehrsträgerübergreifend umge-setzt wird oder nicht; das ist zweitrangig.
Wenn Sie ehrlich sind, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, müssen Sie zugeben: Insgeheimfreuen doch auch Sie sich darüber, dass der Verbraucher-schutz mit diesem Gesetz unterm Strich gestärkt wird.
Es ist richtig: Die Schlichtungsstelle für den öffentli-chen Personenverkehr ist im Jahr 2009 von der GroßenKoalition ins Leben gerufen worden. Wir können heutefeststellen: Die söp ist anerkannt. Die Zahl der Verkehrs-unternehmen, die unter das Dach der söp gehen, steigt.
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28902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Marlene Mortler
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Es hat mit der Bahn angefangen, dann kamen Busse undder Bereich der Schiffsreisen hinzu. Inzwischen gibt esmutige Vereinbarungen, in denen es heißt: Auch wirwollen unter das Dach der söp. – Gerade das Beispielvon Ryanair, einer Fluggesellschaft, die in keinem Bran-chenverband organisiert ist, zeigt doch, dass auch diesesUnternehmen erkannt hat: Unter dem Dach der söp sindwir besser aufgehoben als anderswo.
Meine Damen und Herren, auch in der Satzung dersöp steht, dass die Schlichtung bzw. die Vereinbarungfreiwillig ist und nur freiwillig sein kann.
Ich appelliere an dieser Stelle noch einmal an die Bran-chen und die organisierten Unternehmen, dem BeispielRyanair zu folgen. Kollege Wanderwitz hat den BDL,den Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirt-schaft, und BARIG genannt; diesem Verband gehöreninternationale Fluggesellschaften an. Auch diese habenjetzt die Chance, sich anzuschließen. Es gibt ja positiveAussagen, die sich in diese Richtung bewegen. Ichdenke, spätestens wenn der Gesetzentwurf in Kraft tritt– zum 1. November 2013 –, wird es hier eine entspre-chende Einigung geben.
Meine Damen und Herren, dass Streitigkeiten bis zueinem Streitwert von 5 000 Euro kostenlos geschlichtetwerden sollen, ist erwähnt worden. Der Verbraucher sollmit dieser freiwilligen Schlichtung gerade nicht belastetwerden. Zudem ist und bleibt der Rechtsweg für Zivilge-richte – das möchte ich noch einmal betonen – offen.
– Ja; aber man muss es immer wieder betonen, weil Sieals Opposition hier teilweise das Gegenteil behauptet ha-ben.
Ich wiederhole: Der Rechtsweg für Zivilgerichte bleibtoffen.
Für Airlines, die sich nicht der freiwilligen Schlichtungunterwerfen, wird es eine behördliche Schlichtung ge-ben. Auch die behördliche Schlichtung ist für mich einzusätzlicher Rechtsschutz für den Verbraucher.
Ein Letztes: Die Kritik an der Evaluierung bzw. an-geblichen Missbrauchsklauseln kann ich so nicht stehenlassen. Im Gesetz steht klipp und klar: Es geht um unbe-gründete Fälle und nicht um unzulässige Fälle. Deshalbist Ihre Kritik, glaube ich, gegenstandslos.
Ich bitte am Schluss – ich werbe dafür –, dass Sie demGesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen. Dannkann es im Sinne eines stärkeren Verbraucherschutzes,im Sinne der Fluggastrechte in Kraft treten.Ich bedanke mich ganz herzlich.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Unsere KolleginMarlene Mortler war die letzte Rednerin in unserer Aus-sprache, die ich damit schließe.Wir kommen nun zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Schlichtung im Luftverkehr. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/12876, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/11210 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Das sind die drei Oppositionsfraktio-nen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? – Keine. Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dassind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Dassind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? –Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu demAntrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Schlichtungfür Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifendeinführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/9228, den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7337 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dassind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sinddie drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthal-tungen? – Niemand. Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.Ich komme nun zur Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Fluggastrechte stärken“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4125, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/2021 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Linksfraktionund Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Frak-tion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung istangenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28903
Vizepräsident Eduard Oswald
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zueinem neuen Tagesordnungspunkt. – Ich rufe den Tages-ordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRentenzahlungen für Beschäftigungen in ei-nem Getto rückwirkend ab 1997 ermögli-chen– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKERenten für Leistungsberechtigte des Getto-rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg-lich auszahlen– Drucksachen 17/10094, 17/7985, 17/12870 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sindalle damit einverstanden. Dann haben wir dies gemein-sam so beschlossen.Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster hat dasWort unser Kollege Peter Weiß für die Fraktion derCDU/CSU. – Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zu den besonders perfiden und menschenverachtendenMethoden des Naziregimes gehörte es, jüdische Mitbür-gerinnen und Mitbürger dadurch aus der Gesellschaftauszusondern und in besonders abscheulicher Form auchzu knechten, dass man diese jüdischen Mitbürgerinnenund Mitbürger gezwungen hat, in sogenannten Gettos zuleben, wo sie zum Teil unter menschenunwürdigen Be-dingungen zusammengepfercht wurden.Deshalb war es ein wichtiger Beitrag des DeutschenBundestages, diesen mittlerweile hochbetagten Überle-benden der Gettos ein Stück Gerechtigkeit zuteilwerdenzu lassen, indem im Jahr 2002 das Gesetz zur Zahlbar-machung von Renten aus Beschäftigungen in einemGetto verabschiedet wurde. Allerdings haben wir in denersten Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die Er-fahrung machen müssen, dass das, was der DeutscheBundestag eigentlich gewollt hat, in der Verwaltungspra-xis nur ungenügend umgesetzt wurde.Deswegen waren wir, glaube ich, alle froh, dass dieRentensenate des Bundessozialgerichts mit den grundle-genden Urteilen vom 2. und 3. Juni 2009 dafür gesorgthaben, dass durch einfachere Leitlinien zur Auslegungdes Gesetzes endlich viele auch zunächst abgelehnte An-träge auf eine Gettorente bewilligt wurden. Wir könnenheute feststellen, dass diejenigen, die einen Anspruchauf eine Gettorente haben, eine solche Gettorente durchdie Deutsche Rentenversicherung erfreulicherweise auchgenehmigt und ausbezahlt erhalten.Ich sage das deswegen noch einmal so klar und deut-lich, weil ich bei allem politischen Streit, den wir hier inDeutschland untereinander haben, nicht verstehe, dasssich einige öffentlich so äußern, als würden GettorentenBetroffenen versagt. Nein, seit dem Jahr 2009 und derUmsetzung dieser Urteile des Bundessozialgerichts ist esso: Wer Anspruch auf eine Gettorente hat, der erhältauch eine Gettorente. Ich glaube, das ist ein wichtigerPunkt, den wir festhalten sollten und der es uns Gott seiDank möglich gemacht hat, diesen heute noch Überle-benden durch das Gettorentengesetz ein Stück Gerech-tigkeit zuteilwerden zu lassen.
Nun gibt es eine Problematik, die heute im Mittel-punkt der Debatte steht: Wer eine Gettorente gleich ge-nehmigt bekommen hat, der hat sie, wie es im Gesetzsteht, ab 1997 rückwirkend ausbezahlt erhalten. Wer nunerst wesentlich später einen erfolgreichen Antrag aufeine Gettorente gestellt hat, der erfährt, dass ihm diesenach der allgemeinen Vorschrift des deutschen Sozial-rechts, die für alle, die eine Rente oder eine sonstige So-zialleistung beantragen, gilt, nur vier Jahre rückwirkendund in der Zukunft natürlich jeden Monat ausbezahltwird. Allerdings – und das ist das Wichtige –: Diejeni-gen, die erst später die Genehmigung einer Gettorenteausgesprochen bekommen haben und diese vier Jahrerückwirkend erhalten, erhalten monatlich einen höherenZahlbetrag als der gleichaltrige Mitbürger, der sie bereitsab 1997 ausbezahlt erhält.Warum ist das so? Weil es im Rentenrecht so geregeltist, dass für jeden Monat nach Vollendung des 65. Le-bensjahrs eine Aufwertung, ein Zuschlag gewährt wird.In der Regel sind das rund 45 Prozent an monatlicherRentenauszahlung im Vergleich zu einer Rentenauszah-lung, die rückwirkend ab dem Jahr 1997 gewährt wird.Je nach Geburtsalter kann das auch deutlich mehr als einPlus von 45 Prozent sein.
Wir sind davon ausgegangen, dass mit dieser speziel-len Regelung im deutschen Rentenrecht dieser Unter-schied – der eine erhält die Gettorente rückwirkend ab1997, der andere, der sie zum Beispiel erst im Jahr 2012beantragt und dann genehmigt bekommen hat, erhält sierückwirkend erst ab dem Jahr 2008 ausgezahlt – einiger-maßen ausgeglichen wird.
Nun wird seitens der Oppositionsfraktionen bean-tragt, wir sollten dies ändern und für jeden Antragstellereine rückwirkende Auszahlung der Gettorente ab demJahr 1997 ermöglichen.
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28904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Peter Weiß
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Was hätte das für Konsequenzen? Wer diese höhereRente monatlich ausgezahlt bekommt, müsste zunächstdas, was ihm zusätzlich ausgezahlt wurde, an die Ren-tenversicherung zurückgeben, um sich anschließendseine Rente neu berechnen zu lassen und nachträglich ei-nen niedrigeren Betrag ausgezahlt zu erhalten.Allein der Hinweis auf diesen komplizierten Mecha-nismus zeigt, dass das für die hochbetagten jüdischenMitbürgerinnen und Mitbürger ein äußerst schwerwie-gender Prozess wäre, bei dem kaum durchschaubar ist,was das für finanzielle Konsequenzen hat.
Nun gebe ich gerne zu, dass trotz des höheren Zahlbe-trags, wenn die Gettorente erst später genehmigt wurde,bei vielen das subjektive Gefühl vorhanden ist, das seiein Stück Ungerechtigkeit. Der eine bekommt dieseRente ab 1997, ein anderer eventuell erst rückwirkend abdem Jahr 2008. Deswegen hätte ich mir sehr gewünscht,wir könnten dieses subjektive Gefühl der Ungerechtig-keit in irgendeiner Weise beseitigen.
Aber das, was die Oppositionsfraktionen vorschlagen,führt nicht dazu, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Des-wegen müssen wir Ihre Anträge leider ablehnen.Ich will aber sagen, dass wir gerne mit allen Betroffe-nen und Beteiligten, auch mit Repräsentanten des Staa-tes Israel und dem Zentralrat der Juden weiter im Ge-spräch sind, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass trotzdieser Regelung das offenkundig bei etlichen Betroffe-nen vorhandene Gefühl einer subjektiven Ungerechtig-keit beseitigt wird.Was unser Ziel war und ist, steht für uns unzweifel-haft fest: Wir wollten und wir wollen weiterhin mit derGewährung einer Gettorente für diejenigen, die so sehrunter der Nazidiktatur zu leiden hatten, ein Stück Ge-rechtigkeit schaffen. Das ist unser Ziel.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indiesen Tagen erinnert die SPD-Bundestagsfraktion unddie SPD in Gänze an Otto Wels. Otto Wels hat vor80 Jahren, am 23. März 1933, für die damalige SPD-Reichstagsfraktion begründet, warum die SPD-Reichs-tagsfraktion den Ermächtigungsgesetzen nicht zustimmt.Eine mutige Tat von Otto Wels und der SPD-Fraktion!Die SPD-Fraktion war die einzige Fraktion, die gegendie Ermächtigungsgesetze gestimmt hat.
Die Kommunisten, wenn Sie mir erlauben, hatten schonkeine Chance mehr, an der Debatte und an der Abstim-mung teilzunehmen.Die Rede von Otto Wels und der Widerstand von vie-len nicht bekannten, aber auch von vielen bekanntenMenschen im Dritten Reich haben uns nach dieser Dik-tatur die Riesenchance eröffnet, in die Völkergemein-schaft zurückzufinden. Ich bin mir absolut sicher, dassdiese Rede und der Widerstand im Dritten Reich uns dieChance eröffnet haben, als Nation schnell wieder in derVölkergemeinschaft anzukommen.Der berühmteste Satz von Otto Wels, den sicherlichviele kennen, lautet: „Freiheit und Leben kann man unsnehmen, die Ehre nicht.“ Die Konsequenz daraus in derNachkriegspolitik war, dass alle Generationen von Poli-tikerinnen und Politikern Verantwortung übernommenhaben, zum Beispiel Verantwortung für Wiedergutma-chung, mit dem Ziel, das Leid, das wir als Nation überdie Menschen gebracht haben, ein Stück weit zu lindern.Diese Verantwortung haben Nachkriegsgenerationenvon Politikerinnen und Politikern des Deutschen Bun-destages immer übernommen. Bei der Gettorente hättenwir nun die Chance, eine offensichtliche Ungerechtigkeitim Sinne dieser Verantwortung abzumildern. Peter Weißhat sehr technisch argumentiert. Technisch gesehen hater recht. Aber bei der Verantwortung, die ich gerade ver-sucht habe zu beschreiben, geht es nicht um technischeGründe, sondern um einen moralischen Anspruch bei-spielsweise der Menschen in Israel.
Niemand von uns hat behauptet, Peter Weiß, dass dieMenschen keine Gettorente bekommen. Aber wir habengesagt: Menschen aus ein und derselben Fallgruppe wer-den unterschiedlich behandelt, und das ist ungerecht.
Wir haben 2002 als Deutscher Bundestag geschlossengesagt: Wir wollen, dass die Menschen, die in einemGetto gearbeitet haben, rückwirkend ab 1997 eine Rentebekommen. – Das war der Wille des Gesetzgebers. Nunhaben wir, die wir als Gesetzgeber Verantwortung für dieAusgestaltung und Formulierung von Gesetzen haben,ein Gesetz gemacht, das dazu geführt hat, dass damalsdie Ablehnungsquote bei denjenigen, die Anträge ge-stellt haben, bei 90 Prozent lag. 90 Prozent wurden abge-lehnt! Die Betroffenen mussten sich einklagen. 2009 hatdas Bundessozialgericht diesen Menschen recht gege-ben. Unser Sozialrecht sieht in der Tat nur eine Rückwir-kung von vier Jahren vor. Die Betroffenen bekamen alsonicht das, was der Gesetzgeber gewollt hat, nämlich eineRente rückwirkend ab 1997, sondern erst ab 2005.Man hat versucht, das durch die Einführung einesSteigerungssatzes ein Stück weit zu reparieren. Dazu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28905
Anton Schaaf
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sage ich Folgendes: Derjenige, der seit 2005 eine Rentevon 145 Euro aufgrund des Steigerungssatzes erhält, dermuss – es handelt sich hier um Hochbetagte; Peter Weißhat bereits darauf hingewiesen – mindestens bis 2022diese Rente bekommen, damit er insgesamt den gleichenBetrag erhält wie derjenige, der seit 1997 eine Rente von100 Euro bekommt. Wenn der Betreffende vor 2022stirbt, dann hat er nicht dieselbe Leistung erhalten. Er hatdann nicht das bekommen, was wir als Gesetzgeber ge-wollt haben, nämlich eine Rente ab 1997. Der Betref-fende hat dann entsprechend weniger Rente bezogen.Das ist der Sachverhalt.Übrigens hat das Bundessozialgericht die Verantwor-tung dafür in seiner Begründung sehr deutlich formu-liert. Es ist erstaunlich, dass das Bundessozialgericht dieVerantwortung des Gesetzgebers so deutlich formuliert.Zu dem Sachverhalt der Rückwirkung um vier Jahresagte das Bundessozialgericht:Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbar-keit des § 44 Abs. 4 SGB X im hier maßgeblichenZusammenhang ist daher allein Sache des Gesetz-gebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt,auch wenn der Senat– das ist entscheidend –dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.Also auch das Bundessozialgericht war der Meinung,wir müssten die Zahlbarmachung ab 1997 gesetzlich re-geln, wir müssten die Zahlung machbar machen.Meine Damen und Herren, ich habe auf die Traditionhingewiesen, auf das, was Verantwortung in der Nach-kriegsgeschichte für alle Generationen von Politikerin-nen und Politikern bedeutete, und auf die Chance, dieuns Otto Wels und die Widerstandskämpfer im DrittenReich gegeben haben. Um ganz ehrlich zu sein – ichhabe es im Ausschuss schon gesagt –: Ich bin beschämt,dass wir diese Chance als jetzige verantwortliche Politi-kergeneration nicht wahrnehmen und die Ungerechtig-keit und Ungleichbehandlung an dieser Stelle nicht be-seitigen.
Vielen Dank, Kollege Anton Schaaf. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Anton Schaaf, Respekt für eine große Rede. Ichbin gestern als Vertreter meiner Fraktion bei der Feier-stunde im Otto-Wels-Saal anwesend gewesen. Das hatmich sehr beeindruckt, muss ich sagen. Der Mut der93 Reichstagsabgeordneten der SPD steht wirklich bei-spielhaft für alle Parlamentarier in Deutschland. Das willich hier eingangs sehr deutlich sagen.
Die ganze Stimmung war so, dass einem sehr nach-drücklich auch die Repression in der damaligen Zeit vorAugen geführt wurde. Deswegen, aber nicht nur deswe-gen, sind die Beratungen über die Oppositionsanträge,mit denen eine Neuregelung des Gettorentengesetzes ge-fordert wird, eines der schwierigsten Themen, die wir indieser Legislaturperiode in unserem Arbeitsbereich zubehandeln haben. Sie sind schwierig, weil das deutscheRentenrecht, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt ge-eignet ist, erlittenes Unrecht wiedergutzumachen.Aber der Gesetzgeber hat sich 1992 bewusst für denWeg über das Sozialversicherungsrecht bei der hier inRede stehenden Arbeit in einem Getto entschieden, weiles nicht um Zwangsarbeit geht, für die Entschädigungs-leistungen aus dem Fonds der Bundesregierung – EVZ-Stiftungsgesetz – gezahlt worden sind, sondern weil eshier um die Fälle der Arbeit geht, bei denen nach der De-finition des Gesetzes auf der Basis eines eigenen Wil-lensentschlusses unentgeltlich gearbeitet wurde. Aller-dings – und das müssen wir uns immer vor Augenführen – geschah dies unter den allgemeinen Bedingun-gen von Zwang, Verfolgung und Holocaust.Das Beschreiten dieses Weges über die Sozialversi-cherung war mit einem schwierigen Lernprozess für unsalle, wie ich denke, verbunden. Die Kriterien des Geset-zes wurden zunächst von der Rentenversicherung engausgelegt. Der Nachweis bzw. die Glaubhaftmachungdes Vorliegens der Voraussetzungen war im Einzelfallschwer bis unmöglich, was zu einer Ablehnung von90 Prozent der Anträge auf Rente nach dem ZRBGführte. Bei den im ersten Verfahren genehmigten rund7 000 Anträgen wurde die Rente dann ab dem 1. Juli1997 gezahlt. Toni Schaaf hat gesagt, dass wir hier überRenten reden, die in einem typischen Fall bei einemmännlichen Arbeiter, geboren 1931, etwa 115 Euro beieinem Zahlungsbeginn ab 1. Januar 1997 ausmachen.Gegen die Ablehnung gab es – nachvollziehbar – Kla-gen, die zu einer höchstrichterlichen Rechtsprechung ge-führt haben. Im Juni 2009 hat das Bundessozialgerichtneue Leitlinien zu den Kriterien „Freiwilligkeit“ und„Entgelt“ aufgestellt, nach denen die Voraussetzungenfür eine Rente nach dem ZRBG weitaus leichter erfülltwerden konnten. Das war auch gut so. Alle im Juni 2009noch offenen Verfahren sind von der DRV im Sinne dergeänderten Rechtsprechung abgeschlossen worden. In3 500 Fällen führte dies zur Zahlung einer Rente ab, wienach der speziellen Zahlung im ZRBG vorgesehen,1. Juli 1997.Diese Renten sind nicht Gegenstand der heutigen De-batte. Wir debattieren, weil auch die bereits abgeschlos-senen und bis zur Änderung der Rechtsprechung imJuni 2009 bereits bestandskräftig abgelehnten Rentenan-träge erneut überprüft wurden und in rund 21 500 dieserFälle nunmehr eine Rente nach den neuen, erleichtertenZugangsvoraussetzungen bewilligt werden konnte. Da-bei hat die Rentenversicherung in Anwendung der allge-meinen im Sozialrecht geltenden Verjährungsfristen vonvier Jahren die Renten ab Januar 2005 gezahlt und nichtab 1997.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Insgesamt werden also aktuell in 32 000 Fällen Ren-ten nach dem ZRBG gezahlt. Bei 25 000 Anträgenkonnte keine Bewilligung erteilt werden, da die vom Ge-setz geforderten Voraussetzungen auch nach der geän-derten Rechtsprechung des BSG nicht vorlagen. Aller-dings besteht in den allermeisten dieser Fälle Anspruchauf die Anerkennungsleistung in Höhe von 2 000 Euronach der Anerkennungsrichtlinie der Bundesregierung.Ich glaube, man kann feststellen: In allen Fällen, indenen die neuen, erleichterten Voraussetzungen vorla-gen, werden heute auch tatsächlich Renten gezahlt. Ichsage das – das ist unter uns unstrittig – vor dem Hinter-grund einer Pressemitteilung, die in diesen Tagen vomDeutschen Journalistenverband herausgegeben wurdeund in der der Eindruck erweckt wird, vielen dieserMenschen werde von den deutschen Rentenbehördenheute noch immer die ihnen zustehende Rente verwei-gert. Ich glaube, dass dieses Bild, das dort gezeichnetwird, so nicht zutreffend ist.Allerdings – und das ist auch der Hintergrund derheutigen Debatte – stellt sich die Frage, ob in den Fällen,in denen zunächst eine Ablehnung erfolgt ist, nach Än-derung der Rechtsprechung nun doch Renten zu zahlensind, und zwar rückwirkend nicht erst ab 1. Januar 2005,sondern bereits ab 1. Juli 1997.Für die Antwort auf die Frage, ob den Betroffenen da-raus Nachteile entstehen, sind die Regelungen des deut-schen Rentenrechts maßgebend – Peter Weiß hat diesschon ausgeführt –, das für einen Rentenzugang nachdem Regelrenteneintrittsalter Zuschläge von 6 Prozentpro Jahr aufgrund des späteren Rentenbeginns vorsieht.Das bedeutet: Der siebeneinhalb Jahre spätere Rentenbe-ginn am 1. Januar 2005 führt zu einer auf Dauer um45 Prozent höheren Rente.Das Schwierige ist jetzt aber: Je nach den individuel-len Verhältnissen und auch unter Einbeziehung der Ver-sorgung von Hinterbliebenen kann sich damit im Einzel-fall gegenüber einem Rentenbeginn ab dem 1. Juli 1997eine niedrigere, gleich hohe oder auch höhere Gesamt-leistung ergeben.Die Opposition fordert die Bundesregierung mit ihrenAnträgen auf, die rückwirkende Zahlung der Renten abdem 1. Juli 1997 zu ermöglichen oder bei Verzicht aufdie Verlängerung der Rückwirkung über eine Änderungder Anerkennungsrichtlinie eine Kapitalzahlung, diesich aus der Summe der Rentenzahlungen bei einemRentenbeginn ab dem Jahr 1997 ergeben hätte, zu er-möglichen.In der Anhörung am 10. Dezember 2012 gab es ge-wichtige Stimmen – ich verweise auf die Drucksache17/12870 – gegen eine rentenrechtliche Lösung bzw.auch Warnungen vor dem mit einer solchen Lösung fürdie Betroffenen verbundenen Aufwand, insbesondereauch mit Blick auf das Alter der Betroffenen. Gleichzei-tig kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Weg überdie Änderung der Anerkennungsrichtlinie zu neuen Un-gerechtigkeiten gegenüber den Personen führen würde,deren Renten bereits von Beginn an, also ab dem 1. Juli1997, gezahlt werden.
Die Bundesregierung hat sich vor diesem Hintergrundnicht dafür entschieden, eine Initiative zur Änderung desgeltenden Rechts zu ergreifen. Die Opposition, wofürich Verständnis habe, hat auf die Abstimmung ihrer An-träge gedrängt. Wir haben im Ausschuss gestern gegenIhre Initiativen gestimmt. Wir werden das auch heutetun. Ich kann Ihnen aber für meine Fraktion sagen, dasswir das weitere Vorgehen der Bundesregierung in dieserFrage sehr genau beobachten werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb.
Die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Ulla
Jelpke für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kol-
legin Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zunächst gerne den Gesandten der israelischenBotschaft begrüßen, Herrn Emmanuel Nahshon, derheute hier sitzt, um die Debatte zu verfolgen, und dersehr für die Opfer gekämpft hat, dafür, dass diese Rentegezahlt wird.
Wenn sich die Union und die FDP heute tatsächlichden Anträgen der Opposition verweigern, die Gettoren-ten in vollem Umfang – und darum geht es – auszuzah-len, dann bedeutet das nicht nur, dass sich die Opfer er-neut verhöhnt fühlen werden, sondern es bedeutet auch– das finde ich besonders schlimm –, dass sie das Gefühlhaben werden, dass ihnen Gerechtigkeit genommenwird. Herr Kolb, es geht tatsächlich darum, Gerechtig-keit für alle Opfer und Betroffenen herzustellen.
Meine Damen und Herren, um es einfach einmaldeutlich zu sagen: Gettorenten sind keine Form von Ent-schädigung, bei der man darüber streiten kann, wer sieerhalten soll oder wie hoch sie ausfallen soll. Wir wis-sen, wie knauserig die Bundesregierung in den vergan-genen Jahren mit Entschädigungen umgegangen ist. Esbedurfte immer Druck von außen, damit überhaupt ge-handelt wurde.Gettorenten liegen – das muss einfach klar sein – ren-tenrechtlich begründete Ansprüche zugrunde. Die Men-schen, die im Getto gearbeitet haben, haben einen Hun-gerlohn bekommen. Angeblich wurden von den NazisBeiträge an die Rentenkassen abgeführt. Dass die Nazisnie vorhatten, Jüdinnen und Juden oder auch Sinti und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28907
Ulla Jelpke
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Roma Renten auszuzahlen, wissen wir längst. Heute gibtes aber eigentlich keinen Grund, ihnen ihre Rentenan-sprüche nicht zuzugestehen. Ich denke, die Ansprüchesind seit 2005 völlig klar. Insofern streiten wir jetzt da-rum, dass die Betroffenen, die diese Rente nicht bekom-men haben, Nachzahlungen bekommen.Der Bundestag hat vor elf Jahren einstimmig be-schlossen – das hat der Kollege Anton Schaaf schon ge-sagt –, die Rentenansprüche rückwirkend ab 1997 auszu-zahlen. Aber es gab Fehler. Kaum ein Beamter, kaum einRichter hat sich wirklich in die Materie hineinversetzt.Wer es doch tat, wie zum Beispiel Jan-Robert vonRenesse, wurde unter anderem Opfer von Mobbing undSchikane.Über 90 Prozent der Anträge wurden damals abge-lehnt, was wirklich ein Skandal war, ein Armutszeugnisfür Deutschland. Nach vielen Jahren sprach dann dasBundessozialgericht endlich ein Machtwort, woraufhindie Rentenkassen die Anträge neu überprüfen mussten.7 000 Berechtigte überlebten diese Überprüfung übri-gens nicht. Auch wenn es zynisch klingt, muss man sa-gen: Dazu ist es auch gekommen, weil hier verschlepptwurde und weil man offensichtlich Geld sparen wollte.Aber auch danach setzte sich das Unrecht leider fort.Die Renten für noch 22 000 NS-Opfer wurden nicht, wieeinmal beschlossen, 1997, sondern erst ab 2005 ausge-zahlt. Es fehlten über sieben Jahre. Meine Damen undHerren von den Regierungsfraktionen, insbesondereHerr Kolb, wenn Sie jetzt behaupten, durch den höherenZugangsfaktor werde der spätere Auszahlungsbeginnausgeglichen, ist das schlicht und einfach unwahr.
Denn dazu müssten die Betroffenen noch viele Jahre le-ben. Jeder hier im Raum weiß doch, dass 80- bis 90-Jäh-rige einfach nicht mehr sehr viele Jahre leben werden.Deswegen haben zum Beispiel die Sachverständigen inder Anhörung sofortigen Handlungsbedarf gesehen. Esgeht zum Teil um Nachzahlungen von wenigen TausendEuro. Wir wissen, dass die soziale Situation von Überle-benden des Holocaust häufig prekär ist, und schon des-wegen will die Linke eine zügige Lösung.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten vonIhnen allen, dass Sie diese Frage zu einer Gewissens-frage machen. Wollen Sie diese Menschen wirklich umwenige Tausend Euro bringen, obwohl das ihre Renten-ansprüche sind? Ich fordere Sie auf: Verweigern Sie sichnicht den Anträgen der Opposition. Gewähren Sie denÜberlebenden ihre Rechte, und schließen Sie sich denAnträgen von Linken und Grünen an. Es ist in der Tatbeschämend für dieses Haus – das ist hier von vielenschon gesagt worden –, um diese wenigen Tausend Eurozu feilschen.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Nächster Red-ner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unserKollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön,Kollege Dr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir führen hier eine wirklichschwierige Debatte, und wir führen sie intern schon seitüber einem Jahr. Die Geschichte des ZRBG ist von mei-nen Kollegen und von meiner Kollegin richtig beschrie-ben worden. Es ist wirklich beschämend, dass wir eswährend der ganzen Zeit nicht hinbekommen haben,eine Lösung zu finden. Es wäre dringend notwendig ge-wesen; das hat nicht zuletzt die Anhörung gezeigt. In derTat ist es so, dass niemand in der Anhörung bestrittenhat, dass es einen Handlungsbedarf gibt. Viele habensehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass unbedingtgehandelt werden muss.Besonders beeindruckt hat mich Uri Chanoch vomCenter of Organizations of Holocaust Survivors in Is-rael. Er hat gesagt:Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-In-sassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekom-men und das ist einfach … Es ist wirklich nichtviel. Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei der Befreiung… Wir haben alle Probleme, ein Überlebender istnie heraus von dort, das ist normal. Jeder Einzelnehat einen Tick, hat schlechte Träume, schluckt Pil-len, trotzdem haben sie geholfen und das Land auf-gebaut, trotz alledem. Aber jetzt, wenn wir ältersind, sind wir auch mehr krank. Um Gottes Willen,ich habe nicht geglaubt, ich würde 85 alt werden …macht das mit dem Termin 1997 und fertig. Und da-mit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht vonEuch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt wird.Es wäre möglich gewesen, das zu erledigen.Ich bin dankbar für die Reden von Peter Weiß undHeinrich Kolb. Peter Weiß hat gesagt: Es werden weiterGespräche geführt. Bei Heinrich Kolb habe ich heraus-gehört, dass die Tür noch nicht ganz zu ist. Er hat gesagt,er beobachte weiter, was passiert. – Das klang in denletzten Ausschusssitzungen ganz anders. Da hieß es: Wirwerden nichts machen. Die CDU/CSU-Fraktion hat amDienstag beschlossen, dass dafür nichts mehr gemachtwerden soll. – Das ist ein grober Fehler. Wenn die Türjetzt noch einen Spalt offen wäre, sei es auch nur einenkleinen Spalt, würden wir das sehr begrüßen. Zu sagen,wir machen nichts, wäre eine Schande, und das wäre füruns als Parlament wirklich traurig.
Ich will noch auf ein Argument zurückkommen, dasschlicht falsch ist. Auch wenn es ein bisschen technischklingt: Es sind für die Betroffenen in den meisten Fällenwenige Tausend Euro. Das ist aber für viele Menschen,
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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die in der Situation sind wie der Herr Chanoch, vielGeld. Es wäre ein Stück Wiedergutmachung für das, waspassiert ist. Natürlich kann man die Verbrechen mit Geldnie wiedergutmachen. Ich habe eben aber dargestellt,wie wichtig den Menschen das aus Gerechtigkeitsgrün-den ist, selbst dann, wenn es nicht um eine materielleLeistung ginge.Es ist schon gesagt worden: „45 Prozent“, das bedeu-tet, dass jemand, der 1997 65 Jahre alt war, vom heuti-gen Zeitpunkt an noch mindestens acht Jahre lebenmuss, damit die Lücke von 7,5 Jahren ausgeglichen ist.Das mag für einen durchschnittlichen Menschen von80 Jahren noch möglich sein – diese acht Jahre entspre-chen der durchschnittlichen Restlebenserwartung in demAlter –, aber für Menschen, die im Getto gearbeitet ha-ben, gilt das vielleicht nicht unbedingt.Ich habe von jemandem gesprochen, der 199765 Jahre alt war. Er ist demnach Jahrgang 1932, war imGetto also Kind. Die meisten waren älter. Nehmen wirals Beispiel jemanden, der zehn Jahre älter ist. In demFall betrüge der Zuschlag 1997 60 Prozent und 2005 so-gar 105 Prozent; der Betroffene würde also das Doppeltebekommen. Aber als jetzt 91-Jähriger würde er noch15 Jahre leben müssen – 15 Jahre noch als jetzt 91-Jähri-ger! –, damit das wieder ausgeglichen wird. Das ist das,was Sie den Menschen zumuten, wenn Sie nichts ma-chen. Sie sagen einem 91-Jährigen: Du bekommst einehöhere Rente, und wenn du noch 15 Jahre lebst, ist dasausgeglichen. – Zu Recht fühlen sich die Menschen inIsrael und anderswo, die davon betroffen sind, hintersLicht geführt und hintergangen.Ich appelliere noch einmal an alle hier im Hause, dasswir die Gespräche weiterführen. Gott sei Dank sehen daseinige in der CDU/CSU-Fraktion anders, als es bisheroffiziell klang.Ich möchte mit einer Meldung schließen, die gesternNachmittag vom Evangelischen Pressedienst kam. Indieser steht:Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen
reagierte zurückhaltend auf den Beschluss
im Sozialausschuss. Die Ministerin habe den Parla-mentariern Vorschläge gemacht, wie das Problemim Rentenrecht hätte gelöst werden können, sagteein Sprecher dem Evangelischen Pressedienst .Die Unionsfraktion habe aber den Beschluss ge-fasst, nichts zu ändern, den NS-Opfern also keineweiteren Zahlungen zu gewähren. Dieses Votumrespektiere die Ministerin.Wir respektieren das nicht.Ich appelliere noch einmal: Lassen Sie uns gemein-sam etwas tun als gerechten Ausgleich für die Men-schen, die Gettorenten beanspruchen!Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. – Für
die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner unser
Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kollege Max
Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Diese Debatte ist sicherlich eine schwierige Herausfor-derung auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir um un-sere Verantwortung wissen und wir dieser Verantwor-tung gerecht werden müssen, soweit dies möglich ist.Erfahrenes Leid ist nicht mehr reparierbar. Auch dasmuss man wissen. Es ist aber entscheidend, dass wir denBetroffenen und überlebenden Menschen Unterstützunggeben. Ich glaube, dass die Bundesrepublik, dass derdeutsche Staat immer versucht hat, dem Rechnung zutragen, Frau Kollegin Jelpke. So haben wir versucht, fürdie Zwangsarbeiter und deren Leid Entschädigungen,soweit das möglich ist, zu leisten.
Dasselbe gilt auch für Arbeitsverhältnisse in Gettos, diefreiwillig eingegangen wurden und für die Entgelt ge-zahlt wurde, sicherlich unter unmenschlichen Bedingun-gen.Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialge-richts im Jahr 1997 – das war der Anlass – haben wir imJahr 2002 versucht, eine gemeinsame rentenrechtlicheLösung zu finden. Es ist entscheidend, dies immer wie-der darzulegen, weil in Pressemitteilungen bzw. Presse-informationen zu lesen war, man würde versuchen, sichvor der Verantwortung zu drücken, und Rentnerinnenund Rentnern berechtigte Rentenansprüche vorenthalten.Sicherlich war die gesetzliche Regelung, die wir 2002getroffen haben – meine Kolleginnen und Kollegen ha-ben es schon dargestellt – lückenhaft und nicht vollendetund hat unserem Geist nicht entsprochen. Strittige Fra-gen wurden dann durch die gerichtliche Entscheidung imJahr 2009 geklärt.Ich möchte vorausschicken, dass es für die Rentenver-sicherungen und die Sozialversicherungsträger schwie-rige Rechtsfragen waren, diese Entscheidungen im Ein-zelfall zu treffen. Dann gab es die Entscheidung im Jahr2009, die für die Klägerinnen und Kläger bedeutete, dasssie rückwirkend ab 1. Juli 1997 Rente bekamen. Gleich-zeitig wurden die abgelehnten Fälle – das haben meineKollegen ebenfalls schon angedeutet – aufgerollt; rund21 500 von ihnen bekamen eine Rente ab 2005. Gleich-zeitig wurde versucht, mit einem Anerkennungsbetragvon 2 000 Euro, der für die ZRBG-Rentner ursprünglichnicht vorgesehen war, diesen Umstand abzumildern undauch der Zeitspanne zwischen dem 1. Juli des Jahres 1997bis zum 1. Januar 2005 Rechnung zu tragen.Meine Kolleginnen und Kollegen haben auch schondarauf hingewiesen, dass es auch einen Höherwertungs-faktor gab. Ich danke dem Kollegen Strengmann-Kuhnausdrücklich dafür, dass er an einem Beispiel dargestellt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28909
Max Straubinger
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hat, dass es nicht generell 45 Prozent sind, sondern dieHöhe sich individuell – je nach Alter des betroffenenMenschen – ergibt. In Ihrem Beispiel, Herr Strengmann-Kuhn, waren es 105 Prozent, was der doppelten Rentegegenüber dem Renteneintritt zum 1. Juli 1997 ent-spricht.
– Nein, möglicherweise gegenüber dem 1. Januar 1997.
Insofern ist diese Höherwertung mit zu betrachten.Deshalb komme ich nicht zu Ihrem Ergebnis, dass das15 Jahre dauert,
sondern der Zeitraum ist kürzer.In der Gesamtwertung aller Rentenleistungen, HerrStrengmann-Kuhn, gibt es keine Minderauszahlungen.
– Nein, gibt es nicht.
Und das ist auch ein entscheidendes Merkmal.Die Schwierigkeit besteht ja darin, dass, wenn Sie dieRenten auf den 1. Juli 1997 zurückrechnen, neue Unge-rechtigkeiten entstehen und zukünftig grundsätzlichniedrigere Renten gezahlt werden, als es gegenwärtigder Fall ist. Ich bin der Meinung, dass es den betroffenenMenschen nicht zumutbar ist, niedrigere Rentenzahlun-gen an sie zu leisten.
Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liegtaber zugrunde, dass es niedrigere Rentenleistungen ge-ben wird.
Wenn wir ihnen ein Wahlrecht geben, ist das wiede-rum eine Ungerechtigkeit gegenüber den Rentnerinnenund Rentnern, die bereits seit 1. Juli 1997 eine Rente be-ziehen, weil sie dieses Wahlrecht nicht ausüben könnten.
Das muss man auch sehen.Wir haben uns diese Entscheidung hinsichtlich desmateriellen Aspekts nicht leicht gemacht; das dürfen Sieuns glauben. Entscheidend in rechtlicher Hinsicht ist an-dererseits das Urteil des Bundessozialgerichts.
Bei allen Schwierigkeiten, die mit dieser Entscheidungverbunden sind, möchte ich allerdings zum Ausdruckbringen, dass wir weiterhin geschehenes Unrecht so weitwie möglich aufarbeiten werden. Ich bitte Sie aber da-rum, auch den rechtlichen Rahmen der Rentengesetzemit zu berücksichtigen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Max Straubinger war der letzte Redner inunserer Aussprache.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-ziales auf Drucksache 17/12870.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/10094 mit dem Titel „Rentenzahlungenfür Beschäftigungen in einem Getto rückwirkend ab1997 ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-genprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktio-nen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlungist angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/7985 mit dem Titel „Renten für Leistungsbe-rechtigte des Getto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997nachträglich auszahlen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-genprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.Enthaltungen? – Niemand. Die Beschlussempfehlung istangenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta-gesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Telekommunikationsgeset-zes und zur Neuregelung der Bestandsdaten-auskunft– Drucksache 17/12034 –
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Vizepräsident Eduard Oswald
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Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/12879 –Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster Michael Hartmann Gisela PiltzUlla JelpkeDr. Konstantin von NotzDarf ich Sie bitten, den Wechsel zu vollziehen?
Insgesamt haben wir vereinbart, für die Ausspracheeine halbe Stunde vorzusehen. Alle sind damit einver-standen? – Dann haben wir dies so beschlossen.Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in un-serer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU un-ser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege ArminSchuster.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Bestandsdaten – ein ziemlich trockener Begriff, denich zunächst zum besseren Verständnis erklären möchte.Unter Bestandsdaten verstehen wir Kundendaten wiezum Beispiel eine Telefonnummer und die dazugehöri-gen Namen und Adressen, E-Mail-Adressen oder anderesogenannte Anschlusserkennungen. Für Ermittlungsbe-hörden können diese Bestandsdaten im Rahmen derGefahrenabwehr und der Strafverfolgung von entschei-dendem Wert sein. Dabei kommt es oft auch auf Schnel-ligkeit an.Ein Beispiel. In einer Mordermittlung stellt die Poli-zei fest, dass beim Opfer zuletzt Anrufe mit drei ver-schiedenen Telefonnummern eingegangen sind. Die ent-sprechenden Anrufer könnten sowohl wichtige Zeugenals auch Verdächtige sein. Um diese Spur verfolgen zukönnen, benötigt man zu den Telefonnummern die zuge-hörigen Namen. Es erfolgt also eine Bestandsdatenan-frage beim jeweiligen Telefondienstanbieter, der schonheute unter bestimmten Voraussetzungen dazu verpflich-tet wäre, diese Kundendaten an bestimmte Bundes- oderLandesbehörden herauszugeben.Geschätzte Kollegen aus dem Innenausschuss, ichweiß: Das Beispiel langweilt Sie vielleicht ein bisschen.
Aber ich hatte bei der Berichterstattung, in den Diskus-sionen, ja sogar bei der Anhörung den Eindruck, dass derUnterschied zwischen Bestandsdaten und Vorratsdatennicht allen klar war. Deswegen möchte ich noch einmalsagen: Bei der Bestandsdatenauskunft, die wir heute be-sprechen, findet keine retrograde Verkehrsdatenüber-mittlung statt. Diese Klarstellung halte ich für wichtig.
Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenenJahr die bisher geltenden Regelungen zur Bestandsda-tenauskunft im Telekommunikationsgesetz für teilweiseverfassungswidrig erklärt. Übrigens: Die Richter habenPassagen eines Gesetzes kassiert, das aus der Feder vonRot-Grün stammt.
Das sage ich nicht, weil ich diese Regelung prinzipiellkritisiere, sondern weil in der öffentlichen Diskussion,vielleicht auch bei der einen oder anderen Rede, die nachmeiner folgt, der Eindruck entstehen könnte, dass dieUnion wieder einmal neue Überwachungsregeln mani-festieren will.
Meine Damen und Herren, diese Regelung wollte ur-sprünglich Bundesminister Otto Schily von der SPD. Erhat sie bekommen. Das war auch richtig. Er hat sie haltnicht gut genug gemacht; und das korrigieren wir heute.
Was genau hat das Gericht bemängelt? – Ermittler in-teressieren sich für die Inhaber dynamischer IP-Adres-sen. Die Zuordnung von IP-Adressen zu Kundendatengehört zur Bestandsdatenauskunft. Bedingung ist aber,dass diese Daten nicht ausdrücklich dafür gespeichertwerden müssen, sondern ohnehin vorhanden sind, unddass keine Verkehrsdaten abgefragt werden dürfen. DieRichter erklärten jetzt, dass die bisherige Vorschrift des§ 113 Telekommunikationsgesetz nicht für die Zuord-nung dynamischer IP-Adressen angewendet werdendarf. Auch Zugangssicherungscodes wie Passwörter,PINs und PUKs können Ermittler abfragen. Hier musslaut Verfassungsgerichtsurteil klargestellt sein, dass Aus-künfte nur erteilt werden dürfen, wenn die gesetzlichenVoraussetzungen für ihre Nutzung gegeben sind.Die Richter haben uns aufgetragen, ein sogenanntesDoppeltürprinzip zu verankern. Das heißt, die eigentli-chen Erhebungsbefugnisse sind nach diesem Urteil ab-hängig vom Anfragezweck jeweils spezifisch in denFachgesetzen zu regeln; das gibt es bisher so nicht. Dasgeforderte Doppeltürprinzip ist umgesetzt, indem sichim Telekommunikationsgesetz die Regelungen zurÜbermittlung finden – das ist die erste Tür – und in denFachgesetzen die Abrufnorm verankert wird – das ist diezweite Tür.
– Ich danke Ihnen, Herr Dr. von Notz. Ich liebe solcheReden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28911
Armin Schuster
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In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf beschrei-ben wir also im TKG die Speicherpflichten der Anbieterund die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen zurÜbermittlung von Daten. Alle weiteren Regelungen, ins-besondere solche, die die Bedingungen der Abfrage vonBestandsdaten betreffen, finden sich in den Fachgeset-zen, also beispielsweise StPO, BKA-Gesetz, Bundes-polizeigesetz, wieder. Die Länder werden anschließendvergleichbare Normen auch in ihren Fachgesetzen zuverankern haben.Meine Damen und Herren, im ursprünglichen Regie-rungsentwurf waren all diese Erfordernisse des Urteilsbereits umgesetzt worden. Das wurde in der öffentlichenAnhörung durch das Gutachten von ProfessorDr. Schwarz eindrücklich bestätigt.
Gleichwohl haben wir im gemeinsamen Änderungsan-trag der Koalition mit der SPD-Fraktion noch einigePunkte aufgenommen, die unseres Erachtens zwar nichtverfassungsrechtlich erforderlich sind, die sich aber imLaufe der Diskussion in der Koalition und mit der Oppo-sition als rechtspolitisch wünschenswert herauskristalli-siert haben.
Das BMI, dem ich für die konstruktive Begleitung desparlamentarischen Verfahrens besonders danken möchte,hat einen Regierungsentwurf vorgelegt, der der Lesartder Unionsfraktionen entsprach – logisch. Wir hattendann eine öffentliche Anhörung, in der uns die Sachver-ständigen die verfassungsrechtlich notwendige Weiter-entwicklung attestierten, allerdings einige Gutachter da-rüber hinausgehende Wünsche formulierten. Wir habendann unseren Entwurf zusammen mit den Kolleginnenund Kollegen der FDP weiterentwickelt. Dann haben wirim Lichte des öffentlichen Interesses an diesem Themaund der Bedeutung für die anschließende Ländergesetz-gebung SPD und Grüne mit an den Tisch geholt undwiederum weitere Veränderungen auf Wunsch der SPD-Fraktion mit eingebunden. Viel mehr Qualität in einemparlamentarischen Beratungsverfahren geht wirklichnicht.
Die SPD kam gestern im Ausschuss allerdings zu derbemerkenswert überheblichen Bewertung, ohne sie wärees nicht gegangen. Herr Hartmann, so etwas passt zu Ih-rem Kandidaten, aber nicht zu Ihnen. Insofern nehmenwir es in Ihrem Fall mit Humor zur Kenntnis.
Wir haben also gegenüber dem Regierungsentwurfnoch einmal zusätzlich klargestellt, dass die Abfragennur im Einzelfall zum Zweck der Verfolgung von Straf-taten oder Ordnungswidrigkeiten, zur Abwehr von Ge-fahren für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Erfüllungder gesetzlichen Aufgaben erlaubt sind. Es wird aus-drücklich verankert, welche Behörden abfrageberechtigtsind. Die Provider hatten befürchtet, dass sie zukünftigdie materiellen Voraussetzungen einer Anfrage prüfenmüssen. Auch das haben wir ausgeräumt. Ganz wichtig:Aufgrund der heute nicht vollständig übersehbaren Wir-kung der technischen Umstellung von IPv4 auf IPv6 ha-ben wir der Regierung eine Berichtspflicht zum 31. De-zember 2015 aufgegeben.Für die Abfrage von Bestandsdaten zu dynamischenIP-Adressen haben wir eine Benachrichtigungspflichtund den Richtervorbehalt verankert, und wir haben klar-gestellt, dass immer nur die Daten zu einer IP-Adresseanhand eines konkreten Zeitpunkts abgefragt werdenkönnen. Auch für die Abfrage von Zugangssicherungs-codes haben wir einen Richtervorbehalt implementiert,und zwar um auszuschließen, dass ein heimlicher Zu-griff auf Daten des Betroffenen ohne richterliche Zu-stimmung erfolgt. Das heißt: Nur für den Fall, dass derBetroffene nichts davon erfährt bzw. erfahren habenkönnte oder dass nicht ohnehin ein Beschlagnahmebe-schluss für die gesicherten Daten vorliegt, greift dieserRichtervorbehalt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gebe zu:Diese Vorschrift sehe ich mit gemischten Gefühlen. Ichhabe lange hinhaltende Abwehr geleistet. In der gestri-gen Debatte im Innenausschuss hat der KollegeHartmann sehr richtig die Befürchtung mancher Fach-leute dargelegt, dass wir damit einer Entwertung richter-licher Beschlüsse Vorschub leisten könnten. Sie habensich dieser Befürchtung zwar dann nicht angeschlossen,aber ich weiß, dass die Richterinnen und Richter keinenWert darauf legen, eine weitere Prüfaufgabe übertragenzu bekommen, vor allem, weil zu befürchten ist, dass dieKontrolle aus rein quantitativen Gründen ins Leere lau-fen könnte. Es kann ja nicht darum gehen, dass ein Rich-ter seine Unterschrift quasi automatisch unter eine An-ordnung setzt.
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern:Als das Land Niedersachsen im Jahr 2010 den Richter-vorbehalt bei Blutentnahmen im Wege einer Bundesrats-initiative streichen wollte, hatte der Deutsche Richter-bund dies ausdrücklich begrüßt. Begründung – ichzitiere –:Richtervorbehalte sichern die Rechtsförmigkeit desVerfahrens zum Schutze der Betroffenen und sindbei der Anordnung bedeutender Zwangsmaßnah-men im Strafprozess wie Freiheitsentziehungen,Durchsuchungen oder heimlichen Überwachungs-maßnahmen unverzichtbar.Weiter heißt es:Eine richterliche Anordnung hat jedoch nur danneinen rechtsstaatlichen Mehrwert, wenn eine eigen-
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Armin Schuster
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ständige, gründliche Prüfung des Sachverhaltsmöglich ist.
Wer über alle einzelnen Maßnahmen geradezu infla-tionär das Instrument des Richtervorbehaltes ausgießt,entwertet unter Umständen diesen und handelt damiteventuell auch unverhältnismäßig.
Es wird so getan, als ob alle Maßnahmen gleichermaßeneinhegungsbedürftig seien. Das ist aber nicht der Fall.Die Erlangung einer PIN oder eines PUK ist allein eineHilfsmaßnahme, um eine bestimmte technische Hürdezu überwinden, die vor der eigentlichen Maßnahmesteht, also ein verhältnismäßig geringer Eingriff. Das hatauch das Verfassungsgericht so gesehen. Für die Zuläs-sigkeit der eigentlichen Maßnahme danach bleibt es beiden einschlägigen Anforderungen.Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ha-ben wir lange darüber diskutiert – auch wegen mir –, obes wirklich sinnvoll ist, einen generellen Richtervorbe-halt bei PIN- und PUK-Abfragen zu implementieren.Wir haben jetzt einen Kompromiss gefunden, mit demalle leben können und der eine oder andere auch wird le-ben müssen. Ich bin gespannt, wie die Länder das umset-zen. Das wird interessant werden. Zugegeben, es warenharte Verhandlungen, aber ich danke besonders FrauPiltz und dem Kollegen Hartmann für die konstruktivegemeinsame Arbeit.Traurig sieht dagegen das aus, was wir mit den Grü-nen in puncto Zusammenarbeit erleben durften. Immer-hin waren sie 2004 Mitautoren der Ursprungsregelung.Wir haben ihnen im Sinne eines hohen Grundrechts-schutzes in der Verhandlung viele offene Türen angebo-ten. Sie haben sich allen Vorschlägen versperrt, wahr-scheinlich rein aus Prinzip.
Das jetzt vorliegende Vorhaben geht in Sachen rechts-staatliche Schutzmechanismen weit über das hinaus, wassie selbst seinerzeit als notwendig erachtet haben.Wir haben ernsthaft um ein sensibles, gesellschaftsrele-vantes Thema gerungen und einen sinnvollen Interessenaus-gleich zwischen Datenschützern, Bürgern, Netzgemeinde,Richtern und Ermittlern gefunden. Die Unionsfraktion ist si-cher die Partei der inneren Sicherheit, also die Fraktion, diesich besonders für die Belange von Ermittlern, Staats-anwälten und Richtern einsetzt. Gleichwohl haben wir esmit unserem Koalitionspartner und mit der SPD ge-schafft, das weite Meinungsspektrum dieser Gesellschaftzu diesem Thema auszubalancieren und adäquat in einerRegelung abzubilden. Insoweit war das anspruchsvollund spannend. Als Volkspartei muss man so etwas kön-nen. Wir haben es gekonnt, und deshalb bitte ich Sieziemlich überzeugt und fröhlich um Zustimmung.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es gibt ein oftmals fast reflexhaftes Agieren undDiskutieren, wenn es um Sicherheitsgesetze geht. Kaumfallen Begriffe, die mit Datenübermittlung an den Staatbzw. an Sicherheitsbehörden zu tun haben, so sagen dieeinen: „Es reicht nicht; es muss viel mehr sein“, und dieanderen sagen: „Die völlige Ausspähung der Bürgerin-nen und Bürger beginnt.“ Beides ist nicht zutreffend,weder bei dem Entwurf dieses Gesetzes noch bei ande-ren Gesetzen. Am Schluss kommt es doch darauf an,dass wir in der uns immer verpflichtenden Abwägungzwischen legitimen Sicherheitsinteressen und bürgerli-chen Freiheitsrechten die Stange so halten, dass man vondem Seil nicht zu der einen oder anderen Seite hin ab-rutscht. Das ist jetzt gelungen. Deshalb wird die SPD-Fraktion – ich darf das gleich zu Beginn sagen – diesemGesetzentwurf schließlich und endlich zustimmen.Ich habe größtes Verständnis dafür, wenn kritischeBürgerinnen und Bürger, wenn Initiativen und Vereinemit größter Aufmerksamkeit und auch größtem Miss-trauen beobachten, was im Parlament diskutiert wird,wenn es um Sicherheitsgesetze geht. Ich habe allerdingskein Verständnis, wenn sofort Hysterie ausbricht, sobalddas Stichwort „Datenübermittlung an Sicherheitsbehör-den“ fällt, und man mit unglaublichen, mittlerweile aberpopulär gewordenen Beschimpfungen alle überzieht undsagt, sie seien Verräter an der guten Sache, ja, sogar derVerfassung, weil sie für ein Sicherheitsgesetz stimmen.Meine Damen und Herren, heute reden wir über dasHandwerkszeug, das Polizei und Sicherheitsbehörden imBund und in den Ländern, auch in den von Rot-Grün re-gierten Ländern, brauchen, um ihre Arbeit zu bewälti-gen.Das Verfassungsgericht hat uns mit auf den Weg ge-geben, das Ganze besser zu machen. Das Verfassungsge-richt hat aber an keiner Stelle, zu keinem Zeitpunkt ge-sagt, das Gesetz sei nicht geeignet, es verletze dasÜbermaßverbot oder Ähnliches. Nein, man hat Normen-klarheit verlangt. Mit dem, was meiner Meinung nachwesentlich von uns gemeinsam mit Ihnen verhandeltwurde, sind diese Normenklarheit und damit die Verfas-sungsfestigkeit des Gesetzes jetzt endlich gegeben.
Wir bewegen uns in einem sensiblen Bereich. Dahersollte man sich einmal genau anschauen, wann diese Be-standsdatenabfrage tatsächlich erforderlich ist, wann sie
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Michael Hartmann
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benötigt wird. Es geht zum Beispiel um den Fall, dassgedroht wird, eine Trinkwasseranlage zu verseuchen. Esgeht um angekündigten Selbstmord. Es geht um Miss-brauch von Kindern. Es geht um einen angedrohtenAmoklauf an einer Schule. So ließe sich die Liste fort-setzen. Das heißt, wenn wir der Polizei in diesen Fällenden Zugriff auf die Bestandsdaten nicht ermöglichen, istes weder im Bereich der Gefahrenabwehr noch im Be-reich der Strafverfolgung möglich, voranzukommen.Deshalb brauchen wir dieses Gesetz. Ich hoffe, dass es indiesem Hause niemanden gibt – egal ob man zustimmtoder ablehnt –, der sagt: Nein, wir dürfen der Polizei, wirdürfen den Sicherheitsbehörden diese Kompetenz grund-sätzlich nicht geben.
Das Verfassungsgericht verlangt von uns Normen-klarheit. Seitens der Koalition ist, wie immer, wenn esum Sicherheitsfragen geht, lange Zeit nichts passiert.Weil die Zeit knapp wurde – bis zum 1. Juli 2013 müs-sen die Gesetze in Kraft sein, weil es sonst keine Mög-lichkeit der Bestandsdatenauskunft mehr gibt –, legte dieKoalition dann einen Gesetzentwurf vor, dem wir nieund nimmer hätten zustimmen können, weil das, was dasVerfassungsgericht verlangt, und das, was wir den Bür-gerinnen und Bürgern schulden, mit diesem Gesetzent-wurf nicht geleistet wurde. Die Rechte für die Polizei,die wir auch wollen, wurden zwar festgeschrieben, aberes wurden keine Sicherungen eingebaut. Für uns giltjetzt und in Zukunft bei allen Sicherheitsgesetzen: WennPolizei und Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse erhal-ten, dann muss es auch Kontroll- und Überwachungs-möglichkeiten geben. Das ist der rote Faden, an dem wiruns dabei orientieren.
Wir sind in den Verhandlungen, die in der Tat nichteinfach, aber, Herr Schuster und Frau Piltz, wirklich vonKollegialität getragen waren, so weit gekommen, dasswir jetzt nicht nur die Anforderungen des Verfassungs-gerichts erfüllen, sondern sie sogar übererfüllen. Das istein gutes Zeichen: Wir machen nicht nur das minimalMögliche, sondern gehen im Interesse der Bürgerrechtesogar weit darüber hinaus. Der Rechtsschutz wurde aus-geweitet. Jetzt stehen Mitteilungspflichten, die in demabgestimmten Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionennicht enthalten waren, im Gesetzentwurf, der Richter-vorbehalt wird eingeführt, und es ist ein Bericht zur Ent-wicklung bei den festen IP-Adressen vorzulegen. All dassind Standards, die über die Forderungen des Verfas-sungsgerichts hinausgehen. Sie sind aber dringend gebo-ten, um dem Misstrauen einer berechtigterweise kriti-schen Öffentlichkeit zu begegnen, aber auch, um zuzeigen, dass der Gesetzgeber sehr darauf achtet, dass beiSicherheitsgesetzen das Kind nicht mit dem Bade ausge-schüttet wird.Die Länder warten händeringend auf das Gesetz. Des-halb müssen wir es nach gründlicher Beratung jetztschnellstens auf den Weg bringen. Wir als Oppositions-fraktion haben unsere Bereitschaft zu Verhandlungenauch deshalb erklärt, weil wir sehr wohl wissen, dassdieses Gesetz – Herr Schuster, das sagen Sie völlig zuRecht – aus der Zeit von Rot-Grün stammt. Insofern se-hen wir uns auch als Opposition in der Verantwortungund in der Kontinuität, für die Sicherheit unseres Landeszu sorgen, statt uns einfach davonzustehlen und ir-gendwo billigen Applaus zu holen.Ich bin froh, dass es gelungen ist, gemeinschaftlich zuverhandeln und, auch aufseiten der Koalition, einen Ge-setzentwurf noch einmal aufzubohren, der eigentlichendabgestimmt war. Das ist in der Tat ein gutes Beispielfür parlamentarische Zusammenarbeit. Wir haben unsnichts geschenkt; aber wir haben aus einem Gesetzent-wurf, der nicht gut war, einen guten gemacht. Mit Ver-laub: Das hat schon ein bisschen damit zu tun, dass So-zialdemokraten am Tisch saßen und mit verhandelthaben.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Gisela
Piltz das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Hartmann, am Ende zählt vielleicht, dass wir allegemeinsam ein Gesetz, das auch wir so nicht hätten mit-tragen können, besser gemacht haben. So gesehen ma-chen Sie Ihrem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden alleEhre: Es kommt kein Gesetz so aus dem Bundestag he-raus, wie es hineingegangen ist.Ich möchte mich zu Beginn ganz herzlich beim BMI,bei den Berichterstattern, aber auch bei unseren Mitar-beitern bedanken. Das waren konstruktive Verhandlun-gen. Ich bin sehr froh, dass uns das gelungen ist. Es istschön, wenn sich einmal alle Väter und Mütter darumstreiten, wer eigentlich den größten Anteil hatte. Im Er-gebnis haben wir es geschafft, mehr Bürgerrechte durch-zusetzen. Ich glaube, das ist die gute Nachricht desAbends.
Wir haben gemerkt, dass es – das haben Sie zu Rechtgesagt – Wörter gibt, die quasi Pawlow’sche Reflexeauslösen. „Bestandsdatenauskunft“ ist so ein Wort. Ichgebe gerne zu, dass ich früher durchaus ein Gruseln un-terdrücken musste, wenn ich das Wort hörte. Mit demvorliegenden Gesetzentwurf hat das aber deutlich nach-gelassen.
– Herr von Notz, Sie haben es immer noch nicht begrif-fen. Das tut mir echt leid.
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Gisela Piltz
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Das klingt nach Überwachungsstaat und nach Schnüffe-lei im Internet. Dann noch dazu eine verfassungswidrigeNorm: Das muss schrecklich sein. Da muss man sichschon mit der Materie beschäftigen. Das haben Sie,glaube ich, nicht gemacht.Um klarzumachen, worum es eigentlich geht: Es gehteben gerade nicht um Verkehrsdaten, sondern es geht umBestandsdaten. Mit der Logik mancher Kolleginnen undKollegen im Haus dürften Sie auch nicht im Telefonbucheine Telefonnummer nachschauen. Auch dürften Sienicht checken, wem ein Kennzeichen gehört. Das allessind einfache Bestandsdatenauskünfte. Es geht eben ge-rade nicht darum, wer mit wem telefoniert hat und werwie lange auf welcher Homepage war. Das wären Vor-ratsdatenspeicherungen, die wir weiter ablehnen. Be-standsdaten aber sind in unserem Rechtsstaat unerläss-lich für die Verfolgung von Straftaten.
Weiterhin geht es um die Frage, wem eine dynami-sche IP-Adresse zu einem – ich betone: einem – be-stimmten Zeitpunkt zugeordnet war. Da wird es schonheikel, weil hier der Schutzbereich von Art. 10 desGrundgesetzes berührt ist.Schließlich geht es um Zugangssicherungsdaten, so-fern diese überhaupt beim Provider vorliegen, also um –wie wir alle gelernt haben – PINs, PUKs und Passwörter.Das sind natürlich höchst sensible Daten. Deshalb habenwir für diese Daten auch rechtsstaatliche Sicherungeneingezogen.Jetzt, wo deutlich geworden ist, worum es geht, sindwir uns, glaube ich, alle klar darüber, dass es weiterhinsolche Bestandsdaten geben muss. Auch das habenmeine Kollegen vorhin schon gesagt.
Für uns war aber auch klar, dass der Staat einen Zugriff– natürlich keinen unbegrenzten – auf solche Daten ha-ben darf. Diese Grenzen haben wir, die Fraktionen, indieses Gesetz eingezogen. Das fängt damit an, dass Da-ten überhaupt nur dann vom Provider übermittelt werdendürfen, wenn diese zu Zwecken der Strafverfolgung, derVerfolgung von Ordnungswidrigkeiten, zur Gefahrenab-wehr oder zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben derNachrichtendienste abgefragt werden.Das Bundesverfassungsgericht hat schon sehr klardargestellt, dass mit dieser Eingrenzung Abfragen „insBlaue hinein“ – es wird oft behauptet, dass dies gesche-hen könne – nicht möglich sind. Damit ist klar: Polizeiund Staatsanwaltschaften können nicht einfach Be-standsdaten abfragen, insbesondere nicht im Vorfeldkonkreter Gefahren.Weil das in der öffentlichen Diskussion war, gebe ichhier – insbesondere für den Kollegen von Notz – nocheine Erläuterung zu den Ordnungswidrigkeiten. Ich habedas auch im Ausschuss schon gemacht. Wer so tut, als obOrdnungswidrigkeiten Lappalien wären, hat den Rechts-staat nicht verstanden.
Es gibt Ordnungswidrigkeiten, die mit hohen Bußgeld-summen bewehrt sind,
insbesondere im Umweltbereich. Schönen Gruß an dieeigenen Kollegen!
– Ich kann das gut. Wenn Sie das nicht können, ist dasnicht mein Problem.
Das gilt aber auch für den Datenhandel. Beim Datenhan-del zum Beispiel braucht man vielleicht die dynamischeIP-Adresse. Wenn man sie nicht bekommt, kann man dieentsprechende Ordnungswidrigkeit nicht verfolgen.Wenn man heutzutage die dynamische IP-Adresse abfra-gen würde, würde jeder, der davon betroffen ist, wenigs-tens im Nachhinein benachrichtigt. Als Sie noch regierthaben, haben Sie darüber nicht einmal nachgedacht.
Es gab keine nachträgliche Benachrichtigungspflicht.Das heißt, wir machen den Rechtsstaat hier besser, nichtSie.
Ehrlich gesagt, habe ich auch von den Grünen nochkeinen Aufschrei gehört, wenn ein Kennzeichen als Be-standsdatum für eine Verkehrsordnungswidrigkeit, diemit einem Bußgeld von 5 Euro bewehrt ist, abgerufenwird. Ich habe von Ihnen noch nie gehört, dass Sie sichdagegen wehren.
Von daher finde ich, Sie sollten sich gut überlegen, wasSie hier tun.Wir haben den § 113 TKG noch einmal neu gefasst.Das war auch ein Ergebnis der Anhörung. Wenn es im-mer wieder heißt, Anhörungen würden nichts bringen,kann ich für meine Fraktion sagen: Uns hat die Anhö-rung doch noch einen Erkenntnisgewinn gebracht, denwir auch umgesetzt haben. Wir haben insofern rechts-staatliche Hürden eingezogen, als es einen Richtervorbe-halt oder eine Benachrichtigungspflicht geben soll. Füruns ist auch immer sehr wichtig, dass wir keine neuenBefugnisse schaffen. Wer etwas anderes sagt, hat denGesetzentwurf nicht verstanden.Von daher kann ich nur sagen: Wir sind sehr gespannt,wie sich die Länder, in denen Sie an der Regierung betei-ligt sind, verhalten werden. Denn eins ist klar: Nicht nur
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Gisela Piltz
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der Bund muss seine Sicherheitsgesetze ändern, sondernauch alle Länder müssen ihre Sicherheitsgesetze ändern.
Wir haben in unserem Gesetzentwurf hohe rechtsstaatli-che Hürden vorgesehen. Ich würde mich freuen, wenndem alle Länder folgen würden. Ich glaube aber, sie wer-den es nicht tun. Wir werden sehr genau verfolgen, Herrvon Notz, ob insbesondere die Grünen nur aufschreienoder ob sie tatsächlich etwas für den Rechtsstaat tun.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Jan
Korte das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal, liebe Kollegin Piltz, lieber KollegeHartmann: Ich finde, es ist eine sehr gesunde Entwick-lung, dass es bei vielen Bürgerinnen und Bürgern einenReflex – von mir aus auch einen Pawlow’schen Reflex –auslöst, wenn wir im Bundestag über Bürgerrechte undDaten diskutieren. Es ist eine gute Entwicklung, dass dieLeute im Hinblick auf das, worüber wir hier diskutieren,skeptisch sind. Das ist eine hervorragende Entwicklung,die ich außerordentlich begrüße.
Nun ist es so: In der Tat ist der Gesetzentwurf, derheute vorliegt, besser als der Gesetzentwurf, der vorhervorgelegen hat. Aber er ist deswegen leider noch immernicht gut. Liebe Kollegin Piltz, die Kernfrage lautetdoch: Wann rückt man was heraus, und unter welchenAuflagen tut man das?
Hier gibt es zwischen uns einen Dissens, was den heutevorliegenden Gesetzentwurf angeht. Denn – das habenSie richtig gesagt – es geht bei PINs, IP-Adressen undPUKs in der Tat um sehr sensible Daten. Es geht aberauch um die Frage: Wie regeln wir den Zugriff, den dieSicherheitsbehörden darauf haben möchten, und zwarlogischerweise in großem Umfang? Richtig ist auch: DasBundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass eine all-gemeine Auskunftspflicht verfassungskonform ist. Des-wegen diskutieren wir heute über die Ausgestaltung. Daliegt der Dissens.Die nächste Anmerkung, die ich machen will. Wenneine ganz große Koalition in diesem Haus, also CDU/CSU und SPD – das muss einen schon skeptischmachen – zusammen mit der FDP einen Gesetzentwurfzur inneren Sicherheit hochjubelt, sind größte Vorsichtund Skepsis geboten.
Deswegen schrillen bei allen, die sich mit diesem Themabeschäftigen, die Alarmglocken.
Nun konkret zu einigen Punkten:Punkt eins: der hochgerühmte Richtervorbehalt, zumBeispiel im Hinblick auf PINs und PUKs.
Er ist in der Tat ein Fortschritt dieses Gesetzentwurfs.
Aber diese Regelung ist nicht einmal ansatzweise ausrei-chend, zumal diese Anordnung bei Gefahr im Verzug be-kanntermaßen – so steht es im Gesetzentwurf – durch ei-nen Staatsanwalt oder einen Polizeibeamten erfolgenkann und dann eine nachträgliche Benachrichtigungstattfinden muss.
Das geht an der Realität völlig vorbei. Das bedeutetnämlich konkret die Aushebelung des Richtervorbehalts.Das kritisieren wir.
– Ich sage dazu etwas, Kollege Hartmann.Zweiter Punkt: die Benachrichtigungspflicht. In derAnhörung war klar: Eine Benachrichtigungspflicht musses bei allen Eingriffen geben. Vorgesehen ist aber eineEinschränkung der Benachrichtigungspflicht – ich darfaus dem Gesetzentwurf zitieren –:Die Benachrichtigung erfolgt, soweit und sobaldhierdurch der Zweck der Auskunft nicht vereiteltwird. Sie unterbleibt, wenn ihr überwiegendeschutzwürdige Belange Dritter oder der betroffenenPerson selbst entgegenstehen.
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28916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Jan Korte
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Übersetzt bedeutet das nichts anderes, als dass es realzu fast gar keinen Benachrichtigungen kommen wird;denn diese Formulierung lässt sich immer so interpretie-ren, dass nicht benachrichtigt werden muss. Das musskritisiert werden.
Übersetzung ist also notwendig bei den schönen Worten,die Sie hier vorgelegt haben, um das Ganze zu verschlei-ern.Dritter Punkt: Die Abfrage von Kommunikations-daten ist bei allen Straftaten und Ordnungswidrigkeitenmöglich. Da müssen wir einmal festhalten, dass es krassunverhältnismäßig ist bei solch sensiblen Daten, damitOrdnungswidrigkeiten aller Art zu verfolgen. Das kannhier doch nicht allen Ernstes als fortschrittlich verkauftwerden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
– Lieber Kollege Hartmann, man hätte – wie es in derSachverständigenanhörung vorgeschlagen wurde; ichglaube, dieser Vorschlag kam sogar von Ihren Sachver-ständigen – im Falle der Ordnungswidrigkeiten zumin-dest konkret etwas aufführen können; aber das ist leidernicht geschehen.Vierter Punkt. Durch die Kompetenzen, die hier ein-geräumt werden, wird das BKA weiter zu einer allum-fassenden Internetpolizei ausgebaut.
– Das ist eindeutig so. – Auch das ist zu kritisieren. Daswollen wir nicht.
Ich fasse zusammen: Was die ganz große Koalitionhier vorgelegt hat und mit großem Brimborium als eineVerbesserung verkauft, ist, um es einmal in der extrems-ten Form diplomatisch auszudrücken, Augenwischerei.
Es ist eine Ausweitung von Überwachungsbefugnissen.Wir brauchen aber eine massive Beschränkung und Ein-schränkung von Überwachungsbefugnissen. Deswegenwird die Fraktion Die Linke diesen Gesetzentwurfselbstverständlich ganz deutlich ablehnen.Schönen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der KollegeDr. Konstantin von Notz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Diese Debatte am späten Abend mutet wirklichmerkwürdig an. Erst hat die Koalition trotz des drohen-den Ablaufs der Frist, die das Bundesverfassungsgerichtgesetzt hat, monatelang wichtige Zeit verstreichen las-sen, dann hat sie hier in den letzten Tagen einmal mehrmit heißester Nadel eine ungenügende Gesetzesände-rung zusammengestrickt. Jetzt zanken sich SPD, FDPund Union, wer denn nun den Hauptanteil an dieser frag-würdigen Vorlage hat.
An Ihre jeweilige Verantwortlichkeit – das kann ich Ih-nen heute zusichern – werden wir Sie erinnern, wenndiese Regelung in Karlsruhe schon bald erneut geprüftwird, meine Damen und Herren.
Tatsächlich bringen Sie einen Entwurf ein, durch dender Grundrechtsschutz nicht erhöht, sondern abgesenktwird. Sie erweitern – Frau Piltz, Sie wissen das – die Be-fugnisse der Sicherheitsbehörden, anstatt sie zu begren-zen.
Weder das BKA noch das Zollkriminalamt hatten bis-lang eigenständige, allein auf ihre Zentralstellenfunktiongestützte Zugriffsbefugnisse. Jetzt bekommen sie sie.Mit Verdacht oder Gefahr hat das aber auch gar nichts zutun. Das ist das Vorfeld des Gefahrenvorfelds. Das ge-fällt Herrn Uhl bestimmt; aber Ihnen kann das dochkaum gefallen, Frau Piltz.
Die nachträgliche Benachrichtigungspflicht, auf dieSie sich hier berufen, ist nicht einmal ein Feigenblatt; sieist die nahezu schwächste Form des Grundrechtsschut-zes durch Verfahren.
Diese Benachrichtigungspflicht läuft, wie etwa bei denmillionenfachen Funkzellenabfragen in Berlin und Dres-den, in der Regel ins Leere; der Kollege Korte hat es Ih-nen eben erklärt.
Ähnlich ist es mit dem Richtervorbehalt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28917
Dr. Konstantin von Notz
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Der Sachverständige Professor Bäcker – Ihr Sachver-ständiger, Frau Piltz – hat völlig zu Recht die wachsendeSkepsis der Rechtswissenschaft gegenüber dem Instru-ment des Richtervorbehalts zum Ausdruck gebracht.
Gleichzeitig hat er die Bedeutung des Richtervorbehaltsfür das Telekommunikationsgeheimnis betont. Er hatrecht: Hier müssen wir den Richtervorbehalt stärken.SPD, Union und FDP halten den Richtervorbehaltausschließlich für PIN- und PUK-Abfragen für ange-bracht. Das ist zwar ein richtiger Schritt, Herr KollegeHartmann; aber er ist eben zu kurz. Der Zugriff auf dy-namische IP-Adressen hätte ebenfalls unter den Richter-vorbehalt gestellt werden müssen – aber unter einen, derden Namen auch verdient.Schließlich: Auch die vom Berliner Datenschutzbe-auftragten dringend angeratene unabhängige Evaluationschlagen Sie aus, Frau Piltz. Wir haben eine Beobach-tungspflicht zum Schutz dieses zentralen Grundrechts,
und dieser Pflicht werden Sie von der FDP, Sie von derCDU/CSU und Sie von der SPD nicht gerecht.
Das alles wollen Sie entgegen der Forderung der Da-tenschutzbeauftragten selbst für Abfragen bei kleinstenOrdnungswidrigkeiten legalisieren. Ihr neues Interessefür den Umweltschutz in Ehren, Frau Kollegin, aber esgeht darum, Schwellen einzuziehen, und genau da habenSie versagt.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält gravierendeneue Eingriffe sowohl in das Telekommunikationsge-heimnis als auch in das Recht auf informationelle Selbst-bestimmung.
Wieder einmal werden die Befugnisse der Sicherheitsbe-hörden ausgebaut statt eingehegt. Dass Sie hier einfachdreist das Gegenteil behaupten, macht es nicht besser.Ihr Mantra „Neue Befugnisse werden für die Sicher-heitsbehörden mit dem Entwurf nicht geschaffen“ istnachweislich falsch.Der Grundrechts- und Datenschutz sollte ja ein wich-tiges Thema der schwarz-gelben Koalition in dieser Le-gislatur werden. Sie haben auf ganzer Linie versagt: Siehaben ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vergeigt; IhreStiftung Datenschutz ist eine unterfinanzierte Lachnum-mer, bei der alle wesentlichen Akteure gar nicht erst mit-machen;
beim Internetdatenschutz und bei der roten Linie gibt eseinen schwarz-gelben Totalausfall; das Innenministe-rium weiß bis heute nicht, Herr Kollege Staatssekretär,welche Agenda es in Sachen Datenschutz-Grundverord-nung denn nun hat, und heute kommen Sie – in Reaktionauf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – im Eil-verfahren mit Regelungen um die Ecke, die die Be-standsdaten nicht etwa besser schützen, sondern ihremassenhafte Abfrage vereinfachen.Das alles veranstaltet die schwarz-gelbe Koalition zu-lasten des Daten- und Grundrechtsschutzes der Bürge-rinnen und Bürger –
und das Ganze heute unter freundlicher Mitwirkung einergroßkoalitionär blinkenden SPD. Das ist sehr bedauerlich.Ganz herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neurege-lung der Bestandsdatenauskunft.Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/12879, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12034 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Linken und der Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaMöhring, Yvonne Ploetz, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVerbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbe-handlungsgesetz implementieren– Drucksache 17/11590 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDie Reden sollen mit Ihrer Erlaubnis zu Protokollgenommen werden.1)1) Anlage 2
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28918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11590 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung der Regulierung im Eisenbahnbe-reich– Drucksache 17/12726 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstemRedner dem Parlamentarischen Staatssekretär EnakFerlemann das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eisenbahnverkehr kann man betreiben, aber man kannihn besonders gut betreiben, wenn es einen Wettbewerbgibt.
Wettbewerb führt dazu, dass man mit der gleichen In-frastruktur und der gleichen Ausstattung mehr Dienst-leistungen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Fah-rerinnen und Fahrer und insbesondere auch für denGüterverkehr zur Verfügung stellt.Hierfür sieht die Europäische Kommission im We-sentlichen zwei Ansätze: Entweder trennt man Netz undBetrieb. Das heißt, auf der einen Seite gibt es den Betrei-ber der Infrastruktur, und auf der anderen Seite gibt esviele Betreiber, die den Betrieb sicherstellen. Oder manhat ein sogenanntes integriertes Modell. Das heißt, esgibt einen Betreiber der Infrastruktur, der aber durchausauch Betreiber des Betriebes, zumindest in Teilen, seinkann.Beide Lösungen sind nach derzeitiger Lage im viertenEisenbahnpaket vorgesehen. Wir werden es noch inten-siv beraten. Der Verkehrsausschuss hat die Beratungendazu aufgenommen. Wir werden dazu sicherlich nochgroße Debatten haben.Wenn man sich aber dafür entscheidet – was die Bun-desregierung getan hat –, die Bahninfrastruktur in einemintegrierten Modell zu betreiben, dann muss man eineRegulierung haben. Voraussetzung für Wettbewerb istein diskriminierungsfreier Zugang zum Netz und zu denInfrastruktureinrichtungen. Hierzu bedarf es der Kon-trolle, dass ein Monopolist nicht die Preise festsetzt, dieer möchte, sondern die Preise, die ein Markt festsetzenwürde. Dazu bedarf es einer Simulierung des Marktes.Deswegen legen wir Ihnen heute den Entwurf einesEisenbahnregulierungsgesetzes vor. Dieses Gesetz zähltsicherlich zu den sehr wichtigen Gesetzgebungsvorha-ben im Verkehrssektor in dieser Legislaturperiode.
Ich bin sehr dankbar, dass so viele Kolleginnen und Kol-legen trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit gekommensind, um über diesen Gesetzentwurf in erster Lesung zuberaten.
Dieser Gesetzentwurf wurde auch im Bundesrat bera-ten. Der Bundesrat hat viele sehr positive Anmerkungengemacht und auch einige Veränderungen vorgeschlagen.Wir haben viele Änderungswünsche des Bundesrates inunseren Gesetzentwurf übernommen, einige aber nicht,weil die Wünsche des Bundesrates häufig weit über dieeigentlichen Regelungen im Gesetz hinausgingen.So legen wir Ihnen heute eine Entgeltregulierung vor,die im Wesentlichen mit den Mitteln der Anreizregulie-rung arbeitet. Das heißt, dass wir den Markt simulierenund die Bundesnetzagentur, die das für uns macht, mitdiesem Gesetzentwurf deutlich stärken. Das ist gut undrichtig so.Wir haben uns nach langer Debatte dafür entschieden,auch die Investitionen in die Infrastruktur der Anreiz-regulierung zu unterwerfen – mit einer einzigen Aus-nahme, da wir – Kollege Burkert, auch Sie haben daraufhingewiesen – im Bereich der Wartung schon einenMarkt haben. Wir werden hier eine gesonderte Untersu-chung durchführen, ob wir auch diesen Markt der An-reizregulierung unterwerfen oder ob der Markt schon soweit vorhanden ist, dass wir diese Anreizregulierungnicht brauchen und womöglich mehr Schaden als Nutzenanrichten würden. Aber ansonsten wenden wir die An-reizregulierung an.Ich glaube, das ist genau der richtige Weg, um zumehr Wettbewerb zu kommen, um die Monopolisten beiuns, die Eisenbahninfrastrukturunternehmen, zu einer ef-fizienten und effektiven Investition ihrer Mittel zu brin-gen, damit wir möglichst viel Eisenbahn, Infrastrukturund Dienstleistung für das bereitgestellte Geld bekom-men. Die Nutzer der Schienenwege, der Bahnhöfe, derEinrichtungen sollen einen einfachen Zugang zu der ent-sprechenden Infrastruktur haben, und die Dienstleistung,sei es nun im Personenverkehr oder im Güterverkehr,soll den Nutzern über die Fahrpreise möglichst günstigbereitgestellt werden.Dafür dient der heute vorgelegte Gesetzentwurf derBundesregierung. Ich hoffe, dass wir gemeinsam nachzügiger Beratung in den Ausschüssen in zweiter unddritter Lesung zu einer Beschlussfassung kommen undwir dann möglichst zügig dieses Gesetz umsetzen kön-nen; denn es dient dem Wettbewerb. Es dient dem Eisen-
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Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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bahnsektor. Es dient dazu, dass Menschen Eisenbahn-infrastruktur günstiger nutzen können und dass vor allemder Güterverkehr günstiger genutzt werden kann. Damitsoll der Eisenbahnsektor insgesamt noch leistungsfähi-ger aufgestellt werden, als er in Deutschland schon ist.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Sören Bartol
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Latte liegt jetzt hoch. – Worum geht es bei der Neuord-
nung der Regulierung im Eisenbahnbereich? Die zentra-
len Fragen sind: Wie stellen wir uns den zukünftigen
Schienenverkehr in Deutschland vor? Welche Kapazitä-
ten an Verkehrsaufkommen soll der Schienenverkehr in
Zukunft überhaupt bewältigen? Bei näherer Betrachtung
Ihres Regierungsentwurfs und Ihrer bisherigen bahnpoli-
tischen Aussagen bekommt man Zweifel, ob Sie über-
haupt eine Vorstellung von einem zukunftsfähigen Bahn-
verkehr haben.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben unser Ziel
klar benannt: Wir wollen einen funktionierenden, leis-
tungsfähigen und bezahlbaren Schienenverkehr. Dies ge-
hört für uns zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Hier ist
für uns der Bund in der Pflicht. Er hat den Ausbau und
den Erhalt des Schienennetzes der bundeseigenen Eisen-
bahn sowie dessen optimale Nutzung im Personenfern-
und Güterverkehr als Teil der öffentlichen Daseinsvor-
sorge zu gewährleisten.
Im Rahmen unseres Infrastrukturkonsenses haben wir
eine neue Netzstrategie für die Schiene entwickelt. Dazu
gehören unter anderem der Ausbau der Kapazität des
Schienennetzes, die Verbesserung des Lärmschutzes,
faire Preise für die Nutzung der Infrastruktur und natür-
lich ein diskriminierungsfreier Zugang für alle Wettbe-
werber. Das Thema Eisenbahnregulierung sehen wir da-
her nicht wie die Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP isoliert als leidigen Aufgabenpunkt einer
Task-Liste, die man eben abzuarbeiten hat, wenn man re-
giert. Wir sehen sie eingebettet in eine umfassende Netz-
strategie. Erst dann ist es sinnvoll, über eine Regulierung
des Schienenverkehrs nachzudenken.
Halten wir also fest: Fragen der Regulierung der Ent-
gelte, des Zugangs zum Netz und den Serviceeinrichtun-
gen sowie die wirksame Kontrolle der Einhaltung vor-
handender Regulierungen sind für uns integraler
Bestandteil einer umfassenden Netzstrategie. Dabei hal-
ten wir Wettbewerb im Schienenverkehr für notwendig.
Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um
mehr Verkehr zu günstigeren Preisen auf die Schiene zu
bringen und vorhandene Netzkapazitäten besser zu nut-
zen. Das heißt, wir wollen einen funktionierenden Wett-
bewerb im Schienenverkehr. Einen solchen Wettbewerb
wollen wir auch fördern. Aber Wettbewerb darf nicht
einseitig auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen
werden und zu Dumpinglöhnen und niedrigeren Sozial-
standards führen. Wo Wettbewerb funktionieren soll, be-
nötigen wir Regeln, dies umso mehr, wenn es sich wie
bei der Eisenbahninfrastruktur um ein Monopol handelt.
Was Sie aber machen, ist überholte Theorie aus dem
volkswirtschaftlichen Grundstudium. Ob nun Vollkos-
tenprinzip, Anreizregulierung oder Price-Cap-System:
Sie verlieren dabei das Augenmaß und den Blick für die
Besonderheiten des Eisenbahnsektors.
Faire und transparente Trassen- und Stationspreise sind
das eine Thema. Aber warum laut Ihres Regierungsent-
wurfs jeder Fahrkartenschalter auch noch die Fahrkarten
der Mitbewerber verkaufen soll, ist wenig nachvollzieh-
bar. Man stelle sich vor, die Lufthansa solle an ihrem
Schalter jetzt auch die Tickets von Air Berlin verkaufen.
Das gäbe mit Sicherheit eine interessante Diskussion,
die da auf Sie zukäme.
Was aber völlig fehlt in Ihrem Gesetzentwurf, ist noch
etwas grundsätzlich anderes, nämlich die Beantwortung
der Fragen, welche zusätzlichen Befugnisse die zustän-
dige Regulierungsbehörde im Detail bekommt, und wer
diese Regulierungsbehörde eigentlich reguliert. Wie soll
eigentlich das Verhältnis zwischen Eisenbahn-Bundes-
amt und Regulierungsbehörde aussehen? Da bekommt
die eine Behörde ein bisschen was weggenommen und
die andere eine Scheibe dazu, und dann gibt es da auch
noch den Bundesrechnungshof. Jetzt soll auf einmal al-
les perfekt geregelt sein.
Hinzu kommt noch ein sehr wichtiger Aspekt: Kom-
petenz beim Eisenbahn-Bundesamt, bei der Bundesnetz-
agentur und bei der Deutschen Bahn AG ist schön und
gut. Wir wollen aber, dass auch der Bund als Eigentümer
politische Führung zeigt. Kompetenz im BMVBS ist ge-
fragt. Und was machen Sie? Sie dünnen Ihr Eisenbahn-
personal immer weiter aus und verlieren dadurch Fach-
wissen und damit Gestaltungshoheit.
Ich bleibe dabei: Ohne Einbettung in eine umfassende
Gesamtstrategie schwebt Ihr Regulierungsentwurf im
luftleeren Raum. Ihr Gesetz löst nicht die Probleme des
Schienenverkehrs. Es ist nicht geeignet, mehr Verkehr
auf die Schiene zu bringen. Ihr Gesetzentwurf lässt we-
sentliche Fragen offen. Er sollte aber das Gegenteil tun.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege OliverLuksic.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten heute in erster Lesung über den Entwurf einesGesetzes zur Neuordnung der Regulierung im Eisen-bahnbereich, ein wichtiges Vorhaben aus dem Koali-tionsvertrag.Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode da-rauf verständigt, das Regulierungsrecht zu überarbeiten.Insbesondere die Trassen- und Stationspreise wollen wireiner Anreizregulierung unterwerfen. Wir haben aberauch den eben angesprochenen Zugang zu Serviceein-richtungen sowie den Bezug von Bahnstrom und Ver-triebsleistungen als regulierungsbedürftig erkannt. Esgeht in der Tat darum, wie Kollege Bartol eben ange-sprochen hat, die Bundesnetzagentur zu stärken. Damitist das, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben ha-ben, aufgegriffen.
Es geht bei der Entgeltregulierung vor allem um dieÜberarbeitung des Regulierungsrechts. Das Ganze ist er-forderlich, weil wir eine Behinderung und Diskriminie-rung von konzernexternen Bahnunternehmen durch diePreisgestaltung der DB-Infrastrukturgesellschaften ver-hindern wollen. Wir wollen die Effizienz vor allem beider Infrastrukturbereitstellung erhöhen. Der Regulie-rungsbedarf eines voll integrierten Infrastrukturbetrei-bers ist durch den Beherrschungs- und Gewinnabfüh-rungsvertrag mit der DB-Holdinggesellschaft derWeisungsbefugnis des Konzernvorstands unterworfen.Deswegen sieht der Regierungsentwurf vor, die Tras-senentgelte für die Nutzung des Schienennetzes, aberauch die Stationsentgelte für die Benutzung der Perso-nenbahnhöfe zukünftig von der Bundesnetzagentur prü-fen und genehmigen zu lassen. Die Bundesnetzagenturmuss daher im Sinne einer Anreizregulierung daraufachten, die Infrastrukturunternehmen zu Kostenreduzie-rungen und Effizienzgewinnen zu veranlassen. Ichglaube, Kollege Bartol, hier sind wir uns einig, dassdurchaus noch Potenziale zu heben sind.Es lässt sich nicht bestreiten – die Kritik ist nicht ganzunberechtigt –, dass die Vorlage des Regierungsentwurfsspät erfolgt. Das liegt daran, dass erste Entwürfe nichtdem entsprochen haben, was unserer Meinung nach not-wendig war.
Nichtsdestotrotz haben wir das jetzt in einigen Punktenmeines Erachtens klar verbessert. Vor allem haben wirdie Versorgung von Eisenbahnen mit Fahrstrom in dasGesetz aufgenommen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt,um für Wettbewerb zu sorgen; denn der Bahnstrom istein wesentlicher Kostenfaktor für die Eisenbahnver-kehrsunternehmen, die im Wettbewerb stehen.Auch die Regulierung von Vertriebsleistungen ist einwichtiger Punkt, der aufgenommen werden musste. Beiden weiteren Diskussionen wird eine wesentliche Rollespielen, in welchem Umfang Investitionen und Instand-haltungsmaßnahmen in der Entgeltregulierung von derÜberprüfung durch die Bundesnetzagentur ausgenom-men werden. Auch hier haben wir die ersten Entwürfeein Stück weit verbessert.Wichtig war für uns vor allem der eben angespro-chene Teil – der steht im dritten Teil des Gesetzentwurfs –zur Regelung der Struktur der Unternehmen. Es war fürdie Bundestagsfraktion der FDP wichtig, dass wir in die-sem Gesetz, in das diese Regelung nicht hineingehört,keine abschließenden Entscheidungen über Konzern-strukturen treffen. Wir sind der Ansicht, dass es hier eineWechselbeziehung zum europäischen Recht gibt. Des-wegen haben wir es abgelehnt, falsche Vorfestlegungenzu treffen; denn je stärker der Eisenbahnsektor in Gestaltdes Konzerns Deutsche Bahn AG vertikal integriert ist,desto höher ist das Regulierungsbedürfnis.Es ist bekannt, dass die Bundestagsfraktion der FDPweiterhin für Unbundlings, also eine stärkere Unabhän-gigkeit der Infrastrukturgesellschaften von der Konzern-leitung, ist; ideal wäre eine konsequente Trennung vonNetz und Betrieb. Auch wenn die Europäische Kommis-sion ein Stück weit von ihren Vorgaben abgerückt ist, hatsie dieses Thema weiterhin auf der Tagesordnung.
Klar ist aber auch, dass dieses Thema hier jetzt nichtauf der Tagesordnung steht. Wir haben es im Ausschuss– Stichwort viertes Eisenbahnpaket – andiskutiert. DieKommission ist zwar nicht ganz so weit gegangen, wiees sich die FDP erhofft hatte. Aber wir wollen klar fest-halten, dass der Fortbestand des jetzigen integriertenHoldingmodells mit dem derzeit existierenden Beherr-schungs- und Abführungsvertrag zwischen Holding undden Infrastrukturgesellschaften mit dem, was die EU-Kommission vorlegt, nicht vereinbar ist.
Deshalb bleibt abzuwarten, wie die Beratungen imBundestag laufen. Sie werden mit Sicherheit auch wei-terhin spannend bleiben. Deswegen ist es unsinnig, die-ses Thema hier im Gesetz aufzugreifen. Das würde dienotwendigen Sachdebatten nur erschweren. Deswegenhaben wir uns auf die wichtigen Passagen konzentriertund freuen uns, dass der Bundesrat Vorschläge macht,die nach Meinung der FDP-Bundestagsfraktion bei vie-len Punkten in die richtige Richtung gehen. Wir haben,wie Staatssekretär Ferlemann angesprochen hat, guteAnregungen aufgenommen. Ich verweise beispielsweiseauf die Ziffer 2, wo es um Ausnahmemöglichkeiten fürNebenbahnen geht.Wir müssen uns jetzt aber auf die wettbewerbsrele-vanten Bereiche konzentrieren. Darüber werden wir imAusschuss diskutieren. Dort wird es eine umfassendePrüfung geben. Es sind schon einige Aspekte genanntworden. Ich gehe davon aus, dass Kollegin Wilms deneinen oder anderen Punkt aufgreifen wird.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird entscheiden, inwelchem Umfang sie dem Bundesrat weiter entgegen-
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Oliver Luksic
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kommen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dassdas vorliegende Gesetz die Schiene stärkt und zu mehrWettbewerb durch Regulierung von Trassenpreisen,Bahnstrom und Fahrkartenvertrieb führt. Deswegen istes ein gutes Gesetz. Wir hoffen, dass wir zusammen mitdem Bundesrat dieses Gesetzesvorhaben zielstrebig undschnell zu Ende führen können.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leidig von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es istnichts Neues, dass wir der Meinung sind, dass Wettbe-werb auf der Schiene in Wirklichkeit gar nicht stattfin-det, weil auf einer Strecke immer nur ein Zug zu einembestimmten Zeitpunkt fahren kann und die Fahrgästesich daher keinen anderen Zug aussuchen können. Inso-fern ist dieses Wettbewerbsgerede ausgesprochen frag-würdig.Wir finden überhaupt nicht, dass es eine Erfolgsbilanzgibt, die 1994 mit der Strukturreform der Eisenbahn be-gonnen hat. Wir sind der Meinung, dass das Gegenteilder Fall ist, und schließen uns da dem ausgesprochenfindigen und eifrigen Bündnis „Bahn für Alle“ an, das indiesem Jahr wieder einen alternativen Geschäftsberichtveröffentlicht hat – Sie haben das vielleicht wahrgenom-men –, und zwar pünktlich zur Vorlage der Bahnbilanz,in der groß tönend wieder ein Supergewinn verkündetwurde.
Aber wenn man solche Aktiengewinne der DeutschenBahn AG bejubelt, ohne dass die gesamtgesellschaftli-chen Kosten in Betracht gezogen werden, dann hat manvon nachhaltigem Wirtschaften wirklich nichts verstan-den.
Der Gewinn in Höhe von 900 Millionen Euro der DBNetz AG – quasi eine Gewinnmaschine – kommt prak-tisch ausschließlich aus öffentlichen Mitteln. Dieser Ge-winn wird umetikettiert und der demokratischen Ein-flussnahme entzogen. Zur gleichen Zeit verschlechtertsich der Zustand des Netzes – das müssen wir immerwieder konstatieren. Auch gibt es eben keinen gesteiger-ten Marktanteil der Schiene. Es gibt eine Stagnation imFernverkehr und nur Zuwächse im Nahverkehr, wo eineganz andere Form der öffentlichen Einflussnahme exis-tiert.
Ich freue mich, dass der Kollege Bartol von der SPDinzwischen auch der Meinung ist, dass diese Ausrich-tung der Deutschen Bahn AG in Richtung Marktorientie-rung nicht gut ist. Ich hoffe, dass sich da irgendwann et-was ändert; denn die Börsenausrichtung ist auch unterIhrer Mitwirkung organisiert worden.Wenn ich mir die einzelnen Vorschläge in Ihrem Re-gulierungsgesetz anschaue, dann kann ich nur sagen: Ei-nige sind interessant. Beispielsweise wollen Sie etwasfür eine leisere Bahn tun, und zwar über lärmabhängigeTrassenpreise. Das kann man natürlich machen, wennman marktgläubig ist. Man kann aber auch einfach sa-gen: Wir wollen, dass die Züge leiser werden, und schrei-ben deshalb vor – so macht es die Schweizer Bahn –, dasszu einem bestimmten Zeitpunkt keine lauten Güterzügemehr fahren dürfen. Dann braucht man nicht dieseskomplizierte bürokratische Ungetüm der lärmabhängi-gen Trassenpreise.
Sie wollen, dass Dritte Fahrkartenautomaten auf denBahnhöfen aufstellen können. Das kann man natürlichmachen, wenn man will, dass große Verwirrung entsteht.Ich kann Ihnen versichern: Das Problem der Fahrgäste,die die Bahn nutzen, ist nicht, dass sie zu wenig Fahrkar-tenautomaten vorfinden. Das Problem ist, dass es an denBahnhöfen oft überhaupt kein Personal mehr gibt, dassdie dort stehenden Automaten häufig kaputt sind unddass die Bahnhöfe nicht barrierefrei sind. Ich glaubenicht, dass irgendeinem Fahrgast damit geholfen ist,wenn er auch noch zwischen drei verschiedenen Auto-maten und drei verschiedenen Anbietern von Fahrkartenauswählen soll. Damit schaffen Sie keine Verbesserungdes Eisenbahnverkehrs.
Sie wollen eine Anreiz- und Entgeltregulierung ein-führen, die dann von einem bürokratischen Monstrumkontrolliert wird.
Und ich finde es interessant, dass Sie das deshalb ma-chen wollen, weil Sie davon ausgehen, dass Diskriminie-rung und Missbrauch stattfinden. Diese Diskriminierungund dieser Missbrauch finden offensichtlich statt, weileine Marktorientierung durchgesetzt wird, die die Deut-sche Bahn AG dazu bringt, solche Geschäftspraktiken anden Tag zu legen. Ich glaube, das ist der eigentlichePunkt.Man muss, wenn man die Probleme anschaut, sich dieMühe machen, an ihre Quelle zu gehen. Diese Quelle be-steht darin, dass die Deutsche Bahn AG auf Bilanzge-winn getrimmt wird, dass sie am Aktienkurs und ebennicht am Gemeinwohl orientiert ist. Die Regulierung, dieman braucht, ist – wie es in der Schweiz stattfindet –eine politische Vorgabe von Zielen, wie Beförderungs-kilometern, die angeboten werden müssen, einem ver-nünftigen Deutschlandtakt, ordentlicher Infrastruktur. Esdarf nicht um Gewinne gehen, die aus dem Netz heraus-gezogen werden – zulasten der öffentlichen Bahnen, diein den Regionen fahren, und letztlich zulasten der Fahr-gäste.
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Jetzt ist Ihre Redezeit aber zu Ende.
Wir wollen eine Bahn für alle, eine Bahn, die am All-
gemeinwohl ausgerichtet ist.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin
Dr. Valerie Wilms.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste, die Sie hier noch zu so später Stunde anwe-
send sind! Sie erleben wieder einmal eine typische Ei-
senbahndebatte. Solche Debatten finden häufig zu die-
sen Zeiten statt. Ich muss mich erst einmal beruhigen
wegen des Blicks der lieben Kollegin Leidig zurück in
die Vergangenheit, Stichwort „Behördenbahn“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab in der Politik
lange einen seltsamen Irrglauben: Es wurde gedacht,
dass mehr Markt in erster Linie weniger Regeln bedeu-
tet. Das alte Schlagwort hieß: Der Markt wird es schon
regeln. Die FDP ist leider dafür bekannt, dass sie dieses
Schlagwort manchmal zu sehr befolgt hat. Der liberali-
sierte Finanzmarkt hat uns wunderbar vor Augen ge-
führt, was dabei am Ende tatsächlich herauskommt.
Die Realität in der Wirtschaft ist aber genau umge-
kehrt: Wer mehr Markt will, der braucht auch funktionie-
rende Regeln. Bei der Eisenbahn ist das ein klarer Auf-
trag an uns, die Politik. Da hier in vielen Bereichen ein
Monopol besteht, müssen wir vernünftig regulieren. Nur
so können wir einen einigermaßen fairen Markt im deut-
schen Schienenverkehr bekommen. Fairer Wettbewerb
bringt Vorteile für die Nutzer. Wo echte Konkurrenz ist,
da fallen die Preise und werden die Angebote besser.
Das kennen wir von der Post und von der Telekom.
Wir müssen jetzt auch dafür sorgen, dass wir endlich
echten Wettbewerb auf der Schiene bekommen. Deswe-
gen ist das Eisenbahnregulierungsgesetz absolut überfäl-
lig. Die Bundesregierung hat das Gesetz lange schleifen
lassen. Jetzt, fast am Ende der Wahlperiode, kommen Sie
endlich in die Gänge. Es besteht ganz klar die Gefahr,
dass wir gar keine Regulierung mehr bekommen. Denn
anscheinend ist das Ganze in der Koalition – wir haben
es eben selber gesehen – heftig umstritten. Ich frage
mich, ob Sie in dieser Koalition in Abwicklung
auf ein Scheitern spekulieren, weil Ihnen Ihr eigenes Ge-
setz nicht geheuer ist.
Dieses Gesetz gefällt nicht unbedingt unserem bun-
deseigenen Unternehmen Deutsche Bahn. Aber das ist
doch nicht entscheidend. Oder macht jetzt eine Aktien-
gesellschaft die Gesetze? Das ist immer noch unsere
Aufgabe hier in dieser gesetzgebenden Körperschaft. Es
kommt darauf an, dass öffentliche Gelder auch im Bahn-
verkehr sinnvoll eingesetzt werden und nicht in der
DB Holding versickern. Ich schaue an dieser Stelle zu
Herrn Kollegen Burkert.
Dieses Gesetz kann wirklich substanzielle Verbesse-
rungen gegenüber dem Status quo bringen. Die Bundes-
netzagentur bekommt deutlich mehr Informationsrechte
und könnte die Kosten im Schienennetz und bei den Per-
sonenbahnhöfen endlich überprüfen. Damit würde trans-
parent werden, wo Effizienzen bestehen oder wo Geld
verplempert wird.
– Kollegin Leidig, es hilft nichts, sich aufzuregen. –
Langfristig würde dies zu echten Produktivitätssteige-
rungen und damit zu Senkungen der Entgelte führen.
Leider fehlt die absolut letzte Konsequenz; denn Re-
gionalisierungsmittel können weiter direkt bei der
DB Holding landen. Sie sollen aber für bessere Ange-
bote im Personennahverkehr sorgen. Deswegen müsste
eigentlich die Kappung der Gewinnabführung mit in das
Gesetz. Die Koalition schreckt hier aber davor zurück,
diese Konsequenz endlich zu ziehen – außer Kollege
Luksic; er hat es ja eben gezeigt.
Dabei wäre es nur vollkommen konsequent, schon in
diesem Gesetz auf die Forderungen der EU-Kommission
einzugehen. Wir müssen endlich anerkennen, dass das
deutsche Holdingmodell bei der Bahn ein absolutes Aus-
laufmodell ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein Ge-
setzentwurf vor, der im Kern deutliche Verbesserungen
gegenüber dem derzeitigen Status quo bringen kann. Ich
bin überzeugt, dass wir das Gesetz noch in dieser Legis-
latur schaffen können, wenn wir es wirklich alle wollen.
Wir brauchen jetzt endlich Regeln für einen funktionie-
renden Markt und nicht irgendwelche politischen Dis-
kussionen, die uns nicht weiterführen. Die Bahn ist für
uns alle da. Das müssen wir sicherstellen. Dazu gehört
eine vernünftige Trennung von Transport und Netzbe-
trieb.
Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der KollegeMartin Burkert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28923
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Am Abend werden die Faulen fleißig. – Ein altes
Sprichwort; das trifft hier zu.
Wenn ich das Pferd einmal von hinten aufzäumen
darf: Was wir sicherlich alle am Ende wollen, ist, den
Umstieg auf die Schiene insgesamt zu stärken. Wir wol-
len eine größere Nachfrage und höhere Erlöse. Wir wol-
len sowohl langfristige Beschäftigung als auch den Be-
stand des Schienennetzes sichern. Darin sind wir uns
sicher einig. Wir werden auch den integrierten Konzern
und die Holding aufrechterhalten; Frau Wilms, das wer-
den Sie erleben.
Die Frage ist, ob das Eisenbahnregulierungsgesetz
das richtige Zaumzeug für das Pferd liefert. Ich habe da
so meine Bedenken. Da zwickt es an allen Ecken und
Enden. Ich darf kurz aus dem Gesetzestext zitieren:
Die Entgelte für den Zugang zur Eisenbahninfra-
struktur … müssen angemessen, diskriminierungs-
frei, transparent und dürfen nicht ungünstiger sein,
als sie von den Eisenbahninfrastrukturunternehmen
in vergleichbaren Fällen … angewendet … werden.
Dazu kann man sich schon zwei Fragen stellen, Herr
Ferlemann. Die erste Frage lautet: Inwieweit sind die
Regelungen selbst angemessen? Die zweite Frage lautet:
Inwieweit wird der Verkehrsträger Schiene selbst nicht
ungünstiger behandelt als die anderen Verkehrsträger?
Diese anderen Verkehrsträger bleiben nämlich von ei-
ner verschärften Effizienzkontrolle verschont. Im Stra-
ßenverkehr beispielsweise scheint das sogenannte Gebot
einer sparsamen Haushaltsführung völlig auszureichen.
Herr Ramsauer – das wissen wir mittlerweile – hat ein
großes Herz für die Straße.
Mit der verschärften Regulierung im Schienenverkehr
wird ein neuer Diskriminierungstatbestand gegenüber
den konkurrierenden Verkehrsträgern erst geschaffen.
Fairer Wettbewerb sieht allerdings anders aus. Wenn
das Regulierungsgesetz Angemessenheit und Diskrimi-
nierungsfreiheit fordert, dann sollte es sich an seinen ei-
genen Grundsätzen messen lassen können. Wer A sagt,
muss auch B sagen.
Noch etwas bitte ich zu bedenken: Alle Befugnisse,
die wir der Bundesnetzagentur übertragen, sind auf
Dauer außerhalb der politischen Einflussmöglichkeiten.
Der Minister hat da keine Bauchschmerzen. Aber ich,
lieber Kollege Dirk Fischer, zähle hier auf Sie und auf
Ihre Erfahrung, darauf, dass Sie noch einmal einwirken.
Ich sage Ihnen auch, warum.
Die Bundesnetzagentur wird letztendlich Herrin der
Preise für die Nutzung der Schienenwege und der Perso-
nenbahnhöfe werden; denn sie muss sie am Schluss ge-
nehmigen – und das auf Grundlage eines ebenfalls von
der Bundesnetzagentur zuvor festgelegten Anreizpfades.
Mit diesem werden für einen Zeitraum von etwa fünf
Jahren Preisobergrenzen für verschiedene Leistungen
festgelegt. Die Entgelte dafür müssen dann von Regulie-
rungsperiode zu Regulierungsperiode sinken. Diese
Kombination der Regulierung ist messerscharf.
Wenn man das weiterdenkt, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kommt man darauf: Das Absatzplus bei den
Infrastrukturleistungen, wie gefordert, müsste erst ein-
mal so groß sein, dass es die Umsatzverluste, die aus der
Regulierung folgen, ausgleichen kann. Wenn das nicht
so ist, dann führt das letztlich zum Abbau von Infra-
struktur bei der Schiene in Deutschland und zum Abbau
von Personal im Bereich Netz. Das, glaube ich, wird hier
völlig ausgeblendet.
Für einen fairen Wettbewerb der Verkehrsträger brau-
chen wir einen umfassenden Masterplan Verkehr mit ei-
ner verkehrsträgerübergreifenden Regulierung; da hat
die Bundesregierung bis heute versagt. Wir haben keinen
Masterplan.
Zum Schluss: Es mangelt der Bundesregierung, wie
gesagt, an einem Masterplan; es fehlt das richtige Zaum-
zeug. Sie versuchen, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Ich sage Ihnen: Nicht einmal das gelingt Ihnen. Ich bin
davon überzeugt: Dieser Gaul wird mit Ihrem Minister
durchgehen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Dirk Fischer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Am 2. Dezember 1993 hat der Deutsche Bundestag mitüberwältigender Mehrheit die größte Bahnreform in derGeschichte unseres Landes beschlossen:
558 Jastimmen, bei nur 13 Gegenstimmen und 4 Enthal-tungen. Ich durfte damals dabei sein – in der Tat –, alswir mit der Entscheidung im Bundestag die verlustrei-chen west- und ostdeutschen Behördenbahnen in eineunternehmerisch geführte Eisenbahngesellschaft zusam-mengeführt haben.
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28924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dirk Fischer
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– Ich habe Ihren Zwischenruf erwartet, Frau Leidig. Diearmen Reichsbahner wären verhungert, wenn nichtFranz Josef Strauß mit einem Milliardenkredit zu Hilfegeeilt wäre. Das ist die historische Wahrheit,
auch wenn Sie uns erzählen, die Deutsche Reichsbahnwäre ein Profitunternehmen gewesen. – Nun ist auch dasgesagt.Die staatlichen Schienenwege wurden damals für denWettbewerb mit privaten Eisenbahnunternehmen geöff-net, und die Zuständigkeit für den Schienenpersonen-nahverkehr vom Bund auf die Länder übertragen – na-türlich mit entsprechender finanzieller Begleitmusik.Dieses entspricht der Wirtschafts- und Gesellschaftsord-nung der Bundesrepublik Deutschland, die keine Mono-pole in Bereichen, in denen es um Dienstleistung geht,verträgt. Andere wichtige Reformschritte sind im Laufeder Jahre hinzugekommen.Bis heute ist aber das Jahrhundertprojekt Bahnreformnoch nicht vollständig abgeschlossen. Der Gesetzent-wurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ist ein wei-terer wichtiger Meilenstein, die Ende 1993 eingeleiteteReform erfolgreich fortzuführen.Während wir hier im Bundestag das Eisenbahnregu-lierungsrecht auf eine neue Grundlage stellen wollen,wird in Brüssel das vierte Eisenbahnpaket verhandelt,das teilweise deutlich über unsere Zielsetzung hinaus-geht. Die Vorschläge der Europäischen Kommissionstellen vielfach eine ordnungspolitische Vorgabe zu demdar, was wir jetzt in Deutschland angehen. Mit dem Ei-senbahnregulierungsgesetz wollen wir einen fairen Wett-bewerb auf der Schiene weiter stärken und vorhandeneüberkommene Monopolstrukturen abbauen.Es wird ein einheitlicher Rechtsrahmen für eine effi-ziente Regulierung geschaffen. Der Zugang zur Eisen-bahninfrastruktur wird noch weiter verbessert. Befug-nisse der Bundesnetzagentur werden gestärkt. HerrKollege Martin Burkert, Sie selbst sind im Beirat dieserNetzagentur, in der neun Vertreter aller Fraktionen desBundestages und neun Vertreter des Bundesrates darüberwachen, dass diese Bundesnetzagentur ihren Job korrektdurchführt. Insoweit ist jedes Misstrauen völlig unbe-gründet.
Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist die Entgelt-regulierung, die darauf abzielt, eine missbräuchliche Be-hinderung oder gar Diskriminierung von Eisenbahnver-kehrsunternehmen zu verhindern. Die Entgelte für diePflichtleistungen der Betreiber der Schieneninfrastrukturund die Entgelte für die Benutzung der Personenbahn-höfe sollen künftig der Genehmigung durch die Regulie-rungsbehörde unterliegen. Das neue System wird auf ei-ner Anreizregulierung beruhen. Dadurch werden dieSchienenwegbetreiber zu Effizienzgewinnen und damitzu einer Reduzierung der Kosten veranlasst.Die Zugangsregulierung hat sich im Grundsatz be-währt. Hier wollen wir nur einige Punkte ergänzen. DasRecht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Schienen-wegen oder Bahnhöfen wird zum Beispiel ergänzt durchdie Verpflichtung, Rangierleistungen für Dritte zu er-bringen, oder durch die Pflicht, auf Bahnhöfen Flächenzum Fahrscheinverkauf für Wettbewerber bereitzustel-len. Was wäre es für eine Welt, wenn wir verschiedeneUnternehmen hätten und wir ihnen mitteilen müssten:Im Bahnhof ist alles ausgebucht, verkauft eure Kartensonst wo, nur ein Unternehmen darf ein Reisecenter be-treiben. – Das kann doch nicht akzeptiert werden, HerrBurkert.
Selbst wenn man ein engagierter Eisenbahngewerk-schafter ist, kann man das in einer Wettbewerbsordnungnicht akzeptieren.
Herr Fischer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Burkert?
Ja.
Das ist in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit aber
auch die einzige Zwischenfrage, die ich zulasse.
Bitte schön, Herr Burkert.
Ich bedanke mich ausdrücklich, Herr Präsident, dass
Sie die Frage zulassen.
Geschätzter Herr Kollege Fischer, ist Ihnen bekannt,
dass in Rosenheim im schönen Land Bayern – unweit
des Wahlkreises des Bundesverkehrsministers – mittler-
weile zwei Fahrkartenausgaben nebeneinander existie-
ren – auf der einen Seite verkauft die Bayerische Ober-
landbahn Fahrkarten von Veolia, auf der anderen Seite
die Deutsche Bahn AG Fahrkarten für die Deutsche
Bahn – und es keine Diskriminierung mehr gibt?
Mir ist bekannt, dass das in Bayern so ist. Jetzt giltunser Engagement der Übertragung des bayerischenVorbilds auf ganz Deutschland. Das muss unser Zielsein.
Es gibt viel zu viele Bahnhöfe, bei denen es noch nichtso ist wie in Bayern. Ich kann Sie und andere Kollegenaus Bayern – auch den Minister – nur loben, dass wir dasin Bayern schon haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28925
Dirk Fischer
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Außerdem wollen wir, dass die Stilllegung von Ser-viceeinrichtungen zukünftig der Genehmigungspflichtunterliegt. Diese galt bisher nur für die Stilllegung vonStrecken und von für die Betriebsabwicklung wichtigenBahnhöfen.Aber auch andere Dinge sind im System sehr wichtigund müssen deswegen den Wettbewerbern zur Verfü-gung stehen.Wir wollen die Rechte der Bundesnetzagentur weiterstärken. Es ist doch ein Missstand, dass die DB AG sichbei jedem Bescheid der Bundesnetzagentur bis zur letz-ten Instanz vor den Gerichten wehrt. Wir verlieren teil-weise Jahre, bevor solche Dinge umgesetzt werden kön-nen. Deswegen brauchen wir Beschlusskammern bei derBundesnetzagentur, damit das flotter vorangeht.
Wir wollen eine Missbrauchsaufsicht bei der Liefe-rung von Fahrstrom; das hat der Kollege Luksic schonausgeführt. Alle Kunden der DB Energie sollen diskri-minierungsfrei zu gleichen Konditionen Fahrstrom be-ziehen können.
Dadurch ermöglichen wir der Bundesnetzagentur, zuhandeln, wenn eine marktmächtige Stellung, insbeson-dere bei der Preisgestaltung, ausgenutzt wird.Auch für den Vertrieb von Fahrausweisen wollen wireine Missbrauchskontrolle durch die Bundesnetzagentureinführen. Die Anbieter von Vertriebsleistungen imSchienenpersonenverkehr, die über eine marktbeherr-schende Stellung verfügen, sollen im Sinne der Bahn-kunden auf kommerzieller Basis ihre Vertriebssystemefür andere Anbieter öffnen. Auch das ist für den Kundenwichtig.Von fairem Wettbewerb auf der Schiene und besserenKontrollmöglichkeiten profitieren am Ende alle, insbe-sondere die Bahnkunden. Der vorliegende Gesetzent-wurf ist ein wichtiger Beitrag dazu.Mit der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bun-desrates hat die Bundesregierung bereits einige Vor-schläge aufgegriffen. Im Ernst: Schmalspurbahnen müs-sen nun wirklich nicht reguliert werden.Sachfremde Bereiche können wir in diesem Gesetznicht regeln. Dazu gehört der Schienenlärm. Diesbezüg-lich haben wir uns gerade in der letzten Woche in Vorbe-reitung der Beschlussfassung im Vermittlungsausschusszwischen Bundestag und den Ländern über die Abschaf-fung des Schienenbonus und eine bundesweite Lärmak-tionsplanung verständigt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Im Rahmen der anstehenden Ausschussberatungen
sind wir als Parlament verpflichtet, zu prüfen, ob an dem
Gesetzentwurf eventuell noch Korrekturen notwendig
sind. Ich appelliere an die Opposition, diese Beratungen
konstruktiv zu begleiten. Gleichzeitig appelliere ich an
die Länder, die wichtige Neuordnung der Regulierung
nicht aus plumpen wahltaktischen Gründen im Bundes-
rat scheitern zu lassen.
Wir haben damals miterlebt, wie eine große, partei-
übergreifende Mehrheit die Bahnreform eingeleitet hat.
Lassen Sie uns nun auch den nächsten Schritt auf dem
Weg zur Vollendung dieses Jahrhundertprojekts gemein-
sam gehen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/12726 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esweitere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaDörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENRückkehrrecht auf Vollzeit gesetzlich veran-kern– Drucksache 17/12843 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieFederführung strittigDie Reden sollen mit Ihrem Einverständnis zu Proto-koll genommen werden.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12843 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDPwünschen die Federführung beim Ausschuss für Arbeitund Soziales, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenwünscht Federführung beim Ausschuss für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen: Federfüh-rung beim Familienausschuss. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Dagegen? – Enthaltungen? –Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen derGrünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abge-lehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen: Feder-1) Anlage 5
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28926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen-stimmen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Gegen-stimmen der Grünen einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes über dieKreditanstalt für Wiederaufbau und weitererGesetze– Drucksache 17/12815 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussAuch hier sollen die Reden zu Protokoll genommenwerden.1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/12815 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber Intelligente Verkehrssysteme im Straßen-verkehr und deren Schnittstellen zu anderen
– Drucksache 17/12371 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/12768 –Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten LühmannWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachtenGesetzentwurf über Intelligente Verkehrssysteme, IVS,im Straßenverkehr soll die Richtlinie 2010/40/EU desEuropäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli2010 in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Dis-kussionen im Ausschuss haben gezeigt, dass bis auf dieübliche Verweigerung der Linken alle Fraktionen die-sem Gesetzentwurf zugestimmt haben, und dies mit gu-tem Grund: Das IVSG ist sehr sinnvoll und zukunfts-orientiert. Es wird die Sicherheit im Straßenverkehrnach sich ziehen, sich aber auch sehr positiv auf dieumweltpolitischen Ziele der christlich-liberalen Koali-tion auswirken.Da der Straßenverkehr nicht an den Ländergrenzenendet, engagieren wir uns nicht nur in Deutschland,sondern auch auf europäischer Ebene für einen ver-stärkten Einsatz von IVS und deren Schnittstellen zuanderen Verkehrsträgern. Denn der Erfolg intelligen-ter Technologien hängt im Zeitalter des gemeinsameneuropäischen Marktes nicht zuletzt von der erfolgrei-chen Zusammenarbeit mit den europäischen Partnernab.Das BMVBS hat deshalb aktiv daran mitgewirkt,mit der Richtlinie 2010/40/EU, die wir mit dem jetztvorgelegten Entwurf des ISVG in deutsches Rechtüberführen wollen, für die Einführung „IntelligenterVerkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnitt-stellen zu anderen Verkehrsträgern“ einen europäi-schen Rechtsrahmen zu schaffen, der den Potenzialenintelligenter Technologien gerecht wird. Diese Richtli-nie legt einen Rahmen für die koordinierte Einführunginnovativer Verkehrstechnologien innerhalb der Euro-päischen Union fest. Sie zielt auf die Einführung inter-operabler und effizienter IVS-Dienste ab. Gleichzeitigsoll jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union selbstentscheiden können, in welche Systeme er investiert.Damit Deutschland als Haupttransitland in Eu-ropa die verkehrspolitischen Herausforderungen des21. Jahrhunderts im Straßenverkehr meistern kann, istder beschleunigte Einsatz Intelligenter Verkehrs-systeme, IVS, im Straßenverkehr ein unverzichtbarerBestandteil unserer Verkehrspolitik. Aktuelle Progno-sen gehen bis 2025 von einer Zunahme der Leistung imStraßengüterfernverkehr von derzeit 367 MilliardenTonnenkilometern um 84 Prozent auf 676 MilliardenTonnenkilometer aus. Der Anteil der Straße an denGüterverkehrsleistungen wird dabei von heute 70 Pro-zent auf knapp 75 Prozent steigen.Die Verkehrsleistung im Personenverkehr auf derStraße erreichte im Jahr 2004 einen Wert von 887 Mil-liarden Personenkilometern und wird bis 2025 umrund 6,5 Milliarden Personenkilometer jährlich stei-gen. Insgesamt ergibt dies eine Zunahme von 16 Pro-zent auf 1 030 Milliarden Personenkilometer im Jahr2025.Um diese Verkehrszunahme auf unseren Straßen zubewältigen, brauchen wir IVS. Im Fokus hierbei stehenintelligente Fahrzeug- und Straßensysteme, die durchKooperation miteinander wesentlich dazu beitragen,dass der Straßenverkehr sicherer, effizienter undumweltfreundlicher wird. Um den Verkehrsinfarkt zuvermeiden, reicht es längst nicht mehr, einfach nurStraßen zu bauen. Ein Schlüssel zur Optimierung desVerkehrs liegt in der nahtlosen Verknüpfung der einzel-nen Verkehrsträger. Stadtzentrum, Bahnhof oder Flug-hafen, sie alle werden zunehmend zu intermodalenKnoten, an denen je nach Ziel, Verkehrslage und Wet-terverhältnissen das passende Verkehrsmittel bereit-steht.Das BMVBS hat ein neues nationales Verkehrssi-cherheitsprogramm erarbeitet. Darin geht es insbe-1) Anlage 3
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28927
Ulrich Lange
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sondere darum, den geänderten Rahmenbedingungenund neuen Herausforderungen im StraßenverkehrRechnung zu tragen.Zentraler Dreh- und Angelpunkt zur Erschließungdes Nutzenpotenzials von IVS ist eine entsprechendeIVS-Informationslogistik, das heißt die Organisation,Steuerung, Bereitstellung und Optimierung von Infor-mationsströmen. Insofern müssen organisationsüber-greifende Wertschöpfungsketten im IVS-Kontext alsProzessketten begriffen werden, in denen der Umgangmit Informationen von vorrangiger Bedeutung ist. Be-sonderes Wertschöpfungspotenzial entsteht, wenn esgelingt, IVS-Akteure und ihre IVS-Dienste im Sinne desStraßenverkehrsteilnehmers und Reisenden organisa-tionsübergreifend zu vernetzen. Beispiele hierfür sinddie Vernetzung von mehreren Straßenbetreibern – zu-ständigkeitsübergreifendes Strategiemanagement –,die Vernetzung kollektiver Verkehrsmanagementsys-teme mit individuellen Navigationsdiensten und multi-modale Reiseketten als Schnittstellen zwischen ver-schiedenen Verkehrsträgern.Der IVS-Aktionsplan mit seinem Maßnahmenplanbildet das Fundament für die Einbringung deutscherVorschläge auf europäischer Ebene. Es wird künftigdarauf ankommen, diesen Aktionsplan kontinuierlichfortzuschreiben. Dabei setzen wir auf das Engagementund die Kreativität aller Beteiligten zur Entwicklunginnovativer Lösungen.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung für ein Intelligente-Verkehrssysteme-Gesetz wird
die CDU/CSU-Fraktion ihre Zustimmung geben. Die
Einführung Intelligenter Verkehrssysteme in Europa
ist deshalb zu unterstützen, weil dadurch europaweit
wichtige Voraussetzungen zur Steigerung der Ver-
kehrssicherheit geschaffen werden. Zu den Begrifflich-
keiten möchte ich anmerken, dass mit „Intelligente
Verkehrssysteme“ Systeme gemeint sind, bei denen
Informations- und Kommunikationstechnologien im
Straßenverkehr und an Schnittstellen zu anderen Ver-
kehrsträgern eingesetzt werden. Intelligente Verkehrs-
systeme optimieren den Verkehr in zentralen Berei-
chen: erstens bei der optimalen Nutzung von Straßen-,
Verkehrs- und Reisedaten, zweitens bei der Kontinuität
der Dienste Intelligenter Verkehrssysteme in den Be-
reichen Verkehrs- und Frachtmanagement, drittens bei
Anwendungen für die Straßenverkehrssicherheit und
viertens bei der Verbindung zwischen Fahrzeug und
Verkehrsinfrastruktur.
Bei der Entwicklung dieser technischen Neuerun-
gen für mehr Verkehrssicherheit darf ein Aspekt im
Interesse der Sicherheit nicht zu kurz kommen, der
Schutz der Systeme gegenüber einem ungewünschten
Zugriff von außen. Diese Woche war den Medien eine
Meldung über einen Hackerangriff auf Fernsehsender
und Banken in Südkorea zu entnehmen. Geldautoma-
ten wurden lahmgelegt und mit ihnen die Terminals für
Kartenzahlungen in Restaurants und Geschäften. In
den Redaktionen der führenden südkoreanischen Fern-
sehsender fielen die Monitore aus, auf manchen Bild-
schirmen sollen auch optisch eindeutige Hinweise auf
einen Hackerangriff erschienen sein.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie
verhindert werden kann, dass Hackerangriffe auf com-
putergestützten Verkehr Einfluss nehmen. Was passiert
etwa, wenn zukünftige Systeme zur Abstandsmessung
bei Fahrzeugen durch Hackerangriffe manipuliert
werden? Derartiges zu verhindern, darf nicht aus dem
Blick geraten.
Um die Herausforderungen der Zukunft an den eu-
ropäischen Straßenverkehr zu meistern, ist der Einsatz
Intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr ein
unverzichtbarer Bestandteil unserer Verkehrspolitik.
Im Mittelpunkt stehen dabei intelligente Fahrzeug-
und Straßensysteme, die durch Kooperation miteinan-
der wesentlich dazu beitragen, dass der Straßenver-
kehr sicherer, effizienter und umweltfreundlicher wird.
Da es in Deutschland bislang keinen Rechtsrahmen
über Intelligente Verkehrssysteme gibt, besteht hierbei
ein Umsetzungsbedarf. Das Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat aktiv daran
mitgewirkt, einen europäischen Rechtsrahmen zu
schaffen, der den sich rasch entwickelnden Potenzia-
len intelligenter Technologien gerecht wird. Diese
Richtlinie legt einen Rahmen für die koordinierte Ein-
führung innovativer Verkehrstechnologien innerhalb
der Europäischen Union fest. Sie zielt dabei auf die
Einführung interoperabler und effizienter IVS-Dienste
ab. Gleichzeitig soll jeder Mitgliedstaat der Europäi-
schen Union selbst entscheiden können, in welche Sys-
teme er investiert. Wichtig ist, dass die Systeme mitei-
nander kompatibel sind, quasi die gleiche Sprache
sprechen.
Für eine zielgerichtete Mitwirkung im europäischen
Prozess ist eine klare nationale Strategie gefragt.
Diese Strategie haben wir. Unter Federführung des
BMVBS wurde durch einen IVS-Beirat ein nationaler
IVS-Aktionsplan Straße erarbeitet, der die Schnittstel-
len zu anderen Verkehrsträgern einbezieht und den
Zeitraum bis 2020 umspannt. Ich rege an, dass der
Beirat sich insbesondere der Frage von Sicherheit der
Verkehrssysteme gegenüber Hackerangriffen widmet.
Der IVS-Aktionsplan Straße mit seinem Maßnah-
menplan bildet das Fundament für die Einbringung
deutscher Vorschläge auf europäischer Ebene. Es wird
in Zukunft darauf ankommen, diesen Aktionsplan kon-
tinuierlich fortzuschreiben. Dabei setzen wir auf das
Engagement und die Kreativität aller Beteiligten zur
Entwicklung innovativer Lösungen.
Wir sprechen heute über Zukunftsmusik, nämlichüber intelligente Verkehrssysteme. Mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf soll die Grundlage für die Einrich-tung eines solchen intelligenten Systems geschaffenwerden. Damit setzt die Bundesregierung eine Richtli-Zu Protokoll gegebene Reden
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28928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Kirsten Lühmann
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nie der Europäischen Kommission um. Das ist gut;denn die Telematik ist ein Handlungsfeld modernerund zukunftsfähiger Verkehrspolitik.Gerade in einem europäischen Transitland wieDeutschland kommt der intelligenten Verkehrssteue-rung und Verkehrsleitung eine immer wichtigere Rollezu. Die Europäische Union hat in der Richtlinie denRahmen für Handlungsfelder abgesteckt. Für die deut-sche Forschungslandschaft und für die hier ansässigenUnternehmen ist es entscheidend wichtig, dass vomBund verlässliche Rahmenbedingungen in diesem Be-reich geschaffen werden, um erreichte Fortschrittedann umsetzen zu können. Auch die Bevölkerung be-grüßt dieses Vorhaben. Laut einer aktuellen Umfragesind 72 Prozent der Bevölkerung dafür, dass Bund,Länder und Kommunen stärker in intelligente Ver-kehrssysteme investieren, um Staus und Unfälle zu ver-meiden. Die Einrichtung dieser Systeme in der Flächeist allerdings ein Projekt von morgen. Aber an man-chen Orten hat diese Zukunft schon begonnen. Auf deutschem Boden spielt sich derzeit in Frank-furt ein Stück weit Realität gewordener Verkehrs-Science-Fiction ab: Es handelt sich um den weltweitgrößten Versuch mit intelligenter Verkehrstechnik.Autos kommunizieren miteinander und warnen sichgegenseitig vor Gefahrenstellen. Die FehlerquelleMensch bleibt quasi außen vor; denn die Fahrzeugesind mit schlauer Technik ausgestattet. Detektoren undSensoren nehmen ihre Umwelt wahr, teilen diese Infor-mationen mit anderen Kraftfahrzeugen und verständi-gen sich mit der Infrastruktur. Dabei geht es nicht da-rum, die Fahrenden überflüssig zu machen oder ihnenden Fahrspaß zu nehmen; die Technik soll sie lediglichin risikoreichen Situationen unterstützen.Aber was bringt uns diese Technik? Was bezwecktdie Europäische Union mit dem Vorantreiben intelli-genter Verkehrssysteme? Verfolgt werden drei großeZiele:Erstens, Nutzung der gewonnenen Daten. DigitaleKarten können aktualisiert werden; Reise- und Ver-kehrsinformationen können in Echtzeit privaten undöffentlichen Akteuren zur Verfügung gestellt werden.Ein zweites großes Ziel sind die Möglichkeiten, diesich im Bereich des Verkehrs- und Gütermanagementseröffnen. Ich denke hier an dringend benötigte Lösun-gen für die Städte. Der zunehmende Verkehr aufgrunddes stark wachsenden Versandhandels zusammen mitdem Anlieferverkehr erfordert Verkehrslösungen inden Innenstädten. Leider hat sich die aktuelle Regie-rung bei der Bewältigung der Herausforderungendurch die städtischen Dienstleitungs- und Liefer-verkehre in dieser Legislaturperiode zurückgezogen.Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee hatte 2008 in sei-nem Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ vorge-sehen, umwelt- und klimafreundliche Verkehrskon-zepte für den städtischen Verkehr zu entwickeln sowieübertragbare Standards zu erarbeiten. Davon wolltesein Nachfolger Peter Ramsauer nichts wissen. Im„Aktionsplan Güterverkehr und Logistik – Logistikini-tiative für Deutschland“ 2010 wird die Initiative fürLogistik im städtischen Raum nicht berücksichtigt.Das dritte Ziel ist die Erhöhung der Verkehrssicher-heit. Verkehrsunfälle sind in über 80 Prozent auf den„Faktor Mensch“ zurückzuführen. Die moderne undintelligente Technik liefert in diesem Bereich bereitsjetzt viele gute Antworten: Assistenzsysteme haltenSpur und den richtigen Abstand zum vorausfahrendenAuto ein; die automatische Notruffunktion „E-Call“ist bereits beschlossen und wird europaweit ab 2015 inNeuwagen eingesetzt werden.Wann wir unseren Verkehr flächendeckend intelli-gent gestalten können, ist also weniger eine Frage dertechnischen Machbarkeit oder dem Mangel an brauch-baren Innovationen als vielmehr eine Frage der finan-ziellen Möglichkeiten. Daher fordere ich die Regie-rung auf, auch die einfachen, leicht umsetzbarenMaßnahmen für eine Erhöhung der Verkehrssicherheitzu ergreifen. Denn hier können wir nicht einfach aufmorgen warten. Hier müssen wir handeln. Insbeson-dere auf unseren Landstraßen verlieren immer noch zuviele Menschen ihr Leben; es sind 60 Prozent allerVerkehrstoten.Das liegt unter anderem daran, dass hier immernoch zu viele ungeschützte Bäume am Straßenrand ste-hen. Bereits einfache planerische Maßnahmen könnenhier große Wirkung haben: Schutzplanken in Alleen,Erdwälle in Kurven als Anpralldämpfer. An Ortsein-gängen können Mittelinseln zur Temporeduzierungdienen, und vor Gefahrenstellen können Rüttelstreifendie Aufmerksamkeit erhöhen.Bis die Zukunft vollends intelligent wird, gibt es ge-rade im Bereich der Verkehrssicherheit noch einiges zutun. Herr Ramsauer, dieses Gesetz darf nicht das EndeIhrer Bemühungen sein; es sollte der Start einer neuenVerkehrssicherheitsinitiative werden.
Deutschland als wichtigstes Transitland Europas istauf die effiziente Vernetzung aller Verkehrsträger vordem Hintergrund des anwachsenden Güter- und Per-sonenverkehrs angewiesen. Mittels intelligenter Ver-kehrssysteme lassen sich die Verkehrs- und Daten-ströme auf der Straße, der Schiene, in der Luft und zuWasser effizient und auch umweltverträglicher mitei-nander verbinden.Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtline2010/40/EU über Intelligente Verkehrssysteme schafftzu diesem Zweck den rechtlichen Rahmen für die Ein-führung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenver-kehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrs-trägern.Durch diesen Rechtsakt werden auch die rechtli-chen Voraussetzungen geschaffen, die eine Vereinheit-lichung technischer Standards und Systeme in den IVS-Techniken und -Systemen fördern. Dies begrüßen wirausdrücklich.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28929
Petra Müller
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Bisher sind in der Richtlinie 2010/40/EU keinekonkreten Anforderungen zur genauen Umsetzung derVorgaben enthalten. Wir sollten allerdings nicht ab-warten, bis die EU-Kommission die entsprechendenSpezifikationen zur konkreten Umsetzung der Richtli-nie erlassen hat, und erst dann die technischen Stan-dards festlegen, wie die Vorgaben einer einheitlichentechnischen Verknüpfung der Daten aller Verkehrs-träger zu erfüllen sind, sondern schon jetzt dafür sor-gen, dass Forschung und Wissenschaft in Deutschlandim Bereich der IVS-Systeme und -Technik eine füh-rende Rolle haben, um die noch von der EU zu definie-renden Anforderungen zur technischen Umsetzungbestens erfüllen zu können.Obwohl die EU-Kommission darauf hinweist, dassdie Umsetzung der Richtlinie 2010/40/EU in der jetzi-gen Fassung nicht mit Mehrkosten für die Bürger, dieWirtschaft und die Verwaltungen von der Kommune biszum Bund verbunden ist, sollte darauf bereits frühzei-tig geachtet werden, dass die von der EU-Kommissionnoch auszuarbeitenden Spezifikationen bei einer spä-teren Konkretisierung nicht doch mit Mehrkosten fürdie Betroffenen verbunden sind.Und auch wenn die Kommission schon darauf hin-gewiesen hat, dass die Mitgliedstaaten die Kosten fürdie Herstellung von Kompatibilität und Interoperabili-tät bei intelligenten Verkehrssystemen zu tragen haben,sollte sich die Bundesregierung nochmals ausdrück-lich im Ministerrat für Fördermaßnahmen seitens derEU einsetzen.Unabhängig davon sollte auch beachtet werden,dass durch IVS-Systeme in bedeutendem Ausmaß ingesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse einge-griffen wird.Eine intensive politische Debatte und ein gesell-schaftlicher Diskurs sind sicherlich von Vorteil, um einBewusstsein für die vielfältigen Dimensionen dieserTechnologien zu schaffen und die Bevölkerung recht-zeitig über Chancen und Risiken zu informieren. Dennbei allem Nutzen, den diese Technologien für eine ver-einfachte und vereinheitlichte Nutzung von Straßen-,Verkehrs- und Reisedaten haben – sie werden dazu bei-tragen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhensowie Verkehrs- und Frachtmanagement permanent zuverbessern – sollten wir nicht außer Acht lassen, dassdamit auch hoch sensible Daten von Verkehrsteilneh-mern erfasst werden. So können sicherlich noch leich-ter Bewegungsprofile und Nutzungsverhalten von Ver-kehrssystemen erstellt werden.Hier gilt es zu berücksichtigen, dass bei den Vorgabender technischen Umsetzung keine Systeme entwickeltund gefördert werden, die leichtfertig Datenmiss-brauch Vorschub leisten bzw. diesen erleichtern kön-nen.Fragen der Erhebungs- und Eigentumsrechte anden erhobenen Daten, des Datenmanagements, derZugangsrechte Dritter und damit allgemein verbun-dene rechtliche Regulierungsfragen sollten ebenfallsso früh wie möglich beachtet werden. Den Schutz derindividuellen Freiheitsrechte in Form der Rechte anden eigenen Daten gilt es unbedingt bei der Spezifika-tion der Umsetzung der Richtlinie in nationales Rechtzu berücksichtigen.Mit sicheren und klaren rechtlichen Rahmenbedin-gungen lassen sich die Vorteile intelligenter Verkehrs-systeme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zuanderen Verkehrsträgern optimal nutzen, und sie tra-gen zu einer wesentlichen Verbesserung der Verkehrs-und Warenströme bei. Wir hoffen darauf, dass die EU-Kommission die entsprechenden Spezifikationen zurUmsetzung dieser Richtlinie in diesem Sinne erlässt.Andernfalls fordern wir die Bundesregierung auf, indiesem Sinne auf die EU-Kommission einzuwirken.
Die Einführung von europaweit einheitlichen Intel-ligenten Verkehrssystemen, IVS, ist eine sinnvolleMaßnahme. Diese Systeme können einen Beitrag dazuleisten, die klimaschädlichen Wirkungen des Straßen-verkehrs zu verringern, und sie dienen zudem der Ver-kehrssicherheit. Sie können sogar Leben retten, wennzum Beispiel ein automatisch ausgelöster Notruf recht-zeitig Hilfe organisieren kann. Es gibt Schätzungen,dass durch das automatisierte Notrufsystem E-Calljährlich 10 Prozent weniger Menschen auf EuropasStraßen ihr Leben verlieren.Auch könnte es Tausenden von Berufskraftfahrernin Zukunft erspart bleiben, stundenlang nach einemStellplatz zu suchen. Um die Lenkzeiten nicht zu über-schreiten, sind Lkw-Fahrer viel zu oft auf „kreative“Lösungen beim Rasten angewiesen, die nicht seltenverkehrsgefährdend sind. Die Bereitstellung von Infor-mations- und Reservierungsdiensten für sichere Lkw-Parkplätze kann hier eine wesentliche Verbesserungder Arbeitsbedingungen von Lastkraftfahrern bringen.Mit ihrem Gesetzentwurf will die Bundesregierungdie Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht überfüh-ren. Wie so häufig ist es der Bundesregierung nicht ge-lungen, die Umsetzungsfrist einzuhalten und die inEU-Richtlinien enthaltenen Schwachstellen im Umset-zungsgesetz auszuräumen.Um es nochmal deutlich zu machen: Die Linke teiltdas Ziel einer technisch gestützten Verbesserung derKlimabilanz des Verkehrs und der Verkehrssicherheit!Der vorliegende Entwurf des Umsetzungsgesetzesist jedoch mit zu vielen Fragezeichen versehen, alsdass die Linke ihm zustimmen könnte. Wir werden unsvielmehr enthalten.Es ist nämlich unverkennbar, dass der in der Richt-linie 2010/40/EG normierte Rechtsrahmen zu weit ge-fasst und zu allgemein gehalten ist, um die mit der Ein-führung von IVS verbundenen datenschutzrechtlichenProbleme angemessen zu berücksichtigen. Es ist nichtklar, wann der Betrieb von IVS-Diensten zur Erhebungund Verarbeitung personenbezogener Daten führenZu Protokoll gegebene Reden
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28930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Herbert Behrens
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wird und für welche speziellen Zwecke eine Datenver-arbeitung erfolgt.Der in § 3 des Gesetzes integrierte Verweis, dasspersonenbezogene Daten nur genutzt werden dürfen,wenn dies bundesrechtlich zugelassen oder angeordnetist, kann die datenschutzrechtlichen Bedenken nichtausräumen.Es muss viel genauer definiert werden, wer die Ver-antwortung für den Einsatz der Anwendungen undSysteme tragen sollte und wer in der Kette der Daten-verarbeitenden für die Einhaltung der Datenschutz-vorschriften verantwortlich ist.Bei der Diskussion um Intelligente Verkehrssystemeim Straßenverkehr kommt nicht nur die Frage nachden datenschutzrechtlichen Aspekten häufig zu kurz.Bei aller Faszination, die von technischen Lösungenausgeht, gerät viel zu oft die Frage aus dem Blick, wel-ches Problem denn eigentlich mit IVS gelöst werdensoll. Das Grundproblem ist das rasante Verkehrs-wachstum auf den Straßen Europas, welches durchherkömmliche Maßnahmen wie den Ausbau der Stra-ßenverkehrsinfrastruktur nicht gelöst werden kann.Dies sieht auch die Kommission so.Mit IVS soll das Wachstum des Straßenverkehrs ef-fizienter verwaltet und die Zunahme seiner emissions-basierten Folgekosten verlangsamt werden. Nebenbeiwerden mit IVS auch industriepolitische Ziele verfolgt,indem ein riesiger Markt für neue technische Produkteund deren kommerzielle Anwendung geschaffen wird.Letztlich wird alles getan, um mit dem Einsatz tech-nischer Hilfsmittel Verkehre auf der Straße zu halten –trotz des Bewusstseins der schädlichen Folgen diesesVerkehrsträgers für Mensch und Umwelt. Bisher ver-fehlen die vorrangigen Maßnahmen der EU das selbst-gesteckte Ziel, durch IVS Intermodalität zu fördern.Mit ihrem verkürzenden Programm verspielt die Kom-mission bisher die Potenziale der IVS, die sie im Hin-blick auf eine ökologische Verkehrswende zweifelsfreihaben.IVS kann mehr sein als reines Förderinstrument desStraßenverkehrs. Dafür müssten jedoch endlich auchdie Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern effekti-ver gefördert werden, wie es die Richtlinie dezidiertvorschreibt. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeitnoch vollends auseinander – ein Missstand, den esschnellstens abzustellen gilt.
Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurfder Bundesregierung über Intelligente Verkehrssys-teme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zuanderen Verkehrsträgern. Wir kommen damit unsererVerpflichtung nach, die EU-Richtlinie vom 7. Juli 2010über Intelligente Verkehrssysteme in nationales Rechtumzusetzen.Ziel der EU-Richtlinie ist es, durch innovative Lö-sungen und eine intelligente Organisation den Verkehreuropaweit effizienter und umweltschonender zu ge-stalten sowie allen Verkehrsteilnehmern ein hohesMaß an Sicherheit zu ermöglichen. Dazu wird die Eu-ropäische Union künftig einheitliche Merkmale entwi-ckeln und festlegen, die beschreiben, welchen techni-schen und qualitativen Anforderungen intelligenteVerkehrssysteme europaweit erfüllen müssen. Fernerwerden die zuständigen Behörden dazu verpflichtet,diese Spezifikationen künftig anzuwenden. Mit demvorliegenden Gesetzentwurf werden dafür die notwen-digen nationalen Rahmenbedingungen geschaffen.Das unterstützen wir.Wenn wir unsere Mobilität nachhaltiger gestaltenwollen, benötigen wir ein integriertes intelligentes Ge-samtverkehrssystem in Europa. Dazu müssen wir auchneue Technologien fördern und harmonisieren. Mo-derne Fahrerassistenzsysteme können neben anderenVerkehrssicherheitsmaßnahmen in hohem Maße zurVerbesserung der Verkehrssicherheit beitragen. Soverringern insbesondere Technologien wie das elektro-nische Stabilitätsprogramm, ESP, Antiblockiersys-teme, Abstandsregeltempomaten, Spurhalteassistentenund elektronische Abbremssysteme erheblich die Ge-fahr von Unfällen bzw. sie können helfen, die Unfall-schwere zu reduzieren. Großes Potenzial besitzen fer-ner Abbiegeassistenten, die viele schwere bzw.tödliche Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern imsogenannten Toten Winkel verhindern könnten.Die Verkehrswegeinfrastruktur in Deutschland istsehr dicht und weitgehend vollständig ausgebaut – zu-mindest im Straßenbereich. Weitere Ausbaumaßnah-men sind oft nicht nur ökologisch fragwürdig, sondernzumeist auch nicht finanzierbar. Deshalb lohnt es sich,in intelligente Verkehrs- und Mobilitätssysteme zu in-vestieren, denn mehr Asphalt bedeutet nicht gleichzei-tig bessere Mobilität.Intelligenz ist hier nötig und Intelligenz ist auchmöglich. Jeder in intelligente Verkehrssysteme inves-tierte Euro ist daher ein Gewinn und kann teure Stra-ßenbauinvestitionen sparen. Denn Mobilität ist mehrals nur Verkehr; wir wollen eine bessere Mobilität fürdie Menschen erreichen. Aber Ziel kann es nicht sein,mehr Verkehr zu generieren. Deshalb müssen wir mit-tels intelligenter Systeme die Verkehrsträger neu undeffizient vernetzen.Auch für eine bessere Auslastung der Infrastrukturund zur Stauvermeidung bieten Kommunikationssys-teme zwischen Fahrzeug und Infrastruktur guteVoraussetzungen. Und auch im Bereich des Verkehrs-und Frachtmanagements sowie bei der EU-weitenBereitstellung von Verkehrs- und Reiseinformationgibt es noch erhebliche Reserven, die durch intelli-gente Technologien ausgeschöpft werden können. Esist daher aus unserer Sicht gut und richtig, dass wirmit dem Gesetz die Richtung einer europäischen Har-monisierung intelligenter Verkehrssysteme gehen.Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille. Beiallem Zuspruch für den Gesetzentwurf dürfen wir nichtZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28931
Harald Ebner
(C)
(B)
aus den Augen verlieren, dass beim Einsatz intelligen-ter Verkehrssysteme auch verstärkt Daten gesammeltwerden. Dies birgt ernstzunehmende Datenschutzpro-bleme. Auch erlauben diese Systeme eine verstärkteKontrolle des Arbeitnehmers durch die Arbeitgeber.Die im Gesetzentwurf festgelegten Grundsätze zur Er-hebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezoge-ner Daten gehen dabei in die richtige Richtung. Spä-testens wenn die EU-Spezifikationen für die jeweiligenintelligenten Verkehrssysteme feststehen, sollte abernoch dringend überprüft werden, ob Anpassungen vonGesetzen und Verordnungen vorgenommen werdenmüssen, um den Datenschutz und den Schutz derRechte der Arbeitnehmer ausreichend zu gewährleis-ten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12768, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/12371 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe , Gabriele Fograscher, Wolfgang
Gunkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus wei-
terentwickeln
– Drucksache 17/9975 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden.
Die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlich-keit und Antisemitismus sowie aller damit zusam-menhängenden Formen von Diskriminierung ist eineherausragende Aufgabe, die sowohl vom Staat alsauch von der Gesellschaft bewältigt werden muss. DieÜberwindung von Rassismus ist ein überragend wich-tiges politisches Handlungsfeld. Die Bundesregierungverabschiedete daher im Jahr 2008 den NationalenAktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus, Fremden-feindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene In-toleranz.Der Aktionsplan ist zum einen Dokumentation dervielfältigen schon laufenden Initiativen und Maß-nahmen, die zur Bekämpfung von Rassismus, Rassen-diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismusund darauf bezogene Intoleranz in den unterschied-lichsten Bereichen ergriffen wurden. Zum anderen be-schreibt er darüber hinaus weitere Anstrengungen undMaßnahmen, die insbesondere den gesellschaftlichenZusammenhalt gezielt fördern und stärken. Ziel ist eineGesellschaft, in der rassistische, fremdenfeindlicheund diskriminierende Bestrebungen keinen Halt findenkönnen. Der Nationale Aktionsplan ist somit ein Bei-spiel für das kontinuierliche Engagement zur Verbes-serung der Menschenrechtssituation.Der vorliegende Antrag der SPD möchte unrichtigden Eindruck erwecken, dass die bisherigen Maßnah-men des Aktionsplans gegen Rassismus unzulänglichsind.Die SPD fordert eine Überarbeitung des Aktions-plans und übersieht dabei, dass es sich nicht um einenstatischen Maßnahmeplan handelt. Im Text des Natio-nalen Aktionsplans selbst wird klargestellt, dass mitder Erstellung des Aktionsplans die Arbeit nicht abge-schlossen ist. Die weiteren Aktivitäten müssten sich anden getroffenen Zielsetzungen orientieren und messenlassen. Es wird auch klargestellt, dass die einzelnenMaßnahmen der Evaluierung und Nachsteuerung be-dürfen.Die Kritik an dem Kapitel „Förderung der Integra-tion von Migrantinnen und Migranten“ verbunden mitder Forderung, dieses aus dem Aktionsplan zu strei-chen, zeigt das Unverständnis für die Tatsache, dassdie Bekämpfung von Rassismus eine Querschnittsauf-gabe ist, die alle Teile der Gesellschaft und verschie-dene Handlungsfelder betrifft. Eine offene Gesell-schaft, in der alle Bürger, ungeachtet ihrer nationalen,ethnischen oder religiösen Herkunft, ganz selbstver-ständlich akzeptiert und anerkannt werden, ist sowohlZiel der Integrationspolitik als auch Ziel des Aktions-plans gegen Rassismus. Unter dieser Maßgabe fügensich Maßnahmen zur Integrationsförderung in den Na-tionalen Aktionsplan ein.Bereits im ersten Satz der Einleitung des Themas„Integration“ im Nationalen Aktionsplan gegen Ras-sismus ist klargestellt, dass Migranten nicht die Ur-sache von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind.Es ist also nicht nachvollziehbar, warum in dem vorlie-genden Antrag behauptet wird, dass das Kapitel dieFehldeutung nach sich ziehen könnte, es gäbe einenimpliziten Zusammenhang zwischen Integrationsleis-tungen und Rassismus.Eine solche Fehldeutung ist aufgrund der klarenZielsetzung und der klaren Aussagen des Aktionsplansnicht möglich. Eine Schuldzuweisung für die Tatsache,dass Migrantinnen und Migranten zur Projektions-fläche rassistisch, ausländerfeindlich oder rechts-
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28932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Michael Frieser
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extremistisch motivierter Vorurteile und Stereotype ge-raten, wird deutlich ausgeschlossen, und das istgerade Grund dafür, die Querschnittsaufgabe der Be-kämpfung von Rassismus auch als eine der Herausfor-derungen für die lntegrationspolitik anzunehmen.Die Aufklärung über die Fakten, insbesondere dieUrsachen und die Notwendigkeit von Migration, diesich durch den demografischen Wandel in unseremLand ergibt, ist ein maßgebliches Mittel zur Bekämp-fung solcher Vorurteile und eventuell daraus erwach-sender Diskriminierungen. Eine wichtige Forderungder Integrationspolitik ist die Stärkung der Willkom-menskultur. Dies kann nur gelingen, wenn sich dieGrundhaltung der Menschen zum Thema Migrationzum Positiven hin verändert und Migration als Chanceund nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. DieStärkung der Willkommenskultur bedeutet auch eineDemokratie- und Toleranzförderung, damit Zuwande-rung als Chance begriffen wird und Menschen in ihrerganzen Vielfalt von Alter, Geschlecht, ethnischer, kul-tureller oder sozialer Herkunft, körperlicher und psy-chischer Befähigung, religiöser Zugehörigkeit und se-xueller Orientierung wertgeschätzt werden.Aus diesem Grund sind die Maßnahmen zur Förde-rung der Integration Bestandteil des NationalenAktionsplans. Ihre Streichung würde das Ausblendeneines wesentlichen Aspekts und eines wichtigen Hand-lungsfeldes gegen Rassismus bedeuten.Die Forderung eines Gesetzentwurfs, um den Be-griff „Rasse“ im Grundgesetz und in den Bundesgeset-zen zu ersetzen, wird die Bekämpfung des Rassismusnicht voranbringen. Die Verwendung des Begriffs„Rasse“ ist nicht unproblematisch, bedeutet jedochkeinesfalls die Akzeptanz von Theorien verschiedenermenschlicher Rassen. Es soll deutlich gemacht werden,dass nicht das Gesetz das Vorhandensein verschiede-ner menschlicher „Rassen“ voraussetzt, sondern dassPersonen, die sich rassistisch verhalten, eben dies an-nehmen und zur Rechtfertigung von Diskriminierungverwenden.Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union leh-nen kategorisch alle Lehren rassistischer Überlegen-heit sowie Theorien oder Lehren ab, die darauf abzielen,die Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen zubehaupten.Auch Art. 3 Abs. 3 GG enthält keine Aussage zurExistenz verschiedener menschlicher Rassen. Ihm istauch keine Akzeptanz bestimmter Rassenkonzeptionenzu entnehmen. Mit dem Wortlaut des Art. 3 GG wurdein den Jahren 1948/1949 ausdrücklich ein deutlichesZeichen gegen den Rassenwahn des Nationalsozialis-mus gesetzt. Dies ist im historischen Kontext klar er-sichtlich.Ein weiterer Grund, den Begriff beizubehalten, be-steht darin, dass „Rasse“ den sprachlichen Anknüp-fungspunkt zu dem Begriff des „Rassismus“ bildet unddie hiermit verbundene Signalwirkung zur konsequen-ten Bekämpfung rassistischer Tendenzen genutzt wer-den sollte. Die Tilgung des Begriffs „Rasse“ würdenichts daran ändern, dass bedauerlicherweise der Be-griff zur Rechtfertigung von Diskriminierung benutztwird.Anstatt über den Ersatz des Begriffs „Rasse“ zu de-battieren, sollten alle Anstrengungen unternommenwerden, um menschenrechtswidrige Erscheinungen wieRassismus durch gesellschaftliche Kräfte transparentzu machen und damit auch besser bekämpfen zu kön-nen.Die Bundesregierung verfolgt mit dem ganzheit-lichen Ansatz zur Bekämpfung von Rassismus, Frem-denfeindlichkeit und Antisemitismus dieses Ziel mitMaßnahmen zur politischen und gesellschaftlichenAufklärungsarbeit, beispielsweise über die Bundeszen-trale für politische Bildung.Zusammenfassend ist festzustellen, dass insbeson-dere die Forderungen nach der Streichung des Kapi-tels zur Förderung der Integration und die Ersetzungdes Begriffs „Rasse“ die Arbeit gegen den Rassismusnicht unterstützen und aus diesem Grund abzulehnensind. Wünschenswert wäre eine Unterstützung der bishererfolgreichen Maßnahmen und Bundesprogramme, dieim Rahmen des Nationalen Aktionsplans gegen Rassis-mus erfolgten.
Wir diskutieren heute, am Internationalen Tag gegenRassismus, in erster Beratung den SPD-Antrag „Natio-nalen Aktionsplan gegen Rassismus weiterentwickeln“.Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Er istkein Randproblem. Der heutige Internationale Tag ge-gen Rassismus mahnt uns, antidemokratische undmenschenverachtende Einstellungen umfassend undentschlossen zu bekämpfen. Dafür muss die Bundesre-gierung die richtigen Weichen stellen.Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierungauf, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus wei-terzuentwickeln. Dabei ist Weiterentwicklung im enge-ren Sinne eine Beschönigung; denn seit seiner Verab-schiedung 2008 vermodert der Aktionsplan in denSchubladen der Bundesregierung. Wir wollen ihn dawieder herausholen und ihn zu einem ernstzunehmen-den Instrument im Engagement gegen rassistische, an-tisemitische, antiziganistische, kurz: gegen menschen-feindliche Einstellungen machen.Obwohl die Bundesregierung in ihren eigenen Aus-führungen innerhalb des Nationalen Aktionsplans er-kennt, dass sich die Bekämpfung von Rassismus, Frem-denfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogeneIntoleranz nicht im Kampf gegen den Rechtsextremis-mus erschöpft, legt sie die Hände in den Schoß.Lassen Sie mich Ihnen die Aufgaben des Aktions-plans in Erinnerung rufen: Erstens geht es darum, eineGesamtstrategie zur Bekämpfung von Rassismus zuentwickeln. Zweitens soll der Aktionsplan geeigneteInstrumente vorstellen und über Fortschritte bei derBekämpfung von Rassismus berichten. Drittens sollenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28933
Daniela Kolbe
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mithilfe des Aktionsplans zukunftsgerichtet Maßnah-men zur Erreichung selbst gesetzter Ziele verankertwerden.Dabei sind drei Aspekte besonders wichtig, auf dieich nun Ihre Aufmerksamkeit richten möchte:Erstens. Man kann Diskriminierungen und Erschei-nungsformen von Rassismus nur dann erfassen, wennwir uns von unserem historisch bedingt engen Rassis-musbegriff lösen. Rassismus fängt nicht erst bei rechts-extremistischen oder neonazistischen Straftaten an.Lassen Sie mich dazu Bundeskanzlerin Angela MerkelsWorte zitieren, die sie bei der Gedenkveranstaltung fürdie Opfer der rechtsextremistischen Gewalt des NSUam 23. Februar 2012 sagte:Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keines-wegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nurExtremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, dieVorurteile schüren, die ein Klima der Verachtungerzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität undein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung,wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit undUnachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozes-ses der schleichenden Verrohung des Geistes. AusWorten können Taten werden.Durch Forschungsarbeiten wissen wir, dass es ineinem besorgniserregenden Ausmaß durchgängigantisemitische, rassistische, antiziganistische undrechtsextreme Einstellungen in unterschiedlichenBevölkerungsgruppen der deutschen Einwanderungs-gesellschaft gibt. Daher brauchen wir einen neuenAktionsplan, der das Ausmaß von Menschenrechtsver-letzungen wie Diskriminierung und Rassismus erfasst,einen Aktionsplan, in dem indirekte und direkte rassis-tische Diskriminierung von allen hier lebenden Bevöl-kerungsgruppen mit und ohne deutsche Staatsbürger-schaft erhoben werden. Dabei sollte ein besonderesAugenmerk auf die Situation von Menschen gelegtwerden, die von mehrdimensionalen Diskriminierun-gen betroffen sind. Nur so können Mehrfachdiskrimi-nierungen und Verschränkungen von rassistischerDiskriminierung wegen der sozialen Herkunft, des Ge-schlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion,des Alters oder einer Behinderung offengelegt werden.Zweitens. Der Aktionsplan sollte in Zusammenar-beit mit Nichtregierungsorganisationen überarbeitetwerden. Sie sind die Expertinnen und Experten vorOrt. Sie können Best-Practice-Beispiele liefern und ar-tikulieren, wo der Schuh drückt.Drittens. Wir brauchen endlich einen verbindlichenund evaluierbaren Maßnahmenplan zum Abbau vonRassismus. Dabei müssen natürlich auch Maßnahmenzur Überwindung indirekter Diskriminierungen entwi-ckelt werden. Nur so kann dem Aktionsplan Leben ein-gehaucht werden.Viertens. Das Kapitel „Förderung der Integrationvon Migrantinnen und Migranten“ muss im nächstenAktionsplan gestrichen werden. Obwohl sie in keinemZusammenhang mit Rassismus stehen, findet sich bis-lang im Aktionsplan eine deskriptive Zusammenfas-sung von integrationspolitischen Maßnahmen wie bei-spielsweise die Integrationskurse. Diese Tatsachekönnte suggerieren, dass die Integrationsbereitschaftvon Migrantinnen und Migranten rassistische Motiveund Handlungen hervorruft. Ein fatales Signal!Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung auf, ei-nen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Begriff„Rasse“ durch eine geeignete Formulierung imGrundgesetz und in Bundesgesetzen ersetzt. Denn wirsind der Überzeugung, dass Gesetzestexte zur Be-wusstseinsbildung beitragen und eine Vorbildfunktionhaben sollten, insbesondere wenn es um die Bekämp-fung von Diskriminierung und Rassismus geht.Auf internationaler und auf EU-Ebene ist die Ver-wendung des Begriffs „Rasse“ in juristischen undpolitischen Dokumenten umstritten. Bereits im Jahr1950 wies die UNESCO im „Statement on Race“darauf hin, dass die Terminologie „Rasse“ für einensozialen Mythos stehe, der ein enormes Ausmaß anGewalt verursacht habe:Alle Menschen gehören einer einzigen Art an undstammen von gemeinsamen Vorfahren ab. Sie sindgleich an Würde und Rechten geboren und bildengemeinsam die Menschheit.Die Formulierung „Rasse“ weckt die Assoziationeines Menschenbildes, das auf der Vorstellung unter-schiedlicher menschlicher „Rassen“ beruht. Alleinrassistische Theorien gehen von der Annahme aus,dass es unterschiedliche menschliche „Rassen“ gibt.Mit dem Glauben an die Existenz von „Rassen“ gehenDifferenzierungen und Hierarchisierung von konstru-ierten Menschengruppen einher. Vor dem Hintergrundder geschichtlichen Wirkung von Konzepten und ge-danklichen Konstrukten, die mit dem Begriff „Rasse“verbunden sind, ist kein Grund ersichtlich, an dem Be-griff festzuhalten.Bereits im Zuge des Erlasses der europäischen An-tirassismusrichtlinie 2000/43/EG gab es Unzufrieden-heit von Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwendungdes Begriffs „Rasse“. Einige EU-Mitgliedstaaten ver-zichten generell in ihrem nationalstaatlichen Rechts-wesen auf den Begriff „Rasse“ und regeln den Tat-bestand der rassistischen Diskriminierung mit anderenFormulierungen. Finnland beispielsweise regelt in sei-ner Verfassung das Verbot aus Gründen der Herkunftdurch die Formulierung „ethnische und nationaleHerkunft“. Österreich normiert im Gesetz zur Nicht-diskriminierung „ethnische Zugehörigkeit“ anstellevon „Rasse“.Die bloße Streichung des Begriffs „Rasse“ aus derRechtsordnung wäre natürlich nicht ausreichend. Da-mit würde der Schutzbereich des Grundrechts verengt.Dennoch ist es die Aufgabe des Hohen Hauses und derBundesregierung, hier Abhilfe zu schaffen.Sechstens und letztens: die Antidiskriminierungs-stelle des Bundes. Kaum ein Liberaler oder Konserva-tiver wollte sie. Laut war das Geschrei bei der Einfüh-Zu Protokoll gegebene Reden
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Daniela Kolbe
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rung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Ichbin glücklich, dass wir sie haben. In ihr liegt viel Po-tenzial. Ihr kommt gemäß ihrer Aufgabenbeschreibungim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz eine zen-trale Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungin Deutschland zu. Um ihr Aufgabenpotenzial vollum-fänglich auszuschöpfen und tatsächlich ein entschei-dender Akteur im Abbau von Diskriminierungen zuwerden, muss die – im europäischen Vergleich ohnehinspärlich mit Kompetenzen und Mitteln bedachte –Antidiskriminierungsstelle des Bundes endlich besserfinanziell ausgestattet werden.
Rassismus ist nach wie vor ein Problem in Deutsch-
land. Aus tiefer Überzeugung stellt sich die Bundes-
regierung rassistischen Ideologien und rassistischer
Gewalt entschieden in den Weg. Der Antrag der Kolle-
ginnen und Kollegen der SPD erweckt jedoch den Ein-
druck, die christlich-liberale Koalition sei in diesem
Punkt nachlässig in diesem Bereich gewesen. Das Ge-
genteil ist der Fall. So hat die Koalition die Mittel für
Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus im Ver-
gleich zur letzten rot-grünen Regierung beinahe ver-
dreifacht. Wir haben die Präventionsprogramme im
Rahmen der Initiativen „Toleranz fördern – Kompe-
tenz stärken“, „Demokratie Stärken“ und „Zusam-
menhalt durch Teilhabe“ verlängert, um Planungs-
sicherheit zu schaffen.
Der Bund unterstützt die Antirassismusarbeit nach
Kräften. Gefragt sind hierbei jedoch in erster Linie die
Länder, die im Rahmen der Kultushoheit unter ande-
rem für die schulische Bildung und Erziehung zustän-
dig sind. Wenn die Situation in Deutschland tatsäch-
lich so schrecklich ist, wie Sie beschreiben, könnten
Sie sich zur Abwechslung einmal an Ihre Kolleginnen
und Kollegen in den Ländern wenden – bekannterma-
ßen sind Sie an fast jeder Landesregierung beteiligt.
Wenn Sie in den Ländern versagen, machen Sie dafür
bitte nicht den Bund verantwortlich.
Stattdessen fordern Sie vor allem, was einen rein
symbolischen Charakter hat. Dabei wissen Sie nicht
einmal selbst, wie Ihre Forderungen konkret umgesetzt
werden können. Das betrifft Ihre Forderungen zu Maß-
nahmen gegen indirekte Diskriminierung. Indirekte
Diskriminierung ist bereits jetzt in Deutschland verbo-
ten. Das schreibt das Allgemeine Gleichbehandlungs-
gesetz vor, das Sie 2006 während Ihrer Regierungsver-
antwortung verabschiedet haben. Das sollten Sie also
wissen. Wenn Sie nun sieben Jahre später fordern, die
Bürger bräuchten staatliche Unterstützung dabei, das
Gesetz zu befolgen, ist das AGG entweder unverständ-
lich oder von Ihnen unzureichend begleitet worden.
Wie ratlos Sie sind, zeigt sich bei Ihrer Forderung,
den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz durch eine an-
dere Formulierung zu ersetzen. Sie selbst führen in Ih-
rer Begründung aus, dass auch die Begriffe „ethnische
Herkunft“ oder „Ethnie“ problematisch sind, weil
auch durch sie Gruppen unzulässig pauschalisiert
werden. Das sehe auch ich als Problem. Sie liefern da-
für aber keine Lösung. Sie machen keinen Vorschlag,
wie eine alternative Formulierung aussehen könnte.
Das ist reine Symbolpolitik. Sie können nicht fordern,
dass wir das Grundgesetz ändern sollen, ohne zu wis-
sen, wie die Änderung überhaupt aussehen soll. Das
machen wir nicht mit.
Letztlich wollen Sie den Begriff „Rasse“ – oder ein
Äquivalent – auch gar nicht fallen lassen. Wenn Sie
künftig Diskriminierung und Rassismus noch weit stär-
ker erfassen und ahnden wollen als heute, kommen Sie
auch gar nicht ohne eine entsprechende Kennzeich-
nung von Personen aus. In einer immer vielfältiger
werdenden Welt kommen Sie damit aber nicht weit.
Wie wollen Sie bestimmen, welche Herkunft der Täter
und welche Herkunft das Opfer haben muss, damit et-
was als rassistisch gilt? Eine umfassende Katalogisie-
rung der Herkünfte lehne ich genauso ab wie eine Er-
fassung der Herkunft bei Einzelpersonen. Und ganz im
Ernst: Das ist auch gar nicht notwendig. Die Gerichte
bestrafen bereits jetzt kriminelle Handlungen stärker,
wenn sie vor einem rechtsextremistischen oder rassis-
tischen Hintergrund erfolgen. Das zu leugnen, führt an
der Realität vorbei.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forde-
rungen des SPD-Antrags entweder durch staatliches
Handeln überflüssig sind oder die eigentlichen Adres-
saten die Länder sind oder die Forderungen rein sym-
bolischen Charakter haben und auch die SPD selbst
nicht sagen kann, wie die konkrete Umsetzung ausse-
hen könnte. Alles in allem ist der Antrag nicht ausge-
reift.
Heute gibt es an vielen Orten wieder Aktionen ge-gen Rassismus; denn es ist der Internationale Taggegen Rassismus, und die Aktionen sind auch nötig.Rassismus – das bedeutet die systematische Diskrimi-nierung und Abwertung von Menschen, die in denAugen großer Teile der Gesellschaft anders sind alssie: weil sie eine andere Hautfarbe, Herkunft oderauch Religion haben. Rassismus verletzt nicht nurMenschenrechte, Rassismus tötet auch.Die offizielle Statistik der Bundesregierung weistseit dem Jahr 1990 63 Menschen aus, die aus rassisti-schen Gründen getötet wurden. Dabei liegt die Zahlder Ermordeten wesentlich höher; denn oftmals ermit-telt die Polizei gar nicht nach einer rassistischen oderneonazistischen Einstellung der Täterinnen und Täter.Journalistinnen und Journalisten von „Tagesspiegel“und „Die Zeit“ haben circa 150 Opfer recherchiert.Die Amadeu-Antonio-Stiftung listet sogar mehr als180 Ermordete auf.Diese folgenschwere Ermittlungspraxis der Behör-den ist zuletzt durch die Mordserie des „National-sozialistischen Untergrunds“, NSU, öffentlich gewor-den. Denn ganz in rassistischer Manier ermittelten dieBehörden in den Familien der Opfer, da diese dieZu Protokoll gegebene Reden
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Sevim Dağdelen
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Gründe für die Mordserie in der „Mafia- und Schutz-gelderpressung“ vermuteten. Die eingesetzte Sonder-kommission hieß „Bosporus“ und führte Ermittlungenzu „Döner-Morden“.Gerade nach dem 11. September 2001 verortetenauch die deutschen Sicherheitsbehörden die Schwerst-kriminalität im migrantischen bzw. muslimischen Mi-lieu. Neun Menschen mit Migrationshintergrund wur-den an verschiedenen Orten mit derselben Waffeermordet. Die Linke kritisiert, dass die Sicherheitsbe-hörden angeblich keine rassistischen Motive erkannthaben wollen, und das, obwohl in den Jahren zuvor be-reits Dutzende Menschen aus rassistischen Motiven inDeutschland ermordet worden waren. Die Linke for-dert eine rückhaltlose Aufklärung, und das auch ange-sichts der Tatsache, dass bereits bevor die NSU-Nazisim Jahr 2000 zur ersten Hinrichtung schritten,105 bzw. 125 Menschen umgebracht worden waren.Die Linke fordert auch, dass Rassismus endlich alsgesellschaftliches Problem erkannt, als solcher be-nannt und wirksam bekämpft wird. Rassismus ist All-tag in Deutschland: Abschiebeknäste, Residenzpflichtund die Isolierung von Flüchtlingen sprechen für einegezielte Ausgrenzung. Offizielle Diskurse um das Asyl-recht und integrationspolitische Themen verstärkenoder legitimieren rassistische Denkmuster, wie dieDiskussion um angebliche Integrationsverweigereroder um den angeblichen Missbrauch bei der Einwan-derung aus Rumänien und Bulgarien zeigt. Wer nichtdavor zurückschreckt, rassistische Vorurteile zu schü-ren bzw. diese parteipolitisch zu nutzen, ist Wegberei-ter rassistischer Gewalt.Polizei, Justiz und Geheimdienste spiegeln die ge-sellschaftlichen Verhältnisse wider, wie die bereits er-wähnten Sonderkommissionen mit Namen wie „Ala-din“ oder „Bosporus“, die Opfer rassistischer Gewaltunter Generalverdacht stellen, oder die rassistischeBezeichnung „Döner-Morde“. Auch das sogenannteRacial Profiling ist eine rassistische Polizeipra-xis. Dabei werden Menschen insbesondere in Bahnen,an Flughäfen und auf öffentlichen Plätzen allein auf-grund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe, einfach we-gen ihres vermeintlichen Andersseins kontrolliert.Die Bundesregierung leugnet das Problem. Rassis-tische Polizeikontrollen gebe es nicht, weil das jagrundgesetzwidrig wäre, heißt es schlicht in Verleug-nung der vielfach belegten konkreten Alltagserfahrun-gen Betroffener.Aus Sicht der Linken ist die Bundesregierung weni-ger Teil der Lösung als eher Teil des Problems. Dennsie versagt nicht einfach nur bei der Bekämpfung desRassismus. Sie leistet oftmals einem Klima Vorschub,in dem der tödliche Rassismus ganz im Stile des NSUmöglich ist, so zum Beispiel auch durch die Art undWeise der Veröffentlichung der Studie „Lebensweltenjunger Muslime in Deutschland“, durch die rassisti-sche Ressentiments und Stereotype befördert wurden.Damit betätigte sich Bundesinnenminister Friedrichgerade einmal eine Woche nach der Gedenkveranstal-tung am 23. Februar 2012 für die Opfer der Nazi-Mordserie schon wieder kräftig an der Stigmatisierungvon Muslimen.Von der eigenen Verantwortung und Mitschuld anden Folgen einer Politik der Ausgrenzung und Diskri-minierung ist seitens der Bundesregierung nie etwas zuhören. Statt Vorurteilen und Ressentiments entgegenzu-treten, errichtet sie den wissenschaftlich längst wider-legten rechtspopulistischen Popanz einer angeblichverbreiteten Integrationsverweigerung immer wiederaufs Neue.Auch aktuell will vor allem die CDU/CSU offenkun-dig erneut Wahlkampf auf Kosten von Migrantinnenund Migranten, insbesondere von Sinti und Roma, ma-chen. Fakten spielen dabei auch hier wieder einmalkeine Rolle. Laut Rheinisch-Westfälischem Institut fürWirtschaftsforschung gehen 80 Prozent der Menschen,die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland ge-kommen sind, einer Erwerbsarbeit nach. 22 Prozentvon ihnen sind hochqualifiziert und 46 Prozent qualifi-ziert.Doch diese Wahrheit stört den Bundesinnenministernicht. Er spricht von Sozialbetrug und einer massen-haften Armutsmigration von Migrantinnen und Mi-granten aus diesen beiden Ländern. Mit der Forderungnach Wiedereinreisesperren und der Verhinderung derAufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schen-gen-Raum wird Rassismus vor allem gegen Sinti undRoma geschürt. Für das soziale Problem hat die Bun-desregierung keine Lösung. Mit dem Phänomen Armutund der Verantwortung dafür will sie sich nicht aus-einandersetzen. Stattdessen wird die Armut mit „kultu-rellen“ Eigenschaften erklärt und damit dem Rassis-mus und Antiziganismus Tür und Tor geöffnet.Wie schlampig, desinteressiert und fahrlässig dieBundesregierung mit dem Thema Rassismus umgeht,zeigt beispielhaft der 2008 verabschiedete NationaleAktionsplan gegen Rassismus. Lustlos wird darin auf-geschrieben, was die Bundesregierung ohnehin tut.Besonders kritisiert die Linke, dass selbst noch die In-tegrationspolitik als ein Beitrag gegen Rassismus dar-gestellt wird – so, als ob Rassismus eine Reaktion aufmangelnde Integration sei, was absurd ist.Die Linke fordert eine angemessene Analyse rassis-tischer Diskriminierung in Deutschland und in die Zu-kunft gerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung von Ras-sismus. Das gilt nicht allein für den Alltagsrassismusin der sogenannten Mitte der Gesellschaft, sonderninsbesondere auch für den institutionellen Rassismus.Die Bekämpfung von Rassismus erfordert auch dieHerstellung gleichberechtigter sozialer und politi-scher Teilhabe aller Menschen. Genau hier versagt dieBundesregierung, allein schon deshalb, weil ihr derentsprechende Wille fehlt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Sevim Dağdelen
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Insofern ist es an sich begrüßenswert, dass der vor-liegende Antrag der Bundesregierung Handlungs-maximen bezüglich der Bekämpfung von Rassismusaufzeigt. Schade nur, dass Ihre Fraktion, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD, selber über Jahrefaktisch untätig geblieben ist. Denn seit der Abschlus-serklärung der rot-grünen Bundesregierung auf der„Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminie-rung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhän-gende Intoleranz“ in Durban im Jahr 2001 ließen siebis 2008 die Zeit mehr oder weniger ungenutzt ver-streichen. Dass wir jetzt also diesen schlechten Natio-nalen Aktionsplan gegen Rassismus haben, der durchIhre Fraktion mit der CDU/CSU zusammengeschustertwurde, ist auch Ihr zweifelhaftes Verdienst.Trotz allem kann die Linke dem Antrag selbst zu-stimmen. Die Grundkritik wird von uns seit Jahrengeteilt: ein zu enger Rassismusbegriff, vor allem dieReduzierung des Rassismus auf den sogenanntenRechtsextremismus, keine überprüfbaren Maßnahmen,keine eigenen Initiativen der Bundesregierung. Auchdie Forderungen decken sich mit den unsrigen. DieLinke steht für die Erhebung des Ist-Stands und einenbreiteren Rassismusbegriff, konkrete Maßnahmen,eine dem Thema adäquate Finanzierung der Maßnah-men und antirassistischen Initiativen und der Antidis-kriminierungsarbeit, eine Evaluierung der Maßnah-men in kürzeren Abständen wie zum Beispiel alle zweiJahre sowie ein Hinterfragen der Rolle staatlicher In-stitutionen und Praktiken. Letzteres ist aus Sicht derLinken deshalb so wichtig, weil rassistische Kontrol-len, Pauschalverdächtigungen und Entrechtung fürviele Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten alltäg-liche Erfahrungen sind.Diskriminierende und ausgrenzende Gesetze undVorschriften wie etwa das Asylbewerberleistungsge-setz, die Residenzpflicht, faktische und tatsächlicheArbeitsverbote stehen für die Bundesregierung abernicht zur Diskussion. Problematisch ist insbesondere,dass die Bundesregierung in dem Aktionsplan die För-derung der Integration als maßgebliches Mittel zurBekämpfung von rassistischen Vorurteilen ansieht. DieBundesregierung verkennt dabei, dass rassistischeVorurteilsstrukturen in der Gesellschaft unabhängigvon der realen Erfahrung mit Migrantinnen undMigranten vorhanden sind; so auch die Kritik vonetwa 100 Nichtregierungsorganisationen der Antiras-sismus- und Migrationsarbeit im Positionspapier„Handlungsfelder für einen Politischen Aktionsplangegen Rassismus“ vom Juni 2010, Seite 4, zum Bei-spiel: http://fachinformationen. diakonie-wissen.de/node/2966.Anstatt die von Rassismus betroffenen Menschendahin gehend zu stärken, ihnen gleiche Rechte zu ge-währen, werden sie weiter ausgegrenzt und diskrimi-niert. Die Linke fordert deshalb, dass das Kapitel zurFörderung der Integration von Migrantinnen und Mi-granten aus dem Aktionsplan verschwinden muss.Keinen Widerspruch gibt es auch hinsichtlich des„Rasse“-Begriffs. Dazu hatte die Linke bereits 2010einen Antrag, auf Bundestagsdrucksache 17/4036, ein-gebracht. Die Linke forderte darin, dass der Begriff„Rasse“ keine Aufnahme mehr findet und stattdessendie Formulierung „ethnische, soziale und territorialeHerkunft“ verwendet wird.Der bestehende Nationale Aktionsplan gegen Ras-sismus lässt nach wie vor konkrete, umsetzbare undmessbare Ziele weitgehend vermissen. Ein kleinerSchritt in Sachen Antirassismus wäre, dem Aktions-plan gegen Rassismus endlich einen konkreten Hand-lungscharakter zu geben. Diese Forderung auch meh-rerer Verbände und Initiativen unterstützt die Linkeausdrücklich.
Wir müssen Rassismus erkennen, beim Namen nen-nen und konsequent ächten. Rassismus ist menschen-feindlich und kostet auch heute noch in DeutschlandLeben. Das belegen die Erkenntnisse rund um dierechte Terrorserie des NSU, die mindestens zehn To-desopfer forderte. Es ist beschämend, dass die offen-kundig rassistischen Hintergründe dieser Morde jah-relang ignoriert und verleugnet wurden.Insgesamt haben mindestens 182 Menschen inDeutschland seit 1990 ihr Leben verloren, weil sienicht in das rassistische Weltbild der Täter passten.Die aktuelle Strafrechtsbestimmung gegen Rassismusführt in Deutschland immer noch dazu, dass rassis-tisch motivierte Straftaten oft nicht als solche unter-sucht werden.Wir fordern die Bundesregierung auf, eine lücken-lose Aufklärung aller rassistischen Straftaten voranzu-treiben. Neben der Aufarbeitung des Versagens derSicherheitsbehörden muss entschieden und kontinuier-lich gegen jegliche Form von Rassismus in Deutsch-land vorgegangen werden.Rassistische Einstellungen und gruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit beschränken sich bei weitemnicht auf Neonazis, sondern sind in der sogenanntenMitte der Gesellschaft breit verankert. Wissenschaftli-che Untersuchungen, wie die „Deutschen Zustände“der Universität Bielefeld oder „Die Mitte im Um-bruch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen dies:Rassistisches Denken und eine abwertende Haltunggegenüber anders Denkenden, Lebenden und Lieben-den sind leider fester Bestandteil der deutschen Ge-sellschaft.Viele Menschen werden weiterhin Tag für Tag ausrassistischen Gründen diskriminiert, entwürdigt undihrer Rechte beraubt. Rassismus bedeutet für die Be-troffenen konkrete Benachteiligung zum Beispiel in derArbeitswelt oder in der Schule.Eine Studie der Universität Konstanz von 2010 be-legt, dass Bewerberinnen und Bewerber aufgrund ei-nes türkischen Nachnamens bei gleicher Qualifikationdeutlich schlechtere Chancen haben.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28937
Monika Lazar
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Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berich-tet, dass sich die Fälle von ethnischer Diskriminierungin den ersten sechs Jahren ihres Bestehens verdoppelthaben. Die Bundesregierung muss endlich mit konkre-ten Maßnahmen gegen jede Form von Rassismus undandere Ideologien der Ungleichwertigkeit tätig wer-den.Bereits 2001 hat unter der Leitung der UN-Hochkom-missarin für Menschenrechte die dritte Weltkonferenzgegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremden-feindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranzin Südafrika stattgefunden.In der Abschlusserklärung hat sich die Bundesrepu-blik Deutschland verpflichtet, einen Nationalen Ak-tionsplan gegen Rassismus aufzustellen und konkreteMaßnahmen zu implementieren. Mit einer sechsjähri-gen Verspätung hat sie es erst 2007 geschafft, einenAktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus, Frem-denfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogeneIntoleranz zu erarbeiten und 2008 zu verabschieden.Die Bundesregierung hat sich nicht nur viel Zeit fürdie Erarbeitung des Aktionsplans gelassen, sondern esauch versäumt, konkrete Ziele zu formulieren. Der Ak-tionsplan enthält weder eine Analyse der aktuellen Si-tuation in Deutschland noch konkrete Maßnahmen undInstrumente zur Bekämpfung von Rassismus. Stattdes-sen wird Rassismus mit Integrationsdefiziten von Mi-grantinnen und Migranten gerechtfertigt und demAktionsplan ein zu eng gefasster Rassismusbegriff zu-grunde gelegt, der sich überwiegend auf rechtsextremeHandlungen beschränkt. Dies wurde bereits 2007 vonzahlreichen Nichtregierungsorganisationen kritisiert.Geändert hat sich daran bisher nichts.Stattdessen zeigen die Ergebnisse der Studie „Le-benswelten junger Muslime in Deutschland“ oder diePlakataktion „vermisst“ des BundesinnenministersFriedrich, dass die Regierung weiterhin versucht, dieMigrantinnen und Migranten selbst für ihre Diskrimi-nierungserfahrungen verantwortlich zu machen, stattRassismus beim Namen zu nennen und zu bekämpfen.Mit der Implementierung des Allgemeinen Gleich-behandlungsgesetzes und der Einrichtung der Antidis-kriminierungsstelle des Bundes sind Schritte in dierichtige Richtung gegangen worden. Es ist aber wei-terhin weder eine umfassende Strategie noch eine ernstgemeinte Bekämpfung von Rassismus durch die ak-tuelle Bundesregierung festzustellen. Rassismus darfsich nicht in unserer Gesellschaft breitmachen, undMenschen dürfen nicht länger aufgrund von Zuschrei-bungen ausgegrenzt und benachteiligt werden.Der Antrag der SPD verweist deshalb zu Recht aufeine dringend notwendige Weiterentwicklung des Ak-tionsplans, die Bündnis 90/Die Grünen unterstützen.Notwendig sind eine konsequente und offene Aus-einandersetzung mit Rassismus sowie eine umfassendeAnalyse der aktuellen Situation in Deutschland und einkontinuierliches Monitoring.In einem zweiten Schritt gilt es, konkrete und ver-bindliche Maßnahmen und Instrumente zur Bekämp-fung von Rassismus zu implementieren. Ein konsequentumgesetzter Nationaler Aktionsplan gegen Rassismuswäre ein wichtiges Signal, dass sich die Politik inDeutschland klar und eindeutig gegen Rassismus posi-tioniert.Um Rassismus und andere menschenfeindliche Hal-tungen erfolgreich zu bekämpfen, brauchen wir aberinsbesondere eine starke Zivilgesellschaft und die Ver-stetigung bisher bereits erfolgreich arbeitender Struk-turen. Kontinuierliche Aufklärung, Sensibilisierung,Beratung und politische Bildung müssen ermöglichtund ausreichend finanziert werden.Wir fordern deshalb ein Bundesprogramm gegengruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, das mit50 Millionen Euro jährlich ausgestattet und langfristigangelegt ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9975 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Handelsübereinkom-men vom 26. Juni 2012 zwischen der Europäi-schen Union und ihren Mitgliedstaaten einer-seits sowie Kolumbien und Peru andererseits– Drucksache 17/12354 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksachen 17/12810, 17/12875 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus BarthelHierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Martin Lindner.
– Der Kollege Dr. Martin Lindner soll die Rede zu Pro-tokoll gegeben haben.1)1) Anlage 4
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28938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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– Das werden wir feststellen.Dann hat jetzt das Wort der Kollege Klaus Barthel fürdie SPD-Fraktion.
Herr Präsident, vielleicht bekomme ich ein bisschenRedezeit vom Kollegen Lindner. Die könnten wir gut ge-brauchen. – Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben die Frage eines Handels-übereinkommens mit Kolumbien und Peru im Ausschussungewöhnlich emotional behandelt. Angesichts der Vor-geschichte ist es komisch, dass wir dieses Thema zu die-ser späten Stunde beraten. Wenn dieses Abkommen, wiewir sicher von Vertretern der Koalition heute noch hörenwerden, so unproblematisch und gut wäre, wenn das Ab-kommen so wichtig wäre, dass es unbedingt heute verab-schiedet werden sollte, wenn es gute Gründe für die Eileund Hektik gäbe, die dazu führte, dass wir nicht einmaldie Anhörung vernünftig auswerten konnten, dann istinsgesamt doch die Frage: Warum verstecken Sie dieDiskussion am heutigen Donnerstagabend unter einemder letzten Tagesordnungspunkte? Offensichtlich gibt esdoch etwas zu diskutieren.
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns über diegrundsätzliche Bedeutung dessen klar werden, was wirheute diskutieren. Denn nach dem Scheitern der WTO-Runde in Doha wird die Zahl der bilateralen und biregio-nalen Abkommen zunehmen.Für uns stellt sich die Frage: Wie gestalten wir, wiegestaltet die Europäische Union ihren Anspruch, um die-sem Abkommen und anderen internationalen Abkom-men zu den Menschenrechten und den sozialen und öko-logischen Standards, zum Beispiel den ILO-Standards,zum Durchbruch zu verhelfen? Wie wollen wir zum Bei-spiel die Entschließung des Bundestages – wir warenschon einmal weiter – vom 16. Juni 1999 umsetzen? Da-mals ging es um das Partnerschaftsabkommen mit Me-xiko. Da hieß es – ich darf zitieren –:Aus menschenrechtlicher und humanitärer Sichtsollte verstärkt auf die Implementierung der men-schenrechtsbezogenen Vereinbarungen des Abkom-mens geachtet werden. Aus diesem Grunde solltenregelmäßige Konsultationen, regelmäßige Berichteund ein Monitoring der Menschenrechtslage unterEinbeziehung mexikanischer Nichtregierungsorga-nisationen seitens der EU vereinbart werden.Das war vor fast 15 Jahren. Damaliger Berichterstat-ter war der Kollege Fritz, der gleich sprechen wird. Erwird sich vor seinen eigenen Reihen rechtfertigen müs-sen, dass CDU/CSU und FDP dem Beschluss damals zu-gestimmt haben.Heute stellt sich die Frage: Was ist zum Beispiel imFall von Mexiko geschehen, um den Menschenrechten,der Sicherheit usw. zum Durchbruch zu verhelfen – au-ßer dass deutsche Waffen dorthin geliefert wurden?Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, dieentsprechenden Standards in einem solchen Abkommenzu verankern. Das Abkommen, über das wir heute reden,hat viele Seiten. Es enthält viele Details, viele Begriffs-bestimmungen, viele Verpflichtungen: Ausschüsse, Un-terausschüsse, Streitschlichtung. Fast alle Artikel – 310von 337 Artikeln – drehen sich nur um Handelsfragenund um Detailfragen. Was aber fehlt, ist Verbindlicheszur Menschenrechtsfrage, zu den Standards, die ich an-gesprochen habe. Es fehlen auch Maßnahmen zur Geld-wäschebekämpfung usw.Jetzt sagen Sie: Was maßen wir uns eigentlich an,über Menschenrechte und Arbeitsstandards in Kolum-bien und Peru zu diskutieren? Ist das nicht Neokolonia-lismus? Diese Debatte hatten wir ja geführt.Dazu kann ich nur sagen: Wenn man durch solche de-taillierten Vereinbarungen in das Wirtschaftsleben ande-rer Länder eingreift, wenn man den Handel liberalisiertund Vereinbarungen zum Agrarhandel, zu Industrie-dienstleistungen, zur Daseinsvorsorge, zum öffentlichenAuftragswesen, zu Agrarexporten und zu Fragen der Pri-vatisierung trifft, dann verändert das die Lebensverhält-nisse der Menschen dort ganz enorm. Gerade in Ländernwie Peru und Kolumbien, wo es maximale Ungleichheit,Gewalt, Kriminalität, Unterdrückung von Gewerkschaf-ten und von Minderheiten sowie einen schwachenRechtsstaat gibt, wäre eine solche Rahmensetzung un-mittelbar notwendig gewesen; denn sonst sind wir wie-der beim Kolonialismus.Es geht nicht darum, dass jetzt plötzlich peruanischeoder kolumbianische Bauunternehmen auf deutschenBaustellen ihre Dienste anbieten, sondern es geht darum,dass dort Leistungen erbracht werden. Wenn dort solcheVerhältnisse auch bei europäischen Anbietern herrschenund nichts bei der Sicherheit, im Bereich der Arbeitneh-merrechte sowie bei sozialen und ökologischen Stan-dards geschieht, dann sind wir beim Kolonialismus.Es geht nicht darum, in die Rechte anderer Länderneinzugreifen. Vielmehr sollten wir für die notwendigenRahmensetzungen sorgen, um Liberalisierungen, um denFreihandel tragfähig zu machen.
In den beiden Ländern, um die es hier geht, gibt esReform- und Friedensprozesse. Das unterstützen wir.Aber die Roadmap, die das Europäische Parlament be-schlossen hat, ist nicht verbindlich genug, um diese Re-formprozesse – in diesem Zusammenhang gibt es immernoch Opposition und Gewalt – nachhaltig zu unterstüt-zen.Deswegen haben wir heute einen Entschließungsan-trag eingebracht. Wir werben dafür, ihn zu unterstützen.Wir können dem Freihandelsabkommen in der heutevorliegenden Fassung nicht zustimmen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28939
Klaus Barthel
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Das Wort hat der Kollege Erich Fritz von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herzlichen Dank an alle, die heute Abend noch den Weghierhin gefunden haben!
Herr Kollege Barthel, Sie haben wieder versucht, zuunterstellen, wir hätten nicht ausreichend Zeit gehabt; essei gar nicht möglich gewesen, sich mit der Sache richtigauseinanderzusetzen. Richtig ist, dass dieses Thema na-türlich nicht spontan und kurzfristig auf die Tagesord-nung kam, sondern dass wir uns schon lange damit be-schäftigen. Das ist mandatiert worden. Es ist auch keinAbkommen, das die Europäische Union Peru und Ko-lumbien aufgezwungen hat. In Ihrer Rede klang es fastso, als wenn das etwas gewesen wäre, das man diesenLändern mit Gewalt hätte beibringen müssen.Nein, das ist schon ein Abkommen zwischen souverä-nen Partnern. Das muss man, glaube ich, akzeptieren,damit man sich nicht selbst erhebt und überheblich mitden Vertragspartnern umgeht. Das haben sie nicht ver-dient.
Denn in beiden Staaten sind – Sie haben es selbst gesagt –Prozesse in Gang, die wir mit großem Interesse, zumTeil mit Sympathie, aber auch mit Kritik, begleiten.Es gibt keinen Zweifel, dass es Länder sind, in denenes viele Missstände gibt und grundlegende Standardszum Teil nicht eingehalten werden, und dass wir allenAnlass haben, nicht wegzuschauen, sondern uns zu küm-mern. Aber zu unterstellen, jeder, der für dieses Abkom-men ist, sei gegen die Verwirklichung der Menschen-rechte in diesen Ländern,
gegen Umweltstandards und gegen Sozialstandards, istein bisschen übel. Ich nehme es auch übel, wenn dies soverbreitet wird. Dann müssen Sie nämlich Ihren Kolle-gen der SPD und in der Sozialistischen Fraktion im Eu-ropäischen Parlament sagen: Ihr habt alle nicht verstan-den, worum es geht.
– Darauf komme ich gleich. – Denn das EuropäischeParlament hat mit fast drei Viertel der Stimmen gegendie Stimmen der europäischen Grünen und der Linkendiesem Abkommen zugestimmt.Ich wiederhole, was ich schon im Wirtschaftsaus-schuss gesagt habe: In Wirklichkeit ist dieses Abkom-men ein revolutionäres Abkommen,
weil es ein solches in der Geschichte der Freihandelsab-kommen noch nie gab. Wenn Sie sehen, wie China mitlateinamerikanischen Ländern Verträge schließt, dannmüssen Sie doch zu einer etwas abgewogeneren Positionkommen, als Sie sie jetzt einnehmen.
– Nein, ich will es nicht mit China vergleichen. Ich willnur sagen, welche Chancen für die beiden Länder in die-sem Abkommen stecken, was auch der Grund dafür ist,dass sie sie abgeschlossen haben.Denn worum geht es bei diesem Abkommen, zu-nächst einmal im Freihandelsteil? Welche Vorteile gibtes dabei? Natürlich hat es für uns Vorteile: für Deutsch-land und die europäischen Länder, aber auch für Kolum-bien und Peru. Das wissen Sie; Sie waren selbst dort.
– Zunächst einmal für diese Länder, die einen Entwick-lungspfad verfolgen. Auf diesem Entwicklungspfad hal-ten sie es auch für wichtig, die einseitige Bindung zu denUSA – auch die wirtschaftliche Bindung über Wanderar-beiter und Importe – zu verändern. Sie wollen Europa alsPartner. Das ist doch etwas, worin viele Chancen ste-cken, und die müssen wir erst einmal wahrnehmen.Dann hat die Europäische Kommission gesagt: Ihrmüsst uns gar nicht mit Abkommen kommen, die nurreine Freihandelsabkommen sind.
– Aber natürlich steht etwas anderes darin.
– Wenn Sie es nicht gelesen haben, dann sollten Sie auchnicht darüber reden.Es ist das erste Abkommen überhaupt, in dem etwaszu Menschenrechten und zu Standards enthalten ist.
Freilich ist es asymmetrisch.
Aber haben wir denn das, was Sie wollen, wirklich inder Hand, nämlich einen so langen Hebel, dass mandiese Länder veranlassen kann, genau das zu machen,
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28940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Erich G. Fritz
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was Sie wollen? Wenn Sie das glauben, dann haben Siewirklich keine Vorstellung davon, wie solche Verhand-lungen ablaufen.
Wir beklagen gemeinsam, dass wir mit dem multilate-ralen System nicht vorankommen. Wir beklagen das vorallem, weil wir glauben, dass multilaterale Übereinkom-men dem Schutz der kleineren Staaten dienen und sie alsVerpflichtung für alle bilateralen Abkommen vorzuzie-hen sind.Wir haben aber gemerkt, dass alle Ansätze der Euro-päischen Union, wenigstens biregional vorzugehen, wennein multilaterales Vorgehen schon nicht möglich ist,nicht funktionieren, weil es vergleichsweise homogeneRegionen mit einem ähnlich hohen Integrationsstand wiein der Europäischen Union auf der Welt nicht noch ein-mal gibt. Deshalb klappt das mit ASEAN nicht, und des-halb hat das auch mit Mercosur und den Andenstaatennicht geklappt. Wenn es nun aber zwei Staaten in einersolchen Region gibt, die sagen: „Für uns steckt einegroße Chance darin, wenn wir das zu zweit machen“,dann finde ich es nicht in Ordnung, wenn das zunächsteinmal hauptsächlich diskreditiert wird. Dann muss manschauen, dass man aus den Prozessen, die dadurch mög-lich werden, das Beste macht.
– Ich will Ihnen nur Folgendes sagen: Wir waren unshier immer einig, dass wir hohe Standards haben. Wirhaben früher an vielen Stellen versucht – dazu haben Siegerade ein Zitat angeführt –, die Sache voranzubringen.Sascha Raabe weiß das. Er war auf einer WTO-Konfe-renz, auf der die Entwicklungsländer gesagt haben:Wenn nur Sozialstandards und Umweltstandards auf derTagesordnung stehen, dann fahren wir wieder nachHause.
– Ja. Wer handelt denn? – Und heute haben wir ein Ab-kommen, in dem so etwas steht. Wenn das kein Fort-schritt ist, dann weiß ich nicht, womit man zufriedensein soll. Dass man das nicht abhaken und zur Tages-ordnung übergehen kann, sondern Dialogprozesse, dieweiterführen, in Gang bringen muss, ist doch klar. Tat-sächlich ist vorgesehen, dass das Abkommen sogar aus-gesetzt werden kann, wenn da nichts passiert.
– Schauen Sie doch einmal genau hinein.
Dass jemand, der für einen ganz hohen, lupenreinenStandard eintritt, das nicht ideal findet, ist verständlich.Mit einem solchen Anspruch kann man vielleicht Wahl-kämpfe führen, damit kann man auch Kampagnen ge-stalten, aber damit kann man leider keine Fortschritte imkonkreten Umgang mit den Partnern erzielen.
Dazu muss man den Partnern schon auf Augenhöhe be-gegnen und angemessene Verhaltensweisen an den Taglegen. Und nicht jede Verhaltensweise, die ich in dieserHinsicht in den letzten Monaten gesehen habe, ist geeig-net, das Verhältnis zu Partnern so zu gestalten, dass manbei den entscheidenden Punkten Einfluss hat.Deshalb bitte ich Sie sehr, sich noch einmal zu überle-gen, wie Sie mit diesem Abkommen umgehen wollen.Sie können mit Ihrem Verhalten innenpolitisch durchausPunkte sammeln. Sie können auch so tun, als obDeutschland in der Lage wäre, dieses Abkommen schei-tern zu lassen. Wir sind aber in nur drei kleinen, aber we-sentlichen Punkten zuständig, zum Beispiel hinsichtlichder Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.Das gemischte Abkommen können Sie höchstens so in-terpretieren, dass Sie sagen: Die Aussage zu Standardsrechtfertigt auch schon ein eigenes Verfahren. – Tatsacheist aber, dass das Abkommen aufgrund der Ratifizierungdurch das Europäische Parlament in Kraft ist.Mit Ihrem Entschließungsantrag ziehen Sie – das istdurchaus verständlich und parteipolitisch völlig in Ord-nung – die moralische Fahne auf. Ihr Entschließungsan-trag leidet aber darunter, dass er an der Substanz, andem, was machbar ist, nichts verändert. Im Gegenteil: Erverstellt den Blick für das, was man wirklich machenkönnte. Dass Sie uns nun auffordern, die Bundesregie-rung bei dem jetzigen Stand des Ratifizierungsverfah-rens zu veranlassen, das Paket, das auf dem Tisch liegtund vom Europäischen Parlament beschlossen wurde– es wurde übrigens auch vom Bundesrat einstimmig be-schlossen, also auch mit den Stimmen der SPD und derGrünen –, noch einmal aufzuschnüren und neu zu ver-handeln, kann man nur als Aktionismus verbuchen, abernicht als ernsthafte Politik.Ich bin der Überzeugung, dass dieses Abkommen– wie alle Freihandelsabkommen – Chancen für beideSeiten birgt. Auch bin ich davon überzeugt, dass es Ri-siken beinhaltet. Es gibt überhaupt keine Einordnung ei-nes Entwicklungslandes in die Weltwirtschaft, die ohneschwierige Anpassungsprozesse verläuft. Übrigens fanddie Eingliederung Deutschlands in die internationale Ar-beitsteilung auch nicht ohne solche Anpassungspro-bleme statt. Wenn wir die Vorstellung vom Festhalten anStrukturen gehabt hätten, wie Sie sie haben, gäbe eszwar im Münsterland immer noch viele Textilbetriebe;aber die Leute wären leider arm. Vielleicht hätten wirdann auch noch Stahlwerke. Dies würde uns aber nichthelfen. Weiter hätten wir noch viel Konsumgüterindust-rie; aber die Leute könnten die Produkte nicht kaufen.Wenn Sie Asien bzw. Südasien als Beispiel nehmen,können Sie feststellen, dass die Integration in die inter-nationale Arbeitsteilung und in den Welthandel auchneue Partizipationsbestrebungen der Bevölkerung aus-löst. Weiter werden Sie feststellen, dass diese Prozessenicht zu gestalten sind, wenn die Regierungen nicht um-schalten und in die Menschen – in Bildung und Gesund-heit – sowie in die Infrastruktur und die Entwicklung ih-res Landes investieren. Wenn das aber geschieht, werden
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Erich G. Fritz
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sie fähig sein, viel mehr dieser Prozesse selbst in dieHand zu nehmen.Wenn man diese Zusammenhänge ausblendet undmeint, man müsse nur Instrumente finden, mit denenman von außen diese Dinge beeinflussen und sozusagenerzwingen kann, wird das keinen Erfolg haben,
sondern dann wird man höchstens Vorurteile oder Vorbe-halte zu spüren bekommen. Man wird dann nichts ver-bessern.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Fakt
ist: Wir stimmen heute Abend über ein Freihandelsab-
kommen mit Peru und Kolumbien ab, womit sich die
Europäische Union einen verbesserten Zugang zu den
Absatzmärkten, zu den Rohstoffen und zu billigen Ar-
beitskräften in Lateinamerika sichern will.
Sie sprechen hier, Herr Fritz, von Kolumbien und
Peru. Sie haben die Frage nicht beantwortet: Für wen
machen Sie denn Politik? Sie machen hier Politik für die
Reichen und Vermögenden, für eine kleine Elite in Ko-
lumbien und Peru –
genauso wie Sie es in Europa machen. Deswegen lehnen
wir diese Politik ab.
Es sind vielleicht 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung, die
von diesem Abkommen profitieren werden. Für die
Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern wird es
verheerend sein, weil sie ihre Existenzgrundlagen verlie-
ren. Das ist uns in den Anhörungen ausführlich erklärt
worden.
Ich muss noch einen Satz dazu sagen: Ich war als Ent-
wicklungspolitikerin das erste Mal bei einer solchen An-
hörung im Wirtschaftsausschuss und war schockiert über
das Verhalten von Mitgliedern der Fraktionen der Koali-
tion.
Sie fühlten sich von Experten belästigt, die ihnen über
die sozialen Folgen dieser Abkommen berichtet haben.
Diese Mitglieder Ihrer Fraktionen haben gesagt: Wir
können das hier beenden, wir können das abkürzen, wir
wollen jetzt abstimmen. – Sie waren nicht einmal bereit,
die Leute, die wir aus verschiedenen Ländern eingeladen
haben, ausreden zu lassen bzw. sie anzuhören. Das wis-
sen Sie ganz genau. Es war eine wirklich unwürdige Dis-
kussion, die Sie dort organisiert haben.
Das zeigt ganz klar: Sie haben kein Interesse, sich mit
den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
mit sozialen Rechten und mit Entwicklung auseinander-
zusetzen. Das belästigt Sie nur.
Frau Kollegin Hänsel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Hänsel, widersprechen Sie mir, wenn
ich feststelle, dass wir uns in dieser Angelegenheit drei-
mal zu Anhörungen getroffen haben und dass Sie meis-
tens durch Abwesenheit geglänzt haben? Einmal waren
Sie da, und jetzt plärren Sie große Töne hinaus. So geht
es doch wirklich nicht. Sie treffen hier eine Schuldzu-
weisung, die hinten und vorne nicht stimmt. Sie haben
keine Ahnung, wie Anhörungen durchzuführen sind; es
gab da eine zeitliche Vorgabe. Ich bitte Sie, dies zur
Kenntnis zu nehmen und nicht so daherzureden, wie Sie
es eben getan haben. Sie haben gesagt, dass man die
Sachverständigen überhaupt nicht hätte zu Wort kom-
men oder dass man sie nicht hätte ausreden lassen. Das
entspricht nicht der Wahrheit; das ist falsch.
Ich bitte Sie, das sofort zurückzunehmen.
Ich nehme das überhaupt nicht zurück. Ihr halbstarkesAuftreten hier trägt dem auch gar nicht Rechnung; dassage ich Ihnen.
Wir sind hier nicht im Bayerischen Landtag oder sonstwo,
sondern wir führen hier ernsthafte Auseinandersetzun-gen.
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28942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Heike Hänsel
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Sie als Vorsitzender des Ausschusses hatten die Sacheleider nicht im Griff. Sonst hätten Sie Ihre eigenen Kol-legen einmal ermahnt.
Erstens war ich bei beiden Anhörungen dabei, undzweitens kann ich Ihnen die Namen nennen. Es warenHerr Lindner, Herr Solms und Frau Homburger, die ge-nervt waren und sagten: Wir können zum Ende kommen. –Sie haben ihre Kopfhörer abgenommen und gesagt: Dassind Schwätzer; wir wollen den Leuten nicht mehr zuhö-ren.
Ich habe das gehört. Das ist kein Umgang miteinander.So will ich mich nicht ernsthaft mit Ihnen über die Aus-wirkungen von Entwicklung auseinandersetzen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Da haben Sie ein sehr schlech-tes Bild abgegeben.Jetzt würde ich gerne mit meiner Rede fortfahren. Siekönnen sich wieder hinsetzen. Herzlichen Dank.
Ich bitte Sie, Herr Präsident, zu erlauben, dass ichfortfahre. Ich möchte nämlich gerne noch auf einen wei-teren Aspekt zu sprechen kommen.
Ich bremse Sie nicht. Sie können ruhig fortfahren.
Danke schön.
Bitte.
Erst heute Morgen hatte ich Besuch von zwei kolum-
bianischen Menschenrechtsaktivisten.
Sie haben mich noch einmal eindrücklich davor gewarnt,
dieses Abkommen zu unterzeichnen. Sie alle wissen ja:
Es geht nicht nur um die Frage, ob es in Kolumbien zu-
künftig Menschenrechtsverletzungen geben wird. Ko-
lumbien ist jetzt für Gewerkschafter immer noch das ge-
fährlichste Land der Welt. Jährlich werden Dutzende von
Gewerkschaftern ermordet. Im Jahr 2011 wurden 69 Ge-
werkschafter aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Tätig-
keit ermordet. Wie wollen Sie garantieren, dass die
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
diesem Land überhaupt durchgesetzt werden?
Außerdem kommt es zu Vertreibungen von Kleinbau-
ern und Kleinbäuerinnen. Es gibt in Kolumbien 6 Millio-
nen Hektar illegales Land und 5 Millionen vertriebene
Menschen, die aufgrund von Profitinteressen, etwa weil
dort Ölpalmen angebaut werden sollen, kein Land mehr
zur Verfügung haben. Viele Menschen werden von Pa-
ramilitärs eingeschüchtert, und es herrscht große
Straflosigkeit. Wie wollen Sie es verantworten, jetzt
ein Freihandelsabkommen mit diesem Land und mit
Peru abzuschließen? Das geht nicht! Sie tragen Verant-
wortung für diese Situation.
Herr Fritz, Sie sagten, das alles sei auf gleicher Au-
genhöhe geschehen. Ich will Ihnen sagen: Venezuela und
Bolivien haben sich, weil sie erkannt haben, was für eine
Ausbeutungspolitik hier betrieben wird, ganz bewusst
gegen Freihandelsabkommen gewandt und andere Vor-
schläge gemacht. Beide Länder hatten keine Möglich-
keit, in irgendeiner Form zu anderen Verhandlungen zu
kommen. Dann wurden sie ausgeschlossen. Es gab keine
Möglichkeit, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Die
EU hat diktiert.
Nur die Länder, die sich den Interessen der EU unterwer-
fen, haben die Möglichkeit, zu handeln. Diese neokolo-
niale Politik lehnen wir ab.
Ich komme zum Schluss. Wir stimmen natürlich ge-
gen das Freihandelsabkommen. Das tun wir übrigens im
Namen vieler sozialer Bewegungen in Lateinamerika
und in Europa, die gegen die Politik, die Sie organisieren
wollen, in zunehmendem Maße auf die Straße gehen.
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsollten einmal kurz durchatmen und uns wieder demHandelsabkommen mit Peru und Kolumbien widmen.
Ich will klarstellen: Wir Grünen sind grundsätzlichfür Handelsabkommen. Wir sehen im Handel die Mög-
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Thilo Hoppe
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lichkeit, den Wohlstand für alle Beteiligten zu mehren,wenn die Bedingungen stimmen. Die Kanzlerin hat so-gar selber einmal eine UN-Charta für menschenrechtsba-siertes nachhaltiges Wirtschaften vorgeschlagen.Wir müssen uns, wenn es darum geht, ob wir Han-delsabkommen abschließen, doch die Frage stellen, wasdiese Abkommen, die wir abschließen wollen, bewirkenund welche Auswirkungen sie haben. Herr Fritz, es gehtnicht darum, zu beurteilen: „Ist ein Land menschenrecht-lich weit entwickelt?“, und zu überlegen: „Benutzen wirdas jetzt als einen Hebel, um etwas zu verändern?“ – Wirmüssen aber die direkten Auswirkungen der Verträge,die wir abschließen, untersuchen. Sogar eine Folgeab-schätzung der Europäischen Kommission ist zu dem Er-gebnis gekommen, dass dieses Handelsübereinkommendrei gravierende negative Auswirkungen haben kann.
– Ja, höchstwahrscheinlich haben wird; so etwas kannman nie mit Sicherheit sagen. – Die erste Folge – das istschon erwähnt worden –: Mit diesem Abkommen wer-den nach einer Blaupause, die älter als 20 Jahre ist, derBankensektor und die Kapitalzuflüsse liberalisiert. Wirsind inzwischen eigentlich weiter: Wir merken an denvielen Krisen, die wir gerade erleben, dass mehr Regu-lierung notwendig ist. Mehrere Experten sagen uns:Wenn dieses Abkommen umgesetzt wird, werden Geld-wäsche und Steuerhinterziehung erleichtert. Das steht imGegensatz zu dem Trend, der momentan diskutiert wird.Die zweite Folge: Durch dieses Abkommen werdenPeru und Kolumbien gezwungen, mehr als 90 Prozentihrer Einfuhrzölle zu kassieren. Das heißt, sie könnensich nicht mehr wehren, wenn zum Beispiel hochsub-ventionierte Agrarexporte aus der Europäischen Unionihre Märkte überschwemmen. Wir haben im Entwick-lungsausschuss schon viel darüber diskutiert, welchegravierenden negativen Folgen es hat, wenn zu Dum-pingpreisen zum Beispiel Milchpulver und andereAgrarprodukte die Märkte überschwemmen. Peru undKolumbien werden, wie gesagt, nicht mehr die Möglich-keit haben, sich mit Zöllen dagegen zu wehren. Das wirdfür die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Peru und Ko-lumbien – diese Kleinbauern haben keine große Lobby –höchstwahrscheinlich gravierende Folgen haben. Diegroßen Agrarexporteure an der Küste können von demAbkommen möglicherweise profitieren; aber die Klein-betriebe werden höchstwahrscheinlich in den Ruin ge-trieben.Die dritte Folge: Ein Bereich wird durch dieses Ab-kommen wahrscheinlich stimuliert: der Bergbau. Wirsind schon mit mehreren Delegationen in der Yana-cocha-Goldmine und sonst wo in Peru gewesen. Es gibtdort überall große Konflikte: Teilweise werden indigeneKleinbauern zwangsumgesiedelt für die Ausweitung desBergbaus, teilweise werden Flüsse verseucht. Bei einerweiteren Stimulierung dieses Sektors sind also sozialeund ökologische Verwerfungen zu befürchten.Wir haben uns in der Grünenfraktion viel Zeit genom-men: Wir haben ein Jahr lang mit Wissenschaftlern, mitExperten, mit NGOs – auch mit Wirtschaftsvertretern –über ein Positionspapier zur Neuausrichtung der Han-delspolitik beraten und dieses beschlossen. Da sagen wirganz klar, dass Folgendes verändert werden muss:Es braucht mehr Transparenz: Jeder muss mitverfol-gen können, was da eigentlich verhandelt wird.Es muss verbindliche Folgeabschätzungen geben –nicht nur vor dem Abkommen, sondern auch wenn mandie ersten Erfahrungen gesammelt hat, was dieses Ab-kommen anrichtet.
Im Falle negativer Auswirkungen muss es Klauseln ge-ben, die es ermöglichen, einige Passagen im Vertrag zuverändern.Im Handelskapitel gibt es mehrere solcher Klauseln.Dort, wo es um Sozialstandards, Umweltstandards,Menschenrechtskriterien geht, bleibt es bei den schönenWorten einer Präambel; für diese Bereiche sind keinerleiStreitschlichtungsmechanismen, keinerlei Sanktionsme-chanismen vorgesehen.Wenn man dieses Abkommen an dem Raster misst, daswir in der Grünenfraktion mit Wirtschaftsexperten, Ent-wicklungsexperten, Menschenrechtsexperten einstimmigbeschlossen haben, muss man dieses Abkommen durch-fallen lassen. Die Folgen, gerade für verletzliche Grup-pen, können so gravierend sein, dass es nicht zu verant-worten ist, dieses Abkommen in der jetzigen Formpassieren zu lassen.Deshalb wollen wir Nachverhandlungen. Dies istauch möglich. Es gibt unterschiedliche Rechtsauffassun-gen, was passiert, wenn der Bundestag das Abkommenablehnt. Ob dann das ganze Abkommen hinfällig wird– und neu verhandelt werden muss – oder nur ein Teilhinfällig wird, ist noch nicht geklärt.Ich bin sehr froh, dass alle drei Oppositionsfraktionendieses Abkommen ablehnen werden. Das ist ja ein Pro-zess, der durch Anhörungen stimuliert wird. Ich hoffe,dass wir jetzt vielleicht auch über den Bundesrat agierenkönnen und dieses Abkommen tatsächlich noch aufhal-ten oder zumindest Nachverhandlungen erreichen kön-nen.
Das wäre sehr gut. Dann käme es vielleicht zu einerneuen Handelspolitik der Europäischen Union: zu einerHandelspolitik mit wirklich menschlichem Antlitz.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Trotz später Stunde erleben wir in diesem
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28944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Sascha Raabe
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Moment eine wahrlich historische Stunde: Zum erstenMal in der Geschichte kann der Bundestag als nationalesParlament bei einem Handelsabkommen, das normaler-weise Gemeinschaftsaufgabe der Europäischen Unionist, mitbestimmen.Dieses Recht haben wir uns hart erstritten. Der Kol-lege Fritz hat zu Recht gesagt, dass er und ich und einigeKollegen uns schon seit über zehn Jahren mit dem Han-delsbereich beschäftigen. Wir haben uns gegenüber demEuropäischen Parlament und der Europäischen Kommis-sion immer dafür eingesetzt, dass der Bundestag hiermitbestimmen darf.Das haben wir aber nie aus Selbstzweck getan, nachdem Motto „Hauptsache, wir wollen mitreden“, sondernfür uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wardas deshalb wichtig, weil wir immer auch in der WTOverankert haben wollten, dass Freihandel immer mit kla-ren ökologischen, sozialen und menschenrechtlichenStandards einhergeht und dass diese auch in den Frei-handelsabkommen verbindlich verankert werden, damitder Handel eben allen zugute kommt, auch den armenund ärmsten Menschen und nicht nur den Unternehme-rinnen und Unternehmern.Deswegen: Wenn wir heute als SPD-Fraktion diesesAbkommen ablehnen und die Europäische Union zuNachverhandlungen auffordern, damit menschenrechtli-che, soziale und ökologische Standards verbindlicherverankert werden, dann richtet sich unser Nein nicht ge-gen Peru oder Kolumbien und auch nicht gegen denFreihandel generell.Wir anerkennen auch, dass sich insbesondere in Ko-lumbien, aus dem Bürgerkrieg kommend, viele Fort-schritte entwickelt haben. Auch die MDGs werden fastalle erreicht, und die Armut geht stark zurück. Trotz allerProbleme sind diese Länder sicherlich auch von uns da-rin zu unterstützen, dass sie aus der Armut herauskom-men. Wenn wir dort auch mit wirtschaftlichen Impulsenetwas verstärken können, dann wollen wir das gerne tun.Das geht aber nicht ohne Regeln.Auch das Europäische Parlament hat es bedauert, dassin diesem Handelsübereinkommen keine verbindlichenStreitbeilegungsmechanismen vorgesehen sind. Das ge-nau ist unser Kernkritikpunkt. Es nützt eben nichts,wenn in dem Kapitel „Nachhaltige Entwicklung“ in die-sem Abkommen das schärfste Schwert lediglich das ist,dass man einmal miteinander darüber geredet hat. Es istvöllig unlogisch, dass nicht der gleiche Streitbeilegungs-mechanismus, der für den Handelsteil gilt, auch für diesewichtigen menschenrechtlichen, sozialen und ökologi-schen Fragen angewendet wird.
Deswegen fordern wir in unserem Entschließungsan-trag dazu auf, dass die EU nachverhandelt, damit men-schenrechtliche, soziale und ökologische Standards sowieentsprechende Überprüfungs- und Sanktionsmechanis-men in dem allgemeinen Streitbeilegungsmechanismusverankert werden; denn wir glauben, nur dann, wenn amEnde auch damit gedroht werden kann, dass ein solchesAbkommen ausgesetzt wird, ist auch genug Druck vor-handen, damit die Menschenrechte und die sozialen undökologischen Standards eingehalten werden.Wir wollen, dass ein solches Abkommen den Men-schen dient, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernund den Ärmsten. Deswegen bitten wir Sie, unserem Ent-schließungsantrag zuzustimmen und sich diese Chancedes Deutschen Bundestages, bei der Europäischen Unionein Wort einzulegen, jetzt nicht aus irgendwelchen partei-politischen Gründen entgehen zu lassen.In diesem Sinne: Lassen Sie uns für ein faires und ge-rechtes Freihandelsabkommen streiten.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Han-delsübereinkommen vom 26. Juni 2012 zwischen derEuropäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseitssowie Kolumbien und Peru andererseits.Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung – Drucksachen17/12810 und 17/12875 –, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 17/12354 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-men.Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/12877. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustim-mung von SPD und Grünen und Enthaltung der Linkenabgelehnt.Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten RüdigerVeit, Rainer Arnold, Klaus Barthel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDSyrische Flüchtlinge schützen– Drucksache 17/12820 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden sollen zu Protokoll genommen werden.1)1) Anlage 6
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28945
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12820 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEKeine Rüstungsforschung an öffentlichenHochschulen und Forschungseinrichtungen –Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicher-stellen– Drucksachen 17/9979, 17/12800 –Berichterstattung:Abgeorndete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann Nicole GohlkeKrista SagerWie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auchhier die Reden zu Protokoll genommen werden.
Der wirtschaftliche Erfolg und Wohlstand unseresLandes baut auf der Erforschung und Entwicklungneuer Technologien auf. Dabei konnte Deutschlandbesonders im Bereich der zivilen Sicherheitsforschungin den letzten Jahren ein neues Feld mit gut vernetzterAkteurslandschaft schaffen und entwickeln. Dank derBundesregierung, die sich Bildung und Forschung aufdie eigene Fahne geschrieben hat, konnten wir somitweitreichende Erfolge vermelden, die dem Schutz derBevölkerung unseres Landes dienen. Angesichts derglobalen Bedrohungsszenarien der letzten Jahre ist eswichtig, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger so-wie den Schutz kritischer Infrastrukturen durch syste-matische Forschungsaktivitäten zu erhöhen.Mit dem Programm „Forschung für die zivile Si-cherheit“ der Bundesregierung werden ausschließlichrein zivile Vorhaben betrachtet. Die hier geforderteÜberarbeitung ist somit überflüssig und abzulehnen.Unsere Aufgabe ist es, durch Forschung die Sicherheitund die daraus resultierende Freiheit der Bürger unse-res Landes zu gewährleisten. Die Fördergelder ausdem BMBF werden ausschließlich für Forschungsakti-vitäten vergeben, die an zivilen Szenarien ausgerichtetsind. Nun unterstellen die üblichen Verschwörungs-theoretiker in den Reihen der Opposition, dass dieGelder – durch die Hintertür – zur Finanzierung derWehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an dieser Stellenur immer wieder betonen, dass diese Unterstellungschlichtweg falsch ist.Unser Programm für zivile Sicherheitsforschungdient ausschließlich dem Ausbau der internationalenVorreiterstellung deutscher Anbieter ziviler Sicher-heitsprodukte und der Weiterentwicklung interdiszipli-närer akademischer Ausbildungsstrukturen. Dass ei-nige dieser Forschungsergebnisse für den Schutzunserer Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werdenkönnen, ist eher ein Segen. Das von Ihnen angespro-chene Projekt des „Detektoren Array“ dient beispiels-weise der Analyse chemischer und explosiver Stoffe,die bei einem Chemieunfall auftreten können. Der De-tektor dient dem Schutz der Einsatzkräfte und der Zi-vilbevölkerung. Diese Forschung zu verbieten, würdeeine Gefahr für Menschenleben darstellen. Die alteLeier der unrechtmäßigen Doppelnutzung wird nichtstichhaltiger, umso mehr Sie darauf herumreiten. ImGegenteil: Die Doppelnutzung von Forschungsergeb-nissen in dieser Sparte ist kein Fluch, sondern ein Se-gen.Neben der hier dargestellten Gleichgültigkeit ge-genüber unseren Einsatzkräften spiegelt sich ein wei-teres problematisches Verständnis der Linken in die-sem Antrag wider. Sie fordern zum wiederholten Maledie Verankerung von „Zivilklauseln in den Statuten derHochschulen und Forschungseinrichtungen sowie inden jeweiligen Landeshochschulgesetzen“. Dies stelltmeiner Meinung nach einen höchst bedenklichen Ein-griff in die verfassungsrechtlich geschützte For-schungsfreiheit dar. Auch scheint Ihnen der Begriff desGeschäftsgeheimnisses nicht geläufig zu sein. Sie for-dern die Offenlegung von Kooperationsverträgen derHochschulen und greifen somit in sensible Geschäfts-daten ein. Eine derartige Maßnahme würde verfas-sungsrechtlich ebenfalls einen äußerst bedenklichenEingriff darstellen; ganz zu schweigen von dem erheb-lichen Schaden, den die deutsche Wirtschaft davontra-gen würde.Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer For-derung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulenin der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierungnun wirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deut-schen Hochschulen investiert zu haben. Trotz der pri-mären Verantwortung der Länder wurden mehr Bun-desmittel als jemals zuvor an die Hochschulenvergeben. Allein 4,8 Milliarden Euro wurden in denHochschulpakt 2020 investiert.Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaftmit Bundesgeld für die Hochschulen unterstützen. An-statt der Änderung des Art. 91 b GG zuzustimmen, ver-weilen Sie lieber in Ihrer Blockaderolle. Es sind dierot-grünen Länder, die sagen: Wir nehmen das Geldnur, wenn wir zusätzlich auch noch eine finanzielle Zu-wendung für die Schulen bekommen. – So werden dieHochschulen von der Opposition in Geiselhaft genom-men, um deren leere Landeskassen zu füllen.Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch aufeine weitere Stümperhaftigkeit dieses Antrags einge-hen. Anscheinend hat sich die Linke noch nicht einmaldie Mühe gemacht, sich ihren eigenen Antrag genau
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28946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Florian Hahn
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durchzulesen. Dort ist auf der vierten Seite zu lesen,dass an Hubschrauberstrukturen und Rotorblättern für„den Militärhubschrauber Eurocopter“ geforscht wird.Vielleicht sollten sie sich das nächste Mal genauer in-formieren. Es gibt eine Firma mit dem Namen Euro-copter, die verschiedene Arten von Helikoptern, unteranderem den NATO-Helikopter 90, NH-90, entwickelt.Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass dieForderungen im Antrag der Linkspartei allesamt über-zogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtli-che verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Siemachen keinen Halt vor der Unabhängigkeit derHochschulen, die föderale Struktur unseres Landesscheint Ihnen fremd zu sein. Und was ich noch schlim-mer finde: Sie weisen eine äußerst ignorante Einstel-lung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Solda-ten auf.Den Antrag gilt es daher abzulehnen.
Die Themen Rüstungsforschung und zivile Sicher-heitsforschung sind zwei auch für uns Forschungspoli-tikerinnen und -politker relevante Politikbereiche, diewir in der Vergangenheit immer wieder diskutiert ha-ben.Wie ich bereits in meiner Rede im Herbst letztenJahres zum Thema ausführte, haben wir Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten aber große Bedenkenmit dem jetzt zu diskutierenden Linkenantrag. Ich hattegehofft, dass die Ausführungen zu dem Antrag im Aus-schuss den einen oder anderen Teilbereich erhellenwürden. Aber leider Fehlanzeige.Stattdessen zeigt der Antrag, wie auch die Argu-mente der Linken in der Diskussion, wie tief die Linkenauch bei diesem Thema in einem Schwarz-weiß-Den-ken verhaftet sind. So simpel ist die Welt aber leidernicht.Sicherheitsforschung ist nun mal nicht automatischRüstungsforschung. Bei der einen Forschung geht esum Ergebnisse fürs Militär, bei der anderen um Pro-dukte für THW, Polizei, Feuerwehr oder Krankenhäu-ser. Rüstungsforschung wird in Deutschland durch dasBundesministerium der Verteidigung finanziert, zivileForschung hingegen durch das Bundesministerium fürBildung und Forschung, BMBF, gefördert. Diese poli-tische Trennung ist richtig und wird nach allen mir be-kannten Informationen auch eingehalten. Man mussnicht jedes Produkt der Sicherheitsforschung für sinn-voll erachten – wir Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten tun dies auch nicht –, Rüstungsforschung istes deshalb noch lange nicht. Und ja, es gibt inDeutschland Unternehmen, die ihr Geld mit Rüstungwie auch mit zivilen Produkten verdienen. Und wennsich diese Unternehmen mit ihrer zivilen Sparte anProgrammen des BMBF beteiligen, dann ist auch diesnicht automatisch Rüstungsforschung.Um es klarzustellen, auch ich sehe Rüstungsfor-schung und -produktion sehr kritisch. Anstatt hier aberzwei Dinge zu vermischen, sollte man den Blick lieberauf die vorhandenen Tatsachen konzentrieren. Das zi-vile Sicherheitsforschungsprogramm des BMBF exis-tiert. Und in dem mittlerweile ausgelaufenen erstenProgramm hatten auch wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten so manche Frage nach der Sinnhaf-tigkeit des einen oder anderen Projekts. Das haben wirauch deutlich geäußert. Das neue Programm desBMBF wurde wohl auch deshalb an entscheidendenPunkten verbessert. Die Linken sehen also, dass kon-struktive Kritik durchaus ankommt. Fundamentalkri-tik, wie sie sie uns häufig im Bundestag vorführen,bringt hingegen gar nichts.In unserer Ausschusssitzung haben wir – nicht zumersten Mal – intensiv über die sogenannte Dual-Use-Problematik gesprochen. Also über Technologien oderErkenntnisse, die zivil wie auch militärisch bzw. zumSchutz wie auch zum Angriff genutzt werden können.Dieser Problematik stehen Ingenieure der Luft- undRaumfahrt genauso wie Informatiker, Virologen oderSozialwissenschaftler gegenüber. Forschung bedeuteteben nun einmal, dass man oft noch nicht weiß, welcheErgebnisse am Ende herauskommen und zu welchemZweck sie verwendet werden. Wichtig ist es deshalb,die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler für die Problematik zu sensibilisieren. Wie man hin-gegen die Forschung, welche möglicherweise auch ei-nen militärischen Nutzen haben könnte, bereits zuBeginn kategorisch ausschließen will, ist mir auchnach der Ausschussberatung immer noch ein Rätsel.Ich habe vielmehr die Befürchtung, dass sich die Lin-ken mit der Dual-Use-Problematik einfach noch nichtausreichend befasst haben.Am Ende vielleicht noch mal etwas Grundsätzli-ches. Am Anfang ihres Antrags versuchen sich die Lin-ken ja in einem historischen Abriss des Themas fürDeutschland. Dabei lassen sie aber ein paar wichtigeDaten und Fakten weg. Unter anderem gehen sie über-haupt nicht auf die Situation in der DDR ein. Wie sahdenn dort die Verquickung von Militär und Wissen-schaft und Bildung aus? Nach meinem Wissen war inden Klassen 9 und 10 „Wehrkunde“ Pflichtfach. Undsogenannte Pioniermanöver gab es bereits in derGrundschule. Zivile Friedenserziehung klingt für michanders.Frau Gohlke als Münchnerin mag das nicht kennen,aber sie möge doch mal ihre Kolleginnen und Kollegenaus dem Osten fragen. Und falls diese schweigen soll-ten, kann ich auch gern ein paar Zeitzeugen aus mei-ner Fraktion nennen. Die können dann gern erzählenwie Verquickung von Militär und Forschung und Lehreauf ostdeutschem Boden so aussah. Ich finde es ehrlichgesagt scheinheilig, wenn sich die sogenannte Linkeals die große Friedenspartei hinstellt, die Vergangen-heit ihrer Partei aber einfach ignoriert. Dass ich nichtfalsch verstanden werde, es geht mir nicht darum, dieLinken für die Vergangenheit eines Teils ihrer Parteianzuklagen, ich erwarte aber, dass sie dazu stehen undsich inhaltlich damit auseinandersetzen. Der Anfangs-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28947
René Röspel
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text ihres Antrags wäre eine Chance gewesen, damitanzufangen. Sie wurde leider nicht genutzt. Schade.Ablehnen werden wir den Antrag aber nicht für alldas, was fehlt, sondern aufgrund der unrealistischenbzw. falschen Forderungen, die auch noch an die fal-schen Adressaten verschickt werden.
Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentli-
chen Hochschulen und Forschungseinrichtungen –
Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“
von der Fraktion Die Linke wurde in den Ausschüssen
des Deutschen Bundestages ausgiebig beraten. Wir
Liberale sind jedoch im Laufe der Beratung in keiner
Weise davon überzeugt worden, dem Antrag zuzustim-
men. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auffas-
sung nicht teilen können, die Die Linke von For-
schungsfreiheit und unserem Wissenschaftssystem hat.
Konkret bemängeln wir Liberale Folgendes am An-
trag: Die Freiheit der Forschung, die durch Art. 5 GG
geschützt wird, soll durch eine gesetzliche Veranke-
rung von Zivilklauseln in den Landeshochschulgeset-
zen eingeschränkt werden. Damit nimmt Die Linke der
Wissenschaft, den Hochschulen und Forschenden die
Freiheit, selbst zu entscheiden, welche Forschungs-
projekte angenommen werden und in welchen Berei-
chen geforscht werden darf. Wir Liberale wollen aber,
dass der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe an-
legt und selbst entscheidet, welche Kooperationen und
Aufträge er annimmt. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit
ernst nehmen – wie Sie mit Ihrem im März 2012 einge-
brachten Antrag „Freiheit von Forschung und Lehre
schützen“ versuchten, glaubhaft zu machen –, dann
müssen Sie auch akzeptieren, dass die Wissenschaftler
und die Hochschulen für sich selbst entscheiden, ob sie
sogenannten Zivilklauseln folgen möchten oder nicht.
Im Übrigen stimmen selbst die schärfsten Kritiker
der Militärforschung darin überein, dass die Zivilklau-
sel kein Allheilmittel ist. Es genügt eben nicht, alleine
eine Zivilklausel zu verordnen. Diese muss – wie es so
schön heißt – gelebt werden durch eine ständige Aus-
einandersetzung. Das bedeutet nichts anders als das,
was wir Liberale stets fordern. Der Forschende steht
in der Verantwortung, seine Forschung und deren Er-
gebnisse erklären zu müssen. Das impliziert eine ge-
sellschaftliche Verantwortung. Und meiner Erfahrung
nach sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und in
Forschungseinrichtungen auch dieser Verantwortung
bewusst. Die Max-Planck-Gesellschaft beispielsweise
formulierte 2010 in ihrem Papier „Hinweise und
Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwort-
lichen Umgang mit Forschungsfreiheit und For-
schungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Gren-
zen von Forschung. In den Mittelpunkt wurde die
Person, der einzelne Wissenschaftler als Verantwor-
tungsträger, gerückt.
Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Dual-Use-
Problematik. Im Antrag von Die Linke wird selbst
konstatiert, dass Forschungsergebnisse sich nicht
nach ziviler und militärischer Nutzung voneinander
trennen lassen. Dennoch wird im Antrag das von der
christlich-liberalen Koalition aufgelegte Programm
„Forschung für die zivile Sicherheit“ kritisiert. Dabei
wurde sowohl von der Bundesregierung als auch von
uns in der Ausschussberatung mehrfach darauf hinge-
wiesen, dass die Forschungsfragen im Programm
„Forschung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler
Sicherheitsszenarien verlaufen.
Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderung
nach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwie-
sen. Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind
noch immer allein die Länder verantwortlich. Deshalb
wird ähnlich pauschal, wie diese Forderung in jedem
Antrag von Die Linke formuliert wird, von uns diese
auch abgelehnt. Zudem sei darauf verwiesen, dass von
Die Linke bislang alle konkreten Schritte dieser christ-
lich-liberalen Koalition abgelehnt wurden, die zu einer
Beteiligung des Bundes in der Hochschulfinanzierung
geführt hätten. Kritik, die wider besseres Wissen und
gegensätzliches Handeln erhoben wird, ist scheinhei-
lig. Wenn Die Linke wirklich an der Finanzierung der
Hochschulen mitwirken möchte, ist diese gerne einge-
laden, unsere Anstrengungen einer Grundgesetzände-
rung im Bundesrat zu unterstützen.
Der Antrag von Die Linke möchte ideologische
Denkverbote gesetzlich verankern. Diese lehnen wir
wie den Antrag ab.
Das renommierte Stockholm International PeaceResearch Institute, kurz: SIPRI, hat diese Woche eineneue Studie zu den weltweiten Waffenexporten veröf-fentlicht. Wie auch schon in den letzten Jahren istDeutschland traurigerweise wieder ganz vorne mit da-bei: Mit 7 Prozent der weltweiten Exporte landetDeutschland auf Platz drei, vor ihr nur die USA undRussland.Dass die Bundesrepublik der drittgrößte Waffen-exporteur der Welt ist, ist eigentlich schon Skandalgenug. Aber dass die Entwicklung von Kriegs- undMordwerkzeug auch an öffentlichen Hochschulen undForschungseinrichtungen stattfindet, setzt noch einsdrauf und bringt Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler und Studierende in erhebliche ethischeSchwierigkeiten.Laut den Antworten auf eine Kleine Anfrage derLinken erhielten in den letzten zehn Jahren mindestens47 Hochschulen Forschungsaufträge aus dem Vertei-digungsministerium, und Kooperationen der Hoch-schulen mit der Rüstungsindustrie, zum Beispiel mitEADS, mit Eurocopter, mit Krauss-Maffei und Rhein-metall nehmen stetig zu.In den letzten Jahren ist darum an den Hochschuleneine neue Bewegung entstanden, die erfreulicherweisestetig wächst: eine Bewegung gegen Rüstungsfor-schung und für Zivilklauseln, also für die Verpflich-Zu Protokoll gegebene Reden
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Nicole Gohlke
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tung der Hochschulen auf friedliche und zivile For-schung und Lehre. In einer Urabstimmung an der UniFrankfurt sprachen sich jüngst 76 Prozent für dieEinführung einer Zivilklausel aus, die UniversitätenTübingen und Rostock sowie die Hochschule Bremenhaben die Zivilklausel direkt in ihre Statuten aufge-nommen.Dies zeigt, dass es immer mehr Studierenden, Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Be-schäftigten an den Hochschulen eben nicht egal ist,woransie arbeiten, dass ihnen nicht egal ist, in welcheProdukte sie ihr Wissen und ihre Kompetenz stecken,dass sie moralische Skrupel haben, wenn sie sich derEntwicklung von Senfgas, von Kampfhubschraubernoder Drohnen beteiligen. Immer mehr Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler und Studierende wollennicht an der Entwicklung militärischer Güter beteiligtsein, und darüber darf man sich freuen – gerade in An-betracht der deutschen Geschichte.Im Grundgesetz ist die Friedensverpflichtung derBundesrepublik konstitutiv verankert. Dieser Ver-pflichtung haben die Regierungen – ob Bund oderLand – in allen gesellschaftlichen Bereichen nachzu-kommen – und natürlich auch im Hochschul- und Wis-senschaftsbereich.Insbesondere SPD und Grüne schlagen ja in derRechtfertigung der von ihnen sehr gewollten und be-fohlenen, aber in der Gesellschaft äußerst unpopulä-ren Kriegseinsätze in Jugoslawien oder Afghanistangroße Pirouetten, um den Begriff „Frieden“ bis zurUnkenntlichkeit zu verzerren und so weit zu dehnen,bis am Ende aus „Frieden“ „Krieg“ wird.Zuletzt erklärten mir ja die Grünen im Bildungsaus-schuss in der Debatte zu unserem Antrag, „friedlich“und „zivil“ sei seit dem Ende des Kalten Krieges nichtmehr dasselbe. Im Gegenteil sei jetzt der Kriegseinsatzdie Ultima Ratio – Krieg also als ultimative Waffe fürden Frieden.Liebe Grüne, liebe SPD; das ist nicht nur Sophis-mus in Reinform, sondern auch zynisch bis zum Umfal-len.Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass die Bundes-regierung gemeinsam mit den Ländern endlich Maß-nahmen für den Schutz und die Absicherung dergrundgesetzlich geforderten Friedensabsichten derHochschulen ergreift: Zivilklauseln sollten flächende-ckend in den Statuten der Hochschulen und in denLandeshochschulgesetzen verankert werden, damitdem Forschen für den Krieg und für Waffen eine klareAbsage erteilt wird.Weil ich die Koalition schon erwidern höre, dass dasSache der Länder und der Hochschulen sei: Wir habennatürlich auch einen Vorschlag, wo die Bundesregie-rung ganz konkret handeln kann: Die Bundesregierungkann ganz einfach und unverzüglich ihre öffentlicheMittelvergabe an die Hochschulen und Forschungsein-richtungen nach zivilen Kriterien ausrichten. Und siekann dafür sorgen, dass ihre eigenen Aufträge anHochschulen offengelegt werden, und sie kann fürTransparenz sorgen bei Kooperationsverträgen zwi-schen Wirtschaft und Hochschulen. Die existierendePraxis der Geheimhaltung ist für eine demokratischeHochschulöffentlichkeit absolut indiskutabel. Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende undBeschäftigte müssen über Forschungsprojekte, Gelderund Forschungsziele informiert sein. Projekte öffent-lich zu machen und zu diskutieren, ist ein Mehr an Wis-senschaftsfreiheit im Hochschulalltag.Und nicht zuletzt hat es die Bundesregierung in derHand, in welchem finanziellen Zustand die Hochschu-len sind. Darum fordern wir, die Hochschulen mit öf-fentlichen Mitteln so auszufinanzieren, dass die Hoch-schulen nicht mehr angewiesen sind auf Kooperationenmit finanzstarken Großkonzernen, um alleine For-schung und Lehre aufrechterhalten zu können.Von Gegnerinnen und Gegnern der Zivilklauselwird gerne das Argument ins Feld geführt, eine Zivil-klausel kollidiere mit der Wissenschaftsfreiheit. Es gibtdie Sorge vor einer vermeintlichen „Tendenzuniversi-tät“, die sich nur mit bestimmten gesellschaftlichen In-teressen identifiziert und anderes dafür ausschließt.Keine Frage: Die Wissenschaftsfreiheit ist ein hohesGut – ebenso wie die Friedensverpflichtung grundge-setzlich verankert –, und wir sollten nicht leichtfertigdamit umgehen. Aber wir müssen auch ausdrücklichsagen, dass die Friedensfinalität im Grundgesetz aus-drücklich kein „bestimmtes gesellschaftliches Inte-resse“ ist, sondern ein konstitutives Motiv der Verfas-sungsgesetzgebung und in verschiedenen Art.n desGrundgesetzes wiederholt wird.Ausdrücklich bejaht wird durch das Bundesverfas-sungsgericht die Zulässigkeit von interessenmäßig ge-bundener Forschung, außer wenn die Pluralität derwissenschaftlichen Disziplin infrage steht.Eine Einführung von Zivilklauseln, die Verpflich-tung auf den Frieden auch in der Wissenschaft ist si-cherlich keine Einschränkung der Pluralität.Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler habenangesichts der historischen Erfahrungen eine beson-dere Verantwortung: Zwei Weltkriege, für die Deutsch-land verantwortlich war, und die Nazidiktatur habengezeigt, welche unmenschliche Rolle Wissenschaftspielen kann.Genau deswegen gab und gibt es eine Vielzahlvon Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wieWerner Buckel – ehemaliger Präsident der Deutschenund der Europäischen Physikalischen Gesellschaft –oder Carl Friedrich von Weizsäcker, die sich einerTradition der verantwortlichen Wissenschaft verpflich-tet fühlten und fühlen.Aufgabe von Politik ist es, diese Haltung und diesesBegehr zu unterstützen und es nicht durch Unterfinan-zierung des Hochschulsystems und aufgrund der engenZusammenarbeit mit der Waffenlobby zu untergraben.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28949
Nicole Gohlke
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Ich schließe mit den Worten Albert Einsteins: „DasDenken der Zukunft muss Kriege unmöglichmachen“ – diese Worte sind Verpflichtung für Wissen-schaft wie für die Politik gleichermaßen.
Wir werden den vorliegenden Antrag der Linken ab-
lehnen. Ihm liegen hochschul-, forschungs- und frie-
denspolitische Auffassungen und Annahmen zugrunde,
die wir nicht teilen. Wir halten es für falsch, dass die
Politik den Hochschulen Leitbilder für ihre eigene
Entwicklung von oben aufoktroyiert.
Wenn eine Hochschule sich an friedenspolitischen
Maßstäben orientieren und ausrichten will, ist es umso
wichtiger, dass dem ein gründlicher Diskussionspro-
zess in der Hochschule selbst vorausgeht.
Ohne diesen Diskussionsprozess wird das Leitbild
einer Hochschule eine leere Papiererklärung bleiben
und nicht mit Leben zu füllen sein.
Leitbilder sollen nach unserer Überzeugung dem
Autonomiebereich der Hochschulen vorbehalten sein.
Die Linke geht weiterhin davon aus, dass die Be-
griffe „zivil“, „friedlich“ und „friedlichen Zwecken
dienend“ identische Inhalte beschreiben.
Schon das halten wir für einen Kurzschluss.
Die Auffassung der Linken, man müsse nur alles
„nicht Zivile“ aus der Forschung beseitigen, dann würde
das Militärische zunehmend verschwinden und damit
die Welt per se friedlicher werden, halten wir für einen
weiteren Kurzschluss.
Ich hatte bereits in der Debatte im September 2012
darauf hingewiesen, dass die Gleichsetzung von „zi-
vil“ und „friedlich“ gedanklich stark mit dem frie-
denspolitischen Diskurs der Nachkriegszeit und der
Zeit der Blockkonfrontation verbunden ist.
Das internationale Völkerrecht bejaht inzwischen
die Schutzverantwortung der internationalen Staaten-
gemeinschaft, um schwerste Menschenrechtsverletzun-
gen zu verhindern oder zu beenden. Dies schließt als
Ultima Ratio auch die Anwendung militärischer Mittel
ein.
Die Linke lehnt als einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag den völkerrechtlichen Grundsatz der res-
ponsibility to protect ab.
Dies kann aber nicht der politische Maßstab für ein
Parlament sein, das die deutsche Beteiligung an inter-
nationalen Missionen regelmäßig demokratisch legiti-
miert. Wer die bestmögliche Vorbereitung und Ausrüs-
tung von mandatierten Einsatzkräften verantworten
muss, kann Forschung nicht auf rein zivile Zwecke be-
schränken. Dies würde im Übrigen auch die Entwick-
lung von Technologien zur Minenräumung, schutz-
sicheren Westen oder die Verbesserung der medizinischen
Behandlung von Verletzungen durch Kampfstoffe aus-
schließen. Denn auch dies sind Maßnahmen in einem
militärischen Kontext.
Falsch ist auch die Vorstellung, Forschung folge
immer einem deutlich erkennbaren Zweck und dieser
Zweck sei dann nach „zivil“ oder „nicht zivil“ zu un-
terscheiden. In der Forschung werden Zwecke oft in ei-
ner viel späteren Phase deutlich, weil sich erst dann
sehr unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten her-
auskristallisieren.
Gerade im großen Bereich IT-gestützter Entwick-
lungen sind zahlreiche zivile und militärische Einsatz-
möglichkeiten denkbar, und eine militärische Nutzung
kann im Stadium von Forschung und Entwicklung
nicht ausgeschlossen werden. Moderne Armeen benut-
zen heute außerdem Wissen aus zahlreichen nicht ty-
pisch mit militärischen Zwecken assoziierten For-
schungsfeldern, wie zum Beispiel Psychologie und
Betriebswirtschaftslehre.
Gefordert ist also vor allem die Politik, durch Rege-
lungen für Rüstungsexportbeschränkungen, vertragli-
che Rüstungsbeschränkungen, Ächtung bestimmter
Waffentypen, wie Landminen, einen Beitrag für eine
friedlichere Welt zu leisten. Forschungsverbote über
eine politisch verordnete „Zivilklausel“ halte ich nicht
für einen erfolgversprechenden Weg. Unterstützens-
wert ist, dass an den Hochschulen kritische Diskurse
über ethische Grenzen in der Forschung und über ethi-
sche Guidelines geführt werden.
Transparenz in der Forschung ist dafür eine wich-
tige Voraussetzung.
Eine Verantwortung der Wissenschaft, ihr Tun ge-
genüber der Gesellschaft offenzulegen und in einem
Diskussionsprozess zu reflektieren und zu legitimieren,
wird von uns ausdrücklich bejaht. Dazu wurden von
uns eigene Anträge in den Bundestag eingebracht. Den
Antrag der Linken halten wir für einen solchen Verant-
wortungsdiskurs zwischen Wissenschaft und Gesell-
schaft für ungeeignet.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzungempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/12800, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/9979 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmender Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigenFraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Krista Sager, Wolfgang Wieland, KaiGehring, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung desDoktorgrades aus dem Passgesetz, dem Gesetzüber Personalausweise und den elektronischenIdentitätsnachweis, der Personalausweisver-
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28950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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ordnung sowie dem Aufenthaltsgesetz und derAufenthaltsverordnung– Drucksache 17/8128 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/11908 –Berichterstattung:Abgerdnete Stephan Mayer Gabriele FograscherManuel HöferlinUlla JelpkeWolfgang WielandWie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auchdiese Reden zu Protokoll genommen werden.
„In Deutschland hat der Doktorgrad über den For-schungs- und Wissenschaftsbereich hinaus ein hohesAnsehen. Es hat sich die Tradition entwickelt, denDoktorgrad wie einen Bestandteil des Namens zu be-handeln und auf Wunsch in Personaldokumente wieden Pass und den Personalausweis einzutragen.“ –Das ist eine der wenigen richtigen Feststellungen imvorliegenden Gesetzentwurf der Grünen. Vor diesemHintergrund lässt sich natürlich über das Anliegen derGrünen diskutieren, ob der Doktorgrad zukünftig nochim Reisepass oder Personalausweis eingetragen wer-den kann oder nicht. Man braucht allerdings auch guteArgumente für eine solche Forderung. Und hier er-scheint einem die Begründung im Gesetzentwurf derGrünen eher wie eine lose Gedankensammlung undnicht wie eine durchdachte Argumentation.Da wird an der einen Stelle richtigerweise davongesprochen, dass der Doktorgrad kein Namensbe-standteil nach § 12 BGB ist, sondern ein akademischerGrad. Dann wiederum soll er im Pass oder Ausweisgestrichen werden, weil es angeblich bei Grenzkon-trollen für Irritationen sorgt, wenn der „Dr.“ für dieAnfangsbuchstaben des Familiennamens gehaltenwird. Nicht nur, dass Sie einen Beleg für diese Behaup-tung schuldig bleiben. Sie können auch nicht erklären,warum der Doktorgrad als zusätzliche Angabe in Aus-weisdokumenten, die ursprünglich zur besseren Unter-scheidung dienen sollte, jetzt außerdem zu Verwechs-lungen und Unklarheiten führt.Sie argumentieren, dass es aufwendiger wird, dieGleichwertigkeit ausländischer Abschlüsse mit demdeutschen Doktorgrad zu prüfen und dass dies die Be-hörden vor Probleme stellen würde. Auch das belegenSie nicht. Vonseiten der Länder, die letztlich auch überdie kommunalen Behörden für die Anerkennung in derPraxis verantwortlich sind, wird genau das aber nichtbestätigt. Zu dem von Ihnen als Referenz angeführtenGesetzentwurf aus dem Jahr 2007 hat der Bundesrat inseiner Stellungnahme doch gerade darauf hingewie-sen, dass in der weitaus größten Anzahl der Fälle dieEintragungsfähigkeit nicht infrage steht und die ge-ringe Anzahl zweifelhafter Fälle, die einen erhöhtenPrüfbedarf erfordert, hingenommen werden kann, zu-mal es bewährte Verfahren zur Feststellung derGleichwertigkeit ausländischer akademischer Grademit dem deutschen Doktorgrad gibt.Dann wird in Ihrem Gesetzentwurf argumentiert,man müsse bei Beibehaltung des Doktorgrades in Aus-weisdokumenten erklären, warum nicht weitere akade-mische Grade wie der Master of Arts, der Diplom-In-genieur oder der Professor eingetragen werden. Auchhier zeigt sich, dass die Begründung des Gesetzent-wurfs nicht durchdacht ist. Denn der Unterschied ei-nes Doktorgrades zu anderen akademischen Abschlüs-sen liegt gerade darin, dass der „Dr.“ in der Regelnicht der berufsqualifizierende Abschluss ist, sonderneine wissenschaftliche Zusatzqualifikation, die durcheine aufwendige und eigenständige wissenschaftlicheArbeit erreicht wird und über den „normalen“ Stu-dienabschluss hinausgeht. Genau das unterscheidetihn von Abschlüssen wie Bachelor oder Master oderDiplomen. Auch der akademische Titel eines Profes-sors ist nicht ausschließlich durch eine eigene wissen-schaftliche Arbeit zu erreichen, sondern bedarf immereiner Berufung. Genau diese Unterschiede rechtferti-gen die Beibehaltung des Doktorgrades in Pass undAusweis.Schließlich kommt der Gesetzentwurf irgendwannzu seinem Kernargument, nämlich dass der Doktor-grad durch die Aufnahme in Ausweisdokumente gesell-schaftlich überhöht sei und damit auch in irgendeinerForm Plagiatsversuchen bei der Promotion Vorschubleisten soll. Wenn es Ihnen wirklich darum gehenwürde, wissenschaftliche Standards zu verbessern oderFälschungen im Promotionsverfahren entgegenzutre-ten, würden Sie aber nicht diesen Gesetzentwurf vorle-gen. Denn damit ändern Sie an diesem Problem reingar nichts. Eine Streichung des Doktorgrades in Aus-weispapieren würde nichts daran ändern, dass Dokto-randen im wissenschaftlichen oder beruflichen Umfeldpromovieren und dann den Doktorgrad in diesem Um-feld auch als Nachweis wissenschaftlicher Qualifika-tion tragen.Es geht den Grünen bei diesem Entwurf also offen-sichtlich nicht um technische Verbesserungen beimPersonalausweis und Reisepass oder um eine Verein-fachung der Verwaltungspraxis oder um wissenschaft-liche Standards beim Erwerb des Doktorgrades.Vielmehr dokumentiert dieser Gesetzentwurf den ge-scheiterten Versuch, die parteipolitische Instrumenta-lisierung von Plagiatsfällen am Leben zu erhalten, umdaraus Kapital zu schlagen. Dabei wird in Kauf ge-nommen, dass der Eindruck entsteht, dass Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler den Doktorgraderwerben, um ihn als Titel zur Steigerung der gesell-schaftlichen Reputation zu nutzen und nicht als Nach-weis wissenschaftlicher Qualifikation. Genau das istnicht der Fall, sondern der deutsche Doktorgrad ge-nießt national wie international hohes Ansehen, weil
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Clemens Binninger
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dahinter eine hohe Qualifikation und hohe wissen-schaftliche Anforderungen stehen.Wer also wissenschaftliche Standards fördern willund wer die im Zuge der Plagiatsfälle ans Licht ge-kommenen Probleme bei der Qualitätssicherung derPromotion beheben möchte, der macht das über ver-nünftige Wissenschafts- und Forschungspolitik undstärkt die Universitäten bei ihren Bemühungen auf die-sem Feld. Wer ein wirkliches Interesse daran hat, derlegt Anträge und Gesetzentwürfe zu genau diesen Fra-gen vor oder unterstützt zumindest die Initiativen derBundesregierung und der Koalition in diesem Bereich.
Der Doktortitel ist der höchste akademische Grad
in Deutschland. Er wird durch Promotion an einer
Hochschule mit Promotionsrecht erlangt. Durch die
Promotion wird dem Kandidaten die Fähigkeit zum
selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten beschei-
nigt. Der Doktortitel ist die Auszeichnung für eine wis-
senschaftliche Arbeit, ob in der Medizin, den Rechts-
wissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, den
Naturwissenschaften, der Philosophie oder einer an-
deren wissenschaftlichen Richtung.
Der Doktortitel ist die Belohnung für eine wissen-
schaftliche Arbeit und kein Bestandteil des Namens
und auch kein Namenszusatz. Das haben sowohl der
Bundesgerichtshof als auch das Bundesverwaltungs-
gericht festgestellt. Deshalb gehört er unserer Ansicht
nach weder in die Personaldokumente noch in die Mel-
deregister. Denn warum sollte man einen Doktortitel in
die Personaldokumente eintragen lassen können, an-
dere akademische Titel, die man durch Abschluss eines
Diplom- oder Masterstudiengangs oder durch das Be-
stehen eines Staatsexamens erzielt, hingegen nicht?
Und was ist zum Beispiel mit dem Meistertitel?
International steht Deutschland mit Österreich und
Tschechien bei diesem Thema ziemlich alleine da. Des-
halb ist es an der Zeit, diese überholte Konvention zu
beenden.
Hinzu kommt, dass es für die zuständigen Behörden
einen bürokratischen Aufwand bedeutet, vor allem bei
der Anerkennung ausländischer Promotionen, die oft-
mals mit deutschen Promotionen nicht vergleichbar
sind, wenn diese in die Ausweisdokumente eingetragen
werden sollen.
Auch im internationalen Reiseverkehr und bei
Grenzkontrollen führt der Doktortitel in deutschen
Ausweisdokumenten zu Irritationen, denn oftmals wird
das „Dr.“ als Teil des Vornamens oder Nachnamens
angesehen.
Das können wir ändern, wenn wir den Doktortitel
aus den Personaldokumenten streichen. Zu dem Ge-
setzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens
hatte Bündnis 90/Die Grünen einen Änderungsantrag
in den Innenausschuss eingebracht, der den Verzicht
der Speicherung des Doktortitels im Melderegister
zum Inhalt hatte. Auch dieses Vorhaben haben wir als
richtig angesehen. Der Verzicht auf die Angabe des
Doktortitels in Melderegistern führt zu einer Entlas-
tung der Meldebehörden und somit zum Bürokratie-
abbau.
Leider sehen CDU und CSU dieses Ansinnen als
Karneval und Schaufensterpolitik an. Der Kollege
Schipanski erklärte in der ersten Lesung des Gesetz-
entwurfes von Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung
des Doktortitels, dass dieser Gesetzentwurf der „ho-
hen Reputation unserer akademischen Abschlüsse“
schade und „die akademische Kultur in der Bundesre-
publik Deutschland“ beschädige. Ich halte diese Aus-
sagen für falsch, denn es steht jedem, der einen
Doktortitel erlangt hat, frei, ihn zu führen, ob auf
Briefköpfen, Visitenkarten oder sonst wo. Es geht
schließlich nur um die Streichung des Doktortitels aus
den amtlichen Personaldokumenten. Dass das die
„Ehre unserer Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler“ beschädige, wie der Kollege Schipanski
ausführte, kann ich nicht nachvollziehen.
Besonders kurios sind diese Äußerungen, wenn man
bedenkt, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu-
sammen mit uns in der Großen Koalition bei der
Einführung biometrischer Daten in Pass und Reise-
dokumente eine ebensolche Streichung des Doktorti-
tels gefordert hatte, und das nicht nur in Pass und
Personalausweis, sondern auch bei den Eintragungen
im Melderegister.
Leider stimmten die Bundesländer, unter anderem
auf Initiative von Bayern, dann doch für die Beibehal-
tung der noch gültigen Regelung; der Bundestag folgte
diesem Wunsch.
Mit diesem Gesetzentwurf könnten wir die Behörden
von Bürokratie entlasten und einen Beitrag zur ein-
heitlichen Gestaltung der Pässe innerhalb der Euro-
päischen Union leisten.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden dem Ge-
setzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen.
Der Name und der Doktorgrad haben nichts mitei-nander zu tun. Die einschlägigen Gerichtsurteile sindweithin bekannt. Umso erstaunlicher finde ich nun, dassdie Grünen, aufbauend auf dieser Argumentationslinie,nun einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Und vorallem die Gründe, mit denen die Grünen hier versu-chen, ihrem Antrag Bedeutung zu verleihen, halte ichfür falsch. Ich werde diesen Antrag ablehnen, auchwenn ich der Idee, den Doktorgrad aus Ausweisdoku-menten zu streichen, grundsätzlich positiv gegenüber-stehe. Meine Beweggründe dafür möchte ich Ihnengerne darlegen.Auf der einen Seite bekräftigen die Grünen, dassName und Doktorgrad nichts miteinander zu tunhaben. Wieso soll der Doktorgrad dann aber das Ri-siko der Verwechslungsgefahr oder einer falschenIdentifizierung erhöhen? Der Doktorgrad als zusätz-liche Information in offiziellen Dokumenten reduziertZu Protokoll gegebene Reden
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Manuel Höferlin
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doch genau dieses Risiko. Hier ist Ihre Argumentationunschlüssig, sehr geehrte Damen und Herren der Grü-nen-Bundestagsfraktion.Als Erläuterung zu dieser Behauptung schreiben Siedann – ich zitiere aus Ihrem Antrag mit der Druck-sachennummer 17/8128 –: „Die Praxis der Eintra-gung … sorgt für Verwirrung, wenn zum Beispiel dieBuchstaben „Dr.“ für die Anfangsbuchstaben desFamiliennamens gehalten werden.“ Das, meine sehrgeehrten Damen und Herren der Grünen, halte ich füreine sehr weit hergeholte Konstruktion, derer Sie sichda bedienen. Also bitte bemühen Sie sich bei Ihrer An-tragsbegründung um stringente Erläuterung! Undnicht um Dinge, von denen Sie meinen, dass irgendje-mand davon verwirrt sein könnte. Nennen Sie für IhrePosition gute Belege. Das erwartet man von Ihnen ge-nauso wie von uns.Damit noch nicht genug! Die Grünen stellen dieThese auf, dass der Doktorgrad angeblich häufig– auch hier zitiere ich – „nicht als Nachweis wissen-schaftlicher Qualifikation“ erlangt wird, sondern vonden Inhabern des akademischen Grades genutzt wird,ihre gesellschaftliche Reputation zu verbessern. WennSie eine gesellschaftliche Debatte über die Bedeutungakademischer Abschlüsse für den sozialen Status füh-ren wollen, was ich persönlich durchaus für beden-kenswert halte, dann sollten Sie diese Debatte in derGesellschaft offen führen und nicht irgendwelcheVerfahrensfragen im Deutschen Bundestag erörtern!Dass Sie nun noch das Wort „Plagiat“ einbringen,überrascht dann auch niemanden mehr. Und: Dass dasThema Plagiate fast eine halbe Seite Ihres Antrags inAnspruch nimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen derGrünen, zeigt ganz deutlich, dass es Ihnen hier nichtdarum geht, eine tatsächliche Änderung in der Politikzu bewirken, sondern dass Sie hier vor allem Doktor-titel breittreten wollen, die die früheren Inhaber entwe-der längst abgegeben haben oder um die sie geradeRechtsstreite führen.Die grundsätzliche Idee, den Doktorgrad aus Aus-weisdokumenten zu streichen, finde ich überlegens-wert. Er hat nichts mit dem Namen zu tun. Und dieFrage, warum man genau diesen speziellen akademi-schen Grad personenstandsrechtlich erfassen muss,konnte bis heute niemand so recht befriedigend beant-worten. Momentan hilft der Doktorgrad dabei, einePerson genauer zu identifizieren. Das muss aber nichtnotwendigerweise so bleiben. Aber: Man muss sichdann überlegen, warum man den Doktorgrad aus Per-sonenstandsurkunden streichen möchte. Die Gründe,die die Grünen hier in ihrem Antrag aufführen, über-zeugen mich nicht. Hier wird die Wahlkampfmaschine-rie mit billigen Vorwürfen gefüttert. So etwas möchteich nicht. Ich lehne den Antrag der Grünen daher ab.
Wir beraten abschließend einen Gesetzentwurf der
Grünen, mit dem der Doktortitel aus dem Pass und al-
len weiteren Personaldokumenten gestrichen werden
soll. Dieser Gesetzentwurf ist vor dem Hintergrund der
Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsmi-
nister Guttenberg entstanden.
Der Gesetzentwurf verweist in seiner Begründung
auf die internationale Praxis. Nur in wenigen anderen
Staaten wird der Doktortitel wie ein Namensbestand-
teil in Passpapieren genannt. Der Verzicht auf den
Doktortitel im Pass entspricht also internationalen
Gepflogenheiten. Zudem stellt sich den Ausweisbehör-
den regelmäßig das Problem, wie sie mit im Ausland
erworbenen akademischen Abschlüssen verfahren sol-
len, die dem hiesigen Doktorgrad entsprechen. Dies
betrifft keineswegs nur Ausländerinnen und Ausländer
in Deutschland, sondern auch deutsche Staatsangehö-
rige, die einen ausländischen akademischen Grad er-
worben haben, der dem deutschen Doktor entspricht.
In diesen Fällen müssen die zuständigen Behörden
aufwendige Prüfungen vornehmen, wenn ein Passin-
haber den entsprechenden Titel in seinen Ausweis auf-
genommen sehen will. Diese Prüfungen würden mit
der Streichung des Doktortitels entfallen und die zu-
ständigen Behörden entlastet.
Zudem ist es doch recht willkürlich, dass einzig der
Doktorgrad als akademischer Titel in Ausweisdoku-
mente eingetragen wird, nicht aber andere akademi-
sche Titel. Und dies, obwohl es auch bei Ingenieuren
und Professoren durchaus üblich ist, diese Titel als
eine Art Namensbestandteil zu betrachten. Akademi-
sche Grade sind aber eben kein Namensbestandteil,
und deshalb kann auch in Personaldokumenten auf sie
verzichtet werden.
Der Gesetzentwurf verweist noch auf ein weiteres
Phänomen. Ein Doktortitel werde häufig nicht mehr
zum Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation, son-
dern vielmehr zur Steigerung gesellschaftlicher Repu-
tation erworben. Der Erwerb der Doktorwürde gehört
in bürgerlichen Kreisen heutzutage sozusagen zum gu-
ten Ton. In vielen Fachgebieten folgt auf den Ab-
schluss des Studiums fast automatisch eine Promotion,
ohne dass dadurch zwangsläufig auch ein Beitrag zur
wissenschaftlichen Debatte geleistet wird. Dass dabei
in einzelnen Fällen auf Plagiate zurückgegriffen wird,
um das Fehlen eigener wissenschaftlicher Originalität
zu verdecken, ist da nur die Spitze des Eisbergs. Die
Streichung des Doktorgrades, so zumindest die in der
Gesetzesbegründung ausgedrückte Hoffnung, werde
dazu führen, ihn von seiner gesellschaftlichen Überhö-
hung zu entlasten und auf seine eigentliche Funktion,
den Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation, zu-
rückzuführen. Auch wenn ich Zweifel habe, ob das al-
lein durch eine Änderung des Passgesetzes möglich ist,
teile ich diese Hoffnung. Die Linke wird diesem Ge-
setzentwurf deshalb zustimmen.
Deutlich über ein Jahr ist es nun her, genauer: ImDezember 2011 war es, als wir hier erstmalig über dengrünen Gesetzentwurf zum Verzicht auf die Eintragungdes Doktorgrads in Pass- und PersonaldokumentenZu Protokoll gegebene Reden
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Krista Sager
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berieten. Damals hatte ich deutlich gemacht, dassdiese Eintragungspraxis überflüssig, aufwendig undim Übrigen international völlig unüblich ist.Den Doktorgrad im Ausweis oder Pass einzutragen,führt auch weg von der eigentlichen Bedeutung derPromotion. Es waren Kritiker aus dem Wissenschafts-bereich, die im Zusammenhang mit der Diskussionüber prominente Plagiatsfälle darauf hinwiesen, mansolle die Promotion auf ihre ureigenste Bedeutungzurückführen, nämlich als Nachweis der besonderenwissenschaftlichen Qualifikation. Heute können wirfeststellen, dass sich die Stimmen derer, die den Dok-torgrad von gesellschaftlichen Überhöhungen entlas-ten wollen, vermehrt haben.Die Eintragung in die Personaldokumente leistetdem Missverständnis Vorschub, es ginge beim Doktorum die herausgehobene ehrenvolle Bezeichnung einerPerson statt um einen Qualifikationsnachweis. ZumTeil wird der Doktorgrad hierzulande auch heute nochwie eine Art „bürgerlicher Adelstitel“ oder Namens-bestandteil behandelt. Das hat auch gerade mit dieserKonvention zu tun, dass der Doktor auf Wunsch inPass und Personalausweis eingetragen werden kannund also wie ein Bestandteil des Namens erscheint.Tatsächlich ist der Doktor aber weder ein persön-licher Titel noch ein Namensbestandteil. Zur Identifi-kation einer Person ist der Doktorgrad nicht notwen-dig. Auch ist die Eintragung in die Personaldokumentemit überflüssigem bürokratischem Aufwand verbun-den.Vor diesem Hintergrund haben wir in einem Gesetz-entwurf beantragt, den Doktorgrad künftig nicht mehrin Pass und Personalausweis einzutragen. Durch dieStreichung fiele ein Anreiz weg, den Doktor vor allemaus Gründen der gesellschaftlichen Reputation odergar „Titelhuberei“ zu erlangen. Ganze Beratungsagen-turen gründen auf derlei Motivationslagen ihr einträg-liches Geschäftsmodell: Sie bieten an, Dr.-Interessier-ten bei der Mühsal der wissenschaftlichen Arbeit unterdie Arme zu greifen. Das Ergebnis sind dann Promo-tionen, deren Sinn für den Inhaber einzig darin liegt,mit dem Titel glänzen zu können.Leider haben Sie in der Koalition bislang dieChance verpasst, sich in der Sache zu bewegen. Ich er-innere daran, dass Bundesinnenminister Schäuble be-reits 2007 in einer Initiative für die Abschaffung derEintragung des Doktorgrads in Pass und Personalaus-weis geworben hat. Seitens der Bundesländer ist daseinzig an den Einwänden von Bayern und Thüringengescheitert.Erfreulicherweise besteht bei den Oppositionsfrak-tionen zumindest großes Einvernehmen, dass der Dok-tor in Pass und Ausweis nichts zu suchen hat. Insofernsehe ich sehr gute Chancen, dass sich hier bei einemerneuten Anlauf in der kommenden Legislaturperiodeetwas tut und wir in Bundesrat und Bundestag eineMehrheit dafür erreichen können, diese Sondersitua-tion in Deutschland zu beenden. Schwarz-Gelb aller-dings scheint auch in dieser Frage wieder mal nichtdie Kurve zu kriegen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11908, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8128 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
der übrigen Fraktionen abgelehnt. Damit entfällt die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verschleierung verhindern – Berichterstat-
tung über Armut und Reichtum auf eine un-
abhängige Kommission übertragen
– Drucksache 17/12709 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auch
diese Reden zu Protokoll genommen werden.
Es ist schon erstaunlich, mit welchen Themen undmit welchen Anträgen sich das Hohe Haus beschäfti-gen muss. Damit ich nicht missverstanden werde: Ichbin gern bereit, eine Debatte über die soziale Situationin Deutschland zu führen, über die Verteilung von Ver-mögen und Einkommen, über Chancengerechtigkeitund vieles mehr. Der 4. Armuts- und Reichtumsberichtder Bundesregierung bietet eine hervorragende Grund-lage für eine solche Debatte.Aber der Vorwurf, die Bundesregierung und die Ko-alitionsfraktionen wollten eine Berichterstattung ver-schleiern oder die politische Diskussion über eine ver-meintlich soziale Ungleichheit ersticken, ist einfachtöricht. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sorgenfür umfassende Transparenz. Der Berichtsentwurf, derEnde letzten Jahres in die Ressortabstimmung gegan-gen ist, ist bekannt und für jeden Bürger in unseremLand recherchierbar. Und der Bericht nach der Res-sortabstimmung in der Fassung, wie er vom Bundes-kabinett beschlossen worden ist, ist für Interessiertezugänglich. Jeder kann beide Berichte nebeneinander-legen und Satz für Satz abgleichen. Und genau das istja auch geschehen. Es war in der öffentlichen Bericht-erstattung viel von Schönfarberei die Rede; interes-sierte Kreise haben versucht, den ganz normalenVorgang einer Ressortabstimmung politisch zu skan-dalisieren, die Fraktion Die Linke übrigens auch.
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28954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Max Straubinger
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Aber weil wir so transparent vorgegangen sind unduns der massiven – in der Sache haltlosen – Kritik ge-stellt haben, kann man uns doch keine Verschleierungvorwerfen. Ihr Vorwurf ist unlogisch und in der Sachevöllig abwegig.Und noch ein Wort zur Transparenz: Schauen Sieauf die Homepage des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales. Das Ministerium hat dort zahlreicheForschungsprojekte dargestellt. Alle Berichte könnenheruntergeladen werden, die wissenschaftliche Basisfür den 4. Armuts- und Reichtumsbericht ist bekannt.Mehr Transparenz ist kaum möglich. Deshalb ist derVorschlag nach Einsetzung einer unabhängigen Kom-mission in der Sache völlig unbegründet. Sie mögendie politischen Schlussfolgerungen der Regierungnicht teilen, das ist aber kein Grund, die wissenschaft-liche Expertise infrage zu stellen. Am Bericht habendoch ganz überwiegend diejenigen mitgearbeitet, dieauch in eine vermeintlich unabhängige Kommissionberufen werden würden. Vor diesem Hintergrund halteich Ihren Vorschlag nicht für zielführend. Und Sie ha-ben selbst im Jahr 1999 als PDS-Fraktion in einemAntrag noch gefordert, dass die Bundesregierung ei-nen Bericht über die Entwicklung von Armut undReichtum vorlegen soll. Von einer unabhängigen Kom-mission war seinerzeit nicht die Rede. Was damalsrichtig war, soll heute falsch sein. Nur weil Ihnen diepolitische Bewertung der Regierung nicht passt.Das kann Ihnen auch bei einer unabhängigen Kom-mission passieren. Wir haben es letztes Wochenendeaus dem Mund des Vorsitzenden der SPD erlebt, derden Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung im Zusammenhangmit der Diskussion um die Einführung von Mindestlöh-nen massiv angegangen ist. „Sachverständige, die ihreGutachten an der Lebenswirklichkeit vorbei schreiben,brauchen wir nicht“, so tönte Sigmar Gabriel. Daszeigt: In der politischen Debatte ist niemand sakro-sankt. Auch eine vermeintlich unabhängige Kommis-sion muss sich der Kritik stellen und ist nicht frei vonKritik.Abschließend noch ein Wort zu Ihrer Analyse. Ichweiß nicht, in welchem Land Sie leben, in Deutschlandoffenbar nicht. Ich finde, die Daten im 4. Armuts- undReichtumsbericht belegen sehr deutlich die positiveEntwicklung der Lebenslagen für die Bürger in unse-rem Land. Die Langzeitarbeitslosigkeit als eine dergravierendsten Ursachen für Armut haben wir nach-haltig abgebaut: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen istzwischen 2007 und 2012 von 1,73 auf 1,03 Millionengesunken. Auch die Zahl derjenigen, die auf Leistungender Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesensind, ist stark rückläufig: Heute stehen 270 000 Kinderunter 15 Jahren und über 800 000 erwerbsfähige Men-schen weniger im Leistungsbezug als im Jahr 2007.Dabei blieb der Anteil der Niedriglohnbeschäftigtenweitgehend stabil. Deutschland weist in der Europäi-schen Union gegenwärtig die niedrigste Jugendar-beitslosigkeit auf. Deutschland gehört nach Berech-nungen der OECD zu den Staaten, in denen dieUngleichheit der Markteinkommen mit am stärkstendurch Steuern und Sozialtransfers reduziert wird. DieSozialleistungsquote liegt in Deutschland bei rund30 Prozent und damit über dem EU-Durchschnitt. Daszeigt: Der Sozialstaat in Deutschland funktioniert. IhreVorwürfe sind haltlos. Sie zeichnen ein Zerrbild vonder Lebenswirklichkeit in unserem Land. Sie wollen mitdem Thema „Armut in Deutschland“ Wahlkampf ma-chen und Neiddebatten schüren. Ihr Antrag ist ein rei-ner Schaufensterantrag. Deshalb werden wir den An-trag in den Ausschüssen auch ablehnen.
Der Antrag der Linken ist nicht nur sachlich in wei-ten Teilen unzutreffend, auch die von der Linksfraktionabgeleiteten politischen Forderungen helfen wederden von Armut betroffenen Menschen noch die Quali-tät künftiger Armuts- und Reichtumsberichte zu ver-bessern.Unverständlich ist mir die Äußerung der Linken, esfehle der Bundesregierung der politische Wille zu ei-ner sozialpolitischen Kurskorrektur. Wenn wir auf dieRahmendaten schauen, dann stellt sich schon dieFrage, welche Kurskorrektur hier vorgenommen wer-den soll: Den Menschen in der Bundesrepublik geht esgut; sie sind nicht massenweise von Verelendung be-troffen, wie es die Linke behauptet. Wir haben die nied-rigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. DieZahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um rund40 Prozent gesunken. Deutschland weist die niedrigsteJugendarbeitslosenquote in der EU auf – sogar als ein-ziges Land einen signifikanten Rückgang der Quote –einen Tiefstand im Hartz-IV-Bezug, einen Höchststandbei der Beschäftigung, und auch die Löhne steigenspürbar, insbesondere dort, wo die Tarifbindung hochist. Kurzum: Wir haben eine insgesamt gute arbeits-und sozialpolitische Gesamtsituation.Ein alter Schuh der Linksfraktion: Die Unterstel-lung, die Bundesregierung hätte massiv Leistungen beider Arbeitsförderung gekürzt. Sie verschweigen aller-dings, dass wir die Mittel für Programme der Arbeits-markt- und Beschäftigungsförderung auf dem Höhe-punkt der Krise deutlich nach oben gefahren haben.Trotz der danach vorgenommenen Reduzierung gebenwir heute pro Kopf mehr für die Integration von Lang-zeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt aus als vor derKrise. Ginge es nach den Linken, müssten wir nichtnur bei steigender Arbeitslosenzahl mehr Geld fürArbeitsmarktpolitik ausgegeben, sondern auch, wennes weniger Arbeitslose gibt. Das ist fiskalisch und ord-nungspolitisch Unfug.Noch interessanter ist die paradoxe Forderung derLinken nach einer unabhängigen Kommission, die zu-sammengesetzt sein solle aus Vertretern von „Wissen-schaft, Gewerkschaften, Verbänden sowie Interessen-vertretungen der von Armut und sozialer Ausgrenzungbetroffenen Personen“. Man kann ja durchaus eineDiskussion über eine unabhängige Kommission füh-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28955
Dr. Matthias Zimmer
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ren. Aber wenn die Linken dies fordern, können siedoch nicht im nächsten Halbsatz ihre eigene Forde-rung konterkarieren, indem sie Interessenvertreter ineine solche „unabhängige“ Kommission berufen wol-len. Genauso absurd ist in diesem Zusammenhang, derKommission bereits im Antrag nahezulegen, welchenormativen Schlussfolgerungen sie aus ihrer Analysezu ziehen hat. Damit würde die von ihnen geforderteKommission zum Sprachrohr der Linken pervertieren.Ich frage mich, welcher wirklich unabhängige Expertesich hierfür freiwillig instrumentalisieren lassenwürde.Im Übrigen hat die Bundesregierung über denBeraterkreis und das wissenschaftliche Gutachter-gremium die wesentlichen gesellschaftlich relevantenAkteure beratend in die Berichterstattung einbezogen.Der Austausch mit Vertretern der Wissenschaft war be-reits im Vorfeld der Neukonzeption des Armuts- undReichtumsberichtes besonders intensiv. Mehrere Work-shops des Ministeriums begleiteten die Arbeiten. Daswissenschaftliche Gutachtergremium setzte sich diesesMal etwa zur Hälfte aus neu berufenen und bereits fürdie bisherige Berichterstattung berufenen Wissen-schaftlern zusammen. Die neu berufenen Expertenbearbeiteten entweder Forschungsaufträge für den4. Armuts- und Reichtumsbericht oder konzentriertenihre Forschungsarbeiten auf die Schwerpunkte derdiesjährigen Berichterstattung, etwa Analysen zuÜbergängen im Bildungs- und Ausbildungssystemoder die Messung subjektiver Einstellungen. Das Bun-desministerium für Arbeit und Soziales wird die Zu-sammenarbeit mit den Experten auch mit Blick auf dennächsten Bericht fortsetzen.Ebenso steht die Bundesregierung unter Federfüh-rung des BMAS im Rahmen des gemeinsamen Monito-rings, auch „Sozialmonitoring“ genannt, in einemkonstruktiven Dialog mit den Spitzenverbänden derFreien Wohlfahrtspflege. Unerwünschte Aus- undWechselwirkungen, die in unmittelbarem Zusammen-hang mit der aktuellen Sozialgesetzgebung stehen,werden hier in regelmäßigen Abständen partnerschaft-lich gemeinsam diskutiert.Unsere Aufgabe als Politik ist es, dafür zu sorgen,dass sich Armutsrisiken für bestimmte gesellschaftli-che Gruppen nicht über Generationen verfestigen unddass Chancen zur sozialen Mobilität, also zur sozialenVerbesserung der Lebenslage, in ausreichendem Maßevorhanden sind. Die Regierung Merkel trägt dafürSorge, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft wei-terhin die Freiheit des Marktes mit dem Prinzip des so-zialen Ausgleichs verbunden bleibt. Die Linken zielenmit ihrer Politik auf eine leistungsfreie und damit an-strengungslose Daseinsgestaltung, finanziert durchdie Expropriation derjenigen, die etwas leisten. Dashingegen können wir uns als Nation, die auch aus denFehlern des zu Recht untergegangenen sozialistischenExperiments gelernt hat, nicht leisten – ich gebe aller-dings zu, dass dieser Lernerfolg einigen bisher versagtgeblieben ist.
Ist nicht alles schon zum 4. Armuts- und Reichtums-bericht, ARB, gesagt? Die Regierung hat getrickst.Entscheidende und richtige Feststellungen wurden ge-strichen oder in 549 Seiten versteckt. Somit hat der ansich gute Bericht sehr gelitten und ist weit unter seinenMöglichkeiten geblieben.Denn: Deutschland ist ein reiches Land, das sichaber zunehmend mehr Armut und Armutsrisiken leis-tet. Deutschland ist ein Land der Chancen, die aber zu-nehmend ungleicher verteilt sind. Deutschland istzwar ein Land mit enorm hoher Beschäftigungsquoteund geringer Arbeitslosigkeit, doch können viele Men-schen nicht von ihrem Lohn leben.Es kann daher nicht wundern, dass das Gerechtig-keitsempfinden der Menschen zunehmend mehr ver-letzt ist. Eine Bundesregierung, die einen solchen Satzaus dem wichtigsten Dokument zum Themengebiet,nämlich dem 4. ARB, streichen lässt, steht nicht zu denMenschen und dem Land.Der heute zur Debatte stehende Antrag der Linkenbeschreibt die Situation richtig, und seine Kritik ist zu-treffend; denn eine erneute Verschleierung der Tatsa-chen durch einen Bericht der schwarz-gelben Bundes-regierung muss verhindert werden.Allerdings greifen die angebotenen Lösungen zukurz. Für die künftige Berichterstattung will die SPD-Bundestagsfraktion sicherstellen, dass folgende For-derungen in der Armuts- und Reichtumsberichterstel-lung umgesetzt werden:Erstens. Bessere Einbindung eines Beraterkreises,Transparenz der Berichterstellung durch die Veröffent-lichung des Beratungsprozesses sowie der abschlie-ßenden Vorschläge und Kommentare, des Beraterkrei-ses im Anhang des Berichtes.Zweitens. Verbesserung der Indikatoren, Umsetzungder Forderungen, die im Antrag der SPD-Bundestags-fraktion ,,Vorbereitung des 4. Armuts- und Reichtums-berichts der Bundesregierung in der 17. Wahlperiode –Armuts- und Reichtumsberichterstattung weiterentwi-ckeln“, Bundestagsdrucksache 17/4552, aufgeführtsind.Drittens. Stärkere Nutzung und Einbeziehung desvorhandenen Datenmaterials, zum Beispiel zur Gen-derfrage und zum Reichtum.Viertens. Vernetzung der Ergebnisse anderer Be-richterstattungen wie zum Beispiel Gleichstellungsbe-richt, Berichte zu Familie, Kindern und Jugendlichen,Senioren, Bildung, Migration, Renten, Städtebau undNutzung ihrer Kernaussagen.Fünftens. Vernetzung mit den Sozialberichten derLänder und Kommunen.Sechstens. Ausweitung der Berichterstattung umFragen wie: Wem nützen gesellschaftlich notwendigeDienstleistungen? Wer nutzt bestehende Teilhabechan-Zu Protokoll gegebene Reden
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28956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Gabriele Lösekrug-Möller
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cen nicht und warum? Stichwort: Verwirklichungs-chancen.Siebtens. Was bedeuten Leistungseinschränkungenund Privatisierung für die Lebenslagen verschiedenerGruppen, vor allem derer im Armutsrisiko?Zusammenfassend möchte ich feststellen: Wir brau-chen einen ARB mit klaren Analysen, die deutlicheHandlungsempfehlungen zulassen. Hierbei handelt essich um ein zutiefst politisches Feld, das in die Mittedes Parlaments gehört und dort entschieden werdenmuss.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heuteberaten, fordert eine grundsätzliche Umkehr des bis-herigen Vorgehens bei der Erarbeitung der Armuts-und Reichtumsberichte. Dabei verkennen Sie jedochvollständig, dass die Armuts- und Reichtumsberichtekeine reine Sammlung von statistischen Daten sein sol-len und auch bisher nicht waren, sondern dass die er-hobenen Daten auch bewertet werden und dass aus ih-nen politische Schlussfolgerungen gezogen werdenmüssen.Würde man Ihrem Vorschlag folgen, würden die bei-den letzten von mir angesprochenen Aspekte entwederkomplett entfallen. Oder sie würden von Wissenschaft-lern statt der Politik vorgenommen. Würden die Be-wertungen und Schlussfolgerungen entfallen, hätte derArmuts- und Reichtumsbericht keinerlei Mehrwertmehr. Die reinen statistischen Daten und wissenschaft-lichen Gutachten gäbe es auch ohne einen Armuts- undReichtumsbericht. Die Daten, die in den Berichten ge-nannt werden, sind uns meist vorher schon aus andererQuelle bekannt oder werden als allgemeingültig ak-zeptiert und von uns allen verwendet. Das Interessantean den Armuts- und Reichtumsberichten sind ja geradedie politischen Bewertungen und die Schlussfolgerun-gen, die aus dem Bericht gezogen werden.Es kann auch nicht Aufgabe der von der Linken ge-forderten Kommission sein, die politischen Hand-lungsanweisungen vorzugeben. Dies muss weiterhinSache der Politik sein und darf nicht auf Wissenschaft-ler übertragen werden, die keine demokratische Legi-timation besitzen.Ich kann ja verstehen, dass die Opposition versucht,die guten Daten im Bereich des Arbeitsmarktes und imBereich der Sozialpolitik durch Kritik am bisherigenVerfahren der Regierung unter den Tisch fallen zu las-sen. Wenn Sie jedoch die normale Abstimmung einesRegierungsberichts zwischen den Ministerien zum An-lass für eine Skandalisierung nehmen, dann halte ichdas für grundfalsch. Es scheint mir eher ein üblichespolitisches Spiel zu sein, den jeweils Regierenden un-lautere Methoden vorzuwerfen.Am 20. Mai 2008 schrieb „Die Welt“: „Olaf Scholzsoll Armutsbericht geschönt haben. Experten undOpposition werfen Arbeitsminister Olaf Scholz, SPD,vor, an seinem Armutsbericht ‚herumgefummelt‘ zuhaben. Scholz stelle die Lage weit positiver dar, als siesei, kritisieren sie. Besonders die Kinderarmut sei gra-vierender als der Bericht suggeriert – die alarmieren-den Zahlen würden unter den Tisch fallen.“ Grüne und Linke werden darin zitiert, dass im Be-sonderen Daten zur Kinderarmut geschönt wordenseien. Im Übrigen gab es damals keine Kritik vonseitender SPD am Vorgehen ihres Ministers.Ich möchte nicht im Nachgang beurteilen, welcheQualität der damalige 3. Armuts- und Reichtumsbe-richt hatte, aber sie sehen, dass der Vorwurf des „He-rumfummelns“ am Bericht kein neuer ist.Was ich aber weiß, ist, dass sich die Daten zwischendem 3. und dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht deut-lich verbessert haben. Wir haben weniger Arbeitslose.Wir haben weniger Bezieher von Leistungen nach demSozialgesetzbuch II. Wir haben weniger Kinderarmut.Wir haben mehr sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigte. Das sind die Fakten, die auch eine Kommissionnicht anders darstellen kann, weil es Fakten sind undkeine politische Deutung.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auch un-wahre Behauptungen, die Sie in Ihrem Antrag im Zu-sammenhang mit der Erstellung des 4. Armuts- undReichtumsberichtes aufführen, zurechtzurücken. ImAntrag erheben Sie den Vorwurf, dass die Passage,dass in den vergangenen zehn Jahren die unteren Ein-kommen preisbereinigt massiv gesunken seien, entferntwurde. Hierfür gibt es jedoch triftige Gründe.So hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-schung am 25. Oktober 2012 neue Datenanalysen mitneuen und revidierten Daten des SozioekonomischenPanels präsentiert, die eindeutig belegen, dass dieEinkommensungleichheit seit 2005 gesunken ist. DasDIW aktualisiert und bestätigt damit die Analyse desInstituts für Angewandte Wirtschaftsforschung, diefeststellt, dass die Einkommensungleichheit maßgeb-lich zwischen 1999 und 2005 zugenommen hatte unddanach relativ konstant geblieben ist. Durch Vorlagedieser Fakten erübrigte sich auch die Aussage zumGerechtigkeitsempfinden, die Sie in Ihrem Antrag an-sprechen.Zudem halte ich es für bezeichnend, dass sie in Ih-rem Antrag die Erfolge, die der Armuts- und Reich-tumsbericht in vielen Feldern zeigt, mit keinem Worterwähnen. Die verfügbaren Einkommen nehmen spür-bar zu. Das ist Ergebnis der positiven Beschäftigungs-und Lohnentwicklung sowie der Entlastungen beiSteuern und Abgaben. Die gute Arbeitsmarktentwick-lung entlastet hilfebedürftige Familien: Die Zahl derHartz-IV-Empfänger, der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger – und der Bedarfsgemeinschaften war2012 die jeweils niedrigste seit Einführung derGrundsicherung im Jahr 2005. Allein seit 2007 sind800 000 Erwerbsfähige und 270 000 Kinder wenigerim Leistungsbezug der Grundsicherung.Zu Protokoll gegebene Reden
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Pascal Kober
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Das sind die Erfolge der Politik dieser christlich-li-beralen Regierungskoalition.
Bereits am 17. September 2012 hatte die Bundesre-
gierung einen ersten Entwurf zum 4. Armuts- und
Reichtumsbericht vorgelegt. Dieser Bericht hatte es in
sich – und zwar so sehr, dass die FDP hellauf empört
über die darin beschriebene Wahrheit in diesem Lande
eine massive Aufhübschung des Berichts gefordert und
leider auch durchgesetzt hat.
Im ersten Berichtsentwurf stand noch – ich zitiere:
„Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die
Progression in der Einkommensteuer hinaus privater
Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentli-
cher Aufgaben herangezogen werden kann“.
Die FDP hat diese Passage im Handumdrehen
streichen lassen. Das dürfen wir CDU, CSU und FDP
nicht durchgehen lassen.
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Kornelia Möller, Inge Höger, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg schließen
– Drucksachen 17/5757, 17/8388 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck
Michael Groschek
Joachim Spatz
Paul Schäfer
Agnes Brugger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen.
Seit den 30er-Jahren leidet die Bevölkerung im
Raum Siegenburg unter dem Luft-Boden-Schießplatz,
und seit Jahrzehnten kämpfen Bürger aus der Region
gemeinsam mit den Politikern vor Ort und der Bürger-
initiative gegen den Fluglärm. Auch ich habe mich seit
Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit im Deut-
schen Bundestag für die Entlastung der Menschen
rund um die Siegenburg Range mit dem Ziel der
Schließung eingesetzt.
In all den Jahren wurde die Schließung vom Bun-
desverteidigungsministerium – übrigens auch unter
Rot-Grün – stets mit dem Hinweis abgelehnt, dass der
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg militärisch unver-
zichtbar sei. Im Interesse der bestmöglichen Ausbil-
dung der Piloten sei die Schließung nicht zu verant-
worten. Deshalb war mein Ziel – solange sich an der
militärischen Beurteilung nichts ändern sollte – auf
jeden Fall die Belastung der Bevölkerung so weit wie
möglich zu mindern. Dies konnte auch erreicht wer-
den: Die Zahl der Überflüge sank innerhalb von rund
20 Jahren um über 90 Prozent. Auch zahlreiche wei-
tere Verbesserungen für die fluglärmgeplagte Bevölke-
rung konnten erwirkt werden, wie zum Beispiel Flug-
pausen während Ferienwochen sowie an Sonn- und
Feiertagen. Außerdem wurden der geplante Nutzungs-
umfang und eine planerische Obergrenze festgelegt,
die weit unter den Einsatzzahlen der 90er-Jahre liegen
und darüber hinaus tatsächlich deutlich unterschritten
wurden.
Im Rahmen der Bundeswehrreform wurde dann der
Standort Siegenburg auf seine weitere Notwendigkeit
überprüft. Das in diesem Zusammenhang erstellte
Standortkonzept für die gesamte Bundesrepublik
hat schließlich die entscheidende Voraussetzung ge-
schaffen: Wie der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt, MdB, mir Anfang März mitgeteilt
hat, sieht die Bundesregierung seitens der Bundeswehr
nach der Auflösung des Jagdbombergeschwaders 32 in
Lechfeld keinen Bedarf mehr und plant, den Bomben-
abwurfplatz Siegenburg mangels Auslastung in abseh-
barer Zeit zu schließen. Auch seitens der US-Luftwaffe
besteht kein weiteres Interesse mehr an der Nutzung,
wie vom Bundesverteidigungsministerium dieser Tage
nochmals bestätigt wurde, weil die bisher in Spang-
dahlem stationierten A-10-Kampflugzeuge, die Sie-
genburg in erster Linie bisher nutzen, noch 2013 abge-
zogen werden.
Endlich ist es also soweit! In den letzten Wochen be-
durfte es noch einmal verstärkter Anstrengungen, aber
der Einsatz hat sich gelohnt. Wir stehen unmittelbar
vor unserem gemeinsamen Ziel: Der Bomben-
abwurfplatz Siegenburg wird geschlossen. Allen, die
noch Zweifel haben, kann ich versichern: Die Würfel
sind gefallen. Der politische Wille des Bundesverteidi-
gungsministeriums ist eindeutig, wie mir der Parla-
m
Es geht nicht mehr um das Ob; derÜbungsplatz wird geschlossen.Ich freue mich, dass der jahrzehntelange Einsatzvon Kommunal-, Landes- und Bundespolitikern sowieder Bürgerinitiative zum Erfolg geführt hat. Allen, diezu diesem Erfolg beigetragen haben, danke ich herz-lich, ganz besonders natürlich dem ParlamentarischenStaatssekretär Christian Schmidt, mit dem ich insbe-sondere die letzten Wochen und Monate intensiv überdie Schließung verhandelt habe.Leider ist von einigen in den letzten Tagen vor Orteine, wie ich meine, unschöne und peinliche öffentliche
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Dr. Wolfgang Götzer
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Debatte darüber geführt worden, wer sich den Erfolgauf die Fahnen schreiben könne, anstatt sich einfachdarüber zu freuen. Ich möchte dazu noch einmal ganzklar feststellen – und das kommt auch in unserem In-formationsblatt unmissverständlich zum Ausdruck –:Dieser Erfolg ist das Ergebnis einer großartigen lang-jährigen Gemeinschaftsleistung.Freuen wir uns also gemeinsam, dass Jahrzehnteunter Fluglärm bald der Vergangenheit angehören!Mit der Schließung der Siegenburg Range wird dieLebensqualität, aber auch die Sicherheit in der gesam-ten Region erheblich zunehmen – eine gute Nachrichtfür unsere Heimat.
Bereits vor zwei Jahren formulierten die für Siegen-
burg zuständigen Bundestagsabgeordneten aller hier
im Haus vertretenen Fraktionen einen parteiübergrei-
fenden Entwurf zur Zukunft des dortigen Luft-Boden-
Schießplatzes. Vorangegangen war eine Empfehlung
des Bundesrechnungshofes aus dem Jahre 2007, die-
sen aus Kostengründen aufzugeben.
Damals stand allerdings noch die Planung für
den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock in der Kyritz-
Ruppiner Heide im Raum.
Damit sollte die Belastung der Bevölkerung durch
Übungseinsätze gegen Bodenziele auf deutschem
Gebiet, die bislang ausschließlich in Siegenburg und
Nordholz stattfanden, gleichmäßiger über Nord-, Süd-
und Ostdeutschland verteilt werden. Das Nutzungs-
konzept für die deutschen Luft-Boden-Schießplätze aus
dem Jahr 2008 ging noch von bis zu 300 Übungsein-
sätzen jährlich in Siegenburg aus.
Die Planungen für Wittstock wurden bekanntlich
2009 von dem damaligem Verteidigungsminister Franz
Josef Jung aufgegeben. Insofern war die zusätzliche
Schließung Siegenburgs problematisch: Sie hätte wie-
derum zu einer Mehrbelastung der Anwohner von
Nordholz als einzigem verbliebenen Luft-Boden-
Schießplatz in Deutschland geführt. Dieses Training
ist aber notwendig. Die Notwendigkeit einer umfassen-
den und hochwertigen Ausbildung ergibt sich schon
aus der Fürsorgepflicht für die Besatzungen, die zur
Gewährleistung unserer Sicherheit einen gefährlichen
Dienst tun. Demgegenüber steht die Belastung der Be-
völkerung durch den Übungslärm.
Als Mitglied sowohl im Verteidigungs- als auch im
Tourismusausschuss ist mir dieser Konflikt sehr be-
wusst, zumal die Situation in meinem Wahlkreis ganz
ähnlich ist. Über 80 Prozent dieser Einsätze werden
bereits im Ausland oder über See geflogen.
Die Solidarität mit unseren Verbündeten gebietet je-
doch, nicht die gesamte Belastung auf sie abzuwälzen.
Um die amerikanischen Stützpunkte wie Holloman
etwa, wo die Luftwaffe einen großen Teil ihrer Ausbil-
dung durchführt, wohnen schließlich auch Menschen.
Das ist nicht alles nur Wüste, wie manchmal behauptet
wird, zumal auch unter mitteleuropäischen Bedingun-
gen trainiert werden muss, und zwar sowohl von den
deutschen als auch den verbündeten Streitkräften.
Statt über Anträge zu diskutieren, galt es daher erst
einmal, im Stillen konstruktiv zu arbeiten, um die not-
wendigen Bedingungen für eine Verringerung des
Übungsbetriebs zu schaffen. Das haben alle Beteilig-
ten auch getan, ausgenommen die Linke, über deren
Antrag wir heute entscheiden.
Durch die kurz bevorstehende Auflösung des Jagd-
bombergeschwaders 32 in Lechfeld im Rahmen der
aktuellen Bundeswehrreform sowie die amerikani-
schen Pläne zur Verringerung ihrer Truppenpräsenz in
Deutschland – hier insbesondere der Kampfflugzeuge
in Spangdahlem bis Ende dieses Jahres – haben sich
diese Bedingungen nun ergeben.
In Süddeutschland fallen damit die bisherigen
Hauptnutzer von Siegenburg weg, sodass der Erhalt
des nur zweieinhalb Quadratkilometer großen Schieß-
platzes nicht mehr gerechtfertigt scheint.
Zur Zeit finden daher Verhandlungen mit der ameri-
kanischen Seite über die Aufgabe der Nutzung statt.
Der Antrag der Linken hat sich damit ohne großes öf-
fentliches Getöse erledigt.
Ein Problem allerdings bleibt: Mit der Schließung
Siegenburgs wäre der gesamte verbleibende Luft-
Boden-Übungsbetrieb über Land in der Bundesrepu-
blik auf Nordhorn konzentriert. Das Bundesverteidi-
gungsministerium strebt zwar eine Lösung an, die
keine Mehrbelastung an anderer Stelle beinhaltet. Als
einzig verbliebener Schießplatz wäre in Nordhorn aber
von der solidarischen Lastenteilung zwischen den
Regionen Deutschlands, die einst mit dem Betrieb von
Wittstock angestrebt wurde, nichts mehr zu spüren.
Ich weiß, die Lösung der Linken wäre einfach: kein
Nordhorn mehr, keine Übungsflüge mehr, überhaupt
keine Bundeswehr mehr. So weit die sozialistischen
Träume von einer perfekten Welt.
In der echten Welt brauchen wir die Bundeswehr
und Übungseinsätze – auch in Deutschland – weiter-
hin. Damit auch linke Träumer in der Sicherheit leben,
die notwendig ist, um öffentlichkeitswirksame Anträge
zu formulieren.
Das bitte ich die Kollegen, die sich für die Schlie-
ßung Siegenburgs eingesetzt haben, allerdings auch
den Menschen in Nordhorn zu vermitteln.
Vorab: Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich beidiesem Antrag der Fraktion Die Linke zur Schließungdes Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg enthalten.Diese Enthaltung haben wir bereits in den Ausschuss-beratungen vorgenommen, die vor fast einem Jahrstattgefunden haben. Die Position hat noch mein Vor-gänger im Mandat, Herr Michael Groschek, vertreten.So richtig es ist, die künftige Verwendung des Arealsals Schießplatz infrage zu stellen, so fahrlässig ist esZu Protokoll gegebene Reden
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28966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Wolfgang Hellmich
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aber auch, den vom Betrieb belasteten Anwohnerneine schnelle Änderung ihrer Situation in Aussicht zustellen. Abgesehen davon gibt es zu diesem Platz vorOrt gar keinen Konflikt, außer vielleicht mit den Lin-ken. Aber das hat andere Gründe, die eher in dergrundsätzlich gegen die Bundeswehr gerichteten Posi-tion der sogenannten Linken liegen.Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion müs-sen wir als Teil der Europäischen Union auch anderenStaaten die Möglichkeit geben, sicherheitspolitischeKernkompetenzen und militärische Fähigkeiten ge-meinsam zu trainieren; denn nur im Bündnis mit ande-ren EU- und NATO-Mitgliedstaaten kann Deutschlandseinen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Schutzgewähren sowie glaubwürdig für den Frieden in derWelt eintreten.Die Bundeswehr benötigt gerade auch als Armee imEinsatz vielfältige Übungsmöglichkeiten, die den An-forderungen möglicher Einsätze nahekommen. Dies istrichtig und notwendig. Als Mitglieder des DeutschenBundestages müssen wir für die bestmögliche Ausbil-dung unserer Soldatinnen und Soldaten Sorge tragen.Es darf nicht der Fall sein, dass wir die Bundeswehr inteilweise sehr gefährliche Auslandseinsätze entsenden,aber an der Einsatzvorbereitung sparen. Schließlichist eine sehr gute Ausbildung immer auch der besteSchutz für unsere Soldatinnen und Soldaten. Insbeson-dere modernen, computergestützten Ausbildungsmit-teln wie Simulatoren kommt eine ständig wachsende Be-deutung zu, aber auch in Echtzeit im Gelände muss dieEinsatzlage simuliert werden. Deshalb benötigen wirÜbungsmöglichkeiten gerade auch für die Luftwaffe.Die kostenintensiven Übungsmöglichkeiten in denUSA reichen für eine in Übung zu haltende bundes-deutsche Luftwaffe nicht aus. Grundsätzlich ist es not-wendig, im Rahmen von Pooling and Sharing eine eu-ropaweit taugliche Übungsmöglichkeit zu finden. Wieschwierig das ist, ist beispielsweise im Fall der Sennezu sehen. Die Briten ziehen zwar ihre Truppen ab, sindaber auf noch nicht absehbare Zeit auf die Nutzung desTruppenübungsplatzes Sennelager angewiesen, da sieüber keine eigenen, geeigneten Übungsplätze verfü-gen.Im Rahmen der dringend zu überarbeitenden Kon-zeption der Übungsplätze besteht die klare Anforde-rung an die Bundesregierung, endlich zu praxisnahenLösungen zu kommen. Das ist die wirkliche Herausfor-derung. Zwar wurde zum Anfang der Legislaturpe-riode von Schwarz-Gelb versprochen, die Konzeptionder Übungsplätze zu überarbeiten, aber Fehlanzeige.Bisher sind keine Aktivitäten seitens der Bundesregie-rung hin zu einem Übungsfelderkonzept zu erkennen.Und damit ist auch den vom Fluglärm betroffenenAnwohnerinnen und Anwohnern von Siegenburg nichtgeholfen. Nur ein europäischer Truppenübungsplatzkönnte hier für Abhilfe sorgen. Das wäre ein Engage-ment mit hoher Intensität wert.Meine Fraktion wird sich enthalten, weil es richtigwäre, durch eine Konzeption für die Übungsplätze zueiner Lösung zu kommen, die den Standort Siegenburgin Niederbayern überflüssig macht. So könnten auchdie Anlieger profitieren. Der Ansatz der Linken lässtaber leider kein wirkliches Interesse an einer Lösungder komplexeren Problemlage erkennen.
Nach Informationen des Bundesverteidigungsminis-teriums kann der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburgin absehbarer Zeit geschlossen werden. Diese Nach-richt hat verständlicherweise für großen Jubel vor Ortgesorgt. Die Belastung von Anwohnern in der Nähemilitärischer Übungsplätze ist naturgemäß hoch, vorallem aufgrund des im Zusammenhang mit Flugbewe-gungen entstehenden Lärms. Als FDP-Bundestags-fraktion beglückwünschen wir daher ausdrücklich dievielen hochengagierten Bürgerinnen und Bürger vorOrt zu ihrem beharrlichen Engagement und sprechenihnen unseren Dank für die jahrzehntelange Duldungder mit dem Betrieb des Übungsplatzes einhergehen-den Belastungen aus.Wir haben immer betont, dass bei der Nutzung mili-tärischer Übungsanlagen ein schwieriger Abwägungs-prozess zwischen den Interessen der betroffenenAnwohner und der Notwendigkeit von Ausbildungs-möglichkeiten unserer Soldatinnen und Soldaten voll-zogen werden muss. Beides liegt uns am Herzen. BeideAnliegen stehen aber in einem Spannungsverhältniszueinander und können nicht einseitig aufgelöst wer-den.In einer solch komplexen Frage gibt es keine einfa-chen Lösungen, wie es die Linken in ihrem vorliegen-den Antrag suggerieren. Auch wenn es schwerfallenmag, wir müssen in solch komplexen Fragen die An-strengung unternehmen, ein für beide Seiten angemes-senes Ergebnis zu finden.Daher haben wir in der Vergangenheit immer betontund das auch im Deutschen Bundestag mehrfach soformuliert, dass wir die Bundesregierung ausdrücklichin ihrem Bemühen unterstützen, bei allen Entscheidun-gen hinsichtlich der Nutzung inländischer Truppen-übungsplätze zwischen operationellen Notwendigkei-ten für unsere Bundeswehr auf der einen und denberechtigten Interessen der betroffenen Bürger auf deranderen Seite abzuwägen. Dem Bundesministeriumder Verteidigung obliegt dabei die schwierige Auf-gabe, den Ausbildungs- und Einsatzflugbetrieb in demgerade erforderlichen Maße zu planen, um damit dieBelastungen der Bevölkerung durch notwendige mili-tärische Flüge in Deutschland auf das unvermeidbareMaß zu begrenzen und auch weiterhin minimalinvasivauszugestalten.Mit der geplanten Auflösung des Jagdbomberge-schwaders 32 in Lechfeld Ende März 2013 und demangekündigtem Abzug der bisher in Spangdahlem sta-tionierten A-10-US-Kampfflugzeuge hat sich eine neueSituation ergeben. Mit dem damit verbundenen WegfallZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28967
Joachim Spatz
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der bisherigen Hauptnutzer des Luft-Boden-Schieß-platzes in Siegenburg ist nun ein Verzicht auf die An-lage insgesamt möglich, und zwar unter Wahrung derInteressen aller Beteiligten, der Anwohner, der Kom-mune und der gesamten Region auf der einen Seite undder Angehörigen unserer Luftwaffe auf der anderenSeite.Alle Beteiligten stehen nun vor großen Herausfor-derungen. Die Möglichkeiten einer potenziellen Nach-folgenutzung werden nun zu erörtern sein. Belange desNaturschutzes werden dabei mit Sicherheit eine wich-tige Rolle spielen. Wir wünschen den handelnden Per-sonen vor Ort eine glückliche Hand und stehen gernebereit, den weiteren Prozess zu begleiten.
„Die Schließung des Platzes ist in greifbare Nähegerückt.“ Mit diesem Satz war bereits im Sommer 2003Hoffnung auf ein Ende der militärischen Nutzung desBombenabwurfplatzes Siegenburg entstanden. Heute,im Jahr 2013, ist der Platz nach wie vor in Händen derUS-Airforce und wird nach wie vor überwiegend vonder Bundeswehr genutzt.Nun wird in einem Flugblatt der CSU, das in denKommunen rund um Siegenburg verteilt wurde, erneutangekündigt, der Schießplatz „soll möglichst schnellgeschlossen werden“. Das wäre wirklich schön. Aller-dings macht es die frühere Erfahrung mit vagenAnkündigungen schwer, angesichts dieser Mitteilungbereits von einem sicheren Ende der Belastung für dieRegion auszugehen. Es gibt keine Zusagen der US-Air-force, es gibt keinen Zeitplan und es gibt nichts, wasrechtlich verbindlich regelt, dass die militärischeNutzung wirklich bald der Vergangenheit angehört.Solange es diese verbindlichen Regelungen und Zusa-gen nicht gibt, muss und wird der Protest gegen die mi-litärische Nutzung weitergehen. Ich bin froh, dass die„Bürgerinitiative gegen den Fluglärm“ genau das be-reits angekündigt hat.Dass auch die Grünen unserem Antrag nun nichtmehr zustimmen wollen, weil die Schließung ja schonbeschlossen sei, das zeugt nicht nur von Naivität. Esmacht wieder einmal klar, dass Grüne äußerst unzu-verlässige Kooperationspartner sind, besonders wennes um Militärpolitik geht. Während der Verhandlungenüber einen möglichen interfraktionellen Antrag woll-ten Sie unseren Antrag nicht übernehmen, weil er For-derungen zur zivilen Nachnutzung und zur Finanzie-rung der Dekontaminierung enthielt. Nun erklären sie,dass sie unserem Antrag nicht zustimmen wollen, weildiese Fragen, die ja die Zukunft des Platzes betreffen,in unserem Antrag nicht enthalten seien. Der Antragder Fraktion Die Linke ist aber nach wie vor der glei-che. Wir halten in der Friedensfrage entschieden unse-ren Kurs.Das Verhalten der CSU ist ebenfalls von Widersprü-chen geprägt. Sie versucht ganz offensichtlich nichtnur, die Erfolge der Bürgerinitiative für sich zu instru-mentalisieren. Sie vernebelt auch vorsätzlich wesentli-che Tatsachen. Der Standort ist bereits heute in öffent-lichem Besitz, auch wenn er von der US-Airforcebetrieben wird. Wer schreibt, der „Standort wird wohlin das Eigentum der Bundesrepublik zurückkehren“,der suggeriert, das Gelände wäre in den letzten Jahr-zehnten nicht in deutschem Besitz gewesen. Damitwollen die Verfasser des Flugblatts erkennbar von dereigenen Verantwortung für den Status quo ablenken.Jahrzehntelang war das, was der Öffentlichkeit ge-hört, nicht für diese zugänglich. Mehr noch, dieNutzung als Bombenabwurfplatz hat das öffentlicheWohl gefährdet, durch Lärm, durch Unfallgefahr,durch Umwelt- und Wasserverschmutzung.Und wofür das Ganze? Für die „Sicherheit unseresLandes“, wie die CSU glauben macht? Davon kannnicht die Rede sein: Auf Siegenburg Range wurde nichtdie Verteidigung Deutschlands geübt – gegen welchenFeind auch? Auf dem Übungsplatz wurden Angriffs-kriege vorbereitet wie etwa der Irakkrieg. Damitwurde die Sicherheit von Millionen von Menschen invielen Teilen der Welt gefährdet. Im Interesse der Be-völkerung in der Region um Siegenburg lagen dieseKriegsvorbereitungen definitiv nicht.Es wird höchste Zeit, dass der Platz wieder zivil ge-nutzt wird und dass diese zukünftige Nutzung endlichwirklich dem Wohl der Menschen dient. In Absprachemit den zuständigen Behörden und unter demokrati-scher Beteiligung der Betroffenen muss umgehend mitder Vorbereitung der zivilen Nutzung begonnenwerden.Ich unterstütze den Wunsch der BI nach einem Na-turpark in Siegenburg Range und nach dauerhaftemSchutz des Grundwassers im Dürnbucher Forst nachKräften. Doch dafür muss der Bund seiner Verantwor-tung gerecht werden und die nötigen Mittel für dieDekontaminierung des Platzes zur Verfügung stellen.Auf dem gesamten Platz finden sich die Hinterlassen-schaften aus dem militärischen Übungsbetrieb seit denZeiten des Nationalsozialismus. Dazu gehören nichtexplodierte Kampfstoffe, Munitionsreste und mögli-cherweise Uranmunition. Wenn diese Gefahrenquellennicht entfernt werden, dann tickt auf Siegenburg Rangeauch nach Abzug des Militärs eine gefährliche Zeit-bombe.Die Menschen rund um Siegenburg haben es ver-dient, ein Naherholungsgebiet zu haben, das sie auchunbeschwert nutzen können. Dass eine solche zivileNutzung auch ökonomische Vorteile mit sich bringt,das haben die Erfahrungen aus anderen ehemaligenÜbungsplätzen gezeigt. Ein interessantes Beispiel istder ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen, derheute des Kernstück des Biosphärenreservates Schwä-bische Alb bildet. Dessen zivile Nutzung hat aus derschrumpfenden Garnisonsstadt eine prosperierendeTourismusregion gemacht. Ich hoffe nur, dass man inSiegenburg aus den Fehlern lernt, die in Münsingenbeim nur sehr unvollständigen Dekontaminieren desPlatzes gemacht wurden. Dann gibt es wirklich guteZu Protokoll gegebene Reden
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28968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Inge Höger
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(B)
Aussichten für Siegenburg. Wenn es so weit ist, gebührtder Dank dafür auf jeden Fall voll und ganz der „Bür-gerinitiative gegen den Fluglärm“.
Am Samstag vor gut einer Woche hat die CSU in ei-nem Faltblatt an alle Haushalte im Ort Siegenburgund in einer gleichlautenden Presseerklärung über dieEntscheidung des Bundesverteidigungsministeriumsinformiert, dass der Luft-Boden-Schießplatz Siegen-burg geschlossen werden soll. Damit ist der Antrag,über den heute abgestimmt werden soll, gegenstands-los geworden. Wenn die Fraktion Die Linke den Antragdennoch heute zur Abstimmung stellt, dann offensicht-lich deshalb, weil sie in irgendeiner Weise für sich re-klamieren möchte, dass sie an der Schließung des Plat-zes beteiligt war. Das ist genauso fragwürdig wie dasVorgehen der CSU, die in der schon erwähnten Presse-veröffentlichung den Eindruck vermitteln möchte, siehätte Anteil daran, den Platz zu schließen.In Wahrheit will die CSU vergessen machen, dass esder CSU-Abgeordnete Dr. Götzer, Stimmkreisabgeord-neter des betroffenen Wahlkreises Landshut-Kelheim,war, der sich im Sommer 2011 vom Acker gemachthatte, als es darum ging, einen vorabgestimmten über-fraktionellen Gruppenantrag zur Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg zu unterschreiben –mit dem windigen Argument, der Antrag werde keineMehrheit bei Grünen und SPD erhalten. Fakt ist, dassnicht ein einziger Abgeordneter der CSU unterschrei-ben wollte und im Gefolge der CSU auch die FDP ihreUnterstützung wieder kassierte. Wichtige Forderungim Gruppenantrag war, die Folgen einer Schließungdes Platzes in Siegenburg für den einzig dann nochverbleibenden Luft-Boden-Schießplatz Nordhorn inNiedersachsen zu untersuchen, eine Forderung, die imAntrag der Linken gar nicht auftaucht.Es war also die CSU, die es versäumte, Druck aufdas Verteidigungsministerium zu machen, ein schlüssi-ges Konzept für alle Luft-Boden-Schießplätze vorzule-gen. Es waren dann mehrere Schreiben und öffentlicheAufforderungen von meiner Seite notwendig, bisStaatssekretär Schmidt erst Anfang dieses Jahres nachlangem und mehrmaligem Drängen sich auf den Ter-min Sommer 2013 für eine Entscheidung festlegte.Aber wir kennen das in Bayern nur zu gut: Die CSUreklamiert regelmäßig, dass sie den Chiemsee ausge-hoben und die Alpen aufgeschüttet hat, genauso wieHerr Dr. Götzer den erstaunten Lesern der örtlichenMedien nach dem Ausstiegsbeschluss der Bundesre-gierung aus der Atomkraft verkündete, er habe denAtommeiler Isar 1 bei Landshut abgeschaltet. Wie sa-gen wir dazu in Niederbayern: „Wir sind nun geradeauch nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen.“Auf Hochdeutsch gesprochen: „Für blöd lassen wiruns nicht verkaufen.“Zum Glück haben das die örtlichen Medien verstan-den. Die Mittelbayerische Zeitung titelte: „CSU stehtmitten im Bombenhagel“. Recht hat sie; denn es warendie Bürger, vor allem die Bürgerinitiative gegen denFluglärm e.V., die sich seit fast 35 Jahren gegen Flug-lärm und Gefährdung durch die niedrigfliegenden Mi-litärjets am Schießplatz wehrt, mit vielen, vielen Aktio-nen, die oft eben gerade nicht durch die CSUunterstützt wurden. Und deshalb empfanden die Bür-ger vor Ort zu Recht die Öffentlichkeitskampagne derCSU als ziemlich anmaßend. Aber jeder blamiert sichhalt, so gut er kann.Die Bürgerinitiative, angeführt von einem sehr akti-ven Vorstand und unterstützt vom Landrat in Kelheim,hatte gerade in den letzten Jahren immer wieder mitneuen Fakten aufgewartet — Fakten, die eine Schlie-ßung des Platzes nicht nur aus den Gründen der Belas-tung für die Bürger, sondern letztlich aus ökonomi-schen Gründen haben sinnvoll werden lassen. Machenwir uns nichts vor: Die Schließung des Platzes ist imWesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Größedes Platzes für moderne Waffen nicht geeignet ist. Mitden heute ausschließlich eingesetzten Lenkwaffenkann in Siegenburg nicht geübt werden, und mit unge-lenkten Waffen zu üben ist ein wenig wie auf der GorchFock eine Ausbildung für die moderne Seeschifffahrtzu machen. Und anders als bei der Gorch Fock sindvom Flugbetrieb eben die anliegenden Bürger erheb-lich betroffen – deshalb darf man die Fliegerei dort inSiegenburg aus nostalgischen Gründen nicht zulassen.Hinzu kommt noch der Abzug von Flugzeugstaffelnaus Süddeutschland, der die Nutzung des Platzes obso-let macht. Leider wurde die Bevölkerung sehr lange imUnklaren gelassen. Schon vor mehreren Jahren hättedie Schließung des Platzes avisiert werden können, nurdie CSU hatte kein Interesse daran. Viel Energie hättegespart bzw. auf andere Projekte verwendet werdenkönnen. Diese Arroganz der CSU und des Verteidi-gungsministeriums kann nicht scharf genug kritisiertwerden.Der Antrag der Linken aber ist Schnee von gestern.Und ihm fehlen die Themen, die jetzt angepackt wer-den müssen. Da die Linke auf Abstimmung besteht,wird sich meine Fraktion der Stimme enthalten. Dennstatt über die Vergangenheit zu debattieren, müssenwir an der Zukunft arbeiten.Wir haben zwei zentrale Forderungen. Erstens mussder Platz umgehend und zulasten des Bundes von even-tuellen Restkampfmitteln geräumt werden, und diesemüssen gegebenenfalls sicher entsorgt werden.Der Platz muss dann zweitens an die kommunalenGebietskörperschaften übergeben werden, die ihrer-seits aufgefordert sind, den Platz in ein Naturschutzge-biet zu überführen, um damit der Einmaligkeit derFlora und Fauna dieses Geländes Rechnung zu tragen.Das muss jetzt zügig angepackt werden. Ein Aussit-zen der Folgefragen ohne klare Entscheidungen wärenach 35 Jahren Bürgerinitiative gegen den Fluglärmwirklich fatal. Ich bin gespannt auf die Ausführungenvon Staatssekretär Schmidt zu diesen beiden PunktenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28969
Dr. Thomas Gambke
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beim vereinbarten Round Table im Landratsamt Kel-heim nächste Woche. Ich erwarte dann einen klarenAktions- und Zeitplan für die Überführung des Platzesin eine zivile Nutzung. Da werden die Bürger mit Si-cherheit weiter Druck machen, und wir Grünen wer-den sie dabei tatkräftig unterstützen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8388, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5757 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltungen von SPD und Grü-
nen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staa-
ten
– Drucksachen 17/10791, 17/11961 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sibylle Pfeiffer
Stefan Rebmann
Joachim Günther
Heike Hänsel
Ute Koczy
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Wir beraten heute den Antrag „Entwicklungspoliti-sche Zusammenarbeit fit machen für die Kooperationmit fragilen Staaten“ bzw. die Beschlussempfehlungdazu, deren Inhalt aufgrund ihrer Aktualität sehr wich-tig für die Entwicklungszusammenarbeit und imGrunde ja für unsere gesamte Außenpolitik sind. Den-noch finden sich darin einige Punkte, über die es nocheinmal zu diskutieren gilt.Zunächst zur Aktualität des Themas: Mit Mali hatsich in den vergangenen Monaten ein weiteres Land indie Liste der fragilen Staaten eingereiht, das viele vonuns dort so nicht erwartet hätten und das uns die Wich-tigkeit einer kohärenten Strategie im Umgang mit fra-gilen Staaten wieder einmal verdeutlicht hat.Mali war ein Musterland für Demokratie und wirt-schaftliches Wachstum in ganz Afrika, und jederkonnte sich von den wirtschaftlichen, sozialen undpolitischen Fortschritten des Landes überzeugen. Alswir 2011 mit dem Ausschuss dort Projekte besucht ha-ben, konnte ich mir persönlich einen Eindruck über diepositiven Entwicklungen in diesem Land verschaffen.Mittlerweile haben wir es in Mali mit einem zumin-dest teilweise zerfallenden Staat zu tun. Denn der un-terentwickelte Norden ist zu einem Rückzugsgebiet fürislamistische Terroristen geworden. Der Nährbodendafür waren ein Mangel an politischer Teilhabe füralle Gruppen der Gesellschaft und die große Armutder Menschen in den abgelegenen nördlichen Regio-nen. Sicherlich wird uns die Frage, wie es zu dieserSituation kommen konnte, noch eine Weile beschäfti-gen, und wir müssen daraus Konsequenzen ziehen fürdie zukünftige Entwicklungszusammenarbeit. Wir müs-sen künftig genauer hinschauen. Und wir solltenWarnzeichen, wie sie im Falle Malis beispielsweise be-reits 2009 vom African Peer Review Mechanism aufge-zeigt wurden, ernst nehmen und entsprechend schnellpräventiv und in Abstimmung mit unseren internatio-nalen Partnern reagieren.Gleichzeitig können wir aber an der aktuellen Lagein Mali erkennen, dass eine global einheitliche Defini-tion von fragilen Staaten schwer zu finden ist, und ichmöchte behaupten, dies wäre vielleicht auch zunächstnicht zielführend. Denn: Mali reiht sich nun ein in eineListe von Staaten, die unterschiedlicher nicht seinkönnten. Da sind die Demokratische Republik Kongo,Jemen und Somalia, Afghanistan, Südsudan und Bang-ladesch. 1,5 bis 2 Milliarden Menschen leben heuteweltweit in Staaten, die wir als fragil einstufen können.Sie alle eint, dass sie in einem Umfeld leben, in demMenschenrechte nicht geachtet werden, in dem ein de-mokratisches System nicht wachsen und sich nicht ent-falten kann. In einem solchen Land lässt sich das staat-liche Gewaltmonopol nicht durchsetzen. Es gibt keinfunktionierendes Finanz- und Wirtschaftssystem. Esherrscht bittere Armut, und für die soziale Grundver-sorgung der Bevölkerung ist nicht gesorgt.Dennoch ist kein fragiler Staat mit einem anderenvergleichbar. Nicht umsonst warnen derzeit Expertendavor, Afghanistan mit Mali gleichzusetzen. Eine ver-bindliche und einheitliche Definition, wie im vorlie-genden Antrag gefordert, wäre deshalb schwer zu fin-den, und vor allem birgt sie die Gefahr, dass der eineoder andere Staat, so wie Mali jetzt, zu lange „durch’sRaster“ fällt und eben nicht berücksichtigt wird, wennes vielleicht darum geht, auch schon frühzeitig präven-tive Maßnahmen einzuleiten.Vielmehr sollten wir in Zukunft – basierend auf denRessortübergreifenden Leitlinien für eine kohärentePolitik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staa-ten vom September 2012 – einen konkreten Maßnah-menkatalog zusammenstellen und die beinhaltetenStrategien so ausarbeiten, dass sie vor allem schnellumsetzbar und sehr langfristig angelegt sind. FragileStaaten wie Afghanistan, Haiti oder der Südsudan be-nötigen die Unterstützung der internationalen Ge-meinschaft langfristig. Das können wir nicht alleine
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28970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dagmar G. Wöhrl
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schaffen. Hier benötigen wir einen multilateralen An-satz.Es ist ganz klar: Für einen international abge-stimmten und vernetzten Ansatz bei unserer Arbeit infragilen Staaten benötigen wir vor allem eine gut funk-tionierende Kommunikation und Abstimmung mitunseren Partnerländern. Hierfür sind die in den Leit-linien vorgesehenen Arbeitsstäbe die richtige Grund-lage, um auch international agieren zu können. Damithaben wir für das deutsche Engagement in fragilenStaaten vor allem eine realistische und pragmatischeBasis geschaffen. Wie die Verfasser des Antrags zurEinschätzung kommen, dass diese Leitlinien – welchevor genau sechs Monaten vorgestellt wurden – keineWirkung entfalten würden, sei dahingestellt.Außerdem haben wir mit dem Ressortkreis „ZivileKrisenprävention“ und mit dem Beirat für ZivileKrisenprävention bereits sehr gute Instrumente undVerfahren zur Koordinierung unserer Maßnahmen infragilen Staaten entwickelt.Das Elend fragiler Staaten betrifft uns alle; dennaufgrund der immer stärkeren Interdependenzen aufglobaler Ebene sind wir mittlerweile ganz direkt vonder Armut und von der gesellschaftlichen Ungleichheitin Ländern wie Burundi, Südsudan oder Bangladeschbetroffen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Burundisind etwa 73 Prozent der Bevölkerung unterernährt;beinahe 15 Prozent aller Kinder sterben vor ihremfünften Lebensjahr. In Afghanistan liegt die Lebenser-wartung bei knapp 49 Jahren im Durchschnitt. DieseLänder sind eine Brutstätte für Extremismus und Ge-walt. Die Menschen dort können nicht in Sicherheit le-ben, und nur wenn wir durch angepasste Maßnahmenfür eine nachhaltige Entwicklung sorgen, können wirPolitik, Wirtschaft und vor allem auch die Gesellschaftauf eine solide Basis stellen, sodass auch dort „Hilfezur Selbsthilfe“ umgesetzt werden kann. Sicherheit,Bildung, Gesundheit und schließlich auch wirtschaftli-che Stabilität sind die besten Maßnahmen gegen Terro-rismus und Gewalt. Bis dorthin kann es ein langer Wegsein. Aber genau dies ist unsere Verantwortung – auchin unserem eigenen Interesse.Dies bringt mich zu einem weiteren Kritikpunkt amvorliegenden Antrag. Würden wir militärisches Ein-greifen in zerfallenden und fragilen Staaten von vorn-herein ausschließen, könnten wir in vielen Fällen denWeg zum Aufbau eines soliden Staates gar nicht schaf-fen. Verstehen Sie mich nicht falsch – gewaltsameKonflikte können ein Land in wenigen Monaten umJahrzehnte zurückwerfen, und deshalb sollte der Ein-satz von Waffen das äußerste Mittel sein. Die Zusam-menarbeit mit der Zivilgesellschaft muss oberste Prio-rität haben; denn dies ist die wirklich solide Basis fürnachhaltige Entwicklung und Frieden. Wer aberglaubt, wir könnten lediglich so fragile Staaten vordem Zerfall bewahren, sieht die aktuelle Realität nicht.Ich erinnere da nur beispielsweise an Südsudan, wodie Waffengewalt nach wie vor das Land an Fortschrit-ten bei der Entwicklung hindert.All dies schaffen wir aber nicht alleine. Wir sindhier ganz besonders auf die Zusammenarbeit mit unse-ren multilateralen Partnern angewiesen. Ein sehr gu-ter Rahmen ist hier beispielsweise durch den „NewDeal for Engagement in Fragile States“ im Dezember2011 in Busan geschaffen worden. Auch die „Peace-building and Statebuilding Goals“ der OECD aus demgleichen Jahr sehen Legitimität, Sicherheit, Gerechtig-keit bzw. Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Stabilitätsowie staatliche Dienstleistungen, die durch Einnah-men des Staates finanziert werden können, als dieGrundlage von Fortschritt in diesen Ländern.Um auf die Herausforderung von fragiler Staatlich-keit angemessen zu reagieren, müssen wir global ver-netzt agieren. Wir müssen effektiv und effizient arbei-ten. Hier hat Deutschland in den vergangenen Jahrenund vor allem in den letzten Monaten noch einmal ver-stärkt Maßstäbe gesetzt. Wir haben hervorragendeStrategien erarbeitet, die es nun weiterhin umzusetzenund vor allem immer wieder anzupassen gilt. Werglaubt, wir hätten hiermit ein allgemeingültiges Rezeptgefunden, der irrt sich. Kein fragiler Staat lässt sichmit einem anderen vergleichen. Dennoch können wiraus den bereits gemachten Erfahrungen lernen und soangemessen reagieren und agieren – so wie wir diesbereits heute in Ländern wie Afghanistan, Jemen,Somalia, Südsudan und Burundi tun.
Meist beschäftigen wir uns mit fragilen Staaten wieMali, Afghanistan oder Somalia immer dann, wenn dieHandlungsunfähigkeit staatlicher Institutionen zu ei-nem internationalen Sicherheitsproblem angewachsenist. Immer dann, wenn gewaltsame Konflikte drohenoder bereits eskalieren, werden politische und militä-rische Handlungsmöglichkeiten abgewogen, vorrangigmit dem Ziel, regionale und internationale Sicherheits-bedrohungen abzuwenden, so zuletzt im Fall Mali.Fragile Staaten werden deswegen oftmals leider völligverkürzt lediglich als Sicherheitsproblem wahrgenom-men.Fragile Staaten sind aber nicht nur ein sicherheits-politisches Thema. Sie sind vor allem eine zentrale ent-wicklungspolitische Herausforderung. Ein Blick aufdie Faktenlage macht dies mehr als deutlich: Nicht ei-nes der Länder aus der Gruppe fragiler oder von Kon-flikten betroffener Staaten hat bisher auch nur einesder Milleniumsentwicklungsziele erreicht. Nicht eines!Und es steht nicht zu erwarten, dass sich dies bis zumJahr 2015 ändern wird. Auf diese Gruppe entfallen dieHälfte der Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Ge-burtstag sterben, ein Drittel aller Sterbefälle von Müt-tern und ein Drittel aller Menschen, die mit wenigerals einem Dollar am Tag überleben müssen.Immer wiederkehrende Gewaltkonflikte haben inden betroffenen Gesellschaften darüber hinaus tiefeGräben und Traumata hinterlassen. Die 1,5 MilliardenMenschen in diesen Ländern und damit rund 20 Pro-zent der Weltbevölkerung drohen von der internationa-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28971
Stefan Rebmann
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len Entwicklung gänzlich abgehängt zu werden. Wirbrauchen endlich wirksame und nachhaltige Strate-gien und Konzepte, um dieser katastrophalen Fehlent-wicklung erfolgreich zu begegnen.Bisherige Ansätze in der Entwicklungszusammenar-beit haben sich im Kontext fragiler Staatlichkeit meistals wenig wirksam und nachhaltig erwiesen. Zu umfas-send sind die Herausforderungen in einer Situation, inder die Voraussetzungen für Entwicklung eigentlicherst noch geschaffen werden müssen. Viele Geber ha-ben sich von diesen Schwierigkeiten abschrecken las-sen. Die Schwankungen der Mittelzuflüsse sind bei derEntwicklungsförderung fragiler Staaten deswegen be-sonders ausgeprägt, und sie stellen ein zusätzlichesProblem dar. Die OECD warnt davor, dass gerade un-ter den Vorzeichen finanzieller Krisen und knapper öf-fentlicher Kassen, wenn auch die Haushaltsmittel fürEntwicklungszusammenarbeit und ihre Verwendungunter zusätzlichem Erklärungsdruck stehen, die Unter-stützung für fragile Staaten ins Hintertreffen geratenkönnte.Allzu oft fokussieren Geberregierungen in solchenZeiten auf Projekte und Programme, die nationalen In-teressen dienen und schnelle, sichtbare Erfolge brin-gen, die sich gut rechtfertigen und vermitteln lassen.Doch nachhaltiges Engagement in fragilen Staatenfunktioniert anders. Hier geht es vor allem um lang-fristige Perspektiven, die Rückschläge in Kauf und Er-folge auf lange Sicht in den Blick nehmen. Das istkurzfristig nicht immer leicht darzustellen und zu ver-mitteln, aber umso notwendiger.Die Entwicklungsförderung in fragilen Staaten be-darf unserer langfristigen, zuverlässigen Unterstützung,damit nachhaltige Entwicklung eine Chance bekommt.In Afghanistan haben wir diese Notwendigkeit deutlichvor Augen. Doch während Afghanistan zumindest imMoment noch aufgrund westlicher Sicherheitsinteres-sen im Fokus internationaler Aufmerksamkeit steht,erfahren andere Länder mit fragiler Staatlichkeit weitweniger Unterstützung. Wir müssen unser Engagementin Afghanistan verlässlich weiterführen, dürfen aberauch die anderen nicht aus dem Blick verlieren.Wir müssen deswegen der Entwicklungszusammen-arbeit mit fragilen Staaten materiell wie konzeptionellbesondere Aufmerksamkeit schenken. Dazu gehörenpolitischer Mut und Durchhaltevermögen; dazu gehörtaber auch eine Aufstockung der ODA-Mittel mit be-sonderem Blick auf fragile Staaten. Die von der Bun-desregierung präsentierten Eckwerte für den Haushalt2014 weisen da leider genau in die falsche Richtung.Die besonderen Herausforderungen bei der nach-haltigen Friedens- und Entwicklungsförderung fragilerStaaten machen deutlich, dass hier auch eine bessereKoordination und Kooperation sowohl im nationalenals auch im internationalen Rahmen unabdingbar ist.Der vorliegende Antrag fordert zu Recht eine kohä-rente ressortübergreifende Strategie im Umgang mitfragilen Staaten, die kohärent vor allem im Interessevon Entwicklung und Menschenrechten wirkt. Diesedarf sich nicht nur auf Außen-, Entwicklungs- und Si-cherheitspolitik beschränken, sondern muss beispiels-weise auch die Wirtschaftspolitik verpflichten, zumBeispiel durch eine restriktive Rüstungsexportpolitik.Die 2012 von Auswärtigem Amt, dem Bundesminis-terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung und dem Verteidigungsministerium vorgeleg-ten Leitlinien für eine kohärente Politik gegenüberfragilen Staaten greifen in dieser Hinsicht jedoch nachwie vor zu kurz. Entwicklungspolitisches Engagementin fragilen Staaten kann nur im multilateralen Rahmenund ausgerichtet an lokalen Prioritäten erfolgreichsein. Es ist deswegen von besonderer Bedeutung, dassdie Entwicklung von Strategien und gemeinsamen In-strumenten auch multilateral, beispielsweise im Rah-men der Vereinten Nationen und auch der EuropäischenUnion, vorangetrieben wird.Wir unterstützen deswegen den vorliegenden Antragzur entwicklungspolitischen Kooperation mit fragilenStaaten, der wichtige Ansatzpunkte benennt und dieBundesregierung auffordert, sich dieser zentralen He-rausforderung endlich umfassend und konsequent zustellen.
In der Tat handelt es sich beim Thema „FragileStaaten“ um einen äußerst komplexen, schwierigenDiskussionsgegenstand; denn jedes einzelne Land, je-der einzelne Staat hat seine ganz spezifischen Aus-gangspunkte und Hintergründe. Fragilität stellt sich injedem Entwicklungsland anders dar. Wann bezeichnetman einen Staat eigentlich als fragil? Der „Duden“hilft uns mit dem Begriff „zerbrechlich“, aber hilft unsdas weiter?Die Antragsteller betonen ganz richtig die Einzig-artigkeit eines fragilen Staates, aber fordern anderer-seits in ihrem Antrag eine einheitliche Definition vonfragilen Staaten. Dies widerspricht sich per se.Nun möchte ich hierzu erst einmal feststellen, dasses doch in der Hauptsache nicht um eine theoretischeDefinitionsbeschreibung, an der man alles festmacht,gehen sollte. Wirklich wichtig ist doch der Umgang mitjenen Staaten, die Destabilisierungspotenziale in sichbergen. Denn bei fragilen Staaten handelt es sich si-cherlich unumstritten um schwache staatliche Gebilde,die eine Herausforderung für die globale Sicherheitdarstellen. Dazu gehören grenzüberschreitende Pro-blemfelder wie Menschen-, Waffen- und Drogenhandeloder auch Rückzugsräume terroristischer Netzwerke.Die internationale Staatengemeinschaft steht zuneh-mend vor der riesigen Aufgabe, einen Referenzrahmenfür den Umgang und die Zusammenarbeit mit solchenfragilen Staaten zu finden.Der Kernforderung des Antrags von Bündnis 90/DieGrünen, die deutsche Entwicklungszusammenarbeitmit fragilen Staaten müsse erst einmal in den Fokusder Bundesregierung gerückt werden, widersprecheZu Protokoll gegebene Reden
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28972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Joachim Günther
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ich vehement. Dies ist bereits durch verschiedene In-strumente erfolgt, wie die Leitlinien der Bundesregie-rung für eine kohärente Politik gegenüber fragilenStaaten, den Ressortkreis „Zivile Krisenprävention“,den Beirat für Zivile Krisenprävention sowie länder-spezifische Koordinierungsprogramme. Das Thema istlängst in den Fokus des Regierungshandelns gerückt,und auch entgegen dem im Antrag formuliertenVorwurf mangelnder Koordinierung wurden auf natio-naler Ebene sehr wohl die bereits vorgenannten Ver-fahren entwickelt.In ihrem grundsätzlich multilateral ausgerichtetenEngagement sieht die Bundesregierung als prioritäresZiel eine wirksame Krisenprävention, die in Koopera-tion mit europäischen und internationalen Partnernbetrieben werden muss. Dabei agiert die Politik in demHandlungsrahmen, wie er durch die internationaleEinbindung Deutschlands vorgezeichnet ist.Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure isteine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreicheTransformation in fragilen Staaten; Sicherheit für dieBevölkerung in fragilen Staaten hat jedoch für dieBundesregierung oberste Priorität, weshalb militäri-sche Einsätze nicht völlig ausgeschlossen werden kön-nen und oftmals notwendig sind, um den Weg für zivileAkteure zu bereiten.Es hat sich gezeigt, dass bei internationalen Enga-gements mit militärischen und bzw. oder polizeilichenKomponenten ein quantitativ angemessenes und aus-reichend robustes Profil gerade zu Beginn des Einsat-zes als Erfolgsfaktor gelten kann. Zentrale Bedeutunghat die Herausbildung einer rechtlich abgesichertenund institutionalisierten Staatlichkeit, die die Rechtevon Frauen, Kindern und Minderheiten ausreichendberücksichtigt. Dabei ist der Einfluss externer Akteurebeschränkt, und es verbleibt ein Rest an Eigenverant-wortung bei der Bevölkerung fragiler Staaten. Dasdeutsche Engagement verfolgt einen realistischen undpragmatischen Ansatz, bei dem Rückschläge einkalku-liert werden und die Grenzen, die die Realität aufweist,gesehen und ausreichend gewürdigt werden.Anstatt diese Leitlinien zu begrüßen, konzentrierensich die Antragsteller auf pauschale Kritik, die teil-weise sogar widersprüchlich ist. So wird einerseits dieBewahrung von Menschenrechten gefordert, an ande-rer Stelle aber die Kürzung von Budgethilfen beischlechter Regierungsführung kritisiert. Auch wird derFortschrittsbericht zu Afghanistan als unzureichendkritisiert und eine unabhängige Evaluierung von Ent-wicklungsmaßnahmen gefordert – diese Forderung istjedoch durch Bundesminister Niebel mit Gründung desunabhängigen EZ-Evaluierungsinstituts längst erfülltworden.Um die Bundesregierung zu kritisieren, wird weiter-hin auf einen DAC-Prüfbericht von 2010 verwiesen– die deutsche EZ sei unzureichend auf die ärmstenLänder ausgerichtet: ebenfalls unter Niebel korrigiert –und bewusst ignoriert, dass diese Kritik nur dem BMZunter Bundesministerin Wieczorek-Zeul gegolten ha-ben kann. Folglich ist der Antrag abzulehnen.Ich freue mich jedoch, dass wir jetzt fraktionsüber-greifend eine gemeinsame öffentliche Anhörung mitdem Unterausschuss „Zivile Krisenprävention undvernetzte Sicherheit“ zum Thema „Entwicklungsarbeitmit fragilen Staaten“ am 12. Juni 2013 beschlossenhaben.Wir haben vielfach Einvernehmen in Hinsicht auffragile Staaten: Die Entwicklungspolitik allein kanndie Lage der Länder mit Rechtsunsicherheit, Kriegs-und Bürgerkriegssituationen, Flüchtlingen, Hunger,Armut und Not nicht verbessern. Entwicklungszusam-menarbeit würde so wenig hilfreich sein.Ein Zusammenwirken von Außen-, Sicherheits- undEntwicklungspolitik ist unbedingt notwendig. Somitfordere ich Sie auf: Suchen wir gemeinsam nach be-währten Konzepten und Instrumenten zur Problem-lösung.
Die Grünen machen sich mit diesem Antrag dassehr fragwürdige Konzept „fragiler Staatlichkeit“ zueigen, das Länder im neokolonialen Sinne in „goodperformers“ und „bad performers“ einteilt. Die An-tragsteller wollen sich vom Ansatz der „vernetzten Si-cherheit“ distanzieren, dabei spielen gerade bei derIntegration von Sicherheits- und Entwicklungspolitikdie sogenannten fragilen und gescheiterten Staateneine entscheidende Rolle, die zu Beginn des Jahrtau-sends in den westlichen Strategiepapieren zur zentralenBedrohung und Legitimation zur Aufrechterhaltungvon interventionsfähigen Militärstrukturen erklärtwurden. Dies spiegelt sich auf der ersten Seite der Na-tional-Security-Strategie der USA wider, in der dieweltweite Bedrohung für Frieden und Freiheit nichtvon Staaten ausgeht, die erobern, sondern von denen,die zerfallen. Sicherheitspolitische Erwägungen domi-nieren auch die nun von den Planungsstäben des Aus-wärtigen Amtes, des „Bundesverteidigungsministe-riums“ und des BMZ gemeinsam erarbeiteten Leitlinien„Für eine kohärente Politik der Bundesregierung ge-genüber fragilen Staaten“. Gleich einleitend heißt es:„Heute sind vor allem schwache staatliche Gebildeeine große Herausforderung für die globale Sicherheit.Sie bilden grenzüberschreitende Destabilisierungs-potentiale, dienen als Umschlagsplätze für Waffen-,Drogen-, und Menschenhandel, als Rückzugsräumefür terroristische Netzwerke und sie bedrohen den le-galen Handelsverkehr. Inaktivität birgt meist große Ri-siken auch für unsere eigene Sicherheit.“ Von der Si-cherheit der Menschen, die in diesen Staaten leben, istan dieser Stelle keine Rede. Die Grünen betonen den„Primat des Zivilen“, wollen aber gleichzeitig – ich zi-tiere aus dem Antrag – „Ressourcen der Diplomatie,der Entwicklungszusammenarbeit, der zivilen Frie-denskräfte, der Polizei, und des Militärs auf nationa-ler, internationaler und lokaler Ebene, ressort- und in-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28973
Heike Hänsel
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stitutionenübergreifend abstimmen“. Dies ist nichtsanderes als ein zivil-militärischer Ansatz.In dem Antrag vermissen wir eine gründliche Ana-lyse der Ursachen. Staaten zerfallen nicht einfach,sondern werden von außen destabilisiert, militärisch,politisch und wirtschaftlich. Vielfach sind es ja diestrategischen und wirtschaftlichen Interessen des Nor-dens, die die Existenzgrundlagen der Menschen undÖkosysteme in den betroffenen Regionen bedrohen.Dazu kommen Waffenlieferungen und militärische Ko-operationen, oft auch mit den Nachbarstaaten, die eineRegion zusätzlich destabilisieren. Beispiele dafür gibtes genug, von Irak, Afghanistan, Haiti, Libyen bisMali. Mali gilt als eines der ärmsten Länder der Erdeund als „gescheiterter Staat“. Mali war lange durcheinen Klienten Frankreichs geführt worden, AmadouToumani Touré, kurz ATT. Sein Regime hatte jedochabgewirtschaftet, und laut Verfassung durfte er Anfang2012 auch nicht mehr zu den Wahlen antreten. Infolgedes Libyen-Krieges gab es einen Tuareg-Aufstand imNorden und einen Putsch im Süden. Obwohl die Put-schisten nicht gerade profranzösisch waren, konntedas Frankreich gerade recht sein: Die Destabilisie-rung und zuletzt die Intervention konnten sie nutzen,um die Souveränität auszuhebeln und zu intervenieren.Die politische Zukunft Malis ist dadurch fest in franzö-sischer Hand. Nun soll der „fragile Staat“ militärischeHilfe und Ausbildung erhalten, die das Land und dieRegion weiter militarisieren werden. Für die Linkemuss Entwicklungspolitik Teil einer aktiven Friedens-politik sein, die konsequent Friedenskräfte vor Ortstärkt, imperiale Interventionen, Waffenlieferungenund militärische Kooperationen ablehnt und erst rechtjeden Ansatz der „vernetzten Sicherheit“. Deshalblehnen wir den Antrag der Grünen ab.
Die globalen Krisen von Klima, Hunger, Armut so-wie des Wirtschafts- und Finanzsystems spitzen sichzu – auf Kosten der globalen Gerechtigkeit. Auch erle-ben wir, wie die Armut sich global umgruppiert. Wäh-rend viele Länder bemerkenswerte Fortschritte etwabei der Einschulung, dem Zugang zu sauberem Wasseroder der Steigerung der Lebenserwartung machen, an-dere reiche Eliten ausbilden bei zugleich großer Ar-mut, setzt sich gleichzeitig in den fragilen Staaten einehartnäckige Armut fest. Dort leben die extrem Ver-nachlässigten in einer Spirale von Gewalt und Not. Indiesen Fällen steht die Weltgemeinschaft vor besonde-ren Herausforderungen. Aus diesem Grund halten wires für wichtig, über die Konzepte von fragiler Staat-lichkeit zu diskutieren, und freuen uns über Zustim-mung.Laut Weltentwicklungsbericht der Weltbank von2011 hat bislang keines der als fragil oder von Konflik-ten betroffenen Länder auch nur eines der Millen-niumsentwicklungsziele erreicht. Dort steht die Zeitstill – viel zu oft wird die Uhr sogar zurückgedreht,statt dass es für die Menschen ein Vorwärts gibt.Ich sage, auch hier muss sich die Entwicklungspoli-tik umorientieren. Und: In fragilen Staaten müssen dieVoraussetzungen für Entwicklung erst noch geschaffenwerden. Da können wir nicht mit dem klassischen In-strumentenkasten auflaufen und „business as usual“machen. Wer hier etwas zur Veränderung beitragenwill, braucht Mut zum Risiko, denn die Erfolge wird esnicht unmittelbar geben. Gleichzeitig braucht es vielVorsicht und kleinteilige Schritte.Und es braucht einen langen Atem. Die Weltbankhat darauf hingewiesen, dass es in fragilen Staaten imDurchschnitt zwischen drei und fünf Jahrzehnten dau-ern kann, bevor staatliche Institutionen funktionieren.Ich denke, diese Mischung aus Geduld und Langfris-tigkeit, Sensibilität und Flexibilität sowie einem frühenund international abgestimmten Vorgehen des Engage-ments sind große Herausforderungen.Ich möchte es konkret machen. Afghanistan, Soma-lia, der Kongo, das sind die bekanntesten Beispielefragiler Staatlichkeit. Aber auch Mali wird uns unterdieser Überschrift für lange Jahre begleiten. Hier sinddie Anzeichen der Fragilität nicht als Warnzeichen ge-sehen worden. Das Einsickern von Milizen vor allemaus Libyen war nur der Auslöser, die Ursachen lagenviel tiefer. Die Eskalation in Mali ist eine Folge derlangjährigen Abwesenheit von Staatlichkeit im Nor-den, islamistischen Terroristen und organisierter Kri-minalität seit insbesondere 2003, verbunden mit altenseparatistischen Strömungen der Tuareg. Die dauer-hafte Armut, Dürren und Perspektivlosigkeit tragenzur Verschärfung der Situation bei. Gleichzeitig ist dieLage in Mali auch im Kontext der Fragilität der ge-samten Region zu sehen: transnational organisiertekriminelle und terroristische Netzwerke, insbesondereillegaler Drogen- und Waffenhandel sowie Entführun-gen. Deren Wege führen auch nach Europa, insofernhaben die Konflikte in Mali sehr viel mit der europäi-schen Politik zu tun.Die Lage in Mali ist hochkomplex. Mali hatte vorder Eskalation eine deutlich bessere strukturelle Aus-gangslage für Entwicklung als viele andere afrikani-sche Staaten. So lag es etwa im „Failed States Index“des „Fund for Peace“ vor Indien und hatte bessereKorruptionswerte als Russland. Gleichzeitig hat Malidie zweithöchste Kindersterblichkeit weltweit; 50 Pro-zent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Daszeigt uns: Mali braucht Unterstützung. Die Vorausset-zungen für eine positive Entwicklung waren da; dasLand ist jetzt aber weit zurückgeworfen. Wir solltenuns aber dennoch fragen, ob diese tragische Situationnicht durch eine kohärente und vorausschauende Poli-tik vielleicht hätte verhindert werden können.Denn die Voraussetzung für Entwicklung schaffen,das leistet Entwicklungspolitik nicht alleine. Sie mussHand in Hand gehen mit der Außen-, der Sicherheits-,der Drogen-, der Innen-, der Wirtschaftspolitik. Dasgeht nicht national oder bilateral: Es braucht ein ge-schlossenes Handeln der internationalen Gemein-schaft.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
28974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Ute Koczy
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In der Analyse der Situation in fragilen Staaten be-steht große Einigkeit. Ich möchte es in diesem Zusam-menhang sehr begrüßen, dass wir im Juni eine gemein-same Anhörung des Ausschusses für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung mit dem Unteraus-schuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicher-heit“ organisieren. Das belegt die Bedeutung des The-mas, auch bei uns im Parlament, und es kann einBeispiel sein, wie wir im Parlament nicht nur Kohä-renz predigen, sondern sie auch leben.Hier versagt die Bundesregierung leider. Zwar ver-sucht sie, ihre Hausaufgaben zu machen. Im Januarlegte das BMZ sein Strategiepapier „Entwicklung fürFrieden und Sicherheit“ vor, ein Papier, das fachlichauf dem aktuellen Stand ist. Ich frage mich allerdings,welche Relevanz dieses Papier hat. Es ist bislang dasPapier nur eines Ministeriums, eben des BMZ. Für denressortübergreifenden Ansatz wird sich auf die Leitli-nien der Bundesregierung gegenüber fragilen Staatenvom vergangenen September bezogen.Doch wo bleibt denn die Strategie der Bundesregie-rung im Umgang mit Ressourcenknappheit, kriminel-len Netzwerken, Terrorismus, Armut? Die Kriegsfürs-ten in fragilen Staaten leben von Drogen- undWaffenhandel, von Rohstoffexporten und Korruptionsowie von internationalen Steueroasen. Doch die Bun-desregierung ist nicht willens, die nötigen Maßnahmenin ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik zu ergreifen,um dieser Schattenwirtschaft konsequent einen Riegelvorzuschieben. Dem Anspruch eines ressortübergrei-fenden kohärenten Ansatzes wird die Bundesregierungnicht gerecht, wenn sie weiterhin munter Panzer undU-Boote in die Konfliktregionen dieser Welt exportiert.Unterm Strich bleibt für mich: Die Bundesregierungtut zwar etwas, aber sie hängt es nicht auf der richti-gen Ebene auf. Die dringend benötigte Kohärenz inBezug auf den Umgang mit fragilen Staaten sieht an-ders aus!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11961,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/10791 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Ulrich Schneider, Katrin
Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweckgebundene und steuerfreie Übungslei-
terpauschalen und Aufwandsentschädigungen
für bürgerschaftliches Engagement nicht auf
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
– Drucksachen 17/9950, 17/11253 Buchstabe c –
Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, fordern Sie, dassAufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches En-gagement und ehrenamtlich tätige kommunale Man-datsträger sowie Übungsleiterpauschalen nicht aufdas Arbeitslosengeld II oder die Sozialhilfe angerech-net werden. Gleichzeitig kritisieren Sie, dass die ge-setzliche Neuregelung eine Verschlechterung für jeneKonstellationen bedeute, bei denen gleichzeitig sowohlEinkommen aus Übungsleitertätigkeiten oder ander-weitigem bürgerschaftlichem Engagement als auchweiteres Erwerbseinkommen erzielt wird.Ich denke, wir sind uns alle bezüglich der gesell-schaftlichen Bedeutung des Ehrenamtes einig. InDeutschland engagieren sich mehr als 23 MillionenBürgerinnen und Bürger ehrenamtlich und bereicherndurch ihre Arbeit das soziale Miteinander und stärkenden Zusammenhalt in unserem Land. Bürgersinn undpersönliches Engagement sind Grundpfeiler für dieGemeinschaft eines freiheitlichen Staates und einersolidarischen Gesellschaft.Daher tragen wir diesem gesellschaftlichen Enga-gement auch im Rahmen der Grundsicherung für Ar-beitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetz-buch Rechnung. Nach den seit dem 1. Januar 2011geltenden Anrechnungsregeln im SGB II werden Ein-nahmen aus Ehrenamt ausdrücklich gegenüber Ein-nahmen aus Erwerbstätigkeit privilegiert.So gilt beispielsweise für pauschale Aufwandsent-schädigungen ein erhöhter Absetzbetrag in Höhe von175 Euro, welcher an die im Steuerrecht geltendenRegelungen angelehnt ist. Bei darüber hinausgehen-den Entschädigungsleistungen – zum Beispiel bei eh-renamtlichen Bürgermeistern – liegt eine Erwerbstä-tigkeit vor. Dennoch gilt auch in diesen Fällen einerhöhter Grundfreibetrag in Höhe von 175 Euro zu-sätzlich zu dem Erwerbstätigenfreibetrag, mit demweitere 20 Prozent der Einnahmen zwischen 100 und1 000 Euro abgesetzt werden können.Des Weiteren unterliegen Zuwendungen, mit denentatsächliche Aufwendungen ersetzt werden sollen, derAnrechnungsfreiheit.Hintergrund dieser Regelung ist, dass auch Tätig-keiten als Übungsleiter nach § 3 Nr. 26 EStG als Er-werbstätigkeiten angesehen werden, die jedoch auf-grund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung – wie bereits
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28975
Paul Lehrieder
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ausgeführt – durch einen erhöhten Grundfreibetragprivilegiert werden.Eine zusätzliche Besserstellung durch einen doppel-ten Freibetrag bei einem zusätzlichen Minijob er-scheint mir daher nicht angebracht, zumal in dieserKonstellation die tatsächlichen Werbungskosten, diefür den Minijob anfallen, abgezogen werden.Gleiches gilt für das bürgerschaftliche Engagement,bei dem eine pauschale Aufwandsentschädigung ausöffentlichen Kassen gezahlt wird. Auch diese ist nach§ 3 Nr. 12 EStG bis zur Höhe von 175 Euro steuerfrei.Sollte der tatsächliche Aufwand höher sein, kommtauch hier eine Geltendmachung über die Werbungs-kosten in Betracht.Eine diesbezügliche zusätzliche und weitergehendePrivilegierung im Bereich der Grundsicherung fürArbeitsuchende nach dem SGB II wäre anderen er-werbstätigen Leistungsbeziehern nur schwer vermit-telbar und zugleich auch nicht gerechtfertigt.Vor diesem Hintergrund ist an der geltendenRechtslage im Bereich der Grundsicherung für Arbeit-suchende nach dem SGB II, wonach es keine Kumula-tion von Ehrenamtsfreibetrag und sonstigem Erwerbs-tätigenfreibetrag gibt, festzuhalten.Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle auch nichtunerwähnt lassen, dass bereits zum 1. Januar 2011eine Ergänzung der Einkommensfreilassung im Be-reich des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch stattge-funden hat, die der Bedeutung des ehrenamtlichen En-gagements ebenfalls Rechnung trägt.Die geltenden gesetzlichen Regelungen würdigenund stärken das Ehrenamt in angemessener Weise undsorgen dafür, dass es keine finanzielle Schlechterstel-lung bei einem ehrenamtlichen Engagement gibt. Zu-dem sorgt die Einkommensanrechnungsgrenze auchfür die zahlreichen Verbände, Vereine und gemein-nützigen Organisationen für eine Entlastung, da derenbürokratischer Aufwand reduziert wird.Das verantwortungsvolle Engagement von Hartz-IV-Beziehern, die sich in Vereinen etc. einbringen, wirdentsprechend honoriert und ermöglicht nicht nur dieAufrechterhaltung der sozialen Kontakte, sondern er-höht auch die Chancen bei einem beruflichen Wieder-einstieg.
Betrachtet man die Berichterstattungen in den Me-dien, wird den Parteien immer wieder die mangelndeUnterscheidbarkeit vorgeworfen. Die vorliegendenAnträge widerlegen diese Darstellung allerdings vor-trefflich, denn sie zeigen, welche grundlegenden Unter-schiede in unseren Auffassungen bestehen. So gehört eszum Selbstverständnis der Union, dass Solidarität undEigenverantwortung zwei Seiten ein und derselben Me-daille sind. Auf Themen bezogen, die den Bereich dersozialen Fürsorge berühren, heißt das: Jeder muss da-rum bemüht sein und alle Möglichkeiten nutzen, seinenLebensunterhalt selbst zu finanzieren. Erst wenn er esaus eigenen Kräften nicht schafft und allein nicht mehrweiterkommt, springt der Staat respektive die Solidar-gemeinschaft unterstützend und hilfegebend ein. DieseUnterstützung und Hilfestellung sind aber aus unsererSicht gleichzeitig mit der Verpflichtung für den Hilfe-empfänger verbunden, sich nicht in den Schoß der Ge-meinschaft zurückfallen zu lassen, sondern alle Kräftedarauf auszurichten, in eine Erwerbstätigkeit zu kom-men und den Lebensunterhalt selbst bestreiten zu kön-nen.Bevor ich konkret auf Ihre Forderung eingehe, er-lauben Sie mir ein paar Anmerkungen zum Thema Eh-renamt. Ich selber komme aus einem ländlichen Wahl-kreis, in dem das Ehrenamt großgeschrieben wird. Dasreicht von den Tätigkeiten im Sportbereich, wie dasTrainieren einer Jugendmannschaft im Fußball, überSchützenvereine bis hin zu Vereinen, die sich dem Er-halt von Kunst und Kultur verschrieben haben. Einswird mir immer wieder deutlich, wenn ich mit denMenschen, die hier aktiv sind, spreche: Sie gehen ihrenAufgaben mit großer Begeisterung nach, ja sie gehenregelrecht darin auf. Und es gibt noch etwas anderes,was sie eint: die innere Überzeugung, einer guten Sa-che zu dienen. Was ich sagen will: Die Motivation die-ser Menschen besteht nicht darin, mit ihrer ehrenamt-lichen Tätigkeit möglichst viel Geld zu verdienen.Diesen Menschen geht es um die Sache an sich und umeinen ganz persönlichen Gewinn, der mit Geld nichtszu tun hat.Gerade dieser Gewinn über das Materielle hinausist es, was Menschen, die sich im SGB-II-Leistungsbe-zug befinden, eine Brücke bauen kann, eine Brücke indie Mitte der Gesellschaft und möglicherweise zurückin die Erwerbstätigkeit. Denn leider stellt der Leis-tungsbezug häufig auch einen gesellschaftlichen Rück-zug dar, die Empfänger von Hilfeleistungen ziehen sichverschämt zurück. Im Ehrenamt ist aber jede Hand ge-fragt, soziale Statussymbole spielen hier keine Rolle.Deshalb behandeln wir im Ehrenamt alle gleich. Sowie die 175 Euro bei Beschäftigten in der Steuererklä-rung nicht berücksichtigt werden, werden die 175 Eurobei SGB-II-Beziehern nicht bei den Einnahmen ange-rechnet. Erhalten SGB-II-Leistungsempfänger Auf-wandsentschädigungen über den Betrag von 175 Eurohinaus, liegt eine Erwerbstätigkeit vor. Man kann alsodavon ausgehen, dass sich der Leistungsempfängerüberdurchschnittlich engagiert und sein Fokus nichtauf der Suche nach einer Beschäftigung liegt. Beträgeüber der 175-Euro-Grenze werden daher wie Erwerbs-tätigkeit behandelt und mit den entsprechenden Gren-zen auf die gesetzlichen Leistungen angerechnet. Aus-genommen von diesen Anrechnungsgrenzen sindnatürlich geldliche Leistungen, denen ein tatsächli-cher Aufwand, zum Beispiel Spritgeld bei Fahrten derJugendmannschaft, gegenübersteht.Wir sind daher der Meinung, dass wir bereits einegerechte Lösung für Arbeitnehmer und Leistungsbezie-Zu Protokoll gegebene Reden
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28976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Dr. Carsten Linnemann
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her gefunden haben. Meine Fraktion lehnt daher diehier vorliegenden Anträge ab.
Die Freiwilligen und Ehrenamtlichen leisten in un-
serem Land einen bedeutenden Beitrag für unsere Ge-
sellschaft und für eine Kultur des Miteinanders. Unsere
Demokratie lebt von dem Engagement der Bürgerin-
nen und Bürger.
Mir ist eine starke und lebendige Bürgergesellschaft
wichtig, in der sich die Menschen füreinander einset-
zen, die Freiheit nutzen, ihre Meinung zu äußern, und
sich in Initiativen, Verbänden und Vereinen zusammen-
schließen. Dieses freiwillige Engagement ist eigentlich
unbezahlbar und verdient unser aller Respekt und
Hochachtung. Ich möchte die Menschen ermutigen,
sich in die Gemeinschaft einzubringen, sich zu enga-
gieren und das gesellschaftliche Leben mitzugestalten.
Denn in der demokratischen Mitwirkung der Bürgerin-
nen und Bürger liegt die Stärke unserer Städte und Ge-
meinden. Dadurch sind sie so liebens- und lebenswert.
Mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland
sind in über 500 000 Vereinen, Initiativen, Organisa-
tionen und Stiftungen organisiert. Die ehrenamtlich
Engagierten erbringen eine unschätzbare Leistung, in-
dem sie sich mit Leidenschaft und Hingabe in vielen
Bereichen unserer Gesellschaft für andere betätigen.
Diese unschätzbare Leistung muss gesellschaftlich ge-
würdigt und durch gute gesetzliche Rahmenbedingun-
gen gefördert werden.
Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches So-
zialgesetzbuch hat aber Anfang 2011 zu Verschlechte-
rungen für ehrenamtlich Aktive geführt, vor allem für
Arbeitsuchende im SGB-II-Bezug. Diese schwarz-
gelbe Bundesregierung wollte die Übungsleiterpau-
schalen und Aufwandsentschädigungen als Einkom-
men auf die Regelleistungen anrechnen.
Die Pläne hätten bewirkt, dass in Phasen, in denen
keine Teilhabe am Erwerbsleben möglich ist, auch die
Ausübung eines bürgerschaftlichen Engagements und
damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht
anerkannt und somit behindert wird. Bestraft worden
wären Arbeitsuchende, die eine Übungsleiterpau-
schale erhalten, zum Beispiel für ein Engagement als
Chorleiter oder Dirigent eines Jugendorchesters, als
Trainer im Sportverein oder als Engagierter im Ret-
tungswesen.
Damit wäre das Engagement von Arbeitsuchenden
im Vergleich zu dem von Erwerbstätigen diskriminiert
worden. Es stand zu befürchten, dass diese Regelung
negative Folgen auf das ehrenamtliche Engagement
von Arbeitsuchenden gehabt hätte.
In unserem Initiativantrag zur Ermittlung der Re-
gelbedarfe hatten wir das bereits im Dezember 2010
kritisiert. In den Verhandlungen zum Regelbedarfs-
Ermittlungsgesetz konnte die SPD im Vermittlungsaus-
schuss zwar verhindern, dass der erhöhte Freibetrag für
Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die sogenannte Übungs-
leiterpauschale, nicht gestrichen wird. In bestimmten
Fällen ist es dennoch zu Verschlechterungen gekom-
men. Das ist inakzeptabel.
Welche Auswirkungen das hat, kann jeder leicht
nachrechnen. Für einen ehrenamtlich Aktiven mit ei-
nem Minijob in Höhe von 400 Euro bedeuten die
schwarz-gelben Änderungen finanzielle Einbußen.
Konnte er vor den schwarz-gelben Änderungen insge-
samt 335 Euro aus seiner Aufwandsentschädigung und
seinem Einkommen behalten, sind es nun nur noch
270 Euro. Das könnte 1,2 Millionen Arbeitslosengeld-
II-Bezieher, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor-
weisen können, betreffen.
Mit der Änderung hat diese schwarz-gelbe Bundes-
regierung Arbeitsuchende diskriminiert, die einem
bürgerschaftlichen Engagement nachgehen. Sie hat An-
reize für die Aufnahme bzw. für die Fortführung eines
bürgerschaftlichen Engagements für die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeld II zerstört. Diese Benachteiligun-
gen sind aus meiner Sicht nicht begründbar.
Wenn die Steuerbefreiung für Übungsleiterpauscha-
len und Aufwandsentschädigungen gerechtfertigt sind,
muss dies auch für die Anrechnungsfreiheit auf Leis-
tungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialge-
setzbuch gelten. Das gebietet uns das Gleichbehand-
lungsgebot.
Studien zeigen, dass ein einmal aufgegebenes bür-
gerschaftliches Engagement häufig auch zum Ende ei-
ner engagierten Biografie führt. Der Wiedereinstieg
wird mit zunehmender Länge der Phase, in der kein En-
gagement ausgeübt wird, unwahrscheinlicher.
Gerade für Arbeitsuchende ist das fatal. Denn durch
bürgerschaftliches Engagement können Kompetenzen
erworben, aufrechterhalten oder gar vertieft werden,
die für eine erfolgreiche Arbeitsuche immer wichtiger
werden.
Durch bürgerschaftliches Engagement können Er-
fahrungen gemacht werden, die Eigenschaften wie
Zuverlässigkeit, Eigeninitiative, Verantwortungs- und
Leistungsbereitschaft fördern.
Diese Zusammenhänge hat Schwarz-Gelb einfach
ignoriert. Für die SPD ist jedoch klar, dass bürger-
schaftliches Engagement Brücke und nicht Hürde für
den Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit ist. Des-
halb wollen wir, dass auch arbeitsuchende Engagierte
durch das Anreizsystem für ihren bürgerschaftlichen
Einsatz belohnt werden.
Daher unterstützt die SPD den Antrag der Grünen
mit der Forderung, die Übungsleiterpauschale analog
zu den Regelungen im Einkommensteuerrecht in Höhe
von 175 Euro nicht auf Leistungen des SGB II und
SGB XII anzurechnen.
Der Antrag der Grünen, den wir heute debattieren,beschäftigt sich mit der Förderung des Ehrenamtes –Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28977
Dr. Birgit Reinemund
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ein Thema, dass der christlich-liberalen Koalition undauch mir persönlich sehr am Herzen liegt. Deshalb ha-ben wir Anfang des Jahres das Gesetz zur Stärkung desEhrenamtes verabschiedet und damit ein Entlastungs-paket für alle Ehrenamtlichen und Vereine in Deutsch-land geschnürt: Die Haftung von Vereinsmitgliedernhaben wir auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit be-grenzt, die Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euround die Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euroerhöht. Vereine haben dank unseres Gesetzes nun mehrRechtssicherheit, da sie künftig eine verbindliche Be-scheinigung darüber erhalten, ob ihre Satzung die Vo-raussetzungen für die Anerkennung als gemeinnützigerfüllt. Auch ihre Mittel können gemeinnützige Vereineund Stiftungen nun zeitlich flexibler verwenden.Wer in Sport- oder Kulturvereinen, sozialen oderökologischen Initiativen, Kirchen oder Parteien ehren-amtlich Verantwortung übernimmt, der leistet einenwichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesell-schaft – im besten, liberalen Sinne. Ob dieser Beitragvon sozialverischerungs- und steuerpflichtig Beschäf-tigten in ihrer Freizeit erbracht wird oder von Arbeits-losen, ist dabei unerheblich. Jedes ehrenamtlicheEngagement ist gleich wertvoll und sollte gleich unter-stützt werden.Deshalb haben wir mit dem Ehrenamtsstärkungsge-setz analog zur Anhebung der Übungsleiterpauschaleim Einkommensteuerrecht auch die entsprechendenNichtanrechnungsbeträge auf Arbeitslosengeld II undSozialhilfe in gleichem Umfang angehoben. DerAntrag der Grünen, der von einem Freibetrag von175 Euro pro Monat spricht, ist also nicht auf dem ak-tuellen Stand – kann ja passieren beim Kopieren alterAnträge. Wir haben den Betrag bereits auf 200 Euromonatlich, sprich 2 400 Euro jährlich erhöht.Chorleiter, Trainer oder Jugendbetreuer können fürihre ehrenamtliche Arbeit pro Jahr bis zu 2 400 Euroals Aufwandspauschale steuerfrei erhalten. Wenn siestattdessen Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhal-ten, wird der gleiche Betrag nicht auf ihre Bezügeangerechnet: 200 Euro monatlich, also 2 400 Eurojährlich. Warum die Grünen hier von einer Benachtei-ligung der ehrenamtlich tätigen Leistungsempfängersprechen, kann ich nicht nachvollziehen.Es geht hier nicht um eine Entlohnung, sondern umeine Aufwandsentschädigung, die für Steuerpflichtigebis zur Grenze von 2 400 Euro als Pauschale steuerfreigestellt ist. Für Leistungsempfänger nach SGB II undXII gelten entsprechend Freibeträge. Sind die Aufwen-dungen belegbar höher, können Leistungsbezieher je-derzeit Einzelnachweis führen, um eine Anrechnungauf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe zu vermeiden.Auch für alle berufstätigen, zusätzlich ehrenamtlich inder Kommunalpolitik Tätigen sind über eine bestimmteGrenze hinausgehende Aufwandsentschädigungen zuversteuern. Eine vollständige Nichtanrechnung bei Leis-tungsempfängern wäre eine Besserstellung gegenüberehrenamtlich engagierten Berufstätigen und somitnicht gerechtfertigt.Ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftlichesEngagement dürfen kein Ersatz für reguläre Erwerbs-tätigkeit sein. Auch dürfen sie nicht dazu führen, dasseine sozialversicherungspflichte Beschäftigung nichtaufgenommen wird. Ein solcher Anreiz entsteht, wennAufwandsentschädigungen für kommunale Mandats-träger, die gerade in Großstädten erheblich sein kön-nen, generell nicht auf Sozialleistungen angerechnetwürden.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist in dieserHinsicht kontraproduktiv und zur Stärkung des bürger-schaftlichen Engagements auch nicht notwendig.Schwarz-Gelb hat hier bereits gehandelt. Daher wer-den wir den Antrag ablehnen.
Der Antrag der Grünen beginnt vielversprechend:„Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsereGesellschaft und den gesellschaftlichen Zusammen-halt.“ Dies ist absolut richtig, solange die Engage-mentbereitschaft der Bevölkerung in Zeiten ange-spannter Haushaltslagen und des Sozialabbaus nichtals Lückenfüller für fehlende sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze und eine unzureichende sozialeInfrastruktur, zum Beispiel in Pflege und Kinderbetreu-ung, ausgenutzt wird.Im Weiteren gehen die Grünen ein Problem aus derSchnittmenge von Engagement-, Steuer- und Sozial-politik an. Sie kritisieren zu Recht die Anrechnungs-regelungen für Aufwandsentschädigungen und Übungs-leiterpauschalen im Sozialgesetzbuch II und XII– SGB II bzw. SGB XII –, wie sie seit dem Regelbe-darfs-Ermittlungsgesetz von 2011 gelten. Es geht hieralso um Anrechnungen auf Arbeitslosengeld II, ergän-zendes Arbeitslosengeld II, auf Hilfen zum Lebensun-terhalt und die Grundsicherung im Alter.Bis April 2011 galten Einnahmen aus Aufwendungs-entschädigungen bis zur Höhe des halben Regelsatzes– das waren etwa 175 Euro – als anrechnungsfrei. SeitApril 2011 werden diese Einnahmen als Einkommengewertet, für die jedoch ein höherer Freibetrag von175 Euro im Monat, 2 100 Euro im Jahr galt – stattvorher 100 Euro Freibetrag. Mittlerweile wurde dasEhrenamtsstärkungsgesetz verabschiedet, wodurchsich der Freibetrag rückwirkend zum 1. Januar 2013auf monatlich 200 Euro erhöht, entsprechend auf2 400 Euro im Jahr. Das heißt, pauschale Aufwands-entschädigungen, die oberhalb eines Betrages von200 Euro im Monat liegen, werden unter Berücksichti-gung des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11 b Abs. 2SGB II nunmehr komplett auf Leistungen des SGB IIangerechnet.Dass Entschädigungen seit April 2011 als Einkom-men zählen und voll angerechnet werden, ist eine klareVerschlechterung gegenüber früher. Die Linke nimmtes nicht hin, dass bürgerschaftlich engagierte Grund-Zu Protokoll gegebene Reden
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28978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
Harald Koch
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sicherungsbeziehende noch weiter finanziell bestraftwerden.Die Grünen verfolgen vermeintlich das Ziel, Er-werbstätige und Erwerbslose gleich zu behandeln, undwollen soeben skizziertes Problem in ihrem mittler-weile veralteten Antrag wie folgt lösen:Zum einen soll die Übungsleiterpauschale bis zu ei-ner Höhe von 175 Euro nicht auf Grundsicherungsleis-tungen angerechnet werden. Übungsleitertätigkeitensind nebenberufliche Tätigkeiten für eine gemeinnüt-zige Organisation oder eine juristische Person des öf-fentlichen Rechts beispielsweise als Ausbilder oderErzieher sowie künstlerische Tätigkeiten, die Pflegebehinderter, kranker oder alter Menschen, gemeinnüt-zige, mildtätige oder kirchliche Tätigkeiten.Zum anderen sollen aus öffentlichen Kassen ge-zahlte pauschale Aufwandsentschädigungen – zumBeispiel für kommunalpolitische Tätigkeiten – analogzu den Regelungen im Einkommensteuerrecht in Höhevon monatlich 175 Euro und analog zu den diesen Be-trag übersteigenden Freibeträgen der jeweiligen Er-lasse der obersten Finanzbehörden der Länder eben-falls nicht auf Leistungen des SGB II und XIIangerechnet werden. Aus Linker Sicht sind diese veral-teten Forderungen aber weder ausreichend noch sor-gen sie für Gleichbehandlung!Wir wollen umfassende soziale Gerechtigkeit auchfür bürgerschaftlich engagierte Grundsicherungsbe-ziehende und Geringverdienende. Die Grünen bleibenwie die SPD zu sehr in der Agenda-Logik gefangen.Sie geben sich bestenfalls mit einer „Gerade-so-so-zial“-Politik zufrieden, wohingegen die Linke 100 Pro-zent sozial ist.Die Linke fordert daher, dass Aufwandsentschädi-gungen, einschließlich der Übungsleiterpauschale, fürbürgerschaftliches Engagement sowie für kommunaleMandats- und Amtsträger überhaupt nicht angerech-net werden. Wir haben dazu bereits im November 2011zwei eigene Anträge eingebracht, die im April 2012und Anfang Februar dieses Jahres im Plenum des Bun-destages debattiert wurden.Ich frage Sie: Warum sollen Leistungsberechtigte inder Grundsicherung weniger Ansprüche gegenüberdem Jobcenter haben, nur weil sie bürgerschaftlich en-gagiert sind und genau dafür eine pauschale Auf-wandsentschädigung bekommen? Allein der Begriffzeigt doch schon, dass diese Gelder nur für den mitdem jeweiligen Engagement entstehenden sachlichen,finanziellen und zeitlichen Aufwand entschädigen.Aufwand ist Aufwand und kein Einkommen. Dahersage ich: Diese Gelder sind als Entschädigungen ge-dacht und dürfen nicht zu reduzierten Grundsiche-rungsleistungen führen.Zudem bleiben zwar tatsächlich nachgewiesenerAufwand bzw. zweckgebundene Entschädigungen an-rechnungsfrei, doch in der Praxis ist gerade der Nach-weis im ersteren Fall unverhältnismäßig und in vielenFällen kaum durchführbar. Jede verschickte E-Mail,jeder neue Stift müssten dokumentiert werden. Belegewürden sich zu einem undurchdringbaren Dickichtausformen. Der Verwaltungs- und Organisationsauf-wand des Einzelnen würde Engagement ad absurdumführen. Es ist hierbei höchst ungerecht, dass Ehren-amtliche ohne ALG-II-Bezug ihre Aufwandsentschädi-gung zwar versteuern müssen, aber selbst ohne Vor-lage entsprechender Belege behalten dürfen.Besonders drastisch sind die finanziellen Verluste insolchen Fällen, wenn ein bürgerschaftlich engagierterHartz-IV-Bezieher nicht einzelzweckbestimmte Auf-wandsentschädigungen, sondern eine Übungsleiter-pauschale erhält, die in der Folge zum Beispiel vollmit einem Minijob von 450 Euro verrechnet wird.Es liegen bereits zahlreiche Beispiele vor, die zei-gen, dass sich Menschen aufgrund der Anrechnungsre-gelungen aus ihrem Engagement zurückziehen. Das istfür die Linke nicht akzeptabel. Es konterkariert die an-gebliche Absicht der Bundesregierung, bürgerschaftli-ches Engagement in der Breite zu stärken und besseranzuerkennen.Machen Sie Schluss mit Ihrer Doppelmoral. Sie sa-gen als Bundesregierung vorneherum das eine, nämlichStärkung des Engagements, und hintenherum werdenbestimmte Gruppen aus dem Engagement gedrängt.Mit steuerlichen Entlastungen für besserverdienendeEngagierte und Stiftungen sind sie dagegen immer ganzschnell bei der Hand. Einen eigenartigen Engagement-begriff haben Sie. Sie sorgen für engagierte Menschenerster und zweiter Klasse – das darf nicht sein.Wieder zurück zum Grünen-Antrag. Dort wird aus-geführt, dass die von mir eben geschilderte Forderungder Linken für Grundsicherungsberechtigte eine „Be-vorzugung gegenüber Erwerbstätigen“ sei. Wer bitte-schön geht ernsthaft davon aus, dass Grundsicherungs-beziehende gegenüber Erwerbstätigen in irgendeinerHinsicht bevorzugt werden? In welcher Welt leben Siedenn? Können sich die Abgeordneten von den Grünenvorstellen, dass der Grundsicherungsbezug aufgrundvon Erwerbslosigkeit in aller Regel keine frei gewählteLebenssituation, sondern eine höchst dramatische Not-lage ist? Hartz IV bleibt Armut und Ausgrenzung perGesetz – das haben die Grünen immer noch nicht ver-standen!Ferner übersehen die Grünen in ihrem Antrag, dassErwerbstätige Entschädigungen, sofern sie oberhalbder Freigrenzen liegen, abzüglich der individuellenVersteuerung behalten dürfen. Grundsicherungsbezie-hende bekommen hingegen jenseits der 175, mittler-weile 200 Euro Grundfreibetrag 80 Prozent der Ein-nahmen abgezogen. Um das zu verdeutlichen: Siedürfen gerade einmal 20 Prozent davon behalten. Ab1 000 bis 1 200 Euro dürfen sie sogar nur 10 Prozentbehalten. Das ist weder motivierend noch gerecht. En-gagement erscheint so als Bestrafung. Ich weiß hiervielmehr nicht, wie die Grünen ernsthaft von einerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013 28979
Harald Koch
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„Gleichbehandlung“ von Erwerbstätigen und Grund-sicherungsbeziehenden sprechen können.Die Linke ist der Auffassung, dass bürgerschaftli-ches und politisches Engagement keine Frage desGeldbeutels sein darf. Würde die Anrechnung von Auf-wandsentschädigungen für bürgerschaftliches En-gagement sowie für kommunale Mandats- und Amts-träger komplett wegfallen, wäre dies immerhin einFortschritt.Aber grundsätzlich muss mit dem ganzen Hartz-Sys-tem und der Agendalogik gebrochen werden, weswe-gen wir unter anderem eine sanktionsfreie, armutsfesteMindestsicherung, einen flächendeckenden gesetzli-chen Mindestlohn und „Gute Arbeit“ statt Leiharbeitoder Minijobs brauchen. Wir brauchen eine AgendaSozial.
Ich möchte mit einer Zahl beginnen: Im Jahr 2012waren in der Bundesrepublik über 25 Millionen Bürge-rinnen und Bürger Mitglied in einem Sportverein. Dasheißt, ein Drittel der Bevölkerung treibt in VereinenSport. Zugleich ist der Bereich „Sport und Bewegung“derjenige, in dem sich die meisten Personen ehrenamt-lich engagieren.Worum geht es? Die schwarz-gelbe Bundesregie-rung hat Ehrenamtliche, die sich im SGB-II-Bezugbefinden, schlechtergestellt. Mit dem Gesetz zur Er-mittlung der Regelbedarfe von 2011 werden die pau-schalen Aufwandsentschädigungen, die Übungsleiterfür ihre ehrenamtliche Arbeit erhalten, wie Einkommenaus Erwerbsarbeit behandelt. Damit reduzieren sichdie Zuverdienstmöglichkeiten für Leistungsbezieher,die eine monatliche Übungsleiterpauschale erhalten.Ich habe diese Rechnung schon einmal vorgetragen:Eine Person, die eine monatliche Übungsleiterpau-schale in Höhe von 175 Euro erhält und zusätzlich160 Euro im Rahmen eines Minijobs verdient, kannnicht mehr 335 Euro, sondern nur noch 270 Euro be-halten. Das ist ein Minus von 65 Euro, was für Perso-nen im SGB-II-Bezug ausgesprochen schmerzlich ist.Dabei ist völlig unklar, weshalb diese Anrechnungauf den Zuverdienst bei Leistungsbezieherinnen undLeistungsbeziehern vorgenommen wird, während fürErwerbstätige, die sich ehrenamtlich engagieren, ab2013 bis zu 2 400 Euro und damit 200 Euro pro Monateinkommensteuerfrei sind. Dieser Freibetrag hat sei-nen Grund: Bürgerschaftliches Engagement ist
durch Freiwilligkeit, die Ausrichtung auf das Ge-meinwohl und – das ist entscheidend – durch diefehlende persönliche materielle Gewinnabsicht cha-rakterisiert. Diese Grundmotivation gilt für alle ehren-amtlich Tätigen – egal ob sie erwerbstätig sind oderLeistungen aus dem SGB II beziehen. Darum muss dieAnerkennung der ehrenamtlichen Arbeit, die mit demFreibetrag in der Einkommensteuer zum Ausdruck ge-bracht wird, analog auch für Personen im SGB-II-Be-zug gelten.An dieser Stelle möchte ich an den rechtlichenGrundsatz erinnern, dass Gleiches gleich und Unglei-ches ungleich zu behandeln ist. Wenn die ehrenamtli-che Arbeit, die Übungsleiterinnen und Übungsleiter inden über 91 000 Sportvereinen leisten, auch finanziellanerkannt werden soll, indem ein fixer Betrag geradenicht als Einkommen angerechnet wird, dann mussdiese finanzielle Anerkennung allen Übungsleiterin-nen und Übungsleitern gleichermaßen gewährt wer-den – egal ob sie erwerbstätig sind oder nicht.Schließlich bemisst sich die Höhe der Übungsleiter-pauschalen ja auch nicht danach, ob die jeweilige Per-son erwerbstätig oder arbeitslos ist.Jenseits des Gleichbehandlungsgrundsatzes geht esaber auch um die Folgen, die die Kürzung des Freibe-trags hat. Hier werden ganz klar die falschen Akzentegesetzt. Wir fordern die Rückkehr zu einem Freibetragvon 175 Euro. Die Gewährung dieses Freibetrags, dernicht auf die Leistungen des SGB II angerechnet wird,ist ein klarer Anreiz, sich ehrenamtlich zu engagierenund damit trotz Erwerbslosigkeit sozial eingebundenzu bleiben. Denn bürgerschaftliches Engagement istnicht nur eine tragende Säule des gesellschaftlichenZusammenhalts, sondern auch ein zentrales Elementder sozialen Teilhabe.Insgesamt sind die Weichen hier falsch gestellt. Dasbestätigen auch die Zahlen. Nach einer TNS-Infratest-Studie, die seit 1999 unter Arbeitslosen in den neuenBundesländern eine kontinuierliche Zunahme an ge-meinschaftlich Aktiven verzeichnet, steht nun zu be-fürchten, dass die Gesetzesänderung von 2011 dieseEntwicklung bremst. Das kann unmöglich Anliegendes Gesetzgebers sein, zumal ein Blick in die Statisti-ken einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ar-mut und ehrenamtlichem Engagement zeigt. Mit anhal-tender Dauer der Armut sinkt die Bereitschaft zusozialem Engagement. Die finanzielle Schlechterstel-lung, die durch die aktuelle Anrechnung der Übungs-leiterpauschale auf den Zuverdienst entsteht, ist für dieBetroffenen mitunter massiv. Schlussendlich könnendie bereits erwähnten 65 Euro im Monat eine gefühlteArmut durchaus mindern. Angesichts der Tatsache,dass sich 27 Prozent der Arbeitslosen ehrenamtlich en-gagieren und dementsprechend von dieser Regelungbetroffen sind, besteht also dringender Handlungsbe-darf.Nicht zuletzt kann sich das Engagement in Sportver-einen durchaus auch positiv auf die Jobsuche auswir-ken, weil die Betroffenen Anerkennung erfahren undihre Sozialkompetenz belegen. Diese Win-win-Situa-tion, die gerade beim ehrenamtlichen Engagement Er-werbsloser besteht, wird durch die Anrechnung derÜbungsleiterpauschale auf die Leistungen nach demSGB II und XII torpediert. Das sollte schnellstmöglichrückgängig gemacht werden. Den Leistungsbeziehernmuss wieder der Freibetrag in Höhe von 175 gewährtwerden.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
28980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2013
(C)
(B)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11253, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9950 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 22. März 2013, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.