Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte einen Au-genblick Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich zur ersten Plenarsitzung des Deutschen Bundes-tages in diesem Jahr, verbunden noch einmal mit allenguten Wünschen für Sie persönlich und für unsere ge-meinsame Arbeit.Gleichzeitig möchte ich Sie bitten, damit einverstan-den zu sein, dass, wie interfraktionell vereinbart, der Ta-gesordnungspunkt 1 b von der heutigen Tagesordnungabgesetzt werden soll. – Ich höre keinen Widerspruch.Dann können wir so verfahren.Bevor wir nun in die vereinbarte Tagesordnung ein-treten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz vor Weihnach-ten erreichte uns eine Nachricht, die uns alle tief bestürzthat. Mit großer Betroffenheit erfuhren wir vom plötzli-chen Tod unseres Kollegen Peter Struck. Er starb am19. Dezember 2012 im Alter von 69 Jahren in Berlin.Peter Struck war eine parlamentarische Instanz. Er hatdie bundesdeutsche Politik über drei Jahrzehnte maßgeb-lich mitgestaltet. Peter Struck kam 1980 erstmals instik wie im Sport nicht nur Siege, sondern auch Niederla-gen gibt – und er hatte die Gabe, bei Siegen nicht das Maßzu verlieren und bei Niederlagen nicht das Selbstbewusst-sein.Um Ämter und Aufgaben hat er sich nicht beworben,aber er hat sich auch nicht verweigert, wenn sie ihm– manchmal überraschend und gegen seine eigenenPräferenzen – angetragen wurden: Er war Obmann imsogenannten Flick-Untersuchungsausschuss Mitte der1980er-Jahre, er war Parlamentarischer Geschäftsführer,Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion von 1998 bis2002 und in der Großen Koalition wieder von 2005 bis2009, und er war Bundesminister der Verteidigung von2002 bis 2005.In diesen unterschiedlichen Ämtern hat er sich denRespekt seiner Kolleginnen und Kollegen und der Öf-fentlichkeit und die besondere Zuneigung der Soldatenerworben. Das hohe Regierungsamt des Inhabers derVerteidigungs- und Kommandogewalt war ihm zunächstalles andere als nahe, eher fremd. Am Ende, rückbli-ckend, war es ihm von allen Ämtern vielleicht dasliebste, nicht aber das wichtigste. Das Größte, hat PeterStruck mehr als einmal erklärt, sei, Mitglied des Deut-schen Bundestages zu sein.Parlament und gehörte dem Hohen Haus als Mitglied derSPD-Fraktion bis 2009 an. Eigentlich wollte PeterStruck nach dem Studium der Jurisprudenz und der Pro-motion irgendwann einmal Bürgermeister oder Stadtdi-rektor seiner Heimatstadt Göttingen werden. Er hätte daszweifellos gekonnt und gut gemacht.Glücklicherweise ist es anders gekommen. Nach sei-ner ersten erfolgreichen Kandidatur im Wahlkreis Celle-Uelzen für den Deutschen Bundestag hat Peter Struckacht Legislaturperioden mit wichtigen Aufgaben undwachsendem Einfluss absolviert.Peter Struck haben die meisten von uns als einen feinenKerl und einen verlässlichen Kollegen kennengelernt. Erwar über viele Jahre eine der Stützen der Fußballmann-schaft des Deutschen Bundestages, deren Bedeutung fürdas kollegiale Klima über die Fraktionen hinweg nicht zuunterschätzen ist. Peter Struck wusste, dass es in der Poli-Peter Struck hatte eine klare Vorstellung von der Ord-nung der Staatsgewalt, und er wusste zwischen der Be-deutung von Ämtern und ihrer Prominenz in der öffentli-chen Wahrnehmung zu unterscheiden. Das sogenannteStruck’sche Gesetz, nach dem Gesetzentwürfe in allerRegel das Parlament nicht so verlassen, wie sie einge-bracht worden sind, hat er nicht erfunden, aber er hat espraktiziert, und zwar nicht in Oppositionszeiten, sondernals Vorsitzender einer Regierungsfraktion.2009 schied Peter Struck aus eigener Entscheidungaus dem Parlament aus. Damals glaubten nur wenige sei-ner Ankündigung, sich als Politikruheständler vor allemdem geliebten Motorrad widmen zu wollen. Tatsächlichblieb Peter Struck der Politik verbunden. Er übernahmschwierige Schlichtungsaufgaben und wurde 2010 Vor-sitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nur wenige Tage
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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vor seinem Tod war er in diesem Amt einstimmig bestä-tigt worden.In der nächsten Woche wäre er 70 Jahre alt geworden.Viele von uns hatten sich auf das Wiedersehen gefreut –er auch. Viele von uns verlieren einen geschätzten Kolle-gen und guten Freund. Peter Struck hat sich um unserLand große Verdienste erworben.Seiner Frau und seiner Familie spreche ich im Namendes ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Alle dieje-nigen, die das Privileg hatten, mit ihm zusammenarbei-ten zu können, werden ihn gewiss nicht vergessen.Ich danke Ihnen.Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 a auf:a) Vereinbarte Debatte50 Jahre Élysée-Vertrag – Zusammenarbeitund gemeinsame Verantwortung für die Zu-kunft EuropasNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich möchte zu Beginn darauf hinweisen, dass wir unsin den vergangenen Wochen über die Fraktionen mit denfranzösischen Kolleginnen und Kollegen auf einen Textverständigt haben, den wir am nächsten Dienstag nachder gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern der As-semblée nationale per Akklamation hier im Reichstags-gebäude am Schluss der Veranstaltung annehmen wol-len. Insofern besteht Gelegenheit, in der Debatte daraufBezug zu nehmen, Hinweise zu machen und vielleichtauch den einen oder anderen Akzent zu setzen, weil sichin einem solchen gemeinsamen Text naturgemäß nichtjede einzelne Präferenz in gleicher Weise und vor allenDingen mit der vielleicht gewünschten Deutlichkeit wie-derfindet.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteileich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inden vergangenen Monaten ist viel Kritisches über denZustand der deutsch-französischen Beziehungen gesagtworden, manches zu Recht, vieles aber auch aufgrund zukurzsichtiger Betrachtung zu Unrecht. So ist es gut, dasswir aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnungdes Élysée-Vertrages ausführlich über die Bedeutung derdeutsch-französischen Zusammenarbeit sprechen.Denn bei allem notwendigen Streit über die bestenWege zur Überwindung der Schuldenkrise sollten wirimmer die historische Leistung der deutsch-französi-schen Zusammenarbeit und die daraus erwachsende Ver-antwortung für die Entwicklung Europas im Auge behal-ten.In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Frie-densnobelpreises an die Europäische Union sagte derVorsitzende des norwegischen Nobelpreiskomitees – ichzitiere –: Die Aussöhnung zwischen Frankreich undDeutschland ist wahrscheinlich das überzeugendste Bei-spiel dafür, dass Krieg und Konflikte rasch in Friedenund Zusammenarbeit verwandelt werden können. –Diese Worte würdigen die Leistung der Männer undFrauen, die nach drei fürchterlichen Kriegen den Neuan-fang und die Aussöhnung wagten und damit die Voraus-setzungen für den europäischen Einigungsprozess unddie Überwindung der Teilung Europas schufen.Das Nobelpreiskomitee würdigt aber auch den be-sonderen politischen Mut von Außenminister RobertSchuman. Mit seinem Plan zur Montanunion hatte er denFranzosen bereits fünf Jahre nach Kriegsende zugetraut,eine gleichberechtigte Partnerschaft mit der jungen,machtlosen Bundesrepublik einzugehen, und er hat da-mit den Grundstein gelegt zu der Freundschaft, die nun-mehr unsere beiden Länder so eng miteinander verbin-det. Der dadurch gelungene Aufbruch in eine neue,gemeinsame und vor allem bessere Zukunft ist, so denkeich, auch heute noch Grund zur Dankbarkeit.
Für die Aussöhnung, Freundschaft und Zusammenar-beit von Franzosen und Deutschen steht symbolisch derÉlysée-Vertrag. Er hat viel bewirkt. Ich möchte nur zweiBeispiele nennen. Es sind zwei Beispiele, die sich seitder ersten gemeinsamen Plenarsitzung unserer beidenParlamente vor zehn Jahren in Versailles besonders gutentwickelt haben.Ich nenne zum einen das Deutsch-Französische Ju-gendwerk. Nach zwei Evaluierungen, die auf Anregungdes Bundestages und der Assemblée nationale 2004durchgeführt wurden, konnte seine Effizienz deutlich ge-steigert werden. Heute ist es wieder eine Erfolgsge-schichte. In den letzten zwei Jahren lag die Anzahl derTeilnehmer deutlich über 200 000, und es ist gut, dassder Etat des Jugendwerkes – übrigens zum ersten Malseit 1963 – angehoben wurde. Aber es könnten nochdeutlich mehr junge Menschen am Austausch teilneh-men, wenn auf beiden Seiten mehr Finanzmittel zur Ver-fügung stünden. Hier sollten wir nicht wieder 50 Jahrebis zur nächsten Erhöhung warten. Es ist doch ein gutesZeichen für die gemeinsame Zukunft, wenn die deutsch-französischen Beziehungen gerade auch bei der jungenGeneration über hohe Anziehungskraft verfügen.Ich nenne zum anderen das deutsch-französische Ge-schichtsbuch für die Oberstufe. Beide Regierungen ha-ben am 22. Januar 2003 dafür die Anregung des deutsch-französischen Jugendparlamentes aufgenommen. Inzwi-schen sind drei Bände des Lehrbuches erschienen, dasnicht nur den Lehrplänen beider Länder gerecht wird; essind weltweit die ersten in zwei Staaten inhaltlich identi-schen Schulbücher, die von der griechischen Demokratiebis hin zur Gegenwart auch die Sicht des jeweils anderenzum Ausdruck bringen. Wer weiß, wie sensibel Fragender Geschichte – insbesondere der eigenen – sind, kannsich angesichts der schwierigen Vergangenheit unsererLänder vorstellen, welch wichtiger Beitrag mit diesem
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Dr. Andreas Schockenhoff
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gemeinsamen Geschichtsbuch für eine dauerhafte Aus-söhnung geleistet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser und vie-ler anderer Erfolge in den deutsch-französischen Bezie-hungen bleibt noch viel zu tun. Deshalb verstehe ich dieVerleihung des Friedensnobelpreises an die EU nicht nurals eine Würdigung ihrer bisherigen Leistungen und derAussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland; sieist zugleich der Auftrag, insbesondere an unsere beidenLänder, ihrer besonderen Verantwortung für den weite-ren Integrationsprozess und für die SelbstbehauptungEuropas in der globalisierten Welt gerecht zu werden.Deshalb begrüße ich sehr, dass es in der gemeinsamenErklärung von Bundestag und Assemblée nationaleheißt, dass unsere Länder als starke Wirtschaftsnationenbesondere Möglichkeiten haben, die weitere Gestaltungder EU voranzubringen, und dass sie gemeinsame Ver-antwortung für den Erfolg des europäischen Modells imglobalen Wettbewerb übernehmen müssen.Will Europa Subjekt im globalen Wettbewerb bleibenund nicht zum Objekt werden und in die Bedeutungs-losigkeit abrutschen, muss es seine Schuldenkrise, vorallem die Ursachen dafür, überwinden. Hier sind wir be-reits ein wichtiges Stück vorangekommen; aber dieserProzess muss weitergehen, so schmerzhaft er für einigeLänder auch ist – dazu zähle ich auch Frankreich. Stabi-lität und Wachstum, Disziplin und Verantwortung, dasÖkonomische und das Soziale sind gleichermaßen nötig,um die Krise nachhaltig zu bewältigen. Das wird nur ge-lingen, wenn es hinsichtlich der in der EU unterschiedli-chen Auffassungen im Wirtschaftsdenken zu einer An-näherung kommt mit dem Ziel eines modernen, globalwettbewerbsfähigen Wirtschafts- und Gesellschafts-modells. Gerade wegen seiner noch sehr unterschiedli-chen Auffassungen in wesentlichen wirtschafts- undfinanzpolitischen Fragen steht das deutsch-französischePaar diesbezüglich vor einer besonderen Bewährungs-probe. Deutschland und Frankreich müssen bei diesenFragen noch näher zusammenkommen, um Europa zu-sammenzuhalten.Aber auch bei anderen Herausforderungen, vor denendie EU steht, müssen wir bei der Suche nach Lösungenenger zusammenkommen. Ich nenne nur die StichworteEnergiesicherheit, Fragen der Arbeitsmigration, Ge-währleistung hoher Umweltstandards und die Gestaltungunserer Nachbarschaft im Osten, vor allem aber ganz ak-tuell auch im Süden. Gerade dieses letzte Beispiel zeigt:Auch die deutsch-französische sicherheitspolitischeZusammenarbeit muss für die Verbesserung der europäi-schen Fähigkeiten in der GSVP weiter vertieft werden.Auch hier stellen sich schwierige grundlegendeFragen; denn wir müssen feststellen, dass es in der EUdurchaus unterschiedliche Prioritätensetzungen gibt:Frankreich fokussiert sich strategisch eher auf Nord-afrika, während die Mittel- und Osteuropäer eher nachOsten und unsere nordischen Partner zunehmend inRichtung Arktis blicken. Deshalb brauchen wir in derEU, vor allem aber zwischen unseren beiden Ländern,eine strategische Diskussion über die Frage, was die EUmit ihren zivilen und militärischen Missionen erreichenwill und auf welche geografischen Herausforderungensie sich besonders ausrichten sollte.
Das ist übrigens auch eine Voraussetzung dafür, dass wirmit Pooling und Sharing von militärischen Fähigkeitenund Kapazitäten zu wirklich substanziellen Kooperatio-nen kommen. Solange Frankreich und Deutschland hiernicht am gleichen Strang ziehen, werden wir die notwen-dige Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Vertei-digungspolitik nicht voranbringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der französische
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen nochmehr miteinander sprechen. – Ich denke, das gilt auchfür das Gespräch zwischen uns Abgeordneten. Auchwenn unsere Zusammenarbeit in der deutsch-französi-schen Parlamentariergruppe so intensiv wie in keiner an-deren Parlamentariergruppe ist, reicht das noch nichtaus. Angesichts der Herausforderungen, die ich vorhinangesprochen habe, müssen wir auch die Zusammen-arbeit unserer Parlamente auf eine qualitativ neue Stufestellen. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass mitunserer Gemeinsamen Erklärung, die wir nächstenDienstag annehmen, diese Zusammenarbeit vertieft wer-den soll. Schon heute gibt es konkrete Fragen, bei denenwir uns enger abstimmen sollten. Ich nenne beispiels-weise die Subsidiaritätsprüfung.Im Zusammenhang mit der Stärkung der Wirtschafts-und Währungsunion und der parlamentarischen Beglei-tung des Europäischen Semesters wird es voraussichtlichzweimal jährlich interparlamentarische Konferenzen ge-ben. Gerade angesichts der in Frankreich und Deutsch-land durchaus unterschiedlichen wirtschafts- und finanz-politischen Auffassungen halte ich es für sinnvoll, dasswir uns unmittelbar vor solchen Tagungen erst einmalmit unseren französischen Kollegen beraten. Diezwischen dem Bundestag und der Assemblée nationalebestehenden Unterschiede sind bekannt. Die Assembléenationale hat ein sehr eingeschränktes Initiativrecht. Ineuropapolitischen Fragen hat der Bundestag mit demEUZBBG oder bei Bundeswehreinsätzen mit dem Parla-mentsbeteiligungsgesetz eine sehr viel stärkere Stellungin unserer Verfassung als die Assemblée nationale in derfranzösischen Verfassung. Dennoch wollen und müssenwir uns so eng wie möglich abstimmen und unsere Poli-tik so weit wie möglich koordinieren. Wenn die Ab-geordneten aus Deutschland und Frankreich dies in denwichtigen und vor allem schwierigen Fragen der euro-päischen Politik regelmäßig tun, dann wird dies tiefergehen und ein besseres Verständnis für die Position deranderen Seite schaffen, als wenn dies allein von denRegierungen geleistet werden muss.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auchweit mehr als ein Symbol, wenn wir nächste Woche indiesem Raum als Plenarversammlung mit der Assembléenationale gemeinsam tagen und gegenüber unserenVölkern den gemeinsamen Willen zur Gestaltung des bi-
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Dr. Andreas Schockenhoff
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lateralen Verhältnisses und zur Behauptung der StellungEuropas in der Welt zum Ausdruck bringen.Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich mitIhnen gemeinsam auf den nächsten Dienstag.
Günter Gloser ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Der Élysée-Vertrag ist eine einmaligehistorische Leistung. Er hat der Aussöhnung Deutsch-lands und Frankreichs einen institutionellen Rahmengegeben. Dieser prägt bis heute die Zusammenarbeitzwischen beiden Ländern. Deshalb ist es auch richtig,dieses Jubiläum feierlich zu begehen.Seinen Wegbereitern Adenauer und de Gaulle gilt da-rüber hinaus große Anerkennung für dieses Dokumentder Annäherung. Auch für alle SPD-geführten Bundes-regierungen war der Vertrag die Basis ihrer Frankreich-Politik. Aber nun wird gegenwärtig in beiden Staaten dieFrage gestellt: Sind denn 50 Jahre Élysée-Vertrag ange-sichts von Streitpunkten, mühsamen Kompromissen undauch angesichts gelegentlich auftretenden Misstrauensein Grund zum Feiern? Ich sage Ja; denn ich beurteilediesen Vertrag eben nicht nur aus der Perspektive derletzten Wochen und Monate oder bestimmter Abschnittewährend der letzten 50 Jahre, sondern aus der histori-schen Perspektive entlang der gesamten letzten 50 Jahre.
Es geht heute eben nicht nur um 50 Jahre freundlichesNebeneinander, sondern um ein Miteinander, da die Be-ziehung beider Länder in dieser Zeit, wie ich finde, eineweltweit einzigartige Vertiefung erfahren hat. MancheNörgler, die diese Feier kritisieren, blenden die enormengesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischenLeistungen aus, für die der Élysée-Vertrag die Grundlagewar. Die Kritiker sollten einfach einmal vom Jahr 196350 Jahre zurückgehen, um sich zu erinnern, was auf un-serem Kontinent zwischen unseren beiden Ländern ge-schehen ist und was Deutsche Franzosen angetan haben.Das sei an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklicherwähnt.Die deutsch-französischen Beziehungen sind abermehr als nur das „Couple“, das Tandem der Staats- undRegierungschefs, oder aber auch, wie es KollegeSchockenhoff ausgedrückt hat, die Beziehungenzwischen den beiden Parlamenten, auch wenn die in derletzten Zeit eine bedeutende Rolle spielen.Der Élysée-Vertrag hat dazu beigetragen, dass sichein einzigartiges Netz der Beziehungen zwischen unse-ren Ländern entwickelt hat. Ich will dafür einigeBeispiele nennen. Wo auf diesem Erdball gibt es so zahl-reiche Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten,Kreisen und Regionen? Allein über 2 000 kommunalePartnerschaften existieren.
Wo sonst auf dieser Welt gibt es so viele Menschen, diesich aktiv in Partnerschaftsvereinen und Freundschafts-gesellschaften engagieren? Diese Menschen sind diewahren Brückenbauer in den deutsch-französischen Be-ziehungen.
Wo sonst gibt es bilaterale Einrichtungen und Publika-tionen wie die Deutsch-Französische Hochschule, dieDeutsch-Französische Industrie- und Handelskammeroder aber das erwähnte deutsch-französische Ge-schichtsbuch? Hier hätte ich mir allerdings eine intensi-vere Verbreitung in den Schulen gewünscht. Da kann dasKooperationsverbot zwischen Bund und Ländern nichtdas große Hindernis sein.Auch unsere Parteien und politischen Stiftungen, dieGewerkschaften und die Kirchen haben in den letztenfünf Jahrzehnten viel für den politischen und gesell-schaftlichen Austausch zwischen Frankreich undDeutschland getan.Eine weitere Erfolgsgeschichte ist das Deutsch-Französische Jugendwerk. Wir wissen, dass diesesJugendwerk zum Vorbild für die Beziehungen auch mitanderen Ländern geworden ist. Ich erinnere nur an dieBeziehungen zwischen Deutschland und Polen.Ich hege den Wunsch, dass der Kulturaustauschzwischen unseren Ländern noch weiter ausgebaut wird.Wir Parlamentarier haben eine wichtige Rolle, was dieZukunftsfähigkeit von Goethe-Instituten und Auslands-schulen anbelangt; denn angesichts der aktuellenHerausforderungen und auch der gelegentlich auftreten-den Missverständnisse brauchen wir diese Kulturmittler.
Wer sich diesem Vertrag verpflichtet fühlt, muss sichauf Augenhöhe begegnen. Häme, wie ich sie kürzlich inBeiträgen im Hinblick auf die wirtschaftliche SituationFrankreichs gelesen habe, ist unangebracht und ge-schichtslos.
Es gab auch Zeiten, da waren die wirtschaftlichen Datenin Frankreich viel positiver als die in Deutschland. DassDeutschland in der guten wirtschaftlichen Lage vonheute ist, hat auch mit den guten deutsch-französischenBeziehungen zu tun; denn etwa 30 Prozent unseresExports in die Euro-Zone gehen nach Frankreich. Daswird hier allzu oft vergessen.
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Günter Gloser
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Wir feiern den Vertrag am nächsten Dienstag zusam-men mit der Assemblée nationale im Deutschen Bundes-tag. Es wird eine Feier, die dem Ereignis und dendeutsch-französischen Beziehungen angemessen ist. Eswird keine Sause und es wird auch keinen Pomp geben,aber – das sage ich ausdrücklich – wir dürfen diesesJubiläum nicht verstecken.
Für mich bedeuten die Feierlichkeiten vor allem, dasswir, die Politikerinnen und Politiker, aber auch die Bür-gerinnen und Bürger beider Länder, weiterhin Interesseaneinander haben, Neugierde für das jeweils andereLand und gegenseitiges Verständnis entwickeln.Zum Schluss noch zu einem Dauerthema in unserenBeziehungen. Es geht um den Spracherwerb in beidenLändern. Ich habe im letzten Jahr einen Artikel zu dieserThematik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ent-deckt. Dort las ich einen Beitrag der Präsidentin desFrankoromanistenverbandes. Sie beschreibt, dass 1956in einer Abiturprüfung in Deutschland eine Passage ausdem Roman Jean-Christophe von Romain Rolland zuübersetzen war. Eine Passage lautete: „Nous avons be-soin de vous et vous avez besoin de nous.“ 1956 über-setzte ein gestresster deutscher Abiturient diesen Satzfolgendermaßen ins Deutsche: „Wir haben genug voneuch, und ihr habt genug von uns.“
Ohne Abiturstress übersetzt lautet der Satz richtig – ichweiß, dass Sie alle das verstehen –: „Wir brauchen euch,und ihr braucht uns.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen,dieser Satz Romain Rollands, 1913 formuliert, klingt bisheute wie ein Weckruf für die Zukunft.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort nun dem
Staatsminister Michael Link.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem Élysée-Vertrag haben Frankreich und Deutschlandnach zwei Weltkriegen ihre Versöhnung besiegelt undeine Erfolgsgeschichte ohnegleichen eingeleitet. Sie ha-ben das aber nie nur mit Blick auf sich gemacht, sondernvon Anfang an immer mit Blick auf die gemeinsame eu-ropäische Verantwortung.Tiefe und Intensität der deutsch-französischenFreundschaft sind einzigartig. Das gilt für den politi-schen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Das giltvor allem aber auch für das beispielhaft enge Netzwerkzwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Die Kollegen,die vor mir gesprochen haben, haben völlig zu Recht ge-nau darauf hingewiesen.Wenn wir die letzten 50 Jahre betrachten, sehen wir,dass sich eine tief in der Gesellschaft verwurzelte, echteFreundschaft entwickelt hat. Das ist es, was die deutsch-französische Freundschaft einzigartig macht: ihre Dichteund die gelebte Nähe zwischen den Bürgerinnen undBürgern. Die erste der heute 2 200 Städtepartnerschaftenwurde schon 1950 geschlossen. Allein über 8 MillionenJugendliche haben seit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks – auf seine Verdienste ist zuRecht hingewiesen worden – an einem Austauschpro-gramm teilgenommen. In wirtschaftlicher Hinsicht sindDeutschland und Frankreich – man muss es immer wie-der betonen, weil es sonst manchmal in Vergessenheitgerät – füreinander immer noch die wichtigsten Export-märkte.Dabei sollte uns allen klar sein: Die Freundschaftzwischen Deutschland und Frankreich ist keine Selbst-verständlichkeit. Sie muss in jeder Generation von denBürgerinnen und Bürgern und vor allem auch von unspolitisch Verantwortlichen in beiden Ländern neu mitLeben gefüllt werden. Sie speist sich, außer aus gemein-samen Werten, vor allem aus zwei Hauptquellen: ge-meinsam erlebter Geschichte und gelebter Nähe.Weil die gelebte Nähe so wichtig ist und viele Kolle-ginnen und Kollegen der Bundesregierung Anregungengegeben haben, was bei der grenzüberschreitenden Zu-sammenarbeit besser werden muss – ein Punkt, der, wieich weiß, über die Fraktionsgrenzen hinweg viele um-treibt –, wollen wir bei diesem Jubiläum einen besonde-ren Schwerpunkt auf die Verbesserung der grenzüber-schreitenden Zusammenarbeit legen, bei der in der Tatnoch einiges unterstützt und besser gemacht werdenmüsste. Vorbilder für diese Zusammenarbeit haben wir.Ich nenne beispielhaft den Eurodistrikt; ich könnte nochviele andere Bereiche nennen. Hier muss aber wirklichnoch einiges konkret vorangebracht werden. Genau da-ran arbeitet auch die Bundesregierung.
Das Ziel des deutsch-französischen Jubiläumsjahresist das gegenseitige Verständnis. Das geht, KollegeGloser, natürlich bis in die Sprache hinein; denn da gehtVerstehen los. Wir wollen das gegenseitige Verständnissteigern und junge Menschen für das Projekt begeistern.Lassen Sie mich, auch mit Blick auf die vielen Schüle-rinnen und Schüler, sei es, dass sie uns heute zuhörenoder diese Debatte nachlesen, sagen: Es muss einfachauch wieder cool werden, die Sprache des Nachbarn zusprechen und einen Teil der eigenen Ausbildung imNachbarland zu absolvieren.Im deutsch-französischen Jubiläumsjahr werden wirdeshalb nicht nur das in der Vergangenheit Erreichte fei-ern, sondern uns auch auf unsere gemeinsame Zukunftund Verantwortung für Europa ausrichten. Der Élysée-Vertrag hatte immer eine europäische Dimension.Deutschland und Frankreich haben Europa bisher ge-
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Staatsminister Michael Link
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meinsam vorangebracht. Für die nächsten Jahrzehntegilt, dass unsere beiden Länder die zukünftigen Heraus-forderungen nur im Rahmen eines einigen und starkenEuropa werden bewältigen können.Wir als Bundesregierung haben immer wieder gesagt– das ist in vielen Debatten, gerade im letzten Jahr, alswir über die Stabilisierung der Euro-Zone diskutiert ha-ben, deutlich geworden –: Die Europäische Union ist un-sere Antwort auf die Fragen, die die Globalisierung anuns stellt. Das europäische Projekt steht vor ganz ent-scheidenden Herausforderungen. Viele Krisen sind bei-leibe noch nicht gelöst, im Gegenteil: Ich nenne dieSchuldenkrise, den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit,die Bedrohungen unserer inneren und äußeren Sicherheitund den Auftritt neuer Kraftzentren. Wir sind mittendrin, Antworten auf diese Herausforderungen zu gestal-ten. Dazu können Deutschland und Frankreich mit ihremVorbild und unserem europäischen Modell einer offenen,sozialen und toleranten Gesellschaft vieles beitragen.Das haben wir nicht so gemacht – ich habe es ge-sagt –, dass wir nur aufeinander geblickt oder versuchthaben, andere zu dominieren. Vielmehr haben wir es vonAnfang an so gemacht, dass wir versuchten, die deutsch-französische Freundschaft im Dienste einer Öffnungnach außen zu wenden. Wir haben die deutsch-französi-sche Freundschaft im Rahmen des Weimarer Dreiecksexemplarisch um Polen erweitert. Das Weimarer Dreieck– ich möchte es ganz ausdrücklich hervorheben – stehtebenfalls für gelebte Nähe und gelebte Nachbarschaftaufgrund gemeinsam erlebter Geschichte. Es ist zurnicht mehr wegdenkbaren Ergänzung der deutsch-fran-zösischen Freundschaft geworden; das sei auch mitBlick auf unsere polnischen Freunde und Nachbarn aus-drücklich erwähnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Schulden-krise, die uns aktuell trifft, zu überwinden, muss sich dieEU hin zu einer wirklichen wirtschaftlichen und politi-schen Union entwickeln. Deutschland und Frankreichhaben die Aufgabe – ich bin davon überzeugt: auch denMut –, die hierzu notwendigen Maßnahmen zu treffen.Bei unserer Zusammenarbeit müssen wir jedoch einMissverständnis vermeiden: Die Ziele und InteressenDeutschlands und Frankreichs sind natürlich nicht im-mer und automatisch deckungsgleich. Deutschland undFrankreich bleiben, bei allen Gemeinsamkeiten, zweiLänder mit vielen Unterschieden im politischen, gesell-schaftlichen und kulturellen Bereich. Kontroversen ge-hören in der EU wie auch in der deutsch-französischenPartnerschaft dazu; sonst wären wir ein Museum.Um Fortschritte und Kompromisse wurde in der Ver-gangenheit und wird auch jetzt stets hart gerungen.Wenn aber erst einmal eine Einigung gefunden war – dasist das, was Deutschland und Frankreich so besondersauszeichnet –, dann stand sie, und dann war dieser Kom-promiss meist auch das Vorbild für eine Einigung in dergesamten EU. Für mich bestehen deshalb die Aufgabeund der Beitrag des deutsch-französischen Motors vorallem darin, europäische Entscheidungen vorzustruktu-rieren und sie dadurch oft überhaupt erst zu ermögli-chen. Unsere Fähigkeit zum Kompromiss, trotz aller un-terschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen,ist es, was das deutsch-französische Verhältnis so einma-lig macht und auszeichnet. Deshalb stellt sich die Bun-desregierung, wenn sie eine europapolitische Positionformuliert, von Anfang an, vom ersten Moment an, dieFrage: Wo steht Frankreich in dieser Angelegenheit?Diesen deutsch-französischen Reflex, wenn ich es ein-mal so nennen darf, kann man gar nicht hoch genugschätzen. So etwas lässt sich nicht vertraglich anordnen,das wächst über Jahrzehnte.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Deutschland und Frankreich können viel voneinanderlernen. Deutschland kann, um ein Beispiel zu nennen,bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf außeror-dentlich viel von Frankreich lernen. In diesem Bereichgibt es viele Impulse, die wir mit Interesse studieren.Umgekehrt ist, wie wir an den vielen Fragen unsererfranzösischen Freunde – über alle Parteigrenzen hin-weg – merken, die duale berufliche Ausbildung inDeutschland für Frankreich wie für viele unserer Nach-barn von großem Interesse.Die gegenseitige Wertschätzung spiegelt sich auch indem Bild wider, das die Bürger vom jeweiligen Partner-land haben. Aus einer ganz aktuellen Umfrage geht her-vor, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreichzwischen 80 und 90 Prozent der Bürger die deutsch-fran-zösische Freundschaft positiv sehen und sie für wichtigund entscheidend für Europa halten.Meine Damen und Herren, beim Aufbau unseres zu-künftigen Europas und bei der Wahrung unseres Wohl-standes und des europäischen Gesellschaftsmodells istFrankreich unser unverzichtbarer Partner. In diesemSinne wollen wir den 22. Januar begehen – nicht ver-steckt, sondern feierlich, festlich und selbstbewusst.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsch-franzö-sische Freundschaft, sie ist keine Nostalgie und auchkeine Rhetorik; sie ist eine hochaktuelle Strategie, umunsere Europäische Union Schritt für Schritt voranzu-bringen.Ich danke Ihnen.
Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esgibt einen Jahrhundertroman für Deutsche und Franzo-sen: Das ist Erich Maria Remarques Im Westen nichtsNeues. Ich will Ihnen wenige Zeilen aus diesem Roman
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Wolfgang Gehrcke
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vorlesen; denn dort begründet sich die gemeinsame Ver-antwortung, die wir haben. Remarque schreibt:Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehenzwei Tage früher an die Front. Auf dem Wege pas-sieren wir eine zerschossene Schule. An ihrerLängsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hoheMauer von ganz neuen, hellen, unpolierten Särgen.Sie riechen noch nach Harz und Kiefern und Wald.Diese Särge warteten auf die Soldaten, auf die Franzosenund auf die Deutschen.Ich möchte, dass von unserem Parlament eine deutli-che Botschaft ausgeht: „Nie wieder!“ Für dieses „Niewieder!“ muss man aktiv zusammenarbeiten.
Eingegraben in mein Gedächtnis haben sich auch Ge-spräche mit meinem jüdischen deutsch-französischenFreund, dem Kommunisten Peter Gingold. Von den Na-zis verfolgt, nach Frankreich geflohen, kämpfte er in derRésistance gegen die deutsche Besatzung und somit fürDeutschland. Peter Gingold hat in Frankreich eine hoheAuszeichnung erhalten, seine Tochter in DeutschlandBerufsverbot. Auch das ist Teil der deutsch-französi-schen Geschichte, über die wir gemeinsam nachdenkenmüssen. Geschichte wird oft dargestellt als eine Ge-schichte großer Männer, seltener großer Frauen – warumeigentlich?Wir können de Gaulle und Adenauer für den Élysée-Vertrag loben; doch zur Geschichte gemacht haben ihnJugendliche, die Schlagbäume und Grenzpfähle ein-rissen, die sich ernsthaft mit der Vergangenheit ausei-nandersetzten oder offen für ihre Nachbarn waren. DieMenschen haben den Weg zur deutsch-französischenFreundschaft geebnet, und die Politik ist ihnen gefolgt.Ich finde das gut so.
Wie lebendig können wir von sozialen Bewegungen undArbeiterkämpfen in Frankreich lernen, von ihrem Geistdes Widerspruchs und des Spotts über Autoritäten! AlsJugendlichen hat mich 1968 mitten im brodelnden Parisder Aufstand der jungen Generation, der Arbeiter undIntellektuellen mitgerissen. Er kam dann über den Rheinzu uns. Die ersten Anstöße für eine multikulturelle Ge-sellschaft kamen aus Frankreich, bevor sie auch uns ein-holte. Gelöst haben wir beide diese Aufgabe nicht.Ich hätte in der Erklärung, die wir annehmen werden,gerne die Sätze gesehen: Es gilt, Rassismus, Antisemitis-mus und Neofaschismus konsequent entgegenzutreten.Eine nachhaltige Kultur des Friedens, der Demokratieund der sozialen Sicherheit liegt im Interesse der Bevöl-kerungen Frankreichs und Deutschlands. – Auch wenndiese Sätze nicht in der Erklärung stehen, sollten beideParlamente doch in diesem Geiste zusammenarbeiten.Wenn wir uns die Realität ansehen, dann erkennenwir, dass eine solche Verpflichtung angesichts derrechtsextremen Mordserie bei uns bitter notwendig ist.Zusammen mit meinen kurdischen und französischenFreundinnen und Freunden trauere ich über den bestiali-schen Mord an den drei kurdischen Politikerinnen in Pa-ris. Auch diese gemeinsame Trauer muss zu unserer Ge-schichte gehören.
Deutschland und Frankreich haben jeweils eine kolo-niale Geschichte. So etwas prägt die Kolonialmächte ge-nauso wie die Unterdrückten. Noch immer berührenmich die wundervollen Gedichte, die Ho Chi Minh überFrankreich geschrieben hat, gegen das er doch kämpfte.Wie viele Französinnen und Franzosen, wie viele Deut-sche waren solidarisch mit den Befreiungskämpfen inAlgerien, Marokko, in Tunesien und Vietnam! Auch dasist etwas, was uns verbindet.Umso betrüblicher ist es für mich und meine Fraktion– ich sage das in voller Übereinstimmung mit der franzö-sischen Friedensbewegung und der französischen Lin-ken –, dass sich die französische Regierung zur Militär-intervention in Frankreichs ehemaliger Kolonie Malientschlossen hat. Deutschland und Frankreich könnenviel gemeinsam leisten, aber bitte sehr zivil und mit im-mer weniger Waffen in dieser Welt.
Ich habe mit Erich Maria Remarque begonnen undmöchte Ihnen zum Schluss noch einen anderen für michgroßen Deutsch-Franzosen zitieren. Karl Marx hat 1844geschrieben, der deutsche Auferstehungstag werde durchdas Schmettern des gallischen Hahnes verkündet. Viel-leicht könnten wir Karl Marx heute in Gedanken sagen,dass der gallische Hahn zu der Wiederauferstehung deseuropäischen Gedankens, einer Europäischen Union desFriedens, der Demokratie und der sozialen Gerechtig-keit, schmettern wird: Ein anderes Europa ist möglich! –Ein solches anderes Europa wollen wir gemeinsam mitFrankreich erreichen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Frithjof Schmidt,Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-erst möchte ich Ihnen, Herr Präsident, einmal danken.Dass wir heute vor dem Hintergrund einer gemeinsamenErklärung der Französischen Nationalversammlung unddes Deutschen Bundestages zur Unterzeichnung desÉlysée-Vertrages vor 50 Jahren debattieren, ist auchganz wesentlich Ihrem Einsatz zu verdanken. Das ist eingutes Symbol für das europäische Zusammenwachsenunserer beiden Länder.
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26620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Dr. Frithjof Schmidt
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Ich finde es besonders wichtig, dass wir uns mitten ineiner tiefen europäischen Krise vergewissern, welcheentscheidende Bedeutung die deutsch-französischen Be-ziehungen haben. Dass wir nach einer langen Geschichtevon Rivalität und Kriegen, von deutscher Aggressionund von den Verbrechen der Nationalsozialisten nichtnur Partner, sondern europäische Freunde werden konn-ten, ist das politische Wunder am Rhein im 20. Jahrhun-dert – nicht weniger als das.
Dafür gebührt vor allem den Französinnen und Fran-zosen Dank. Es war Frankreich, das nach den deutschenVerbrechen im Zweiten Weltkrieg, nach den Gräueltatenvon Deutschen in Frankreich, bereit war, einen Neuan-fang in den deutsch-französischen Beziehungen anzuge-hen. Westdeutschland wurde als europäischer Partner ak-zeptiert. Das war eine große politische Geste. Es warauch eine strategische Entscheidung, die den Weg zurEuropäischen Union geebnet hat.Am Anfang stand 1950 der Schuman-Plan, der 1952zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, derMontanunion, geführt hat. 1957 kamen dann die Römi-schen Verträge über eine Europäische Wirtschaftsge-meinschaft. Aber erst der Élysée-Vertrag hat mit derdeutsch-französischen Aussöhnung den Durchbruch füreine neue Qualität des europäischen Zusammenwach-sens gebracht.
Ich sage: Diese politische Weitsicht de Gaulles hat eineentscheidende Grundlage für Frieden und Integration inEuropa geschaffen, und das werden wir nicht vergessen.Ich finde es sinnvoll, hier einmal kurz zu erwähnen,welche Auswirkungen der Élysée-Vertrag auf mich ganzpersönlich hatte.Meine Jugend fand im alten Westdeutschland statt. Inder zweiten Hälfte der 60er-Jahre haben wir in derSchule Theaterstücke und Texte von Jean-Paul Sartreund Albert Camus gelesen. Dass die in die Lehrpläne ge-kommen sind, war eine Konsequenz des Élysée-Vertra-ges. Die große Politik hatte unten ganz praktische Wir-kung gezeigt. Da wurden eine Sicht auf die Welt und einLebensgefühl vermittelt, die es so in Deutschland – zu-mindest in meiner Wahrnehmung – damals kaum gab.„Existenzialismus“ war das schillernde Zauberwort, daseine ganze Welt der Kultur und auch der politischen Kul-tur neu eröffnet hat.Dann gab es ein Austauschprogramm zwischen mei-nem Gymnasium und einem französischen Gymnasiumin der Normandie. – Auch eine Auswirkung des Élysée-Vertrages. 14 Tage fuhr eine deutsche Gruppe nachFrankreich, 14 Tage kam eine französische Gruppe nachDeutschland – 14 Tage, die für uns die Welt veränderthaben. Seitdem habe ich auf die Frage nach einer mögli-chen zweiten Heimat immer spontan „Frankreich“ ge-antwortet. Deswegen bin ich zutiefst davon überzeugt,dass Partnerschafts- und Austauschprogramme, undzwar nicht nur für Studentinnen und Studenten, sondernfür alle Jugendlichen, ganz zentral sind.
Wir müssen sie ausbauen und verbreitern. Da gibt eseine Menge zu tun.Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zur Be-deutung von Frankreich und Deutschland in der europäi-schen Familie machen.Frankreich und Deutschland verfügen zusammenüber mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes derEuropäischen Union. Das gibt uns objektiv gemeinsameine besondere Verantwortung. Wirkungsvolle Entwick-lung und Fortschritt gibt es vor diesem Hintergrundnämlich nur, wenn Franzosen und Deutsche an einemStrang ziehen. Das geht nur gemeinsam mit allen ande-ren Partnern, aber es geht nicht ohne die beiden zusam-men.Allerdings dürfen sie nicht der Gefahr erliegen, einDirektorium zu bilden.
Deswegen kommt der gemeinsamen Kooperation mit al-len Partnerländern, gerade auch mit den wirtschaftlichkleineren Partnerländern, eine besondere Bedeutung zu.Wenn das nicht beherzigt wird, dann ist das kontrapro-duktiv. Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheitdurchaus Beispiele.
Die Verteidigung wichtiger politischer, sozialer undökologischer Errungenschaften Europas ist eine ent-scheidende Herausforderung in der Globalisierung. Da-her gibt es objektiv ein überragendes Eigeninteresse derMitgliedstaaten der Europäischen Union, sich gemein-sam weiterzuentwickeln und die Union zu vertiefen.Deutschland und Frankreich markieren dabei ganz unter-schiedliche Ausprägungen der Demokratie. Das heißtnicht etwa besser oder schlechter, sondern eben anders.Manche Experten bezeichnen das Modell in Frankreichals eine Exekutivdemokratie oder Präsidialdemokratieund das in Deutschland als eine parlamentarische Demo-kratie. Das führt in der Praxis zu ganz unterschiedlichenDiskursen über Entscheidungsprozesse, ihr Tempo, ihreKontrolle, ihre Umsetzung, und das führt gelegentlichauch zu Missverständnissen.Ich glaube, dass keines der beiden Modelle eine Lö-sung für die Vertiefung der Demokratie in der Europäi-schen Union darstellt. Vielleicht muss es ein Kompro-miss aus beiden Modellen sein, der Europa den Wegweist. Vielleicht ist das ja die zeitgemäße Form der Fort-schreibung des Élysée-Vertrages im 21. Jahrhundert. Daswäre ein großes Thema für die weitere Diskussion zwi-schen den beiden Parlamenten und Regierungen über dieVertiefung der Europäischen Union. Diese Unionbraucht eine Vertiefung, wenn sie sich in der Globalisie-rung auf lange Sicht selbst behaupten will.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26621
Dr. Frithjof Schmidt
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Danke für die Aufmerksamkeit.
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass der Élysée-Vertrag eine so fundamentale Bedeu-tung für die europäische Integration erlangen würde, warbei der Unterzeichnung am 22. Januar 1963 in Parisnicht absehbar. Im Gegenteil! Dieser Vertrag war geradein Deutschland heftig umstritten. Die Atlantiker habenim Gegensatz zu den Gaullisten befürchtet, dass ein bila-teraler Vertrag mit Frankreich zulasten der transatlanti-schen Partnerschaft gehen könnte. Eine Besorgnis, diesich nicht bewahrheitet hat.Dieser Vertrag hat aber nicht nur den bilateralen Be-ziehungen zwischen Deutschland und Frankreich einenRahmen gegeben. Vor allem ist es damit gelungen, aufnur fünf Seiten die Grundlagen für Versöhnung, für Zu-sammenarbeit, für Frieden in Europa zu schaffen. DieserVertrag prägt die Entwicklungslinien der gesamten euro-päischen Integration bis heute. Das war und bleibt dasmaßgebliche Verdienst von zwei großen Staatsmännern,des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulleund des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer.Es gibt auf der Welt kaum zwei Staaten, die so engeBeziehungen pflegen wie Deutschland und Frankreich.Das ist das Ergebnis einer in der Geschichte bisher ein-maligen Aussöhnung ehemaliger Erbfeinde, wobei ichzu denen gehöre, die das Wort „Erbfeinde“ nur in Anfüh-rungszeichen verwenden; denn die Versöhnung zwi-schen Deutschen und Franzosen beweist: Feindschaft istnicht erblich.
Feindschaft sitzt nicht in den Genen, sondern in denKöpfen. Feinde können Freunde werden, wenn sie esdenn wirklich wollen. Feindschaft kann also überwun-den werden. Wir, Deutsche und Franzosen, haben sieüberwunden. Das ist die zentrale und bis heute aktuelleBotschaft des Élysée-Vertrags für Europa und die Welt.Aber Freundschaft ist auch nicht vererbbar. Freund-schaft muss gepflegt werden. Freundschaft muss ständigerneuert werden. Deswegen geht es darum, die Freund-schaft zwischen Deutschen und Franzosen Jahr für Jahrlebendig zu erhalten und von Generation zu Generationweiterzuentwickeln. Das ist unser gemeinsamer Auftragaus 50 Jahren Élysée-Vertrag.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir habennicht nur auf der Ebene der Regierungen ein eng ge-knüpftes Netz zwischen Deutschland und Frankreich,sondern wir haben auch in vielen Kommunen, in denLändern im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und beider Sprachförderung eine enge Kooperation. Circa300 deutsch-französische Vereinigungen, regionale Part-nerschaften, kommunale Partnerschaften: All das bildetein starkes Wurzelgeflecht zwischen unseren Bürgern.Wir haben uns auch seitens des Deutschen Bundestagesund der Assemblée nationale im Februar 2010 eine ge-meinsame deutsch-französische Agenda 2020 gegeben,mit der wir 80 neue Projekte der Zusammenarbeit biszum Jahr 2020 umsetzen wollen.Dass die Jugendarbeit einen besonderen Stellenwertin unseren Beziehungen hat, ist von nahezu allen Vorred-nern zu Recht betont worden. In diesem Zusammenhangkann die Leistung des Deutsch-Französischen Jugend-werkes nicht genug gewürdigt werden. Seit 1963 habendie Programme des Deutsch-Französischen Jugendwer-kes mehr als 8 Millionen Teilnehmer erreicht. DieserAustausch zwischen deutschen und französischen Ju-gendlichen bleibt eine wesentliche Voraussetzung füreine gute Entwicklung unserer künftigen bilateralen Be-ziehungen und für die Entwicklung der europäischen In-tegration. Deswegen will ich den jungen Leuten zurufen:Bewahrt euch eure Neugier aufeinander, und bewahrteuch das Interesse füreinander!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die engeVerbindung zwischen Frankreich und Deutschland istumso höher einzuschätzen, als wir aus teilweise sehr un-terschiedlichen Traditionen kommen, beispielsweise wasunsere Auffassungen von Wirtschaftspolitik betrifft, dieAusgestaltung des politischen Systems, der Parteien-landschaft, den Stellenwert von Religion, das Bildungs-system und viele andere Dinge mehr. Aber genau weilunsere Ausgangsvoraussetzungen so unterschiedlichsind, hat unsere Zusammenarbeit, hat unsere Verständi-gung einen so hohen Stellenwert, nicht nur für die bilate-ralen Beziehungen, sondern auch für die europäischeIntegration insgesamt. Das ist der Grund, weshalbDeutschland und Frankreich zu Pionieren und zur Trieb-feder der europäischen Integration geworden sind. ObBinnenmarkt, Schengen-Abkommen, Wirtschafts- undWährungsunion, Gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik: Alle wegweisenden europäischen Initiativen derletzten Jahre und Jahrzehnte wären ohne den engenSchulterschluss zwischen Deutschland und Frankreichundenkbar gewesen.Wir wissen freilich auch, dass eine Einigung zwi-schen unseren beiden Ländern alleine die Kompro-missfindung auf europäischer Ebene noch nicht ersetzt,sondern dass sie dafür eher ein Ausgangspunkt ist. Des-wegen müssen wir betonen: Die deutsch-französischeKooperation im Rahmen der Europäischen Union warnie als Bevormundung zu verstehen, sondern es war im-mer eine Einladung zur Zusammenarbeit an alle. Ichwürde es deswegen begrüßen, wenn wir unsere Bezie-hungen auch zu anderen Partnern der Europäischen
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26622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Thomas Silberhorn
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Union wie Italien oder Polen vertiefen, die ihrerseitseine integrierende Wirkung in ihrem regionalen Umfeldentfalten können. Wir haben mit dem Weimarer Dreieckdafür ein Format, das sich zwischen Deutschland, Frank-reich und Polen etabliert hat. Das ist das Zeugnis einesgelungenen Aussöhnungsprozesses zwischen Deutsch-land und unseren beiden größten europäischen Nachbarnim Westen und im Osten.Meine Damen und Herren, es fehlt nicht an Themenfür die künftige Zusammenarbeit zwischen Deutschlandund Frankreich: die Weiterentwicklung der Wirtschafts-und Währungsunion, die Stärkung der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik, die Energiepolitik unddie Luft- und Raumfahrtindustrie. Bei all diesen Themengilt es, im Geiste des Élysée-Vertrages unsere Partner-schaft immer wieder mit Leben zu erfüllen. DiesesSignal sollten wir in der nächsten Woche bei der gemein-samen Sitzung der Assemblée nationale mit dem Deut-schen Bundestag hier in Berlin geben. Ich freue mich da-rauf.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Axel Schäfer für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind in diesem Parlament geteilt, nämlich in fünf ver-schiedene Fraktionen, richtigerweise; wir sind aber auchvereint in vielen gemeinsamen Überzeugungen. Geradeheute sollte Anlass sein, dieses deutlich zu machen.Dass wir alle miteinander die deutsch-französischeVerständigung, besser gesagt die deutsch-französischeFreundschaft, als unverrückbare Grundlage unserer eige-nen Politik verstehen, ist einer der ganz großen Erfolgeder Politik der letzten 50 Jahre. Dann gehört es sich auchfür einen Sozialdemokraten, einen Christdemokratenwie Konrad Adenauer ausdrücklich zu loben. Auch dassollte in diesem Hause selbstverständlich sein.
Da wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind,kommt es gerade auch heute darauf an, auf wichtige par-lamentarische Entwicklungen, die etwas mit Deutsch-land, Frankreich und Europa zu tun haben, noch einmalausdrücklich hinzuweisen.Erstens. Wir, das heißt unsere Vorgängerinnen undVorgänger, haben es nach vielen Debatten im DeutschenBundestag – und das war sicherlich auch unter den Kol-leginnen und Kollegen der Assemblée nationale streitig– auf Basis einer Initiative des sozialdemokratischenKanzlers Helmut Schmidt und des französischen Staats-präsidenten Giscard d’Estaing hinbekommen, dass erst-mals ein Parlament über Ländergrenzen hinaus direktgewählt wird, nämlich 1979 das Europäische Parlament.
Das war eine Jahrhundertentscheidung für die parlamen-tarische Demokratie, und die hat etwas mit dieser sehrintensiven, vertrauensvollen Zusammenarbeit – auch aufparlamentarischer Ebene – mit Deutschland und Frank-reich zu tun. Das sollten wir gerade an diesem Tag nocheinmal unterstreichen.
Wir sollten auf ein Zweites hinweisen, weil auch daszu oft vergessen wird: Die Realisierung der deutschenVereinigung – das heißt, der rechtliche Akt, wie dieDDR der Bundesrepublik beigetreten ist – war nur mög-lich, weil in Europa ein kluger und solidarischer Kom-missionspräsident, der französische Sozialist JacquesDelors, zusammen mit dem Europäischen Parlament einVerfahren gewählt hat – es war eine dänische Kollegin,die das dann organisiert hat –, das keine jahrelangen Bei-trittsverhandlungen über die Integration voraussetzte,die wir sonst hätten führen müssen und die uns unge-heure rechtliche Schwierigkeiten bereitet hätte. Dadurchist die Wiedervereinigung auf sehr sanfte, vor allen Din-gen auf sehr zügige und sehr auf Gemeinschaft angelegteWeise möglich geworden. Das war für die deutsche Wie-dervereinigung 1990 eine ganz wichtige Voraussetzung.Gleichzeitig war es eine ganz wichtige Aussage, dassauch Kolleginnen und Kollegen aus der früheren DDR,vom Bundestag entsandt, ins Europäische Parlament ka-men. Das war ein Novum in der parlamentarischen De-mokratie und auch ein Ausdruck der deutsch-französi-schen Zusammenarbeit zwischen den Ländern und imParlament.
Drittens. Wir müssen uns jetzt, wo die staatliche unddie institutionelle Zusammenarbeit außer Frage steht,selbstkritisch fragen, wie wir die parlamentarische undauch die parteipolitische Zusammenarbeit verbessernkönnen, weil das das Fundament ist, auf das wir dienächsten Jahrzehnte gründen. Wir haben gelernt, dass esgut ist, sich auf deutsch-französischer Ebene zu verstän-digen. Christdemokraten haben gelernt, sich mit denjeweiligen Parteiformationen zusammen- und auseinan-derzusetzen. Das gilt für die Liberalen in Frankreich si-cherlich genauso. Ich fand es gut, dass die Grünen inPerson von Daniel Cohn-Bendit ausprobiert haben, wiees ist, wenn man sowohl in Deutschland als auch inFrankreich kandidiert; das war ganz wichtig. Ich fand esauch wichtig, dass die Linkspartei bei einer Reihe vonProblemen Resolutionen gemeinsam mit ihren französi-schen Bruder- und Schwesterorganisationen vorgelegthat. Natürlich können Sie nicht erwarten, dass ich diesenimmer zustimme.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26623
Axel Schäfer
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Aber es ist wichtig, dass man so etwas praktiziert.Ich erinnere daran, dass wahrscheinlich das erste ge-meinsame parlamentarische Gesetzgebungsprojekt inEuropa hier im Deutschen Bundestag 2011 gestartetworden ist. Das war die Gesetzgebungsinitiative derSPD zur Finanztransaktionsteuer, die am selben Tag vonder Parti socialiste in der Assemblée nationale gestartetwurde. Ich bin froh, dass wir nach dieser Initiative unddem Regierungswechsel in Frankreich das auch prak-tisch vorangebracht haben. Das zeigt die deutsch-franzö-sischen und auch die europäischen Gemeinsamkeiten.
Viertens. Unabhängig von meiner parteipolitischenPräferenz wünsche ich mir, dass alle hier im Saal dieMöglichkeiten nutzen, die Beziehungen zu Frankreichüber Städtepartnerschaften hinaus auszubauen. Für michwar es eine außergewöhnliche Erfahrung, im letzten Jahrim Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich aufzutre-ten. Man ist dann auch gezwungen, seine Französisch-kenntnisse zu aktivieren und einiges neu zu erlernen; daswar wichtig. Das haben Frank Steinmeier, PeerSteinbrück, Sigmar Gabriel, Martin Schulz und andereAbgeordnete der SPD ebenfalls gemacht. Ich appellierean die anderen Parteien und Fraktionen, sich daran einBeispiel zu nehmen. Denn das macht deutlich: Ja, wirsind Deutsche und Franzosen, aber wir gehören inEuropa zu verschiedenen Parteifamilien. – Das führt zurFestigung des Fundaments, oder, wie es der bedeutendeFranzose Jean Monnet gesagt hat: Es geht immer um dieSolidarität der Tat. – Das sollten wir jeden Tag aufs Neuepraktizieren.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Luksic für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was würden wir heute der Jugend sagen? General deGaulle hat seine Vision zu Deutschland, Frankreich undEuropa in Ludwigsburg grandios dargelegt. Ich bin derfesten Überzeugung: Wir brauchen jetzt eine neueErzählung, eine neue Vision für Europa. Der Élysée-Vertrag ist das Fundament der deutsch-französischenErfolgsgeschichte, die uns Frieden, Freiheit und Wohl-stand gebracht hat. Wir müssen sie jetzt ergänzen umneue, konkrete deutsch-französische Projekte.Adenauer und de Gaulle hatten eine klare Vision vonEuropa. Nach Ende des Krieges und der Rivalitäten warder Vertrag ein historischer Schritt hin zu einer neuen,friedlichen Zukunft. Heute sind aber die Erinnerungenan Konflikte und Kriege nicht mehr so präsent. Der Rufnach Frieden und Sicherheit ist nicht mehr allzu laut.Dementsprechend muss sich auch die Botschaft derdeutsch-französischen Freundschaft in unserer Zeit einStück weit wandeln. Im Europa der 27 mit stärkerensupranationalen Institutionen haben die deutsch-franzö-sischen Beziehungen am Anfang ein Stück weit anBedeutung verloren. Aber gerade die Euro-Krise hatgezeigt: Die Zusammenarbeit beider Länder wurde wie-der gestärkt. Eine starke Freundschaft ist und bleibtwichtig. Europa braucht gerade jetzt mitten in der Euro-Krise einen starken deutsch-französischen Motor.
Nach dem von Europa geprägten 19. und dem ehervon Amerika geprägten 20. Jahrhundert wird nun Asieneine wichtige Rolle spielen. Da Europa bald nur noch7 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert, brauchenwir ein wirtschaftlich und politisch starkes, vereintesEuropa. In Deutschland haben wir es mit wachsenderEuro-Skepsis zu tun; das hat man auch in Frankreich,Stichwort „Ablehnung der EU-Verfassung“. Wir sehen,dass gerade unter jungen Menschen ein Stück weit Miss-trauen gegenüber Europa herrscht. Dagegen muss manangehen; denn wie de Gaulle richtig erkannt hat, brau-chen wir gerade die jungen Generationen, um einestabile Zukunft zu schaffen. In diesen Generationenmuss auch der europäische Patriotismusgedanke einestärkere Rolle spielen; denn Europa hat seinen Preis. Wirmüssen aber auch stärker seinen Wert erkennen. Wer einvereintes Europa will, der muss auch Bewusstsein fürdie Werte schaffen, die uns hier in Europa von allen an-deren Regionen der Welt unterscheiden. Ich glaube, aufdie europäische Erfolgsgeschichte können wir hier imDeutschen Bundestag wirklich stolz sein.
Wir müssen dringend Projekte stärker fördern, dieeine deutsch-französische Zusammenarbeit direkt er-fahrbar machen, gerade in den Grenzregionen. Hierfunktioniert das „deutsch-französische Labor“ am bes-ten. Projekte zwischen weit entfernten Regionen machenwenig Sinn. Deswegen müssen wir uns hier auf dieGrenzregionen fokussieren, und wir müssen das Ver-ständnis der Länder füreinander stärker fördern. Geradedie neueste Umfrage des SR in Zusammenarbeit mitARD, Arte, Deutschlandfunk und Radio France hat ge-zeigt, wie sich das Deutschland- und das Frankreichbildauf beiden Seiten des Rheins geändert hat.Verständnis für beide Seiten kommt nicht nur durchparlamentarische Treffen, durch Regierungszusammen-arbeit zustande, sondern vor allem dann, wenn unsere Ge-sellschaften zusammenkommen. Verständnis kommtdurch mehr gemeinsame konkrete Projekte zustande. Ins-besondere im Bereich Bildung/Kultur haben wir einige
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26624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Oliver Luksic
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Erfolge vorzuweisen, an die wir anknüpfen müssen: diedeutsch-französischen Gymnasien – ich durfte sie besu-chen –, die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrü-cken, Austauschprogramme des Deutsch-FranzösischenJugendwerkes, „Erasmus“-, „Sokrates“-Programme. DieseProgramme laufen gut und müssen jetzt durch Alumni-netzwerke ergänzt werden.Aber wir haben noch viel Verbesserungsbedarf.Schauen wir uns einmal den Arbeitsmarkt an. Wir habenbei uns in Deutschland in vielen Regionen Fachkräfte-mangel. Gerade im deutsch-französischen Grenzbereich,in Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch.Gleichzeitig nehmen die Sprachkompetenzen – es wurdeeben zu Recht angesprochen – eher ab als zu. Deswegenmüssen wir Schritte hin zu einem deutsch-französischenAusbildungs- und Arbeitsmarkt gehen. Die Abschlüs-se müssen gegenseitig besser anerkannt werden. DerSpracherwerb muss gestärkt werden. Das wären kon-krete Vorteile, die gerade junge Menschen, deutsche undfranzösische Jugendliche, am eigenen Leib erfahrenwürden.
Ein anderes Thema ist die grenzüberschreitende me-dizinische Versorgung, die in der Praxis immer nochnicht funktioniert. Wenn man auf der französischen Seiteeinen Herzinfarkt hat und sich in Deutschland behandelnlassen will, funktioniert das eben immer noch nicht imHinblick auf Krankenkassen und andere Institutionen.Das muss sich ändern, wenn wir Europa wirklich erfahr-bar machen wollen.Wir brauchen mehr Leuchtturmprojekte im BereichForschung und Entwicklung. Frankreich ist und bleibtunser wichtigster Handelspartner. Unsere Basis fürWohlstand auf beiden Seiten des Rheins sind Forschungund Entwicklung. Da müssen wir neue Leuchtturm-projekte schaffen. Das ist wichtig für das Europa vonmorgen.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Die deutsch-französischen Beziehungen haben immer Höhen undTiefen gehabt. Im Europa der 27 brauchen wir in der Tatnoch stärker das Weimarer Dreieck. Wir brauchen jetztaber vor allem einen deutsch-französischen Motor, derImpulse liefert, weil Europa eben nicht das Problem ist,sondern die Lösung. Wir müssen stärker neue Chancenschaffen für junge Menschen. Wir brauchen Projekte mitMehrwert für beide Seiten des Landes, gemeinsame Aus-bildungen, einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, Leucht-turmprojekte in Forschung und Entwicklung, konkreteProjekte in den Grenzregionen. Denn nur wenn wir neueWege einschlagen, können wir Frieden, Freiheit undWohlstand für die junge Generation in Deutschland,Frankreich und Europa auch in den nächsten 50 Jahrenschaffen und erhalten.Vielen Dank.
Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der
Kollege Andrej Hunko.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch dieLinke bezieht sich positiv auf die deutsch-französischeAussöhnung. Sie erkennt auch die Bedeutung derÉlysée-Verträge, die vor 50 Jahren geschlossen wordensind. Wir beziehen uns maßgeblich – auch positiv – aufdie zivilgesellschaftlichen Komponenten.Ich selbst war als Jugendlicher mit elf, zwölf Jahrenals Mitglied der C-Jugend einer Fußballmannschaft Teileines Austauschprogrammes. Ich erinnere mich sehr gutan die Atmosphäre in der französischen Gastfamilie, dieuns aufgenommen hat. Ich habe gespürt, welche Bedeu-tung dieser Austausch für sie hatte und welche Überwin-dung dahinter stand angesichts der drei Kriege, dievorangegangen waren. Ich bin sehr dankbar, dass ichdiese Möglichkeit hatte.Für uns Linke hat die deutsch-französische Koopera-tion allerdings eine längere Geschichte. Ich will erinnernan die Französische Revolution 1789, an die Ideen, dieüberhaupt die Grundlage auch für eine moderne Linkegebildet haben, an die utopischen Sozialisten Anfang des19. Jahrhunderts, die die Arbeiterbewegung und dieLinke in Deutschland im 19. Jahrhundert stark beein-flusst haben. Ich will erinnern an die Pariser Communemit ihrer Praxis der direkten Demokratie, und ich willerinnern an die antimilitaristischen Traditionen insbe-sondere im Ersten Weltkrieg und an die Résistance imZweiten Weltkrieg. All das waren Vorgänge, Ideen, diestarken Einfluss auf linke Bewegungen in Deutschlandhatten.
Aber auch in der jüngeren Geschichte hat es auslinker Perspektive Wechselwirkungen gegeben. DieGründung der globalisierungskritischen OrganisationAttac ist in Frankreich vollzogen worden. Das linkeNein zum Verfassungsvertrag 2005, die gute Zusammen-arbeit der Linken in den Comités du NON haben starkenEinfluss gehabt auf die Gründung unserer Partei inDeutschland, auf das Projekt einer pluralen Linken. Um-gekehrt hat diese Gründung Einfluss gehabt auf dieGründung der Front de gauche in Frankreich. Das sindwichtige Bezugspunkte für uns, und an derlei werdenwir auch in Zukunft sehr stark arbeiten.Aktuell werden Frankreich und der französischePräsident von den internationalen Finanzmärkten sehrstark unter Druck gesetzt. Davon betroffen sind diehöher entwickelte französische Sozialstaatlichkeit, derMindestlohn von 9,40 Euro, der in Frankreich existiert,das höher entwickelte Sozialsystem. Diesem Druckmüsste sich eine deutsch-französische Solidarität entge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26625
Andrej Hunko
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genstellen, statt dass man sich gemeinsam in militärischeAbenteuer stürzt.
Ich freue mich, dass wir in der nächsten Woche hierauch die Kolleginnen und Kollegen der Front de gauchebegrüßen können. Für uns ist die deutsch-französischeZusammenarbeit von links sehr wichtig; Axel Schäferhat es eben erwähnt. Wir haben eine Reihe von gemein-samen Anträgen gestellt, und wir werden das in Zukunftweiter intensivieren; denn wir sind zutiefst davon über-zeugt, dass wir einen deutsch-französischen Motor vonlinks brauchen für eine andere Entwicklung in Europa,für ein anderes, ein soziales und friedliches Europa.Daran werden wir in Zukunft sehr intensiv arbeiten.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kollege Schockenhoff hat vorhin schon einiges Richtige
zum Friedensnobelpreis gesagt, über den wir uns alle
freuen können und dessen Kernelemente die deutsch-
französische Aussöhnung und damit natürlich der
Élysée-Vertrag von 1963 sind. Aber ebenso wie der
Friedensnobelpreis hatte auch der Élysée-Vertrag seine
Vorgeschichte. Es war 1950, als der Schuman-Plan
präsentiert wurde, ein mutiger und zugleich genialer
Plan; denn es sollte fortan das unter eine gemeinsame
Verantwortung mit einer gemeinsamen Behörde gestellt
werden, was jahre-, jahrzehnte-, vielleicht sogar jahr-
hundertelang die Ursache militärischer Konflikte und
Kriege war. Es gab unter anderem eine gemeinsame
Verantwortung für Rohstoffe.
Man muss auch hier die Vorgeschichte bedenken: Es
waren damals mutige Männer wie Präsident de Gaulle
und Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanz-
ler, die sich über den Trümmerbergen von Europa die
Hände reichten. Deswegen ist es in gewisser Weise,
wenn man so möchte, posthum auch ihr Friedensnobel-
preis.
Auch damals gab es natürlich Schwierigkeiten, etwa
was die Präambel anging; Kollege Silberhorn hat darauf
hingewiesen. Deutschland wollte die neue deutsch-fran-
zösische Achse haben, wie sie danach vielfach bezeich-
net wurde, aber nicht unter Preisgabe der Beziehungen
zu Großbritannien und den USA. Präsident de Gaulle
sprach in Ansehung der Präambel sogar von einer Ent-
wertung des Vertrages. Die Geschichte sollte aber ande-
res lehren.
Die drei Kernelemente waren: regelmäßige Konsul-
tationen der Regierungschefs, Aufbau eines deutsch-
französischen Jugendwerks und natürlich gemeinsame
Zielsetzungen im Bereich der Außenpolitik und der Si-
cherheitspolitik. Gerade Letzteres zeigt, dass der Élysée-
Vertrag auch 50 Jahre nach seiner Unterzeichnung noch
eine Menge an Potenzial hat.
Ja, es ist viel passiert. Viele erinnern sich vermutlich
noch daran, dass es hieß: Die Schlagbäume müssen
brennen zwischen Frankreich und Deutschland. – Es
wurde die Abschaffung der Grenzkontrollen gefordert.
Und siehe da: Jahre später konnten wir mit der Realisie-
rung des Schengen-Raums tatsächlich den Wegfall der
Grenzkontrollen feiern – eine der ganz großen europäi-
schen Errungenschaften, weil es unsere Bürgerinnen und
Bürger zusammenbringt.
Ich darf auch daran erinnern, dass es unter den dama-
ligen Staatsministern Hoyer und Lellouche ein 80-
Punkte-Programm gab, das noch abgearbeitet werden
muss.
Aber auch wir selbst als Parlament müssen eine en-
gere deutsch-französische Zusammenarbeit suchen. Der
Europaausschuss des Deutschen Bundestages und die
Kollegen der Assemblée nationale haben im Januar 2011
eine gemeinsame Delegation gebildet und sind nach
Kroatien gereist. Wir werden das im April wiederholen;
Ziel ist diesmal Serbien. Vielleicht können wir ja das,
was zwischen Deutschland und Frankreich mit dem
Élysée-Vertrag gelungen ist, was der Kern des Friedens-
nobelpreises war, auch in eine Region des sogenannten
westlichen Balkans hineintragen, sodass es dort genauso
friedenstiftend wirken kann. Genau das macht unsere
Europäische Union aus.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit wurde oft-
mals als Motor bezeichnet: der Motor Europas, der Mo-
tor der europäischen Integration. Aber ein Auto fährt
nicht mit einem Motor allein. Wir brauchen einander, so
wie man auch bei einem Auto alles braucht. Mit Blick
auf andere Länder der Europäischen Union darf man
deswegen auch an einem solchen Tag sagen: Man sollte
nicht vom vierten Gang in den Rückwärtsgang zurück-
schalten, weil man sonst Gefahr läuft, dass einem das
Getriebe um die Ohren fliegt.
Der kommende Dienstag, an dem wir, exakt 50 Jahre
nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, zusam-
men hier in Berlin feiern dürfen, ist ein Tag der Freude,
ein Geschenk der Geschichte und – man darf auch
sagen – ein Rendezvous des Glücks. Lassen Sie uns in
diesem Sinne weiter an einer Vertiefung der deutsch-
französischen Zusammenarbeit arbeiten! Europa braucht
uns und schaut auf uns.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Drobinski-Weiß das Wort.
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26626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ja, Herr Kollege Krichbaum, Sie haben recht: Der
Élysée-Vertrag hat noch Potenzial, auch weibliches.
Die Zukunft, die Zukunft unserer beiden Völker,
der Grundstein, auf welchem die Einheit Europas
gebaut werden kann und muss, der höchste Trumpf
für die freie Welt, bleiben die gegenseitige Ach-
tung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen
dem französischen und dem deutschen Volk.
Diese Worte richtete 1962 der französische Präsident an
die deutsche Jugend.
Mit einem historischen Freundschaftsvertrag setzten
de Gaulle und Adenauer 1963 dann einen Schlussstrich
unter eine Erbfeindschaft, die jahrhundertelang Krieg
und Zerstörung verursachte.
In der Region meines Wahlkreises, in Baden, in der
Nachbarschaft zum Elsass, haben diese Worte eine ganz
besondere Bedeutung. Immer wieder aufs Neue entlud
sich an den Menschen am Oberrhein der nationalistische
Wahn dieser Erbfeindschaft. Das hinterlässt Narben.
Nach langjähriger grenzüberschreitender Zusammenar-
beit haben etwa Straßburg und ihre deutsche Nachbar-
stadt Kehl erst knapp 60 Jahre nach dem Krieg begon-
nen, sich mit baulichen Projekten sichtbar und spürbar
näher zu kommen. Erst jetzt soll die grenzüberschrei-
tende Straßenbahnverbindung erneut entstehen, die es
schon vor 100 Jahren gab, die aber wegen des Ersten
Weltkrieges ein frühzeitiges Ende fand. Erst jetzt wendet
sich Straßburg auch geografisch seiner deutschen Nach-
barin zu und bebaut das Niemandsland, das sie bisher
trennte. Diese Baustellen zeugen davon, dass wir uns bei
den deutsch-französischen Beziehungen längst noch
nicht in einem Stadium der Denkmalspflege befinden,
sondern mitten im Aufbau. Das gilt auch für den Lebens-
alltag der Menschen.
Der Rhein wandelt sich von einer Grenze zu einem
Element, das verbindet. Wo einst Menschen aufeinander
geschossen haben, kommen heute Menschen zusammen
und erleben einen Alltag, der ganz selbstverständlich
grenzüberschreitend ist.
In diesem Alltag stoßen die Menschen auch noch auf
Barrieren. Wer im Nachbarland einkauft, wohnt, stu-
diert, arbeitet oder Familie hat – wer diese Freiheiten im
geeinten Europa wahrnimmt –, bekommt oft Schwierig-
keiten. Beim Steuerrecht oder bei der Gesundheit kön-
nen das existenzielle Fragen sein. Aber auch banale
Dinge können im deutsch-französischen Alltag Ärger
bereiten. So hat zum Beispiel das Zentrum für Europäi-
schen Verbraucherschutz in Kehl jährlich Zehntausende
von Anfragen, Reklamationen und Rechtsfälle aus ganz
Frankreich und ganz Deutschland zu bearbeiten. Im Be-
reich der Verbraucherpolitik hat sich einiges getan. Doch
es bleibt noch mehr zu tun. In anderen Bereichen, zum
Beispiel bei der Mobilität von Patientinnen und Patien-
ten, stehen wir erst am Anfang.
Nach 50 Jahren Freundschaft in einem vereinten Eu-
ropa besteht zu Recht der Anspruch, dass solche Hürden
im Leben der Menschen verschwinden. Wenn wir uns
wünschen, dass Deutsche und Franzosen wieder neugie-
riger aufeinander werden und sich mehr Menschen mit
der Kultur des Nachbarlandes bekannt machen und auch
persönliche Beziehungen knüpfen, dann müssen wir
diese Hürden abbauen.
Ich glaube, wir sind in Deutschland nach wie vor neu-
gierig auf unsere Nachbarn. Das zeigen nicht nur die Er-
folge von französischen Filmen wie „Ziemlich beste
Freunde“ oder „Willkommen bei den Sch’tis“. Seit 1963
– das ist schon mehrfach genannt worden – hat das
Deutsch-Französische Jugendwerk fast 8 Millionen jun-
gen Deutschen und Franzosen die Teilnahme an Aus-
tauschprogrammen ermöglicht. Ich selbst bin eine von
ihnen und konnte auf diesem Weg meine Brieffreundin
in Nantes persönlich kennenlernen und mich dabei und
auch später mit der französischen Kultur und der Spra-
che vertraut machen.
Ich bedaure, dass inzwischen immer weniger Men-
schen die Sprache des Nachbarn tatsächlich erlernen
wollen. Das ist besonders schade, weil gerade heute, im
Gegensatz zu 1963, der Aufwand minimal ist, mit inte-
ressanten Menschen im Nachbarland in Kontakt zu kom-
men, zum Beispiel über Internetdienste wie Twitter.
Immer wieder wurden seit 1963 neue Impulse in der
deutsch-französischen Beziehung gesetzt. Zum 50. Jah-
restag des Élysée-Vertrages wünsche ich mir besonders
im Bereich der Sprache und Verständigung neue Vor-
stöße.
Sehr geehrte Damen und Herren, was bei uns recht
nüchtern deutsch-französischer Motor heißt, das nennen
unsere Nachbarinnen und Nachbarn etwas romantischer
das deutsch-französische Paar – le couple franco-alle-
mand. Ein Paar, das schon 50 Jahre zusammen ist, muss
sich immer wieder neu kennenlernen. „Nichts kommt
von selbst. Und nur wenig ist von Dauer“, hat Willy
Brandt treffend gesagt. Das gilt auch für die gegenseitige
Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen
Frankreich und Deutschland. Diese Werte müssen wir
stets aufs Neue vermitteln und dabei neue Impulse set-
zen. Nur so schaffen wir eine Art Erbfreundschaft, deren
erste 50 Jahre nur der Anfang waren.
Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Andreas Mattfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Élysée-Vertrag hat – wir habenes heute gehört – die Politik und die Beziehungen zwi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26627
Andreas Mattfeldt
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schen Frankreich und Deutschland auf eine Weise verän-dert, wie es nie zuvor der Fall war. Ohne die deutsch-französische Freundschaft, die eben nicht selbstver-ständlich ist, hätte sich auch Europa ganz anders entwi-ckelt.Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass neben denpolitischen und wirtschaftlichen Fakten ein Aspekt imUmgang zwischen Staaten eine besondere Rolle spielt,und das ist der Faktor „Vertrauen“. Aussöhnung könnenwir in schriftlichen Verträgen wie dem Élysée-Vertragbeschreiben; gelebt wird sie durch gegenseitiges Ver-trauen und gegenseitige Achtung.Gerade dieses Vertrauen zwischen beiden Ländernhaben die seinerzeitigen Staatschefs de Gaulle undAdenauer gelebt und – ich möchte fast sagen – zemen-tiert. Sie haben es so zementiert, dass alle nachfolgendenSpitzen beider Länder sich mit großer Hingabe dem ErbeAdenauers und de Gaulles nicht nur verpflichtet fühlten,sondern alle in ihrer ganz persönlichen Art dieses aufge-baute Vertrauen gefestigt und fortentwickelt haben.Meine Damen und Herren, große Politik hat immerauch Auswirkungen auf den ganz persönlichen Bereichder Menschen. Gestatten Sie mir daher einen Schwenkin den privaten Bereich, um zu verdeutlichen, welchepositiven Auswirkungen der Élysée-Vertrag für uns Bür-ger hat.Ich persönlich kann sagen, dass es mich ohne diedeutsch-französische Freundschaft aller Wahrscheinlich-keit nach nicht geben würde. Denn durch die im Élysée-Vertrag vereinbarten Städtepartnerschaften haben sichmeine Eltern 1968 kennengelernt. Leider war aufgrundder Jugend meiner Eltern mein Vater bereits wieder inFrankreich, als ich in Deutschland geboren wurde. Undes sollte 35 Jahre dauern, bis ich meine französische Fa-milie kennenlernen durfte.Ein besonderes Geschenk war für mich, dass ich beimeinem ersten Familienbesuch auch noch meine franzö-sischen Großeltern persönlich kennenlernen durfte. Da-bei war die größte Überraschung, dass mein Opa sofortin einem ausgezeichneten Deutsch mit mir sprach. Allewaren erstaunt, denn niemand, auch nicht in meiner fran-zösischen Familie, wusste, dass er die deutsche Spracheso gut beherrschte; hiervon hatte er nie erzählt.Natürlich fragten wir alle, warum er so gut Deutschkönne, und er erzählte zum ersten Mal von seiner Ver-schleppung durch Nazideutschland in den ersten Kriegs-tagen. Vier Jahre lang musste er in Thüringen in denunterschiedlichsten landwirtschaftlichen Betrieben un-ter – wie wir uns alle vorstellen können – zum Teil er-bärmlichsten Umständen arbeiten.Diese Zeit wollte er verdrängen, und ich hatte Angst,dass er seine schlimmen Erfahrungen mit Deutschlandund den Deutschen auch auf mich übertragen würde.Doch diese Angst war unbegründet; denn er erzählte im-mer wieder, dass durch die Freundschaft von de Gaulleund Adenauer auch Freundschaft zwischen den Men-schen in Deutschland und Frankreich entstanden sei.Man müsse verzeihen können, so seine Worte. Dies warfür die Generation meiner französischen Großeltern si-cherlich nicht selbstverständlich.Verschweigen möchte ich nicht, dass mein Opa mirErlebnisse geschildert hat, die zumindest jemanden ausmeiner Generation sehr nachdenklich machen. Er hataber auch von Begebenheiten erzählt, die Hoffnungmachten – Hoffnung, dass eben nicht alle Deutschen sei-nerzeit die Zwangsarbeiter als reine Sklavenarbeiter sa-hen, sondern einige anders dachten. Meinem Großvaterwurde, wenn auch verbotenerweise, Familienanschlussgeboten. Dennoch ist er nie wieder nach Deutschland ge-kommen.Meine Damen und Herren, für mich waren diese Ge-spräche natürlich hochinteressant. Denn persönliche Er-lebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg kannte ich bis datonur aus Schilderungen meiner deutschen Familienmit-glieder, von denen einige an der französischen Front ein-gesetzt waren. Allein der Gedanke, dass sich mein deut-scher und mein französischer Großvater theoretisch imKrieg hätten töten können, hat schon etwas Unwirkli-ches.Meine Damen und Herren, ich glaube, diese persönli-che Erfahrung macht sehr deutlich, dass gute politischeVerträge wie der Élysée-Vertrag und daraus resultierendeFreundschaften sehr viel Positives für die Menschen be-wirken können. Ganz persönlich freue ich mich, dass ichals Mitglied dieses Hauses und als Mitglied des Haus-haltsausschusses, der auch für das Deutsch-FranzösischeJugendwerk zuständig ist, dazu beitragen konnte, dassdas DFJW erstmals seit seiner Gründung zusätzliche fi-nanzielle Mittel aus Deutschland und – das war für dieFranzosen nicht einfach – auch aus Frankreich erhält.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsamdie deutsch-französische Freundschaft weiter leben, imInteresse eines vereinten Europas, im Interesse nachfol-gender Generationen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/12056 und 17/11879 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensicht-lich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-sen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich insbe-sondere für die liebenswürdigen Hinweise auf die Reso-lution bedanken; einige der Redner haben sie ausdrück-lich angesprochen. Nach dem Verlauf der Debatte habeich den Eindruck, dass wir morgen im Ältestenrat ein-vernehmlich feststellen können, dass dies der gemein-same Text ist, den wir hier in der nächsten Woche mitden französischen Kollegen beschließen wollen.
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26628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann halte ich dasso ausdrücklich fest.Ich mache Sie zweitens darauf aufmerksam, dass Siemorgen in Ihren Fächern die Unterlagen zum Programm-ablauf und zu den einzelnen Veranstaltungen sowie dieZeitpläne finden werden. Ebenso erhalten Sie eine Re-produktion der Originalausfertigung des Élysée-Vertra-ges – er hat heute in dieser Debatte aus guten Gründeneine zentrale Rolle gespielt –, die dieses historische Er-eignis bei jedem von Ihnen gewissermaßen in dauerhaf-ter Erinnerung hält.Schließlich erlaube ich mir den technischen Hinweis– möglicherweise hat es da bei dem einen oder anderenMissverständnisse gegeben –, dass wir in der nächstenWoche zwar keine Sitzungswoche haben, die gemein-same Sitzung mit der Assemblée nationale aber selbst-verständlich ein Sitzungstag des Deutschen Bundestagesist.Dann können wir zum nächsten Tagesordnungspunktkommen. – Ich werde gerade darauf aufmerksam ge-macht, dass sich die von mir soeben aufgerufenen Über-weisungen von Vorlagen auf den Tagesordnungspunktbeziehen, den wir nun erst behandeln wollen. Ich ver-mute, dass das an der nachher zu wiederholenden Be-schlussfassung in der Sache nichts ändern wird. Zu demTagesordnungspunkt, den wir gerade abgeschlossen ha-ben, gab es keine ausdrücklichen Vorlagen.Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 2 abis 2 e:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür eine neue Haltung – Artgerecht statt mas-senhaft– Drucksache 17/12056 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Bettina Herlitzius, Dorothea Steiner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDörfer vor Agrarfabriken schützen – Pla-nungs- und Immissionsrecht verschärfen– Drucksache 17/11879 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Dr. WilhelmPriesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDAntibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senkenund eine wirksame Reduktionsstrategie um-setzen– Drucksachen 17/8157, 17/8611 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannFriedrich Ostendorffd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair,Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKELandwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutz-gerecht, sozial und ökologisch gestalten– Drucksachen 17/10694, 17/11817 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz PaulaHans-Michael GoldmannAlexander SüßmairFriedrich Ostendorffe) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff,Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENHaltungsbedingungen für Puten verbessern– Drucksachen 17/11667, 17/12048 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz PaulaDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairFriedrich OstendorffFür diese Aussprache sind nach einer interfraktionel-len Vereinbarung eineinviertel Stunden vorgesehen. –Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch, sodass wir soverfahren können.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginRenate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieserWoche beginnt die Internationale Grüne Woche. Daszeichnet die Situation aus: Auf der Internationalen Grü-nen Woche – das ist sozusagen die Leistungsschau derLandwirtschaft – wird wahrscheinlich wieder gezeigt,
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Renate Künast
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wie eine Kuh dazu gebracht werden kann, pro Jahr weitmehr als 10 000 Liter Milch zu geben. Zeitgleich wirdhier ganz in der Nähe eine Demonstration unter demMotto „Wir haben es satt!“ stattfinden. Denn es gibt indiesem Land immer mehr Menschen, die sagen: Wir ak-zeptieren nicht mehr, dass mit Tieren so umgegangenwird, dass Tiere nicht mehr artgerecht gehalten werden,sondern nur noch auf Masse gesetzt wird. – In unseremLand gibt es mittlerweile über 200 Bürgerinitiativen, da-von allein 80 im Land Niedersachsen, die sagen: Schlussmit den Megaställen, den Megaschlachthöfen, Schlussmit der Massentierhaltung!
Diese Woche findet noch etwas anderes statt. FrauAigner tut immer so, als sei gar nichts zu verändern, weilalles so gut ist. Der niedersächsische Landwirtschaftsmi-nister ließ sich neulich sogar zu der Behauptung herab,in der Landwirtschaft gebe es gar keinen Veränderungs-bedarf. Ich sage Ihnen aber: Der Druck ist groß. DerDruck ist auch bei Ihnen groß, weil Sie merken, dass dieVerbraucherinnen und Verbraucher und auch die bäuerli-che Landwirtschaft Ihr Zugehen auf die Agrarindustrienicht mehr akzeptieren wollen. Warum sonst sollte sichFrau Aigner selbst einladen, um heute beim Tierschutz-bund die „Initiative Tierwohl-Label“ vorzustellen? Siehat an dieser Stelle gar nichts vorzuweisen, nur die auf-gedrängte Bereicherung durch Anwesenheit einer Minis-terin.
Noch putziger – ich weiß gar nicht, wann es das je-mals gab –: Der Druck, wegen der Tierhaltung auf demLande die Wahl am Sonntag zu verlieren, ist in derUnion so hoch, dass sogar die Bundeskanzlerin AngelaMerkel an diesem Freitag zur Eröffnung der Internatio-nalen Grünen Woche erscheint.
Glaubwürdig sind Sie mit Ihrer Politik trotzdem nicht.
Davon kann gar nicht die Rede sein. Ein kleiner Rund-gang ändert das nicht.Letztes Jahr hat Frau Aigner auf der InternationalenGrünen Woche eine Charta für die Landwirtschaft vor-gestellt.
Das ist aber nur schöner Schein auf Hochglanzpapier,sonst nichts. Wahr ist: Die Union, CDU und CSU, ist im-mer noch Erfüllungsgehilfe der Agrarindustrie, derGroßmastanlagen und der Megaschlachthöfe.
Bei Ihnen heißt es immer noch: Massenware, Dumping-preise und Weltmarktorientierung. Bei Ihnen heißt es im-mer noch: Investitionshilfen vor allem für jene Betriebe,die expandieren wollen, statt für jene, die auf Qualitätsetzen. Es geht bei Ihnen sogar so weit, dass Sie Her-mesbürgschaften für Hühnerknäste vergeben, nicht nurin der Ukraine, sondern sogar in Weißrussland. Damitmachen Sie den hiesigen Bauern durch deutsche Steuer-gelder Konkurrenz.
Das ist garantiert nicht die Partei, die für die Bauern inDeutschland steht.Unter Ihrer Regierung hat sich seit 2007 die Zahl derMasthühner pro Betrieb mehr als verdoppelt. Dieseswachstumsgetriebene Agrarmodell befindet sich nichtnur in einer Krise, es treibt die Landwirtschaft immerweiter in die Krise hinein. Immer weniger Bauern kön-nen ein angemessenes Einkommen erwirtschaften. In derMassentierhaltung herrschen verheerende Zustände:durch systematische Tierquälerei bei Zucht und Haltungund durch den missbräuchlichen Einsatz von Antibio-tika. Die Auswirkungen dieses Missbrauchs könnenmittlerweile im Schweinemett festgestellt werden. DieQualität des Grundwassers ist wegen der hohen Nitratbe-lastung vielerorts beängstigend. Schauen Sie sich an, wieviele Böden allein in Niedersachsen überbelastet sind.Sie hingegen verbreiten den Eindruck, als würden wir alldas schöne Fleisch produzieren, um die Ernährung in derWelt zu sichern, dabei ist es umgekehrt. Die grausameWahrheit ist: Der Anbau von Tierfutter im Ausland, zumBeispiel in Brasilien und Argentinien, der für unsereMassentierhaltung notwendig ist, macht uns vor allenDingen zum Nahrungsmittelkonkurrenten für arme Men-schen, das heißt, wir produzieren Hunger in Brasilienund Argentinien. Das ist die Wahrheit!
– Herr Schweickert ruft: „vollkommener Blödsinn“,Herr Schindler winkt gleich ab. Ich weiß nicht, ob dasIhr Verständnis von Parlamentarismus ist. Fahren Siehin, lesen Sie ein gutes Buch darüber, dann wissen Sie,wie massiv der Anbau in den Regionen vor Ort ist.Sie haben mit Ihrer Art der Förderung die Öffentlich-keit getäuscht. Bei Ihnen steht nicht „bäuerliche Land-wirtschaft“ und „Tierwohl“ drauf.
Mit Ihrem Tierschutzpaket, das eine totale Pleite ist, ver-hindern Sie eine Neuausrichtung der Landwirtschaft. Siesind verantwortlich für die quälerische Haltung von Tie-ren und für einen regelmäßigen Antibiotikaeinsatz.
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26630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Renate Künast
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Kein Wunder, dass die Ministerin letztes Jahr zum „Di-nosaurier des Jahres“ gekürt worden ist.Eines ist klar: Es gibt eine wachsende Bürgerbewe-gung, die sich das nicht bieten lässt. Die Verbraucher las-sen sich diesen Mangel an Information nicht bieten. Wirhaben es satt! Deshalb gehen auch wir zur Demonstra-tion. Die Menschen haben ein Recht, sich ein Stück Hei-mat zu erhalten, statt den Großinvestoren den Boden zuüberlassen.
Frau Kollegin.
Die Bauern haben das Recht, Klasse statt Masse zu
produzieren. Die Bauern haben das Recht, dass wir die
öffentlichen Gelder für sie und nicht für irgendwelche
Agrarinvestoren auf dieser Welt ausgeben.
Das Wort erhält nun für die Bundesregierung die Bun-desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz. – Bitte schön.
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ja, es ist richtig: In dieser Woche haben wirwieder die Freude, die Grüne Woche zu eröffnen, undunsere Bundeskanzlerin wird die Grüne Woche, eine be-eindruckende Leistungsschau, mit eröffnen, weil sie ihreWertschätzung für diese Branche zeigen möchte, diequalitativ hochwertige Lebensmittel zu bezahlbarenPreisen produziert. Das verdient nach wie vor große An-erkennung.
Nur Sie, meine Damen und Herren von den Grünen,versuchen jedes Jahr wieder, unsere Landwirte und diegesamte Branche schlechtzureden.
Ich bin dankbar, dass wir heute diese Debatte führen.Das ist eine gute Gelegenheit, mit den von Ihnen immerwieder in den Raum gestellten Falschbehauptungen auf-zuräumen. Ich habe es satt, von Ihnen immer wieder die-selben falschen Behauptungen zu hören.
Das bedeutet nicht, dass ich bestehende Problemeoder Fehlentwicklungen hier klein- oder wegreden will.Ja, wir werden beim Thema Antibiotika etwas machen.Wir wissen auch, dass es Diskussionen über die Vieh-dichten gibt. Deshalb habe ich den Charta-Prozess ein-geleitet, in dem die Verbraucherverbände mit den Vertre-tern der Landwirtschaft zusammengebracht werden.
Sie hingegen bedienen Vorurteile, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen. Sie führen Studien durch,die keine Neuigkeiten bringen und deren Seriosität zubezweifeln ist.
Ihre Stimmungsmache sehe ich in der Tat mit großerSorge. Tatsache ist, dass viele Menschen heutzutage kei-nen persönlichen Bezug mehr zur Landwirtschaft haben.Diese Menschen dürfen keinen falschen Eindruck be-kommen. Deshalb werden wir als christlich-liberale Ko-alition Ihre Kampagne nicht unerwidert lassen. Wir ar-beiten nicht mit Abschreckung, sondern wir arbeiten ander Herstellung einer neuen Nähe zwischen Landwirt-schaft und Verbrauchern.
Vier Punkte will ich nennen:Erste Falschbehauptung: Unsere Agrarpolitik fördertdie Massenproduktion und dient nicht dem Umwelt-schutz. – Tatsache ist: Wir in Deutschland haben im Ge-gensatz zu fast allen europäischen Nachbarn Prämien,die nicht mehr an die Produktion gekoppelt sind.
Die Butterberge sind abgebaut, und die Milchseen sindausgetrocknet. Die Zeiten der Überproduktion sind vor-bei. Wir fördern nur noch die Bewirtschaftung der Flä-chen und eben nicht mehr die Produktionsmenge vonFleisch, Milch oder Getreide.
– Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sollten es am allerbes-ten wissen.
Trotzdem kämpfen Sie gegen die Direktzahlungen. Sieunterstützen uns nicht einmal in der Bestrebung, die an-deren Länder so weit zu bringen, wie Deutschland ist.Sie sollten uns lieber unterstützen.
Damit das etwas plastischer wirkt, rechne ich es Ihnenpersönlich noch einmal vor. Nehmen wir einen Betriebin Nordrhein-Westfalen. Von mir aus stehen dort auch
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Bundesministerin Ilse Aigner
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viele Tiere im Stall, sagen wir 1 500 Mastkälber. Der Be-trieb bewirtschaftet nur wenig Fläche, nur 10 Hektar.Dieser Betrieb bekommt in diesem Jahr 3 600 Euro Di-rektzahlungen. Nehmen wir einen anderen Betrieb inNordrhein-Westfalen mit einer größeren Fläche, mit100 Hektar, der 100 Kühe im Stall stehen hat. Dieser Be-trieb erhält 33 000 Euro Direktzahlungen pro Jahr. Wenndieser Betrieb ökologisch bewirtschaftet wird, dann be-kommt er 50 000 Euro pro Jahr.
Das ist der Unterschied. Das leugnen Sie.Allein in meiner Amtszeit sind zwei Steigerungen derFördersätze für den ökologischen Landbau im Rahmender Gemeinsamen Agrarpolitik zu verzeichnen. DasGreening unterstützen wir, aber – und das ist der Unter-schied – wir wollen keine Flächenstilllegungen. Wirwollen, dass es nicht nur Bürokratie gibt. Weiter wollenwir, dass die Leistungen, die unsere Landwirte erbrin-gen, auch anerkannt werden.
Auf rund einem Viertel der gesamten deutschenAgrarflächen finden heute bereits Agrarumweltmaßnah-men statt, die für mehr Biodiversität und ein attraktivesLandschaftsbild sorgen. Wir setzen eben auf eine effek-tive und gleichzeitig nachhaltige Landwirtschaft.
Zweite Falschbehauptung: Moderne Tierhaltung gehtzulasten des Tierwohls. – Sie von den Grünen romanti-sieren die Vergangenheit, als wäre früher alles besser ge-wesen.
Jeder neue Stallbau wird verdammt. Tatsache ist: Es istschlicht und ergreifend falsch, dass Tiere in größerenHaltungen grundsätzlich weniger Platz haben. Es istauch falsch, dass es den Tieren in größeren Haltungengenerell weniger gut geht.
Glauben Sie wirklich, dass die dunklen und feuchtenStälle von früher Vorbild sein können? Das ist, meinesehr geehrten Damen und Herren, wenn man sie mit denmodernen und hygienischen Ställen von heute ver-gleicht, wohl nicht der Fall.
Ausschlaggebend ist die Arbeit des Landwirts oder derLandwirtin. Sie haben sich an verbindliche europäischeRegeln zugunsten des Tierwohls zu halten. Hinzu kommtnoch die Qualität von Stallanlagen und Haltungsverfah-ren. Deshalb sage ich: Jeder neugebaute Stall ist grund-sätzlich ein Fortschritt für das Tierwohl.
Meine Damen und Herren, die übergroße Mehrheit derVerbraucherinnen und Verbraucher kann Ihren Alarmis-mus nicht mehr hören. 81 Prozent der Verbraucherinnenund Verbraucher haben – trotz so mancher Anfeindungenvon Ihrer Seite – großes bzw. sehr großes Vertrauen ge-genüber unseren Landwirten.Dritte Falschbehauptung: Die Bundesregierung tut zuwenig für den Tierschutz. Tatsache ist: Diese christlich-liberale Koalition hat mehr für den Tierschutz getan alsjede andere Bundesregierung.
Wir regieren aber nicht nach dem Bauchgefühl,
sondern nach dem neuesten Stand der Forschung. Des-halb stellen wir 62 Millionen Euro für Forschungs- undInnovationsprojekte sowie für Modell- und Demonstra-tionsvorhaben in der Nutztierhaltung bereit. Bei der Ge-meinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“haben wir für besonders tierfreundliche und ressourcen-schonende Haltungs- und Produktionsverfahren eben-falls nachgesteuert.Was heißt das? Das heißt, bis zu 40 Prozent der Inves-titionskosten werden künftig übernommen, wenn ein be-sonders tiergerechter Stall gebaut wird. Das ist ein deut-liches Plus und eine Investition in das Tierwohl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nocheines sagen: Sie sollten sich vielleicht grundsätzlich gutüberlegen, was Sie mit manchen Forderungen anrichtenkönnen. Die Bedingungen, die Sie manchmal formulie-ren, können große Betriebe vielleicht noch ganz gut er-füllen.
Kleine Betriebe aber müssen oft zumachen, weil sie sienicht mehr stemmen können. Die von Ihnen gefordertenMaßnahmen würden den Strukturwandel beschleunigen.Ich weiß nicht, ob Sie das wollen. Ich will es nicht.
Meine Damen und Herren, die christlich-liberaleKoalition hat einen klaren Standpunkt: Wir schreibenden Verbrauchern eben nicht vor, wie sie sich zu ernäh-ren haben.
Das unterscheidet unsere Vorstellungen von Ihren. Wirsetzen auf Transparenz und die Macht des Verbrauchers.
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Bundesministerin Ilse Aigner
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Deshalb habe ich das Tierwohl-Label, sehr geehrte FrauKünast – zu der Präsentation habe ich mich nicht eingela-den, sondern ich wurde von Herrn Schröder eingeladen –,auch mit 1 Million Euro gefördert.
– Ja, natürlich. – Meine sehr geehrten Damen und Her-ren, es ist, glaube ich, selbstverständlich, dass ich heutezu dieser Veranstaltung gehe.Die ersten Produkte kommen in diesen Tagen in denHandel. Künftig können Verbraucher erkennen, wie dieTiere gehalten werden. Sie können vor allem entschei-den, ob sie bereit sind, für die Produkte mehr zu zahlen;denn höhere Standards kosten mehr Geld. Wir trauen un-seren Verbrauchern – offensichtlich im Gegensatz zu Ih-nen – diese Entscheidung zu.Vierte, aber leider nicht letzte Ihrer Falschbehauptun-gen: Gegen den übermäßigen Einsatz von Antibiotika inder Tierhaltung wird nichts unternommen. – Tatsacheist: Die Abgabe von Antibiotika zur Wachstumsförde-rung und zur Prävention ist bereits heute verboten.
Zugleich haben wir aber das Problem erkannt und des-halb ein Paket geschnürt, um den Einsatz von Antibio-tika zu minimieren.Die Novelle des Arzneimittelgesetzes gibt den Län-dern mehr Möglichkeiten und noch bessere Instrumente.Die Überwachung ist allerdings in der Zuständigkeit derLänder. Kollege Remmel zeigt mit dem Finger gern aufandere, aber vier Finger zeigen dabei auf ihn als Teil derÜberwachungsbehörde zurück. So schaut es aus.
Leider fehlt mir die Zeit, noch weitere Punkte richtig-zustellen. Die christlich-liberale Regierung steht allenLandwirten zur Seite, und sie will die Landwirte und dieVerbraucher näher zusammenbringen, auch in Span-nungsfeldern. Wir tun dies mit Fachkenntnis, ohne Auf-geregtheit und aus großer Überzeugung.Herzlichen Dank.
Matthias Miersch ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Bundesministerin, als ich hier eben Ihre Worte ge-hört habe, habe ich mich gefragt, wo Sie eigentlich dieletzten Monate und Jahre gewesen sind. Nur unter dieserKuppel kann es nicht gewesen sein. Als Niedersachse
kann ich Ihnen sagen: Ich lade Sie gerne einmal ein, sichanzuhören, was Ihre Kommunalpolitiker zu den Ent-wicklungen sagen, die wir tagtäglich in Niedersachsenbeobachten können. Dort fällt nämlich auf, dass Sie zwarschön reden, aber nichts machen.
– Ich werde zum Thema kommen.Wenn Sie sich die Entwicklung ansehen, dann stellenSie fest, dass eben nicht Qualität gefördert wird. Viel-mehr erleben wir in Niedersachsen tagtäglich – deswe-gen schließen sich viele Menschen zu Bürgerinitiativenzusammen, deswegen gehen die Menschen am Samstagunter dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straße –,dass Massentierhaltungsanlagen aus dem Boden ge-stampft werden, ohne dass die Kommunalpolitik irgend-welche Handhabungen hat, diesem Vorgehen Einhalt zugebieten.
Es sind auch Ihre Kommunalpolitiker, Herr Schweickert– fragen Sie die einmal –, es sind CDU-Landräte, die da-rum flehen, dass § 35 des Baugesetzbuchs endlich geän-dert wird, sodass wie bei einem Industriebetrieb odereinem Gewerbebetrieb auch bei einer Massentierhal-tungsanlage eine Steuerungsmöglichkeit gegeben wird.
Liebe Frau Bundesministerin, Sie können hier sagen,dass der Verbraucher entscheiden soll, aber es ist docheine Frage von politischer Steuerung und von gesetzli-chen Grundlagen, ob man Wettbewerb zulässt oder ihnnach dem Motto „Immer größer, immer weiter“ einseitigregelt. Das ist Ihre Agrarpolitik. Die Kleinen lassen Sieim Stich.
Als Sozialdemokratie sagen wir, dass Ernährung einelementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge ist.
Ernährung, Energie- und Wasserversorgung, lieber HerrKollege, brauchen wir alle. Was stellen wir fest? Wirstellen fest, dass auch Sie erkannt haben, dass man imEnergiebereich umsteuern muss, dass es nicht darumgeht, die großen Einheiten zu fördern, sondern die De-zentralität. Im Bereich der Ernährung, lieber Kollege,stellen wir fest, dass durch Ihre Politik genau das Gegen-teil passiert, dass auch konventionelle Landwirte in exis-tenzielle Notlagen geraten, weil es in der Agrarpolitikdie Tendenz hin zu Agrarfabriken, also immer größer zuwerden, gibt. Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: In die-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26633
Dr. Matthias Miersch
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sem Bereich machen Sie genau das Gegenteil von zu-kunftsgerichteter Agrarpolitik.
Es geht dabei nicht nur um ökologische, sondern auchum ökonomische und soziale Aspekte. Es geht um dieFrage, wer sich künftig qualitativ gute Lebensmittel leis-ten kann. Es geht auch um die Frage, wie in diesen Be-trieben gearbeitet wird. Ich sage Ihnen auch als Nieder-sachse: Ihre verfehlte Politik führt augenblicklich dazu,dass vielerorts die Arbeitsbedingungen in Schlachthö-fen, in diesen Betrieben unter aller Würde sind. Auch dasind gesetzliche Rahmenbedingungen dringend notwen-dig.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Miersch, vielen Dank für das Zulas-
sen einer Zwischenfrage. Sie haben uns vorgeworfen,
dass wir nichts für die Kleinen tun. Nehmen Sie bitte,
was die Biogasanlagen angeht, zur Kenntnis, dass es
diese christlich-liberale Koalition war, die die 75-kW-
Anlagen durchgekämpft und zugelassen hat und dass es
die Umweltpolitiker waren – das sage ich jetzt an Sie ge-
richtet, Herr Miersch –, die das eigentlich gar nicht woll-
ten. Können Sie also bitte bestätigen, dass wir sehr wohl
in dieser Richtung tätig sind und dafür sorgen, dass ins-
besondere die Kleinen gestärkt werden?
Lieber Herr Kollege Schweickert, ich mache mit Ih-nen gerne einen Diskurs in Sachen Biogas. Das ist eingutes Beispiel; denn hier geht es um landwirtschaftlicheund Ernährungsbetriebe. Ich sage Ihnen: Am BeispielBiogas wird deutlich, dass teilweise durch Fehlanreizeim Gesetz Fehlentwicklungen in Gang gesetzt wordensind.
Insofern sage ich Ihnen wieder: Wir brauchen gesetzli-che Rahmenbedingungen. Diese sind bisher falsch ge-setzt geworden. Wenn Sie mit Landwirten und Vertreternkonventioneller Betriebe sprechen, werden sie Ihnen sa-gen: Wir müssen uns überlegen, ob wir, wenn wir wei-terhin auf das Prinzip „Immer größer, immer weiter“setzen, überleben können. Die Förderpolitik dieser Re-gierung und der Europäischen Union geht nämlich in ge-nau die falsche Richtung.
Insofern wird die Qualität von Ihnen gerade nicht geför-dert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesemZusammenhang geht es um Steuerungsmöglichkeiten.Sie können mir dazu gerne Fragen stellen und andereMeinungen einholen. Nur, letztlich sind Sie seit drei Jah-ren an der Regierung. Wir haben beispielsweise zu § 35des Baugesetzbuches schon vor anderthalb Jahren einenAntrag eingebracht, der eiskalt abserviert wurde.
Sie haben damals gesagt: Es besteht kein Handlungsbe-darf. – Ich sage Ihnen: Hier sind Sie in der Pflicht. Siehätten die Möglichkeit gehabt, der Kommunalpolitik beidieser zentralen Frage einen Steuerungshebel an dieHand zu geben. Aber bis zum heutigen Tag haben wirdazu nichts von Ihnen gehört. Wir haben bis zum heuti-gen Tag keine Lösung, um die Arbeitsbedingungen vorOrt zu verbessern, was Mindestlöhne etc. angeht. UnserVorwurf an diese Bundesministerin lautet, dass sie mitihrer Politik genau das Gegenteil macht, weil sie die fal-schen Rahmenbedingungen setzt.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Entscheidendwird sein – insofern ist Ihre Frage an dieser Stelle durch-aus berechtigt, Herr Schweickert –, die Landwirtschaftendlich als eine vernetzte, interdisziplinäre Aufgabe zubegreifen. Es geht nämlich nicht nur um die Landwirt-schaft, sondern auch um die Umweltpolitik, die Sozial-politik und die Verzahnung der politischen Ebenen, vonder Kommunalpolitik bis zur europäischen Ebene.
Ich halte es für richtig, dass Stephan Weil gesagt hat:Wir brauchen ein Agrarministerium, das mit der europäi-schen Ebene verbunden ist.
Denn dort geht es darum, die Gemeinsame Agrarpolitikso zu formulieren, dass wir endlich Qualität und nichtnur Masse fördern; denn Masse ist nicht gleich Klasse.Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, lässt sich amBeispiel der Agrarpolitik gut deutlich machen: Auf die-sem Politikfeld verfolgen wir ganz unterschiedlichePolitikansätze, ebenso wie bei der Bildungspolitik, inSachen Steuergerechtigkeit und Arbeitsbedingungen.Am Sonntag stehen auch hier zwei unterschiedliche
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26634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Dr. Matthias Miersch
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Politikansätze zur Wahl, der von Rot-Grün und der vonSchwarz-Gelb.
Das Wort erhält nun die Kollegin Christel Happach-
Kasan für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vielen Dank für diesen Einblick in den Wahlkampf inNiedersachsen. Ich komme jetzt allerdings auf dasThema Tierhaltung zurück.Ich finde es gut, dass wir uns vor der Eröffnung derGrünen Woche über ein für die Landwirtschaft inDeutschland so essenzielles Thema unterhalten. Dielandwirtschaftliche Tierhaltung trägt nämlich zu 60 Pro-zent zum Einkommen der Landwirte in Deutschland bei.Da ist es schon bemerkenswert, welche Angriffe dieGrünen auf diesem Feld fahren und dass sie ihren Wahl-kampf in Niedersachsen auf dem Rücken der landwirt-schaftlichen Betriebe austragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht gut.
Eine Anregung an die Kollegin Künast und den Kol-legen Dr. Miersch: Gehen Sie doch einmal in einen land-wirtschaftlichen Betrieb! Da lernt man nämlich etwas,und dann ist man ein bisschen klüger. Da ich vermute,dass Sie das nicht tun werden, empfehle ich Ihnen, sichwenigstens die Bilder der Webcam von Herrn Schwarzauf der Internetseite des Bauernverbandes Schleswig-Holstein anzusehen. Alle 20 Sekunden wird ein neuesBild aus seinem Schweinestall gezeigt. Dann können Sieselbst beurteilen, wie es in einem solchen Schweinestallaussieht. Transparenz ist ein wichtiges Ziel, und daswird dort exemplarisch vorgelebt.
Wir regieren jetzt drei Jahre; das ist gut so. Ihr habtzehn Jahre regiert. Das war nicht so gut; das sieht manan den Fehlern bei bestimmten Entwicklungen. Aber,liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt in einem Punktdurchaus eine Einigkeit in diesem Haus: Wir wollen einebessere landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Das Bes-sere ist der Feind des Guten. Wir wollen eine Minderungdes Antibiotikaeinsatzes. Wir sind der Überzeugung,dass auch in der landwirtschaftlichen Tierhaltung mehrgesundheitsfördernde Maßnahmen und damit wenigerAntibiotika gebraucht werden. Einen entsprechendenGesetzentwurf haben wir vorgelegt.Die Grünen sind an dieser Thematik erkennbar nichtinteressiert. Für die Grünen gibt es nur zwei Stichworte:„Agrarfabrik“ und „Massentierhaltung“; mehr haben sienicht auf dem Zettel. Das heißt natürlich auch, dass FrauKünast mit ihrer Rede nicht den Bundestag adressierthat, sondern diejenigen, die am Samstag in Berlin de-monstrieren wollen.An dieser Stelle sollten wir eines festhalten: Die In-ternationale Grüne Woche besuchen 500 000 Menschen,an Ihrer Demonstration nehmen vielleicht gerade einmal5 000 teil. Das sind 1 Prozent, das ist eine Aussage.
Wir als Freie Demokraten, wir als Liberale orientie-ren uns im Bereich des Tierschutzes insbesondere an denfünf Freiheiten:
Freisein von Hunger und Durst – Freisein zum Zuhören,Frau Künast, wäre auch nicht schlecht –; Freisein vonUnbehagen; Freisein von Schmerz, Verletzung, Krank-heit; Freisein zum Ausleben der normalen Verhaltens-weisen – Frau Künast, Sie sollten schon einmal zuhören,das würde helfen –; Freiheit von Angst und Leiden. Des-wegen haben wir – darauf sollten Sie einmal eingehen –in § 11 Tierschutzgesetz festgelegt, dass wir betrieblicheEigenkontrollen wollen; denn nicht Verordnungen,sondern der Blick in den Tierstall ist das beste Mittel, umsicherzustellen, dass es den Tieren gut geht. Wir wollen,dass dies anhand von tierbezogenen Merkmalen beurteiltwird, anhand von Tierschutzindikatoren, zum Beispielder Mortalität, der Klauen- und Fußballengesundheitund der Betrachtung der auf dem Schlachthof erhobenenBefunde. Diese drei Tierschutzindikatoren sind entschei-dend, um zu beurteilen, ob sich ein Tier wohlfühlt odernicht.Die Qualität der Tierhaltung hängt nicht von derGröße des Betriebes oder von der Größe des Stalls ab;sie hängt vielmehr von der Fähigkeit des Betriebsinha-bers ab, das Ganze zu managen. Das ist ein entscheiden-des Kriterium, nicht die Größe des Betriebes.Man sollte auch eines hinzufügen: Moderne Ställesind für Tiere allemal besser als alte Ställe.
Gehen Sie einmal in einen Kuhstall, und Sie werdenfeststellen: Die Kühe sind größer geworden. Alte Ställekönnen dem nicht in der Weise genügen wie neue Ställe.Im Hinblick auf eine Verbesserung des Tierschutzesbrauchen wir mehrere Maßnahmen: Zum einen brauchen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26635
Dr. Christel Happach-Kasan
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wir verstärkte Forschung über Tierhaltung. Deswegenhaben wir als christlich-liberale Koalition für die nächs-ten drei Jahre 19 Millionen Euro für Modellvorhaben imBereich der Tierhaltung eingeplant. Wir nehmen dasThema Tierschutz ernst. Deswegen geben wir den eige-nen Forschungseinrichtungen einen anderen Maßstabvor und sagen: Wir brauchen in Mariensee eine Umstel-lung von der Anbindehaltung auf eine Laufstallhaltung.Wir brauchen weiterhin Initiativen im Bereich der Tier-zucht. Die Tierzüchter sind viel weiter als Ihr von Rotund Grün: Im Bereich der Tierzucht findet schon langeeine Umorientierung statt.
– Die Parteifreunde in Niedersachsen sind mit mir abso-lut einer Meinung, dass es gut ist, dass es im Bereich derTierzucht inzwischen Initiativen gibt, die nicht mehr nurauf die Leistung setzen, sondern das gesamte Tier in denBlick nehmen.
Vor 15 Jahren war allein die Milchleistung bei Kühen einKriterium. Heute spielen weitere Kriterien eine Rolle,die dazu führen, dass die Tiere gesünder sind.Wir brauchen höhere Standards in der Tierhaltung.Wir müssen den Menschen aber auch sagen: Das kostetmehr Geld. – Deswegen finde ich es gut, dass der Deut-sche Tierschutzbund ein Tierwohl-Label geschaffen hat,an dem sich die Menschen orientieren können. So kön-nen sie selbst einen Beitrag leisten für einen höherenStandard im Stall. Die Menschen wissen dann aber auch:Sie müssen dafür bezahlen.Im letzten Jahr gab es – das sollte man auch einmalsagen – im Bereich der Fleischprodukte Kostensteige-rungen von 5,4 Prozent, und die Preise werden weiteransteigen. Ich lade die Grünen ein, dieses dann bitteauch zu kommunizieren. Ein Tierwohl-Label, das sichan den Tierschutzindikatoren orientiert, ist ein echterFortschritt.Eine bessere Tiergesundheit ist Voraussetzung dafür,dass wir den Einsatz von Antibiotika mindern können.Wir als christlich-liberale Koalition haben dazu einenGesetzentwurf vorgelegt. Ich setze mich persönlich sehrdafür ein, dass dieser auch umgesetzt wird.Wir müssen sagen: Wir brauchen nicht mehr Verbote,sondern wir brauchen eine bessere Praxis in den Tierstäl-len. Dazu brauchen wir die Länder. Wir setzen darauf,dass wir mit ihnen gemeinsam einen solchen Gesetz-entwurf umsetzen können, um etwas für bessere Tier-gesundheit in den Ställen und damit für bessere Lebens-mittel zu tun.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! In Deutschland hat sich die Nutz-tierhaltung in den letzten 20 Jahren sehr stark verändert.Deutschland ist in der EU der größte Schweinefleisch-produzent. 1995 betrug die Ausfuhr von Schweine-fleisch 230 000 Tonnen. 2011 waren es 2,3 MillionenTonnen. Das heißt, von 1995 bis 2011 hat sich dieAusfuhr von Schweinefleisch verzehnfacht, während dieEinfuhr auf einem Niveau von etwa 1,1 Millionen Ton-nen gleich geblieben ist. Beim Geflügel war der Verlaufähnlich.Diese Steigerung der Ausfuhr blieb natürlich nichtohne Folgen. Die Nutztierhaltung in Deutschland hatsich immer stärker konzentriert, ist intensiver und indus-trieller geworden. Diese Intensivierung und diese Kon-zentration betreffen aber nicht nur die Ställe, in denendie Tiere gehalten werden, sondern sie führten auch zueiner sehr ungleichen Verteilung der Tierbestände inDeutschland.Ein Vergleich: In Niedersachsen gibt es derzeit 9 Mil-lionen Schweine, in Nordrhein-Westfalen 6,7 Millionen,in ganz Ostdeutschland zusammen 4,2 Millionen, und inBayern, dem größten Flächenland Deutschlands, nur3,5 Millionen. Diese höchst ungleiche Verteilung undauch die Menge an Tieren vor Ort führen zu sozialen,ökologischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftli-chen Konflikten.
In der öffentlichen Debatte rückt der Begriff der soge-nannten Massentierhaltung dabei immer mehr in denFokus. Die FAO, also die Ernährungs- und Landwirt-schaftsorganisation der Vereinten Nationen, hat 1995„intensive Tierhaltung“ als Systeme definiert, in denenweniger als 10 Prozent der Futtermittel dem eigenen Be-trieb entstammen und die Besatzdichte zehn Groß-vieheinheiten pro Hektar übersteigt.Für die Öffentlichkeit in Deutschland beginnt Mas-sentierhaltung aber viel früher. Das Bundesministeriumfür Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutzgibt die Zeitschrift Berichte über Landwirtschaft heraus.In der Dezemberausgabe vom vergangenen Jahr, also2012, waren die Ergebnisse der Studie „Die Wahr-nehmung des Begriffs ,Massentierhaltung‘ aus Sicht derGesellschaft“ zu lesen. Ich nenne hier zwei Ergebnisse:Die Befragten assoziieren den Begriff „Massentierhal-tung“ vor allem mit Grausamkeit, Geflügel, Krankheitenund Enge. Massentierhaltung beginnt für 90 Prozent derBefragten ab etwa 500 Rindern, 1 000 Schweinen und5 000 Hähnchen. In der Realität liegen die Betriebe aber
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Alexander Süßmair
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häufig über diesen Zahlen; das gilt gerade auch beim Ge-flügel.Vonseiten des Deutschen Bauernverbandes und auchvonseiten der Koalitionsparteien kommt häufig der Vor-wurf, die Verbraucher hätten einfach ein zu romantischesBild von der Landwirtschaft – Frau Ministerin hat dasauch angesprochen –, das mit der modernen Tierhaltungnichts zu tun habe. Das mag schon sein, aber ist es nichtauch so, dass gerade die Nahrungsmittelindustrie dieseVorstellungen mit ihrer irreführenden Werbung selbstproduziert?
Es stellt sich eine ganz andere Frage: Ist es roman-tisch oder gar rückwärtsgewandt, wenn Verbraucherin-nen und Verbraucher wollen, dass Tiere möglichst wenigleiden und tiergerecht gehalten werden?
Wir sagen: Nein! Die Verbraucherinnen und Verbraucherbeachten nicht nur die ökonomischen Kriterien, also denreinen Preis, sondern sie haben auch Anspruch auf dieEinhaltung von ökologischen, sozialen und ethischenFaktoren. Diese müssen wir berücksichtigen.
Wenn Sie diese gesellschaftlichen Anforderungenwieder nicht berücksichtigen, dann entstehen die Kon-flikte vor Ort, die die Bäuerinnen und Bauern und auchdie Agrarlobby lautstark beklagen, und sie sagen darauf-hin, dass keine Stallbauten mehr möglich seien und maneine Art Hetzjagd gegen sie veranstalte. Wir haben eineneigenen Antrag zur Nutztierhaltung gestellt. Wir wollendabei vor allem ökonomische und soziale Aspekte, aberauch ethische Aspekte berücksichtigen. Uns geht esdarum, dass Grausamkeit, Krankheiten und Enge in derTierhaltung vermieden werden, dass es sie nicht gibt.Deshalb fordern wir, dass sich die Arbeitsbedingun-gen für die Beschäftigten in der Tierhaltung verbessernmüssen – auch in den Schlachthöfen –, dass bessereLöhne gezahlt werden und der gesetzliche Mindestlohneingeführt wird.
Die Tierhaltungssysteme müssen verbessert werden,die Qualzucht muss verhindert werden, die schmerzhaf-ten Eingriffe wie Schwänzekneifen und Schnäbelkneifenmüssen verboten werden. Die Tiere dürfen nicht an dieSysteme angepasst werden, sondern die Systeme müssenan die Tiere angepasst werden.
Wir möchten auch, dass sich die Politik noch vielkonsequenter für eine Ökologisierung der gesamtenAgrarwirtschaft einsetzt, und wir stellen die Forderungan die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass sol-che Regelungen und Ziele auch EU-weit eingeführt wer-den. Und das geht auch, nämlich gerade jetzt, wenn dieVerhandlungen über die neue Förderperiode in der EUfür 2014 anstehen. Dort könnten Sie sich genau dafüreinsetzen – auch Sie, Frau Ministerin.
Wir müssen auch daran arbeiten, dass unsere Hal-tungssysteme und unsere gesamte Tierproduktion so ver-ändert werden, dass wir den Antibiotika-Einsatz deutlichreduzieren können. Wir hatten dazu bereits einen Antragvorgelegt und hatten eine ausführliche Debatte.Aber es trifft auch zu – es ist angesprochen worden –,dass die Intensivtierhaltung, wie wir sie in Deutschlandund in Europa haben, nicht nur negative Auswirkungeninnerhalb Deutschlands hat, sondern auch in anderenLändern, gerade im globalen Süden. Dort führt derAnbau von Futtermitteln zu schweren ökologischen undsozialen Schäden. Deshalb ist es wichtig, dass wir selbstwieder mehr Futtermittel produzieren,
dass wir hier regionale Kreisläufe ökologisch und öko-nomisch nachhaltig gestalten, und zwar ohne gigantischeFuttermittelimporte und Fleischexporte. Diese Importesind nämlich die Voraussetzung dafür, dass wir hier soproduzieren können.Einig sind wir uns auch – das ist auch angesprochenworden –, dass die Konzentration von Stallanlagen inbestimmten Regionen viel zu groß ist, dass die negativenökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen sostark sind. Deshalb brauchen wir Änderungen imBaurecht und im Immissionsrecht, damit solche Anlagenkritischer geprüft werden und es vor Ort für die Kommu-nalpolitik mehr Einflussmöglichkeiten gibt. Auch hier-für treten wir ein.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Ja, diese Woche beginnt die IGW, ja, am Wochenendefindet hier eine große Demonstration statt. Die Men-schen wollen, dass sich in der Landwirtschaft einigesgrundsätzlich verändert. Auch dafür werden wir von derLinken uns einsetzen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Johannes Röring für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heuteverschiedene Anträge, die alle mit Tierhaltung zu tunhaben. Ein Weiteres haben alle diese Anträge gemein:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26637
Johannes Röring
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Sie unternehmen den Versuch, die Landwirte inDeutschland, die Bauernfamilien, von denen übrigensein Großteil moderne Tierhaltung betreibt, massiv anzu-greifen.
Sie bezeichnen die Bauern nämlich als verantwortungs-lose, profitgierige organisierte Tierquäler, die Tiere mitAntibiotika vollstopfen, die die Landschaft zerstören. –Ein solches Bild malt die Opposition von modernenTierhaltungsbetrieben.Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Diejeni-gen, die uns täglich satt machen, haben dieses einfachsatt.
Moderne Tierhaltung bedeutet nämlich Verantwor-tung für Tier und Verbraucher. Landwirte und Tierhalterhaben selbst das größte Interesse daran, dass die ihnenanvertrauten Tiere gesund sind. Bauern haben Interessean hochwertigen, verantwortungsvoll erzeugten undauch bezahlbaren Lebensmitteln. Ich sage dabei bewusst„bezahlbar“ und nicht „billig“.
Tierschutz ist für uns Bauern eine Selbstverständlich-keit.
Deswegen ist die Tierhaltung in den vergangenen60 Jahren von Bauern zusammen mit Wissenschaftlern,Beratern und auch Unternehmen kontinuierlich weiter-entwickelt worden. Wirkungsvoller Tierschutz benötigtdie Erfahrungen und Kenntnisse derjenigen, die täglichmit Tieren umgehen. Deswegen setzt die christlich-liberale Koalition vor allen Dingen auf Eigenverantwor-tung und auf Vertrauen in die Menschen, die denUmgang mit Tieren gelernt haben.
Wir setzen – das sage ich Ihnen deutlich – auf den bäuer-lichen Mittelstand und auf Tierschutz durch Vertrauen.Die Anträge der Opposition dagegen sind von Miss-trauen und Anschuldigungen durchsetzt.
Moderne Tierhaltung bedeutet für mich hohe Verant-wortung von Menschen für Tiere, den Einsatz von Medi-zin, wenn nötig, Vermeidung von Medikation, wennmöglich. Kranke Tiere müssen aber weiterhin behandeltwerden können.
Wir haben bereits seit über zehn Jahren die Verpflich-tung für jeden Tierhalter, jede einzelne Arzneimittel-anwendung bei Tieren bis ins kleinste Detail zu doku-mentieren. Diese Dokumentation wird von denVeterinärbehörden – sie haben übrigens jederzeit daraufZugriff – auch strengstens kontrolliert.Wir wollen eine Novelle des Arzneimittelgesetzes,mit der eine effektivere Überwachung des Einsatzes er-möglicht wird. Wir stehen zu dem Ziel, die Zahl der An-tibiotika-Resistenzen einzudämmen. Wir haben aberebenso den Anspruch, dass auch andere, die bei ihrer Ar-beit von der Frage der Resistenzen in erheblichem Maßebetroffen sind, zum Beispiel Humanmediziner, Kranken-häuser, diejenigen, die sich um Hygiene kümmern, kon-sequent ihren Job machen. Wir wollen, dass unsereBranche ihren Job machen kann.
Moderne Tierhaltung heißt aber auch, dass es ange-messene Entwicklungsmöglichkeiten für den bäuerli-chen Mittelstand geben muss, und zwar ausdrücklich inZusammenarbeit mit den Kommunen. In Deutschlandgelten diesbezüglich sehr hohe Standards. Die Kommu-nen haben schon jetzt beim Bau von Ställen Steuerungs-möglichkeiten, die wir aber durch eine Novelle des Bau-gesetzbuches noch deutlich verbessern wollen.Die Akzeptanz der Menschen vor Ort und in denKommunen ist den Bauernfamilien – das weiß ich ge-nau – sehr wichtig. Ich stelle an dieser Stelle fest, dassdie Branche in dieser Beziehung sehr stark engagiert ist.
Wir wollen hier ganz klar keine Fremdbestimmungund keinen ungezügelten Wildwuchs. Tierhaltung ist fürmich Bauernsache. Die 216 000 Tierhalter in Deutsch-land haben im europäischen Vergleich immer noch rela-tiv kleine Bestände. Diese Struktur wollen wir erhalten.
Deswegen muss ich noch einmal feststellen: Mit Ih-ren Anträgen malen Sie das Zerrbild eines bösen undverantwortungslosen Tierhalters. Fakt ist aber: Die Bran-che braucht sich nicht zu verstecken. Die christlich-libe-rale Koalition wird die vorhandenen Instrumentariennoch deutlich verbessern. Ich kann Ihnen sagen: DieCharta von Frau Aigner zu Transparenz in der Tierhal-tung zeigt Wirkung, sei es beim Tierschutz, sei es beimEinsatz der Tiermedizin, sei es bei der Verbesserung dervorhandenen Steuerungsmöglichkeiten im Zusammen-hang mit Stallbauten.
Die Anträge der Opposition sind nicht zielführend.Sie sind von Misstrauen, von mehr Bürokratie und Ver-boten durchtränkt.
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26638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Johannes Röring
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Genau das ist der Unterschied: Wir setzen auf die Bran-che. Wir setzen auf wettbewerbsfähige landwirtschaftli-che Familienbetriebe.
Durch Ihr Vorgehen verdrängen Sie unseren landwirt-schaftlichen Mittelstand und befördern somit eine Verla-gerung der Produktion in Länder mit schlechteren Stan-dards. Das wollen wir eindeutig nicht!
Abschließend kann ich über Ihre Anträge nur sagen:Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr. – Wir stehen kurz vorder Eröffnung der Internationalen Grünen Woche. Zudiesem Zeitpunkt erleben wir von Ihnen öfters solcheAnträge.Die deutsche Landwirtschaft präsentiert auf einemErlebnisbauernhof die Tierhaltung und zeigt ein realisti-sches Bild ihrer Arbeit und ihrer Leistung. Ich kann Ih-nen wirklich nur ans Herz legen und Ihnen empfehlen,sich das einmal anzuschauen und an diesen Tagen mitLandwirten ins Gespräch zu kommen. Das Misstrauenhaben die Landwirte und ihre Familien, die für unserLand wirklich wertvoll sind, satt. Wir müssen hier zu an-deren Ufern kommen.
Meine Damen und Herren, aus diesem Grund und we-gen der Zusammenhänge, die Sie leider nicht in allenEinzelheiten verstehen oder verstehen wollen, lehnenwir als Unionsfraktion Ihre sämtlichen Anträge ab.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Gabriele Groneberg für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Röring, wenn Sie sprechen, habe ichautomatisch das Gefühl: Sie sind in einem schalldichtenRaum. Sie machen eine Politik, die ausschließlich dengroßen Agrariern nutzt. Denn der bäuerliche Mittelstand,von dem gerade die Rede war, geht bei Ihrer Politik überBord.
Ich brauche auch keinen Erlebnisbauernhof. Denn ichkomme aus einer Region, wo Bauernhof tatsächlich All-tag ist und wo ich jeden Tag zu Kollegen und Freundenauf den Bauernhof gehen und mir ansehen kann, wasdort passiert. Das ist in der Tat sehr differenziert: derbäuerliche Mittelstand oder eben die Großagrarier.
Ich komme aus einer Region in Niedersachsen, demOldenburger Münsterland, in der wir die positiven wieaber natürlich auch die negativen Auswirkungen zu spü-ren bekommen. Sicherlich gibt es die positive Seite – diewollen wir nicht verleugnen –: Das ist die absolut boo-mende wirtschaftliche Entwicklung einer ehemals eherdem Armenhaus zuzurechnenden Region. Es ist schöndort. Ich kann sie jedem empfehlen. Ich bin selber vorüber 30 Jahren aus dem Ruhrgebiet dorthin gezogen,weil es dort so schön ist. Es ist ländlich geprägt. Es istmit überaus gepflegten Städten und Dörfern gesegnet.Die Leute sind liebenswert. Es sind Menschen, die an-packen und arbeiten können, frei nach dem Motto „Vonnix kommt nix“.
Wenn man weiß, dass von den bundesweit rund24 Millionen Schweinen etwa 8,3 Millionen in Nieder-sachsen aufgezogen werden – die meisten davon im Be-zirk Weser-Ems, und zwar vor allem in den LandkreisenCloppenburg, Emsland und Vechta –, dann kann man dieDimensionen erahnen, um die es dort geht. Wie gesagt,die Wertschöpfung ist enorm. Viele Unternehmen sindZulieferer oder Abnehmer der dort gezüchteten Tiere. Soweit, so gut. Das ist die positive Seite.Aber wie sieht die negative Seite aus? Keime undStäube bleiben nicht im Stall. Sie geraten auf die eineoder andere Art und Weise in die Umwelt und verbreitensich – mit Auswirkungen auf die Gesundheit von Tierund Mensch. Die Folge: Immer mehr Menschen wehrensich gegen die Ansiedlung von Großstallanlagen.Städte und Gemeinden gerade im ländlichen Raum,die sich im Bereich Wohnen und Gewerbe entwickelnwollen und auch müssen, wenn sie attraktiv bleiben wol-len, werden durch den massiven Zubau der Stallanlagendrastisch in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Schlimmernoch: Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, sich imBereich ihrer Planungshoheit wirksam gegen Entwick-lungen, die sie nicht wollen, zu wehren. Der KollegeMiersch hat es ausgeführt.Eine dringend erforderliche Novellierung des BauGBscheitert seit Monaten an dem Streit zwischen demMinister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und sei-ner Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium. Dassind wir von Ihnen gewohnt. Das kennen wir schon fastnicht mehr anders.Warum bauen zunehmend niederländische InvestorenStälle im grenznahen Gebiet auf der deutschen Seite?Weil in den Niederlanden strengere Bedingungen für dieAnsiedlung von Stallneubauten gelten. Ist das denn rich-tig? Das kann doch nicht sein. Da kommen die Men-schen aus den Niederlanden zur Anhörung ins Kreishausim Emsland und beschweren sich darüber, dass imgrenznahen Raum in Deutschland die großen Stallanla-gen gebaut werden. Das ist doch nicht richtig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26639
Gabriele Groneberg
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Zu welchem Preis wird dieses Wachstum erkauft? Wosind die Grenzen des Booms? Ist der Preis, dass sich eineGemeinde nicht mehr entwickeln kann und Wohnen undGewerbe im nichtlandwirtschaftlichen Bereich teilweisedrastisch einschränken muss, nicht viel zu hoch für einederartige massive Entwicklung?Die Kommunen – wohlgemerkt: alle bis auf eine beiuns im Oldenburger Münsterland CDU-regiert –
haben sich – das weißt du sehr gut, mein lieber KollegeHolzenkamp – schon vor längerer Zeit mit der Bitte umAbhilfe an uns Abgeordnete gewandt. Was ist passiert?Nichts. Ihr seid untätig.
Der Oldenburgisch-Ostfriesische Wasserverbandweist nachdrücklich auf die zunehmende Belastung desTrinkwassers mit Nitraten hin – von Ihnen keine Re-aktion, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU undder FDP.Wollen wir die drohenden Auswirkungen auf unsereWasserversorgung wirklich hinnehmen? Nein, wir je-denfalls wollen das nicht. Die SPD hat in etlichen Anträ-gen ihre Position dazu deutlich dargestellt. Alle Mög-lichkeiten des Handelns, die wir aufgezeigt haben, sindvon Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie-rungsfraktionen, abgelehnt worden. Ich muss für michfeststellen: Offensichtlich sind Sie entgegen Ihren Aus-sagen nicht am dauerhaften und lebenswerten Bestandder ländlichen Räume interessiert. Anders kann ich dieUntätigkeit nicht deuten.
Was passiert im nachgelagerten Bereich? Die hartenBranchenbedingungen und der hohe Preisdruck auf demFleischmarkt sorgen für einen ruinösen Wettbewerb.Dieser setzt sich bei der Schlachtung der Tiere fort.Menschen vor allem aus Osteuropa werden per Werkver-träge in den Schlachthöfen für einen Hungerlohn be-schäftigt. Ihre Wohnbedingungen sind vollkommen in-akzeptabel.
Wir werden morgen an dieser Stelle gegen 14 Uhr aus-führlich darüber reden. Ich lade Sie ein, sich dann nocheinmal hier einzufinden. Was hier passiert, ist eindeutigein Werteverfall. Die Menschen in der betreffenden Re-gion wehren sich mittlerweile massiv dagegen. An ihrerSeite steht – man glaubt es kaum – massiv die katholi-sche Kirche, speziell ein herausragender Vertreter. Die-ser hat den Mut, die Missstände offen anzusprechen. Erspricht deutlich aus, was hier für ein Schindluder getrie-ben wird. Er steht an der Seite der Menschen, die sichdagegen wehren.
Aber was ist ihm passiert? Ihm wurde nach Mafiame-thode als Drohung ein abgezogenes Kaninchen vor dieHaustür gelegt. „Wo sind wir denn hier?“, frag ich mich.
Ich hoffe, dass er sich nicht einschüchtern lässt. Er hatunsere uneingeschränkte Solidarität verdient.
Wir werden uns also morgen noch einmal ausführlichmit diesem Bereich befassen. Ich kann bislang zu dieserDebatte feststellen – das enttäuscht mich –: Alle Fraktio-nen – bis auf die Regierungsfraktionen – haben sich mitdiesem Thema intensiv auseinandergesetzt. Alle habenAnträge dazu vorgelegt, wir in anderen Debatten, dieKollegen von den Grünen und der Linken heute. Abervon Ihnen, meine Damen und Herren von den Regie-rungsfraktionen, kommen dazu nur Beteuerungen undein „Weiter so“. Ich finde das nicht okay.
Das Wort hat nun Hans-Michael Goldmann für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich will an Ihren letzten Satz anknüpfen, liebeFrau Groneberg. Alle Fraktionen haben sich damit inten-siv auseinandergesetzt. Aber nur die Regierungsfraktio-nen bieten Lösungen an.
Was Sie hier machen, ist im Grunde genommen das Be-schreiben von Situationen bzw. das Überzeichnen vonSituationen, die mit der Lebensrealität nichts zu tun ha-ben. Ich vermisse sehr, dass Sie nicht ganz klar Positionbeziehen. Die Fälle in Südoldenburg, die Sie eben be-schrieben haben, sind Ihnen bekannt. Wo sind die parla-mentarischen Initiativen Ihrer Vertreter im Kreistaggeblieben? Wo sind Ihre kommunalen Initiativen geblie-ben?
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26640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Hans-Michael Goldmann
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Sie wissen um die betreffenden Fälle in Südoldenburg– das ist kein neues Thema – und haben auf das Emslandverwiesen.
Ich hätte mir gewünscht, dass sich Ihre Fraktionskolle-gen im Kreistag deutlich dazu äußern, dass im Emslandund auch in anderen Regionen Ställe angezündet wordensind. Die Einzigen, die gesagt haben, dass es sich hierum Straftaten handelt, die nicht hinzunehmen sind, wa-ren die FDP-Vertreter. Von Ihrer Seite ist nichts gekom-men.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier?
Sehr gerne.
Herr Kollege Goldmann, auf einer meiner Besuchs-
touren durch das Emsland hatte ich die Gelegenheit, mit
dem ehemaligen Landrat Bröring zu sprechen, der Ihnen
wohl bekannt sein dürfte.
Ich bin ja Mitglied des Kreistags.
Teilen Sie die Einschätzung des ehemaligen Landrats
Bröring, dass im Hinblick auf das Baugesetzbuch, die
Privilegierung und andere Tatbestände dringender Hand-
lungsbedarf besteht? Der Landrat hat damals ein eigen-
ständiges Gutachten angefordert. Er hat mich inständig
gebeten, Initiativen in Berlin zu starten, die zum Ziel
haben, den Kommunen und insbesondere seinem Land-
kreis Handlungsoptionen zu geben, die es ermöglichen,
dem Ausbau bestimmter Anlagen – nicht nur von Stäl-
len, hauptsächlich von Geflügelställen, sondern auch
von Biogasanlagen – Einhalt zu gebieten.
Lieber Kollege Priesmeier, ich bin seit 30 Jahren Mit-glied des Kreistags. Mir sind die Aktivitäten von HerrnBröring bestens bekannt.
– Hören Sie zu! Es soll ja eine Debatte sein. Jetzt darfich auch einmal etwas sagen.
Der Landkreis Emsland hat dem AgrarstrukturwandelTür und Tor geöffnet. Ich will Ihnen auch sagen, warum.Weil es sich hier um ein wild-morastiges Fehn handelte,wo die Menschen kein Geld und nichts zu essen hatten.Dann hat man festgestellt, dass man angesichts der Bo-denstruktur – es handelt sich um sandige Böden, mit de-nen sich nicht viel anfangen lässt – und der relativ gerin-gen Besiedlungsdichte im Bereich der intensivenHaltungsformen Geld verdienen kann. Das haben wirgemacht.Ich bestreite ja überhaupt nicht, dass wir das an der ei-nen oder anderen Stelle übertrieben haben. Aber ich sageIhnen auch: Es ist eine gute Lösung. Frau KolleginGroneberg kann durchaus sagen, dass man in Südolden-burg bestimmte Modelle auf der Basis des bestehendenBaugesetzbuches entwickelt hat.
– Frau Groneberg, Sie wissen durch die Geschehnisse inBösel und Garrel, was ich meine. Sie wissen ganz genau,dass das da anders geworden ist.In der Gemeinde Lathen im Emsland – jetzt beschäfti-gen wir uns ein bisschen mit der regionalen Geschichte –hat man alle Bauern zusammengeholt und gefragt: Wel-cher Bauer will eine Perspektive haben? Welcher Bauerhat einen Nachfolger? Dann hat man sich auf Entwick-lungen vor Ort verständigt. Es soll mir kein Mensch er-zählen, dass das jetzige Baugesetzbuch bei kluger kom-munaler Planung nicht jede Menge Möglichkeiten bietet.
– Lieber Friedrich Ostendorff, die Kommunen habenkeine klugen Flächennutzungspläne aufgestellt. DieKommunen haben ihre Räume nicht geordnet.
Insbesondere deswegen ist diese Problematik entstan-den.Jetzt gehen wir weiter. Ich sage ganz klar: Wir werdendas Baugesetzbuch ändern. Nur, liebe Freunde, lasst unsbloß nicht glauben, dass diese Regelung zum Nachteilder gewerblichen Betriebe ist. Die gewerblichen Be-triebe werden sich in Sondergebieten und möglicher-weise auch in Gewerbegebieten ansiedeln. Das Ganzetrifft vor allen Dingen die Kleinen, die auf dem Weg zumehr Marktteilhabe sind, etwa Bauernfamilien.
Das gilt in besonderer Weise für das Osnabrücker Land.
Liebe Kollegen, wir sollten uns selbst fragen: Wie istdie Situation im Bereich der Haltungsformen? In diesem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26641
Hans-Michael Goldmann
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Zusammenhang ist der Begriff „artgerechte Tierhaltung“interessant. Ich möchte erst einmal von „tiergerechterTierhaltung“ reden; denn die Tierart spielt in der heuti-gen Nutztierhaltung keine allzu große Rolle. Wir müssenuns fragen: Sind wir im Tierschutz gut, oder sind wir imTierschutz schlecht? Sie wollen doch wohl nicht ernst-haft behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland imTierschutz nicht führend in der Welt ist.
Sind wir bei der Bekämpfung des Antibiotikaeinsatzesmit der Planung eines neuen Tierarzneimittelgesetzesauf dem richtigen Weg? Sind wir! Sind wir im BereichUmweltverträglichkeitsprüfung – Bundes-Immissions-schutzgesetz als Grundlage für das Miteinander zwi-schen landwirtschaftlichem Tun und anderen Dingen imländlichen Raum – auf einem guten Weg? Ja! Deswegensage ich: Wir sind gut; aber wir können noch besser wer-den.Wir werden allerdings nicht besser, wenn wir so tun,Friedrich Ostendorff und Kollegen von den Grünen, alsob wir das Ruder zurückwerfen könnten. Das wollen wirnicht.
– Liebe Freunde, ich bin mit meinem Vater, der Tierarztwar – ich bin ebenfalls Tierarzt –, zu Zeiten durchs Ems-land gefahren, da die Kühe angekettet waren und deswe-gen eine große haarlose Stelle um den Hals hatten. Weiles dunkel war, hatte mein Vater eine Taschenlampe imMund, um die Nummer auf der Ohrmarke abzulesen.Die Hinterbeine der Tiere standen im Dreck, und wennman ihnen zu nahe kam, hauten sie einen mit einem voll-geschissenen Schwanz durchs Gesicht. So waren dieHaltungsbedingungen. Es gab jede Menge Rotlauf, weildie Schweine nicht vernünftig Luft bekamen.
Wir haben das geändert, und wir werden weitere Ände-rungen vornehmen. Deswegen sollten wir endlich ein-mal gemeinsam sagen: Wir sind auf einem guten Weg.
Wir müssen weitere Verbesserungen erreichen; das istüberhaupt keine Frage.Wenn Sie, Herr Kollege Dr. Matthias Miersch ausLaatzen, sagen, dass wir Probleme in den Schlachtbetrie-ben haben, entgegne ich: Völlig unstrittig. Das war eingroßes Thema. Es hat mich als Katholik aus dem Ems-land beschämt – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dassMenschen in Sögel „Eimermenschen“ genannt wordensind. Ich muss allerdings auch sagen: Ich habe eine Aus-bildung zum Berufsschullehrer für Fleischer, Bäcker,Hotel- und Gaststättengewerbler gemacht. Man hat dochkeine Lehrlinge bekommen.
Die ganze Branche war verarmt. Deswegen gibt es hiereinen gespaltenen Markt – das wissen Sie genauso gutwie ich –: Es gibt Werksverträge, und es gibt andere Ver-träge.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Groneberg?
Ja. Das erschöpft mich zwar, aber ich erlaube noch
eine.
Bitte schön, Frau Groneberg.
Herr Goldmann, ist Ihnen bekannt, dass der Schlacht-
betrieb VION Emstek gerade jetzt 60 festangestellte
Mitarbeiter, die zum Teil auch eine Fachausbildung ha-
ben, entlässt, um über Werkverträge Schlachtkolonnen
aus dem Ostblock zu beschäftigen, und das zu Löhnen,
die unter aller Würde sind? Das muss man einmal deut-
lich sagen.
Mir ist bekannt, dass so etwas passiert. Wir haben dasauch bei einem Unternehmen im Emsland erlebt. Wirmüssen zwischen den Werksverträgen, die es in sehr vie-len Betrieben gibt – nicht nur im Ernährungsgewerbe;sie gibt es auch in anderen Betrieben, liebe Freunde;
darüber können wir gerne einmal diskutieren –, und denanderen Verträgen unterscheiden. Dazu kann ich Ihnennur Folgendes sagen: Bei uns im Emsland gibt es nichtviele, die auf diesem Markt tätig sind. Die Firma Roth-kötter, die in Wietze am Pranger steht, bezahlt bestens.Die hat mit Werksverträgen überhaupt nichts zu tun. Diehat Kindertagesstätten eingerichtet, weil sie sehr vieleFrauen beschäftigt. Diese Firma zahlt zwischen 8 und11 Euro als Regelbezahlung. Es ist einfach Schwach-sinn, wenn heute jemand behauptet, dass in diesem Be-reich bei einer vernünftigen Marktorientierung kein Geldverdient wird und dieses Geld den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern nicht zugute kommt.Das Problem ist – liebe Frau Groneberg, das wissenSie auch –, dass der deutsche Arbeiter nicht in die Flei-schereien gehen wollte.
Das Problem ist nicht die Bezahlung in den Betrieben,sondern – seien wir doch ehrlich miteinander – das Pro-blem ist, dass man in der Region vier Menschen in einenRaum hineingepfercht hat und man von diesen Men-schen 19 bis 21 Euro pro Übernachtung abkassiert hat.
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26642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Hans-Michael Goldmann
(C)
(B)
Das ist nicht ein Problem in den Betrieben, sondern dasist ein Problem im Bereich der Akzeptanz und des Um-gangs einiger in dieser Region mit den Menschen. Das,liebe Frau Groneberg, liebe Kolleginnen und Kollegen,wollen wir ändern.
Deswegen haben der Landrecht Vechta, der LandkreisCloppenburg und der Landkreis Emsland hohe Anerken-nung verdient für den Beschluss, diese Dinge abzustel-len.
Ich behaupte an keiner einzigen Stelle, dass wir in die-sem Bereich nicht vor Herausforderungen stehen. Aberich behaupte ganz entschieden, dass wir sehr wohl in derLage sind, uns vor dem Hintergrund der leistungsfähigenStruktur und der sicheren Produktion von Lebensmitteln,die wir haben, auf einen Weg zu machen, der Zukunftbedeutet für Landwirtschaft, für Ernährungswirtschaftund für kluge Verbraucherpolitik.Ich bitte Sie um nichts anderes: Lassen Sie ab vondieser sogenannten Wende, die da kommen muss! Las-sen Sie uns vielmehr darauf hinarbeiten, die Dinge mit-einander positiv weiterzuentwickeln. Meiner Meinungnach ist dies auch meine Aufgabe als Vorsitzender desAusschusses.
Trotzdem lehne ich die von Ihnen eingebrachten Anträgewegen Diskriminierung der Bauern und wegen Diskri-minierung der Ernährungswirtschaft ab.
Aber wir werden uns weiterhin mit dem Thema beschäf-tigen. Ich freue mich, wenn Sie demnächst unserem Vor-schlag zum Arzneimittelgesetz und unserem Vorschlagzum Baugesetzbuch zustimmen werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die unhalt-baren Zustände in der Massentierhaltung,
von denen wir hier heute reden, sind in Niedersachsenbesonders gut zu studieren. Das wurde bereits angespro-chen.
Etwa jedes fünfte Rind, jede dritte Legehenne und je-des dritte Schwein in Deutschland verbringt sein Lebenin Niedersachsen. Eine Schlüsselrolle spielt die Geflü-gelzucht. Rund 36,5 Millionen Tiere, Schlacht- undMastgeflügel, leben bei uns; das ist deutlich mehr als dieHälfte des gesamtdeutschen Bestandes.Die intensive Putenhaltung ist in Niedersachsen einWachstumsbereich. Dadurch kommen die Haltungsbe-dingungen auch zunehmend mehr Menschen ins Be-wusstsein und werden in der Öffentlichkeit diskutiert.Die Tatsache, dass Puten nicht in der Tierschutz-Nutz-tierhaltungsverordnung aufgeführt sind, hat zu skandalö-sen Zucht- und Haltungsbedingungen geführt.Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU, noch an den Rücktritt derniedersächsischen Agrarministerin Grotelüschen vorzwei Jahren aus ebendiesem Grunde, aber auch daran,dass die Vorsitzende des Niedersächsischen Tierschutz-bundes im Dezember aus der CDU ausgetreten ist. Aus-löser war, dass die CDU/FDP-Landesregierung bis heutenicht bereit ist, für artgerechte Tierhaltung, insbesondereauch bei Puten, zu sorgen.Herr Lindemann, Frau Grotelüschens Nachfolger imMinisteramt, betreibt nichts weiter als eine Beschwichti-gungspolitik. Das brutale Schnäbelkürzen bei Puten willer bis 2018 weiterhin erlauben. So lange also sollen wei-terhin drei bis zu 20 Kilogramm schwere Puten zusam-mengepfercht auf 1 Quadratmeter leben? Weniger Platzbedeutet auch – wir haben es hier schon gehört – mehrAntibiotika. Ich finde, das ist eine Schande für eine Par-tei, die von sich behauptet, der Bewahrung der Schöp-fung verpflichtet zu sein.
In Wahrheit geht es um die Bewahrung des Profits fürAgrarkonzerne, die in Deutschland die Nutztierhaltungin eine verhängnisvolle Sackgasse getrieben haben. Frei-willig – das zeigen die Erfahrungen – werden diese Kon-zerne bei der Profitmaximierung auf keinen Cent ver-zichten. Also ist Politik gefordert, Rahmenbedingungenzu setzen und dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebie-ten.
Wenn Politik nicht in der Lage oder nicht willens ist,dies zu tun, dann gehört sie abgewählt.
Solch ein Wechsel ist auch in Niedersachsen, in der nie-dersächsischen Agrarpolitik dringend notwendig;
denn die Verbraucher wollen diese Art von Haltungsbe-dingungen, bei denen einem nur der Appetit vergehenkann, nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26643
Dorothée Menzner
(C)
(B)
Jetzt erzählen Sie mir bitte nicht, dass die Leute nichtbereit wären, einige Cent mehr pro Kilo zu zahlen! DieKrux ist vielmehr, dass viele sich das nicht leisten kön-nen. Wir müssen uns wirklich einmal fragen, wie wir dasverändern wollen. Die Krux ist eine Politik von Lohn-raub und Sozialdumping, die die Menschen nicht in dieLage versetzt, faire Preise für gute und gesunde Lebens-mittel und artgerecht erzeugtes Fleisch zu zahlen.
Nicht zuletzt deswegen fordert die Linke einen gesetzli-chen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde.
Abschließend: Der Antrag der Grünen zu den Hal-tungsbedingungen für Puten geht in die richtige Rich-tung. Die sechs Punkte, die vorgeschlagen werden, hal-ten wir für richtig, und Sie haben unsere Unterstützung,auch wenn man Konsequenzen aus unserer Sicht nochdeutlicher formulieren müsste.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir brauchen unbedingt eine verlässliche Haltungs-
verordnung für Puten und andere Nutztiere, für die es
bisher keine solche Verordnung gibt; sonst bleibt das ein
Abarbeiten an Symptomen. Das Problem der industriel-
len Massentierhaltung muss aber generell auf den Prüf-
stand. Dafür stehen wir. Ich finde, Niedersachsen sollte
damit anfangen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Für eineneue Haltung – Artgerecht statt massenhaft“ ist der Titeleines unserer Anträge. Wer von Ihnen je einen Blick ineine Tierfabrik werfen konnte, wer je mit den Menschenin den von der Agrarindustrie betroffenen Dörfern ge-sprochen hat, der weiß, dass wir eine neue, bessere, art-gerechte, unserer Zivilisation angemessene und unseremGrundgesetz entsprechende Haltung unserer Tiere drin-gend brauchen.
Es kann nicht sein, dass überall die Menschen gegen Tier-fabriken auf die Straße gehen und es gleichzeitig in IhrerRegierungszeit eine exorbitante Zunahme der Massentier-haltung gibt: viele Millionen neue Hühnchenplätze inNiedersachsen, allein 3 Millionen im Kreis Vechta.Aber zu einer neuen Haltung gehört auch eine neueHaltung in der Agrarpolitik.
Es kann nicht sein, dass die Volksparteien CDU undCSU sich bei einem so wichtigen Thema wie der Land-wirtschaft vollständig dem Deutschen Bauernverbandausliefern.
Egal ob Tierschutz-Label, Tierschutzgesetz oder Agrar-reform – es gilt doch immer noch der eine Satz, denMinisterin Aigner zu Beginn ihrer Amtszeit geprägt hat:Wir machen nichts, was der Bauernverband nicht will. –Wie ehrlich!
– So ist es.Meine Damen und Herren, mit dieser Haltung ma-chen Sie die bäuerlichen Betriebe in Deutschland kaputt.35 Bauernhöfe am Tag machen zu. Sie wollen, dass wei-terhin 80 Prozent der EU-Gelder an 20 Prozent derGroßbetriebe gehen und die Masse der bäuerlichen Be-triebe entsprechend benachteiligt wird. Sie verweigernden Bäuerinnen und Bauern die Honorierung ihrerUmweltleistungen. Sie hängen einer aberwitzigen Billig-fleischexport-Ideologie an und treiben damit die Tierhal-tung immer tiefer in die Sackgasse der Massentierhal-tung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden unsgerade in einer entscheidenden Phase, was die nächstensieben Jahre Gemeinsamer Agrarpolitik in der EU an-geht. Die Menschen draußen wollen eine echte grüneReform und sind bereit, dafür weiterhin Steuergeld zugeben. „Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen“,das ist das Grundprinzip der GAP. Wir brauchen jetzt einwirksames und verbindliches Greening. Wir brauchenjetzt eine Stärkung der zweiten Säule. Wir brauchen einegerechtere Verteilung der Gelder.
Frau Aigner aber ist bei dieser Reform leider ein To-talausfall. Wir fordern daher die Bundeskanzlerin auf:Frau Merkel, hören Sie auf die Menschen, die am Sams-tag wieder unter dem Motto „Wir haben Agrarindustriesatt!“ bei Ihnen vor dem Kanzleramt demonstrieren wer-den!
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26644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Friedrich Ostendorff
(C)
(B)
Setzen Sie die Forderungen der Menschen und dieForderungen der Imker, die diese Ihnen heute mitgege-ben haben, beim EU-Gipfel im Februar um. Sie habendie Richtlinienkompetenz und tragen die Verantwortungfür eine echte Reform, für eine bessere Agrarpolitik undfür die bäuerliche Landwirtschaft. Das erwartet die Ge-sellschaft von Ihnen.
Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherauf der Tribüne! Herr Ostendorff, wenn man über anderePersonen etwas behauptet – Sie haben sich zu FrauAigner geäußert –, dann sollte es der Wahrheit entspre-chen, gerade wenn es um das Thema GemeinsameAgrarpolitik geht. Das will ich an dieser Stelle deutlichsagen.
Ich bin unserer Ministerin Ilse Aigner sehr dankbar,
dass sie gemeinsam mit Frau Merkel bei den GAP-Ver-handlungen alles tut, um deutsche Interessen zu wahren.Bei Ihren Anmerkungen hat man immer wieder den Ein-druck, dass Ihnen deutsche Interessen abhandengekom-men sind. Das wird bei Ihren Äußerungen offensichtlich.
In Ihren Anträgen beschreiben Sie skandalöse Zu-stände. Der eigentliche Skandal ist das, was Sie uns inIhren Anträgen inhaltlich zumuten: pauschale Verun-glimpfung und Diffamierung unserer deutschen Land-wirtschaft. Das ist so. Lesen Sie es nach: Verbote, Be-vormundung, Gängelung. Ich frage mich, was das füreine Geisteshaltung ist. Trauen Sie den Menschen inDeutschland überhaupt nichts mehr zu? Welches Gesell-schaftsbild haben Sie? Ich sage Ihnen deutlich – FrauAigner hat es richtig festgestellt –: Mit Ihren detailliertenForderungen in Ihren Anträgen legen Sie die Axt an diedeutsche Landwirtschaft.
Und zwar schaden Sie den kleinen Betrieben in Deutsch-land, nicht den großen. Das, was Sie einfordern, ist fatal.
Ich sage deutlich: Wir haben es satt, dass Sie jedesJahr zur Internationalen Grünen Woche versuchen, ge-meinsam mit Ihnen nahestehenden Lobbyorganisationeneinen Skandal zu inszenieren, um daraus politisches Ka-pital zu schlagen.
Offensichtlich hat sich das bei Ihnen zu einem Ge-schäftsmodell entwickelt. Ich persönlich finde es unan-ständig. Die Leute werden es merken. Es ist viel zudurchsichtig. Mein Appell ist: Lassen Sie uns mehr ander Sache arbeiten.Wir haben es auch satt, dass Sie mit absurden Fanta-sien und Utopien heute Wahlkampf machen. HerrMiersch hat deutlich gesagt: Heute ist Wahlkampf. Daswar seine Äußerung vor wenigen Minuten. Ich finde, da-mit werden Sie der Ernsthaftigkeit dieses Parlamentesnicht gerecht und erst recht nicht der Belange der deut-schen Bauern.
Es gibt über 300 000 landwirtschaftliche Betriebe inDeutschland. Davon beschäftigen sich über 200 000 Be-triebe mit Tierhaltung, und das 365 Tage im Jahr, Tag fürTag. Dann kommen einige daher und meinen, sie wissenvom Sofa aus alles besser. Wo kommen wir da hin? Daskann doch wohl nicht wahr sein.
Ich würde mir wünschen, dass auch Sie die großarti-gen Leistungen der landwirtschaftlich tätigen Familienin Deutschland endlich einmal anerkennen und ihnenRespekt entgegenbringen.
Unsere Bauern haben das verdient.
Sie sichern in Deutschland mit 5 Millionen Arbeitskräf-ten nicht nur jeden achten Arbeitsplatz, sondern bringenauch einen großen sozialen Beitrag. Ich erziele als Bauerauch lieber höhere Preise. Aber – da Sie immer wiedervon sozialer Verantwortung sprechen –: Sagen Sie denMenschen zu den Forderungen in Ihren Anträgen offenund ehrlich, dass Sie eine Vervielfachung der Preise wol-len.
Wo bleibt da bitte schön Ihre soziale Verantwortung, dieSie für die Menschen haben sollten?Sie fordern mehr Tierschutz, allerdings mit Verbotenund Bevormundungen – anders kennt man das nicht –,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26645
Franz-Josef Holzenkamp
(C)
(B)
ohne jedoch tatsächliche Lösungen beispielsweise fürTierhaltungen oder bei Tiertransportzeiten zu bieten.Soll der Bauer in Schleswig-Holstein seine Tiere dennnur noch an einen Abnehmer verkaufen können? Ist dieswirklich eine Lösung für kleinere Betriebe?Ich will noch einmal im Namen unserer Bauern klar-stellen: In Deutschland haben wir im Bereich der Tier-haltung die höchsten Standards, und zwar weltweit.Dennoch wollen auch wir mehr Tierschutz. Der Charta-Prozess ist angesprochen worden. Wir suchen den offe-nen Dialog mit unserer Gesellschaft. Wir wollen unsereSpitzenposition weiter ausbauen.
Der Unterschied ist jedoch: Sie wollen Verbote, wirhingegen bieten Lösungen. Wir entwickeln tatsächlicheLösungen, und zwar zusammen mit der betroffenenLandwirtschaft und mit der Forschung. Der Haushalt istgerade verabschiedet worden; darin sind für die nächstenJahre 21 Millionen Euro mehr für Tierschutzforschungeingestellt. Daran sehen Sie: Sie reden, wir handeln.
Würden Sie mit Ihren Vorstellungen durchkommen,meine Damen und Herren, dann befeuerten Sie denStrukturwandel in einer Art und Weise, die gerade fürkleinere Betriebe nicht auszuhalten wäre. Das wollenwir jedenfalls nicht.Sie nehmen auch keine Rücksicht auf europäischeStandards. Vielmehr nehmen Sie billigend in Kauf, dassdie Tierhaltung in andere Länder verlagert wird.
Im Übrigen erweisen Sie dem Tierschutz damit einenBärendienst,
und Sie fügen unserer Volkswirtschaft einen riesengro-ßen Schaden zu. Sie haben offensichtlich kein Problemmit einem Ausverkauf der deutschen Landwirtschaft.Im Gegensatz zu Ihnen entwickeln wir den Tierschutzgemeinsam mit der Forschung, mit der Wissenschaft,aber auch mit den Landwirten. Sie behaupten, Intensiv-tierhaltung fördere den Klimawandel. Eines habe ich inder Grundschule gelernt: Wenn zwei Kühe je 5 000 LiterMilch im Jahr geben, dann erzeugen sie mehr Methan-emissionen als eine Kuh, die 10 000 Liter gibt.
Ich will gar nicht behaupten, dass 10 000 Liter derrichtige Wert ist. Wenn wir jedoch über Ressourceneffi-zienz sprechen, dann muss man hierüber doch vernünftigund sachlich diskutieren dürfen – auch mit Ihnen, wieich hoffe. Sie wollen Stallbauten ab einer bestimmtenGrößenordnung verbieten, bzw. Sie wollen den berühm-ten § 201 BauGB ändern, und zwar dahin gehend, dassdie Flächen tatsächlich bewirtschaftet werden müssenund nicht nur theoretisch, so wie es die Gesetzeslageheute ermöglicht und wie es von den Landwirten in Ko-operation mit den Berufskollegen gemacht wird.Begreifen Sie eigentlich nicht, dass dies das Aus ge-rade kleinerer Betriebe bedeuten würde? Frau Aigner hatBeispiele von Betrieben mit einer Größe von 10, 30 oder40 Hektar genannt. Diese Betriebe sind auf eine solcheKooperation angewiesen.
Was bedeutet das denn? Sie reden immer von der Förde-rung kleinerer Betriebe, mit Ihren Vorschlägen jedochbewirken Sie das genaue Gegenteil. Ich finde das heuch-lerisch. Wohin führt das denn? Damit würden wir ja zumGroßgrundbesitzertum zurückkehren. Das wollen wir alschristlich-liberale Koalition garantiert nicht.
Dann sprechen Sie von der Steuerung. MichaelGoldmann hat es richtig ausgeführt: Steuerung ist bereitsheute möglich. Gabi, du kennst diese Beispiele auch.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Es gibt positive Beispiele, die zeigen, dass es bereits
funktioniert. Auch wir wollen mehr kommunale Steue-
rung.
Der Kabinettsbeschluss existiert, die erste Lesung hat
stattgefunden, der parlamentarische Prozess ist in Gang.
Also tun Sie doch bitte schön nicht so, als würde gar
nichts passieren.
Herr Kollege!
Ihre Anträge sind gerade zum Beginn der Grünen Wo-che so zu erwarten gewesen. Sie sind eine Zumutung fürdie deutsche Landwirtschaft. Lassen Sie uns die Graben-kämpfe beilegen und zu einem stärkeren Miteinanderfinden.Ein herzliches Dankeschön und eine schöne GrüneWoche.
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26646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier eine
Zumutung für wen ist, mögen die Zuhörer entscheiden.
Heute haben hier seitens der CDU/CSU-Fraktion zwei
hochkarätige Funktionäre des Bauernverbandes gespro-
chen.
Unter den Vertretern der CDU/CSU, die hier heute Mit-
tag neben der Ministerin geredet haben, waren der Präsi-
dent des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverban-
des und der Vizepräsident des niedersächsischen
Landesbauernverbandes.
– Das ist mit Sicherheit nicht unbedingt schlimm. Aber
man muss überlegen, welches Politikfeld man sich sucht.
Jedem ist klar, dass der Deutsche Bauernverband ein In-
teressenverband ist; er muss Interessen vertreten. Kön-
nen Sie als Kollege die Argumentation, die Sie im Präsi-
dium Ihres Verbandes vortragen, von dem unterscheiden,
was Sie hier im Bundestag vortragen, von dem, was Sie
als Abgeordneter an sich zu entscheiden haben?
Wenn die Debatte hier schon eskalieren soll, dann setze
ich in der Beziehung noch einen drauf, unabhängig von
den persönlichen Dingen. Ich achte natürlich Ihre Argu-
mentation und auch Ihren Sachverstand. Aber ich
glaube, dass man da zwei Dinge auseinanderhalten
muss: Das eine ist die politische Aufgabe und Funktion,
die man wahrnimmt, das andere ist die Interessensvertre-
tung in Verbänden. Das muss man einfach auseinander-
halten.
In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Kompetenz
gefragt; ich gebe das zu bedenken, da die Diskussion
schon so erregt ist. Ich glaube, diese Auseinanderset-
zung, diese Debatte wird zwangsläufig immer vor der
Grünen Woche geführt.
Ich bin als Niedersachse natürlich stolz auf das, was
niedersächsische Landwirte leisten.
Es nützt niemandem, jemanden in die Ecke zu stellen
und ihm etwas zu unterstellen.
– Nein. Es geht konkret darum, dass die Politik im Dia-
log zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft – es geht
um das Dreieck aus Landwirtschaft, Politik und Gesell-
schaft – gehalten ist, die richtigen Rahmenbedingungen
zu setzen,
damit es zu einem Ausgleich zwischen den Interessen
der Bürger vor Ort und der Landwirte kommt. Diese In-
teressen sind nicht immer identisch; das wissen auch Sie,
meine Damen und Herren. Das ist eben der Grund dafür,
dass man gesetzliche Regelungen braucht und man Ge-
setze novellieren muss. Es darf nicht alles so bleiben,
wie es ist. Aber Sie tragen vor: Es muss im Regelfalle
fast alles so bleiben, wie es ist.
Heute Abend sitzen wieder alle beim Bundesverband
Vieh und Fleisch. Da sitzen wir dann wieder vielleicht
mit den Herren zusammen, die in Deutschland im Be-
reich der Fleischbranche den Ton angeben: die Vertreter
von VION, von Tönnies usw. usf. Das hat schon etwas.
Aber die Herren hören offensichtlich nicht auf das, was
man ihnen vorträgt. Ich beobachte in dem Sektor eine
Oligopolisierung. Das kann nicht im Interesse der Land-
wirte sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Holzenkamp?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Priesmeier, Sie haben eben ausgeführt,dass wir gesagt hätten, es solle, was die Entwicklung an-geht, alles so bleiben, wie es war; das haben Sie eben soformuliert.
– Das haben Sie eben so formuliert. – Nehmen Sie zurKenntnis, was meine Kollegen und auch ich persönlichzum Tierschutz gesagt haben? Wir haben festgestellt,dass wir in Deutschland hohe Standards haben – das ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26647
Franz-Josef Holzenkamp
(C)
(B)
richtig, das stimmt –, aber diese Standards weiterentwi-ckeln wollen.
Wir wollen unsere Spitzenposition in der Welt und in Eu-ropa weiter ausbauen. Wir haben deshalb die Forschungs-mittel wesentlich erhöht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dasswir den Tierschutz weiterentwickeln wollen
und hier die Forschung ganz stark mit einbeziehen!
Herr Kollege Holzenkamp, wenn Sie schon meiner
Rede zuhören, möchte ich Sie doch bitten, genau zuzu-
hören. Ich habe gesagt: „fast“. Der Begriff macht einen
Unterschied.
Ich finde es hervorragend, dass die Ansätze für die
Forschung erhöht worden sind. Aber die Anträge zum
Haushalt, die wir eingebracht haben, hätten dazu ge-
führt, dass die Forschungsansätze wesentlich höher aus-
gefallen wären. Insofern glaube ich, dass wir auch da
den fortschrittlicheren Ansatz hatten; das müssen Sie mir
doch zugestehen.
Herr Kollege, das, was sich an den Strukturen im vor-
und nachgelagerten Bereich verändert, hat natürlich
Auswirkungen auf die Strukturen der Landwirtschaft
selber. Ich will im landwirtschaftlichen Bereich keine In-
vestoren von irgendwo; die SPD will das nicht.
Wir wollen bäuerliche Betriebe, und wir wollen bäuerli-
ches Kapital. Wir wollen kein Kapital aus Fonds, wir
wollen keine KTG und keine AGs. Das alles wollen wir
nicht.
Herr Kollege Holzenkamp, können Sie denn ausschlie-
ßen, dass der Stall an der nächsten Ecke keinem anderen
gehört als dem, auf dessen Grund er steht und der damit
wirtschaftet? Das wissen auch Sie nicht. In diesem Sek-
tor findet eine rasante Entwicklung statt. Das wissen Sie
genauso gut wie ich. Diese Strukturen muss man nicht
unbedingt befördern, schon gar nicht mit Bezahlung aus
öffentlichen Kassen und mit Subventionen.
Wir können stolz darauf sein, dass der Agrarsektor im
letzten Jahr eine Wertschöpfung von etwa 55 Milliarden
Euro erreicht hat, die Hälfte davon bedingt durch Tier-
haltung und Veredelung. Da kann sich Deutschland
wirklich sehen lassen. Aber wir haben von den Vorred-
nern schon gehört, welche Probleme es in den verschie-
denen Regionen gibt. Davor kann man die Augen doch
nicht verschließen.
Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Vertretern des
Wasserverbandes und der Wasserbeschaffungsverbände
in einer bestimmten Region.
– Nein, gerade bei euch. Guck dir mal die Messergeb-
nisse des Wassers aus den Brunnen in den Wassergewin-
nungsgebieten an.
Ich kann sie dir geben. Ich habe sie dabei; die bekommst
du von mir. Du brauchst gar nicht fragen.
Die Ergebnisse zeigen, wie stark die Nitratwerte in be-
stimmten Bereichen mittlerweile angestiegen sind. Der
Grundwasserkörper verdaut einiges; aber wenn wir so
weitermachen, dann können wir in bestimmten Berei-
chen in 20 bis 30 Jahren in der Tiefe kein Wasser mehr
gewinnen. Das ist einfach so.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Goldmann?
Na gut.
Lieber Wilhelm Priesmeier, lieber Kollege, es gehtganz schnell. Das Wasser aus unserer Region ist Hümm-ling-Wasser – das ist dir wahrscheinlich bekannt –; da-mit wird die Stadt Bremen versorgt. Ist dir bekannt, dassdas Hümmling-Wasser das beste Wasser ist, das es aufdem deutschen Markt gibt?
– Absolut; ihr habt die Zahlen bekommen. Ich habe dieBilanz verteilt; darin steht: Hümmling-Wasser ist dasbeste Wasser, das es gibt.
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26648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Sehr verehrter Herr Kollege, ich schätze das heimi-
sche Wasser und Ihres ganz besonders. Wenn ich das
nächste Mal in Ihrer Region bin, werde ich garantiert da-
von trinken.
– Die Frage ist gestellt; ich beantworte sie jetzt. – Es gibt
natürlich noch andere Wassergewinnungsgebiete, die
nicht im Hümmling liegen. Sie zeichnen sich dadurch
aus, dass sie in Zukunft erhebliche Probleme bekommen
werden, ganz abgesehen von den Bereichen, in denen
Stickstoff eingetragen wird und die überhaupt nicht kon-
trolliert werden. Niemand weiß, was dort unten passiert.
Das gebe ich zu bedenken.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Der Was-
serverbandstag Bremen, Niedersachsen und Sachsen-
Anhalt hat das bereits angemeldet. Grund dafür war eine
entsprechende Initiative der niedersächsischen Landes-
regierung, die das Problem erkannt hat. Wir müssen uns
aber auch auf Bundesebene diesen Problemen stellen
und darüber nachdenken, was überhaupt noch eingetra-
gen werden darf und ob nicht baugesetzlich geprüft wer-
den muss, ob die Flächen, die für neue Investitionen aus-
gewiesen sind, noch geeignet sind, die Stickstoff- und
Nitratfrachten aufzunehmen. Das sind sie nämlich nicht
mehr.
Das muss man gewärtigen, wenn man ökologische Ver-
träglichkeit in einer landwirtschaftlich so schönen Re-
gion wie dem Oldenburger Münsterland gewährleisten
will.
Wir wollen in diesen Sektoren keine Strukturen, wie
wir sie aus anderen Ländern kennen. Der große amerika-
nische Konzern Smithfield ist ein Beispiel dafür, wie
man agrarische Produktion organisieren kann, nämlich
nicht horizontal mit vielen Betrieben, sondern im Regel-
fall vertikal. Da wird jemand zum Vertragsmäster, bindet
sich für eine bestimmte Zeit und schluckt das, was er
kriegt.
In den Bereichen der Geflügelwirtschaft und Geflügel-
mast ist es häufig nicht viel anders.
Bislang ist auf einem Markt produziert worden, der
aufgenommen hat. Die Nachfrage war nicht gedeckt,
und wir hatten in Bezug auf die Eigenversorgung einen
gewissen Nachholbedarf. Das ist aber schon lange nicht
mehr so. Die Marktbedingungen ändern sich zuneh-
mend; die Marktsituation wird schwieriger. Jeder, der
heute in diesem Bereich investiert, sollte sich genau
überlegen, was er tut.
Ein weiteres Problem ist der Einsatz von Antibiotika,
der zu erheblichen Debatten geführt hat. Wir brauchen
eine dezidierte Regelung, ein Antibiotika-Minimie-
rungskonzept,
das sicherstellt, dass durch resistente Keime aus Betrie-
ben keine Gesundheitsgefahren für die Gesellschaft be-
stehen, indem kontaminierte Lebensmittel gegessen oder
Keime verschleppt werden. Dafür brauchen wir – das ist
mir besonders wichtig – eine bundeseinheitliche Daten-
bank.
Das ist die wichtigste Voraussetzung für die Kontrolle.
Sie muss beim Bund, beim BMVEL, angesiedelt sein.
Sie muss unter Bundesverantwortung stehen, damit man
sich nicht in den föderalen Strukturen bewegen muss,
damit nicht jeder einem anderen die Verantwortung für
Dinge zuschieben kann, die er selber nicht kontrollieren
will. Damit muss Schluss sein. Das müssen wir umset-
zen.
Ich habe dazu ein Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes angefordert. Dieses belegt, dass der Bund dies-
bezüglich durchaus die Gesetzgebungskompetenz hat.
Wir fordern das jetzt ein. Wir werden im Rahmen der
weiteren Beratung des AMG entsprechende Änderungs-
anträge einbringen. Dann werden wir sehen, welchen
Wert Ihr Bekenntnis, für eine bessere Gesundheit und
weniger Antibiotika-Einsatz sorgen zu wollen, hat.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Aufmerk-
samkeit und wünsche Ihnen viel Kraft für die Grüne Wo-
che. Uns steht einiges bevor.
Das Wort hat nun Hans-Georg von der Marwitz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!Alle Jahre wieder, pünktlich zur Eröffnung der GrünenWoche, kommt – das ist so sicher wie das Amen in derKirche – ein Lebensmittelskandal: Dioxin-Eier, Antibio-tika im Geflügelfleisch, Keime im Schweinemett etc.Die Berichte sind aufgemacht mit eindrücklichen Bil-dern und Horrormeldungen, die von Ihnen, von der Op-position, gerne aufgenommen werden, um uns, den Re-gierungsparteien, schuldhaftes Handeln zu unterstellen.Aber diese Themen taugen nicht, um sich politisch zuprofilieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26649
Hans-Georg von der Marwitz
(C)
(B)
Auch in Ihrer Regierungszeit kamen regelmäßigSkandale an die Öffentlichkeit – ich darf Sie daran erin-nern –: BSE-Krise, Nitrofen-Skandal, Hygienemängelund Umetikettierung bei Frischfleisch. Frau Künast, IhreAntwort war die Schwerpunktlegung auf den Verbrau-cherschutz.
Die Frage drängt sich auf: Vor wem wollten Sie die Ver-braucher schützen? Waren die Landwirte Ihr Feindbild?Ihre heutigen Anträge sind teilweise interessant. Nurwundere ich mich, dass Sie in sieben Jahren Regierungs-zeit keine Möglichkeit sahen, die schon damals bekann-ten Entwicklungen zu beeinflussen.
Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Pro-bleme. Ein typisches Beispiel ist die Einführung desBiosiegels, das dazu führte, dass die hochwertigen Stan-dards der Anbauverbände wie Demeter, Bioland und Na-turland unterlaufen wurden. Wirklich gefördert habenSie in Ihrer Amtszeit, liebe Frau Künast, vor allem diePolarisierung zwischen uns Landwirten und den Ver-brauchern.
Auch wir, die Regierungsfraktionen, sind alles andereals glücklich über viele Entwicklungen in der europäi-schen Landwirtschaft.
Darüber müssen wir uns sicher auch in unseren eigenenReihen Gedanken machen. Viele von uns sehen mitSorge den zunehmenden Einsatz von Antibiotika in derGeflügel- und Schweinemast, die immer größeren Mast-einheiten und den Strukturwandel weg vom bäuerlichenFamilienbetrieb hin zu anonymen Agrargesellschaften.Liebe Freunde, dieses Argument habt ihr nicht gepach-tet. Das ist tatsächlich und gerade für mich, der ich ausdem ostdeutschen Raum stamme, ein massives Problem.Die heute diskutierten Themen wie Antibiotika-Reduk-tion, artgerechte Tierhaltung oder Erhaltung mittelstän-discher Produktionsstrukturen werden von der Bundes-regierung bereits ausdrücklich und aktiv angegangen,auch bezogen auf das Arzneimittelgesetz und den Tier-schutz.Gerade die Entwicklung bei uns in Ostdeutschland istspannend. Ein kurzer Einblick: Neulich wurde mir imSupermarkt ein Hähnchen für 3,79 Euro angeboten.
Was ist bei diesem Preis vom Erzeuger noch zu erwar-ten, wenn die Brütereien, die Futtermittelhersteller, dieTierärzte, die Arbeitskräfte, die Schlachtereien, derGroßhandel, der Einzelhandel und nicht zuletzt die Ban-ken ihre Kosten und Gewinnmargen in Rechnung stel-len?
Diese Frage müssen wir genauso wie viele andere stel-len. Eine Antwort, die bedenklich ist, lautet: größere,saubere und rationeller zu bewirtschaftende Masteinhei-ten. Das ist bei uns in Ostdeutschland eine ganz andereThematik als bei Ihnen in Niedersachsen oder Westfalen.
Diese Masteinheiten sollen so groß sein, dass selbst unsLandwirten schwindelig wird.In den neuen Bundesländern, besonders in Branden-burg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt,vollzieht sich ein in Deutschland noch nie dagewesenerStrukturwandel in der Landwirtschaft.
Agrargesellschaften, aber auch Einzelunternehmen mitmehreren Tausend Hektar bzw. riesigen Tierhaltungsan-lagen schießen wie Pilze aus dem Boden. Diesen Betrie-ben wird mit herkömmlichen Steuerungsmechanismenwie GVE-Besatz – § 35 BauGB, Bauen im Außenbe-reich – oder BImSchV nicht mehr beizukommen sein.Insofern besteht dort Handlungsbedarf.In meiner Nachbarschaft laufen derzeit zwei Geneh-migungsverfahren für insgesamt 860 000 Hähnchen-mastplätze. Das entspricht einer Jahresproduktion vonmindestens 8 Millionen Hähnchen. Sie können davonausgehen, dass in diesen Anlagen der Einsatz von Anti-biotika eher geringer sein wird als in kleinen und altenMastanlagen. Moderne Luftreinigung, Klimasteuerungund keimabweisende Baumaterialien sorgen für einenziemlich reibungslosen Mastverlauf. Mit massivem Wi-derstand aus der Bevölkerung müssen Investoren in denländlichen Räumen Ostdeutschlands kaum rechnen, zu-mal sie alle Auflagen erfüllen werden.Meine Damen und Herren, ich will diesen Anlagen inkeiner Weise das Wort reden, ganz im Gegenteil. Ichkomme aber an den Tatsachen nicht vorbei. Diese Mega-betriebe werden deine Forderung, Friedrich Ostendorff– übrigens noch einmal herzlichen Glückwunsch zu dei-nem 60. Geburtstag –,
die Bestandsdichten zu reduzieren, viel leichter umset-zen können als die vielen bäuerlichen Betriebe, ganz ein-fach deshalb, weil unsere Strukturen das zulassen.
Überhaupt sind Ihre Antworten, meine Damen undHerren der Opposition, auf die drängenden Fragen dieserEntwicklungen ausgesprochen dünn. Sie beschränkensich darauf, einen Keil in die Landwirtschaftsbranche zu
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Hans-Georg von der Marwitz
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treiben und sie in „Öko-gut“ und „Konventionell-böse“zu unterteilen.
Ihr Verhalten ist alles andere als zielführend. Wir brau-chen die Kräfte aller Akteure in der Landwirtschaft, umden Strukturwandel zu begrenzen und die Rahmenbedin-gungen zu verbessern, zumal die Unterscheidungskrite-rien nicht wirklich nachvollziehbar sind. Gibt es nichtauch im Ökolandbau längst Massentierhaltung?
Was ist tatsächlich artgerecht? Selbst die Haltung meiner3 000 Biohühner im Allgäu war zwar den Auflagen desNaturland-Verbandes konform, aber eben nicht artge-recht. Auch ich kam nicht umhin, erkrankte Bestände zubehandeln und Aggressivität durch Lichtmanipulation zudämpfen.Nein, meine Damen und Herren, die Vorstellung derVerbraucher über die – nie dagewesene – bäuerlicheIdylle gehört in die Welt der Fabeln und Märchen
oder in die so farbenfrohen Magazine, die die Sehn-süchte der Verbraucher, vollkommen an der Realität vor-bei, bedienen. Solange die Wunschvorstellungen und dasHandeln der Verbraucher im krassen Gegensatz steht,wird es weiterhin bei vielen Lippenbekenntnissen blei-ben. Ich komme nicht umhin, auch an Ihre Verantwor-tung, verehrte Verbraucherinnen und Verbraucher, zu ap-pellieren: Wer sich beim Einkauf gedankenlos verhält,darf sich nicht über Massentierhaltung oder nicht artge-rechte Haltung beschweren.Wenn wir tatsächlich andere als sich jetzt entwi-ckelnde Agrarstrukturen wünschen, dann hätten wir indiesem Jahr die besten Möglichkeiten, zu handeln.
Die GAP-Reform ist ein zentrales Steuerungsinstrument,das uns in der Politik noch bleibt.
Meine Forderungen gehen, wie Sie wissen, mittlerweilerecht weit. Wenn wir wieder die fachliche Kompetenzder Landwirte in den Mittelpunkt stellen, bürokratischeMonster abbauen und subventionsoptimiertes Wirtschaf-ten vor allem bei uns unterbinden wollen, muss es er-laubt sein, über den mittelfristigen Ausstieg oder dieUmstrukturierung der ersten Säule bis 2020 nachzuden-ken.
Natürlich können wir in der Zeit frei werdende Mittel indie Förderung von Existenzgründungen stecken oderauch über Haltungsmethoden nachdenken. Allerdingsgeht das nur im Zusammenspiel mit Brüssel. Ein Allein-gang Deutschlands würde – das wissen Sie genau – nurzur Verlagerung der Mastanlagen ins Ausland führen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist, erstens
alle möglichen Folgen potenzieller Maßnahmen im
Blick zu haben und zweitens die Praktikabilität der For-
derungen zu überprüfen. Die ausführliche Diskussion
zum Tierschutzgesetz hat es bereits deutlich gemacht:
Reiner Aktionismus ist nicht hinnehmbar.
Ich bin überzeugt, dass familiengeführte Landwirt-
schaftsbetriebe ein existenzielles Bedürfnis haben, dem
Tierwohl und dem Verbraucherschutz gleichermaßen ge-
recht zu werden. Insofern sollten diese Betriebe im Mit-
telpunkt der Diskussion um ein landwirtschaftliches
Leitbild stehen. Die Grüne Woche bietet die Gelegen-
heit, das Thema „Landwirtschaft“ öffentlichkeitswirk-
sam, vor allem aber konstruktiv zu diskutieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Über die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-sachen 17/12056 und 17/11879 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse haben wir vorhin schonabgestimmt.1)Damit kommen wir zu den weiteren Abstimmungen,und zwar zunächst zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak-tion der SPD mit dem Titel „Antibiotika-Einsatz in derTierhaltung senken und eine wirksame Reduktionsstrate-gie umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/8611, denAntrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8157abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo-sitionsfraktionen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak-1) siehe Seite 26627 D
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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tion Die Linke mit dem Titel „LandwirtschaftlicheNutztierhaltung tierschutzgerecht, sozial und ökolo-gisch gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/11817, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10694abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken beiEnthaltung von SPD und Grünen angenommen.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Haltungsbedingungen für Putenverbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/12048, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/11667 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigenKabinettssitzung mitgeteilt: Luftfahrtstrategie der Bun-desregierung.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundes-ministerium für Wirtschaft und Technologie und Koordi-nator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt,Peter Hintze. Bitte schön, Kollege Hintze.P
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Weltluftfahrt wächst kontinuier-lich. Darin liegt eine große Chance für Hersteller,Zulieferer und Wartungsdienstleister sowie für den Wirt-schaftsstandort Deutschland insgesamt, an diesem Hoch-technologiebereich wirtschaftlich und technisch zu parti-zipieren. Darin liegt auch eine große Chance für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf zukunfts-sichere und qualifizierte Arbeitsplätze in allen Bundes-ländern, aber insbesondere in Hamburg, Niedersachsen,Bremen und Bayern, wo die Schwerpunkte der Herstel-ler und Zulieferer im Bereich der Luftfahrt liegen; vielekleine und mittlere Unternehmen befinden sich aberauch in den anderen Ländern.Eine Chance bietet sich auch dadurch, dass der Luft-verkehr hinsichtlich des Klimaschutzes global einengroßen Beitrag leisten möchte und leisten muss. EineHerausforderung besteht bei der Entwicklung neuerFlugzeuge im Hinblick auf die Energieeffizienz und denAusstoß von Kohlenstoffdioxid. Die InternationaleZivilluftfahrt-Organisation hat sich als Ziel gesetzt, dengesamten CO2-Ausstoß der zivilen Weltluftfahrt bis zumJahre 2050 im Vergleich zu 2005 zu halbieren, also50 Prozent weniger CO2-Ausstoß trotz wachsendenLuftverkehrs. Sie hat sich weiterhin zum Ziel gesetzt,das weitere Wachstum des Weltluftverkehrs ab 2020CO2-neutral zu gestalten. Das sind mächtige Herausfor-derungen; aber darin liegen natürlich auch Chancen fürdie Hersteller von Flugzeugen, Systemen und Subsyste-men, die diese Ergebnisse ermöglichen sollen.Das Ziel der Luftfahrtstrategie der Bundesregierungist also, dass der Luftfahrtstandort Deutschland mitseinem Weltkonzern Airbus, der hier ein wichtigesStandbein hat, und mit seiner tief gestaffelten Zulieferin-dustrie einen Beitrag für die Entwicklung sicherer, ener-gieeffizienter, umweltfreundlicher und leiserer Flug-zeuge leistet. Das Ganze geschieht im Kontext einergroßen technologischen Revolution. Wir sind beim Flug-zeugbau dabei, den Sprung vom Metall- ins Kunststoff-zeitalter zu schaffen. Kohlefaserverstärkte Kunststoffe,die Flugzeuge leichter machen und sie energieeffizienterfliegen lassen, werden beim Flugzeugbau eingesetzt. Beider Boeing 787, dem Dreamliner, ist das schon der Fall,beim Airbus A350 wird es folgen.Ab und zu liest man in der Zeitung oder, wie heute,im Internet, dass bei dem neuen Flugzeug, das Boeingauf den Weltmarkt gebracht hat, das eine oder andereProblem identifiziert wurde. Wenn Sie sich dieGeschichte der Luftfahrt anschauen, stellen Sie fest, dasses am Anfang bei allen großen Neuentwicklungen, obdamals bei der Boeing 747 oder bei anderen Flugzeugen,immer die eine oder andere Anlaufschwierigkeit gab;das war auch beim Airbus A380 der Fall. Das gehört beigroßen Neuentwicklungen dazu, zumal diese Entwick-lungen immer komplexer werden. Dennoch glaube ich,dass dieser Weg insgesamt erfolgreich sein wird.Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen,dass die Entwicklung zum Leichtbau im Luftverkehrauch positive Auswirkungen hat, zum Beispiel im Hin-blick auf die Energieeffizienz und unsere CO2-Reduk-tionsziele etwa im Straßenverkehr, also bei Pkw. DieBayerischen Motoren Werke haben bereits im vergange-nen Jahr als erstes Unternehmen damit angefangen, einFahrzeug ganz auf CFK-Basis zu produzieren; in diesemJahr soll es auf den Markt gebracht werden. Auch wennKollege Riesenhuber mich immer ermahnt, nicht zu sehrauf die Spill-over-Effekte zu schauen, muss ich sagen:Im Bereich der Materialentwicklung ist ein mächtigerSpill-over-Effekt zu verzeichnen, was den Einsatz vonCFK-Werkstoffen im Automobilbereich betrifft.Was bedeutet die Luftfahrtstrategie konkret fürDeutschland? Es geht darum, dass wir uns im Hinblickauf den nächsten Technologiesprung, der in der Luft-fahrtindustrie ansteht, positionieren; es geht um die neueFlugzeuggeneration. Die Flugzeuge, mit denen wir heut-zutage fliegen – der Airbus A320 bzw. die 200er-Serie –,hatten ihren Erstflug 1987, und sie werden, wie ichdenke, bis 2025 fliegen. Das sind fast vier Jahrzehnte.Das, was heute entwickelt wird, hat also für fast ein hal-bes Jahrhundert Bedeutung. Das betrifft nicht nur dieEntwicklung, sondern auch die spätere Produktion. Fürdie OEMs, also die Flugzeughersteller, wie für die Zulie-ferer bedeutet es für mehrere Jahrzehnte Geschäft, wenndie Weichen heute richtig gestellt werden. Wir wollen
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Parl. Staatssekretär Peter Hintze
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eine tief gestaffelte Wertschöpfungskette in Deutschlanderhalten, und wir wollen – das ist ganz wichtig – denZusammenhang zwischen Forschung, Entwicklung undindustrieller Produktion betonen.Manchmal erleben Sie vielleicht, dass ich im lebendi-gen Austausch mit den Herstellern bin. Dabei wird im-mer wieder deutlich: Produktion ist wichtig, aberForschung und Entwicklung sind sehr wichtig; denndavon hängt ab, ob Deutschland in Zukunft ein High-techstandort bleibt und ob wir sicherstellen können, dassder Zusammenhang zwischen Forschung, Entwicklungund industrieller Produktion auf Dauer beachtet wird.
Herr Kollege, die fünf Minuten sind abgelaufen.
P
Ich habe es befürchtet, Herr Präsident.
Vielleicht können Sie in Ihren Antworten stückweise
mitteilen, was Sie sich notiert haben.
P
Ich habe im Wesentlichen noch nicht damit angefan-
gen.
Ich bin aber sicher, Herr Präsident, dass so viele kluge
und sachverständige Fragen gestellt werden, dass ich die
wichtigsten Inhalte noch werde ansprechen können.
Diese Materie ist komplex. Von Albert Einstein – Herr
Präsident, wenn Sie diese Bemerkung noch gestatten
– stammt ja der Satz: Man soll die Dinge so einfach wie
möglich machen, aber nicht einfacher. – Das ist in fünf
Minuten manchmal schwierig.
Ja, aber wir haben uns diese strengen Regeln gege-
ben, und sie gelten auch für die Antworten. Sie sollten
immer eine Minute Redezeit einhalten, auch wenn das
schwierig ist.
P
Ich bemühe mich, Herr Präsident.
Jetzt kommen wir zu den Fragen zu dem Themen-
bereich, der gerade angesprochen worden ist. Ich bitte
Sie, kurze Fragen zu stellen.
Zunächst Kollegin Schwarzelühr-Sutter, dann Kol-
lege Lindner.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Ihr Wort in Gottes
Ohr! Der Luftverkehrswirtschaft haben Sie in Ihrem
Papier zur Luftfahrtstrategie, wenn überhaupt, nur ein
kleines Kapitelchen gewidmet. Sie konzentrieren sich
auf die Luftfahrtindustrie, aber nicht auf die Luftver-
kehrswirtschaft. Diese braucht allerdings besondere
Unterstützung, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ich möchte nachfragen: Welchen Stellenwert hat für
Sie die Luftverkehrswirtschaft, haben unsere Carrier, die
international erfolgreich bleiben müssen, um auch in Zu-
kunft Maschinen kaufen und investieren zu können? Das
kommt mir in Ihrer Beschreibung viel zu kurz. Das, was
Sie sagten, waren eher Lippenbekenntnisse zur Luftver-
kehrswirtschaft; es war aber eigentlich keine Strategie.
P
Frau Kollegin, die Analyse war korrekt, die Bewer-
tung lieblos und inkorrekt. Ich will mit einer Kritik an
der Bundesregierung beginnen: Es müsste vielleicht in
der Tat heißen: „Luftfahrzeugherstellerstrategie“ – mit
all dem, was dazugehört. Es geht hier um die Industrie,
die Luftverkehrsflugzeuge herstellt, die Zulieferindus-
trie, die Maintenance-Dienstleister. Es geht nicht um die
Luftverkehrswirtschaft, also um die Fluggesellschaften
und die Flughäfen. Zu diesem Bereich wird der Bundes-
verkehrsminister – er ist im Rahmen der Geschäfts-
verteilung innerhalb der Bundesregierung dafür zustän-
dig – eine eigene Strategie vorlegen. – Ich gebe Ihnen
recht: Auch die Luftverkehrswirtschaft ist bedeutend
und wichtig; aber sie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht Gegenstand der Beschlussfassung.
Kollege Lindner, bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrem
Beitrag die Themen Emissionen, Lärm und Verbrauch
erwähnt. Es wundert mich deshalb etwas, dass es mir
nicht gelungen ist, diese Begriffe in der Pressemitteilung
des BMWi vom heutigen Tage zu finden.
Ich möchte Sie deshalb zum einen fragen, durch wel-
che Maßnahmen Sie im Rahmen Ihrer Strategie auf der
Herstellerseite – im Bereich Forschung, Entwicklung,
Herstellung – Anreize setzen wollen bzw. ob Sie regula-
torische Schritte gehen wollen, um Lärm, Verbrauch und
Schadstoffe zu mindern, und zum anderen, inwieweit Sie
sicherstellen wollen, dass solche Luftfahrzeuge von den
Luftfahrtunternehmen auch nachgefragt werden.
Herr Staatssekretär.
P
Die Reduktion von Emissionen, die Erhöhung derEnergieeffizienz und die Umweltfreundlichkeit derFlugzeuge sind überhaupt die Voraussetzungen dafür,dass eine neue Generation von Luftfahrzeugen entsteht;
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Parl. Staatssekretär Peter Hintze
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denn wenn die neue Generation das nicht leistet, wäresie überflüssig.Sie fragen, was für Anreize die Bundesregierung ge-ben will. Wir wollen wie schon in dem jetzigen Aufrufauch in dem neuen Aufruf des Luftfahrtforschungspro-gramms bei diesen Themen einen Schwerpunkt setzen.Ich weiß aus meinen Gesprächen mit der Industrie, dassauch die Planung der Industrie genau darauf abzielt. Ichbitte das Haus um Nachsicht, dass dieser wichtige Punkt,den ich, um seine Bedeutung hervorzuheben, ganz amAnfang meiner Ausführungen gebracht habe, in derPresseerklärung des BMWi nicht auftaucht.
Kollege Tiefensee.
Sehr verehrter Herr Staatssekretär, meine Frage be-
zieht sich noch einmal auf die Luftverkehrswirtschaft. In
Ihrem Bericht taucht das Stichwort „Luftverkehrsab-
gabe“ auf. Nach dem, was man hört, gibt der Bundesver-
kehrsminister auf einschlägigen Veranstaltungen zu,
dass er die Luftverkehrsabgabe nicht mag. Er heftet sie
dem Finanzminister ans Revers. Nun steht in Ihrem Be-
richt, dass Sie für wettbewerbsneutrale Bedingungen
sorgen wollen. Meine Frage ist: Wie beurteilen Sie die
Luftverkehrsabgabe vor diesem Hintergrund?
Die ADV, die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Ver-
kehrsflughäfen, prognostiziert für 2013 nicht zuletzt
wegen dieser Abgabe einen deutlichen Einbruch des
Luftverkehrsgeschäftes. Wir sehen diesen Einbruch ak-
tuell schon. Beurteilen Sie das ähnlich wie die ADV?
Was wollen Sie dagegen tun?
P
Ich möchte jetzt nicht darauf eingehen, was mein Kol-
lege Kampeter, der Staatssekretär beim Bundesminister
der Finanzen, mir gerade zugerufen hat.
– Der Herr Staatssekretär aus dem Finanzministerium
war der Meinung, dass die Probleme des Berliner
Flughafens nicht durch die Luftverkehrsabgabe hervor-
gerufen wurden. – Das nur zur Herstellung der kommu-
nikativen Offenheit hier im Plenum.
Erstens. Auch wenn wir diesen kleinen Hinweis gege-
ben haben, den wir im Hinblick auf unsere Hersteller
wichtig finden, beschäftigen wir uns in diesem Bericht
nicht mit der steuerlichen Behandlung des Luftverkehrs.
Ich bitte darum, diese Diskussion mit dem Bundes-
finanzminister oder mit dem Bundesverkehrsminister zu
führen. Richtig ist, dass die Bundesregierung von der
Grundidee gleicher Wettbewerbsbedingungen ausgeht.
Ich kenne dieses Thema, wie Sie wissen, aus unseren
vielen Diskussionen aus dem Effeff. Wir könnten hier
noch einmal alle Argumente zu Pro oder Kontra aus-
tauschen; ich denke aber, das führt am heutigen Thema
vorbei.
Nun Stephan Kühn.
Sie haben angesprochen, dass die Bundesregierung
mit Forschungsmitteln unterstützen möchte, dass künftig
lärmärmere Flugzeuge auf den Markt kommen. Die
Frage ist immer, was sich auf dem Markt durchsetzt; das
hat etwas mit Standards zu tun. Halten Sie die internatio-
nalen Standards, die für Emissionen gelten und mit de-
nen die Hersteller operieren müssen, für ausreichend, um
dieses Ziel zu erreichen, oder brauchen wir höhere Stan-
dards, damit die innovativen Hersteller, die lärmgemin-
derte Flugzeuge herstellen, tatsächlich einen Wettbewerb
vorfinden, in dem sich diese dann auch entsprechend
verkaufen lassen?
P
Herr Kollege, ich möchte Ihre Frage empirisch beant-
worten: Wenn wir uns die letzten vier Jahrzehnte im
Flugzeugbau anschauen, dann sehen wir, dass es eine
dramatisch erfolgreiche Lärmreduzierung gegeben hat.
Wenn ich das einmal kurz optisch beurteilen darf: Ich
bin geringfügig lebensälter als Sie.
– Zutreffend, ja. – Die Lärmreduzierung war dramatisch,
und auch die Industrie sagt, sie sei heute ein entschei-
dendes Verkaufsargument, weil überall auf der Welt die
Menschen zu Recht einfordern, dass die Lärmemissio-
nen gering gehalten werden. Das ist also ein wirtschaftli-
cher Wert, der sich auch verkaufen lässt.
Es gibt aber ein technisches Dilemma in Bezug auf
die bisherigen Antriebskonzepte. Deswegen wollen wir
Geld investieren, wir wollen dieses Dilemma lösen. Bis-
herige Antriebskonzepte – Open-Rotor-Konzepte – ar-
beiten wesentlich ressourceneffizienter, sind im Hinblick
auf Lärmemissionen aber schlechter. Hier gibt es also
ein Dilemma zwischen CO2-Emissionen und Lärmemis-
sionen. Deswegen wollen wir unsere klugen Ingenieure,
unsere Wissenschaftler, das Deutsche Zentrum für Luft-
und Raumfahrt, die Fraunhofer-Institute und die Univer-
sitäten mit gutem deutschen LuFo-Geld ausstatten, da-
mit sie es schaffen, die Quadratur des Kreises hinzube-
kommen, also sowohl die Lärmemissionen als auch die
Kohlenstoffdioxidemissionen zu senken. Wenn ein Wett-
bewerber das auf den Markt bringen kann, dann hat er
ein Hauptverkaufsargument.
Rita Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, ich komme auf faire Wettbe-werbsbedingungen zurück. Die Bundesregierung beab-sichtigt ein weltweites Abkommen, um fairen Wettbe-werb zu ermöglichen und den staatlichen Einflussmöglichst zu reduzieren.
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Rita Schwarzelühr-Sutter
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(B)
Was verstehen Sie hier unter staatlichem Einfluss, vorallem im Zusammenhang damit, dass Sie eine stärkereFührungsrolle der Bundesregierung bei Airbus selbereinfordern? Wie kommt das zusammen und bei den Ver-handlungspartnern an? Gibt es hierzu bereits Verhand-lungen? Sind hier entsprechende Termine festgelegt?Wie sehen und beurteilen Sie das vor dem Hintergrundder schwierigen multilateralen Verhandlungen auch mitder WTO und insbesondere mit den USA in der Vergan-genheit? Wie betrachten Sie vor einem realistischen Hin-tergrund überhaupt die Erfolgschancen?P
Herr Präsident, das ist jetzt eine Herausforderung:
Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren das sechs Fra-
gen, die ich in 60 Sekunden beantworten soll. Ich versu-
che das einmal ganz kurz.
Sie haben zum Schluss tatsächlich den Ausgangs-
punkt genannt: Es gibt zwei WTO-Verfahren. Das eine
führt die Europäische Union gegen die USA, das andere
führt die USA gegen die Europäische Union. Beide Male
geht es um die WTO-Kompatibilität oder -Nichtkompa-
tibilität von Förderprogrammen, in dem einen Fall für
Boeing, in dem anderen Fall für Airbus. Die Passage in
der Luftfahrtstrategie, die sich ja auch in den Zeitungen
wiederfindet, bezieht sich darauf, dass wir hier versu-
chen müssen, international eine Vereinbarung zu errei-
chen.
Sie haben nach der Schrittabfolge gefragt. Die erste
Schrittabfolge wird in der Tat sein, dass wir versuchen
müssen, zwischen den USA und der Europäischen
Union einen Level Playing Ground, eine gemeinsame
Grundlage, zu erreichen, sodass es hier keinen Wettbe-
werb „staatliches Geld kontra private wirtschaftliche Tä-
tigkeit“ gibt, sondern die Förderung auf einem Niveau
stattfindet, dass sie WTO-kompatibel ist. Das wollen wir
auch für die anderen Wettbewerber tun.
Weil das den Regeln entspricht, durfte ich nur fünf
Minuten lang sprechen. Wenn ich länger hätte sprechen
dürfen, dann hätte ich noch darauf hingewiesen, dass
sich die Wettbewerbssituation auf der Welt stark verän-
dert. Gerade bei den Flugzeugen im Kurz- und Mittel-
streckenbereich kommen neue Wettbewerber an den
Markt.
Ich bin darüber nicht nur mit der IG Metall, sondern
beispielsweise auch mit dem Ersten Bürgermeister von
Hamburg und anderen Verantwortlichen in einem positi-
ven und regelmäßigen Gespräch. Sie unterstützen die
Bundesregierung parteiübergreifend darin – das kann ich
sagen –, dass wir in den Bereichen, in denen unsere Stär-
ken liegen – bei den Kurz- und Mittelstreckenflugzeu-
gen –, auch in Zukunft die Kompetenzen, die Arbeits-
plätze, die Entwicklungskapazitäten und die Forschung
bei uns behalten wollen. Die Bundesrepublik Deutsch-
land hat hier im Laufe der Jahre unter unterschiedlichen
Regierungen mehrere Milliarden Euro investiert, und
wir wollen nun für unsere Arbeitnehmer, für unsere Un-
ternehmer, für unseren Mittelstand, für die Zulieferer
auch die Früchte ernten.
Ich habe mich damit auch ein bisschen öffentlich aus-
einandergesetzt und darf noch ein kritisches Wort sagen:
Ich fände es nicht gut, wenn alle Entwicklungszustän-
digkeiten bei einem europäischen Konzern außerhalb
unseres schönes Landes zentralisiert würden. Ich meine,
die Stärken, die wir haben, sollten auch bei uns weiter-
entwickelt und gehalten werden.
Danke schön. – Jetzt hat noch einmal Tobias Lindner
das Wort.
Herr Kollege Staatssekretär, ich möchte Ihnen in die-
ser Minute nur eine einzige Frage stellen. Wir kennen ja
beide sehr gut den Einzelplan Ihres Hauses und wissen,
dass die Luft- und Raumfahrt darin doch einen signifi-
kanten Anteil hat. Mich würde interessieren, welche
Gelder die Bundesregierung beabsichtigt, in den kom-
menden Jahren für die Luftfahrtstrategie bereitzustellen,
die heute beschlossen wurde.
P
Wenn wir über Gelder in dem Bereich sprechen, ha-
ben wir zwei verschiedene Dinge. Das eine ist die Luft-
fahrtforschung. Da habe ich jetzt die konkrete Summe
für den Zeitraum 2007 bis 2016 nur so ungefähr parat,
weil sich die Luftfahrtforschungsaufträge immer über
mehrere Jahre überlappen. Das sind für diesen Zeitraum
von knapp zehn Jahren etwa 1 Milliarde Euro in diesem
Bereich. Daneben stehen die Zahlungen, die wir als Dar-
lehen für die Entwicklung von neuen Flugzeugtypen ge-
ben. Die Summen hängen davon ab, wann entsprechende
Entwicklungen einsetzen, welche Anteile wir bekom-
men. Auch da gibt es ja – das konnten Sie in den Zeitun-
gen lesen – die eine oder andere unterschiedliche Sicht
der Dinge. Wir sagen jedenfalls: Wenn wir Entwicklung
finanzieren wollen, wollen wir auch, dass die in dem ent-
sprechenden Maße bei uns stattfindet. Ich hoffe, dass das
vom ganzen Haus so unterstützt wird.
Wolfgang Tiefensee noch einmal.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, meine Frage rich-tet sich noch einmal auf das Thema EADS. Wir werdenin der nächsten Woche unter anderem mit einem langenBankett die deutsch-französische, die französisch-deut-sche Freundschaft feiern, Sektgläser erheben. Mirscheint eines der Großprojekte, nämlich EADS – zumin-dest was die Abstimmung zwischen Deutschland, Frank-reich, Großbritannien, zwischen der Bundesregierungund der Vorstandsetage von EADS anbetrifft –, eher inRichtung Scherbenhaufen zu gehen, wenn ich bedenke,wie die Abwicklung einer möglichen Fusion mit BAEgelaufen ist. Hier ist deutlich geworden, dass die Bun-desregierung und die französische und die britische Re-gierung durchaus große Differenzen haben, dass die In-formation nicht fließt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26655
Wolfgang Tiefensee
(C)
(B)
Meine Fragen sind: Geben Sie mir erstens recht, dassEADS ein Musterbeispiel, eine Blaupause für europäi-sche Zusammenarbeit sein muss und demzufolge vielmehr in diese Richtung investiert werden muss? Undzum Zweiten – es klang bereits an –: Wie wollen Sie beieinem zurückgehenden Bestellvolumen innerhalb derEuropäischen Union dafür Sorge tragen, dass die für unsexistenziellen Arbeitsplätze, die für die Regionen exis-tenziellen Arbeitsplätze erhalten bleiben und möglichstnoch ausgebaut werden in Bezug auf EADS und die Pro-duktionen in den entsprechenden Firmen?P
Ich hatte vor Weihnachten das Vergnügen, Redner auf
einer SPD-Veranstaltung in Hamburg zu sein. Kollege
Kahrs hatte mich eingeladen. Da war zwar nicht der ver-
sammelte Betriebsrat, aber die Spitze des Betriebsrats
von Airbus Hamburg – größter deutscher Standort –
auch anwesend. Ich habe dort den Eindruck gewinnen
dürfen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wie auch ihre Gewerkschaft sehr einverstanden damit
waren, dass wir gesagt haben, wir wollen das Unterneh-
men so, wie die Gründungsidee war, so wie es gestaltet
ist, in einer fairen deutsch-französischen Balance weiter-
führen. Dass dort die Unterstützung dafür groß war, fand
ich erfreulich. Ich wollte Ihnen das einfach einmal zur
Kenntnis geben.
Das Zweite ist: Die Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Frankreich ist auch sehr gut. Die Zu-
sammenarbeit mit England ist auch eine sehr gute, aber
da gibt es in der Tat einen kleinen Interessenunterschied.
Mit der Fusion mit BAE Systems wäre der weltgrößte
Rüstungskonzern entstanden. Sie können das in der
Wirtschaftspresse nachlesen oder mit der IG Metall spre-
chen, wie auch immer. Ob die damit verbundenen wirt-
schaftlichen Wirkungen für alle drei Beteiligten gleich
gut gewesen wären, weiß ich nicht. Ich glaube jeden-
falls, dass das Unternehmen so, wie es jetzt aufgestellt
ist, doch besser aufgestellt ist, dass es größere wirt-
schaftliche Chancen hat.
Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, dass ja,
als die Fusionswünsche oder Fusionspläne bekannt ge-
geben wurden, der EADS-Kurs einstürzte, der BAE-
Kurs hochstieg und dass, als die Fusion dann für beendet
erklärt wurde, der EADS-Kurs sich wieder sehr stark er-
holt hat. Im Übrigen haben wir das zwischen den drei
Regierungen eng besprochen. Ihre Befürchtung, es gäbe
kein gutes Gesprächsklima, kann ich widerlegen, und
zwar unter anderem auch mit dem Hinweis, dass ich seit
vielen Jahren der deutsche Vertreter in den Airbus-Mi-
nisterräten bin, wo wir uns regelmäßig in Le Bourget, in
Farnborough, hier in Berlin am Rand der ILA treffen.
Bei jeder Luftfahrtmesse gibt es eine solche Konferenz.
Dort haben wir zwischen den drei Staaten und auch mit
Spanien, das auch mit dabei ist, ein sehr gutes Ge-
sprächsklima, ein gutes Verhältnis. Ich denke, das Unter-
nehmen fühlt sich von uns auch gut behandelt.
Jetzt noch einmal Kollege Stephan Kühn.
Herr Staatssekretär, ich wollte noch einmal auf das
Thema der gleichen Wettbewerbsbedingungen in der
Welt zu sprechen kommen; Sie hatten das schon ange-
sprochen. Versteht die Bundesregierung perspektivisch
darunter die Rücknahme der Luftverkehrsteuer und das
langfristige Aussetzen des Emissionshandels?
P
Wie ich eben schon auf die Frage eines Kollegen ge-
antwortet habe, ist das nicht Gegenstand der Strategie,
bei der es um die Industrie geht, in der Luftfahrzeuge
entwickelt und gebaut werden. Alle anderen Fragen,
denke ich, werden dann im Rahmen der Strategie, die
der Bundesverkehrsminister vorlegen wird, zu bespre-
chen sein.
Noch einmal Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
Herr Staatssekretär, wenn man die Herausforderungen
in der Industrie betrachtet, dann spielt dabei Forschung
die zentrale Rolle. Aber die Ausgaben für Forschung
sind auf gleichem Niveau geblieben. Sie haben zwar vor,
einen Projektebeirat bei dem DLR einzurichten und eine
Roadmap zu definieren. Wenn es aber um einen erleich-
terten Marktzugang für die deutsche Industrie gehen
soll, dann gibt es nur Darlehen. Da frage ich mich schon:
Woher kommt der Impuls, den man braucht, um diese
Herausforderungen wirklich annehmen zu können, wenn
sich das nicht finanziell abbildet?
P
In Ägypten gibt es ein schönes Sprichwort: EinePalme wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht. –Das heißt, die Idee, doppelt so viel Geld einzusetzen, umeine doppelt so hohe Leistung zu erhalten, ist zwar sym-pathisch, aber falsch.
Die Mittel für die Luftfahrtforschung sind erstens sehrumfänglich, und zweitens ist ihr Einsatz erfolgsträchtig.Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Airbus entwickeltjetzt als Zwischenschritt zur neuen Familie, die dann abMitte des nächsten Jahrzehnts auf den Markt kommt,eine Weiterentwicklung des A320. Sie heißt A320neo,„new engine option“. Diese wird mit einem Triebwerkausgestattet, mit dem eine Energieeinsparung von15 Prozent erreicht wird. Das ist in der Luftfahrt schoneine ganze Menge. Die Entwicklung – es handelt sichum ein Geared Turbofan-Triebwerk – ist ganz wesent-lich auch aus Deutschland vorangebracht worden. DasTriebwerk wird von Pratt & Whitney zusammen mitMTU hergestellt. Hier sind, was MTU angeht, LuFo-Fördermittel eingesetzt worden.
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26656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
(C)
(B)
Ich weiß genau: Als diese Entwicklung begann, habeich von einem anderen großen Triebwerkhersteller ge-hört, das sei ein absoluter Holzweg. – Wir haben gesagt:Wir konzentrieren die Mittel auf diese Entwicklung. DerHolzweg hat sich als wirklicher Highway erwiesen, wasjetzt zu der höchsten Zahl von Bestellungen geführt hat,die es in der zivilen Luftfahrt jemals gegeben hat.Wir konzentrieren den Einsatz unserer Mittel. Aberwir haben auch gesagt: In wirtschaftlich schweren Zei-ten, in denen die Budgets knapp sind, wollen wir geradein diesem Bereich weiterhin investieren. Das ist ein Er-folg. Ich bin mir sicher: Auch der neue LuFo-Call wirdzu einem Erfolg in der Sache.
Danke schön. – Gibt es Fragen zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall.
Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bun-
desregierung? Kollege Liebich hat eine Frage angemel-
det.
Ich habe eine Frage zu dem Thema, das der Finanz-
staatssekretär vorhin durch einen Zwischenruf angeris-
sen hat, nämlich zum Flughafen Berlin Brandenburg
International. Entgegen der rechtsverbindlichen Schlie-
ßung, die für den Flughafen Berlin-Tegel vorgesehen
war, betreibt die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH,
in der die Bundesregierung Gesellschafter ist, den Flug-
hafen auf unbestimmte Zeit weiter. Mich interessiert,
welche Vorschläge die Aufsichtsratsvertreter der Bun-
desregierung vom Vorstand zur Entschädigung der be-
troffenen Bürgerinnen und Bürger in den Berliner Bezir-
ken Pankow, Reinickendorf und Spandau erwarten.
Wer kann sich dazu äußern? – Bitte schön, Herr
Staatssekretär Mücke.
J
Herr Präsident! Herr Abgeordneter, das Thema ist
heute nicht Gegenstand der Kabinettssitzung gewesen
und ist deshalb dort auch nicht besprochen worden. Es
ist zu früh, darüber zu spekulieren, welche zusätzlichen
Kosten durch die Verzögerung der Inbetriebnahme des
Flughafens BER in Schönefeld eintreten werden.
Es ist die Aufgabe der Geschäftsführung, dafür zu sor-
gen, dass ein entsprechender Schadensersatz da geleistet
werden kann, wo Schäden eingetreten sind. Die Auf-
sichtsratsmitglieder des Bundes werden darauf dringen,
dass die Geschäftsführung eine solche Konzeption vor-
legt, wenn klar ist, welche Schäden tatsächlich eingetre-
ten sind.
Kollege Beck hat noch eine weitere Frage.
Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt: Das war heute
nicht Gegenstand der Kabinettssitzung. – Wann war der
Flughafen Berlin Brandenburg das letzte Mal Gegen-
stand der Kabinettssitzung und mit welchem Inhalt?
J
Das kann ich Ihnen jetzt nicht mit letzter Sicherheit
sagen. Ich nehme stark an, dass es das letzte Mal im
März 2010 Thema gewesen ist, als die Aufsichtsratsum-
besetzung durch das Kabinett beschlossen wurde.
Können Sie das gegebenenfalls für die Bundesregie-
rung schriftlich nachreichen, Herr von Klaeden, wann
die letzten Behandlungen dieses Themas im Kabinett
waren? Wir sind immerhin Mitgesellschafter.
J
Das werden wir nachreichen.
Kollege Liebich möchte noch einmal nachfragen.
Diese Auskunft ist angesichts der dramatischen Dis-
kussion, die über den Flughafen stattfindet, natürlich
ziemlich überraschend. Ich habe deshalb noch eine kon-
krete Frage. Heute fand die Aufsichtsratssitzung statt.
Die Bundesregierung ist in diesem Aufsichtsrat vertre-
ten. Wir konnten vorher von Vertretern von Bundes-
ministerien erfahren, dass sie den Vorschlag, dass der
brandenburgische Ministerpräsident Aufsichtsratsvorsit-
zender werden soll, nicht sinnvoll finden. Nun ist er das
geworden, und zwar, wie ich gelesen habe, einstimmig.
Darüber muss doch vorher geredet worden sein. Wo ist
darüber gesprochen worden, wie man mit den Vorschlä-
gen der Ministerien, dass er das nicht werden soll, um-
geht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Herr Kollege, die Abstimmung der beiden zuständi-gen Ressorts BMF und BMVBS findet laufend statt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26657
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Fragen
mehr. Dann beende ich die Befragung.
Da sowohl Fragende wie Antwortende anwesend
sind, leite ich gleich über und rufe den Tagesordnungs-
punkt 4 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 17/12041, 17/12049 –
Zunächst der Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums der Verteidigung: Zur Beantwortung steht der Par-
lamentarische Staatssekretär Christian Schmidt bereit.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin
Inge Höger auf:
Welche personellen, logistischen oder sonstigen Unterstüt-
zungsleistungen für die derzeit stattfindende französische
Militäroperation in Mali plant die Bundesregierung vor dem
Hintergrund von entsprechenden Zusagen des Bundesminis-
ters des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, gegenüber der
französischen Regierung vom 14. Januar 2013 und von Aus-
sagen des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de
Maizière, gegenüber dem Deutschlandfunk am 13. Ja-
nuar 2013, und welche Unterstützung, etwa in Militärstäben,
findet bereits heute statt?
C
Vielen Dank, Frau Kollegin. Ihre Frage kann ich so
beantworten, dass eine personelle oder logistische Un-
terstützung des französischen Militäreinsatzes in Mali
durch Deutschland derzeit nicht stattfindet. Gleiches gilt
für eine deutsche Unterstützung in Militärstäben.
Sie mögen in den letzten Stunden nach einer Verlaut-
barung und Bekanntgabe der beiden Ressorts, des Aus-
wärtigen Amtes bzw. des Bundesaußenministers und des
Bundesverteidigungsministers, über die Perspektive und
die getroffene Entscheidung schon informiert sein. Die
Obleute wurden nach meiner Kenntnis auch unterrichtet,
dass eine Unterstützung logistischer Art durch den
Transport in Form von zwei Militärtransportflugzeugen
der Transall C-160 durch die Bundeswehr, zum Trans-
port von Soldaten und Material, das im Rahmen der
ECOWAS-Mission – der Mission, die durch die Ver-
einten Nationen mandatiert und von den Nachbarstaaten
Malis durchgeführt werden soll – für Mali vorgesehen
ist – allerdings nicht ins Kampfgebiet, sondern in die
Hauptstadt und dort in die jeweiligen Sammelpunkte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Schmidt. – Wir sind
heute Morgen im Ausschuss über einiges, aber noch
nicht über alles informiert worden. Sie haben immer
wieder Unterstützung durch Transportflugzeuge ange-
kündigt; sie wird noch geprüft. Die Frage ist aber: Gibt
es schon eine Zusammenarbeit in den NATO-Stäben
oder in den Stäben der Europäischen Union, bzw. gibt es
schon Transporte im Rahmen des Europäischen Luft-
fahrttransportkommandos aus Eindhoven?
C
Eine solche Zusammenarbeit im Rahmen der NATO
gibt es nicht. Die NATO als kollektives Bündnis der Si-
cherheit ist nicht einbezogen. Sie wissen, dass die fran-
zösische Regierung auf eine Bitte der malischen Regie-
rung bzw. des malischen Präsidenten entschieden hat,
diese Nothilfeoperation durchzuführen, basierend auf
der Resolution 2085 des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen und der entsprechenden Revozierung dieser bi-
lateralen bzw. unilateralen Aktion, die dieses Gremium,
glaube ich, vorgestern unter ausdrücklicher Bestätigung
der Subsummierung der Aktion der Franzosen vorge-
nommen hat.
Die Anfragen und Gespräche haben sich rein präven-
tiv auch auf andere Möglichkeiten bezogen. So wurde
im Europäischen Lufttransportkommando, einer multila-
teralen Organisation in Eindhoven, die von fünf Staaten
– Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien
und Luxemburg – getragen wird, über diese Fragen
nachgedacht. Eine Anforderung hat nicht stattgefunden,
genauso wenig wie eine Operation oder Nutzung.
Eine weitere Nachfrage.
Ich habe eine weitere Nachfrage. Sie haben eben ge-
sagt, das Angebot an Transportkapazitäten beziehe sich
auf die ECOWAS-Truppen. Ich habe sowohl die heuti-
gen Äußerungen im Ausschuss als auch die Presseinfor-
mationen und Verlautbarungen von Herrn Westerwelle
und Herrn de Maizière so verstanden, dass auch Trans-
portkapazitäten für die französische Armee für die ak-
tuell stattfindenden Kämpfe zur Verfügung gestellt wer-
den. Bis die ECOWAS-Truppen aufgestellt sind, wird es
noch einige Monate dauern.
C
Frau Kollegin Höger, das gibt mir die Möglichkeit– wenn Sie gestatten –, den Text Ihrer Frage etwas zukorrigieren. Eine Zusage ist weder durch AußenministerWesterwelle noch durch den Bundesverteidigungsminis-ter de Maizière gegeben worden, wohl aber eine Prüfzu-sage. Diese Prüfzusage hat dazu geführt, dass aufgrunddes Angebots anderer europäischer Nationen – nament-lich des Vereinigten Königreichs mit der Zurverfügung-stellung von Transportraum in Form von C-17-Maschi-nen – strategische Lufttransportmöglichkeiten fürFrankreich geschaffen worden sind. Nach meinen In-formationen haben sich hier Belgien, Dänemark undwohl auch Kanada zur Verfügung gestellt. Die Notwen-digkeit, den zahlenmäßig weitaus größeren Bedarf derECOWAS-Mission, die nun relativ schnell auf den Weggebracht werden soll, zu decken, hat dazu geführt, dasswir einvernehmlich mit den Bündnispartnern die Priori-
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26658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(C)
(B)
tät auf die ECOWAS-Mission und deren Unterstützunggesetzt haben.Die Entwicklung orientiert sich allerdings an dem,was wir gegenwärtig in Mali erleben. Das alles ist sehrschnell gekommen. Wir sind kaum eine Woche in dieserSituation und Mission. Frankreich hat erfolgreich denVormarsch der militanten Islamisten gestoppt, die bisvor kurzem noch zugesagt hatten, Gespräche über einegemeinsame Entwicklung in Mali zu führen. Dem habensie sich entzogen. Deswegen war eine schnelle Reaktionerforderlich. Wir mussten aufgrund der Notwendigkeitder Anforderungen und des Bedarfs sehr flexibel ent-scheiden. Das ist heute passiert.
Eine Nachfrage dazu vom Kollegen Mützenich.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal Bezug
auf das in der dringlichen Frage der Kollegin angespro-
chene Thema nehmen. Heute Morgen ist die Öffentlich-
keit informiert worden. Sie haben gerade nachgeholt,
den Deutschen Bundestag über die Unterstützung der
ECOWAS-Truppen zu informieren. Wenn ich mich recht
entsinne, wird morgen der französische Verteidigungs-
minister offensichtlich mit dem deutschen Verteidi-
gungsminister unter Umständen über Weiterungen spre-
chen. Könnten Sie hier gegenüber der Öffentlichkeit
kundtun, was in diesem Zusammenhang im Hinblick auf
die Unterstützung der derzeit stattfindenden französi-
schen Militäroperation eventuell von deutscher Seite ge-
leistet werden könnte?
C
Herr Kollege Mützenich, die Informationen sind sehr
schnell weiterzugeben gewesen. Ich vermute, dass ich
der Erste bin, der sie dem Parlament in förmlicher Weise
überbringen kann. Sie beruhen auf Maßnahmen, die in
der Tat erst am späten Vormittag getroffen worden sind.
Der Präsident der Elfenbeinküste ist in seiner Funk-
tion als Präsident der Staatengemeinschaft ECOWAS zur
Stunde in Berlin. Diese Thematik wurde seitens der
Bundeskanzlerin in einem Gespräch mit ihm angespro-
chen. Wie Sie richtig bemerkt haben, wird der französi-
sche Verteidigungsminister Le Drian morgen hier in Ber-
lin sein. Seine Anwesenheit hat allerdings vor allem mit
der Vorbereitung der in der nächsten Woche stattfinden-
den Feierlichkeiten, der gemeinsamen Sitzung von Deut-
schem Bundestag und Französischer Nationalversamm-
lung und beider Kabinette anlässlich des 50. Jahrestages
der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zu tun. Aller-
dings gehe ich davon aus, dass die weitere Entwicklung
der Situation in Mali und die französische Operation dort
natürlich eine Rolle spielen werden.
In dieser Frage sind keine Vorbereitungen für weitere
Transportleistungsvereinbarungen getroffen worden. Ich
will ergänzend darauf hinweisen – ich bitte die Kollegin
aus dem Auswärtigen Amt, meine Äußerungen gegebe-
nenfalls zu konkretisieren –, dass am morgigen Vormit-
tag eine Sondersitzung des Außenministerrates der Euro-
päischen Union stattfinden wird, der sich sowohl mit
EUTM, der europäischen Ausbildungsmission für Mali,
als auch mit der Frage der weiteren Entwicklung der
französischen Mission, die wir im Augenblick erleben,
beschäftigen wird. Über deren Ausgang lässt sich noch
nichts vorhersagen. Ich will das nur der Vollständigkeit
halber berichten.
Wir kommen zur dringlichen Frage 2 des Kollegen
Niema Movassat:
Welche genauen politischen und militärischen Ziele ver-
folgt die Bundesregierung mit ihrer politischen und am 14. Ja-
nuar 2013 auf eine ausschließlich informelle Information des
französischen Verteidigungsministers Jean-Yves Le Drian hin
spontan zugesagten militärischen Unterstützung der Militär-
intervention Frankreichs in Mali, und welchen Umfang – Trup-
penstärke, Einsatzgebiet, Dauer, Operationsbasis, projektierte
Funktionen der Angehörigen der Bundeswehr, etwaige direkte
Beteiligung an Kampfhandlungen – sieht die Bundesregie-
rung für ein deutsches Engagement vor?
C
Lieber Kollege Movassat, ich will zu dieser Frage un-ter Einbeziehung meiner Antwort auf die vorhergehendedringliche Frage der Kollegin Höger antworten. Gestat-ten Sie einen Hinweis. In der Frage ist von einer „aus-schließlich informellen Information des französischenVerteidigungsministers“ und einer „spontan zugesagtenmilitärischen Unterstützung“ die Rede. Ich weiß nicht,worin der Unterschied zwischen informeller und formel-ler Information von Ministern besteht. Falls man davonausgeht, dass der Botschafter in Diplomatenuniform,von berittenen Flügeladjutanten begleitet, in das Minis-terium geritten ist, kann ich sagen: Die Information mussinformell gewesen sein. Stattgefunden haben aber sehrsubstanzielle Telefongespräche. Auch der Außenminis-ter hat mit seinem Amtskollegen entsprechenden Kon-takt gehabt.Die Substanz dieser guten Zusammenarbeit, auch derpolitischen Unterstützung der französischen Maßnah-men durch die Bundesregierung ist öffentlich mehrfachbetont worden. Die Bundesregierung hat großes Ver-ständnis und begrüßt die Aktivität, die Frankreich zurVerhinderung des Durchbruchs von islamistischen Ter-rorgruppen im Süden Malis wahrgenommen hat.Wir sind uns darüber im Klaren – nicht nur nach In-formation von französischer Seite –, dass es ein Hilfe-ersuchen der malischen Regierung gegeben hat, dass derVormarsch inzwischen erfolgreich gestoppt werdenkonnte. Das lässt sich feststellen, auch wenn natürlichnoch nicht alle Gefährdungen beseitigt sind.Der Einsatz findet, wie ich schon vorhin betont habe,im Einklang mit dem Völkerrecht statt. Der Bezug ist dieSicherheitsratsresolution 2085 und die Bitte der mali-schen Regierung, die ihrerseits Bezug auf das Recht aufkollektive Selbstverteidigung nimmt, da es sich um ei-nen Konflikt handele, der bereits die Ebene eines inter-nationalen Konflikts erreicht habe. Das will ich nur adnotam sagen, nicht als geklärte Position darstellen. Die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26659
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(C)
(B)
Resolution 2085, die wir sehr unterstützt haben, ist dieeigentliche Grundlage für uns.Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten steht ausdrück-lich nicht zur Debatte. Wir haben die Pläne konkretisiert.Ich muss ergänzend dazu sagen, dass unsere Bereit-schaft, uns auch an der europäischen Trainingsmissionzu beteiligen, nicht konsumiert wird durch die Positio-nen, die wir jetzt im Hinblick auf die französische Mis-sion und auf die ECOWAS-Mission nach der Resolution2085 eingenommen haben.
Herr Staatssekretär, Sie müssen sich nach unseren Re-
geln kürzer fassen.
C
Ja. – Also, wir machen das, was ich schon gesagt
habe, Herr Kollege. Wir werden das auch noch schneller
machen. Insofern ist es ganz gut, wenn ich auch schnel-
ler antworte – vielen Dank, Herr Präsident – und sage,
dass wir die Mission nicht erst im Herbst oder irgend-
wann durchführen; wir werden vielmehr zeitnah verfah-
ren und morgen auf europäischer Ebene darüber reden,
wann diese Trainingsmission beginnen wird.
Der Kollege Niema Movassat hat eine erste Nach-
frage.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, Sie ver-
wiesen in Ihrer Antwort gerade auch auf das Hilfeersu-
chen der malischen Regierung. Nun ist es ja so, dass die
malische Regierung, auf die Sie verweisen, im Prinzip
durch zwei Putsche an die Macht gekommen ist. Sie ist
abhängig vom malischen Militär. Das malische Militär
hat erst vor wenigen Wochen gezeigt, dass es auch bereit
ist, innerhalb der Regierung Auswechslungen vorzuneh-
men. Letztlich sind die Regierungsmitglieder von dem
abhängig, was das Militär möchte.
Deshalb hat das Bundesministerium für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung die Entwick-
lungszusammenarbeit mit der malischen Regierung ein-
gestellt. Es gibt weiterhin Entwicklungszusammenarbeit
auf Basisebene etc., aber mit der malischen Regierung
gibt es nach meinem Kenntnisstand zurzeit keine Zu-
sammenarbeit im entwicklungspolitischen Bereich mit
dem Argument, dass man, solange es nicht eine ge-
wählte, legitime Regierung gebe, nicht zusammenarbei-
ten könne. Auf der anderen Seite aber ist man politisch
und militärisch bereit, dem Ruf der malischen Regierung
zu folgen. Sie haben gerade zwei Transall-Maschinen
etc. in Aussicht gestellt, und zwar mit dem Argument
des Hilfeersuchens der malischen Regierung.
Ich frage Sie: Sehen Sie einen Widerspruch in der
Politik der Bundesregierung? Wenn Sie diesen Wider-
spruch nicht sehen: Wie erklären Sie sich dann diese
zwei divergierenden Tatsachen?
Herr Staatssekretär.
C
Ich bitte Sie, Folgendes auseinanderzuhalten: Die
Mission der Wirtschaftsorganisation ECOWAS, der
Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, und der sie
tragenden Staaten, die eine durch den Sicherheitsratsbe-
schluss 2085 völkerrechtlich legitimierte Operation ist,
hat mit der Frage, ob die Regierung in Mali eine demo-
kratische Legitimität besitzt, unmittelbar nichts zu tun.
Das Zweite betrifft Ihre Frage hinsichtlich der mali-
schen Regierung und des Präsidenten. Es ist in der Tat
richtig, dass wir einen Putsch unter Hauptmann Sanogo
hatten, der eine Rolle, aber nicht die alleinige Rolle
spielt. Der Präsident und der Ministerpräsident sind Teil
eines Staatsgefüges, das den Weg hin zur Demokratie
wiederfinden muss. Es mag dahingestellt sein, ob die
Gespräche, die auch mit den islamistischen Gruppen ini-
tiiert wurden, und der Versuch, einen demokratischen
Konsens zu finden, soweit das mit islamistischen Terror-
gruppen möglich ist, sinnvoll sind. Immerhin haben die
Bemühungen zu Gesprächen zwischen den einzelnen
Gruppen innerhalb der malischen Staatsstrukturen ge-
führt. Das zeigt, wie notwendig, aber auch wie schwierig
die Aufgabe ist.
Nur, wenn die Situation so ist, dass durch eine Ag-
gression terroristischer, islamistischer Gruppen das Land
besetzt ist, dann ist die Frage, die wir uns jetzt stellen
und die auch Sie gestellt haben, nicht mehr zu beantwor-
ten, weil die Möglichkeit für politische Handlungen gar
nicht mehr da ist. Deswegen ist es mehr als folgerichtig,
dass Frankreich nun sozusagen – wenn Sie den Aus-
druck gestatten – die Notbremse gezogen hat und den
Weg für weitere Verhandlungen und für die Rückkehr zu
demokratischen Strukturen in Mali, soweit sie verlassen
wurden, offenhält.
Vielen Dank. – Kollege Niema Movassat, Sie stellen
jetzt die zweite Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade gesagt, wennich das richtig verstanden habe, dass die Verhandlungenim Prinzip erst durch den französischen Einsatz ermög-licht werden. Ich finde es von der Logik her ein bisschenschwer nachvollziehbar, dass man sagt: Erst wenn maneinen Kriegseinsatz durchführt, sind Verhandlungenmöglich.Aber was mich interessieren würde – Stichwort „Ver-handlungen“ –: Welche Verhandlungen hat es gegeben?Welche Verhandlungsoptionen hat man erwogen? Mei-nes Wissens wurden Verhandlungen in Burkina Faso undin Algerien terminiert. Haben diese Termine stattgefun-den? Wurden sie wahrgenommen? Inwiefern hat dieBundesregierung diese Verhandlungen unterstützt undihre Möglichkeiten für eine diplomatische Lösung desKonflikts ausgelotet?
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26660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Niema Movassat
(C)
(B)
Die Sachlage ist schon so, dass, seit ECOWAS invol-viert ist und seit es sozusagen die Drohung einer militä-rischen Intervention gibt, die Rebellen das Gebiet imNorden zum Teil verminen, dass es massivste Flücht-lingsbewegungen gibt, dass viele Menschen Sorge vordieser Intervention in der Region haben. Gerade Ver-handlungen würden an dieser Stelle die Möglichkeit bie-ten, eine Befriedung zu erreichen.Deshalb eben die Frage: Welche Verhandlungen hates gegeben? Welche Verhandlungen wird es in nächsterZukunft geben? Wie hat die Bundesregierung das unter-stützt?
Jetzt schauen wir einmal, wie lang die Antwort ist,
nachdem auch die Frage ein bisschen länger war. – Bitte
schön, Herr Staatssekretär.
C
Wenn Sie gestatten, möchte ich zunächst zur Frage
zurückkehren. Dazu muss ich einen Punkt schon noch
nennen. Sie unterstellen in Ihrer Frage der französischen
Regierung, dem Präsidenten und dem Verteidigungsmi-
nister, sich gegenüber der französischen Öffentlichkeit
und der französischen Nationalversammlung äußerst in-
transparent verhalten zu haben. Ich würde Ihnen, Herr
Kollege, empfehlen, die Gelegenheit zu ergreifen, mit
den Kollegen der Assemblée nationale, die nächste Wo-
che hier sein werden, über Ihre Meinung und Ihre Ein-
schätzung der innerfranzösischen Meinungsbildung zu
diskutieren.
Das wäre sicherlich lehrreich, möglicherweise sogar für
Sie.
Zur Frage, die Sie jetzt gestellt haben: Es sind Ver-
handlungen, die mit sehr starker diplomatischer Unter-
stützung der Bundesrepublik Deutschland stattfinden
sollten mit dem Ziel, einen politischen Dialog mit dem
Norden zu beginnen. Es war auch durchaus davon aus-
zugehen, dass diese in der nächsten Zeit stattfinden kön-
nen.
Unser Ziel ist, dass der politische Prozess in Mali per-
spektivisch in eine sogenannte Roadmap mündet, also in
einen Fahrplan, der konkrete und realistische Schritte
zur Durchführung von demokratischen Wahlen beinhal-
tet und der von allen politischen Lagern in Mali mitge-
tragen wird. Das soll Gegenstand dieser Gespräche und
der hoffentlich darauf fußenden Vereinbarungen sein.
Es gibt keinen logischen Widerspruch in meiner Dar-
legung. Das Vorgehen der Franzosen an der Linie, die
den Norden und den Süden Malis voneinander trennt
– das ist ein Flaschenhals von wenigen Hundert Kilome-
tern Breite; dort ist das Ufer des Niger –, war unabding-
bar. Durch diese militärische Aktion der französischen
Armee wurde verhindert, dass es nichts mehr gibt, über
das politische Dialoge und Verhandlungen geführt wer-
den können. Zu befürchten war nämlich, dass die Isla-
misten, die die Scharia im ganzen Norden bereits einge-
führt haben – da wird gesteinigt, da werden Hände
abgehackt –, das gesamte Territorium des Staates Mali
unter Kontrolle bekommen.
Herr Staatssekretär, ich räume ein, dass das Thema
wahnsinnig kompliziert ist.
C
Ich bin auch schon am Ende.
Aber wir müssen gemeinsam den Versuch unterneh-
men, die Beantwortung im richtigen Zeitfenster zu hal-
ten.
Kollege Andrej Hunko, Sie haben eine weitere Nach-
frage.
Herr Präsident, ich werde mich mit meiner Frage
kurzfassen. – Herr Staatssekretär, wir feiern den 50. Jah-
restag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Heute
Morgen fand dazu eine Debatte statt. Nächsten Dienstag
wird die Assemblée nationale hier sein. Im Élysée-Ver-
trag steht, dass beide Regierungen einander vor wichti-
gen außenpolitischen Entscheidungen konsultieren.
Meine Frage ist: Wann haben diese Konsultationen statt-
gefunden? Was wurde dort besprochen? Wie hat sich die
deutsche Regierung positioniert? – Vielen Dank.
C
Die Bundesregierung ist im Umfeld der Konkretisie-
rung der Maßnahmen unmittelbar informiert worden. Es
gab mehrere Telefongespräche. Es gab auch Unterrich-
tungen über das Vorgehen. Diese Vorgehensweise ist von
der Bundesregierung ausdrücklich begrüßt worden.
Vielen Dank. – Jetzt rufe ich die dringliche Frage 3
unseres Kollegen Niema Movassat auf:
Im Rahmen welchen Bündnisses und Mandats wird sich
die Bundeswehr in Mali engagieren, und teilt die Bundesre-
welcher Art, also auch logistische Unterstützung, eine Beteili-
gung am Krieg bedeuten würde und ein Bundestagsmandat er-
forderlich mache?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
C
Zunächst zur Frage, im Rahmen welchen Bündnissessich die Bundeswehr engagieren wird. Die EuropäischeUnion wird sich mit diesen Fragen wohl gemeinschaft-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26661
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(C)
(B)
lich beschäftigen. Die europäische Trainingsmission ist,wie der Name schon sagt, eine europäische Mission.Deswegen ist die erste Antwort auf Ihre Frage: die Euro-päische Union.Ein Mandat wird dann notwendig, wenn die Schwellezu einem Einsatz überschritten wird. Wir haben sowohlim Parlamentsbeteiligungsgesetz als auch in der ein-schlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts klare Regeln und Hinweise, die seitens der Bun-desregierung beachtet werden. Das heißt, auch dieInformationsrechte des Parlaments werden natürlichberücksichtigt. Würde sich das Engagement zu einemEinsatz entwickeln, dann würde auch ein Mandat desDeutschen Bundestages seitens der Bundesregierung be-antragt.Die heute im Raum stehende Zurverfügungstellungvon Raum für den Transport von anderen Ländern West-afrikas nach Bamako ist nach unserer Ansicht nochkeine Überschreitung dieser Schwelle, weil sie wedergeografisch noch unmittelbar mit dem Einsatz verbun-den ist. Wenn sich die Dinge weiterentwickeln – dieswird einer jeweiligen Prüfung unterzogen –, werden wirselbstverständlich den Deutschen Bundestag nicht nurinformieren, sondern auch die konstitutive Zustimmungdes Deutschen Bundestages für ein Mandat einholen. Ichsage aber ausdrücklich – Herr Präsident, gestatten Siemir diesen notwendigen Satz –: So weit sind wir nicht.Gegenwärtig sieht es so aus, dass wir eine reine Trans-portleistung zur Verfügung stellen, die mit einem Einsatznicht in Verbindung gebracht werden kann.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Unser Kollege
Niema Movassat hat die erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben einen Teil meiner
Frage gerade wiedergegeben. Sie haben aber einen klei-
nen Teil der Frage weggelassen, der nicht irrelevant ist,
nämlich ob die Bundesregierung die Aussage teilt, dass
jede Art von Militäreinsatz gleich welcher Art, also auch
logistische Unterstützung, eine Beteiligung am Krieg be-
deuten würde und ein Bundestagsmandat erforderlich
mache. Diese Aussage stammt nicht von der Linksfrak-
tion – auch wenn ich sie durchaus teile –, sondern vom
Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes,
Ulrich Kirsch. Insofern stammt dieser Satz aus Bundes-
wehrkreisen. Das zur Korrektur.
Was mich im Zusammenhang mit der Frage nach dem
Bundestagsmandat interessieren würde: Die malische
Regierung hat ja den Ausnahmezustand verhängt, auch
in Bamako, wohin die Transall-Maschinen fliegen sol-
len. Die Verhängung des Ausnahmezustands bedeutet
unter anderem die Aufhebung des Rechts der Versamm-
lungs- und der Meinungsfreiheit. Das impliziert, dass es
sich bei Mali um eine Konfliktregion handelt. Das sagt
die malische Regierung. Fließt das in die Überlegungen
der Bundesregierung zur Einholung eines Bundestags-
mandats ein? Wie bewertet die Bundesregierung diese
Verhängung des Ausnahmezustands?
C
Herr Kollege, ich bin ein Verehrer von Oberst Ulrich
Kirsch als Vorsitzendem des Deutschen BundeswehrVer-
bandes und schätze seinen Rat außerordentlich.
Sie gestatten allerdings, dass die Bundesregierung bei
der Bewertung der verfassungsrechtlichen Frage, ob es
sich um einen Einsatz handelt oder nicht, doch lieber das
Bundesverfassungsgericht und die Gesetzgebung zurate
zieht. Falls sich Diskrepanzen zwischen den öffentlich
geäußerten Meinungen ergeben, ist das anregend, aber
nicht unbedingt zielführend.
Ich wiederhole, dass natürlich dann, wenn eine Ge-
fährdung in diesem Einsatz zu erwarten ist – das ist eines
der Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht im
zweiten Urteil über den AWACS-Einsatz festgelegt hat;
im ersten hat es die Grundlagen festgelegt –, dies als
Maßstab zur Prüfung anlegt werden muss. Das werden
wir tun.
Wir werden auch die Frage zu prüfen haben, welches
Bündnis nach Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes die
Grundlage für den Einsatz bildet. Es bleibt dabei, dass
wir uns hier parlamentsfreundlich verhalten und die Be-
wertung auf den Grundlagen der Rechtsprechung durch-
führen werden.
Herr Staatssekretär, Sie geben dem Kollegen auch
noch die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage?
C
Wenn es etwas Neues ist.
Das, Herr Staatssekretär, wird der Fragesteller selbst
zu beurteilen haben. Bitte schön.
Es wäre für Sie deutlich einfacher, wenn ich eineFrage lediglich wiederholen würde. Dann könnten Siedasselbe noch einmal sagen. Aber keine Sorge, ich stelleeine ganz neue Frage, aber durchaus auf Mali bezogen.Herr Staatssekretär, es geht um die Frage, welcheZiele mit einem solchen Kriegseinsatz verbunden sind.Was möchte man da eigentlich? Nun wird artikuliert,man wolle die Islamisten bekämpfen. Es gibt aber auchMeldungen, sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung, in denen es um die Frage der Rohstoffe in Maligeht.Nordmali ist eine der rohstoffreichsten Regionen die-ser Welt. Es gibt dort Erdöl, Erdgas, Uran, Phosphat,Bauxit, Gold und andere Edelmetalle. Viele Gebiete imNorden sind bereits mit Explorationsrechten versehen.Es gibt den Vorwurf der Gesellschaft für bedrohte Völ-
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26662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Niema Movassat
(C)
(B)
ker, der besagt, dass es Frankreich in erster Linie umUraninteressen gehe. Diese Meldung liest man immerwieder. Frankreich ist weitgehend von Uran abhängig;dort gibt es viele Atomkraftwerke. Insoweit ist dieserGedanke nicht ganz irrelevant.Deshalb meine Frage an Sie: Wie ist Ihre Einschät-zung der französischen Interessen bei diesem Kriegsein-satz?C
Herr Kollege, mit Rücksicht auf meine begrenzte Zeit
will ich nicht noch das Thema der langfristigen entwick-
lungspolitischen Perspektive ansprechen. Ich will ledig-
lich darauf hinweisen, dass das eine Frage ist, die im
vernetzten Denken natürlich eine Rolle spielen muss.
Mali ist nicht erst in den letzten Tagen zu einer schwieri-
gen Gegend geworden, gefördert auch dadurch, dass
Waffen in das Land gekommen sind, die aus der Kon-
kursmasse von Muammar al-Gaddafi stammen und die
das Land im Norden leider destabilisieren.
Das Land befindet sich gegenwärtig in einer Situa-
tion, in der es Hunderttausende von Flüchtlingen gibt
– Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge in andere Länder –
und in der Menschen gewaltsam zu Tode kommen. In
einer solchen Situation helfen Überlegungen der mittel-
und langfristigen Art, wer welchen ökonomischen Nut-
zen von was hätte, überhaupt nicht weiter. Bei den Dis-
kussionen wird ziemlich schnell klar: Die Menschen in
Mali wollen, dass Frieden einkehrt und dass sie über
Verhandlungen das Schicksal ihres Landes selbst demo-
kratisch bestimmen können.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Nach den dringlichen Fragen rufe ich gleich eine
Frage aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
auf, die zum selben Fragenkreis gehört und nach den
Richtlinien für die Fragestunde vorgezogen wird. Für die
Beantwortung steht die Staatsministerin im Auswärtigen
Amt, unsere Kollegin Cornelia Pieper, zur Verfügung.
Ich rufe nun die Frage 31 unseres Kollegen Dr. Rolf
Mützenich auf:
Wann beabsichtigt die Bundesregierung den Deutschen
Bundestag mit dem Bundeswehrmandat zum Einsatz in Mali
zu befassen, und welche Vereinbarungen gibt es in der Bun-
desregierung zur Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit mit Mali?
Bitte schön, Frau Staatsministerin.
C
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Abgeordneter
Mützenich, natürlich bezieht sich das schon vorher Ge-
sagte auch auf das, wonach Sie fragen. Ich gebe zu, dass
mein Kollege, Staatssekretär Schmidt, bereits sehr aus-
führlich auf den Sachverhalt eingegangen ist. Nichtsdes-
totrotz möchte ich die Beantwortung Ihrer Frage, die Sie
zu Recht stellen, nicht umgehen.
Zum ersten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Ich
kann es nur wiederholen: Die Bundesregierung prüft
derzeit Möglichkeiten zur Unterstützung der militäri-
schen Operation der französischen Partner in der Repu-
blik Mali. Wenn sich diese Pläne konkretisieren, werden
wir die rechtlichen Voraussetzungen prüfen. Sie können
davon ausgehen, dass es dabei eine enge Einbindung des
Deutschen Bundestages geben wird; das ist für das Aus-
wärtige Amt selbstverständlich. Sie sind heute schon im
Auswärtigen Ausschuss unterrichtet worden.
Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten – das möchte
ich betonen – steht für uns ausdrücklich nicht zur De-
batte. Die Bundesregierung prüft eine mögliche Beteili-
gung an einer militärischen GSVP-Ausbildungsmission
der Europäischen Union in Mali. Unser möglicher Bei-
trag hierzu ist natürlich von der weiteren Lageentwick-
lung und den weiteren Planungen in Brüssel abhängig.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Für
eine schrittweise Wiederaufnahme der Entwicklungszu-
sammenarbeit mit Mali gibt es klare Kriterien, die auch
international abgestimmt sind. Dazu gehören die Vorlage
einer substanziierten Roadmap für die Rückkehr zur ver-
fassungsgemäßen Ordnung durch die malische Regie-
rung und die glaubwürdige Umsetzung darin formulier-
ter Zwischenschritte. Die Erfüllung der Kriterien ist
Voraussetzung für erste Lockerungen der Suspendierung
der Entwicklungszusammenarbeit. Die Vorlage einer
derartigen Roadmap durch die malische Regierung steht
allerdings derzeit noch aus; das wissen Sie.
Wir haben uns in Reaktion auf den Putsch vom
22. März 2012 zur Suspendierung der Entwicklungszu-
sammenarbeit veranlasst gesehen. Wir setzen aber wei-
terhin Vorhaben durch, die bevölkerungsnah und regie-
rungsfern umgesetzt werden können und die unmittelbar
der Sicherung der Ernährung der Bevölkerung dienen.
Damit trägt die Bundesregierung den strukturellen Ursa-
chen der angespannten humanitären Lage in Mali Rech-
nung.
Vielen Dank. – Die erste Nachfrage des Kollegen
Dr. Rolf Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatsministerin,wir haben in den letzten Tagen oder auch Wochen immerwieder gehört, was die Bundesregierung im Hinblick aufMali alles ausschließt. Aber in den letzten Stunden ha-ben wir lernen müssen, dass unter Umständen bereits abmorgen – wenn ich es heute Morgen richtig verstandenhabe – Transportkapazitäten zur Unterstützung derECOWAS-Truppen zur Verfügung stehen, die Bundesre-gierung aber zu der Überzeugung gekommen ist, dieseMaßnahme durchzuführen, ohne dafür ein Mandat desParlaments einzuholen, auch nicht im Nachhinein. Viel-leicht könnten Sie dem Deutschen Bundestag erklären,warum man bei dieser Frage von der bisherigen Praxisabweicht und insbesondere die einschlägigen Entschei-dungen des Bundesverfassungsgerichts zum Parlaments-heer nicht beachten will. Ich glaube, für meine Fraktion
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26663
Dr. Rolf Mützenich
(C)
(B)
sagen zu dürfen, dass wir durchaus bereit wären, einesolche Mandatierung auch im Nachhinein mit Ihnen zudiskutieren.C
Herr Mützenich, gehen Sie davon aus, dass die Bun-
desregierung sehr sorgfältig die rechtlichen Vorausset-
zungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von
Gerät für die ECOWAS-Operation in Mali prüft.
Sie haben insbesondere die zwei Transall-Transport-
flugzeuge angesprochen. Heute wurde vom Verteidi-
gungsminister und vom Außenminister angekündigt, dass
sie für ECOWAS-Truppen in Mali zur Verfügung gestellt
werden. Rechtlich hat sich ergeben, dass dafür kein Bun-
destagsmandat erforderlich ist; denn der Einsatz der zwei
Transall-Flugzeuge liegt unterhalb der vom Bundesver-
fassungsgericht beschriebenen Einsatzschwelle. Wenn
sich weitere Veränderungen ergeben, dann werden wir
den Deutschen Bundestag natürlich damit befassen. Das
ist selbstverständlich, das hatte ich in meiner Erklärung
eingangs schon formuliert.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Dr. Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatsministerin,
wir haben eben aus den Antworten auf die dringlichen
Fragen lernen können, dass die Bundesregierung – im
Gegensatz zu den Aussagen der letzten Tage – weitere
Hilfsmaßnahmen, die die Unterstützung der französi-
schen Mission betreffen, sowohl in Bezug auf die wei-
tere Logistik als auch auf die medizinischen Kapazitä-
ten, nicht mehr ausschließt. Ich gehe – auch in Bezug auf
die Ausbildungsmission – davon aus, dass der Deutsche
Bundestag damit befasst wird. Wäre es aus Ihrer Sicht
nicht sinnvoll, diese beiden Aspekte – die Unterstützung
der ECOWAS-Truppen durch die Bundesregierung und
das, was dem französischen Partner in Aussicht gestellt
wird – in einem Mandat zusammenzuführen?
C
Ich will noch einmal daran erinnern, worauf Staatsse-
kretär Schmidt zu Recht hingewiesen hat: Die Obleute
wurden heute darüber informiert, welches Gerät die
Bundesregierung der ECOWAS in Mali zur Verfügung
stellt und dass wegen der fehlenden rechtlichen Voraus-
setzungen ein Bundestagsmandat für den Einsatz nicht
notwendig ist.
Wir prüfen derzeit, wie wir Frankreich unterstützen
können. Ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten – ich sage
das noch einmal ganz deutlich – steht ausdrücklich nicht
zur Debatte, doch wir können den Einsatz logistisch und
sanitätsdienstlich unterstützen. Wir prüfen gemeinsam
mit den europäischen Partnern – morgen findet die
Sondersitzung des EU-Außenrates statt; der Bundes-
außenminister hat als Erster eine Beschleunigung des
Prozesses, ein sehr schnelles Zusammenkommen des
Außenrates gefordert – die Entsendung der gemeinsa-
men EU-Ausbildungsmission zur Schulung der mali-
schen Streitkräfte. Wir werden Sie darüber natürlich auf
dem Laufenden halten, auch was die Mandatierung an-
belangt.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Ich habe keine
weiteren Nachfragen, sodass ich nun die übrigen Fragen
auf Drucksache 17/12041 aufrufe, und zwar in der ent-
sprechenden Reihenfolge.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatsse-
kretär Jan Mücke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 unserer Kollegin Frau Rita
Schwarzelühr-Sutter auf:
Waren die Berichte über Sicherheitsbedenken seitens des
schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt hinsichtlich
der Ab- und Anflugkonzepte des Flughafens Zürich bei den
bisherigen Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Schweiz
der Bundesregierung bereits bekannt, und hatte es politische
Gründe, dass keine anderen Betriebskonzepte in die Verhand-
lungen mit der Schweiz einbezogen wurden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Herr Präsident, Frau Kollegin, diese Frage möchte ich
wie folgt beantworten: Berichte über Sicherheitsbeden-
ken des schweizerischen Bundesamtes für Zivilluftfahrt
hinsichtlich der An- und Abflugkonzepte des Flughafens
Zürich sind der Bundesregierung nicht bekannt. Inhalt
der Staatsvertragsverhandlungen waren die Auswirkun-
gen des Betriebs des Flughafens Zürich auf das Hoheits-
gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Daher wurden
in den Staatsvertragsverhandlungen ausschließlich die
Betriebskonzepte mit den entsprechenden Auswirkun-
gen berücksichtigt.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, wenn Sicherheits-
bedenken durch das schweizerische Bundesamt bekannt
sind, werden diese Bedenken im Zuge der zugesagten
Nachverhandlungen des Bundesverkehrsministers mit
der Schweiz in den Staatsvertrag einfließen? Das spielt
ja doch eine bedeutende Rolle. Ich denke, Sicherheit
muss oberste Priorität haben.
J
Wir wissen nicht, ob seitens der Schweizer Regierungsolche Bedenken tatsächlich vorliegen. Deshalb ist esvöllig spekulativ, darüber nachzudenken, ob dieseBedenken möglicherweise in Gespräche einfließenkönnten. Wir kennen solche Sicherheitsbedenken nicht.Deshalb macht es auch keinen Sinn, sich dazu zu äußern.
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26664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.
Sie kennen die Bedenken nicht, aber selbst der Direk-
tor des BAZL, Herr Müller, hat darüber ausführlich in
der Schweizer Presse, die die Bundesregierung bzw. das
Verkehrsministerium durchaus wahrnehmen, referiert.
Ich gehe also davon aus, dass das bis Berlin bzw. Bonn
gedrungen ist.
Bis wann ist denn mit den Nachverhandlungen zu
rechnen, die der Herr Minister am 26. November 2012
zugesagt hat?
J
Frau Kollegin, ich muss Sie korrigieren. Der Minister
hat keine Nachverhandlungen angekündigt. Er hat viel-
mehr gesagt, dass es um Präzisierungen in den Begrün-
dungen geht. Auf Schweizer Seite heißt das Vernehmlas-
sungen; bei uns heißt das ein bisschen anders. Es geht
also ausschließlich darum, die Begründungen zum
Staatsvertrag zu präzisieren und Missverständnisse, die
offensichtlich entstanden sind, auszuräumen. Es geht
ausdrücklich nicht darum, den Staatsvertrag nachzuver-
handeln.
Was den Kollegen Müller vom BAZL angeht, kann
ich nur so viel sagen: Er ist Mitglied der Schweizer Ver-
handlungsdelegation gewesen. Mir ist deshalb völlig
schleierhaft, wie plötzlich irgendwelche Sicherheits-
bedenken aufkommen können. Wenn es diese Bedenken
gegeben hätte, hätte die Schweizer Seite diese sicher bei
den Staatsvertragsverhandlungen selber eingebracht.
Das hat sie aber nicht getan. Sie hat diesen Staatsvertrag
in Kenntnis des gesamten Sachverhalts mit uns ausver-
handelt. Es geht jetzt darum, die entstandenen Irritatio-
nen zu beseitigen. Es geht nicht darum, den Staatsvertrag
nachzuverhandeln.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Ute Kumpf hat eine
Nachfrage.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie waren ja von
Ihren eigenen Verhandlungen sehr begeistert und haben
uns im Verkehrsausschuss geschildert, wie toll dieser
ausgehandelte Staatsvertrag ist. Jetzt sind Fragen aufge-
taucht, auch Sicherheitsbedenken geäußert worden. Sind
Sie im Interesse der deutschen Seite bereit, die Schleier
zu lüften und eventuell bei zukünftigen Gesprächen mit
der Schweizer Seite Fragen zu stellen – einige Fragen
haben wir ja gerade formuliert –, damit wir ein bisschen
Licht ins Dunkel bekommen?
J
Wir bewegen uns im Raum des Spekulativen, Frau
Kollegin. Im Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung kennen wir keine Sicherheitsbedenken
der Schweizer Seite.
Deshalb macht es keinen Sinn, darüber zu spekulieren,
wie die Bundesregierung damit umgehen würde, wenn
solche Bedenken auftauchen sollten.
Suggestiv- und Spekulativfragen können wir schlecht
beantworten.
Vielen Dank. – Ich rufe die zweite Frage unserer Kol-
legin Rita Schwarzelühr-Sutter, Frage 2, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Zwischenfälle
im An- und Abflugverkehr zum und vom Flughafen Zürich in
den vergangenen fünf Jahren gemeldet wurden, und, falls ja,
welche?
Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage zu
beantworten.
J
Diese Frage von Frau Schwarzelühr-Sutter möchte
ich wie folgt beantworten: Der Bundesregierung liegen
regelmäßig keine Informationen über im Ausland statt-
gefundene Zwischenfälle im Flugverkehr vor.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, die Schweizer Flugsicherung
übernimmt auch über deutschem Hoheitsgebiet diese
Aufgabe. Wir alle können uns an den Zusammenstoß bei
Überlingen erinnern, der wirklich tragische Folgen hatte.
Das Verfahren ist immer noch anhängig. Und da haben
Sie kein Bedürfnis, Informationen zu bekommen, was
die Schweizer Flugsicherung über unseren Köpfen ab-
wickelt?
Ich will zur Presse zurückkommen: Im letzten Jahr
gab es einen Beinaheunfall zwischen einer Passagier-
maschine und einem Segelflugzeug in Grenznähe über
deutschem Gebiet. Das wurde nicht an unsere
Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung gemeldet. Das
heißt, keiner kümmert sich darum, was sich in dem funk-
tionalen Luftraumblock tatsächlich abspielt? Sie wissen
also gar nichts?
J
Frau Kollegin, Ihre Frage ist dann nicht präzise genugformuliert gewesen. Sie haben nach den An- und Abflü-gen auf dem Flughafen Zürich gefragt. Der FlughafenZürich befindet sich bekanntermaßen nicht auf deut-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26665
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
schem Staatsgebiet. Nichtsdestotrotz wäre es hilfreich,wenn der süddeutsche Luftraum, über den teilweise An-flüge auf den Flughafen Zürich stattfinden, gemeinsamvon Skyguide und der Deutschen Flugsicherung kontrol-liert werden würde. Das ist im Übrigen auch der Grundgewesen, weshalb wir diesen Staatsvertrag mit derSchweiz verhandelt haben. Ich wäre außerordentlichglücklich gewesen, wenn die SPD-Bundestagsfraktion– vielleicht auch Sie persönlich – sich in der Lage ge-sehen hätte, diesen Staatsvertrag öffentlich mit zu unter-stützen; denn das hätte dazu geführt, dass die DeutscheFlugsicherung gemeinsam mit Skyguide – anders als dasheute der Fall ist – den süddeutschen Luftraum kontrol-liert.Ich kann Sie aber beruhigen: Es ist keineswegs so,dass wir kein Interesse daran haben, sondern es gibtdafür eine Behörde, nämlich das Bundesaufsichtsamt fürFlugsicherung in Langen. Diese Behörde erhebt alleDaten, die das deutsche Hoheitsgebiet betreffen, vonSkyguide. Ich kann diese Daten, wenn Sie das wün-schen, Ihnen gerne schriftlich nachreichen.
Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben eine zweite
Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, „zum und vom
Flughafen Zürich“ sei unpräzise formuliert. Ich gehe da-
von aus, dass die Bundesregierung, wenn sie einen
Staatsvertrag abschließt, weiß, dass 75 Prozent der An-
flüge auf Zürich über deutschem Gebiet stattfinden, und
dass sie, wenn sie einen Staatsvertrag zu funktionalen
Luftraumblöcken ratifiziert, auch weiß, dass man es mit
einer Flugsicherung zu tun hat. Wenn Sie es gewollt hät-
ten, hätte man in diesen auch die Formulierung aufneh-
men können, dass eine gemeinsame Flugüberwachung
installiert wird. Ich glaube, dass hier die rechte Hand
nichts von der linken Hand weiß. Ich bitte Sie aber doch,
sich die Informationen über Beinaheunfälle und Flug-
vorfälle zu beschaffen. Angeblich liegen die ja nicht vor.
Ich bitte Sie, das sehr zeitnah zu erledigen.
J
Frau Kollegin, ich kann mich nur wiederholen. Wenn
Sie Ihre Frage anders formuliert hätten,
hätten wir beim Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung
in Auftrag geben können, eine Übersicht zu erstellen,
wie viele Vorfälle es über deutschem Hoheitsgebiet
gegeben hat. Ihre Frage hat diese Präzision aber nicht
gehabt. Weil Sie nicht präzise gefragt haben, ist es ein
wenig schwer gewesen, darauf eine präzise Antwort zu
geben.
Das wird jetzt die Frau Kollegin Ute Kumpf machen,
die eine weitere Nachfrage hat. Bitte schön.
Ob ich das schaffe, wird sich herausstellen; denn Herr
Kollege Staatssekretär Mücke ist da ziemlich hartherzig.
Herr Mücke, Sie haben jetzt mitbekommen, dass es
doch etliche Irritationen gibt, was diesen Staatsvertrag
anbelangt, dass es Widerstand gibt und dass es auch
nicht die Bereitschaft gibt, diesen Staatsvertrag zu unter-
zeichnen. Es gibt auch eine große Irritation, was unsere
Verhandlungsführung anbelangt, in Bezug darauf, dass
Sie mehr der Schweizer Seite bzw. dem Charme der Ver-
kehrsministerin erlegen sind, als unsere eigenen Interes-
sen vertreten zu haben. Deswegen frage ich noch einmal
nach: Werden Sie bei den jetzt anstehenden Gesprächen
– wir nennen es einmal nicht „Verhandlungen“ – die
Irritationen, die jetzt aufgetaucht sind, ansprechen? Wer-
den Sie bei diesen Gesprächen – nicht Verhandlungen –
auch unsere Fragen, die wir noch einmal präzisieren und
Ihnen schriftlich nachreichen können, stellen? Wir sind
ja keine Bittsteller, so glaube ich schon, dass wir schlicht
und einfach die Schweiz danach fragen dürfen.
J
Wir sind offen dafür. Wenn Sie uns zweckdienlicheFragen stellen, werden wir diese selbstverständlich mit-nehmen und sie in diesem Gespräch mit dem zuständi-gen Abteilungsleiter in der Schweiz gern ansprechen.Ich kann aber nicht ahnen, welche Fragen Sie haben. Essind sehr viele unterschiedliche Beurteilungen undMutmaßungen zu diesem Staatsvertrag in der Öffentlich-keit unterwegs. Die wenigsten davon entsprechen derRealität.
Ich bin immer noch der Auffassung, dass der ausge-handelte Staatsvertrag, der im Übrigen schon unter-schrieben, nur noch nicht ratifiziert ist, eine gute Grund-lage dafür ist, dass wir Flugsicherung gerade imsüdbadischen Raum künftig anders organisieren können,und zwar so, dass weniger Menschen von Flugverkehrbetroffen sind. Ich erinnere Sie daran, dass wir beispiels-weise in diesem Staatsvertrag ausgedehntere Ruhezeitenverhandelt haben. Das würde dazu beitragen, dass diesüdbadische Bevölkerung schon heute um mehrere Stun-den Flugverkehr in der Woche entlastet worden wäre. Esist bedauerlich, dass das in dieser öffentlichen Diskus-sion manchmal unter den Tisch fällt.
Metadaten/Kopzeile:
26666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bleiben im
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung.
Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Dr. Ilja Seifert wer-
den schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 5, die unsere Kollegin
Cornelia Behm gestellt hat:
Welche neuen Erkenntnisse sind zwischen dem 18. De-
zember 2012 und dem 4. Januar 2013 entstanden, die zu der
Einschätzung geführt haben, dass der Eröffnungstermin für
den Flughafen Berlin Brandenburg, BER, am 27. Oktober
2013 nicht mehr gehalten werden kann und die Probleme so
„gravierend, fast grauenhaft“ sind, wie es Horst Amann am
8. Januar 2013 gegenüber hr-info erklärte, dass noch nicht
einmal absehbar ist, wann ein neuer Eröffnungstermin ge-
nannt werden kann?
In dieser und in den weiteren Fragen geht es um die
Gründe und Auswirkungen der Verschiebung der Eröff-
nung des Flughafens Berlin Brandenburg.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie bitten, die Frage 5 der
Kollegin Cornelia Behm zu beantworten.
J
Herr Präsident! Frau Kollegin Behm, meine Antwort
auf Ihre Frage möchte ich Ihnen mitteilen. Die Flug-
hafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, hat dem
BMVBS hierzu als Projektträgerin mitgeteilt: Am 4., 5.
und 6. Dezember, am 12., 13. und 14. Dezember sowie
am 17. und 18. Dezember 2012 fand die jüngste Serie
von Heißgasrauchversuchen im Terminal des Flughafens
BER statt. Die abschließende Auswertung der Versuche
erfolgte jeweils im Nachgang und fand ihren Abschluss
am 21. Dezember 2012. Die Auswertung der Ergebnisse
zeigte unmittelbar erheblichen Handlungsbedarf hin-
sichtlich der Anpassung und Veränderung der Ent-
rauchungsszenarien, um die Chance auf Genehmigung
aufrechtzuerhalten. Im Lichte dieser Erkenntnisse wur-
den zwischen Weihnachten 2012 und Neujahr sowie in
den ersten Tagen des Jahres 2013 die daraus resultieren-
den Konsequenzen für Planung und Bau sowie die damit
zusammenhängenden zeitlichen Auswirkungen erfasst,
und zwar mit dem Ergebnis, dass die unausweichlichen
Maßnahmen nicht mehr im Zeitrahmen für eine In-
betriebnahme im Oktober 2013 darstellbar sind.
Ihre erste Nachfrage. Bitte schön, Frau Kollegin.
Ich würde gerne wissen, welche Informationen zur
möglichen Verschiebung des Eröffnungstermins des
Berliner Flughafens Herr Horst Amann dem Bundes-
minister Herrn Dr. Ramsauer und dem Staatssekretär
Rainer Bomba in ihrem gemeinsamen Gespräch am
19. Dezember 2012 mitgeteilt hat und inwieweit zum In-
halt dieses Gesprächs ein Protokoll existiert.
J
Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich klar mit „keine“
beantworten.
– Darf ich bitte antworten?
Zum zweiten Teil der Frage: Es handelte sich bei dem
Treffen zwischen Herrn Amann und Herrn Bundesminis-
ter Ramsauer nicht um einen Termin, der vorher geplant
gewesen ist und deshalb in irgendeiner Art und Weise
protokolliert worden ist.
Vielmehr handelte es sich um ein kurzes Kennenlernen
in seinem Büro.
Ihre zweite Nachfrage.
Das ist immerhin interessant: Man lernt sich kennen,
schaut sich in die Augen, wechselt dann aber über das
Projekt, das einen verbindet, keine Worte, was man dann
vorsorglich auch nicht notiert. Gut.
Meine zweite Nachfrage. In einem Interview in der
Welt vom 27. Dezember 2012 – das war also kurz nach
Weihnachten – wird der Minister wie folgt zitiert:
Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür,
dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013
möglicherweise nicht gehalten werden kann.
Inwieweit stützt sich diese Aussage auf Erkenntnisse
aus dem Gespräch mit Herrn Amann, also aus diesem
Kennenlerngespräch, das laut Spiegel Online vom
15. Januar 2013 am 19. Dezember 2012 geführt wurde?
J
Frau Kollegin Behm, wie ich Ihnen gerade erläuterthabe, hat dieses Gespräch nicht stattgefunden, um einemögliche Terminverschiebung anzukündigen, entgegen-zunehmen oder irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Die-ses Gespräch, das vielleicht nach Ihrer Vorstellung sostattgefunden haben mag, hat es nicht gegeben.Dazu etwas sagen konnte Herr Amann auch gar nicht;denn, wie ich vorhin in einer meiner Antworten schonausgeführt habe, sind die Rauchgasversuche, die man amBER unternommen hat, noch bis zum 21. Dezember
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26667
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
2012 ausgewertet worden. Die Ergebnisse sind zwischenden Jahren, also zwischen Weihnachten und Neujahr, be-wertet worden. Dann hat Herr Amann am 4. Januar 2013einen Brief geschrieben und in diesem Brief mitgeteilt,dass sich eine Verzögerung der Inbetriebnahme einstel-len wird. Deshalb konnte er in dem Gespräch am 19. De-zember 2012 keine derartige Mitteilung an Bundes-minister Peter Ramsauer gegeben haben.
Mir liegt jetzt noch eine Reihe einzelner Nachfragen
vor. Als Erster: Kollege Volker Beck.
Herr Kollege, da wir jetzt wissen, was alles nicht In-
halt des Gespräches am 19. Dezember 2012 war, versu-
che ich es einmal mit der umgekehrten Methode – viel-
leicht wäre es besser, wenn Herr Ramsauer hier wäre,
um diese Frage zu beantworten –: Was war Gegenstand
des Gespräches zwischen Herrn Ramsauer und Herrn
Amann am 19. Dezember 2012? Welche Themen wur-
den im Einzelnen erörtert? Oder ging es nur um gemein-
same Urlaubspläne und dergleichen?
J
Ich bin bei diesem Gespräch nicht dabei gewesen;
deshalb kann ich Ihnen dazu schlecht Auskunft geben.
Aber sicher ist, dass es nicht darum ging, dass in irgend-
einer Art und Weise eine Verzögerung beim Termin der
Inbetriebnahme angekündigt oder mitgeteilt werden
sollte. Man hat sich lediglich darüber unterhalten, wie
der gegenwärtige Stand am BER ist; dass er schwierig
ist, war uns klar. Es ist in diesem Gespräch nicht mitge-
teilt worden, dass es zu einer Verzögerung bei der Inbe-
triebnahme kommen wird. Diese Mitteilung konnte auch
nicht erfolgen – ich habe das schon ausgeführt –, weil
die Ergebnisse der Rauchgasversuche erst bewertet wer-
den mussten. Die Ergebnisse dieser Bewertung sind uns
am 4. Januar 2013 mitgeteilt worden.
Kollege Volker Beck stellt einen Geschäftsordnungs-
antrag.
Ich hatte Herrn Ramsauer gestern brieflich gebeten,
dem Parlament in dieser Fragestunde Rede und Antwort
zu stehen. Sie sagten jetzt, dass Sie den Inhalt eines Ge-
spräches, das Grundlage dieser Frage ist, nicht wiederge-
ben können, weil Sie nicht dabei waren. Wenn Sie nicht
dabei waren, kann man Ihnen das gar nicht vorwerfen.
Aber es ist unser konstitutionelles Recht als Parlament,
Antworten auf unsere Fragen zu bekommen. Deshalb
beantrage ich, den Bundesminister Peter Ramsauer her-
beizuzitieren. Ich bitte den Präsidenten, darüber abstim-
men zu lassen, ob der Minister herbeizitiert wird. – So-
weit ich sehe, hat die Opposition die Mehrheit.
Herr Kollege Manfred Grund hat die Möglichkeit zur
Gegenrede.
Herr Kollege Beck, die Mehrheit stellt das Präsidium
– einvernehmlich oder nicht einvernehmlich – fest.
Was Ihren Antrag anbetrifft: Der Bundesminister hat
sich bereitgehalten. Da wir aber nicht absehen konnten,
zu welchem Zeitpunkt es in der heutigen Fragestunde
um dieses Thema geht, konnte er in diesem Augenblick
nicht hier im Plenum sein. Aber in einer Aktuellen
Stunde, die Sie vermutlich aus Ihren Fragen ableiten
werden, wird er hier anwesend sein.
Das Präsidium ist sich über die Mehrheitsverhältnisse
nicht einig.
– Es besteht, wenn ich es richtig sehe, keine Einigkeit.
Wie lautet der Antrag des Kollegen Volker Beck?
Ich beantrage, jetzt die Abstimmung darüber durchzu-
führen, ob der Minister herbeizitiert wird. Dann sehen
wir weiter.
Gut. – Nachdem keine Einigkeit über die Mehrheits-verhältnisse da ist, müssen wir die entsprechende Proze-dur durchführen.
– Wir müssen zuerst abstimmen.Ich lasse abstimmen über den Geschäftsordnungs-antrag auf Herbeirufung von Bundesminister PeterRamsauer. Wer für diesen Antrag des Kollegen VolkerBeck ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegen-probe! – Im Präsidium kann keine Einigkeit über dieMehrheitsverhältnisse festgestellt werden.Ich unterbreche jetzt die Sitzung und bitte die Ge-schäftsführer, auch der Oppositionsfraktionen, zu mir.
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26668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Wir kommen damit zu der nach unserer Geschäftsord-
nung vorgesehenen Abstimmung in Form eines Ham-
melsprungs.
Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, aus dem
Plenarsaal zu gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Ab-
stimmung. Jetzt können alle den Saal durch die entspre-
chenden Türen betreten.
Darf ich einmal um ein Signal bitten, inwieweit alle
Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit hatten, an
der Abstimmung teilzunehmen? – Mir wird signalisiert,
dass sich keine Kolleginnen und Kollegen mehr vor den
Abstimmungstüren befinden und dass sich offensichtlich
auch niemand gehindert sieht, an dieser Abstimmung
teilzunehmen.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung be-
kannt, das mir die Schriftführerinnen und Schriftführer
mitgeteilt haben: 241 Kolleginnen und Kollegen haben
mit Nein gestimmt, 170 Kolleginnen und Kollegen mit
Ja, kein Kollege hat sich enthalten. Damit ist der Antrag
auf Herbeizitierung des Herrn Ministers abgelehnt.
Gleichwohl hat der Herr Minister auf der Regierungs-
bank Platz genommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, die
notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, damit wir mit
der Befragung fortfahren können. Die nächste Nachfrage
stellt der Kollege Liebich. Ich bitte den Herrn Minister
und den Herrn Staatssekretär, mir nach der Frage zu sig-
nalisieren, wer jeweils die Antwort gibt.
Kollege Liebich hat das Wort.
Schön, Herr Minister, dass Sie noch kommen konn-ten. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Sie gleich dagewesen wären. Wir brauchten Sie deshalb für die Befra-gung, weil Ihr Staatssekretär in der Beantwortung einerFrage zuvor darüber Auskunft gegeben hat, dass er – –Herr Minister! – Frau Wöhrl, Sie können den Ministernicht ablenken. Ich stelle ihm gerade eine Frage.Herr Minister, wir müssen die Frage deshalb an Siepersönlich richten, weil Ihr Staatssekretär gerade sagte,dass Sie in dem Gespräch zum Kennenlernen, das Sieund Herr Amann am 19. Dezember geführt haben, nichtmiteinander über die mehrfach verschobene Flughafen-eröffnung gesprochen haben. Was uns allerdings interes-siert, ist: Worüber haben Sie eigentlich gesprochen?
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mit einer Vorbemerkung beginnen. Eine der-artige Situation habe ich in über 22 Jahren Mitglied-schaft in diesem Hohen Hause noch nie erlebt.
Wie kann man bei einer solch absolut banalen Frage– warum es sich um eine banale Frage handelt, werde ichgleich näher erläutern –,
angesichts einer solchen Banalität – damit wende ichmich an den Antragsteller Beck – die Geschäftsordnungdes Hohen Hauses derartig missbrauchen!
Jetzt komme ich zur Banalität. Die Banalität beinhal-tet zwei Aspekte. Ich habe übrigens in meinem Büro ge-sessen und hier alles verfolgt.
– Man hat als Bundesminister manchmal lange Listenvon Telefongesprächen abzuarbeiten und Gespräche zuführen usw.
Alle Fragen, die hier gestellt worden sind, habe ichunter anderem gestern im zeitlichen und örtlichen Um-feld der Sondersitzung des Haushaltsausschusses vorMitgliedern des Haushaltsausschusses und vor allenDingen vor einer großen Zahl von Journalistinnen undJournalisten
in aller Ausführlichkeit beantwortet.
Darüber ist ausführlich in vielen Agenturberichten undauch heute in elektronischen Medien und Printmedienberichtet worden. Wenn Sie das Geschehen so verfolgt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26669
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
(C)
(B)
hätten, wie es Ihnen eigentlich aufgrund Ihres hier vor-getäuschten Interesses angemessen wäre,
dann würden Sie solche Fragen nicht stellen; denn dannhätten Sie alle Antworten von vornherein bekommen.Ich unterstelle aber nicht, dass Sie das Geschehen unddie Berichte der Agenturen sowie in Printmedien undelektronischen Medien nicht verfolgt haben.
Sie kennen sehr wohl alle meine Antworten. Deshalbsage ich: Was Sie hier aufführen, ist nichts anderes alsein Missbrauch der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages.
Ich habe gestern in aller Ausführlichkeit darüber ge-sprochen.
Ich bin aber bereit, noch einmal darüber zu sprechen.
Der Dezember letzten Jahres weist in diesem Zusam-menhang eine lange Chronologie auf.
Ich habe vor dem 19. Dezember x-mal in Interviews undöffentlichen Äußerungen gesagt – ebenso wie der Regie-rende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit –, dasses Anzeichen dafür gibt, dass möglicherweise der insAuge gefasste Eröffnungstermin 27. Oktober 2013 nichtgehalten werden kann.
Es gab solche Anzeichen; darauf haben wir hingewiesen.Es gab allerdings keinerlei Gewissheit, ob es zu einerVerschiebung kommen muss.Ich komme nun sofort zum 19. Dezember.
Ich wusste durch eine Mitteilung meines StaatssekretärsBomba vom Vortag, dass Herr Amann am 19. Dezemberin meinem Hause zu einem allfälligen Routinegesprächmit Staatssekretär Bomba sein würde. Daraufhin habeich gesagt: Wenn Herr Amann schon im Hause ist, dannmöge er doch bei der Gelegenheit bei mir im Büro vor-beischauen – ich habe gesagt, wann ich auch im Hausebin –, damit wir kurz miteinander reden können.
So viel zur Banalität. Wenn es umgekehrt gewesen wäre,wenn Sie also in Erfahrung gebracht hätten – das traueich Ihnen glatt zu –, dass er wegen anderer Dinge imHause gewesen wäre und ich nicht die Gelegenheit ge-nutzt hätte, mit ihm zu sprechen,
dann würden Sie mir das vorhalten.Ich habe also gesagt: Wenn er schon da ist, möge erzu mir ins Büro kommen.
Wir sind uns bei dieser Gelegenheit das erste Mal per-sönlich begegnet; wir haben uns kennengelernt. Insofernist die Aussage des Kollegen Staatssekretär Jan Mückekorrekt. Wie Herr Amann selbst auf Befragen durch diePresse bereits gestern oder vorgestern gesagt hat, habenwir natürlich auch – stellen Sie sich vor! – über dasThema Flughafen gesprochen.
– Über was denn sonst? Wir haben natürlich darüber ge-sprochen.Herr Amann hat mir dargelegt – auch das hat Staats-sekretär Mücke bereits angesprochen –, wie die Ge-fechtslage im Augenblick ist. Daraufhin war meine zen-trale Frage: Kann man heute fest davon ausgehen, dasses bei diesem Termin bleibt, oder gibt es Zweifel daran?Muss er vielleicht verschoben werden? Die Aussage vonHerrn Amann war exakt die gleiche, die er schon Tageund Wochen vorher getroffen hat und die er, wie mir be-richtet worden ist, im Übrigen auch gegenüber Mitglie-dern dieses Hauses aus anderen Fraktionen getroffen hat:dass weitere Untersuchungen durchgeführt werden müs-sen – auch das hat Staatssekretär Mücke hier richtig fest-gestellt – und dass man über die Haltbarkeit oder dieVerschiebung dieses Termins erst Anfang Januar defini-tiv Auskunft geben kann.
Am Ende dieses Gesprächs, das 15 bis 20 Minutengedauert hat, war ich also genauso schlau wie vorher,was die Frage „Kann man den Termin halten odernicht?“ betrifft. Ich bin Herrn Amann dankbar, dass erhier nicht vollmundig irgendetwas verheißt, was dannnicht gehalten werden kann, sondern die Dinge nennt,wie sie faktisch sind.
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26670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
(C)
(B)
Vorhin hat eine Kollegin nach dem Welt-Interview ge-fragt, das am 27. Dezember des vergangenen Jahres er-schienen ist. Dieses Interview ist vor meinem Gesprächmit Herrn Amann am 19. Dezember geführt worden. Ichhabe in diesem Interview das gesagt, was ich vorherschon x-mal gesagt habe: dass es Zweifel an der Haltbar-keit des Termins gibt. Ich habe das beispielsweise am14. Dezember in einem Pressehintergrundgespräch ge-sagt. Ich habe es am Sonntag, dem 16. Dezember, imBericht aus Berlin gesagt. Ich habe es am Mittwoch,dem 19. Dezember, im Morgenmagazin wieder so for-muliert. Der Verdacht, der mir gegenüber vom SPD-Vor-sitzenden geäußert worden ist, ich hätte am 19. Dezem-ber irgendeine revolutionäre Neuigkeit erfahren unddiese verschwiegen, ist also an den Haaren herbeigezo-gen. Ich habe mich gegen diese Unterstellung auch ge-wehrt.Im Übrigen: Selbst wenn es so wäre,
dass so etwas mitgeteilt worden ist – was so nicht derFall war –: Für die weiteren Dinge, die heute beispiels-weise im Aufsichtsrat erörtert werden, wäre es nicht re-levant gewesen.Aber, wie gesagt, dieses Gespräch war von einer Na-tur und einer Charakteristik, wie ich sie gerade dargelegthabe. Über solche Gespräche werden auch keine Proto-kolle geführt. Dieses Gespräch hat unter sechs Augenstattgefunden. Sechsaugengespräche dieser Art – dasmöchte ich hier auch einmal sagen – müssen in einerVertraulichkeit möglich sein, für die Sie seitens der Op-position nicht unbedingt jede Publizität einfordern kön-nen.
Jetzt habe ich Sie, glaube ich, hinreichend eingeweiht.
Erst einmal ein geschäftsleitender Hinweis, liebe Kol-
leginnen und Kollegen: Wir haben noch 44 Minuten für
die Fragestunde. Ich bitte sowohl die Fragenden wie na-
türlich auch die Vertreter der Bundesregierung, nach den
ausführlichen Antworten, die ich aufgrund der Situation,
in der wir uns hier befinden, zugelassen habe, zu den
verabredeten Regeln zurückzukommen, was die Frage-
und Antwortzeit betrifft.
Die nächste Nachfrage zur Frage 5 stellt der Kollege
Jarzombek.
Herr Bundesminister, ich bin jetzt in der Verlegenheit,
Sie angesichts dessen befragen zu müssen,
dass der bisherige Aufsichtsratsvorsitzende Wowereit
dreimal der Einladung in den Verkehrsausschuss des
Bundestages nicht nachgekommen ist und uns bisher
keine Frage beantworten konnte. Das, was uns alle na-
türlich brennend interessiert – –
– Frau Präsidentin, vielleicht können Sie hier die Ar-
beitsfähigkeit herstellen.
Herr Bundesminister, die Frage, die uns interessiert,
ist, ob der Aufsichtsratsvorsitzende in der gleichen Zeit,
über die hier gerade geredet wird, ebenfalls Gespräche
mit Herrn Geschäftsführer Amann geführt hat, um viel-
leicht selbst in der Sache Erkenntnisse über den Fort-
schritt des Projektes und eine realistische Zielvorgabe
bezüglich der Zeit zu bekommen. Während Sie mit
Herrn Amman gesprochen haben, hatten Sie da den Ein-
druck, dass eine entsprechende Kommunikation stattfin-
det und auch Herr Wowereit sich darüber informiert hat,
was bei diesem Flughafen Sache ist?
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege
Jarzombek! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Ich gehe davon aus, dass sich der damalige Vorsitzende
des Aufsichtsrats, der Kollege Wowereit, ebenfalls lau-
fend über die jeweiligen Gegebenheiten und über den je-
weiligen Status quo informiert hat. Darüber, wann solche
Gespräche und in welcher Form die Informationsgewin-
nung stattgefunden haben, kann ich leider Gottes nichts
berichten, weil es sich schlicht und einfach meiner
Kenntnis entzieht. Ich frage nicht täglich bei Wowereit
nach: Mit wem haben Sie heute gesprochen? Worüber
haben Sie gesprochen? In welcher Weise haben Sie ge-
sprochen? Was waren die Antworten? – Jeder geht sei-
nen eigenen Pflichten nach.
Die nächste Frage stellt der Kollege Kahrs.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Siehatten eben den Mitgliedern des Bundestages Miss-brauch der Geschäftsordnung vorgeworfen, weil Sie ih-nen bereits gestern im Haushaltsausschuss Rede undAntwort gestanden hätten. Da ich gestern zufällig imHaushaltsausschuss dabei war, kann ich mitteilen, dassich im Haushaltsausschuss keine einzige Wortmeldungvon Ihnen gehört habe. Sie haben zwar vor und nach derSitzung des Haushaltsausschusses länglich mit derPresse geredet, haben aber im Haushaltsausschuss keineeinzige Frage beantwortet, weil Ihre Koalition das mitMehrheit so beschlossen hat, weshalb das nicht möglich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26671
Johannes Kahrs
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war. Das heißt, die Möglichkeit, mit Ihnen zu reden, er-schließt sich den Abgeordneten jetzt zum ersten Mal.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege Kahrs! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich konnte in Ihrer Wortmel-dung zwar keine Fragestellung erkennen, aber ichmöchte dennoch etwas dazu sagen. In der Sondersitzungdes Haushaltsausschusses gestern um 11 Uhr war ichwunschgemäß zugegen. Der Kollege Schindler hat bis11 Uhr behauptet, ich käme nicht. Und plötzlich war ichselbstverständlich da.
– Ja, selbstverständlich war ich da. Das kam Ihnen etwasin die Quere, aber ich war da. Das hat einigen offensicht-lich nicht gepasst.Ich habe dann in der Ausschusssitzung festgestellt,dass ich da bin und auch bereit bin, über alle Dinge zusprechen. Allerdings war Geschäftsgrundlage des Ge-schehens im Haushaltsausschuss, dass nicht nur ich dabin, sondern auch weitere geladene Gäste. Weitere gela-dene Gäste sind aber nicht erschienen; dafür sind auchGründe angeführt worden. Dann war es Auffassung derMehrheit des Ausschusses, dass man vor diesem Hinter-grund eine Sinnhaftigkeit in der Fortführung der Haus-haltsausschusssitzung nicht erkennen könne. Deshalb istdie Sitzung um Punkt 12 Uhr beendet worden.
Aber ich nehme an, dass dem Protokoll des Haus-haltsausschusses zu entnehmen sein wird, dass ich imHaushaltsausschuss das Wort ergriffen habe. Den Zeit-zeugen ist auch sicher nicht entgangen, dass ich sowohlvor der Ausschusssitzung – sowohl zeitlich als auch imräumlichen Sinne – als auch danach ohne jede zeitlicheRestriktion Fragen entgegengenommen und Antwortengegeben habe gegenüber einer großen Zahl von Medien-vertretern und auch gegenüber allen Kolleginnen undKollegen. Lieber Kollege Kahrs, ich glaube, da auch Sieda waren, können Sie das, was ich gerade dargelegthabe, sicher nur bestätigen.
Gestatten Sie den Hinweis, Kollege Kahrs, dass Sie
zu dieser Frage nur eine Nachfrage stellen können! Das
heißt, wenn Sie sich noch einmal melden wollen, müssen
Sie warten, bis ich irgendwann die Frage 6 aufrufe und
die Frage 6 beantwortet ist.
– Das kann ich leider nicht ändern. Das sind die Regeln,
die wir uns selbst gegeben haben.
Ich mache auch darauf aufmerksam, dass wir im Mo-
ment noch in der Phase der Nachfragen zur Antwort auf
die Frage 5 sind. Unsere Verabredung lautet, dass diese
Nachfragen jeweils eine Minute maximal dauern sollen;
im Übrigen die Antworten auf die Nachfragen ebenfalls.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Hofreiter.
Ich möchte, weil ich der Ausschussvorsitzende bin,
an die Kollegin Haßelmann weitergeben.
In Ordnung. Dann hat die Kollegin Haßelmann das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Ramsauer, ein-gangs ganz kurz Folgendes:Punkt eins. Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie alsMinister hier zum Ausdruck bringen, dass wir eine über-flüssige Geschäftsordnung haben. So geht das hier nicht.
Ich finde, gerade Ihre Einlassungen zeigen, wie notwen-dig die Geschäftsordnung für das Parlament ist, wenn esdarum geht, dass wir unsere Rechte wahrnehmen.Punkt zwei. Ich finde, dass Sie sich hier reichlich auf-blasen angesichts dessen, dass der Bund eine Beteili-gung von 26 Prozent hat und dieser ganze Bereich desFlughafendesasters auf der Bundesebene in Ihrer Perso-nalverantwortung steht.Jetzt zum Inhalt. Ich bin gespannt, was das Plenarpro-tokoll und das Protokoll der Haushaltsausschusssitzungausweisen werden. Sie haben hier vorhin gesagt, Sie hät-ten umfangreiche Fragen der Haushaltsausschussmit-glieder beantwortet. Anlässlich der Frage des KollegenKahrs haben Sie deutlich gemacht, dass Sie da ein biss-chen geredet haben.Ich finde, Sie sind verpflichtet, hier die Wahrheit zusagen. Deswegen werde ich mir Ihre Antwort auf meineFrage genau angucken. Meine Frage lautet: Welche Pro-bleme hat Herr Amann mit Ihnen ganz konkret in demGespräch am 19. Dezember besprochen? Von welchenProblemen am BER hat er gesprochen, und welche Risi-ken hat er wie eingeschätzt?Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Erstens. Damit sich da ja nichts Fal-sches verfestigt: Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, FrauKollegin Haßelmann: Ich habe nicht gesagt, dass wir – –
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Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
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– Wem ist das „Doch!“ gerade entfahren?
– Dann wundert es mich nicht. – Ich habe nicht von ei-ner überflüssigen Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages gesprochen.
Bitte nehmen Sie das nicht nur zur Kenntnis, sondernnehmen Sie diese Behauptung bitte zurück!
Zweitens. Zu Ihrer Nachfrage zu umfangreichen Ant-worten, die ich gestern gegeben habe: Ich habe währendder offiziellen Dauer der Ausschusssitzung, soweit derAusschuss offiziell getagt hat – er war unterbrochen –,das Wort im Ausschuss ergriffen, und ich habe in der Sit-zungsunterbrechung gegenüber den Koalitionsmitglie-dern im Haushaltsausschuss – das können viele, die jetzthier sind, bestätigen; Kollege Koppelin nickt gerade –ausführlich Fragen beantwortet.
Ich habe beispielsweise am Rande des Plenums und ges-tern danach am Rande auch Kollegen von der Opposi-tion gesprochen.
Beispielsweise dem Kollegen Danckert, den ich jetzt ge-rade nicht sehe,
habe ich ausführliche Antworten auf Fragen gegeben,die ich beantworten kann. Warum bitte nehmen Sie esmir übel,
wenn ich ohne Ansehen der Fraktionszugehörigkeit Fra-gen beantworte? Ich finde, das kann ein Mitglied desHohen Hauses – ohne Ansehen der Fraktionszugehörig-keit – vom Minister erwarten, soweit es dem Ministergestattet ist, eine Antwort zu geben.
So viel zum Thema Wahrheit.Jetzt noch einmal zu der Frage: Was ist besprochenworden? 15 bis 20 Minuten hat dieses Gespräch gedau-ert.
Es wurde von Herrn Amann dargelegt, wo die einzelnenSchwierigkeiten liegen. Das alles war aber ausschließ-lich eine Schilderung dessen, was ich bereits wusste, wasSie x-mal in den Medien nachlesen können, beispiels-weise die Schwierigkeiten bei der Entrauchungsanlage,dass es weiterer Tests und Prüfungen bedarf, ob auf-grund beispielsweise der physikalischen Gegebenheiteneine Entrauchung in diesem Umfang funktionieren kannoder nicht, ob und, wenn ja, in welchem Umfang Umpla-nungen und Umbauten erforderlich werden können, dassdies alles offene Fragen sind, deren Prüfung noch Zeit inAnspruch nimmt, über Weihnachten hinaus, und dassAntworten erst am 5. oder am 8. Januar gegeben werdenkönnen. Darum hat es sich bei diesem Gespräch gehan-delt. Die Conclusio aus dem Gespräch war, dass wederdie Haltbarkeit des Termins 27. Oktober bestätigt wer-den kann noch dass verkündet werden könnte, dass eineVerschiebung erforderlich ist. Mehr kann ich Ihnen zumInhalt dieses Gesprächs nicht mitteilen.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Herzog.
Herr Bundesminister, Sie sind seit 1990 im DeutschenBundestag. Offenbar ist Ihnen auf der Strecke abhandengekommen, dass es für Abgeordnete keine Verpflichtunggibt, den Gesprächen des Ministers mit Journalisten zufolgen, dass es aber sehr wohl eine Verpflichtung desMinisters gibt, dem Parlament Rede und Antwort zu ste-hen.
Sie können sich nicht auf das berufen, was Sie irgendwovor der Tür mit irgendwem gesprochen haben.Ich will Ihnen eine kurze Frage stellen: Sie haben ge-sagt, das Gespräch mit Herrn Amann habe unter sechsAugen stattgefunden. Ich vermute, das war wörtlich ge-meint. Daher interessiert mich, wer die dritte Person war,die bei diesem Gespräch dabei war. Oder gab es nochweitere Personen?Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Herr Kollege, ich nehme an, Sie sind gerade erst ge-kommen.
– Dann ist es Ihnen offensichtlich entgangen, was ichvor etwa fünf oder zehn Minuten dargelegt habe. Ichhabe erläutert, dass außer Herrn Amann und mir derStaatssekretär Rainer Bomba zugegen war. Ich habe vor-hin erläutert,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26673
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
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dass sich Herr Amann zu einem allfälligen Gespräch mitHerrn Staatssekretär Bomba in meinem Ministerium be-funden hat. Anlässlich dieser Tatsache habe ich darumersucht, dass Herr Bomba mit Herrn Amann kurz zu mirins Ministerbüro kommen möge. Also: Es waren dreiPersonen. Die Namen sind jetzt genannt worden.Noch einmal: Ich halte es in einem solchen Fall füreine Selbstverständlichkeit, dass man die Gelegenheit ei-nes solchen Gesprächs ergreift. Wenn man es nicht täte,würde man eine Gelegenheit verpassen.
Ich halte es für richtig, dass ich dies so gemacht habe.Ich würde es in einer analogen Situation selbstverständ-lich wieder genauso machen.
Wenn es mir möglich ist, empfange ich Gäste und spre-che mit ihnen. Wenn Sie daran etwas Negatives sehen,dann habe ich eine andere Auffassung dazu.
Im Übrigen: Was heißt „Verpflichtung“? Sie habennatürlich keine Verpflichtung, Zeitung zu lesen. Es passtaber nicht zusammen, auf der einen Seite solche Fragenzu stellen und auf der anderen Seite so zu tun, als hätteman gestern und heute von den zahlreichen Medienver-lautbarungen zu diesem Themenkomplex nichts mitbe-kommen.
Zur Richtigstellung, Herr Minister: Im Unterschied zu
Ihnen war ich schon zu Beginn der Fragestunde hier und
die ganze Zeit anwesend.
Wir kommen trotzdem zu den hier registrierten Nach-
fragen. Ich mache darauf aufmerksam: Wir sind immer
noch bei Frage 5. Der Kollege Bartol stellt seine Nach-
frage.
– Dann hat die Kollegin Rawert das Wort. – Auch das
hat sich erledigt. Dann kommt die Kollegin Kotting-Uhl.
Herr Minister Ramsauer, ich muss sagen: Als Abge-ordnete, die nicht Mitglied des Haushaltsausschussesund des Verkehrsausschusses ist, strapaziert mich diesesFrage-Antwort-Spiel schon sehr.
Ich habe den Eindruck, dass Sie unheimlich viel Zeit ha-ben müssen. Es ist erstaunlich, dass Sie und Ihr Staatsse-kretär sich mit jemandem treffen – also zwei sehr hoch-rangige Funktionen: der Minister und der Staatssekretär– und in dem Gespräch als Ergebnis nur das heraus-kommt, was Sie schon wussten. Sie und Ihr Staatssekre-tär investieren 15 bis 20 Minuten, und es kommt dabeinichts Neues heraus.
Demgegenüber haben Sie gerade eben gesagt, Sie hät-ten eine Gelegenheit verpasst, wenn Sie das Gesprächnicht geführt hätten. Ich frage Sie jetzt: Wenn Sie dasGespräch als Gelegenheit wahrgenommen haben, dannhaben Sie offensichtlich auch Erwartungen gehabt.Wenn wir jetzt schon nicht hören können, was das Ge-spräch ergeben hat – nichts hören wir –, dann sagen Sieuns doch bitte, was Sie denn von dem Gespräch erwartethaben.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Frau Kollegin Kotting-Uhl, zunächst tut es mir leid,wenn Sie sich durch Ihre parlamentarische Tätigkeit indieser Weise strapaziert fühlen.
Parlamentarische Tätigkeit ist manchmal strapaziös,aber ich stelle mich dieser Strapaze seit über 22 Jahren,und zwar mit ungebremster Freude.
Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, werfen Siemir vor, dass ich als Minister mit 15 bis 20 Minuten zuviel Zeit in dieses Gespräch investiert habe. Gesternhabe ich einen gegenteiligen Vorwurf vernommen. Derlautete, warum ich mir nicht mehr Zeit genommen hätte,um ein solches Gespräch zu führen. Der Vorwurf kamauch aus der Opposition. Die einen sehen es so, die an-deren so. Ich bin überzeugt, dass ich richtig gehandelthabe, und würde genau so wieder verfahren.Jetzt sagen Sie: Bei diesem Gespräch kam nichts he-raus, warum haben Sie es dann geführt? Sie kennen sol-che Lebenssituationen sicher auch; ich bringe es auf denPunkt: Man muss sich eben ständig gewisser Dinge ver-gewissern. Im ständigen Bemühen um Vergewisserungkommt manchmal weniger und manchmal mehr heraus.Ich habe dem Gespräch entnommen, dass weder defi-nitiv eine Verschiebung des Termins verkündet noch dasEinhalten des Termins bestätigt werden kann. Ich binfroh, dass ich vom entscheidenden Mann in der Ge-schäftsführung darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dassweitere Tests erforderlich sind. Insofern war ich wiederauf dem Laufenden. Alleine dieser Vergewisserung we-gen hat sich dieser Zeitaufwand bereits gelohnt.
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26674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Cornelia Behm auf:
Warum hat Bundesminister Dr. Peter Ramsauer einen Ab-
wahlantrag gegen Professor Dr. Rainer Schwarz angekündigt,
obwohl in der letzten Aufsichtsratssitzung einstimmig und auf
Vorschlag des Bundes beschlossen wurde, dass zunächst eine
haftungsrechtliche Prüfung durchgeführt werden soll, und ist
mittlerweile eine Rechtsanwaltskanzlei bzw. eine Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft mit dieser Prüfung beauftragt worden?
– Kollege Beck, Sie haben schon vor der Unterbrechung
eine Nachfrage gestellt, deshalb können Sie jetzt keine
weitere Nachfrage stellen, sondern müssen erst die Be-
antwortung dieser Frage abwarten.
Ich mache darauf aufmerksam, dass wir uns darauf
geeinigt haben, dass wir für die erste Frage und die erste
Antwort zwei Minuten einplanen und dass die nachfol-
genden Fragen bitte innerhalb einer Minute gestellt und
durch die Bundesregierung beantwortet werden.
Ich sehe, der Staatssekretär steht zur Beantwortung
der Frage 6 bereit. Sie haben das Wort.
J
Frau Kollegin Behm, die Antwort der Bundesregie-
rung auf Ihre Frage lautet:
Die vom Aufsichtsrat beschlossene haftungsrechtli-
che Prüfung dient der Ermittlung der Erfolgsaussichten
der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen
vormalige sowie tätige Geschäftsführer und Aufsichts-
räte. Das Verfahren zur Auswahl einer Rechtsanwalts-
kanzlei bzw. Wirtschaftsprüfungsgesellschaft läuft noch.
Es liegt im Ermessen des Aufsichtsrates, sich bereits vor
Abschluss der haftungsrechtlichen Prüfung mit einer
Abberufung von Herrn Professor Dr. Rainer Schwarz als
Geschäftsführer zu befassen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. Ich würde gerne wissen, wer aus dem
Aufsichtsrat für die Suche nach einem Nachfolger bzw.
einer Nachfolgerin von Herrn Schwarz zuständig ist und
seit wann nach dieser Person gesucht wird. Wann soll
diese Person dann die Aufgaben von Herrn Schwarz
übernehmen, von dem wir ja nun alle gehört haben, dass
er abberufen wird?
J
Frau Kollegin Behm, es ist die Aufgabe des gesamten
Aufsichtsrates, einen Nachfolger zu bestellen. In der
Praxis ist es so, dass der Präsidialausschuss und, soweit
vorhanden, der Personalausschuss, der mit entsprechen-
den Fragen befasst ist, diese Entscheidung vorbereiten.
Da die Entscheidung zur Abberufung von Herrn Profes-
sor Schwarz als Geschäftsführer gerade eben erst getrof-
fen wurde, ist eine Aussage dazu, wann und durch wen
eine Nachbesetzung erfolgt, heute naturgemäß nicht
möglich.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Da hat man sich also noch nicht auf ein Zeitfenster
geeinigt?
Ich möchte gerne wissen, ob es zutrifft, dass die Beauf-
tragung der Rechtsanwaltskanzlei und der Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft, die die haftungsrechtliche Prü-
fung, von der wir eben gesprochen haben, vornehmen
sollen, durch die Geschäftsführung der Flughafen Berlin
Brandenburg GmbH erfolgt und nicht durch das Bundes-
verkehrs- und -bauministerium. Wenn das stimmt, wa-
rum ist das so?
J
Das ist sehr einfach, Frau Kollegin Behm: Das Bun-
desverkehrsministerium ist kein Organ der FBB; in die-
sem Verfahren können nur Organe der FBB tätig wer-
den, in diesem Fall der Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat
beauftragt eine Anwaltskanzlei oder eine Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft. Wie ich Ihnen aber gerade gesagt
habe, ist das Verfahren der Suche nach einer passenden
Kanzlei noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist eine Aus-
sage dazu, wann und durch wen die Prüfung erfolgt, jetzt
nicht möglich.
Eine Nachfrage stellt nun die Kollegin Gottschalck.
– Hat sich erledigt. Dann hat der Kollege Burkert das
Wort.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Meine Frage lautet:
Sehen Sie in der heutigen Abwahl des Herrn Schwarz
durch den Aufsichtsrat eine Beeinträchtigung des opera-
tiven Geschäfts in einer schwierigen Phase am Flugha-
fen Berlin-Tegel? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die
schwierige Situation, die sich durch die weitere Ver-
schiebung der Eröffnung des neuen Flughafens ergibt,
gemeistert wird?
J
Das ist keine Frage, die das Bundesverkehrsministe-rium zu beantworten hat. Vielmehr ist es eine Frage, diedie nunmehr verbliebene Geschäftsführung zu beantwor-ten hat. Der Aufsichtsrat führt die Aufsicht über die Ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26675
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
schäftsführung. Wir gehen davon aus, dass das Personalin Tegel, das jeden Tag fleißig seine Arbeit macht, dieSituation in der Übergangszeit bewältigen kann, auchohne dass Herr Professor Schwarz die Aufsicht führt.
Kollege Beck, Sie haben das Wort.
Vor dem Hintergrund, dass es jetzt auch um Personal-
fragen geht, frage ich den Bundesverkehrsminister: Gab
es tatsächlich bei dem Gespräch am 19. Dezember kein
anderes Thema bezüglich des Flughafens als die von Ih-
nen vorhin in der Antwort angeführte Entrauchungsan-
lage und die entsprechenden Entrauchungsversuche, die
vor dem Gespräch stattgefunden hatten?
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Beck, das Gespräch war geprägt von Fra-
gen rund um den Flughafen und von den Problemen, die
es dort gibt. Ich schließe nicht aus, dass ganz am Rande,
beispielsweise beim Verabschieden, noch das eine oder
andere freundliche Wort darüber gefallen ist,
was denn die bevorstehende Weihnachtszeit unabhängig
vom Flughafen so bringt.
Sie können noch so lange herumbohren; ich finde es
langsam wirklich müßig, dass Sie in einer im Grunde ge-
nommen alltäglichen Begebenheit herumstochern.
Das ist etwas, was auch Ihre Fraktionskollegin strapa-
ziert. Hiermit stelle ich fest: Ich bin der Meinung, dass
ich über diesen Vorgang erschöpfend und hinreichend
Auskunft gegeben habe.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Ströbele.
Herr Minister, mich überzeugt das nicht. Ganz Berlin
und die halbe Republik sprechen und rätseln darüber,
auch schon am 19. Dezember vergangenen Jahres: Wann
können wir weg aus Tegel, wann können wir vom und
zum Flughafen „Willy Brandt“ in Schönefeld fliegen?
Sie treffen nun den Mann, der wahrscheinlich die meis-
ten Fachkenntnisse darüber hat, was noch zu tun ist. Sie
haben ihm gegenüber offenbar eines der Probleme ange-
sprochen. Nun wollen Sie sagen, dass Sie mit keiner
Silbe darüber geredet haben, wie lange die Arbeiten
noch dauern könnten und wann damit zu rechnen sei,
dass man es verantworten kann, Passagiere auf den Flug-
hafen zu lassen. Das wollen Sie allen Ernstes weiterhin
so behaupten?
Sie haben das Wort, Herr Minister.Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Ströbele, zunächst zur Äußerung des Kol-legen Beck nach der Beantwortung seiner Frage. Wahr-scheinlich steht sie als Zwischenruf im Protokoll. Ichhabe ihn sinngemäß so verstanden: „Wer so antwortet,hat etwas zu verbergen!“ Für den Fall, dass sich das imProtokoll wiederfindet, möchte ich mich ausdrücklichund entschieden dagegen verwahren, Herr Kollege Beck,dass ich etwas zu verbergen habe.
Ich habe nichts zu verbergen, und ich wünsche mir hieröfter die Art an Transparenz, wie ich sie an den Tag lege.
Ein weiterer Punkt. Herr Ströbele, Sie werden schwervon etwas zu überzeugen sein. Sie haben die Frage ge-stellt – ich fasse Ihre Frage zusammen –: Wann wird einneuer Eröffnungstermin genannt? Wann kann der neueFlughafen in Betrieb genommen werden? Übrigens stel-len mir viele Mitglieder dieses Hauses die umgekehrteFrage: Wie lange können wir noch ab Tegel fliegen?
Auch das ist eine interessante Fragestellung.
Die Betriebsgenehmigung für Tegel erlischt nach Inbe-triebnahme des neuen Flughafens in Schönefeld.
Auf Ihre Frage, wann ein neuer Termin genannt wer-den kann, kann ich nur antworten, wie es sinngemäß dieKollegen Wowereit und Platzeck in den letzten Tagenauch getan haben, nämlich: Ein neuer Termin kann erstgenannt werden, wenn alle technischen und planerischenFragen so weit geklärt sind, dass verlässlich prognosti-ziert werden kann, wann der Bau fertiggestellt werdenkann. Dann schließt sich der mehrmonatige Probebetrieb
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26676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
(C)
(B)
an. Erst dann kann der neue Zeitpunkt der Inbetrieb-nahme ermittelt werden.Wann der neue Termin genannt werden kann – ob dasim Frühjahr ist, im Sommer oder möglicherweise nachdem Sommer –, vermag ich Ihnen heute von dieserStelle aus genauso wenig zu sagen wie irgendjemandsonst in verantwortlicher Position rund um den Flugha-fen.
Ich rufe Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn auf.
– Entschuldigung, Kollege Kühn, können Sie bitte noch
einen kleinen Moment Ihr Informationsbedürfnis zu-
rückstellen? Wir haben den Kollegen Liebich übersehen.
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir zunächst die Vor-
bemerkung, dass es mich schon erstaunt, wie das Frage-
recht von Abgeordneten durch Vertreter der Bundesre-
gierung bewertet und infrage gestellt wird. Das kenne
ich aus der Arbeit im Abgeordnetenhaus von Berlin
nicht. Ich hoffe nicht, dass das hier im Deutschen Bun-
destag üblich ist.
Zu meiner Frage, Herr Ramsauer – um von dem Ge-
spräch wegzukommen, über das sie nicht so viel reden
wollen –: Das Gespräch fand am 19. Dezember statt.
Vorhin hat Herr Staatssekretär Mücke gesagt, dass am
21. Dezember die Experimente mit der Rauchgasanlage
abgeschlossen waren. Am 4. Januar ist den Referenten
der Mehrheitsgesellschafter in einem Brief per Bote die
Information zugegangen, dass der Eröffnungstermin er-
neut verschoben wird. Mich interessiert Ihre Bewertung
der Dauer und der Art und Weise der Informationsüber-
mittlung.
Sie haben das Wort, Herr Minister.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Herr Kollege Liebich! Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle das Frage-
recht nicht infrage. Ich bin selbst lang genug Parlamen-
tarier und lang genug in parlamentarischen Führungs-
positionen und habe immer darauf beharrt. Dass dies
eine ausführliche Debatte ist, zeigt sich im Übrigen al-
lein daran, dass die Dauer der Debatte über dieses eine
Gespräch schon jetzt die Dauer meines Gesprächs am
19. Dezember 2012 mit Herrn Amann um ein Mehrfa-
ches übersteigt.
Stärker kann man das Ganze nicht zerlegen und atomi-
sieren.
Noch einmal zum Ablauf – darüber habe ich in einer
Berliner Zeitung heute schlicht und einfach Unsinn gele-
sen; darum bin ich sehr dankbar für diese Frage –: Nach
meiner Kenntnis – Sie haben das korrekt dargestellt –
wurde die Feststellung von Herrn Amann, wenn ich das
richtig in Erinnerung habe, am 4. Januar 2013 – das war
ein Freitag – im Laufe des Nachmittags an bestimmte
Adressaten überstellt – in einem verschlossenen Um-
schlag, soweit ich informiert bin. Die Dienstzeit war
möglicherweise vorbei. Was ich jetzt sage, ist gestern
x-mal vor Medienvertretern öffentlich verlautbart und
breitgetreten worden; aber ich wiederhole es gerne und
geduldig weiter.
– Ich weise ja nur darauf hin; nicht dass jemand sagt,
ich würde mich wiederholen, und mir das zum Vorwurf
macht. Natürlich kann ich hier nur wiederholen, was
gestern x-mal gesagt worden ist,
auch von mir.
Staatssekretär Bomba ist, was nicht gewöhnlich ist,
am Sonntag ins Ministerium gekommen.
Das ist nicht gerade eine übliche Dienstzeit. Er hat die-
sen Brief geöffnet und mir den Inhalt dieses Briefes
sinngemäß am Sonntagabend, am 6., mitgeteilt, sodass
im Laufe des 7. – Montag –, ab früh morgens gesprochen
werden konnte. Die Zeitung Der Tagesspiegel hat heute
geschrieben, das sei am 8. und nicht am 6. gewesen. Da-
mit hier nicht noch eine Nachfrage kommt, sage ich: Das
ist inzwischen auch korrigiert. Wie das mit dem 8. zu-
stande kam, kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls habe
ich nie „8.“ gesagt, sondern, so wie jetzt: am 6., am
Sonntag, geöffnet und mir dann mitgeteilt. – Alles Wei-
tere, das, was am Montag, den 7., stattgefunden hat, ken-
nen Sie.
Jetzt rufe ich die Frage 7 des Kollegen Stephan Kühn
auf:
Wie kam das BMVBS nach dem Expertentreffen zum ge-
planten Berliner Flughafen BER am 18. Dezember 2012 ge-
Zeitverschiebung nötig machen“?
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen;
denn das BMVBS hat eine solche Aussage nicht getrof-
fen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26677
(C)
(B)
Wir haben in dieser Fragestunde eine intensive Pres-
seschau betrieben. Darum habe auch ich mir erlaubt, aus
der Zeitung zu zitieren. Dort stand das nämlich.
Zur ersten Nachfrage. Inwieweit hat Staatssekretär
Bomba beim besagten Treffen mit Herrn Amann am
18. Dezember 2012 thematisiert, dass die Bautätigkeit
nicht im November 2012 wieder aufgenommen worden
war, was ja Bedingung für die Einhaltung des angestreb-
ten Eröffnungstermins am 27. Oktober 2013 war?
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Zunächst einmal möchte ich das nicht so stehen las-
sen. Sie haben falsch aus der Berliner Zeitung zitiert. Sie
haben unterstellt, dass das BMVBS behauptet hat, dass
es keine Aspekte gibt, die eine Zeitverschiebung nötig
machen würden. Genau das hat das BMVBS zu keiner
Zeit behauptet. Hier ist zwar von einem unbekannten
Teilnehmer die Rede; aber das BMVBS hat eine solche
Aussage nicht getroffen. Eine solche Aussage konnten
wir auch nicht machen, weil, wie Sie wissen, die Aus-
wertung der Rauchgasversuche bis zum 21. Dezember
2012 gedauert hat und uns die Mitteilung über die Ver-
schiebung der Inbetriebnahme des Flughafens am 4. Ja-
nuar 2013 zugeschickt worden ist. Das hat der Bundes-
minister gerade erläutert.
Zur Frage, was Herr Kollege Bomba bei dem Ge-
spräch am 18. Dezember 2012 gefragt oder auch nicht
gefragt hat, kann ich Ihnen nur so viel sagen: Dieses Ge-
spräch hat auf Einladung der Geschäftsführung der
FBB GmbH stattgefunden. Bei diesem Gespräch ging es
ausschließlich um technische Details der Rauchgasver-
suche und der Brandschutzanlage.
Mir liegen keine Erkenntnisse vor, dass darüber hi-
nausgehend irgendwelche Fragen von Herrn Kollegen
Bomba gestellt worden sind. Klar ist jedenfalls, dass
Aussagen zu einer Verschiebung der Inbetriebnahme
nicht getroffen worden sind und auch nicht getroffen
werden konnten, weil die Auswertung der Ergebnisse
noch angedauert hat.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Wir bleiben bei dem Thema und machen wieder ein
wenig „Presseschau“. In der Welt vom 27. Dezember
wird der Minister – ich glaube, wir sind uns einig, dass
das in der Zeitung stand – mit der Aussage zitiert:
Der Miteigentümer Bund sieht Anzeichen dafür,
dass der Eröffnungstermin am 27. Oktober 2013
möglicherweise nicht gehalten werden kann.
Herr Minister, ich frage Sie: Bezieht sich diese Einschät-
zung auf die Ergebnisse der Rauchgasversuche?
J
Das kann sich nicht darauf beziehen, weil die Ergeb-
nisse da noch nicht vorgelegen haben.
Ich hatte den Minister gefragt.
J
Für die Bundesregierung antwortet immer – –
Die Bundesregierung entscheidet, wer antwortet, und
Sie entscheiden, wie zufrieden oder unzufrieden Sie gege-
benenfalls mit dieser Entscheidung sind. – Ich mache da-
rauf aufmerksam, dass die Fragestunde noch fünf Minuten
andauert, und rufe die Frage 8 des Kollegen Kühn auf:
Wann und mit welchem Ergebnis ist zwischen dem
BMVBS und dem Bundesministerium der Finanzen abge-
stimmt worden, ob der Bund die Kandidatur von Ministerprä-
sident Matthias Platzeck für den Aufsichtsratsvorsitz der
Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, unterstützt oder
ob der Bund gegebenenfalls einen alternativen Kandidaten
vorschlägt?
J
Herr Kollege Kühn, dazu lautet die Antwort der Bun-
desregierung: Nach dem Gesellschaftsvertrag der Flug-
hafen Berlin Brandenburg GmbH wählt der Aufsichtsrat
den Aufsichtsratsvorsitzenden mit einfacher Mehrheit
der abgegebenen Stimmen aus seiner Mitte. Die Ent-
scheidungsfindung findet im Aufsichtsrat statt. Das Bun-
desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
und das Bundesministerium der Finanzen stimmen sich
hierzu laufend ab.
Bevor wir im Prozedere weiter fortfahren, hat sich der
Kollege Volker Beck zur Geschäftsordnung gemeldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aufgrund der Antworten, die wir nicht bekommen ha-
ben, halte ich es für erforderlich, dass hier im Deutschen
Bundestag in einer Aktuellen Stunde über die Verant-
wortung aller drei Eigner der Flughafengesellschaft de-
battiert wird. Ich beantrage dies hiermit im Namen mei-
ner Fraktion, bitte aber, jetzt dennoch mit der
Fragestunde bis zum Ende der Zeit fortzufahren.
Sie haben es alle gehört: Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen hat zur Antwort der Bundesregierung auf dieFrage 8 eine Aktuelle Stunde verlangt. Das entsprichtNr. 1 b der Richtlinien für Aktuelle Stunden. Die Aus-sprache findet im Anschluss an die Fragestunde statt.Diese Fragestunde endet in drei Minuten und 24 Sekun-den.Wir kommen jetzt zur nächsten Nachfrage des Kolle-gen Kühn.
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26678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
(C)
(B)
In der Zwischenzeit wissen wir, wie die Wahl zum
neuen Vorsitzenden des Gremiums ausgegangen ist. Da-
rum erlaube ich mir folgende Nachfrage: Warum hat der
Bund bzw. haben die Vertreter des Bundes im Aufsichts-
rat nicht auf einen unabhängigen Experten als Aufsichts-
ratsvorsitzenden gedrungen, so wie es ursprünglich auch
die Position von Bundesfinanzminister Schäuble gewe-
sen ist?
J
Herr Kollege Kühn, es ist gute Übung, dass sich die
Gesellschafter auf einen gemeinsamen Kandidaten eini-
gen. Der Bundesregierung ist es wichtig gewesen, dass
wir aus unserer Position als Minderheitengesellschafter
heraus darauf hingewirkt haben, dass der Aufsichtsrat
durch Fachleute ergänzt wird. Insofern ist das, was heute
mit der Wahl von Herrn Ministerpräsident Platzeck statt-
gefunden hat, das Ergebnis einer Paketlösung.
Wir akzeptieren Herrn Platzeck als Vorsitzenden des
Aufsichtsrates, bestehen aber darauf, dass der Aufsichts-
rat durch unabhängige Fachleute ergänzt wird, die den
Aufsichtsrat bei seiner Tätigkeit unterstützen und damit
mit dazu beitragen, dass der Flughafen endlich in ruhi-
ges Fahrwasser kommt. Es war immer die Aufgabe der
Bundesregierung – deshalb haben wir bei uns im Hause,
im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung, auch eine Sonderkommission eingerichtet –,
darauf zu dringen, dass dieses leidige Problem endlich
erledigt wird. Ich glaube, dass wir mit den getroffenen
und noch zu treffenden Entscheidungen in personeller
Hinsicht die Weichen richtig gestellt haben, damit der
Flughafen endlich fertig gebaut werden kann.
Auf die zweite Nachfrage wird verzichtet. – Wir ha-
ben noch eine Minute und 16 Sekunden, und es gibt
noch eine Nachfrage des Kollegen Stefan Liebich. –
Auch Sie verzichten.
Will jemand den Antrag stellen, dass wir die Frage-
stunde noch eine Minute fortführen?
Niemand? Selbst Kollege Lindner nicht. Prima.
Dann beenden wir die Fragestunde und kommen zu
der bereits hier angekündigten Aktuellen Stunde, die
nach Schluss der Fragestunde, den wir gerade gemein-
sam festgestellt haben, durchgeführt wird.
Ich rufe also Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b
GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Frage 8 auf Drucksache 17/12041
Im Augenblick wird die Rednerliste erstellt, aber der
erste Redner ist mir schon gemeldet. Es ist unser Kollege
Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundes-verkehrsminister Peter Ramsauer geriert sich beimThema Flughafen Berlin Brandenburg gern in der Rolledes vermeintlichen Chefaufklärers.
So hat er im Mai 2012 eine Sonderkommission einge-richtet. Ich muss sagen: Die Bilanz von Herrn Ramsauerals Chaosbeseitiger beim Flughafen BER ist die gleichewie seine Bilanz als Verkehrsminister, nämlich gleichnull.
Die Befragung des Ministers gestern im Haushalts-ausschuss – wir haben es bereits gehört – ist abgebro-chen worden.
Die Koalition hat ganz offensichtlich gute Gründe, wa-rum sie beim Verkehrsminister lieber nicht genauernachfragen will. Warum das so ist, davon hat man geradein der Fragestunde einen Eindruck gewinnen können.Sie, Herr Minister, haben uns mit Nichtaussagen die Zeitgestohlen,
und Sie pflegen eine Informationspolitik und einen In-formationsstil, die diesem Hause aus meiner Sicht nichtangemessen sind.
Sie haben die Sonderkommission BER offensichtlichnicht darauf angesetzt, sich ein ehrliches Bild vom Aus-maß der Schlampereien auf dem Hauptstadtflughafen zumachen. Wie kommt es sonst, dass der Bund auch da-nach einen dritten und dann einen vierten Eröffnungster-min einstimmig mit den anderen Gesellschaftern festge-legt hat? Es gibt ja seitens des Bundes „Experten“ indiesem Gremium: Ingenieur Bomba und Finanzfach-mann Gatzer. Man fragt sich, warum es nach der zweitenVerschiebung noch Zustimmung zum neuen Zeitplan derPlanungsgesellschaft, pg bbi, gab, der man eine Wochespäter aufgrund fehlenden Vertrauens und Nichterfül-lung ihrer Aufgaben gekündigt hat.Wie kommt es, dass ein Sprecher des Bundesver-kehrsministeriums am 18. Dezember 2012 nach einerBegehung des Flughafens erklären ließ, dass es keineAspekte gebe, die eine Zeitverschiebung nötig machen,und man nur zwei Wochen später im neuen Jahr die Aus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26679
Stephan Kühn
(C)
(B)
sagen des neuen Technikchefs Amann hört, der die Zu-stände am Flughafen als „fast grauenhaft“ bezeichnetund überhaupt keinen Eröffnungstermin mehr nennenwill oder kann.Fast grauenhaft ist das Bild, das bereits am 13. De-zember 2012 im Sachstandsbericht zum Flughafen BERgezeichnet wurde. Man muss den Eindruck gewinnen,dass eigentlich fast keine technische Anlage im Flugha-fen funktionsbereit oder funktionsfähig ist. Ich zitiereaus dem Sachstandsbericht: „Insbesondere bei denSchwerpunktthemen Entrauchung, Sprinklerung,Schließanlage und LAN sind noch grundlegende Klärun-gen herbeizuführen …“. Dort heißt es auch, dass esMängel an den Kabeltrassen, Über- und Fehlbelegungen,gibt. Ferner heißt es: „Im Bereich der Niederspannungs-hauptverteilung wurden Verstöße gegen die Verlegungs-richtlinie festgestellt.“ Infolge von Planungsmängelnseien Nachbesserungen der Regelungstechnik des Kälte-versorgungssystems erforderlich.Der aktualisierte Sachstandsbericht vom 8. Januardieses Jahres zeichnet ein noch viel düstereres Bild. Sosind umfangreiche Umplanungen und Umprogrammie-rungen der Steuerung und Umbaumaßnahmen, auch anden Entrauchungsanlagen, unumgänglich. Da heißt essogar: Zu prüfen ist, ob „ein vollständiger Umbau aufden Genehmigungsstand unumgänglich ist.“ Es wurdealso schlicht an der Baugenehmigung vorbei gebaut.
Das ist, wie die zuständige Behörde gesagt hat, nicht ge-nehmigungsfähig. Es handelt sich also um einen klarenFall von Schwarzbau.
Apropos Schwarz: Der Bund hat es hingenommen,dass Geschäftsführer Schwarz auch nach drei Verschie-bungen immer noch weitermachen durfte.
Nun, nach der vierten Verschiebung, ist er heute von sei-nen Aufgaben entbunden worden. Das alles hätten wirschon im November letzten Jahres haben können. Sie er-innern sich: Wir haben damals einen Antrag in den Ver-kehrsausschuss und in den Haushaltsausschuss einge-bracht, in dem wir die Auflösung des Vertrages und dieEntlassung von Herrn Schwarz gefordert haben. Damalsmussten die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPDmit Tagesordnungstricks eine Vertagung herbeiführen.Damals hieß es noch, man wolle zunächst haftungsrecht-liche Prüfungen durchführen, bevor man entscheidet.Das ist mittlerweile offensichtlich Geschichte.
Wir fragen uns: Wieso braucht es vier Verschiebun-gen, um zu einer neuen Struktur der Flughafengesell-schaft zu kommen? Wieso gibt es keine Personalvor-schläge für einen kompetenten Geschäftsführer aus demHause Ramsauer? Heute wurde zwar jemand entlassen;aber ein Nachfolger wurde nicht benannt.Verkehrsminister Peter Ramsauer hat aus dem ganzenSchlamassel immer noch nicht gelernt. Er hat seine Zu-stimmung zu einer – ich nenne es jetzt einmal so – russi-schen Rochade gegeben, nämlich zum Austausch an derSpitze des Aufsichtsrates, also zum Wechsel vonWowereit zu Platzeck, anstatt einen unabhängigen Ex-perten zu benennen. Wir fordern: Besetzen Sie den Auf-sichtsrat komplett neu und vor allen Dingen zügig mitExperten!
Wir fragen uns, da das Ganze immer teurer wird: Wohat der Bund klare Bedingungen genannt, an die die Ver-gabe weiterer Mittel gebunden ist? Ramsauer hat bisherein Rundum-sorglos-Paket abgesegnet. Den beiden an-deren Anteilseignern wurden keine Bedingungen dafürgenannt, dass weiter Geld fließt. Herr Ramsauer, Sie ste-hen in der Verantwortung. Nehmen Sie diese endlichwahr! Kümmern Sie sich um eine zeitnahe Eröffnungund die Begrenzung der Zusatzkosten! Bisher haben Siedazu nichts, aber auch gar nichts geliefert.
Das war Kollege Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. – Nächster Redner ist für die
Fraktion der CDU/CSU Kollege Peter Wichtel. Bitte
schön, Kollege Peter Wichtel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Das neue Jahr beginnt im Plenum des Bundestages,wie das alte geendet hat: mit einer Debatte zu unseremHauptstadtflughafen. Bedauerlicherweise reißen die Hi-obsbotschaften, wie schon im vergangenen Jahr, auch indiesem Jahr nicht ab. Wir haben nun Gewissheit, dassder Eröffnungstermin nicht gehalten werden kann. Wennman sich die heutige Diskussion, die Fragestunde unddie entsprechenden Presseerklärungen vor Augen führt,wird deutlich, dass hier Verteidigungskämpfe stattfindenbzw. Stellvertreterkriege geführt werden.Die Situation ist beschämend genug. Deswegen be-dauern die CDU/CSU-Fraktion und ich, dass die verant-wortlichen Landesregierungen und die Opposition imDeutschen Bundestag nicht davon ablassen, von ihrerVerantwortung abzulenken, sondern versuchen, dieSchuld auf andere abzuwälzen.
Insofern befinden Sie von der SPD sich mit Ihrem Par-teivorsitzenden offenbar im Einklang, der ja versucht,
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26680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Peter Wichtel
(C)
(B)
durch Presseerklärungen den Eindruck zu erwecken, alswäre der Bund der Mehrheitsaktionär und als hätte derBund bzw. der Bundesverkehrsminister das Sagen, umalle erforderlichen Maßnahmen durchzusetzen.Fehlanzeige sind bei Ihnen von der SPD und von denanderen Parteien aber auch Aussagen zur Rolle des Re-gierenden Bürgermeisters, der noch bis heute Aufsichts-ratsvorsitzender war und nun endlich zurückgetreten ist.
Er lässt das Nachtreten auch nicht. Er kommt nicht mitdem Geständnis „Mea culpa – ich habe Fehler gemacht“:Ich habe sogar den Geschäftsführer Schwarz gegenüberdem Aufsichtsrat bis zur letzten Minute verteidigt. –Kein Wort des Bedauerns über das Flughafendebakelkommt aus seinem Mund.Für die Krisenbewältigung bei diesem Hauptstadtpro-jekt brauchen wir Fachkompetenz und ein ausreichendesZeitbudget. Ich selbst würde mir wünschen, dass endlicheinmal ein Fach- und Sachkonzept vorgelegt wird, wiedie bestehenden Mängel tatsächlich behoben werdenkönnen, was behoben werden muss, wie es behoben wer-den soll, wer es beheben soll und was es kostet, damitwir einen Zeitplan haben und endlich wissen, wann diegravierenden Fehler behoben werden.In der Anteilseignergesellschaft einigt man sich natür-lich auf eine Struktur. Da gibt es Dinge, die man durch-setzen kann, und Dinge, die man nicht durchsetzen kann.Ich sage ganz offen: Ich bedaure, dass Herr Platzeckjetzt zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates gewählt wor-den ist. Er hat an den Fehlern in der Vergangenheit ge-nauso wie Herr Wowereit federführend mitgewirkt undträgt dafür Verantwortung. Deswegen hätte er meineStimme im Aufsichtsrat nicht erhalten.
Ich denke, das ist eine klassische Fehlbesetzung. Ich willdas auch begründen:
Wenn jetzt auf einmal eine Taskforce mit einem Staats-sekretär und zig Leuten eingebunden wird, dann frageich mich, warum Herr Platzeck diese Taskforce nichtschon letztes Jahr eingesetzt hat.
Das wäre eine Chance gewesen, schneller voranzukom-men und ein bisschen weg von der Politik zu kommen.Durch etwas mehr Fach- und Sachkompetenz wäre dieArbeit besser geworden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es mussjetzt weitergehen. Deswegen hoffe ich, dass diejenigen,die im Aufsichtsrat sitzen bzw. jetzt neu bestellt werden,sich die Strukturen noch einmal anschauen. Ich glaube,es ist jedem klar, dass der Betrieb in Schönefeld und derBetrieb in Tegel weitergeführt werden müssen. Es istdurchaus möglich, dass in Tegel optimiert werden muss,
damit die Zahl der Passagiere, die in Berlin – Gott seiDank – regelmäßig weiter steigt, tatsächlich abgewickeltwerden kann. Deswegen sollte auch darüber nachge-dacht werden, wie in der Geschäftsführung selbst dieVerantwortung für den Neubau bzw. für den Teil, der ab-gearbeitet werden muss, einerseits und die laufendenGeschäfte besonders in Tegel andererseits aufgeteiltwerden kann. Ich glaube, dass die Geschäftsführung gutberaten ist, wenn sie entsprechende Struktur- und Orga-nisationsvorschläge in den Aufsichtsrat einbringt, sodassdiese dort diskutiert werden können. Ich denke, dass dasGroßprojekt BER nur dann tatsächlich zu Ende geführtwerden kann, wenn jetzt mit Sach- und Fachverstand andie Sache gegangen wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke –und da bin ich derselben Meinung wie die CDU/CSU-und FDP-Mitglieder des Haushaltsausschusses –, dassweitere Gelder erst dann fließen können, wenn schlüs-sige Konzepte vorliegen.
Alles andere wäre der Bevölkerung nicht zuzumuten undließe sich auch nicht erklären.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Peter Wichtel. – Als Nächster
für die Fraktion der Sozialdemokraten: unser Kollege
Sören Bartol. Bitte schön, Kollege Sören Bartol.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben beimFlughafen BER ein Desaster, das bei allen Beteiligten,auch bei uns, viele Fragen aufwirft. Zu Recht fragenviele Bürgerinnen und Bürger danach, wer bei diesemProjekt welche Verantwortung hat und ob wir überhauptin der Lage sind, den Bau eines neuen Flughafens zu be-aufsichtigen.Wir alle, lieber Kollege Wichtel, müssen partei- undfraktionsübergreifend unsere Lehren ziehen, um in Zu-kunft nicht die gleichen Fehler noch einmal zu machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26681
Sören Bartol
(C)
(B)
Dazu braucht es Haltung, dazu gehört, dass Politikerauch zu ihrer Verantwortung stehen. Klaus Wowereitund Matthias Platzeck haben das getan.
Sie haben sich einem Vertrauensvotum ihrer Parlamentegestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bundesverkehrsminister Ramsauer zeigt im Gegen-satz dazu überhaupt null Haltung.
Er versteckt sich hinter seinem Staatssekretär RainerBomba und verweist darauf, dass der Bund bei BER le-diglich Minderheitsgesellschafter ist. Von Bundesver-kehrsminister Ramsauer habe ich bisher kein einzigesWort der Selbstkritik gehört. Das spricht doch für sich,vor allem sein Verhalten eben in der Fragestunde.
Wir haben in der Fragestunde erlebt, wie die Bundes-regierung und die schwarz-gelbe Koalition mit der ak-tuellen Situation beim Bau des neuen Flughafens umge-hen. Sie schlagen sich immer gerne in die Büsche,
wenn es darauf ankommt, und versuchen noch, die Si-tuation rein parteipolitisch auszuschlachten.Die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP messen bei der Aufklärung mit zweierlei Maß. ImHaushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat dieKoalition erst eine Sondersitzung zum Thema BER be-antragt, dann wurde sie von der Teilnahme ihres eigenenBundesverkehrsministers überrascht und erteilte HerrnRamsauer ein Redeverbot, indem sie die Sitzung einfachohne Debatte wieder beendete.
Damit verhinderten die Koalitionsfraktionen, dass sichder Minister zu den Vorwürfen, dass er bereits im De-zember 2012 von einer Verschiebung des Terminswusste, entsprechenden Nachfragen stellen musste.Wenn es gegen die beiden MinisterpräsidentenWowereit und Platzeck geht, sind Sie sehr schnell dabei,aufklären zu wollen. Wenn Ihre eigenen Minister in derKritik stehen, dann verhindern Sie, dass überhaupt nurdarüber gesprochen wird.Sehr geehrte Damen und Herren, Flughäfen von derGröße des neuen Flughafens BER sind von nationalerBedeutung. Ich erwarte daher, dass sich der Bundesver-kehrsminister aktiv um den Bau des neuen FlughafensBER kümmert.Die Länder Berlin und Brandenburg können sich je-doch nicht auf die Unterstützung der Bundesregierungverlassen. In der Öffentlichkeit wird falsch gespielt: In-terne Unterlagen aus dem Aufsichtsrat werden „durchge-stochen“, aus internen, vertraulichen Sitzungen wird anJournalisten berichtet, und es wird, wie wir heute in derFragestunde gehört haben, ohnehin nur mit Journalistengeredet.Als der Berliner Regierende Bürgermeister KlausWowereit am 7. Januar 2013 im Kreise der Gesellschaf-ter seinen Rücktritt als Vorsitzender des Aufsichtsratesanbot, verweigerte die Bundesregierung, Verantwortungzu übernehmen, und wies das angebotene Amt des Auf-sichtsratsvorsitzenden zurück. Umso schäbiger ist es,dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dieKompetenz von Ministerpräsident Matthias Platzeck amfolgenden Tag infrage stellte.
Auch Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer signa-lisierte in Wildbad Kreuth zunächst Unterstützung fürMinisterpräsident Platzeck. Inzwischen verweist er beidieser Frage auf den geringen Einfluss, den er als Min-derheitsgesellschafter bei der Wahl des neuen Aufsichts-ratsvorsitzenden habe.Ich persönlich halte die Debatte über die Besetzungvon Aufsichtsräten bei Unternehmen im Besitz der öf-fentlichen Hand für hochgefährlich.
Unabhängig von einigen unflätigen Angriffen von ein-zelnen Koalitionsabgeordneten, die gestandene Minis-terpräsidenten als „Pfeifen“ bezeichnen – ich finde, hier-für fehlt immer noch eine Entschuldigung –, stelle ichdie Frage: Welche Fachleute sind denn eigentlich ge-meint?
Geht es um die Vertreter der Wirtschaft, wie zum Bei-spiel das Unternehmen Hochtief, das bei der HamburgerElbphilharmonie gezeigt hat, wie „groß“ die Fachkom-petenz ist, oder geht es um die Vertreter von Banken undFinanzinstituten, deren Aufsichtsräte das große Gezockemit dem Geld der kleinen Sparerinnen und Sparer über-haupt erst zugelassen haben?
Ich empfinde es in einer Demokratie als eine Selbst-verständlichkeit, dass demokratisch legitimierte Vertre-ter einer Regierung bei Unternehmen, die sich im öffent-lichen Besitz befinden, die demokratische Kontrollewahrnehmen.
Die Kompetenz dafür ist ihnen von den Wählerinnenund Wählern auch zugesprochen worden.
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26682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Sören Bartol
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss und zitiere:Der Flughafen soll schnellstmöglich fertiggestelltund eröffnet werden. Alle dazu erforderlichen Ent-scheidungen im Aufsichtsrat sollen einvernehmlichgetroffen werden. Es ist im gesamtstaatlichen Inte-resse, das Flughafenprojekt erfolgreich zu Ende zubringen.Das ist der Wortlaut der gemeinsamen Erklärung der Ge-sellschafter des Flughafens BER, die auch MinisterRamsauer und Minister Schäuble am 9. Januar 2013 ver-öffentlicht haben.Lieber Herr Bundesminister, nach Ihrem heutigenAuftritt hoffe ich, dass Sie sich in Zukunft daran erin-nern werden, das dauernde Über-Bande-Spielen beendenund sich endlich Ihrer Aufgabe als Bundesverkehrsmi-nister stellen, dieses Großprojekt zu einem guten Endezu bringen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Sören Bartol. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Martin
Lindner. Bitte schön, Kollege Dr. Martin Lindner.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Ge-statten Sie mir, in dieser Debatte zwei einleitende Be-merkungen zu machen:Erstens. Ich glaube, wir alle – das meine ich partei-übergreifend – müssen uns einmal genau über dasThema „Bauen der öffentlichen Hand“ unterhalten,
weil hier ständig, konsekutiv, immer wieder dieselbenFehler auftreten, die immer wieder auf ähnliche Weisevirulent werden:
Der erste Fehler ist, dass die Dinge heruntergerechnetwerden, damit man sie durch den jeweiligen Gemeinde-rat, den Hauptausschuss und den Haushaltsausschussbringen und die Öffentlichkeit davon überzeugen kann.Dann kommt der zweite Fehler: Um einigermaßen dazu landen, wo man es zunächst falsch projiziert hatte,wird billigst vergeben. Nicht der Beste, nicht der Quali-fizierte, sondern der Billigste wird genommen, und dannkommen die Folgefehler. Der eine oder andere schafft esnicht, das zu halten. Dann müssen Nachaufträge verge-ben werden, und wir landen immer in so einem elendenDesaster, was für unser internationales Ansehen mittler-weile verheerend ist.Hier hatten wir speziell die Frage der EU-weiten Aus-schreibung. Ich sage nicht, dass eine Ausschreibung ei-nes Generalunternehmers immer zwingend ist. Es kannin Unternehmen Bauexpertise vorhanden sein, beispiels-weise bei Wohnungsbaugesellschaften, bei großen Ener-gieversorgungsunternehmen, die laufend Kraftwerkebauen. Aber eine Flughafengesellschaft – wie oft bautdie denn einen Flughafen? Alle hundert Jahre vielleichteinmal. Deswegen wäre es zwingend gewesen, hier bei-spielsweise einen Generalunternehmer zu beauftragen.
– An der Stelle der SPD würde ich hier ein bisschen he-runterflammen. Aber dazu komme ich gleich.
Meine zweite Bemerkung: Politiker im Aufsichtsrat.Ich glaube, hier dürfen wir in der Tat – das war eines derwenigen Dinge, die mein Vorredner richtig analysierthat – nicht grundsätzlich sagen, dass Politiker nicht ge-eignete Aufsichtsräte sind. Ich glaube, dass es an dereinen oder anderen Stelle eine strukturelle Interessenkol-lision geben kann, weil man als Aufsichtsrat die mikro-ökonomischen Belange des Unternehmens zu beachtenhat, aber als Minister oder Senator die Belange der All-gemeinheit. Das kann beispielsweise bei Verkehrsgesell-schaften zu einer Kollision führen. Aber hier hatten wirdiese Kollision nicht. Hier hatten wir ein gleichgerichte-tes Interesse des Senators, des Ministers, des Regieren-den Bürgermeisters und der Flughafengesellschaft an zü-giger, pünktlicher und ordnungsgemäßer Realisierungdieses Bauvorhabens.Da kommt der Aufsichtsratsvorsitzende ins Spiel, undder hat an der Stelle jämmerlich und kläglich versagt.
Das hatte nichts mit Kollision zu tun, das hatte auchnichts mit einem Vorfeld zu tun. Das wird aus einemSchreiben vom 18. Dezember, das er an mich richtenließ, überdeutlich. Ich hatte ihm geschrieben, er soll ein-mal zur Umsetzung des brandenburgischen Corporate-Governance-Kodex Stellung nehmen. Da lässt er mirwie folgt antworten – ich zitiere aus dem Schreiben desRegierenden Bürgermeisters vom 18. Dezember –:So wurde– schreibt er –der Aufsichtsratsvorsitzende von der Geschäftsfüh-rung auch über die Notwendigkeit sogenannterEndspurtmaßnahmen zur Realisierung des Eröff-nungstermins am 03.06.2012 informiert, die vomAufsichtsrat in seiner Sitzung am 20.04.2012 be-schlossen wurden.Zur Eröffnung des Berliner Flughafens habe ich am4. April 2012 eine Einladung bekommen, und jetztschreibt mir der Regierende Bürgermeister, dass am20.04. Endspurtmaßnahmen beschlossen wurden,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26683
Dr. Martin Lindner
(C)
(B)
die in den gerade einmal zwei Wochen vor der Eröff-nung – zwei Wochen! – realisiert werden sollten. Das istso, als wenn ein Marathonläufer, der schon 42 Kilometerhinter sich hat, erklären würde, er hätte irgendwie zwei-einhalb Meter vor dem Einlaufen den Endspurt eingelei-tet. Leute, das ist doch das Versagen! Vor einem Jahr– wenn in dem Schreiben „2011“ stünde – wäre der Zeit-punkt für Endspurtmaßnahmen, für Nachfragen und soweiter gewesen. Aber er schickt erst einmal Hoch-glanzeinladungen und redet dann von Endspurtmaßnah-men.
Das ist ein absolutes Versagen des Vorsitzenden diesesAufsichtsrats, absolut.
Das nächste Versagen war es, neue Termine anzuset-zen – ohne Fundament.
Damit hat er nicht nur diesen Flughafen und diese Stadt,sondern dieses ganze Land der Lächerlichkeit preisgege-ben. Das ist vor allen Dingen sein Versagen.
Es ist natürlich der Aufsichtsratsvorsitzende, der da ge-fragt ist. Er ist derjenige, der die Sitzungen einberuft. Erist derjenige, der auch spezielle Maßnahmen ergreifenkönnte.
Darauf mit einer Rochade nach Moskauer Art zu antwor-ten, ist doch lächerlich.
Er muss als Regierender Bürgermeister zurücktreten,wenn er Verantwortung übernimmt. Das ist die entschei-dende Frage.
Es geht doch hier nicht um so ein komischesMedwedew/Putin-Getue. Der einzige Unterschied ist,dass die zwei wenigstens Treiber waren; die anderenzwei, Platzeck und Wowereit, sind Getriebene.
Und Sie wollen das Land regieren!
Ich stelle sie einmal in folgende Reihe: Ude kriegt diedritte Startbahn nicht hin, Beck hat beim Nürburgringversagt, der Scholz mit der Elbphilharmonie.
Sie können es nicht; Sie können es so gar nicht. Sie kön-nen auch das ganze Land nicht regieren.
Das ist doch das Entscheidende. Dann stellen Sie sichhier hin und blasen die Backen auf. Nach diesem Desas-ter versuchen Sie jetzt, den Bundesverkehrsminister an-zugreifen.
An Ihrer Stelle würde ich einmal ganz still vor der eige-nen Tür kehren und überlegen, warum Sie es auf keinerEbene schaffen.
Deswegen werden Sie zu Recht am Sonntag nicht ge-wählt werden. Deswegen werden Sie auch zu Recht indiesem Land keine Regierungsverantwortung überneh-men können.
Eine Partei, die es einfach nicht schafft und auf allenEbenen versagt, die sollte sich erst einmal überlegen,wie man auf lokaler Ebene wichtige Projekte hinbe-kommt.
Kollege Lindner, beachten Sie das Leuchten, das das
Ende Ihrer Redezeit anzeigt.
Eine solche Partei sollte sich das gut überlegen, bevor
sie Ansprüche auf mehr erhebt.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke unserKollege Stefan Liebich. Bitte schön, Kollege StefanLiebich.
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26684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ichfinde, wir müssen mit diesem Spiel langsam aufhören.
CDU/CSU gegen SPD und umgekehrt: Das hatten wirgestern im Haushaltsausschuss, das hatten wir vorhin inder Fragestunde, das haben wir jetzt in der AktuellenStunde. Ehrlich gesagt, diese Debatte interessiert außeruns hier niemanden.
Gesellschafter des Unglücksflughafens Berlin Bran-denburg sind beide Länder, Berlin und Brandenburg, undder Bund gemeinsam. Alle Parteien, wie sie hier sitzen– das sage ich ganz deutlich –, verbinden mit Schönefeldihre Geschichte. Ehe der Zwischenruf kommt:
Natürlich wir auch! Wir waren gegen den StandortSchönefeld und haben jetzt zwei Minister im Aufsichts-rat.Die CDU – der Herr Wichtel weiß das nicht; viel-leicht wird ihm das Kai Wegner sagen, wenn er gleichspricht – ist Regierungspartei im Land Berlin und warRegierungspartei im Land Brandenburg. Die CSU stehtmit Herrn Ramsauer in vorderster Verantwortung, dieSPD mit Wowereit, Platzeck, Stolpe und Tiefensee so-wieso. Auch Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben alsKoalitionspartner in diversen Bundesregierungen keineweiße Weste.
Wissen Sie was? Es geht überhaupt nicht um dieFrage, wer hier mehr und wer hier weniger schuld ist,
sondern letztlich geht es um die Frage, wer die Leidtra-genden dieses Desasters sind. Zu denen will ich etwassagen.
Dabei geht es zuerst um die Unternehmerinnen undUnternehmer, die auf unsere politischen Entscheidungenvertraut haben und die nun die bitteren Konsequenzentragen müssen. Eine Bauunternehmerin aus Brandenburghat am Sonntag in der Talkshow Günther Jauch gesagt,dass das Sterben ihrer Firma 17 Arbeitsplätze vernichtethat. Dass diese 17 Familien und viele weitere nun einerunsicheren Zukunft entgegensehen, das ist der Skandal.Herr Lindner, es geht um Tausende Berlinerinnen undBerliner in Pankow, in Reinickendorf und in Spandau,die nicht nur noch länger, sondern auch noch intensiverunter Fluglärm zu leiden haben. Sie haben ja dort einmalkandidiert; das haben Sie sicher vergessen. Vor dreiein-halb Jahren war Herr Lindner erfolgloser Kandidat imBezirk Pankow von Berlin. Dort sind jetzt die Lasten zutragen.Es ist hier schon mehrfach angeklungen – ich kennedas auch aus vielen Gesprächen mit Ihnen –: Viele vonIhnen mögen den Flughafen Tegel. Der Flughafen Tegelist so schön dicht am Bundestag, und man ist eins, zwei,drei hier. Manch einer findet ihn auch ganz schick. Aberwer in seiner Einflugschneise wohnt, der hat nichts zulachen. Wissen Sie, was dort bis in den späten Abendund am frühen Morgen los ist? Allein im letzten Jahr hatder Flugverkehr um 10 Prozent zugenommen, und zwarwegen der Verschiebung. Das wird beim neuen Flugha-fen nicht besser; denn ein guter Kompromiss zwischenden Interessen der Anwohner und der Wirtschaftlichkeitist auch hier noch nicht gefunden.Hunderttausende in Berlin und Brandenburg habensich bei einem Volksbegehren für eine Ausweitung desNachtflugverbots ausgesprochen. Tausende warten aufdie Bewilligung ihrer Lärmschutzmaßnahmen. Aber da-rüber wurde hier bisher überhaupt nicht gesprochen.Dass der Nachtschlaf der Menschen in Brandenburg undBerlin den Profiten der Fluggesellschaften geopfertwird, ist ein Skandal.
Schließlich geht es auch um die Steuerzahlerinnenund Steuerzahler, die die Kosten zu tragen haben.1,7 Milliarden Euro sollte der Flughafen einmal kosten.Inzwischen sind wir bei 4,3 Milliarden Euro. Auch diesewerden nicht reichen. Jeder Monat Verzug kostet 15 Mil-lionen Euro. Davon könnten 25 000 Kitaplätze finanziertwerden. Dort wäre das Geld besser angelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte jetzt an derZeit für einen wirklichen Neuanfang sein: offen, transpa-rent, selbstkritisch. Ich stimme Herrn Bartol und überra-schenderweise ein kleines bisschen auch Herrn Lindnerzu: Nichts wird besser, wenn sich der Staat zurückziehtund die berühmten Experten aus der Wirtschaft alles indie Hand nehmen. – Ich war ein wenig über die Positionvon Bündnis 90/Die Grünen überrascht. Vielleicht kannHerr Hofreiter noch etwas dazu sagen. Ich habe nichtsgegen Experten, aber es sollen doch hoffentlich keineExperten sein, die niemandem verantwortlich und durchkeine Wahl legitimiert sind. Wir sollten nicht den Bockzum Gärtner machen.
Verantwortung hat man nicht nur, wenn es Erfolge zufeiern gibt, sondern auch dann, wenn etwas gewaltigschiefgeht, so wie jetzt. Dieser Verantwortung müssenwir uns alle stellen und nun aber auch gemeinsam imAufsichtsrat einen Neuanfang wagen. Dann sollte manauch damit aufhören, darüber zu debattieren, wer dortaus welcher Partei kommt.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26685
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Vielen Dank, Kollege Stefan Liebich. – Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Kai Wegner. Bitte schön,
Kollege Kai Wegner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Bartol, ich finde es gut, dass wir heutediese Debatte führen. Ich finde es richtig, dass wir imDeutschen Bundestag an dem Tag, an dem der Auf-sichtsrat wichtige Entscheidungen getroffen hat, über dieLage am künftigen Flughafen BER sprechen. Aber, HerrBartol, ich fand die Art und Weise Ihrer Rede völlig da-neben.
Wer mit dem Finger auf andere zeigt, muss sich nichtwundern, wenn viele Finger auf ihn zurückzeigen. DerBund übernimmt Verantwortung für den Großflughafen.Der Bund hat heute durchgesetzt – das will ich an dieserStelle deutlich sagen –, dass der völlig überforderte Ge-schäftsführer Schwarz endlich in die Wüste geschicktwurde, Herr Bartol.
Wenn der Bund das nicht gemacht hätte, und wennauch der Koalitionspartner in Berlin das nicht geforderthätte, bin ich mir nicht sicher, ob das heute passiert wäre.Diese Entscheidung kommt viel zu spät, Herr Bartol,und das liegt, mit Verlaub, nicht am Bund.
Ja, die Lage am Großflughafen Schönefeld ist allesandere als gut. Ich will nichts beschönigen, und ichfinde, man kann auch nichts beschönigen. Ja, es sind inden letzten Jahren schwere Fehler begangen worden.Aber, meine Damen und Herren, das haben wir hier imHause häufig diskutiert, und wir waren uns, glaube ich,fast immer alle einig: Wer wirklich überfordert war unddas immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, war derGeschäftsführer.
Deshalb ist es richtig, dass heute diese Entscheidung ge-troffen wurde.Herr Liebich, über Ihre Rede bin ich erfreut. Das willich gerne sagen. Ich hatte gedacht, Sie wollen sich IhrerVerantwortung entziehen, obwohl Sie zehn Jahre in Ber-lin mit Ihrem Wirtschaftssenator im Aufsichtsrat Mitver-antwortung getragen haben. Das haben Sie nicht getan.Das finde ich ausgesprochen gut. In der Tat, Sie habenrecht: Wir sind in Berlin in der Regierung, und wir habenauch einen Sitz im Aufsichtsrat. Aber seien Sie sich si-cher, dass wir nicht so handeln werden, wie Sie es überzehn Jahre gemacht haben, sodass Sie dieses Planungs-desaster mit zu verantworten haben.
Vielmehr werden wir jetzt alles daransetzen,
gemeinsam mit dem Gesellschafter Bund aufzuräumen,wo vieles schiefgelaufen ist, und dieses Projekt zum Er-folg führen.
Dass die Linke im Gegensatz zu Ihnen, Herr Liebich,der jetzt Mitverantwortung übernommen und das auchgesagt hat, die Verantwortung scheut und sich vor derVerantwortung drückt, zeigt heute Ihr GenosseChristoffers. Er ist vom Vorsitz des Projektausschusseszurückgetreten. Das ist zu begrüßen, wenn Sie mich fra-gen, weil es noch einmal den Beleg bringt, dass die Bun-desregierung Verantwortung für dieses Projekt über-nimmt. Denn Staatssekretär Bomba wird den Vorsitzübernehmen, und er wird es allemal besser machen,meine Damen und Herren. Vielen Dank, lieber HerrMinister und auch Herr Staatsekretär.
Worum geht es jetzt? Es geht in der Tat darum, aufzu-räumen. Es geht darum, nichts zu beschönigen, Fehler zubenennen, wo sie in den letzten Monaten, ja Jahren pas-siert sind, und aufzuklären und dann das Projekt endlichzum Erfolg zu führen. Das geht nicht ohne personelleKonsequenzen. Das kann auch nicht nur bei HerrnSchwarz enden. Die Geschäftsführung muss weiter mitFachverstand besetzt werden. Im Übrigen würde ange-sichts der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats auch imAufsichtsrat ein bisschen Expertise sicherlich nicht scha-den. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass endlich einetransparente und ehrliche Informationspolitik betriebenwird, die es in den letzten Jahren unter Herrn Schwarzleider auch nicht gab.
Ich hoffe übrigens sehr, dass das, was von den Koali-tionsfraktionen im Bund beschlossen wurde, umgesetztwird. Ich hoffe auch, dass wir alles daransetzen werden,dass eine Abfindungszahlung für Herrn Schwarz nichtzustande kommt.
Es versteht kein Mensch auf den Straßen, wenn dieserMann, der viele Fehler gemacht hat und der das Desasterzu verantworten hat, noch mit einer Millionenabfindungbelohnt wird. Dieses Geld sollten wir lieber den Geschä-digten geben, den kleinen Unternehmen, den Mittel-ständlern, die jetzt in eine prekäre Situation kommenund die teilweise kurz vor der Insolvenz stehen,
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26686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Kai Wegner
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weil sie sich auf etwas verlassen haben, was jetzt nichteingehalten wird. Deswegen steht Herrn Schwarz keineAbfindung zu.
Auch zu den Grünen will ich noch einen Satz sagen.Wenn es um Infrastrukturprojekte geht, wäre ich bei denGrünen ein bisschen vorsichtig. Ich kann mich noch guterinnern, dass Frau Künast im Wahlkampf durch dieStadt Berlin gerannt ist und gesagt hat: Wir brauchen ei-gentlich gar keinen Großflughafen und erst recht keinDrehkreuz. Ein Regionalflughafen tut es auch.
Ich sage Ihnen: Die Grünen stehen nicht zwingend fürgroße Infrastrukturprojekte. Sie stehen eher für Ver-kehrsinfrastrukturverhinderungspolitik.
Deswegen ist es besser, wenn Sie sich bei diesen The-men ein Stück weit zurückhalten.Lassen Sie uns gemeinsam die Fehler der letztenJahre aufklären! Lassen Sie uns die Fehler benennen!Lassen Sie uns aufräumen, wo es in den letzten Jahrennicht funktioniert hat!
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass diese traurige Ge-schichte, dass dieses Planungsdesaster im Zusammen-hang mit dem Großflughafen Berlin nicht im Nachhinein– ich erinnere an die Kapazitätszahlen – noch zu einemBetriebsdesaster führt!
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieses Projekt eine
Erfolgsgeschichte wird, eine verspätete Erfolgsge-
schichte für Berlin, eine Erfolgsgeschichte für die
Hauptstadtregion, aber auch eine Erfolgsgeschichte für
unser Land.
Ich bin sehr dankbar, Herr Verkehrsminister, dass Sie
klar Position zugunsten dieses Flughafens beziehen.
Grundvoraussetzung für eine Erfolgsgeschichte ist, dass
sich alle drei Gesellschafter zu diesem Projekt bekennen.
Sie tun das. Bitte machen Sie weiter so, auch bei der
Aufklärung.
Herzlichen Dank.
Das war ein schöner Schlusssatz. – Nächste Rednerin
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kolle-
gin Frau Kirsten Lühmann.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-nen!Verkehrsminister Ramsauer hat ein erstaunlichesTalent dafür, sich bei unangenehmen Dingen fürunzuständig zu erklären. Dabei sind die Fakten ein-deutig: Neben den jeweils 37 Prozent, die Berlinund Brandenburg an der Flughafengesellschaft hal-ten, gibt es noch die 26 Prozent des Bundes. Das istnatürlich keine Mehrheit, man kann damit auchnicht im Alleingang die große Linie bestimmen.Aber es ist auch deutlich zu viel, um „Herrn Ah-nungslos“ und die Unschuld aus Bayern spielen zukönnen.Das haben heute die Nürnberger Nachrichten auf dieAntworten zu sagen, die Herr Ramsauer gestern derPresse gegeben hat und aus denen wir – das hat er unseben in der Fragestunde deutlich gemacht – unsere Infor-mationen hätten ziehen sollen. Herr Ahnungslos und dieUnschuld aus Bayern! Gestern Abend fragte MarkusLanz einen Gast aus der Regierungskoalition: Ich habemich die ganze Zeit gefragt, wie ihr von der CDU/CSUes schafft, den Ramsauer herauszuhalten. – Ich kann esIhnen sagen, Herr Lanz: Wenn man seine gesamte Ener-gie dafür verwendet, mediale Nebelkerzen zu werfen,anstatt sich der Lösung des Problems zuzuwenden, istdas ganz einfach.Dabei hätte diese Regierung jede Menge Möglichkei-ten gehabt, sich der Lösung des Problems zu widmen.Sie selbst haben dafür eine Sonderkommission einge-richtet. Wenn wir uns aber anschauen, was diese Sonder-kommission in den letzten Monaten getan hat, stellenwir fest: Sie hat sich über den Fortgang der Bauarbeitenund die Kapazitäten in Tegel berichten lassen. Nach je-der Sitzung hat sie festgestellt: Es läuft. – Danke schön!Wir hätten mehr erwartet. Wir hätten erwartet, dass siesich aktiv an der Bewältigung der Probleme beteiligt. Ei-nes der Probleme ist – darüber wurde heute noch garnicht geredet; das ist ein Problem, dessen Lösung in al-leiniger Verantwortung der Bundesregierung liegt – derRegierungsflughafen. Hier ist man deutlich im Verzug,und auch hier gibt es massive Probleme, die wir noch garnicht besprochen haben.Herr Minister, hören Sie mit den Ablenkungsfütterun-gen und damit auf, den Eindruck zu erzeugen, dass wirnicht handeln. Wir sollten uns vielmehr gemeinsam wie-der den Problemen zuwenden. Matthias Platzeck hat da-mit begonnen; er hat nämlich keinen neuen Termin fürdie Eröffnung gesetzt. Er hat den politischen Druck he-rausgenommen. Er hat gesagt: Lasst uns erst einmal pla-nen! Lasst uns das angucken! Dann werden wir in Ruheweitersehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26687
Kirsten Lühmann
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Über die Verantwortlichkeit für Fehler der Vergan-genheit wurde heute schon sehr viel geredet. Zu der Ver-antwortlichkeit für Fehler der Vergangenheit gibt es ersteGerichtsverfahren, meine Herren und Damen. Die kön-nen wir erst einmal abwarten. Es ist nicht hilfreich, wennwir andauernd Ausschusssitzungen haben, in denen unsdie Regierung gebetsmühlenartig erzählt: Alle anderensind schuld, nur wir nicht. – Es hilft auch nicht, wenn indiesen Sitzungen eine Beratungsgesellschaft vortragenund uns bei der Aufklärung helfen soll, die gleichzeitigdie Flughafengesellschaft und damit ja wohl auch unsselber verklagt.
Was soll mir jemand, der gegen mich klagt, bei der Auf-klärung irgendeines Sachverhaltes helfen? Das leuchtetmir nicht ein, und das scheint deutlich widersinnig zusein.Aber, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, lassen Sieuns einmal über einen Flughafen reden, der in Betriebist, wo Hunderte von Menschen arbeiten, nämlich überden Flughafen Tegel; er ist heute schon einmal angespro-chen worden. Auf eine entsprechende Frage in der Fra-g
Na ja, Geschäftsführer hin oder her, die machen
alle ihre Arbeit; Tegel läuft schon. – Herr Staatssekretär,
ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, wie die Situation
der Beschäftigten und der Passagiere in Tegel inzwi-
schen ist: Seit 2010 wird jegliche bauliche Maßnahme
zur Verbesserung der Arbeitssituation der Beschäftigten
dort nicht angegangen mit der Begründung: Na ja, in
sechs Monaten seid ihr hier sowieso weg.
Wir haben inzwischen die Situation, dass die Passa-
gierzahlen im letzten Jahr überproportional um 8 Pro-
zent auf 18 Millionen gesteigert worden sind. Die Flugli-
nien sagen: Die Technik funktioniere nicht. Die
Anwohner werden von zusätzlichem Lärm belästigt. Die
Beschäftigten sagen: Wir haben keine vernünftigen Ar-
beitsplätze. Die Anlagen für die Kontrolle des Gepäcks
funktionieren nicht mehr. Das Sicherheitspersonal kann
seine Arbeit nicht mehr machen. Ich denke, hierum soll-
ten wir uns einmal kümmern. Das erwarten die Men-
schen von uns. Es kommen zusätzliche Probleme auf uns
zu. Ab März wird die Luftfahrtkontrolle verändert sein.
Ab 2014 wird es Flüssigkeitskontrollen geben. Das sind
Probleme, die wir jetzt angehen müssen. Das erwarten
die Leute von uns.
Fazit ist: Großprojekte brauchen Offenheit. Wenn wir
etwas aus der Flughafenfrage gelernt haben, dann ist es
dieses: Wir sollten uns darum kümmern, neue Regeln für
Großprojekte zu schaffen.
Die SPD hat das in einem Antrag getan. Dieser Antrag
wurde heute im Fachausschuss beraten. Die Regierung
hat sich verweigert, sich dieses Problems anzunehmen.
Das gilt auch für das Problem der Flugrouten; ich ver-
weise auf die Diskussion mit der EU-Kommission. Wir
haben schon im März letzten Jahres dafür Lösungen ge-
habt. Sie verweigern sich diesen Lösungen. Das ist nicht
das, was die Menschen von uns erwarten. Die Menschen
erwarten von uns, dass wir ihre Probleme lösen. Lassen
Sie uns endlich damit anfangen.
Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kirsten Lühmann. –
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Bitte
schön, Kollege Oliver Luksic.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Hauptstadtflughafen entwickelt sich zu ei-nem Fass ohne Boden. Wir brauchen jetzt ein fachkundi-ges Management, einen kompetenten Aufsichtsrat. Wirmüssen jetzt über die Ursachen reden, über das Problemder kollektiven Verantwortungslosigkeit, damit die Wei-chen neu gestellt werden können. Wir haben es mit ekla-tanten Planungsfehlern, Planungslücken, Überschreitungder Bauzeit und der Baukosten zu tun.Der frühere Architekt hat Bilanz gezogen und gesagt,ständige Umbauwünsche hätten den Bauablauf regel-recht zerschossen. Auf Drängen der Politik gab es knapp300 Planänderungsanträge, eine fortdauernde Behinde-rung der eigenen Baustelle. Man habe mit Halbwahrhei-ten und unrealistischen Vorgaben gearbeitet. Lieber Kol-lege Bartol, beide betroffenen Länder waren SPD-regiert, als diese Planänderungen ausgeführt wurden. ImBund war Herr Tiefensee der zuständige Verkehrsminis-ter. Er hat immer die Rückendeckung von Wowereit ge-habt. Hören Sie also auf, sich ständig aus der Verantwor-tung herauszureden.
Das Credo lautete nämlich: Man baut einen Flughafen,koste es, was es wolle. – Jetzt haben wir schon die fünfteVerschiebung des Eröffnungsdatums in zwei Jahren.Das Kernproblem ist – wir haben es eben in der Fra-gestunde noch einmal gehört – die Entrauchungsanlage.Auch die wurde damals noch unter der Verantwortungvon zwei SPD-regierten Ländern und von einem Ver-kehrsminister Tiefensee gebaut. Das Problem ist, dass daÄsthetik vor Funktionalität kam. Wie kann man denn aufdie Idee kommen, eine Brandschutzanlage zu bauen, beider der Rauch nach unten abgesogen werden soll? Man
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26688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Oliver Luksic
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muss wirklich kein Ingenieur sein, um zu verstehen, dassdas nicht geht. Aber diese Entscheidungen sind damalsunter einer anderen Regie gefallen. Deswegen sind allIhre Versuche, die Verantwortung immer zu MinisterRamsauer zu schieben, völlig fehl am Platze.
Daran war auch noch Herr Tiefensee beteiligt, der übri-gens auch in der damaligen Regierung unter Beteiligungvon Rot-Grün saß, Frau Künast.
Damals war auch die SPD im Bund im Aufsichtsrat.Ein weiterer Fehler war leider auch ein nicht vorhan-dener Generalunternehmer; denn es hat an Kontrolle undan Kommunikation auf der Baustelle gemangelt. Es gabkollektive Verantwortungslosigkeit. Das wurde jahre-lang gedeckt durch die Herren Wowereit, Platzeck undSchwarz. Selbst die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stif-tung diskutiert ja nun darüber, den Namen „Brandt“nicht mit dem Flughafen in Verbindung zu bringen. Ichglaube, dies sollte der SPD wirklich zu denken geben.Ich glaube, ein solches Denkmal hat Willy Brandt nunwirklich nicht verdient.
Ich glaube, die nicht endende Verantwortungslosig-keit ist nicht länger hinnehmbar. Auch die Rochade imAufsichtsrat können wir als FDP-Fraktion nicht guthei-ßen, weil hier der Bock zum Gärtner gemacht wurde.Gerade Ministerpräsident Platzeck und seine branden-burgischen Genehmigungsbehörden haben sich auchnicht mit Ruhm bekleckert.
Deswegen meinen wir, die Spitze des Aufsichtsratessollte mit einem unabhängigen Experten aus der Wirt-schaft besetzt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichhabe von Ihnen nichts gehört zu der Frage, warum HerrWowereit und Herr Platzeck gestern nicht zur Sitzungdes Haushaltsausschusses erschienen sind. Übrigenssind die Vertreter der entsprechenden Länder auf derBundesratsbank bei solchen Themen auch nur selten prä-sent. Herr Platzeck will am nächsten Tag zum Vorsitzen-den des Aufsichtsrats gewählt werden, auch vom Bund,und kommt nicht in den zuständigen Ausschuss.
Herr Wowereit hat dreimal die Einladung von ToniHofreiter ausgeschlagen, in den Verkehrsausschuss zukommen. Er hat auch die letzte Einladung wieder ausge-schlagen. Das ist der eigentliche Skandal. Also hören Siemal damit auf, hier immer wieder den Bundesverkehrs-minister anzusprechen.
Katastrophale Informationspolitik, ständiges Ver-schieben von Terminen, falsche Fakten! Dafür muss derRegierende Bürgermeister die Verantwortung tragen.Außerdem gilt: Wer nicht Aufsichtsratschef sein kann,der kann auch keine Millionenmetropole regieren. Dasist unsere feste Überzeugung. Immerhin – da gebe ichIhnen recht – hat Herr Platzeck den Mut gehabt, sich denöffentlichen Fragen zu stellen. Das war gut und richtig.Allerdings bin ich der festen Überzeugung: Wir brau-chen jemanden, der das Fulltime machen kann, und nichteinen Regierungschef, der sich damit so nebenbei be-schäftigt.Zum Thema Geschäftsführung: Es trifft zu, dass esder Bund war und nicht die SPD-regierten Länder Berlinund Brandenburg, die immer wieder darauf gepocht ha-ben, dass Herr Schwarz entlassen werden muss. PeterRamsauer ist dieses Thema immer wieder angegangen.Das war dringend notwendig; denn es kann nicht sein,dass zahlreiche kleine Unternehmen in Insolvenz gehen,
in eine Existenzkrise geraten, während andere jetzt nochden goldenen Handschlag bekommen. Das ist für unsereFraktion wirklich nicht hinnehmbar.
Das Parlament weiß bis heute nicht, wie der aktuelleStand aussieht. Deshalb erwarte ich, dass jetzt eine ab-schließende und möglichst umfassende Mängelliste vor-gelegt wird. Ein Weiter-so kann es auch in der Informa-tionspolitik nicht geben. Wir brauchen ein fachkundigesManagement und vor allem endlich auch einen kompe-tenten Aufsichtsrat. Das ist die Erwartung, die wir ha-ben, damit es endlich vorangeht beim Flughafen BerlinBrandenburg.
Vielen Dank, Kollege Oliver Luksic. – Nächster Red-ner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unserKollege Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, KollegeDr. Anton Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Rede von unserem Kollegen Wegner ausBerlin hat das Problem zum Teil deutlich gemacht. Erhat gefordert, dass sich alle Beteiligten zum Projekt be-kennen müssen, und hat es als Verhinderungstaktik dar-gestellt, wenn man kritische Nachfragen stellt. Das istletztendlich das zentrale Problem. Ein Großprojekt wirdnicht dadurch gebaut, dass man sagt: „Ich will es haben“,sondern dadurch, dass man es richtig managt, sich darum
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26689
Dr. Anton Hofreiter
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kümmert, vernünftige Zeitpläne aufstellt und vernünf-tige Finanzpläne aufstellt. Dazu gehört eben auch kriti-sches Nachfragen und nicht einfach nur die Aussage:„Ich bekenne mich dazu.“
Es ist zu simpel, zu einfach, und es ist die Art undWeise, wie Sie immer wieder Großprojekte durchsetzen.Das hier ist ja nicht das einzige, das scheitert.Was ist hier alles schiefgegangen? Der erste Problem-komplex ist: Man hat sich ein extrem kompliziertes Ter-minal mit hohen ästhetischen Standards gewünscht. Dasheißt, alle Rohre sollten unterflur sein; man sollte unter-flur entrauchen. Dann hat man Unmengen Umplanungendurchgeführt, während das Ganze schon im Bau war,gleichzeitig aber den Zeitplan nicht angepasst. Dasmusste ins Desaster führen.Der nächste Problemkomplex ist, wie man mit kriti-schen Nachfragen und mit der Öffentlichkeit umgegan-gen ist. Noch in der Aufsichtsratssitzung im April, kurzvor der geplanten Eröffnung, hat man Endspurtmaßnah-men beschlossen; das ist richtig dargestellt worden. DasProblem ist nur: Es ist von einem Vertreter der Regie-rungskoalition anklagend dargestellt worden, obwohl dieBundesregierung voll und ganz mit dabei war.
Neben dieser katastrophalen Kommunikationsstrate-gie hat man, als dann im Mai alles abgesagt war, am16. Mai einvernehmlich entschieden: Wir schmeißen diePlaner raus. – Irgendwer musste ja der Sündenbock sein.Man hat so getan – alle drei wieder einvernehmlich –, alswenn man das Ganze im Griff hätte, und man wollte Tat-kraft zeigen. Nach allem, was ich inzwischen weiß,dachte man: Man schmeißt den technischen Leiter desFlughafens und auch ein paar Architekten raus.Dieser glorreiche Aufsichtsrat, in völliger Unkenntnisdessen, was er treibt, hat den Vertrag mit der pg bbi ge-kündigt. Was war die Folge davon? Die Folge davonwar: Alle Planer, bis zum kleinsten Fachplaner, warenvon einem Tag auf den anderen ihren Job los.
Was bedeutet das? Man hat von einem Tag auf den ande-ren auf einer Baustelle, die falsch gemanagt war, diegroße Terminprobleme hatte und die aufgrund des vonder Politik – wieder von allen drei Beteiligten – künst-lich erzeugten Zeitdrucks unter riesigen Schlampereiengelitten hat, das gesamte Wissen über diese Baustelle– im Einvernehmen zwischen Bund und beiden Ländern –vernichtet.
Man kann zugespitzt sagen: Aus einer Baustelle mit Ter-minproblemen hat dieser tolle Aufsichtsrat eine Bau-ruine gemacht.
Das ist es im Moment; seit einem Dreivierteljahr geht dasozusagen nichts voran.Jetzt haben wir hier wunderschön erlebt, wie sich dieBeteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe schie-ben. Wenn man sich einmal anschaut, was jeweils ent-schieden worden ist, stellt man fest: Die schwarz-gelbeBundesregierung und die beiden Landesregierungen ha-ben immer alles einvernehmlich entschieden. Das Ver-kehrsministerium hat so getan, als wenn es keine Anteilehätte. Als dann das ganze Desaster offensichtlich war,ging es dem Ministerium und dem zuständigen Ministernicht darum: Wie kann ich das Problem lösen? Wie kannich das Projekt retten? Man stellte sich die Frage: „Wiekann ich daraus politisches Kapital schlagen,
und wie kann ich mich selber in ein gutes Licht rü-cken?“, anstatt zu sagen, was ein verantwortlicherMinister sagen würde: Okay, wir haben da gemeinsamMist gemacht, und das müssen wir jetzt auszubaden ver-suchen. – Das ist der Skandal, der da auf Bundesseiteletztendlich vorhanden ist.
Was wäre jetzt notwendig? Notwendig wäre Folgen-des – wenn man ehrlich ist, müsste man das sagen –:Man müsste sich zusammensetzen und überlegen: Wo istdenn überall Wissen über diese Baustelle vorhanden?Man müsste letztendlich eine Art Planungsgruppe grün-den, in die man einen Teil der alten Planer hineinnimmt,in die man die neuen Planer hineinnimmt – die wissennämlich seit August Bescheid –, in der man mit der Ge-nehmigungsbehörde in einem ständigen Austausch istund in der man mit den Firmen zusammenarbeitet.Wenn man mit Beteiligten spricht und fragt: „Wie istdenn die Lage?“, erfährt man etwas. Die Vertreter vomHotel Steigenberger waren wöchentlich im Austauschmit der Genehmigungsbehörde, um die Probleme viel-leicht gelöst zu bekommen. Die Genehmigungsbehördesagt: Vom Flughafen hat sich bei uns in der Regel nie-mand gemeldet. – Das ist eine spannende Sache. Viel-leicht sollten wir einmal mit den Herren von der Geneh-migungsbehörde reden, und zwar intensiv reden,nämlich darüber: Wie bekommt man denn das Problemmit der Brandschutzanlage gelöst?Das Nächste: ein neuer Eröffnungstermin. Einenneuen Eröffnungstermin sollte man wirklich erst dannbenennen, wenn man sich darüber im Klaren ist, wie dasGanze weitergeht. Bis dahin sehe ich noch eine gewisseZeit ins Land gehen. Aber die Methode des Bundesver-kehrsministeriums, die Schuld nur von sich wegzuschie-ben und so zu tun, als wenn man der Aufklärer wäre,zerstört jegliches Vertrauen im Aufsichtsrat und führtdazu, dass sich die einzelnen Beteiligten gegenseitig be-kämpfen. Das muss dringend beendet werden, damit die-ses Projekt vielleicht doch noch irgendwann zum Ab-schluss kommt.
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26690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Dr. Anton Hofreiter
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Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Toni Hofreiter. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Jens Koeppen. Bitte schön, Kollege Jens Koeppen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das Desaster um den Hauptstadtflugha-fen ist eine Blamage, eine Schande für ganz Deutsch-land. Man muss sich, insbesondere als Brandenburger,Techniker und jahrelanger Geschäftsführer, für eine sol-che Schlamperei schämen. Die Master of Desaster, ins-besondere Wowereit, Platzeck und der ehemaligeGeschäftsführer Schwarz, „bemühen“ sich jetzt um Auf-klärung und waschen die Hände in Unschuld. Ich haltedas, gelinde gesagt, für eine Schweinerei.Jetzt gibt es ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, eineRochade an der Aufsichtsratsspitze, sozusagen vonWowereit in die Traufe. Als Brandenburger will ichmeine Einschätzung dazu abgeben. Diese lässt sich kurzzusammenfassen: Gelinde gesagt bin ich übermäßigskeptisch, dass Ministerpräsident Platzeck an der Spitzedes Aufsichtsrates irgendetwas verändern kann.
Ich bin übermäßig skeptisch, dass Matthias Platzeckseine Verantwortung als Regierungschef und als Auf-sichtsratsvorsitzender unter einen Hut bringen kann.
Damals, als Regierungschef und Vorsitzender der Bun-des-SPD, hat Matthias Platzeck einige Wochen nach sei-nem Rücktritt gesagt: Es ist nicht unter einen Hut zubringen. Körperlich ist es nicht zu schaffen, und auch ar-beitsmäßig nicht.
Jetzt will er ein Milliardenprojekt mit offenen Fragenund Dutzenden Problemen „ganz nebenbei“ handhaben.
Herr Liebich, ich bin auch deshalb übermäßig skep-tisch, weil in den letzten 20 Jahren der BrandenburgerRegierungschef und die Brandenburger SPD bei vielenGroßprojekten in Brandenburg keine Führungsstärke,keine Diagnose- und Abwägungskompetenz gezeigt ha-ben.
Ich nenne einige Beispiele, die in den märkischen Sandgesetzt wurden: Es wurden unzählige Millionen an Fehl-investitionen in die Chipfabrik Frankfurt/Oder gesteckt.Matthias Platzeck war Ministerpräsident; er ist es nochimmer.
Der Cargolifter, eine riesengroße Halle, war ein riesen-großes Projekt. Auch hier gab es viele Millionen anFehlinvestitionen. Heute ist dort ein Freizeit- und Erho-lungsbad, und es wird immer noch gefördert – vonMatthias Platzeck und der Brandenburger SPD.
Der Lausitzring: Es wurde groß verkündet, dort werdedie Formel 1 fahren. Jetzt ist es eine Hobbyrennstrecke –Matthias Platzeck und die SPD. Dann wurde die Bran-denburgische Boden Gesellschaft an einen guten Freunddes sehr guten Freundes des Ministerpräsidenten unterWert verkauft.
Diese dubiosen Geschäfte sind jetzt Gegenstand einesUntersuchungsausschusses in Brandenburg. Wie willdieser Mann, wie will diese Partei ein solches Projektschaffen?
Ich bin auch deswegen übermäßig skeptisch, weil dieneue Wunderwaffe von Matthias Platzeck, die er in dieStaatskanzlei holt, Staatssekretär Bretschneider, für dieTaskforce verantwortlich gemacht wird. Dieser Staats-sekretär Bretschneider hat das Planfeststellungsverfah-ren für den BER durchgeführt. Dieser StaatssekretärBretschneider hat die alten Flugrouten genannt und istfür die heutigen Verwerfungen durch die neuen Flugrou-ten in der Region verantwortlich. Er ist vor allen Dingendafür verantwortlich, dass in der Region Ungemachherrscht durch die „nette Art und Weise“, mit der er auf-tritt. Er hat immer noch die obere Bauaufsicht im bran-denburgischen Verkehrsministerium. Er hätte natürlichMinisterpräsident Platzeck und den Aufsichtsratsvorsit-zenden Wowereit darüber informieren können, dass imJuni 2012 nicht eröffnet werden kann. Was hat er ge-macht? Bis zum Schluss, noch wenige Tage zuvor, hat erden Eröffnungstermin vehement verteidigt und jede An-merkung dazu auf seine nette Art und Weise aufsSchärfste zurückgewiesen. Das hätte nicht sein müssen.Er hätte auch Platzeck und Wowereit die entsprechendenFragen aufschreiben können; er hätte auch mit der Bau-aufsicht reden können. Das hat er nicht gemacht. Ichstelle mir die Frage, warum Matthias Platzeck mit die-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26691
Jens Koeppen
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sem vorbelasteten Staatssekretär Bretschneider die Auf-gabe ernster nehmen sollte. Vielleicht holen sie sich dengeschassten Geschäftsführer Schwarz in die Staatskanz-lei. Vielleicht wird so etwas daraus.Platzeck hat gesagt: „Entweder das Ding fliegt, oderich fliege“. Das hört sich verdammt ehrlich an. Es istaber eine Aussage ohne Benchmarks. Natürlich hat kei-ner Zweifel daran, dass der Flughafen irgendwann fertigsein wird. Eine solche Aussage ist aber völlig inhaltsleer,wenn nicht darüber gesprochen wird, welche Kosten ent-stehen, wann der Flughafen tatsächlich eröffnet wirdoder wie es um den Erweiterungsbedarf des Flughafensbestellt ist. Es muss auch darüber gesprochen werden,dass eine erfolgreiche Infrastruktureinbettung zu erfol-gen hat. Die Freiwillige Feuerwehr von Schönefeld sollden Brandschutz übernehmen. Die Stellen für die Flug-hafenärzte sollen gestrichen werden, und das bei voraus-sichtlich 70 000 Fluggästen am Tag. Das ist absolutunverantwortlich. Hierüber wird jedoch kein Wort verlo-ren.Ob der Aufsichtsratsvorsitzende Platzeck im Gegen-satz zu seiner bisherigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvizetatsächlich für Transparenz, Klarheit und Wahrheit sor-gen kann, wage ich zu bezweifeln. Es handelt sich hier-bei um mehr als nur ein Oder-Hochwasser, bei dem mansich ein Paar Gummistiefel anzieht und dann vom Hub-schrauber aus winkt. Hier sind Managerqualitäten,Durchsetzungsvermögen und Sachverstand gefordert.Das alles sehe ich bei Matthias Platzeck nicht, meineDamen und Herren.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Jens Koeppen. – Nächste Red-
nerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Mechthild
Rawert. Bitte schön, Frau Kollegin Rawert.
Das Jahr 2012 endete mit einer Aktuellen StundeWozu? Zum „Flughafen Berlin Brandenburg“. Dortwurden meinerseits schon viele Fragen an die Bundesre-gierung gestellt. Ja, diese Flughafenkrise ist ganz unbe-stritten ein Debakel. Sie ist kein Ruhmesblatt für Regie-rende, für Experten und Expertinnen, egal ob aufBundes- oder Länderebene, und egal welche großen Un-ternehmen – Bosch, Siemens und andere – daran betei-ligt gewesen sind.Fakt ist aber auch: Es handelt sich um das größte ost-deutsche Infrastrukturprojekt. Hier erwarte ich, dass wiralle aus gesamtstaatlichem Interesse dahinterstehen;Sören Bartol hat es schon gesagt. Ich bin dankbar dafür,dass viele Arbeitsplätze in der Region Berlin und Bran-denburg unabhängig von der Couleur der jeweiligen Re-gierung gehalten worden sind. In diesem Zusammen-hang könnte ich Ihnen differenzierte Zahlenangabenmachen. Nur so viel: 60 Prozent des Auftragsvolumensvon 2,1 Milliarden Euro sind an hiesige Unternehmen inder Region geflossen; von den 600 Ausschreibungen ha-ben diese 430 Unternehmen aus der Region gewonnen.Lassen Sie mich sagen: Ich danke Klaus Wowereitund ich danke Matthias Platzeck dafür, dass sie ihre Auf-sichtsratsposten weiter wahrnehmen.
Denn es gehören Mut und Verantwortung dazu, zu demzu stehen, was gesamtstaatliches Interesse ausmacht.
Fragen Sie sich von der FDP, der CDU und der CSUdoch einmal, ob Sie Ihre Bundesregierung in ausreichen-der Form unterstützen, wenn Sie keine ausreichendenMittel bewilligen
oder wenn Sie im Haushaltsausschuss keine Möglichkeitzur Befragung des Ministers Ramsauer bieten. Sie sinddie Verhinderer des Flughafens, und nicht die Regierun-gen in Berlin und Brandenburg.
Herr Lindner, gut, dass Sie gerade so schreien; ichwill auf ein Stichwort von Ihnen eingehen. Sie haben dieFrage gestellt, inwieweit die öffentliche Hand ein geeig-neter Bauherr ist.
Ich sage: Ja, sie ist es. Lassen Sie mich ein Beispiel he-rausgreifen; dann komme ich auf den Flughafen zurück.Die Avus wurde zehn Monate vor dem ursprünglich ge-nannten Termin fertiggestellt, und zwar mit 20 Prozentweniger Kosten als geplant. Für uns als Bürgerinnen undBürger ist im Zusammenhang mit dem Gerede, dass dieöffentliche Hand kein Bauherr sein sollte, entscheidend:Der Flughafen Willy Brandt – und er wird stolz daraufsein –
ist ein Beleg dafür, dass die öffentliche Hand Bauherrsein sollte. Ich nenne Ihnen die Gründe.Erstens. Es gibt keine Public-private-Partnership– viele andere wollen das gerne –, keine versteckten Gel-der, keine verdeckten Schulden. Es gibt einen transpa-renten Haushalt, auf den die Bürger und BürgerinnenZugriff haben.
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26692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Mechthild Rawert
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Die Politiker nehmen ihre Verantwortung wahr. Hessen,München – kein Flughafen ist in der vorgesehenen Zeitfertiggeworden.
Ich will nicht mit dem Finger auf die zeigen, die dort dieVerantwortung getragen haben.Zweitens sind die Parlamente, egal ob in Brandenburgoder in Berlin, ihrer Verantwortung nachgekommen undhaben die finanziellen Ressourcen zur Verfügung ge-stellt.
Berlin hat das Notifizierungsverfahren erfolgreich be-standen; das war eine große Herausforderung bei der Be-wältigung der Finanzierung des Flughafens.Ich komme schnell zum dritten Punkt; denn ich mussaufhören. Die Bürger und Bürgerinnen werden die Ver-antwortungsverschieberei, die hier vorgenommen wor-den ist, nicht verstehen.
Sie werden nicht verstehen, wie Sie sich hier aus derVerantwortung herausstehlen.
Sie werden nicht verstehen, dass Sie plötzlich so tun– vorhin sind Namen genannt worden; ich will sie nichtwiederholen –, als hätten Sie in bestimmten Phasenkeine Verantwortung getragen. Das heißt, dass Sie keinepolitische Verantwortung übernehmen wollen. Denn werpolitische Verantwortung tragen will, der muss auch zuihr stehen und den entsprechenden Mut aufbringen.
Diesen Mut haben Klaus Wowereit und MatthiasPlatzeck, und dafür sage ich Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster und auch
letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Arnold Vaatz.
Bitte schön, Kollege Arnold Vaatz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeFrau Rawert, das, was Sie hier vorgetragen haben, machtder Faschingszeit alle Ehre.
Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, dieSchuldzuweisungen so konsequent in die gewollte Rich-tung zu lenken, wie Sie es hier getan haben.
Ich glaube, jeder objektive Beobachter fasst sich an denKopf, wenn er hört, was wir hier zum Teil diskutieren.Ich glaube, wir alle im Haus sind uns darin einig, dassdie bisherige Geschichte des Flughafens eine Kette vonFehlleistungen war, die uns im Land enorm zurückwirftund uns auch internationales Ansehen kosten wird. Denndieser Flughafen hat – egal, was wir im Einzelnen da-rüber denken – internationale Bedeutung; das gilt imPositiven wie im Negativen.Meine Damen und Herren, es ist sicher richtig, wennHerr Liebich und Herr Hofreiter darauf hinweisen, dassder Misserfolg viele Väter hat und es nicht unbedingtrichtig ist, immer nur auf den anderen zu zeigen. Aberein paar Dinge sollte man wenigstens zur Kenntnis neh-men.Dazu zählt erstens die Tatsache, dass ein Vorsitzendereines Aufsichtsrats ungleich mehr Macht hat als die Mit-glieder des Aufsichtsrates.
Jeder Realist in dieser Runde muss einräumen, dass es soist.
Zweitens müssen wir feststellen, liebe Freunde vonder sozialdemokratischen Seite: Ihre Ministerpräsiden-ten Wowereit und Platzeck waren von Anfang an dabei.Die Kollegen Gatzer und Bomba sind im Jahre 2010 da-zugekommen, als im Wesentlichen vollendete Tatsachengeschaffen waren.
Man kann nicht verlangen, dass sich die neu hinzuge-kommenen Kollegen hinstellen und die Fehlentwicklun-gen nach kürzester Zeit beheben. Ich muss Ihnen sagen:Herr Amann ist jetzt etwa ein halbes Jahr dabei – nochnicht ganz –, und er hat, obwohl er hauptamtlich undausschließlich damit befasst war, dieses knappe halbeJahr gebraucht, um erst einmal den Iststand festzustellen.So weit war dieses Projekt schon verdorben, von Anfangan. Das muss man doch einmal einräumen. Man mussfragen: Wer hat die Geschichte von Anfang an ange-führt?Ich bin nicht der Meinung, dass der Flughafen BerlinBrandenburg ein Beweis dafür ist, dass die öffentlicheHand als Bauherr versagt hat. Selbstverständlich ist auchdie öffentliche Hand in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland oftmals ein guter und effizienter Bau-herr gewesen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26693
Arnold Vaatz
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Aber, Frau Rawert, Sie können doch nicht wirklichernsthaft behaupten, dass der Flughafen ein Beweis fürdie Qualität der öffentlichen Hand als Bauherr ist.
Die Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dasswir uns jetzt nicht in Details festkrallen, wie das am An-fang dieser Debatte geschehen ist. Was der Herr Ministermit Herrn Amann im Privatissimum besprochen hat, istso uninteressant, wie eine Sache in diesem Zusammen-hang überhaupt sein kann. Das Entscheidende, was dieÖffentlichkeit von uns erwartet, ist, dass wir uns fol-gende Fragen stellen: Wie ist der Sachstand? Wie kannes weitergehen? Wie stellen wir uns organisatorisch denWeg zum Erfolg vor?
Das erwartet die Öffentlichkeit, und über diese Fragenist in dieser Debatte meines Erachtens noch nicht ent-schieden worden.Zunächst einmal brauchen wir eine Diagnose in Be-zug auf den Istzustand. Dann ist es notwendig, dengenauen Bauumfang und den genauen Planungsumfangzu erkunden, der jetzt erforderlich ist, um aus dieser bis-her missglückten Prozedur doch noch eine Erfolgs-geschichte zu machen. Danach müssen wir eine neueWirtschaftlichkeitsbetrachtung vornehmen. Wir müsseneine neue Genehmigungssituation schaffen. Wir müssenGenehmigungskonformität herstellen. Schließlich undendlich müssen wir uns auch die Kosten-, Haftungs- unddie Schuldfrage – also die Frage: „Wie konnte das ge-schehen?“ – stellen, damit uns Derartiges nicht wiederpassiert.Das sind meines Erachtens die Erfordernisse der Ver-nunft. Darauf sollten wir abzielen. Wenn wir das nichtmachen, dann wird dieser Flughafen enden wie ein vo-rangegangenes großes Beispiel Brandenburger Staats-kunst, nämlich Tropical Islands.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Arnold Vaatz. Kollege ArnoldVaatz war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde.Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Schauen wir ein-mal, wann wir uns wieder gemeinsam hier im Plenummit diesem Thema zu beschäftigen haben.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des
beauftragtenJahresbericht 2011
– Drucksachen 17/8400, 17/11215 –Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer
Karin Evers-MeyerRainer ErdelHarald KochOmid NouripourNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Es sindalle damit einverstanden. Dann haben wir das gemein-sam so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich dem Wehr-beauftragten des Deutschen Bundestages, HellmutKönigshaus, das Wort gebe, darf ich ihn herzlich will-kommen heißen zusammen mit all seinen Mitarbeitern,denen ich für ihre Arbeit vom Präsidium aus herzlichdanke. – Der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus hatdas Wort. Bitte schön.Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute abschließend den Jahresbericht 2011. Diegroße Zahl der anwesenden Führungskräfte aus meinemAmt zeigt Ihnen, wie sehr uns an der Rückmeldung ausdem Parlament zu dem, was wir über die Jahre hinwegerarbeitet und ausgearbeitet haben, gelegen ist. Deshalbsind die Führungskräfte alle hier, und darüber freue ichmich.Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen bereits imSeptember des vergangenen Jahres in der ersten Bera-tung die Aussagen und Schwerpunkte des Berichts vor-gestellt. Erlauben Sie mir bitte, dass ich heute an dieserStelle nur einige der dort behandelten Themen aufgreife;denn ich möchte dem Jahresbericht 2012, der zurzeit imDruck ist und am 29. Januar übergeben wird, nicht vor-greifen.Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist in der Re-gel vor allem ein Mängelbericht. Deshalb freut es michbesonders, dass ich diesmal auch positive Entwicklun-gen herausstellen kann. Das meiner Ansicht nach Wich-tigste sei vorangestellt: Seit dem 2. Juni 2011 hat dieBundeswehr keine Gefallenen mehr zu beklagen, undwir haben auch deutlich weniger verwundete und ver-letzte deutsche Soldaten. Ich glaube, das ist ein Grundzur Freude. Das ist nicht zuletzt den auch von Ihnen, denAbgeordneten des Deutschen Bundestages, veranlasstenVerbesserungen bei der Ausrüstung und der Ausstattungder Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geschuldet.
Aber das ist es natürlich nicht allein. Auch die Gefahrdurch die sogenannten Innentäter hat uns sehr beschäf-tigt. Darauf hat die Bundeswehr angemessen reagiert.Meine Anerkennung gilt deshalb vor allem den Kom-mandeuren vor Ort. Sie haben die notwendigen Maßnah-men zum Schutz der ihnen unterstellten Soldatinnen undSoldaten in den Feldlagern und außerhalb vor weiterenderartigen Anschlägen und Attentaten ergriffen.
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Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Im Februar 2011 – Sie erinnern sich – sind bei demAngriff eines Angehörigen der afghanischen Sicher-heitskräfte auf deutsche Soldaten im OP North dreiunserer Soldaten gefallen. Ich habe zwei von ihnen per-sönlich gekannt. Ich habe sie noch wenige Tage vor demAnschlag getroffen und mit ihnen gesprochen. Deshalbging mir das natürlich besonders nahe. Ich kenne auchihre Hinterbliebenen. Ich weiß, welches Leid die Hinter-bliebenen, ihre Angehörigen – darunter ein Kleinkind –,noch immer ertragen müssen. Ihnen, aber natürlich auchallen anderen Hinterbliebenen gilt meine besondereZuwendung. Ich freue mich, dass auch Sie, die Abgeord-neten des Deutschen Bundestages, dem Wohl der Hinter-bliebenen stets Ihr besonderes Augenmerk gewidmet ha-ben. Dafür möchte ich Ihnen ausdrücklich meinenbesonderen Dank aussprechen.Leider, trotz aller Verbesserungen, die ich durchausanerkenne, gibt es weiterhin Ausrüstungsdefizite, dieausgeglichen werden müssen. Ich freue mich, dass auchinsoweit das Parlament immer wieder die Initiative er-greift und ganz konkrete Maßnahmen einfordert. So hatder Verteidigungsausschuss das Bundesministerium derVerteidigung aufgefordert, die Beschaffung modernerWärmebildgeräte für alle im Einsatz befindlichen Schüt-zenpanzer Marder zu veranlassen, um die festgestelltenSchwächen im Bereich der Nahkampffähigkeit zu behe-ben. Das ist eine wichtige Fürsorgemaßnahme, weil dieSoldaten nur dadurch in die Lage versetzt werden, dieanerkannten Regeln im Gefecht einzuhalten, ohne sichselbst in Gefahr zu bringen, und das ist, glaube ich,wichtig.Ebenso hat der Ausschuss die Beschaffung einesschnellen, beweglichen, kleinen Hubschraubers für denEinsatz der Spezialkräfte gefordert. Auch das ist etwas,was der Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten dient.Das Bundesministerium der Verteidigung hat den Bedarfauch eingeräumt, die Beschaffung aber nicht vor demJahr 2016 in Aussicht gestellt. Das ist angesichts desdringenden Bedarfs, der hier besteht, meiner Meinungnach nicht vertretbar, zumal solche Geräte am Marktverfügbar sind und von anderen Streitkräften beschafftwurden.Zu Recht beklagen Sie in den Debatten über die Jah-resberichte immer wieder, dass viele der angesprochenenThemen geradezu zu jahrelangen Dauerbrennern wer-den. Auch ich wünschte mir, dass die Zeit zwischen derFeststellung eines Problems und seiner Abstellung deut-lich verkürzt würde. Ein Beispiel hierfür – das ist einganz aktuelles Thema – ist die Schaffung von bundes-wehreigenen Plätzen zur Kinderbetreuung. In der Tatwusste das BMVg in den letzten Jahren von einigenGrundsteinlegungen zu berichten; der Herr Staatssekre-tär hat das hier immer wieder vorgetragen. Ich würdemich aber freuen, wenn ich endlich einmal die Inbetrieb-nahme einer solchen Einrichtung erleben könnte, undzwar noch während meiner Amtszeit.
Im Berichtsjahr 2011 hat uns alle der Tod einer See-kadettin im Rahmen einer Ausbildungsfahrt des Segel-schulschiffs „Gorch Fock“ beschäftigt. Die Umstände,die zu diesem tragischen Unfall geführt haben, sind in-zwischen ausführlich untersucht worden. Dabei – daskann ich an der Stelle vielleicht anmerken, weil das auchhier immer wieder Thema war – haben sich nahezu allevon mir angesprochenen Defizite bestätigt. Auch dieMarine räumt das inzwischen ein. Die vom Vorsitzendendes Beirates Innere Führung, Herrn Professor Pommerin,geleitete Kommission, die sich mit der Frage beschäftigt,wie dieses Schiff weiter betrieben werden kann und soll,hat alle meine Anregungen zur Verbesserung der Ausbil-dung und Sicherheitstechnik auf der „Gorch Fock“aufgegriffen und in konkrete Vorschläge gefasst. DieMarine hat sie auch aufgenommen. Das freut mich sehr.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ich das hiersagen kann: Ich wünsche der Besatzung und allen künf-tig dort Dienst tuenden Kadetten allzeit gute Fahrt undstets eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Ich glaube,das haben sie verdient.
Fragen der Ausrüstung und Ausbildung sind festerBestandteil eines jeden Jahresberichts. Daneben abergibt es immer auch Fragen des Grundrechtsschutzes derSoldatinnen und Soldaten in ihrem privaten Umfeld. Dasgilt auch ganz aktuell für den folgenden Fall, den ich Ih-nen gerne beispielhaft vorstellen und bei dem ich Siemöglicherweise auch zur Aktion veranlassen möchte:Vor wenigen Tagen erreichte mich die Eingabe einesSoldaten aus Termes. Er beklagte sich darüber, dass erwegen seines Auslandseinsatzes nicht an dem derzeitlaufenden Volksbegehren im Freistaat Bayern teilneh-men könne. Dazu müsste er nämlich seine persönlicheUnterschrift im Rathaus zu Hause leisten. Das kann ernicht, weil er im Einsatz ist. – Das ist natürlich eineFrage, die geklärt werden muss; denn es geht hier umden grundlegenden Anspruch eines jeden Staatsbürgers– auch in Uniform –, dass er sich an einer solchen Ab-stimmung beteiligen kann. Die Eingabe befindet sichnoch bei mir in der Überprüfung. Ich kann Ihnen auchnoch kein Ergebnis vortragen. Es zeigt sich aber dochimmer wieder, dass sich die Grundrechtsfragen, die Fra-gen auch der Teilhabe am demokratischen Leben, immerwieder von neuem in unterschiedlichsten Facetten dar-stellen.Das gilt übrigens auch – wenn ich das noch an dieserStelle in Erinnerung rufen darf – im Zusammenhang mitdem vom Bundestag im Sommer verabschiedeten neuenMeldegesetz, das sich derzeit noch im Vermittlungs-verfahren befindet. Wenn es bei der jetzt diskutiertenFassung des Grundgesetzentwurfs bleibt, müssen sichunverheiratete Soldatinnen und Soldaten auch weiterhinmit ihrem ersten Wohnsitz am Dienstort anmelden. Dasist, nebenbei bemerkt, in einigen Bundesländern, wo bis-her Landesrecht galt, sicherlich keine Verschlechterung,aber eben auch nicht die angesprochene und – übrigensauch vom Parlament – gewünschte Verbesserung. Es isteine negative Sonderverpflichtung ausschließlich fürSoldaten. Dies hat weitreichende Auswirkungen aufsteuer- und versicherungsrechtliche Fragen, vor allemaber auch auf das aktive und passive Wahlrecht der Be-troffenen, jedenfalls im Bereich des Kommunalwahl-
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Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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rechts in einigen Bundesländern. Es würde mich freuen,meine Damen und Herren Abgeordneten, wenn dieserGesichtspunkt bei der weiteren Beratung des Gesetzent-wurfes noch einmal bewertet und abgewogen werdenkönnte.Meine Damen und Herren, abschließend möchte ichIhnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages,für die vielfältige Unterstützung meiner Arbeit danken,natürlich auch für manche kritische Begleitung. Ebensodanke ich dem Bundesministerium der Verteidigung, na-mentlich dem Minister, seinen Staatssekretären und dermilitärischen Führungsebene für ihre Unterstützung unddie vertrauensvolle Zusammenarbeit mit meinem Amt.Mein ganz besonderer Dank gilt natürlich den Solda-tinnen und Soldaten, insbesondere denen im Einsatz,aber auch denen, die zu Hause sind, sowie ihren Ange-hörigen. Ich bitte die Soldaten und auch Oberst Kirschvom BundeswehrVerband, die heute auf der Tribüne zu-hören, dies zu vermitteln. Ich denke, das werden Sie zumAusdruck bringen.
Nicht zuletzt danke ich meinen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern, ohne die ich meine Arbeit im Interesse derSoldatinnen und Soldaten, aber auch des DeutschenBundestages, meines Auftraggebers, nicht so hätte leis-ten können.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank dem Wehrbeauftragten unseres Parla-
mentes, Herrn Hellmut Königshaus.
Nun kommen wir zur Aussprache. Als Erster hat das
Wort für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär, Kollege Thomas Kossendey. Bitte schön,
Herr Staatssekretär Thomas Kossendey.
T
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal dem Wehr-beauftragten und seinen Mitarbeitern – nicht nur den lei-tenden, sondern allen – ein ganz herzliches Dankeschönfür das große Engagement sagen, mit denen sie unsereArbeit begleitet und zum Wohle der Soldatinnen undSoldaten in der letzten Zeit Anregungen gegeben haben.Auch aufgrund Ihrer Anregungen, Herr Königshaus,konnte mit der Unterstützung des Verteidigungsaus-schusses in den letzten Jahren für die Soldatinnen undSoldaten eine ganze Menge erreicht werden.Sie haben in Ihrem Bericht, der das Berichtsjahr 2011umfasst, drei Schwerpunktthemen: die Auslandsein-sätze der Bundeswehr, die Attraktivität des Dienstes unddie Personalfragen, insbesondere vor dem Hintergrundder Strukturreformen, die wir im Augenblick umsetzen.Das sind, ehrlich gesagt, Herr Königshaus, genau diezentralen Handlungsfelder, die wir von der Leitung un-seres Hauses für unsere Arbeit identifiziert haben.Lassen Sie mich bei den Personalfragen beginnen.Diese tiefgreifenden Veränderungen, die wir den Solda-tinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Bundeswehr in diesen Jahren zu-muten, werden jeden Angehörigen unserer Bundeswehrbetreffen. Da wird es keine Ausnahme geben. Obwohlwir insgesamt eine breite Akzeptanz im Hinblick auf dieReform haben, gibt es natürlich, wenn ich an den Einzel-nen denke, immer wieder besondere Herausforderungenund Unwägbarkeiten, die durchaus zu Verunsicherungführen. Deswegen können wir verstehen, dass sich Mit-arbeiter der Bundeswehr mit ihren Sorgen auch an denWehrbeauftragten wenden.Wir haben verschiedene Informationsveranstaltungendurchgeführt. Wir haben uns bemüht, Probleme aufzu-greifen, zu erörtern und zu klären. Wir haben versucht,die Belastungen, die sich durch die Umsetzung der Re-form ergeben, so gering wie möglich zu halten. Wir ha-ben mit dem Reformbegleitprogramm und mit demMaßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität Mittelzur Verfügung gestellt, um die Umsetzung zu erleich-tern, die Härten abzufedern und den Übergang in dieneuen Strukturen gut zu realisieren.Aber – auch das muss ich deutlich sagen; die Kolle-ginnen und Kollegen aus dem Ausschuss wissen das –nicht alles, was wünschenswert ist, kann kurzfristig fi-nanziert werden. Ich glaube, es ist wichtig, dass wirdeutlich machen, dass die Stimmung in der Truppe, dieinnere Lage und die Motivation der Soldaten nicht nach-haltig darunter leiden. Nach meinen Beobachtungen undnach den Beobachtungen des Ministers ist die Motiva-tion in der Truppe, mit den Herausforderungen fertigzu-werden, ungeheuer hoch. Das stellen wir insbesonderebei den Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zi-vilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fest, die in denEinsatzgebieten arbeiten. Ich finde, die Leistungen, dieunter den schwierigen Umständen im Einsatz, aber na-türlich auch die Leistungen, die zu Hause erbracht wer-den, sind beeindruckend. Das verdient unser aller Aner-kennung und Würdigung.
Diese Feststellung kann letztendlich auch nicht da-durch getrübt werden, dass im ersten Jahr nach demAussetzen der verpflichtenden Einberufung zum Grund-wehrdienst, also nach dem Aussetzen der Wehrpflicht,die Abbrecherquote bei den freiwillig Wehrdienstleisten-den hoch war. Wir können damit nicht zufrieden sein.Die Gründe dafür liegen jedoch durchaus auch im priva-ten Bereich derer, die sich bei uns beworben haben unddie angenommen worden sind. Es liegt auch daran – dashaben wir durch Befragungen festgestellt –, dass manvielfach Bewerbungen geschrieben hatte und man sich
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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
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nach Antritt des Dienstes bei der Bundeswehr auf einmalfür etwas anderes entschieden hat.Ein ganz wichtiges Thema, das der Wehrbeauftragtein seinem Bericht angesprochen hat, ist die Kinderbe-treuung. Natürlich ist es nicht vorrangige Aufgabe derBundeswehr oder des Verteidigungsministeriums, flä-chendeckend Kinderbetreuungsplätze für die Bundes-wehr einzurichten, aber da, wo ein besonderer bundes-wehrspezifischer Bedarf besteht, wo unser ureigenesInteresse deutlich wird, dass die Menschen, die bei unsarbeiten, gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten bekom-men, sind wir dabei, in Zusammenarbeit mit den Kom-munen und übrigens auch mit unserem FinanzministerKinderbetreuungsplätze einzurichten, natürlich unterEinhaltung der vielfältigen rechtlichen Vorgaben, die fürdie Einrichtung einer Kinderbetreuung notwendig sind.Wer mit unseren Behörden und dem Finanzminister je-mals gekämpft hat, der weiß, dass die Umsetzung mitun-ter sehr zeitaufwendig sein kann. Aber der Aufbau dieserKinderbetreuungsplätze schreitet kontinuierlich voran.Wir werden im April dieses Jahres den ersten Spaten-stich für einen Betriebskindergarten der Bundeswehr-Uni in München machen. Die Bundeswehrkrankenhäu-ser Koblenz und Ulm werden dieses Jahr folgen. Wir ha-ben in enger Kooperation mit den Kommunen an ver-schiedenen Standorten Belegrechte zur Abdeckung desbesonderen Bedarfs der Bundeswehr erworben. Ich er-innere an die Standorte Westerstede und Seedorf. Aberauch in Rostock sind wir so weit, dass wir Tagespflege-maßnahmen für die Soldatinnen und Soldaten in Angriffgenommen haben bzw. bereits umgesetzt haben.Ich will auch daran erinnern, dass wir die Familienunterstützen, die durch den Dienst bei der Bundeswehrhäufig besondere Belastungen haben. Wir erstatten Kin-derbetreuungskosten, zum Beispiel bei Maßnahmen derAus-, Fort- und Weiterbildung. Ich denke, auch das Kin-derbetreuungsportal, das wir ins Werk gesetzt haben, isteine ganz wichtige Maßnahme.Lassen Sie mich erwähnen, dass wir uns in den letztenzwei Jahren sehr intensiv engagiert haben, um die Be-treuung der an der Seele verwundeten Soldatinnen undSoldaten intensiver in den Fokus unserer Bemühungenzu stellen. Wir werden zukünftig bereits vor dem Einsatzden Grad der psychischen Fitness von Soldatinnen undSoldaten testen, damit wir genau die Situation vermei-den, die Sie, Herr Wehrbeauftragter, uns hier ein paarmalsehr deutlich ins Stammbuch geschrieben haben. Wirwollen verhindern, dass wir psychisch vorbelastete Sol-daten in den Einsatz schicken und sich deren Problemedurch den Einsatz verstärken.Lassen Sie mich zum Schluss Ihnen, Herr Wehrbeauf-tragter, und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen imVerteidigungsausschuss, dafür danken, dass Sie unsereArbeit so konstruktiv begleitet haben. Herr Wehrbeauf-tragter, ich bedanke mich auch dafür, dass Sie in IhremBericht, der eigentlich ein Mängelbericht ist, durchausauch einige positive Ansätze bei uns erkannt haben. Dasist eine neue Nachricht. Dafür ein herzliches Danke-schön!
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Hellmich für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freuemich, dass ich heute zum zweiten Mal zum Bericht desWehrbeauftragten sprechen darf. Eingangs muss ich sa-gen: Ich habe von Ihnen, Herr Kossendey, vorhin mitgroßer Verwunderung gehört, die Zufriedenheit in derTruppe sei sehr groß. Bei meinen Besuchen vieler Stand-orte im Laufe der letzten Wochen und Monate stellte ichgenau dies nicht fest. Ich stellte fest, dass es in derTruppe eher Unzufriedenheiten und viele Kritikpunkteals Zufriedenheit gibt. Von daher, glaube ich, müssen SieIhren Eindruck von der Situation etwas korrigieren.Für die klaren Worte und die Deutlichkeit, mit derSie, Herr Königshaus, im 53. Jahresbericht auf Unzu-länglichkeiten eingehen und bestehende Probleme be-nennen, ist Ihnen der Dank der SPD-Bundestagsfraktionsicher. Dies ist ein guter Beleg dafür, dass die Bundes-wehr und ihre Angehörigen als Parlamentsarmee gutaufgehoben sind. Das soll auch dann so bleiben, wenn esum andere Fragen geht.Mit Nachdruck möchte ich allerdings darauf hinwei-sen, dass es ein Unding ist, jetzt noch über einen Berichtvon 2011 zu sprechen. Demzufolge bitte ich um Nach-sicht, wenn ich dies zum Anlass nehme, an dieser Stelleaktuelle Punkte anzusprechen.Sehr geehrter Herr Königshaus, liebe Kolleginnenund Kollegen, die Attraktivität der Bundeswehr als Ar-beitgeber muss enorm verbessert werden, will sie ange-sichts der Konkurrenz um Nachwuchs und qualifizierteKräfte in den nächsten Jahren bestehen. Der vorliegendeJahresbericht ist ein Auftrag, Dinge nicht mehr auf dielange Bank zu schieben, sondern Abhilfe zu schaffen.Die Frist, über die umgesetzten Maßnahmen zu berich-ten, läuft laut Beschluss am 23. Januar 2013 ab.Dieser Bericht ist ein Auftrag, für eine verbesserteVereinbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen. Wasviele moderne Unternehmen vormachen, ist auch bei derBundeswehr möglich. Ich denke da beispielsweise – ei-nige Punkte sind angesprochen worden – an den Ausbauder Betreuungsplätze für Kinder und vor allem an diebessere Anpassung des Kinderbetreuungsangebotes andie Dienstzeiten; dieses Problem kennen wir auch ausder kommunalpolitischen Diskussion, und zwar an je-dem Ort, an dem es um die Kinderbetreuung geht. DieserFrage muss sich auch die Bundeswehr intensiver stellen.Der Frauenanteil in der Bundeswehr steigt stetig; dasist gut so, und das wollen wir auch. Aber diese Entwick-lung führt zu einem Problem – das kommt auch im Be-richt zum Ausdruck –: Es gibt kaum Dienstposten als Er-satz für die Frauen, die aufgrund ihrer Schwangerschaftvorübergehend aus dem Dienst ausscheiden. Eine Folge
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Wolfgang Hellmich
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ist leider, dass schwangere Frauen oftmals von Diskrimi-nierung am jeweiligen Standort berichten; auch dies istim Bericht angesprochen worden. Der Grund dafür istganz klar: Trotz eines solch freudigen Ereignisses wieeiner anstehenden Geburt ist niemand glücklich darüber– das kennen wir auch aus anderen Bereichen –, wenn eroder sie für einen anderen die Arbeit mit erledigen mussund nicht für Ersatz gesorgt wird. Hier müssen wir an-setzen und zu einer Lösung kommen. Ein Stellenpool,der schwangerschaftsbedingtes Ausscheiden personellabfedert, könnte hier Abhilfe schaffen.Wir von der SPD wollen, dass an dieser Stelle umge-hend Prozesse eingeleitet werden, die die Bundeswehrzu einem Arbeitgeber machen, der in puncto Attraktivi-tät mit modernen Unternehmen mithalten kann. Das istumso notwendiger, wenn wir auch in Zukunft eine aus-reichende Zahl von freiwillig Wehrdienstleistenden undZeitsoldaten gewinnen wollen. Familienfreundlichkeitist ein Wert für sich und darf nicht als Belastung des Un-ternehmens gesehen werden. Dies gilt gleichermaßen fürdie Bundeswehr.
Zu einem anderen Thema. Die Zahlen, die in den letz-ten Tagen durch die öffentliche Berichterstattung gingen,belegen, dass für die Personalentwicklung der Bundes-wehr klare, zukunftsorientierte Konzepte gebraucht wer-den. Die Abbrecherquote der freiwillig Wehrdienstleis-tenden liegt bei 30,4 Prozent, Tendenz steigend. Dassdies, wie es uns der Bundesverteidigungsminister leiderweismachen will, nur an falschen Vorstellungen der jun-gen Leute liegen soll, halte ich für eine gewagte These.Die Kommandeure vor Ort – das merkt man auch beiBesuchen der einzelnen Standorte – berichten etwas völ-lig anderes. Wenn dem so wäre, dass die Abbrecherquoteeinfach nur an falschen Erwartungshaltungen liegt,schlage ich vor, die Werbekampagnen für die Bundes-wehr realistischer zu gestalten; dann wäre dieses Pro-blem geregelt.
Dem ist aber nicht so. Auch hier gilt: Wenn die WerbungDinge verspricht, die das Produkt nicht halten kann, gibtes Reklamationen. Sagen Sie den jungen Menschen docheinfach vorher, was sie bei der Bundeswehr erwartet,und beugen Sie falschen Vorstellungen vor.Nehmen Sie bitte auch die Lebensrealität junger Men-schen in den Blick! Wenn Sie dann zum Beispiel nochdie Unterbringung verbessern und eine WLAN-Nutzungermöglichen, statt die Truppenbetreuung abzubauen,werden wir uns sicherlich bald über eine niedrigere Ab-brecherquote freuen können. Wenn Sie all dieses nichttun, werden die Lebensrealität junger Menschen und dieBundeswehr schlichtweg nicht zueinander passen. Daentsteht ein Delta, das wir mit den bis jetzt genutzten In-strumenten im Zweifelsfall nicht schließen können.Das gesamte Konzept der freiwillig Wehrdienstleis-tenden muss auf den Prüfstand, inklusive der Ausbil-dung und der Möglichkeiten der Verwendung. MachenSie – das gilt für die gesamte Bundeswehrreform – eineReform für die Soldatinnen und Soldaten! Beteiligungheißt hier das Zauberwort.Meine Damen und Herren, der Wehrbeauftragte desDeutschen Bundestages ist Anwalt der Soldatinnen undSoldaten und zugleich ein Hilfsorgan des Parlamentesbei der Kontrolle der Streitkräfte. Jede Soldatin und je-der Soldat hat das Recht, sich unmittelbar an den Wehr-beauftragten zu wenden; das schafft Sicherheit und Ver-trauen. Sicherheit im Inland, aber vor allem im Einsatzsollen auch die Vertrauenspersonen vermitteln. Vertrau-enspersonen stellen für die Soldatinnen und Soldaten ei-nen ersten Ansprechpartner dar, der ihnen bei Dienstpro-blemen gegebenenfalls weiterhelfen kann. Aus diesemGrunde weise ich auf eine Petition hin, mit der sich einPersonalrat des Landeskommandos Niedersachen an denDeutschen Bundestag wendet und ein Zeugnisverweige-rungsrecht für Vertrauenspersonen fordert. Der Hinter-grund für diese Petition ist, dass nach einem Urteil desBundesverwaltungsgerichtes vom Juni 2012 Vertrauens-personen von Soldaten kein solches Zeugnisverweige-rungsrecht haben. Dies bedeutet: Die jeweilige Vertrau-ensperson kann in einem Disziplinarverfahren dieZeugenaussage nicht verweigern, obwohl die betroffe-nen Soldatinnen und Soldaten davon ausgegangen sind,mit ihrer Vertrauensperson unter dem Siegel der Ver-schwiegenheit sprechen zu können. Diese Petition kannnoch bis Ende Januar gezeichnet werden. Machen Siemit! Der BundeswehrVerband unterstützt diese Petition,und dem schließe ich mich an.
Meine Damen und Herren, die Debatte über bereitsstattfindende und zukünftige Auslandseinsätze unsererBundeswehr ist momentan wieder voll entbrannt. Bei al-len Entscheidungen müssen wir zuallererst an unsereSoldatinnen und Soldaten denken. Sie unterliegen be-sonderen Belastungen und speziellen Herausforderun-gen. An dieser Stelle schließe ich mich dem Dank andiejenigen an, die diese Herausforderungen in besonde-rer Weise tragen. Aber auch für alle anderen Soldatinnenund Soldaten gilt das Bekenntnis zur umfassenden Be-treuung vor, während und nach dem Einsatz. Aus diesemGrunde sind das Amt des Beauftragten des Verteidi-gungsministeriums für einsatzbedingte posttraumatischeBelastungsstörungen, PTBS, sowie die Ansprechstellefür Hinterbliebene zwei notwendige Einrichtungen. Ichmöchte dies zum Anlass nehmen, heute hier an dieserStelle dem ehemaligen PTBS-Beauftragten, Brigadege-neral Christof Munzlinger, auch im Namen meiner Frak-tion für seine hervorragende Arbeit ganz herzlich zudanken und ihm in seiner neuen Verwendung viel Erfolgwünschen.
Daran anschließend darf ich Brigadegeneral Klaus vonHeimendahl beglückwünschen und ihm für sein neuesAmt als PTBS-Beauftragter des Verteidigungsministeri-ums alles Gute wünschen. Unserer Unterstützung fürseine Arbeit kann er sich sicher sein. Sie wird sehr inten-siv sein, und sie wird auch dringend nötig sein.
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26698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Wolfgang Hellmich
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Die in Angriff genommenen Verbesserungen bei derEinsatzvorbereitung, zum Beispiel durch einen ganzheit-lichen Gesundheitscheck oder durch eine individuelleBetreuung und Begleitung nach dem Einsatz, weisen denrichtigen Weg. Wir haben dieses lange eingefordert undlange darüber gesprochen. Ich denke, da sind guteSchritte eingeleitet worden.Als Vorletztes möchte ich die Debatte zum Rechts-extremismus in der Bundeswehr ansprechen. Rechts-extremismus ist in der Bundeswehr wie auch in allen an-deren Teilbereichen der Gesellschaft sehr wohl einProblem. In sämtlichen Fällen, in denen der Verdacht ei-nes Vorkommnisses mit rassistischem, antisemitischemoder ähnlichem Hintergrund entsteht, sind Konsequen-zen notwendig – direkt und unmittelbar. Mit allen Instru-menten, die dem Staat zur Verfügung stehen, muss gegenRechtsextremismus in der Bundeswehr vorgegangenwerden.Es ist hier allerdings nicht hilfreich, wenn einerseitsgesagt wird, es gebe kein größeres Problem als woandersauch, während andererseits die Presse über steigendeFallzahlen berichtet. Wir dürfen nicht den Eindruck zu-lassen, als würde dieses Problem an irgendeiner Stelleheruntergespielt, weil es nicht in unser Bild passt.Für das Jahr 2012 wurden bis Mitte Dezember66 Vorfälle mit Verdacht auf einen rechtsextremen Hin-tergrund festgestellt und geprüft. 21 der Verdachtsfällewurden bestätigt, die anderen werden noch geprüft. Ichglaube, vorbeugend hilft es, wenn die Bekämpfung desRechtsextremismus ein wichtiger Ausbildungs- und Dis-kussionspunkt ist und bleibt. An die Staatsbürger in Uni-form sind hier nämlich ganz besondere Anforderungenzu stellen. Deshalb ist es an dieser Stelle auch wichtig,das Thema öffentlich zu benennen und nichts zu ver-schweigen.
Meine Damen und Herren, abschließend und imNachgang zu meiner letzten Rede möchte ich Sie, sehrgeehrter Herr Königshaus, an Ihre Zusage erinnern. Alldie Soldaten, die vor dem 1. Dezember 2002 in denIFOR-, SFOR- und KFOR-Einsätzen geschädigt wur-den, erhalten keine Entschädigungszahlung. Darüberhabe ich hier gesprochen. Dies betrifft eine Gruppe voncirca 40 Soldaten. Sie sicherten mir zu, sich um dieseUngerechtigkeit zu kümmern. Ich vertraue Ihnen, dassSie noch in dieser Legislaturperiode eine Initiative star-ten, um diese nicht nachvollziehbare Ungleichbehand-lung zu beenden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
Der Kollege Christoph Schnurr hat für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 53. Jahresbericht des Wehrbeauftragten beschäftigt
sich mit mehreren Themenfeldern: unter anderem mit
dem Führungsverhalten von Vorgesetzten, den Aus-
landseinsätzen, der einsatzvorbereitenden Ausbildung,
der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung und der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Schwerpunkt
des 53. Jahresberichts lag auf der Neuausrichtung der
Bundeswehr.
Ich bin gespannt, welche Themen und Schwerpunkte
den nächsten Jahresbericht prägen werden. Wir werden
den Jahresbericht 2012 zum Glück ja bald in den Händen
halten und uns im Ausschuss, aber auch im Deutschen
Bundestag dann hoffentlich zeitnah mit diesem befassen;
der Kollege Hellmich hat das bereits angesprochen.
Ich glaube, es ist unglücklich, dass wir die Debatte
über den Jahresbericht 2011 Anfang des Jahres 2013
führen. Daran sind wir alle nicht unbeteiligt. In Zukunft
müssen wir schauen, dass wir sowohl den Jahresbericht
des Wehrbeauftragten als auch die Kommentierung des
Ministeriums, wenn sie vorliegen, zeitnäher im Deut-
schen Bundestag debattieren.
Lieber Herr Wehrbeauftragter, Herr Königshaus, ich
möchte mich bei Ihnen und Ihrem Haus nicht nur für den
Bericht, sondern auch für Ihre Arbeit recht herzlich be-
danken.
Wenn wir uns mit dem Themenkomplex „Ausrüstung,
Ausstattung und Ausbildung“ beschäftigen, dann sehen
wir, wie oft der Wehrbeauftragte hier den Finger in die
offene Wunde gelegt hat. Die Ausrüstung wurde konti-
nuierlich verbessert, und die Fahrzeuglage im Einsatz
und für die so wichtige Ausbildung in Deutschland hat
sich wesentlich entspannt. Der UH Tiger ist bereits in
Afghanistan; der NH90 folgt bald. Somit können wir un-
seren Partnern und uns selbst eine eigenständige und ge-
schützte MedEvac-Komponente anbieten. Das ist äu-
ßerst begrüßenswert.
Die Ausrüstung und die Ausbildung werden ganz si-
cher auch Themenfelder der nächsten Jahresberichte
werden. Es wird immer Probleme geben, und es gab
auch in der Vergangenheit immer Herausforderungen.
Das liegt in der Natur der Sache. Insgesamt – das ist
ganz wichtig – sind unsere Soldatinnen und Soldaten für
die schwierigen Aufgaben in den Auslandseinsätzen
aber gut ausgebildet und gut ausgerüstet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Berichtszeit-
raum dieses 53. Jahresberichtes wurde auch das Statio-
nierungskonzept der Bundeswehr beschlossen. Es ist
ganz klar, dass hier sehr viele Unsicherheiten herrühren
und dass sich viele Soldaten Gedanken über ihre berufli-
che Zukunft gemacht haben. Diese Verunsicherungen
sind verständlich, und die Sorgen der Soldaten müssen
wir auch hier im Bundestag sehr ernst nehmen.
H
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist gut, dass das Ministerium in-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26699
Christoph Schnurr
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nerhalb der Truppe vermehrt kommuniziert und dasKonzept auf allen Ebenen vorstellt; denn das Entschei-dende auch bei der Stationierungsentscheidung ist, dasswir die Soldatinnen und Soldaten in diesem Reformpro-zess mitnehmen und die Reform nicht gegen die Interes-sen der Soldaten gestalten.Ebenfalls im Berichtszeitraum wurde das „Maßnah-menpaket zur Steigerung der Attraktivität des Dienstesin der Bundeswehr“ eingebracht. Es ist doch ein gutesZeichen, dass bereits ein Drittel der Maßnahmen umge-setzt oder eben auch auf den Weg gebracht wurde.
Die Herausforderungen bleiben jedoch weiterhin viel-fältig. Wir sind angehalten, die Vereinbarkeit von Dienstund Familie weiter zu verbessern. Die bereits eingerich-teten Eltern-Kind-Zimmer sind ein Anfang. Die Bundes-wehr muss aber darüber hinaus für eine vernünftige Kin-derbetreuung sorgen. Deshalb begrüße ich es, dass indiesem Jahr weitere Betriebskindergärten gebaut undBelegungsrechte bei den Kommunen erworben werden.
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht beschäf-tigt sich auch mit dem freiwilligen Wehrdienst. Die Zah-len sprechen für sich: Zum Jahresbeginn haben rund3 500 junge Menschen ihren Dienst bei der Bundeswehrbegonnen. Im letzten Jahr konnte der Bedarf an freiwil-lig Wehrdienstleistenden und an Zeitsoldaten gedecktwerden. Das zeigt doch eben, dass der Arbeitgeber Bun-deswehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommenwird und dass die Bundeswehr in der Lage ist, den beste-henden Wettbewerb um Nachwuchskräfte mit der freienWirtschaft und mit anderen Behörden aufzunehmen.Allerdings finden wir hier eine Quote vor, an die sichein Spitzenarbeitgeber nicht gewöhnen darf. Das ist die30-prozentige Abbrecherquote der freiwillig Wehr-dienstleistenden. Diese 30 Prozent sind meiner Ansichtnach per se noch keine Tragödie. In Berlin liegt bei-spielsweise die Quote der Abbrecher bei Lehrberufenauch bei circa 30 Prozent. Dennoch sollten wir die Be-weggründe dieser jungen Menschen aufmerksam be-trachten, warum sie ihren Dienst bei der Bundeswehrfrühzeitig quittieren, um dann auch entsprechende Maß-nahmen ergreifen zu können.Auch hier hat der Kollege Hellmich vorgeschlagen,die Werbekampagnen zu überarbeiten. Ich glaube, dasProblem liegt nicht an Werbekampagnen, die ja immerauf zugespitzte Aussagen konzentriert sind; denn dieje-nigen, die sich freiwillig zum Dienst bei der Bundeswehrmelden, haben vorher entsprechende Beratungsgesprä-che, können sich intensiv mit der Bundeswehr, mit demArbeitgeber, auseinandersetzen. Ich lade Sie von der So-zialdemokratie und insbesondere Sie, Herr AbgeordneterHellmich, herzlich ein: Setzen wir uns gemeinsam dafürein, dass wir Wehrdienstberatern endlich wieder Zugangzu öffentlichen Schulen gewähren,
damit sie auch hier wieder nicht nur für die Bundeswehrwerben können, sondern mit den jungen Menschen auchkritisch diskutieren können wie beispielsweise die Ju-gendoffiziere.Da bin ich schon bei meinem letzten Stichwort. Ichglaube, wir sind gut beraten, wenn wir in die Diskussionauch wieder die Frage der gesellschaftlichen Anerken-nung unserer Soldatinnen und Soldaten aufnehmen.Dazu gehört eben, dass Jugendoffiziere an Schulen nichtdiskriminiert werden. Es gehört aber auch dazu, dass wirdafür Sorge tragen, dass Gelöbnisse auf öffentlichenMarktplätzen stattfinden und nicht hinter verschlossenenKasernentoren.
Und es gehört vor allem dazu, dass wir am 20. Juli dasöffentliche Gelöbnis wieder hier auf dem Platz vor demReichstagsgebäude stattfinden lassen, weil damit auchdeutlich wird, dass die Bundeswehr eine Parlamentsar-mee ist.In diesem Sinne bedanke ich mich vielmals bei Ihnenallen und bedanke mich ganz besonders bei den Solda-tinnen und Soldaten, bei den zivilen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Bundeswehr, bei den Reservisten,aber auch bei den Familien für ihre Arbeit.Vielen Dank.
Der Kollege Harald Koch hat nun für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrter Herr Königshaus! Als wir imSeptember des letzten Jahres zuletzt über den Berichtdes Wehrbeauftragten debattierten, haben Sie, HerrKönigshaus, gesagt, es gebe zu viele Baustellen und zuwenige Lösungen. Dem kann ich ohne Wenn und Aberzustimmen.Ich möchte dem aber noch etwas hinzufügen: Es gibtnicht nur zu viele Baustellen, sondern diese sind auchschon seit Jahren bekannt und immer dieselben. Und esgibt auch nicht nur zu wenige Lösungen, sondern auchzu wenig Lösungswillen vonseiten des Bundesministe-riums der Verteidigung und der Bundesregierung.Wenn ich mir die Stellungnahme des BMVg zum Be-richt anschaue, dann kann ich darin nicht wirklich fest-stellen, dass die äußerst berechtigten Anmerkungen desWehrbeauftragten ernst genommen und angegangenwerden. Da wird vielmehr von „bedauerlichen Einzelfäl-len“ oder „Sonderfällen“ gesprochen. Da werden dieEinwände damit abgetan, dass es dafür „keine Anhalts-punkte“ gebe, oder man flüchtet sich in dehnbare For-mulierungen wie, man sei „fortwährend bemüht“ oderKonsequenzen seien nur „schwer möglich“.Ich frage mich doch ernsthaft, wie sich an den jährlichgleichen Problemen und Missständen oder der Unzufrie-denheit der Soldatinnen und Soldaten irgendwann ein-
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26700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Harald Koch
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mal etwas deutlich ändern soll. Ich meine, dass die Kri-tik der Linken nicht interessiert, kennen wir schon. Abernehmen Sie doch bitte wenigstens den Wehrbeauftragtenund seine Einschätzung der Lage ernst. Nehmen Sie vorallem die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten end-lich ernst, und ändern Sie etwas, anstatt alle Problemeimmer weiter nur abzutun und zu ignorieren.
Ich möchte dabei noch einmal auf zwei Problemegesondert eingehen. Zum einen ist dies die Situationderjenigen Soldatinnen und Soldaten, die schwer trau-matisiert bzw. mit einer posttraumatischen Belastungs-störung aus einem Auslandseinsatz zurückkommen, undzum anderen ist dies die Situation der sogenannten Ra-dargeschädigten.Nach wie vor steigen Jahr für Jahr die Fallzahlen vonPTBS-Erkrankungen. Nach wie vor wird damit abgewie-gelt, dass die Erkrankungsrate der deutschen Soldatin-nen und Soldaten niedriger sei als die anderer Armeen.Das ist doch aber kein Grund, die Betroffenen im Regenstehen zu lassen.
Natürlich wurde in den letzten Jahren geforscht und aucheiniges getan, um die Betroffenen besser abzusichern.Aber dennoch sind die Defizite enorm. Bei der Einbezie-hung der Familien in die Therapie mangelt es noch an al-len Ecken und Enden. Vor allem die Betreuung bereitsaus der Bundeswehr ausgeschiedener Soldatinnen undSoldaten lässt extrem zu wünschen übrig. Hier wird nachwie vor nach dem Prinzip „Aus den Augen, aus demSinn“ gehandelt, und die Betroffenen sind weitestgehendauf sich selbst gestellt.Was ich aber besonders schlimm finde, ist – wir kön-nen uns alle daran erinnern, wie das im Ausschuss gelau-fen ist – die kürzlich vonseiten der Bundesregierung auf-gestellte Behauptung, dass die meisten der Soldatinnenund Soldaten, welche traumatisiert aus einem Auslands-einsatz zurückkamen, schon im Vorfeld eine manifestepsychische Störung gehabt hätten. Da frage ich michdoch ernsthaft, wie es sein kann, dass das bei einer solchgroßen Anzahl von Fällen nicht aufgefallen ist, wenndoch alle Soldatinnen und Soldaten vor einem Einsatzangeblich mehrfach psychologisch begutachtet werden.Für mich ist dies eine plumpe Ausrede und ein Schlagins Gesicht eines jeden Betroffenen. So darf man mitMenschen nicht umgehen.
Kommen wir zu den Radargeschädigten. Auch hier istmit der Gründung der Härtefallstiftung längst nicht allesgut, auch wenn das gern so verkauft wird. Zum einen istdas bereitgestellte Kapital von 7 Millionen Euro viel zugering, um auch nur einen Teil der Geschädigten wirk-lich und angemessen zu entschädigen. Zum anderenwurde hier ein Konstrukt geschaffen, mit dem die Ge-schädigten billig und nicht rechtsverbindlich abgespeistwerden können.Zudem stellt sich noch immer die Frage, ob bei derBerechnung der Strahlendosis alles mit rechten Dingenzugegangen ist, da es hier nach wie vor zu viele Unge-reimtheiten gibt. Auch hier muss dringend nachgebessertwerden. Es kann nicht sein, dass ehemalige Soldaten, dieunwissentlich durch die Ausübung ihrer Arbeit schwererkrankt sind, einfach alleingelassen werden bzw. dasProblem einfach ausgesessen wird.Abschließend betrachtet hat der Wehrbeauftragtewohl auch in den nächsten Jahren noch eine Menge Ar-beit vor sich. Ich danke ihm und seinen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern noch einmal für den Bericht. GestattenSie mir die kleine Bemerkung: Wir sprechen hier vonReformen in der Verwaltung und von einer Frauenquote.Ich wünsche mir, die eine oder andere Frau in IhrerRiege sitzen zu sehen.
Es gibt viel zu tun für die Bundesregierung, dass die auf-gezeigten Mängel zukünftig ernsthaft angenommen, an-gegangen und beseitigt werden.Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen, HerrWehrbeauftragter, genau wie meine Vorredner für denvon Ihnen vorgelegten Bericht für das Jahr 2011 danken.Auch dass der Bericht von Ihnen bereits im Januar 2012vorgelegt wurde, hat neue Maßstäbe gesetzt.
Leider wird er trotzdem jetzt erst, 2013, beraten. InZukunft sollten wir dafür sorgen, dass der Bericht eherauf die Tagesordnung kommt.
Ich möchte mich aber auch bei den vielen Soldatinnenund Soldaten bedanken, die sich mit ihren Anliegen anden Wehrbeauftragten gewandt haben. Gemessen an derGesamtstärke der Streitkräfte steigt die Zahl der Ein-gaben seit Jahren prozentual leicht. Das ist aber gut so;denn wir als Bundestag wollen wissen, wie es um unsereStreitkräfte bestellt ist. Wir brauchen mutige Soldatinnenund Soldaten, die uns auf bestehende Defizite hinweisen.So stelle ich mir im Übrigen einen Staatsbürger inUniform vor.
Nun möchte ich die knappe Redezeit nutzen, vierThemen anzusprechen. Sorgen bereitet uns unter ande-rem die hohe Dunkelziffer bei sexueller Belästigung. Zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26701
Katja Keul
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häufig werden solche Vorfälle weder dem Vorgesetztennoch dem Wehrbeauftragten gemeldet. Die Betroffenenwollen oft nicht als zimperlich gelten. Sexuelle Belästi-gung ist übrigens nicht nur ein Problem von Frauen;auch Männer leiden darunter, auch in den Streitkräften.Anstatt das Thema aber offensiv anzugehen, streichtder ehemalige Inspekteur der Streitkräftebasis Kühn imFragenkatalog einer Studie zu diesem Thema unlieb-same Passagen heraus. Die offizielle Begründung war,dass das Thema sexuelle Belästigung überrepräsentiertsei. So geht das nicht.
Wir als Parlament haben ein ausgeprägtes Interesse da-ran, zu wissen, wie es um die Streitkräfte bestellt ist. Wirwollen unabhängige und keine gefälligen Studien vorge-legt bekommen.Beim Thema „Frauen in den Streitkräften“ kann ichIhnen, Herr Wehrbeauftragter, Kritik nicht gänzlich er-sparen. In Ihrem Bericht findet sich dazu gerade einmaleine einzige Seite, und das, obwohl die Bundeswehr ihrselbst gestecktes und nicht gerade ambitioniertes Zielvon 15 Prozent Frauen seit Jahren weit verfehlt. Der An-teil liegt momentan bei gerade einmal 6 bis 7 Prozent,und das bei fast hälftigem Anteil im Bereich der Sanität.Selbst dort ist die Generalität weiterhin eine reine Män-nerdomäne. Das ist zu wenig.
Das muss man klar kritisieren. Dazu würde ich in Ihremnächsten Bericht gerne mehr lesen, und vielleicht bei derGelegenheit auch etwas über die ambitionierten Ziele imBüro des Wehrbeauftragten.
Frauen sind seit neuestem auch in der KSK ausdrück-lich erwünscht. Erstmals haben neun Frauen die sechs-monatige Vorausbildung bei der KSK durchlaufen underfolgreich abgeschlossen. Wer die entsprechendenFernsehdokumentationen gesehen hat, weiß, dass dieseAusbildung kein Erholungsurlaub ist. Es kann dochnicht sein, dass man einer Absolventin erst im Nachhi-nein erklärt, man habe leider übersehen, dass man sie inihrer bisherigen Verwendung nicht entbehren könne. DieTatsache, dass in der Bundeswehr vier verschiedeneStreitkräfte miteinander um die besten Kräfte konkurrie-ren, darf nicht zulasten der Soldatinnen und Soldatengehen. Die Verantwortung als Arbeitgeberin trifft dieBundeswehr im Ganzen.Das Thema „Frauen in der Bundeswehr“ wird übri-gens gerne verwechselt mit dem Thema „Vereinbarkeitvon Dienst und Familie“. In Ihrem Bericht haben Siediesen Fehler nicht gemacht. Das will ich positiv hervor-heben. Sie benennen die Mängel bei der Vereinbarkeitdeutlich und schreiben – Zitat –:Umso bedauerlicher ist es, dass die Bundeswehr imBerichtsjahr über die Einrichtung von Eltern-Kind-Zimmern hinaus keine weiteren wesentlichen Fort-schritte auf diesem Gebiet vorweisen kann.Das BMVg gelobte in seiner Stellungnahme dann auchBesserung. Es müssten nur erst einmal die Reformen ab-geschlossen sein und die neuen Strukturen richtig wir-ken. Dann würde man auch vermehrt Betriebskindergär-ten einrichten.Nun wissen wir aber aus Erfahrung, dass eineBundeswehrreform niemals wirklich abgeschlossen ist.Der Bedarf ist aber nicht erst seit heute da, und die Bun-deswehr muss sich als Arbeitgeberin auf dem Marktbehaupten.Das vierte und letzte Thema, das ich heute ansprechenwill, kommt mir in Ihrem Bericht ein bisschen zu harm-los daher: das Problem des Rechtsextremismus. DieMorde des rechtsextremen NSU haben uns alle scho-ckiert. Sie selbst berichten, dass Sie Verbindungen dieserSzene zur Bundeswehr geprüft und verneint haben. WasSie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, weildas Verteidigungsministerium es Ihnen nicht gesagthatte, war die Existenz der Akte Uwe Mundlos. Ausdieser Akte ging hervor, dass Mundlos in seiner Bundes-wehrzeit wegen rechtsextremer Äußerungen aufgefallenund deshalb vom MAD vernommen worden war. Trotz-dem wurde er zweimal befördert – entgegen den Dienst-vorschriften.Auch wenn dies alles lange her ist, kann man darausimmerhin noch zweierlei schließen: zum einen die Über-flüssigkeit des MAD.
Zum anderen hat das BMVg noch im Juni in der Stel-lungnahme zum Bericht des Wehrbeauftragten so getan,als ob es zu dem Thema nichts zu sagen gäbe, obwohldie Akte dort inzwischen aufgefallen sein dürfte.Damit wurde die Chance verpasst, zu beweisen, dassman das Thema ernst nimmt und unverzüglich alle Er-kenntnisse auf den Tisch zu legen bereit ist. Nicht nurwir Parlamentarier, auch die Bevölkerung muss sichdarauf verlassen können, dass das Thema „Rechtsextre-mismus in den Streitkräften“ nicht kleingeredet wird.
Der Wehrbeauftragte verspricht uns, auch künftig daraufzu achten, und das begrüßen wir. Wir sind schon auf dennächsten Bericht gespannt, den er sicherlich so gut wiefertig hat.Vielen Dank.
Die Kollegin Anita Schäfer hat nun für die Unions-fraktion das Wort.
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26702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Dasgerade abgelaufene Jahr 2012 war ein gutes Jahr für dieBundeswehr. Trotz fortlaufender gefährlicher Einsätzeund trotz der Umstellungen, die die laufende Struktur-reform mit sich bringt, ist mir bei diesem Urteil eines be-sonders wichtig: Erstmals seit längerer Zeit hatten wir indiesem Jahr keine gefallenen deutschen Soldaten in denEinsatzgebieten der Bundeswehr zu beklagen. Das liegtsicherlich daran, dass die ISAF-Truppen in Afghanistanbei der Operationsführung zunehmend gegenüber deneinheimischen Sicherheitskräften in den Hintergrundtreten.Aber hier zeigt sich auch die Verbesserung bei Schutzund Ausrüstung der Soldaten, die der Wehrbeauftragteimmer wieder angemahnt hat, die der Bundestag in weit-gehender Einmütigkeit verfolgt hat und die die Bundes-regierung über Jahre hinweg umgesetzt hat. Ausrüstungist zwar nicht alles, und vollständigen Schutz wird es niegeben. Wir haben gesehen, dass selbst schwer gepan-zerte Fahrzeuge zerstört werden können. Aber die Situa-tion für die Truppe hat sich im Laufe unseres Engage-ments in Afghanistan insgesamt erheblich verbessert,nicht nur im Einsatz selbst, sondern auch bei der Bewäl-tigung der Einsatzfolgen einschließlich physischer undpsychischer Verwundungen. Auch dabei wird es nieeinen idealen Zustand geben. Wir werden weiter auf-merksam bleiben, wo es noch Verbesserungsbedarf gibt.Ich möchte an dieser Stelle einmal allen hier im Hausund außerhalb danken, die die bisherigen Verbesserun-gen bewirkt haben, und besonders die gute Zusammen-arbeit des Wehrbeauftragten mit dem Parlament und derRegierung würdigen.Dennoch ist jeder bisherige und künftige Verwundeteund Gefallene einer zu viel. Mit der geplanten Übergabeder Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regie-rung bis 2014 zeichnet sich zwar eine weiter abneh-mende Intensität der ISAF-Mission ab. Wir werden dieafghanische Regierung auch danach in geringerem Um-fang weiterhin unterstützen, sofern die völkerrechtlichenGrundlagen dafür geschaffen werden. Unsere Rolle inAfghanistan wird also kleiner. Doch das heißt nicht, dasswir in unseren Bemühungen um Verbesserungen für un-sere Soldaten nachlassen können; denn neue Einsätzewerden kommen.Gegenwärtig läuft die Mission zur Verstärkung der in-tegrierten NATO-Luftabwehr in der Türkei an. Durchden Schutz auch deutscher Patriot-Raketen wird dieserPartner, der den syrischen Bürgerkrieg vor der Haustürhat, in die defensive Haltung des Bündnisses eingebun-den. Dies ist nicht das erste Mal, dass deutsche Truppenim Rahmen der NATO in die Türkei verlegt werden.Schon während des Kalten Kriegs waren wir nicht nurEmpfänger der Unterstützung unserer Partner, sondernstanden diesen gegenüber selbst in der Pflicht, zur ge-meinsamen Sicherheit in der NATO beizutragen. DieserPflicht kommen wir mit dem Einsatz in der Türkei nach,nicht um in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen,sondern um ein Übergreifen auf das Bündnisgebiet unddamit auch auf Europa zu verhindern. Ich wünsche unse-ren Soldaten, die in diesen Einsatz gehen, alles Gute.
Ihr Auftrag dort ist nicht weniger wichtig und nicht we-niger wert als der in Afghanistan, im Kosovo oder amHorn von Afrika. Wir werden auch diesen genau verfol-gen und handeln, wenn es objektiven Verbesserungsbe-darf gibt. Ich erinnere beispielsweise an die kürzlichvom Deutschen BundeswehrVerband geäußerten Beden-ken hinsichtlich der ABC-Abwehrfähigkeiten.Besorgt blicken wir auch nach Mali, wo die Entwick-lung die Pläne für eine Ausbildungsmission der EU zuüberholen droht. Unsere französischen Freunde haben– erst heute Vormittag haben wir den Abschluss desÉlysée-Vertrags vor 50 Jahren gewürdigt – gerade nochverhindert, dass die Islamisten vom Norden des Landesaus auf die Hauptstadt vorstoßen konnten. Heute Mittaghaben die Minister de Maizière und Westerwelle erklärt,dass wir den Aufbau der westafrikanischen ECOWAS-Mission mit zwei Transall-Maschinen unterstützen wer-den. Das ist gut so; denn es ist in unserem gemeinsamenInteresse, dass in Mali kein weiterer gescheiterter Staatentsteht, den international agierende Terroristen als Ope-rationsbasis auch gegen Europa nutzen können.Nach wie vor steht aber auch eine deutsche Beteili-gung an der Ausbildungsmission im Raum, über die dieEU-Außenminister morgen entscheiden wollen. Unab-hängig davon, wie der Gesamtumfang unseres Engage-ments ausfällt, wird die Belastung der Bundeswehr da-durch wieder steigen. Wir müssen uns stets klar darübersein, dass dies neben der ideellen und materiellen At-traktivität sowie der Vereinbarkeit von Familie undDienst wesentlich zur Stimmung in der Truppe und auchzu ihrem Bild in der Öffentlichkeit beiträgt, was nichtzuletzt die Nachwuchslage mitbestimmt.Meine Damen und Herren, vor kurzem wurde zwarnoch die Meldung aufgebauscht, dass etwa 30 Prozentder neuen freiwillig Wehrdienstleistenden den Dienst inder sechsmonatigen Probezeit verlassen. Das ist aberkein wesentlicher Unterschied zu der Meldung vom ver-gangenen Herbst, wonach die Abbrecherquote 27 Pro-zent in den ersten zwei Monaten betrage. Das bleibtzwar unbefriedigend, entspricht aber weiterhin den Er-fahrungen aus der Wirtschaft, und es bleiben auch nicht,wie es hieß, Tausende Stellen unbesetzt, sondern die5 000 vorgesehenen Dienstposten für freiwillig Wehr-dienstleistende können problemlos abgedeckt werden.Bei den Zeitsoldaten bestehen in dieser Hinsicht ohnehinkeine größeren Probleme.Bei dieser Feststellung wollen wir es aber nicht belas-sen, sondern wir wollen mit einer Vielzahl von Maßnah-men die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehrweiter steigern. Insbesondere das Thema „Vereinbarkeitvon Familie und Dienst“, Stichpunkte „Pendler“ und„Kinderbetreuung“, erfordert weiterhin unsere Aufmerk-samkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26703
Anita Schäfer
(C)
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Ich hoffe, dass sich auch der freiwillige Wehrdienst zueinem Erfolgsmodell wie der zivile Bundesfreiwilligen-dienst entwickelt. Daran sollten wir alle gemeinsamarbeiten.Frau Präsidentin, zum Schluss darf ich noch demWehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern ganz herzlich für ihr großes Engagementdanken, das sie zum Wohle der Sicherheit unserer Solda-ten gezeigt haben. Herzlichen Dank noch einmal!
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl spricht nun eben-
falls für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parla-
mentsarmee. Unsere Verantwortung als Parlament für
die Armee zeigt sich nicht nur in der Mandatierung der
Einsätze – Frau Kollegin Schäfer hat einige angespro-
chen – und nicht nur darin, dass wir einen Haushalt auf-
stellen, in dem auch Organisation und Größe der
Bundeswehr festgelegt sind, sondern auch darin, dass
wir einen Wehrbeauftragten wählen als zentralen An-
sprechpartner für die Soldaten und als Ausdruck von
Kontrolle und Verantwortung für das Innenleben der
Bundeswehr.
In einer Zeit, in der die Bundeswehr von Grund auf
neu ausgerichtet wird, ist das Innenleben der Bundes-
wehr natürlich in Aufruhr. Ich möchte mich ganz
herzlich bei Ihnen, Herr Königshaus, dafür bedanken,
dass Sie diese Neuausrichtung der Bundeswehr so kon-
struktiv begleiten und auf diese Weise dazu beitragen,
dass Härten und Ungerechtigkeiten erkannt und in vielen
Fällen auch ausgemerzt werden können.
Herr Wehrbeauftragter, Ihre Rede hat deutlich ge-
macht: Sie legen den Finger auch dann in die Wunde,
wenn der Auftrag, den wir hier erteilen, nicht zur
Ausrüstung und zur Ausbildung der Soldaten passt. Da
haben Sie recht; denn wir schulden unseren Soldaten die
bestmögliche Ausbildung, den bestmöglichen Schutz
und das bestmögliche Einsatzgerät. Ich nenne nur Stich-
worte aus Ihrem Bericht: geschützte Fahrzeuge, Hand-
waffen, Munition, Schießausbildung, Nachtsichtgeräte,
Hubschrauber, Route Clearance, Drohnen. Wenn wir
2012 keinen Gefallenen zu beklagen hatten – das ist hier
mehrfach angesprochen worden –, dann hat das auch
damit zu tun, dass wir bei der Ausrüstung und bei der
Ausbildung besser geworden sind. Das ist mit ein Ver-
dienst des Wehrbeauftragten.
Natürlich werden wir bei der Ausbildung und vor allem
bei der Ausrüstung nie einen perfekten Stand erreichen,
weil sich Auftrag und Einsatzbedingungen der Soldaten
immer wieder dynamisch ändern. Diese ändern sich
schneller, als die Beschaffung darauf reagieren kann. Ich
hoffe aber, dass wir mit dem neuen Rüstungsprozess, ein
zentraler Baustein in der Neuausrichtung, die zeitliche
Lücke zwischen Bedarf und Deckung des Bedarfs weiter
verkürzen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heute schon
des Öfteren angesprochen worden ist und was mich per-
sönlich auch besonders freut, ist, dass der Zustrom zur
Bundeswehr weiterhin ungebrochen ist. Wir denken im-
mer nur an die freiwillig Wehrdienstleistenden. Wir dür-
fen aber nicht vergessen, dass im Januar dieses Jahres
3 500 junge Männer und Frauen ihren Dienst als Zeit-
soldaten bei der Bundeswehr begonnen haben. Wir ha-
ben für das Jahr 2013 insgesamt einen Bedarf von
16 150 Zeitsoldaten. Das heißt, der Bedarf für 2013 ist
bereits heute schon zu fast 25 Prozent gedeckt – und das
trotz rückgängiger Jahrgangsstärken, trotz guter Alterna-
tiven auf dem Arbeitsmarkt, trotz der Schwierigkeiten
bei der Neuausrichtung und trotz der Tatsache, dass der
Soldatenberuf natürlich ein gefährlicher Beruf ist. Diese
Zahl ist für mich ein guter Indikator für das Ansehen und
den Stellenwert der Bundeswehr in der Gesellschaft.
Aber täuschen wir uns nicht. Der Wettbewerb um die
besten Köpfe wird schon aufgrund der Demografie im-
mer härter werden. Im Dezember wurden die neuen Kar-
rierecenter der Bundeswehr in allen Bundesländern in
Dienst gestellt. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil
der Neuausrichtung, und auch das ist ein Punkt, auf den
wir große Hoffnungen setzen. Es muss gerade für uns als
Parlament das Ziel sein, die Besten für die Bundeswehr
zu gewinnen; denn wir stellen – das ist in den Reden der
Kolleginnen und Kollegen auch immer wieder deutlich
geworden – hohe ethische und moralische Ansprüche an
unsere Soldaten.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist für uns ein
wichtiger Seismograf dafür, wie diese große Truppe von
200 000 jungen Männern und Frauen diesen Anforde-
rungen gerecht wird. Herr Königshaus, wenn ich Ihren
Bericht lese, dann muss ich feststellen, dass unsere
Truppe, die Bundeswehr, diesen hohen Anforderungen
zum großen Teil auch gerecht wird. Darauf können wir
stolz sein.
Herr Königshaus, ich danke Ihnen und Ihren Mitar-
beitern für Ihre Arbeit, und ich danke Ihnen, meine ver-
ehrten Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksam-
keit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei-digungsausschusses zu dem Jahresbericht 2011 desWehrbeauftragten. Das sind die Drucksachen 17/8400und 17/11215. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
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26704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Vizepräsidentin Petra Pau
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dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleLösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPDKünftige Wirtschaftkrisen erfolgreich meis-tern – Kurzarbeitergeld unter erleichtertenBedingungen wieder einführen– Drucksache 17/12055 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegenund, sofern uns sonst noch jemand zuschaut, meine Da-men und Herren! Selten wurde eine politische Maß-nahme so einhellig gelobt und war messbar so erfolg-reich wie das konjunkturelle Kurzarbeitergeld. DieMinister Scholz und Steinbrück – ich erinnere darangerne – hatten es in der Finanz- und Wirtschaftskrise2009 eingeführt.Herr Weise, der Chef der BA – ich habe das im Han-delsblatt vom 12. Januar gelesen –, hat daran erinnert: InSpitzenzeiten dieser Krise, so sagt er, waren 1,7 Millio-nen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer imBezug dieses konjunkturellen Kurzarbeitergeldes. Daswaren 1,7 Millionen Menschen, die weiter in Lohn undBrot bleiben konnten. Aber es war nicht nur gut für dieArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, es zahlte sichauch aus für die Unternehmen; denn Tausende – es sindmehr als 13 000 Unternehmen seinerzeit gewesen –konnten die Krisenzeit so abpuffern und ihre Fachkräftehalten – ein wichtiges Thema, das in den nächsten Jah-ren immer wichtiger werden wird; zumindest an derStelle mögen wir uns einig sein.Der große Vorteil war: Beim Aufschwung, der dann jaauch kam, hatten die Unternehmen sofort wieder ihrKnow-how und konnten durchstarten. Das ist einer derGründe, warum wir so stabil aus dieser Krise herausge-kommen sind.
Ich will nur sagen: Dieses Kug – so kürzen wir das jaab – hat seinen Praxistest glänzend bestanden.Aber leider hatte es Schwarz-Gelb eilig, dieses Instru-ment wieder zurückzuführen. Sogar vorzeitig, drei Mo-nate früher, als ursprünglich vereinbart, hieß es: Wirnehmen das wieder zurück. – Das halte ich und das hältmeine Fraktion mit mir für einen gravierenden Fehler.
Wir haben ihn schon damals kritisiert und haben Verste-tigung beantragt. Damals, 2011, fanden wir kein Gehörbei Mehrheit und Regierung; im Gegenteil – ich sagtees –: Sie haben die Sonderregelung verkürzt.Jetzt ist die Frage: Wie sieht es heute aus? Etwasdazugelernt? Ich hoffe, ja; denn wir wollen mit unseremAntrag „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meis-tern – Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedingungenwieder einführen“ einen Impuls geben, dem alle hier fol-gen sollten, weil es um eine ganz wichtige politischeBotschaft geht.Ich gebe zu: Erleichterte Kurzarbeit ist SPD-Politik inReinform.
Warum sage ich das so? Es ist eine Beschäftigungsbrü-cke im Konjunkturabschwung. Es gibt kein Argumentdagegen. Es geht um die Sicherung von Arbeitsplätzen,und es geht um einen Weg, die auftragsarme Zeit fürWeiterbildung zu nutzen und aus der Beschäftigungsbrü-cke, die Kurzarbeit ganz sicher ist, auch eine Qualifizie-rungsbrücke zu machen.
Weil der eine oder andere Einwand kommen mag,will ich sagen: Dass das noch nicht so rund gelaufen ist,wundert mich persönlich nicht. Wir haben das erstmalsausprobiert: eine Verquickung von Qualifizierungsange-boten und Kurzarbeitergeld. Ich finde, das ist etwas, aufdas wir unser Augenmerk auch zukünftig richten sollten;denn das treibt den nächsten Aufschwung an und hilft,Facharbeiterinnen und Facharbeiter in den Unternehmenzu halten, weil wir sie morgen ja so dringend brauchen.Das heißt im Blick zurück: Die konjunkturelle Kurz-arbeit hat in den Krisenjahren starke Einbrüche am Ar-beitsmarkt verhindert und dazu beigetragen, dass wir diebesten Arbeitsmarktzahlen der letzten Jahrzehnte ver-zeichnen konnten.Ich will Ihnen noch etwas sagen, meine Damen undHerren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit mir nichtuntergeschoben wird, ich neigte zum Schwarzmalen; dasist überhaupt nicht meine Art. Wir werden morgen hierden Jahreswirtschaftsbericht diskutieren. Ich brauchekeine Kristallkugel, um sagen zu können: Da wird es umschlechtere Perspektiven und Prognosen gehen. Sie wer-den nicht mehr das Wachstum zeigen, das wir in denletzten Monaten und Jahren hatten.Deutschland – das wissen viele – befindet sich in ei-ner prekären Stagnation, weil die Rezession im Euro-Raum auch unsere Volkswirtschaft herunterzieht. Des-halb ist Vorsorge angesagt, die darin besteht, dass wiruns wappnen und wieder eine bessere Kurzarbeitssitua-tion schaffen. Die SPD sagt sogar: Es wäre klug, wirwürden das, was wir bei der konjunkturellen Kurzarbeitals Vorteile hatten, verstetigen, damit wir nicht ein Aufund Ab in den Rahmenbedingungen für Kurzarbeit ha-
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Gabriele Lösekrug-Möller
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ben, sondern den Arbeitgebern und Unternehmen eineganz klare Grundlage liefern, sodass sie wissen: Auch inkonjunkturell schwierigen Zeiten haben wir die staatli-che Regelung zur Unterstützung an unserer Seite.Wir wissen: Das Problem des Missbrauchs ist entge-gen manchem Unken sehr gering. Ich erinnere daran:Die Remanenzkosten bleiben bei den Unternehmen. Dassind fast ein Viertel der Ausgaben. Das sorgt dafür, dassUnternehmen nicht leichtfertig sagen: Wir schicken un-sere Leute in Kurzarbeit.Gerade in den letzten Tagen mussten wir hören, dassMAN Kurzarbeit angemeldet hat. Wir reden also nichtetwas herbei, sondern sagen: Wir als Gesetzgeber müs-sen jetzt handeln, damit wir eine gute Grundlage haben.– Ein Einwand, der vermutlich von meinen nachfolgen-den Rednern von den Regierungsfraktionen kommt, ist:Das haben wir alles schon im Dezember erledigt. – Nein,das haben Sie eben nicht. § 109 SGB III erlaubt, dassman per Verordnung die Bezugsdauer von Kurzarbeiter-geld verlängern kann. Ja, das haben Sie gemacht. Aberdie qualitativen Kriterien, von denen wir sagen, dass siedie Beschäftigungs- und Qualifizierungsbrücke bringen,haben Sie gar nicht aufgegriffen. Da sagen wir: Bittemehr Mut! Unsere Wirtschaft braucht das. Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer hoffen darauf. Unterneh-men brauchen einen sicheren Planungshorizont.Deshalb, meine Damen und Herren, freue ich michauf die Diskussion, die wir zu unserem Antrag habenwerden. Ich kann Ihnen versichern: Sollten Sie ihm zu-stimmen, zumindest in weiten Teilen, so freuen wir uns.Das steht dem Parlamentarismus in Deutschland gut zuGesicht. Peter Struck, der heute Morgen ob seiner Quali-täten als Parlamentarier gewürdigt wurde, hat viel Wertdarauf gelegt, dass Parlamentarier Mut haben, zu sagen,dass auch gute Vorschläge durch die Bearbeitung im Par-lament besser werden können. Darauf setze ich. Ichhoffe, dass wir einen guten Weg gehen. Wir werden ihnfür einen weiterhin stabilen Arbeitsmarkt und eine gutewirtschaftliche Lage in Deutschland brauchen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der Sozialdemokra-tie! Sehr geehrte Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie ha-ben vielleicht etwas irritiert reagiert, als ich während Ih-rer Rede spontan klatschen musste, weil ich feststellte:Jawohl, die Dame hat recht. Das erste Drittel Ihrer Redekonnte ich voll und ganz unterschreiben. Dann habenaber leider die Qualität und Seriosität Ihrer Rede einbisschen nachgelassen.
– Sie hätten sich Redezeit geben lassen können, FrauKramme.Frau Lösekrug-Möller, Sie haben recht: Wir könnenvon Glück reden, dass wir zu Beginn der letzten Kriseengagiert und dynamisch – zugegeben auch mit einemgewissen Verdienst des damaligen Arbeitsministers OlafScholz – die Kurzarbeiterregelung von zunächst 6 auf18 Monate und dann auf 24 Monate verlängert haben.Damit hatten wir während der Krise das richtige Mittel,qualifizierte Arbeitsplätze in den Unternehmen zu hal-ten. Diese Maßnahme schuf Vertrauen sowohl für dieArbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer, die ihren Jobzwar behalten konnten und weniger verdient haben, abertrotzdem gewusst haben: Ich bin noch integriert. Ich binnoch im Unternehmen. – Das war richtig. Ich wünschtemir, dass ähnliche Modelle von anderen Ländern in Eu-ropa, die auf dem Arbeitsmarkt noch viel mehr Problemehaben als wir, ausprobiert würden. Es müsste geprüftwerden, ob es für Spanien, Portugal, für Griechenlandvielleicht infrage käme, ähnliche Methoden anzuwen-den.Liebe Frau Lösekrug-Möller, Sie hätten ehrlicher-weise dazusagen müssen, dass Olaf Scholz in der letztenLegislaturperiode – wir haben es beide hautnah erlebt –bei der ersten Verlängerung des Bezugs des Kurzarbei-tergeldes vorgeschlagen hat, Qualifizierung zur Voraus-setzung für die vom Kurzarbeitergeldbezug betroffenenMitarbeiter zu machen. Diesen Vorschlag haben wirnicht aufgegriffen, weil er nicht praktikabel war. DerWirtschaftseinbruch war in der Krise mit 5,1 Prozent soheftig, dass wir nicht noch einige Monate hätten qualifi-zieren können. Wir mussten es ad hoc gewähren. Einesist auch richtig: Wir haben damals sehr schnell reagiert.Ein großes Kompliment an alle an der Entscheidungsfin-dung beteiligten Parteien des Bundestages. Innerhalb ei-ner Woche haben wir die erste Lesung, die Ausschussan-hörung, die zweite Lesung und dann das endgültigeGesetz durch den Bundestag gebracht. Das heißt, wirsind kampagnenfähig. Wir sind in der Lage, auf eineVerschlechterung schnell zu reagieren.
Deshalb hat der Antrag der SPD völlig zu Recht dieÜberschrift: „Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreichmeistern – Kurzarbeitergeld unter erleichterten Bedin-gungen wieder einführen“. Es heißt aber: „KünftigeWirtschaftskrisen“. Wir müssen erst einmal schauen, wiesich das Ganze tatsächlich entwickelt.Außerdem darf ich Sie daran erinnern – Sie haben dasBonmot selbst vorweggenommen –, dass die unionsge-führte Bundesregierung durch die Verordnung über dieBezugsdauer für das Kurzarbeitergeld mit Wirkung zum14. Dezember 2012 – lange vor Ihrem Antrag vom14. Januar – die gesetzlich auf sechs Monate begrenzteBezugsdauer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 21. De-
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Paul Lehrieder
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zember 2013 entsteht, bereits auf zwölf Monate verlän-gert hat.Durch die Möglichkeit einer bis zu zwölfmonatigenBezugsdauer wird den Arbeitgebern die eingangs be-sprochene Planungssicherheit sowie die Möglichkeit ge-geben, kurzzeitige konjunkturelle Einbrüche zu überbrü-cken, ohne Mitarbeiter entlassen zu müssen. DieVerlängerung stellt eine Vorsichtsmaßnahme dar, um ei-nem möglichen wirtschaftlichen Abschwung wirksamentgegenzutreten.Das heißt aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass es um die konjunkturelle Lage in Deutschland soschlecht steht, wie Sie versuchen, es hier darzustellen.
Die schwarzen Wolken, die einige Kollegen der SPD– auch Sie, Frau Krellmann – hier an den Himmel proji-zieren wollen, kann ich bisher beim besten Willen nichterkennen. Im Gegenteil! Deutschland hat so wenig Ar-beitslose wie seit über 20 Jahren nicht mehr, zum großenTeil dank der christlich-liberalen Regierung, die diesesLand in den letzten drei Jahren genießen durfte.
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftig-ten war 2012 mit 41,5 Millionen Menschen so hoch wienie zuvor.
Das haben wir auch in der Großen Koalition nicht ge-schafft, Frau Lösekrug-Möller. Mit 2,897 Millionen Ar-beitslosen im Jahr 2012 ist das niedrige Niveau desBoomjahres 2011 sogar um 79 000 unterschritten wor-den. Die Arbeitslosenquote sank um 0,3 Prozentpunkteauf 6,8 Prozent. Bayern lag hierbei mit einer durch-schnittlichen Quote von 3,7 Prozent an der Spitze. Amliebsten verweise ich auf meinen Wahlkreis: Im Land-kreis Würzburg haben wir eine Arbeitslosenquote von2,6 Prozent. Da kann man schon so langsam von Vollbe-schäftigung sprechen.Selbstverständlich gehört es auch dazu, zu sagen, dassdie Dynamik auf dem Arbeitsmarkt gegen Ende des ver-gangenen Jahres abgenommen hat und erste Spuren ei-ner Konjunktureintrübung sichtbar werden. Das hängtteilweise mit den internationalen Exportchancen geradein Krisenländer im südlichen Europa zusammen. So ha-ben sich die infolge der Staatsschuldenkrise in Europasowie aufgrund der schlechteren konjunkturellen Pro-gnose anhaltende Verunsicherung und Zurückhaltung beiden Unternehmen vermehrt auf dem hiesigen Arbeits-markt bemerkbar gemacht.Allerdings warne ich davor, jetzt in Hysterie auszu-brechen; denn der Arbeitsmarkt stellt sich trotz der nach-lassenden wirtschaftlichen Dynamik nach wie vor äu-ßerst robust dar und rechtfertigt in keiner Weise – FrauKollegin Lösekrug-Möller, hören Sie mir zu! – diese Artvon Alarmstimmung, die Sie hier zu verbreiten versu-chen. Auch die Aussichten sind für Deutschland nochbei weitem besser als für viele andere Staaten in Europa.Für das Jahr 2013 ist nicht mit einem gravierenden An-stieg der Arbeitslosigkeit und einer Trendwende zumSchlechteren zu rechnen. Die vorliegenden Daten deutendarauf hin, dass der Arbeitsmarkt auch weiterhin robustreagiert und wir die Lage am Arbeitsmarkt sehr stabilhalten können.Die Zahl der Kurzarbeiter liegt trotz einer geringenZunahme noch im normalen Bereich, sodass es auch hierkeine Indikatoren gibt, die auf eine krisenhafte Entwick-lung hindeuten. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Kurzarbei-ter bei durchschnittlich 102 000, 2012 bei unter 100 000.Laut Prognose der Bundesagentur für Arbeit wird für2013 mit 180 000 Kurzarbeitern gerechnet. Nur zur Er-innerung: Zur Zeit der Wirtschaftskrise lag diese Zahlbei etwa 1,5 Millionen; das nur, um Ihnen die Relationenein wenig vor Augen zu führen. Das Bruttoinlandspro-dukt ist damals um 5 Prozentpunkte eingebrochen. Zur-zeit wird darüber diskutiert, ob es um 0,2 oder um0,3 Prozentpunkte sinkt. In der Zeit der Weltwirtschafts-krise lag dieser Wert bei 5,1 Prozent. Auch hier solltenSie sich die Relationen klarmachen.Die Präsidentin bittet mich, so langsam ans Ende zudenken. Ich glaube, das vor uns liegende Jahr wird fürdie deutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber von Segengeprägt sein, insbesondere wenn im September diechristlich-liberale Koalition in die Verlängerung geht.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen eine schöne Zeit.
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Lehrieder und andere vergessen im-mer die wichtigsten Akteure in diesem Zusammenhang:
die Betriebsräte und die Vertrauensleute im Betrieb. Siesind diejenigen, die die Probleme aufgreifen und die dieKurzarbeit und all die anderen Instrumente umsetzen,die hier diskutiert wurden. Sie sind in Krisenzeiten mitdie ersten auf der Matte, die etwas unternehmen können.Ihre Aufgabe ist es, Arbeits- und Ausbildungsbedin-gungen im Betrieb zu sichern. Sie brauchen dazu eineWerkzeugkiste, mit der sie sicher und zuverlässig arbei-ten können. Wichtigstes Werkzeug ist in dem Zusam-menhang der Umgang mit Arbeitszeit. Arbeitszeitkon-ten, Verkürzung und Verlängerung von Arbeitszeitstehen im Zentrum jeder betrieblichen Auseinanderset-zung. Kurzarbeit ist dabei ein Kernwerkzeug der Kolle-ginnen und Kollegen.
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Jutta Krellmann
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Wie erfolgreich dieses Instrument war, konnte man inder letzten Krise sehen. Daher ist es unverständlich,wieso man die erweiterte Kurzarbeitergesetzgebung ausder Krise 2009 nicht zu einer Dauereinrichtung macht.Unter diesem Gesichtspunkt finde ich den Antrag derSPD gut und richtig. Was ich aber in dem Antrag nichtgefunden habe, ist der Vorschlag bzw. die Forderung,auch Leiharbeitern den Bezug von Kurzarbeitergeld zuermöglichen. Haben Sie das übersehen? Haben Sie dasvergessen? Oder soll das gar nicht geregelt werden? Esist das ureigenste Unternehmerrisiko der Leiharbeitsfir-men, Arbeitsausfall aufzufangen. Leider können sie dasRisiko problemlos an ihre Beschäftigten weitergeben:Sie werden einfach entlassen. Die Linke fordert deshalb:Kurzarbeitergeld auch für Leiharbeitsbeschäftigte.
Die Kurzarbeit ist ein Instrument zur schnellen Re-aktion beim Eintritt einer Krise; es geht aber nicht an dieUrsachen. Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeitnimmt seit der Krise 2009 zum ersten Mal wieder zu.Der Grund liegt nicht zuletzt in der Europapolitik derKanzlerin. Der Fiskalpakt und die den KrisenländernEuropas verordnete radikale Sparpolitik haben zu einemdauerhaften Einbruch des Wachstums und der Nachfragein diesen Staaten geführt; die staatliche Schuldenkrisehaben sie damit nicht gelöst. Für diese Politik stimmtenleider auch die SPD und die Grünen. Die Linke hat alseinzige Partei diesen Kurs konsequent abgelehnt.Deutschland exportiert 60 Prozent seiner Produkte inLänder der EU. Jetzt wundern sich alle, wenn export-orientierte Firmen in Deutschland in die Krise geraten.Ihre Politik ist verantwortlich dafür.
Momentan freuen sich nur Banken über Ihre Politik; siemachen weiter leichtes Geld mit der Krise der Staatsfi-nanzen. Das muss ein Ende haben. Die Linke will die Fi-nanzmärkte strikt regulieren und Millionäre zur Kassebitten.
Die Linke fordert ein Ende der brutalen Sparpolitik imEuro-Raum und einen Marshallplan für Südeuropa. Nurso kommt die Wirtschaft wieder auf die Beine, sodasswichtige Investitionen getätigt werden können.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ver-schärft mit ihrer Politik die Krise, anstatt sie zu lösen.Die Verlängerung der Kurzarbeit ist absolut nötig. So er-halten die Beschäftigten und ihre Betriebe Planungssi-cherheit. Nur die Linke hat ein wirkliches Antikrisenpro-gramm: Wir spannen einen Rettungsschirm nicht nur fürdie Banken, sondern für die Menschen in Deutschlandund Europa. Wir wollen die Profiteure und Spekulantenzur Verantwortung ziehen. Wir machen Politik für dieMenschen.
Der Kollege Pascal Kober hat nun für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die derzeitige Arbeitsmarktsituation in Deutschland ist
sehr gut: Wir haben die höchste Erwerbstätigenzahl in
der Geschichte der Bundesrepublik und die geringste
Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Das ist in
erster Linie der Erfolg der vielen fleißigen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber. Aber es ist auch recht, dass wir vonseiten
der Regierungskoalition einmal darauf hinweisen, dass
das auch Ergebnis einer richtigen Politik ist.
Es wäre schön, wenn auch die Opposition das einmal
eingestehen könnte.
Frau Krellmann, Sie sagen, dass Sie Politik für die
Menschen machen wollen. Dann müssen Sie doch ein-
mal anerkennen, dass diese Regierung eine so erfolgrei-
che Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
– auch das sind Menschen – gemacht hat wie noch keine
in der Geschichte der Bundesrepublik.
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage oder eine Be-
merkung der Kollegin Lösekrug-Möller?
Ja, gerne.
Sehr geehrter Kollege Kober, Sie haben gerade dieErfolge Ihrer Politik auf dem Arbeitsmarkt hervorgeho-ben. Ich habe im Handelsblatt vom 12. Januar gelesen,dass Herr Weise schwere Bedenken hinsichtlich der Mit-telausstattung der BA hat, sofern sich die Krise ver-schärft oder unsere Wirtschaft in Schwierigkeitenkommt. Unter anderem sagt er – von Ihnen möchte ichwissen, ob Sie das auch so sehen –, dass er ein schweresJahr erwartet. Ich zitiere aus dem Handelsblatt:Im Jahresdurchschnitt dürfte die Arbeitslosigkeitaber nicht über die Drei-Millionen-Marke steigen.Ein wichtiger Grund dafür sei die schrumpfendeBevölkerungszahl.
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Gabriele Lösekrug-Möller
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Ist das Ihr politischer Erfolg? Habe ich das richtig ver-standen?
Frau Lösekrug-Möller, die schrumpfende Zahl derMenschen in unserem Land ist nicht das Ergebnis derPolitik dieser Regierung. Ganz im Gegenteil: Diese Re-gierung und die Koalitionsfraktionen machen viel fürFamilien mit Kindern und für die Kinderbetreuung, ge-rade um diesem Trend entgegenzuwirken.
Auch in anderen Bereichen ist diese Regierung so er-folgreich wie keine vor ihr. Deshalb, liebe FrauLösekrug-Möller: Wir sehen unsere Verantwortung undgehen die Herausforderungen entschieden an. – VielenDank.
Diese Regierung hat eine wachstumsfreundliche Poli-tik gemacht: gleich zu Beginn der Legislaturperiodebeispielsweise durch das Wachstumsbeschleunigungsge-setz, zuletzt jetzt am 1. Januar 2013 durch die Absen-kung der Rentenversicherungsbeiträge. Damit haben wirjeweils entscheidende Akzente gesetzt und Impulse ge-geben, damit die Wirtschaft auf Wachstumskurs kommtund bleiben kann. Das ist gute Politik im Sinne der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gut, viel besserals es in den Nachbarländern bedauerlicherweise festzu-stellen ist. Deutschland ist gut durch die Krisenjahre ge-kommen. Es hat besser die Folgen der Wirtschafts- undFinanzkrise verkraftet als vergleichbare Länder um unsherum. Das Wachstum, das wir hier zu verzeichnen ha-ben, ist alles andere als selbstverständlich.
Ein wesentlicher Grund dafür ist in der Tat das Instru-ment der Kurzarbeit, so wie wir es in der Wirtschafts-und Finanzkrise in Deutschland angewendet haben.Nicht umsonst schauen unsere europäischen Nachbarnund auch andere Länder weltweit auf dieses Erfolgsmo-dell und wollen es nun auch nachahmen.
Vor allem die Arbeitnehmer haben in der Krise Opfergebracht. Sie haben auf Gehalt verzichtet, um ihre Ar-beitsplätze zu sichern. Aber auch für die Unternehmerin-nen und Unternehmer ist die Kurzarbeit nicht kostenfrei.Insofern ist es eine gemeinsame Anstrengung von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern – auch wenn siegewerkschaftlich organisiert sind –, Arbeitgeberinnenund Arbeitgebern und der Politik, dass das gemeinsamgelungen ist.Ich habe bereits auf die Erfolge des Arbeitsmarkteshingewiesen, aber uns allen ist klar, dass das die momen-tane Situation ist. Jetzt komme ich auf das zurück, wasFrau Lösekrug-Möller gesagt hat: Die Erwartungen fürdieses Jahr signalisieren uns zwar weiterhin Wachstum,aber es gibt in der Tat auch Anzeichen, dass die ange-spannte Lage bei unseren europäischen Nachbarn auchbei uns zu Veränderungen führen könnte.Die Bundesagentur für Arbeit – Frau Lösekrug-Möller, darauf haben Sie sich in Ihrer Frage ja bezogen –geht davon aus, dass die Zahl der Kurzarbeiter in diesemJahr bei circa 200 000 Menschen liegen dürfte.
Das wären dann aber bei weitem noch nicht so viele wiebeim Höhepunkt im Mai 2009, als es 1,4 MillionenMenschen waren. Zudem sind dieses Jahr regionale undbranchenspezifische Unterschiede zu erwarten. So wirdder Schwerpunkt der Kurzarbeit voraussichtlich im ver-arbeitenden Gewerbe liegen, und sie wird besonders inNordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saar-land eingesetzt werden. Kurzarbeit wird kein deutsch-landweites Massenphänomen sein. Daher sehen wir auchkeinen akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Diebestehenden Gesetze und der Handlungsspielraum derBundesagentur für Arbeit sind derzeit ausreichend.Auf die Anzeichen, dass wir in diesem Jahr mit mehrKurzarbeit zu rechnen haben, hat diese Bundesregierungschnell und unkompliziert reagiert. Bundeswirtschafts-minister Philipp Rösler und BundesarbeitsministerinUrsula von der Leyen haben sich Anfang Dezember2012 darauf verständigt, dass das Kurzarbeitergeld stattwie bisher sechs Monate künftig zwölf Monate ausbe-zahlt werden kann. Das zeigt einmal mehr: Die Bundes-regierung kann handeln, wenn es nötig ist. Sie tut es undhat die Grundlage dafür gelegt, dass in Zukunft flexibelund schnell gehandelt werden kann, wenn die Situationauf dem Arbeitsmarkt dies erfordert. Weitergehende For-derungen, wie sie auch der Antrag der SPD beinhaltet,halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für eindeutig verfrüht.Wir sollten mögliche Probleme oder eine Krise nichtherbeireden, Frau Lösekrug-Möller.
Da im Bereich Wirtschaft vieles Psychologie ist, soll-ten wir die notwendigen Schritte dann ergreifen, wennder Zeitpunkt dafür gekommen ist, und nicht voreiligüber möglicherweise in der Zukunft auftretende Pro-bleme reden, die wir jetzt noch nicht haben und die nachder derzeitigen Lage auch nicht wahrscheinlich sind.Jetzt zitiere ich Frank-Jürgen Weise, den Chef der Bun-desagentur für Arbeit. Er sagte:Die gefühlten Risiken auf dem Arbeitsmarkt sindgrößer als die tatsächlichen.Ich glaube, an diesen Satz sollten wir uns halten. DiesenSatz sollten wir uns immer wieder bewusst machen undim Kopf behalten, wenn wir hier und heute über Verän-
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Pascal Kober
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derungen im Bereich der Kurzarbeit sprechen. Politiksollte weniger von Gefühlen geleitet sein, sondern mehrvon der Realität und den Fakten.Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie könnensich darauf verlassen, dass wir das Thema Kurzarbeitund Kurzarbeitergeld auf dem Schirm haben. Die Vor-schläge, die Sie in Ihrem Antrag machen, haben wirdurch Regierungshandeln zum Teil bereits erledigt.
Ich glaube, wir sind in der Lage, kurzfristig auf Verände-rungen auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. Wie immerwerden wir die Probleme der Menschen angehen und dasGute und das Richtige für sie entscheiden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKober, Sie haben es schon vorsichtig angedeutet: DieLage auf dem Arbeitsmarkt trübt sich ein; die Wirt-schaftsleistung schrumpft; Sie haben ja heute sogar Ihreeigene Wachstumsprognose von 1 Prozent auf 0,4 Pro-zent nach unten korrigiert.Natürlich ist es so, dass die Nachfrage nach Arbeits-kräften zurückgegangen ist. Daraus resultierend ist dieArbeitslosigkeit gestiegen, und die Unternehmen meldenzunehmend Kurzarbeit an. Mit anderen Worten: Die fet-ten Jahre sind vorbei. Ich will das hier gar nicht dramati-sieren.
Ich will der Regierung auch gar nicht die alleinigeSchuld dafür zuweisen. Was ich Ihnen allerdings vor-werfe, ist, dass Sie diese guten Zeiten nicht genutzt ha-ben, um Vorsorge für schlechtere Zeiten, die absehbarwaren, zu treffen.
Sie haben sich nicht nur auf der guten Arbeitsmarktlageausgeruht,
sondern Sie haben in dieser Zeit auch die Kassen der BAwirklich gnadenlos geplündert.
Ende 2010 wurde die Rücklage aus der Insolvenz-geldumlage einfach einkassiert. Für die BA bedeutetedas ein Minus von 1 Milliarde Euro. Dann wurden dieKosten für die Grundsicherung im Alter einfach derBundesagentur übertragen: für das Jahr 2012 1,2 Milliar-den Euro, für das Jahr 2013 2,6 Milliarden Euro. Undjetzt wird die Beteiligung des Bundes an den Kosten derArbeitsförderung gänzlich gestrichen. Ich gebe zu: ImGegenzug wird auch der Eingliederungsbeitrag zurück-genommen. Es bleibt aber ein Minus für die Bundes-agentur für Arbeit in Höhe von 2 Milliarden Euro.Meine Damen und Herren, Frau Lösekrug-Möller, dasist das eigentliche Problem:
Wir sind schlecht vorbereitet auf die Ausweitung vonKurzarbeit. Sollte die Kurzarbeit ausgeweitet werdenmüssen – das ist absehbar –,
wird das auf Pump geschehen. Herr Kober, genau dashat uns Herr Weise im Ausschuss noch einmal deutlichgesagt. Die Bundesagentur für Arbeit wäre nicht in derLage, eine Ausweitung von Kurzarbeit zu finanzieren.Dass wir in diesem Haus gemeinsam für die Kurzar-beiterregelung sind, haben die Wortbeiträge deutlich ge-macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koali-tionsfraktionen, es gibt in diesem Zusammenhang aberein Alleinstellungsmerkmal: Hier liegt ein Antrag derSPD vor, der Ihnen als Regierung die Möglichkeit eröff-nen will, eigenständig zu entscheiden, wie Sie mit derKurzarbeit umgehen wollen.
Wir übertragen Ihnen Kompetenzen. Sie müssen sienicht nutzen. Wie sie es ausgestaltet, ist dann allein Sa-che der Regierung. Sie erschrecken sich zu Tode
und sagen: Auf gar keinen Fall, wir wollen diese Kom-petenzen nicht haben. – Meine Damen und Herren, dasist schon ein Kuriosum, das Ihnen, glaube ich, so schnellkeiner nachmacht.
Allerdings will ich Ihnen sagen, dass ich den Antragder SPD-Fraktion gerade in dieser Situation für notwen-dig und richtig halte: Erstens, weil sich die Wirtschafts-krise verschärfen und sich die Arbeitsmarktlage ziemlichschnell verändern kann. Das lässt sich im Moment nichtwirklich kalkulieren. Der zweite Grund ist, dass wir indiesem Jahr Neuwahlen haben und das neugewählte Par-lament erst im Herbst zusammentreten wird. Deswegenmacht es Sinn, dass wir jetzt diese Möglichkeit eröffnen.
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Brigitte Pothmer
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Wir übertragen Ihnen Kompetenzen, wir wollen dieseMöglichkeit schaffen. Ich finde es bedauerlich, dass Siedie Verantwortung nicht übernehmen wollen.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! GesternAbend kam der Antrag, den wir heute auf der Tagesord-nung haben und debattieren. Normalerweise bin ich sehrfür Just-in-time-Produktionen, aber da hätte mir ein we-nig Vorlauf schon sehr gut gefallen.
Also habe ich gestern Abend den Antrag gelesen und binschon am Anfang etwas stutzig geworden. Dort steht:„Künftige Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern“. Dareibt sich der Beobachter verwundert die Augen undfragt: Welche Krise? Wir haben keine Krise, und es istauch keine Krise in Sicht. Im Gegenteil, wir haben her-vorragende Wirtschaftsdaten.
Meine Damen und Herren, als Opposition würde ichda auch nervös werden. Die Wirtschaftsdaten sind posi-tiv, sind robust. Im nächsten halben Jahr wird nach Ein-schätzung vieler Beobachter die Euro-Zone auch wiederaus der Krise herauskommen; so jedenfalls die Weltbankund die Ratingagentur Fitch. Das kommt uns entgegen,das hilft uns zusätzlich, was die Exporte angeht. Es gibtfür 2013 gute Aussichten. Sie hingegen schwadronierenüber eine mögliche Krise. Das ist ein wenig so, als obSie in den Sommerurlaub nach Mallorca eine Skiausrüs-tung mitnehmen: Es könnte ja schneien.
Kommen wir zum inhaltlichen Kern: Kurzarbeit istein geeignetes arbeitsmarktpolitisches Instrument, umexzessive Entlassungen bei temporärer Konjunktur-schwäche zu überbrücken. Das haben wir in der GroßenKoalition getan, und es war richtig. Es war aber auchrichtig, das Programm auslaufen zu lassen. Wirtschaftbesteht – Herr Kollege Kober hat darauf hingewiesen –zu einem hohen Anteil aus Psychologie. Wir habendurch die Beendigung des Programms das Zeichen gege-ben: Die Krise ist beendet. Deswegen wäre es auchfalsch gewesen, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, hier ei-ner Verstetigung das Wort zu reden.
Kurzarbeit kann und darf stets nur eine Brücke für ei-nen vorübergehenden Arbeitsausfall sein. Sie ist ein In-strument unter vielen. Frau Kollegin Krellmann hat ei-nen Instrumentenkasten erwähnt. Bei ihrer Rede hatteman den Eindruck, sie habe nur den Hammer als Instru-ment übrig. Die Sichel ist Ihnen ja abhanden gekommen.
Für jemanden, der nur einen Hammer hat – das hat IhreRede gezeigt, Frau Kollegin Krellmann –, sehen in derTat alle Probleme wie Nägel aus.
Meine Damen und Herren, die Vorschläge für das er-neute Aufgreifen von Sonderregelungen in der Kurzar-beit würden zu einer Verschiebung der Kostenlast beiKurzarbeit von der Arbeitgeberseite auf die Versicher-ten- und Beitragsgemeinschaft führen. Die bestehendeRisikoabgrenzung bei normalen Konjunkturverläufenhat sich über Jahrzehnte bewährt. Sie sollte nur im Kri-senfall maßgeschneidert auf die dann vorliegenden Ver-hältnisse angepasst werden.Es war also richtig, das Kurzarbeitergeld wieder aufsechs Monate zurückzunehmen, um Vertrauen zu schaf-fen und zu bestätigen. Mittlerweile haben wir es mit ei-nem sehr stabilen Arbeitsmarkt zu tun. Der KollegeLehrieder hat dazu ja eine ganze Reihe von Zahlen ge-nannt.
Nein, Frau Lösekrug-Möller, Ihrem Antrag merktman an, dass Wahlen bevorstehen. Ich hatte eben gesagt:Wirtschaft besteht zu einem großen Teil aus Psycholo-gie. Das bedeutet aber auch, dass wir die psychologi-schen Auswirkungen dessen bedenken müssen, was wirhier tun.Verehrte Frau Pothmer, die fetten Jahre sind nichtvorbei. Sie versuchen, eine Krise herbeizureden, die esnicht gibt. Das mag Wasser auf Ihre dürstenden Wahl-kampfmühlen sein, aber es ist unverantwortlich undsachlich falsch.
Sie versuchen, das schlechtzureden, was Arbeitgeberund Arbeitnehmer mit Unterstützung der christlich-libe-ralen Koalition in den letzten Jahren erreicht haben.Es gibt eigentlich nur eine Entschuldigung für denUnfug, den Sie mit Ihrem Antrag präsentieren. Sie schei-nen allen Ernstes davon auszugehen, am Ende des Jahres2013 tatsächlich die Regierung stellen zu können. Dannallerdings wäre das, was Sie vorschlagen, tatsächlichnotwendig. Davon überzeugt schon ein kurzer Blick inIhre Forderungen zur Wahl.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26711
(C)
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Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Krellmann?
Nein, ich führe meine Rede jetzt zu Ende. Danke.
Sie haben ein formidables Wachstumsvernichtungs-
programm, ein mutiges Programm zur Reduzierung von
Arbeitsplätzen. Zumindest insofern sind Sie ehrlich: Sie
bemühen sich, für die Folgen Ihrer Politikplanung schon
jetzt prophylaktisch das Gegenmittel bereitzustellen, das
Heftpflaster für die Wunden, die Sie der deutschen Wirt-
schaft schlagen wollen.
Insofern können wir dankbar für Ihren Antrag sein. Er
zeigt uns, wie nahe etwas, das furchtbar einfach daher-
kommt, letztlich einfach furchtbar ist.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12055 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie
– Drucksache 17/11670 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie
– Drucksache 17/8721 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marcus Weinberg für die Unionsfraktion.
Auch wenn einige dieser spannenden Debatte nicht
mehr folgen können, bitte ich doch trotzdem, die not-
wendige Aufmerksamkeit zu gewährleisten. – Bitte,
Kollege Weinberg.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass esin diesem Plenum Kolleginnen und Kollegen gibt, diedieser wichtigen Debatte nicht lauschen wollen, zumalwir jetzt nach der Schärfe in der Debatte zum Kurzarbei-tergeld zu einem wichtigen Einvernehmen kommen,nämlich zu einem kleinen Geburtstag: dem 10. Geburts-tag der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-republik Deutschland.Mit dem Fortschrittsbericht 2012 hat die Bundesre-gierung jetzt zum dritten Mal diese nationale Nachhal-tigkeitsstrategie fortgeschrieben. Dabei ist, glaube ich,eines von entscheidender Bedeutung: Nachhaltigkeit lebtvon Kontinuität. Deswegen ist es für uns im Beirat im-mer wichtig gewesen, dass wir über den Tellerrandschauen, dass wir von der Farbenlehre wegkommen unduns Gedanken machen, wie wir in den nächsten Jahrenund Jahrzehnten, auch mit Blick auf 2050, die Nachhal-tigkeitsstrategie im Sinne der kommenden Generationenentwickeln.Ich möchte aus meiner Sicht drei, vier wesentlichePunkte, Änderungen und Kommentierungen des Beira-tes darstellen.Änderungen ergeben sich dort, wo es gilt, neue the-matische Schwerpunkte zu setzen oder die Schärfe derNachhaltigkeitsstrategie durch Veränderung der Zielvor-gaben nachzujustieren. Einige Änderungen der nationa-len Nachhaltigkeitsstrategie sind durchaus gelungen, beianderen sind wir, um es vorsichtig zu formulieren, in derPhase der Überprüfung; denn wir müssen uns immer fra-gen, inwieweit eine Änderung tatsächlich einen Fort-schritt darstellt.Ich komme zu den Änderungen mit Verbesserung derZielschärfe. Gelungen ist zum Beispiel die Änderung bei
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26712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Marcus Weinberg
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einem Indikator, der uns allen sehr bekannt ist, beim be-rühmten – für einige berüchtigten – Indikator 15, näm-lich Kriminalität. Hier wurden unser Flehen und Bittenerhöhrt, nicht vom lieben Herrgott, aber von der Bundes-regierung – das hat in weiten Teilen ja eine gewisse Ähn-lichkeit. Wir als Beirat haben jedenfalls in Stellungnah-men immer wieder gefordert, diesen Indikator neu zujustieren. Mit der Ausrichtung auf Straftaten insgesamtwird der Fokus des Indikators erheblich vergrößert, ohneaber – auch das ist von elementarer Bedeutung – dass diespeziellen Aspekte aus den Augen verloren werden.
Die Änderung des Indikators 15, über die lange disku-tiert wurde, ist also ein Beispiel für eine gute und sinn-volle Verbesserung. Hier erwartet der ParlamentarischeBeirat für nachhaltige Entwicklung bei der Weiterent-wicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zumJahr 2016 auch bei anderen Indikatoren eine sinnvolleOptimierung, beispielsweise bei der Darstellung früh-kindlicher Kompetenzen; das ist gerade für junge Eltern,für junge Mütter und Väter, von großer Bedeutung.Schwierigkeiten bei der vertikalen Integration sind dabeinicht zwingend als Hinderungsgrund ersichtlich. Unab-hängig von der Frage nach einer Änderung der Indikato-ren enthält die nationale Nachhaltigkeitsstrategie bereitsjetzt Indikatoren, für die der Bund nicht zuständig ist,weshalb er auf die Unterstützung der Länder angewiesenist. Ich glaube, das ist eine Grundproblematik, der wiruns stellen müssen. Der Bund übernimmt seine Verant-wortung.Ich will jetzt keine Länderschelte betreiben. Aber hierund da hat man den Eindruck, dass das eine oder andereBundesland beim Thema Nachhaltigkeit und bei der Be-teiligung der Parlamente noch etwas ambitionierter seinkönnte. Ich glaube, hier müssen wir noch auf die Ländereinwirken.Ich komme zu den Änderungen mit Ausweitung desZiel- und Zeithorizontes. Gelungen ist die Weiterent-wicklung der Zielvorgaben für einzelne Indikatoren, sozum Beispiel beim Indikator 1, der Ressourcenscho-nung. Damit setzt die Bundesregierung eine Forderungaus dem im Jahr 2009 durchgeführten Peer Review derdeutschen Nachhaltigkeitsstrategie um. Die Ausweitungdes Zeithorizonts auf 2050 muss mit der Vorlage desFortschrittsberichts 2016 konsequent fortgesetzt werden;denn letztendlich müssen die Weichen zur Zielerrei-chung bereits viel früher gestellt werden. Je eher dieZielvorgaben für das Jahr 2050 bekannt sind, umso eherkann die Zielerreichung angegangen werden. Es gibt ausunserer Sicht also viel Lob; aber wir sehen auch Ziele,die noch zu erreichen sind, und teilweise nicht gelun-gene Zieländerungen.Weniger hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dassbei zwei Indikatoren die Zielvorgaben aus demJahre 2010 einfach auf das Jahr 2020 gestreckt wordensind. Dies betrifft die privaten und öffentlichen Ausga-ben für Forschung und Entwicklung ebenso wie die Zahlder 18- bis 24-Jährigen ohne Abschluss.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung bedauert, dass im Fortschrittsbericht 2012 die ur-sprünglichen Ziele für das Jahr 2010 in das Jahr 2020verschoben worden sind.
– Punktueller Applaus unterstützt diese Aussage. – Dahilft es aus unserer Sicht wenig, dass wir uns bemühen,hier die Strategie „Europa 2020“ heranzuziehen. Geradediese beiden Indikatoren sind, was den Bildungsbereichangeht, aus unserer Sicht von elementarer Bedeutung.An dieser Stelle möchte ich ein kleines Lob, das sichauf ein anderes Politikfeld bezieht, aussprechen. Wennman im Bereich Bildung und Forschung so erfolgreichist wie diese Bundesregierung, dann muss man auch dieKonsequenzen ziehen. Das heißt, dass wir die Ziele derNachhaltigkeit auch im Bildungsbereich verändern müs-sen. Wir haben 12 Milliarden Euro mehr für Bildung undForschung ausgegeben. Solche Veränderungen müssensich im Bildungsbereich deutlich widerspiegeln. Inso-fern kann man, wie ich glaube, auch etwas mehr verlan-gen.Lassen Sie mich abschließend auf einen Indikator ein-gehen, der uns sicherlich auch in den kommenden Jahrenintensiv beschäftigen wird: auf die Flächeninanspruch-nahme bzw. den – so heißt der Indikator – „Anstieg derSiedlungs- und Verkehrsflächen“. Der Zuwachs an Sied-lungs- und Verkehrsflächen lag im Jahr 2010 bei87 Hektar pro Tag; der Trend hat sich also erkennbar ab-geschwächt. Aber ich erinnere daran: Das angestrebteZiel war ursprünglich ein Zuwachs um 30 Hektar proTag. Daran muss weiterhin ambitioniert gearbeitet wer-den. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, dieMöglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, stärkerzu nutzen.
Zum Schluss des kleinen Geburtstages bzw. des zehn-jährigen Bestehens der Nachhaltigkeitsstrategie möchteich einen Dank an die Kolleginnen und Kollegen aus-sprechen. Wir haben es in mehreren doch sehr diskus-sionswürdigen Runden gemeinsam geschafft, das zu for-mulieren, was uns wichtig ist. Die Kolleginnen undKollegen haben über den Tellerrand hinaus geschaut unddie Farbenlehre außer Acht gelassen, um die Nachhaltig-keitsstrategie langfristig weiterzuentwickeln.
Dieser Dank gilt nicht nur den Kolleginnen und Kolle-gen, sondern auch – ich möchte an dieser Stelle betonen,dass viel Vorarbeit geleistet wurde – den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern. Außerdem – auch das erfreutuns – gibt es kein einziges Sondervotum. Auch das be-stärkt uns in dem Bemühen, weiterhin gemeinsam in die-sem Beirat zu arbeiten.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26713
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Die Kollegin Ulrike Gottschalck hat nun für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Dem, was Herr Weinberg ausgeführt hat, kannich mich in vielen Bereichen anschließen.Aber ich frage mich immer wieder – wahrscheinlichgeht es Ihnen ähnlich –: Fortschritt und nachhaltigesHandeln, nehmen wir das eigentlich ernst genug?
Ich habe den Eindruck, dass Nachhaltigkeit mittlerweileeine reine Worthülse ist und als inhaltsarmes Schlagwortbenutzt wird.Unter einem Fortschrittsbericht kann sich der und dieEinzelne dementsprechend ziemlich viel oder ebenziemlich wenig vorstellen. Positiv ist festzustellen, dasswir seit rund zehn Jahren überhaupt eine nationale Nach-haltigkeitsstrategie haben und diese regelmäßig fort-schreiben. Positiv ist auch, dass das wichtige ThemaNachhaltigkeit – mit all seinen Facetten: von Generatio-nengerechtigkeit über Umwelt und Lebensqualität bishin zum sozialen Zusammenhalt in unserer Gesell-schaft – heute auf der Tagesordnung steht. Gut ist so einBericht auch, weil wir immer wieder kritisch hinterfra-gen müssen, welche Fortschritte es in der nationalenNachhaltigkeitsstrategie gibt oder welche es nicht gibt.Ein Zurücklehnen darf es nicht geben – das sind wirschon den zukünftigen Generationen schuldig.
Dank des Statistischen Bundesamtes können wir Erfolgeoder – leider auch – Versagen der deutschen Nachhaltig-keitsstrategie anhand von Indikatoren, die sehr plakativ,nämlich durch Wettersymbole, dargestellt werden, mes-sen und bewerten.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung hat den Bericht rund ein halbes Jahr gründlich ge-prüft. Herr Weinberg hat es eben schon gesagt: Die Be-richterstatterinnen und Berichterstatter haben teilweiseStunden um einzelne Worte gerungen, um einen partei-übergreifenden Konsens zu erzielen.Auch von meiner Seite geht deshalb ein großer Dankan die Kolleginnen und Kollegen, aber auch an die Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter; denn das war schon einStückchen Arbeit. Wir haben das sehr ernst genommen,und ich denke, der Bericht ist uns gut gelungen.
Mit unserer Unterrichtung geben wir der Bundesre-gierung wertvolle Hinweise. Wir erwarten, dass auf Re-gierungsseite nicht nur schöne Worte, sondern auch Ta-ten folgen.
Aus unserer Sicht ist es beispielsweise wenig nach-haltig, Zielwerte für Indikatoren nach unten zu korrigie-ren. Auch da gebe ich meinem Vorredner recht: Wirbrauchen für Deutschland ambitionierte Ziele.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich insbeson-dere um diejenigen Bereiche zu kümmern, bei denennachweislich Gewitterstimmung herrscht. Als Beispieleseien hier die Artenvielfalt, die Landschaftsqualität, dieIntensität des Gütertransports und der Verdienstabstandzwischen Männern und Frauen in unserem Land ge-nannt. Es ist ein Skandal, dass Frauen immer noch23 Prozent weniger Lohn erhalten. Das können wir unszukünftig nicht mehr erlauben.
Weiterhin erwarten wir – da besteht überparteilichEinstimmigkeit –, dass das Megathema „demografischerWandel“, das uns in der Zukunft sehr beschäftigen wird,im nächsten Fortschrittsbericht mehr Beachtung findet.Des Weiteren wünschen wir uns und erwarten wir,dass alle Ministerien ihre Gesetzesinitiativen ernsthaftauf Nachhaltigkeit prüfen. Der Vorsitzende unseres Par-lamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklungschreibt die Ministerien regelmäßig an und reklamiertauch einmal. Er wird mir sicherlich recht geben, dass esin einigen Ministerien, vorsichtig formuliert, durchausnoch Optimierungsmöglichkeiten gibt.
Überparteilich ist es uns außerdem ein großes Anlie-gen, dass es beim Thema Nachhaltigkeit endlich zu einerbesseren Verzahnung zwischen Bund und Ländernkommt.Der Beirat richtet sein Augenmerk aber auch auf dieZivilgesellschaft und die Unternehmen. So sollen dieVerbraucherinnen und Verbraucher immer wissen, wiees mit der Nachhaltigkeit in den Produktions- und Lie-ferketten ihres Wunschartikels aussieht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Fortschrittund Nachhaltigkeit dürfen nicht zu schönen Worthülsenverkommen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dasszukünftig noch mehr Trends in Richtung Sonne zeigen.Dazu muss die Bundesregierung den Fortschrittsberichternst nehmen. Vielleicht müsste er auch hier etwas bes-ser auf der Tagesordnung platziert werden – wobei dasimmer schwierig ist; das wissen wir alle.Wir alle müssen jenseits von Allgemeinplätzen über-parteilich an einer zukunftsfesten Ausgestaltung nach-haltiger Politik für die Menschen in Deutschland arbei-ten.
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26714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Ulrike Gottschalck
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(B)
Das erhoffe und wünsche ich mir, und ich gehe davonaus, dass wir in diesem Punkt jedenfalls in dieser Runde,die heute Abend hier vertreten ist, auch einen Konsenshaben.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutegab es in der Presse eine positive Nachricht: Zum erstenMal seit 2007 gab es im letzten Jahr wieder einen Über-schuss in den öffentlichen Kassen in Deutschland. Daszeigt, dass der Indikator, der in der nationalen Nachhal-tigkeitsstrategie noch mit Wolken dargestellt wurde, auf-grund der sehr positiven Wirtschafts- und Finanzpolitikdieser Bundesregierung inzwischen auf einem richtigenund guten Weg ist.
Durch die Überschüsse in den Sozialversicherungenwurde die Mangelverwaltung abgelöst. Die Pflegeversi-cherung wurde durch die private Vorsorge zukunftsfähi-ger gemacht. Und die Energiewende ist auf einem gutenWeg. Der Fortschrittsbericht weist für die erneuerbarenEnergien noch einen Anteil von 17 Prozent an derStromerzeugung aus; inzwischen sind wir bei etwa ei-nem Viertel Ökostrom. Bei der Energiewende kommenwir ebenso voran wie beim Klimaschutz, wo wir im Jahr2010 die in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ge-setzten Ziele übertroffen haben.Das sind positive Beispiele für die nachhaltige Ent-wicklung in Deutschland in dieser Wahlperiode.
Es gibt aber eben auch negative Punkte, denen wiruns in nächster Zeit verstärkt widmen müssen.Ein Thema ist die schon angesprochene Flächeninan-spruchnahme. Wir diskutieren seit Jahren darüber, ei-gentlich seitdem es diese Nachhaltigkeitsstrategie gibt.Bewegt hat sich aber eigentlich nichts; das muss manganz deutlich sagen.
Es gibt Schwankungen, aber die sind nur konjunkturellbedingt.Das hängt auch damit zusammen, dass wir uns bisherparteiübergreifend gescheut haben, hier über die Gren-zen der staatlichen Ebenen hinweg – Kommunen, Län-der und Bund – wirklich ein Gesamtkonzept zu entwi-ckeln. Bei der Flächeninanspruchnahme werden wir abernur dann erfolgreich sein, wenn Bund, Länder und Kom-munen zusammenarbeiten und es eben nicht einen Wett-bewerb der einen Kommune mit der nächsten um nochein Gewerbegebiet gibt, das brachliegt, nachdem allesplaniert worden ist. Dieser Entwicklung müssen wir unsin der nächsten Wahlperiode widmen.
Ein weiteres Thema, bei dem ich große Sorgen habe,ist die Entwicklung des Indikators zur Artenvielfalt. Dasbetrifft sowohl die weltweite Entwicklung als auch dieEntwicklung in Europa und in Deutschland. Wir habenin den vergangenen Jahren für erste Ansatzpunkte ge-sorgt, indem wir das Bundesprogramm „BiologischeVielfalt“ aufgelegt und das Bundesprogramm zur Wie-dervernetzung von Lebensräumen gestartet haben, umdie Zerschneidung von Lebensräumen zu verringern.
Das ist aber offenkundig noch nicht genug. Deshalbmüssen wir auf diesem Weg weitermachen – genausowie in der Fischereipolitik. Für die Reform in diesemBereich hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergrei-fend ein sehr positives Inputpapier in Europa geliefert.Das ist aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstangein diesem Politikbereich.
Ebenfalls verbesserungsfähig ist der Bereich Gesund-heitsprävention. Das erkennt man, wenn man sich denIndikator in Bezug auf Menschen mit Fettleibigkeit an-sieht. Fortschritte gibt es dagegen beim Indikator, der dieRaucherquote abbildet. In den Bereichen Ernährung undBewegung haben wir die Trendwende zu einem längerengesunden Leben aber offensichtlich noch nicht geschafft.
Generell positiv ist – hier möchte ich die Bundesre-gierung ausdrücklich loben –, dass diese Bundesregie-rung nach zweimaligem Anmahnen des Indikators end-lich dem Drängen des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung nachgekommen ist, indem derIndikator für die Kriminalität so umgestaltet wurde, dasser jetzt tatsächlich nicht mehr nur die Eigentumsdelikte,sondern eine größere Palette von Straftaten abbildet. Ichglaube, so ist es eher ein Indikator für wirklichen gesell-schaftlichen Zusammenhalt im Bereich der inneren Si-cherheit.
Ich möchte eine deutliche Kritik auch an diesem Hausselbst äußern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26715
Michael Kauch
(C)
(B)
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir eineGenerationenbilanzierung in die Nachhaltigkeitsprü-fung für die jeweilige Gesetzesfolgenabschätzung ein-führen wollen. Dies ist bisher zwar vom Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung unterstütztworden, aber es gibt dafür bisher noch keine Mehrheitim Deutschen Bundestag. Ich glaube, es ist an der Zeit,die noch verbleibenden Monate dieser Wahlperiode zunutzen, um dieses Projekt endlich in die Praxis umzuset-zen. Ja, es kostet etwas Geld für Personal hier im Parla-ment; ja, es kann das eine oder andere Vorhaben etwasverzögern; aber wir gewinnen erheblich an Transparenzbei den Dingen, über die wir hier entscheiden, wenn wirdieses Instrument für die Fragen der Finanz- und Sozial-politik endlich einführen würden. Das wäre ein Fort-schritt, den wir uns auch etwas kosten lassen sollten.
Meine Damen und Herren, die Nachhaltigkeitsprü-fung durch die Bundesregierung, aber auch durch denBundestag ist oft doch sehr formalistisch. Wir schauen,ob das Ministerium etwas zur Nachhaltigkeit gesagt hat;aber es gibt einige Häuser, bei denen man den Eindruckhat, dass dort immer die gleichen Textbausteine in dieGesetzesfolgenabschätzung hineingeschrieben werdenund man sich nicht wirklich damit beschäftigt hat.Ich glaube, wir sollten in der nächsten Wahlperiodedazu kommen, dass wir im Parlament nicht nur die for-melle Nachhaltigkeitsprüfung diskutieren, sondern auchdie Inhalte,
und dass sich die Fachausschüsse auch mehr mit den Er-gebnissen dieser Nachhaltigkeitsprüfung beschäftigen.Abschließend möchte ich aber auch einige positiveBeispiele im Bereich der Nachhaltigkeitsprüfung hervor-heben. Das Bundesumweltministerium ist inzwischen,glaube ich, bei fast allen Vorhaben mit der Nachhaltig-keitsprüfung so umgegangen, dass wir hier auch sub-stanziell etwas erkennen können. Die Bundesjustizmi-nisterin hat jetzt auf unsere Kritik hin im Haus eineabteilungsübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt, umauch in einem Politikfeld, das vermeintlich nicht so nahan der Nachhaltigkeitspolitik ist, die Nachhaltigkeitsprü-fung zu verbessern. Das sollte auch für alle anderen Res-sorts Ansporn sein.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Dittrich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Der heute zu beratende Fortschrittsbericht zur Nachhal-tigkeitsstrategie kommt genau richtig, denn das Jahr2013 ist das Jahr der Gebrüder Grimm: 200 Jahre Mär-chen.
Die Lektüre dieses Berichts ist zwar nicht so span-nend wie die Märchen der Gebrüder Grimm; aber kaumweniger märchenhaft ist doch die Zauberformel von derNachhaltigkeit. Wir leben in einer heilen Welt, möchteman bei der Lektüre meinen.
Es geht um blumige Begriffe wie Generationengerech-tigkeit, sozialer Zusammenhalt und internationale Ver-antwortung. Alles zusammengenommen sei das Ganzedann Nachhaltigkeit, ein Verkaufsschlager für große Fir-men auf internationalen Finanzmärkten.So, wie Rotkäppchen durch den Wald ging, um aufden bösen Wolf zu treffen, lassen Sie mich am Beispieldes Waldes den Begriff erklären, der der SPD doch nichtso klar war:Nachhaltigkeit ist seit dem 18. Jh. als eine Regelder Forstwirtschaft aufgekommen und bedeutethier, dass auf einer bestimmten Forstfläche demWald in einem bestimmten Zeitraum nicht mehrHolz entnommen werden darf, als gleichzeitignachwächst. … Seit dem Bericht der Brundtland-Kommission der UN von 1987 wird der BegriffNachhaltigkeit zur Kennzeichnung einer gesell-schaftlichen Entwicklung gebraucht,– das ist auch die Grundlage dieses Berichtes –in der – weltweit – den Bedürfnissen der gegenwär-tigen Generationen Rechnung getragen wird, ohnedie Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden,ihren eigenen Bedürfnissen zu entsprechen.Das können Sie bei Professor Karl Hermann Tjaden,Ökonomieprofessor in Kassel, nachlesen.Die Bundesregierung feiert den Höchststand der Be-schäftigung mit 41,5 Millionen Menschen – das habenwir gerade gehört – als nachhaltige Teilhabe. Aber dieprekär Beschäftigten sind trotz Arbeit arm. Das ist nichtdie Nachhaltigkeit, die wir meinen.
Oder nehmen wir den Maßstab der internationalenVerantwortung in dem Bericht. Dafür, dass die Unter-nehmen in Deutschland mit Dumpinglöhnen und Export-überschuss die Wirtschaft schwächerer Länder in denRuin treiben, brauchen wir nicht nach Afrika zu schauen.Dafür reicht ein kurzer Blick nach Griechenland undSpanien.Wer hat die Agenda 2010 erfunden? SPD und Grüne.Wer setzt sie nachhaltig fort? CDU/CSU und FDP.
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26716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Heidrun Dittrich
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Nachhaltigkeit ist in diesem Wirtschaftssystem mit im-mer mehr Profit und mit immer mehr Waren in kurzerZeit nicht möglich.
Die Zwecke der Produktion sind vom Gewinnstreben ei-ner kleinen uneinsichtigen Minderheit, den Kapitaleig-nern, gesetzt.
Die großen Unternehmen diktieren mit den Finanzhaien,was, wie viel und für wen hergestellt wird. Oberstes Ziel– das ist nicht zu vergessen – ist mehr Gewinn. Das Wis-sen der Umweltinitiativen und aktiven Bürger geht nurüber Proteste in die Köpfe, aber die Anerkennung in derGesellschaft hat nicht zu einer vernünftigen Umsetzunggeführt. Der Mensch existiert als belebter Teil der Natur,und die Erde ist endlich. Wird mit dieser Produktions-weise die Umwelt zerstört, so zerstören die Kapitalbesit-zer damit auch die Grundlagen des Lebens für Menschenund Tiere.
Eine Form der nachhaltigen Entwicklung, nämlichFrieden, ist in diesem Bericht von 250 Seiten in wenigenSätzen zusammengefasst: Die Bundesregierung erkenntan, dass Entwicklung nur in Frieden möglich ist. Sie ga-rantiert globale Sicherheit. – In wessen Interesse sicherteigentlich die Bundeswehr globale Sicherheit in Afgha-nistan?
Im Krieg werden Menschen getötet, unwiderruflich,Häuser und Denkmäler zerstört, Wasserleitungen be-schädigt. Gasleitungen explodieren, Epidemien brechenaus, und die Kinder- und Müttersterblichkeit wächst.Das ist das schlimmste Ergebnis dieser Wirtschafts-weise, die sowohl an Rüstung als auch am Kriegseinsatzverdient.Atomkraftwerke wurden zur Herstellung von Atom-waffen entwickelt. Es liegt im öffentlichen Interesse, dieStilllegung der Atomkraftwerke zu betreiben, ihrenRückbau einzuleiten und jetzt die jahrtausendelangerückholbare Lagerung unter der Kontrolle der Bevölke-rung zu beginnen. Dieses Beispiel soll zeigen, wie vielAltlasten Sie zukünftigen Generationen aufbürden. Dasist nicht nachhaltig.Wenn es die Bundesregierung ernst meint, kann sie esbeweisen: Geben Sie Gorleben als Endlagerstandort inNiedersachsen auf! Bezahlen sollen die Lagerung vonAtommüll die Profiteure der Atomenergie und nicht dieAllgemeinheit.
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat nun für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Also, auf diese Rede muss ich erst einmal einen SchluckWasser nehmen.
Es ist doch schon erstaunlich, welche Schlüsse man zie-hen kann, wenn man in den ganzen Debatten nicht dabeiwar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit ei-ner Frage beginnen – über die Details des Berichtes ha-ben ja die Vorrednerinnen und Vorredner schon eineganze Menge gesagt –: Sind Wachstum und Nachhaltig-keit ein Widerspruch? Ob ja oder nein, damit befasst sichseit zwei Jahren eine Enquete-Kommission im Deut-schen Bundestag. Erst am Montag wurde dort das Ergeb-nis der entsprechenden Projektgruppe vorgestellt, bessergesagt: zwei unterschiedliche Ergebnisse. Koalition undOpposition konnten sich nicht einigen und legten jeweilseigene Berichte vor. Beide sind sich immerhin einig,dass Wachstum kein Ziel ist, sondern bestenfalls einMittel zum Zweck. Das ist in dieser Enquete-Kommis-sion erreicht worden.
Beim Zweck aber scheiden sich die Geister. Die Ko-alitionsfraktionen setzen auf Innovationen, um ein ange-messenes Wirtschaftswachstum beizubehalten. Vor al-lem das müsse man im Fokus behalten, anderenfallswürde der materielle Wohlstand leiden. Für andere– dazu gehört meine Fraktion – steht im Vordergrund,wie man beim Wirtschaften die Grenzen der Erde re-spektieren und alle am Wohlstandskuchen teilhaben las-sen kann.Für manchen von Ihnen hört sich das ähnlich an. Aberdahinter verbergen sich riesengroße Unterschiede. Dermaterielle Wohlstand ist zwar eine wichtige Säule derMenschheit, aber er ist nicht alles, gerade wenn wir da-mit unsere Lebensgrundlagen zerstören. Das kapierenmittlerweile immer mehr Menschen, und das nicht nur inden entwickelten Ländern. Ein Blick nach China dieseWoche reicht, um den Wachstumswahn anhand des kata-strophalen Smogs in Peking greifen zu können.Deshalb – lassen Sie mich zu meiner Eingangsfragezurückkehren – sollten wir den Schwerpunkt nicht mehrallein auf das Wachsen legen, sondern auf das ThemaNachhaltigkeit. Warum?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013 26717
Dr. Valerie Wilms
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Erstens. Es ist kein Gewinn für die Gesellschaft,wenn sie auf Kosten der Umwelt und menschlichen Inte-grität wächst. Die Beseitigung der Schäden kurbelt zwardie Konjunktur an, aber das mehrt nicht den Wohlstand,sondern es hilft maximal, ihn wiederherzustellen.Zweitens. Materieller Wohlstand ist nicht alles. Wermehr als einen Vollzeitjob benötigt, um überleben zukönnen, hat keine Zeit mehr für die Pflege sozialer Be-ziehungen. Wieder andere fallen aus dem System heraus,weil sie mit dem beschleunigten Rhythmus nicht mehrmithalten können.Man könnte hier noch lange fortfahren, und am Endestellt sich durchaus die Systemfrage. Diese lässt sichmeiner Ansicht nach nur mit einer nachhaltigen Lebens-und Wirtschaftsweise – und zwar durch jeden einzelnenErdenbürger, durch jeden von uns – beantworten.Damit sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie ange-langt, die jetzt zehn Jahre alt ist. Sie enthält konkreteZiele, zum Beispiel die Ressourceneffizienz bis 2020 zuverdoppeln, die Treibhausgase bis 2050 um 80 bis95 Prozent zu senken und die Artenvielfalt zu stärken,aber auch Ziele im sozialen Bereich wie in den Berei-chen Bildung, Beschäftigung und Gesundheit, im ökono-mischen Bereich die Senkung der Staatsschulden und iminternationalen Bereich die Entwicklungszusammenar-beit.Darauf will ich heute nicht im Einzelnen eingehen.Die Ziele können Sie im Fortschrittsbericht 2012 nachle-sen, und sie sind auch schon von Kolleginnen und Kolle-gen angesprochen worden. Lesen Sie dann bitte auch dieKritik dazu, die wir im Parlamentarischen Beirat fürnachhaltige Entwicklung gemeinschaftlich erarbeitet ha-ben! Beide Dokumente sind heute Gegenstand der De-batte.Vielmehr will ich daran erinnern, dass die Nachhaltig-keitsziele ihren Ursprung im Erdgipfel von Rio 1992 ha-ben. Sie sind weltweit Konsens, wenn auch weltweitkonkrete zahlenmäßige Ziele noch nicht festgelegt sind.Dazu hat der Jubiläumsgipfel im vergangenen Jahr end-lich seinen Mitgliedstaaten einen konkreten Auftrag er-teilt.Werte Zuhörerinnen und Zuhörer, wo stehen wir dennheute in Deutschland wirklich? Wir sind gut gestartetmit lokalen Agenda-21-Gruppen und der Nachhaltig-keitsstrategie des Bundes im Jahr 2002. Und wo sind wirgelandet?Wie gerade der Streit in der Enquete-Kommission ge-zeigt hat, ist die Einsicht noch nicht bei allen Handeln-den in der Politik angekommen. Darum helfen Sie unsdurch Ihr Handeln, auf die richtige Bahn zu gelangen:Setzen Sie sich für eine nachhaltige Lebens- und Wirt-schaftsweise ein! Denken Sie bei Ihrem Konsum an dieGrenzen der Erde! Brauche ich jetzt schon wieder einneues Handy, nur weil der Vertrag abgelaufen ist? Oderleiste ich mir stattdessen gesunde Lebensmittel?
Kollegin Wilms, achten Sie darauf, dass die Zeitres-
sourcen erschöpft sind?
Herzlichen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin.
Ich war gerade beim letzten Satz. Sie haben es haarge-
nau abgepasst. – In diesem Sinne würde ich mich freuen,
wenn wir weiter in diese Richtung gehen können.
Vielen Dank, dass Sie mir die Aufmerksamkeit ge-
schenkt haben.
Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Rede der Kollegin Dittrich, die, wie ich im Übrigenfinde, Frau Kollegin, nicht nur, weil Sie die GebrüderGrimm zitiert haben, etwas sehr grimmig ausgefallen ist,sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im Parla-mentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung überalle Fraktionen hinweg ein sehr gutes Einvernehmen ha-ben.
Im Übrigen, Frau Kollegin, hat auch Ihre Fraktion un-serer gemeinsamen Stellungnahme zugestimmt. Sie istmit den Stimmen aller Kolleginnen und Kollegen allerFraktionen verabschiedet worden. Ich finde, dass sichdas im Ergebnis und in der Arbeitsweise wohltuend vondem unterscheidet, wie sonst sehr häufig in diesemHaus, auch in den Ausschüssen, in der Aufspaltung zwi-schen Regierung und Opposition gearbeitet wird.
Ich finde, das ist etwas, worauf wir gemeinsam stolz seinkönnen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Kolle-ginnen und Kollegen für die Zusammenarbeit und dieinvestierte Arbeit zu danken. Ich möchte dabeiausdrücklich unsere Referenten und Mitarbeiter ein-beziehen.
Die vorliegende Unterrichtung ist vor allen Dingen– sonst hätten wir kein Einvernehmen erzielt – weit ent-fernt von Schönfärberei. Zur Wahrheit gehört: Ja, es gibtBereiche, in denen wir gut vorankommen und es Lichtgibt. Aber es gibt auch Bereiche, in denen es noch zuviel Schatten gibt. Ich will zunächst auf das eingehen,was aus unserer Sicht gut ist. Fortschritt bedeutet laut
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26718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Andreas Jung
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Duden die positiv bewertete Entwicklung einer Sache. Inweiten Teilen gibt es eine solche Entwicklung im Be-reich der Nachhaltigkeit, insbesondere was Strukturfra-gen, Nachhaltigkeitsmanagement, die Ansiedlung derNachhaltigkeitspolitik im Bundeskanzleramt und derenBehandlung im Bundeskanzleramt, die Einbeziehungunabhängigen Sachverstands durch den Rat für nachhal-tige Entwicklung sowie nicht zuletzt den Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung selbst betrifft.Dieses Gremium ist aus dem Gefüge des Parlamentsnicht mehr wegzudenken. Wir sind als Aufpasser fürNachhaltigkeit in unserer Wachhundfunktion in der Ge-setzgebung gestärkt. Jetzt muss endlich die Konsequenzdaraus gezogen werden. Der Parlamentarische Beirat fürnachhaltige Entwicklung muss in der Geschäftsordnungdes Deutschen Bundestages verankert werden.
Damit muss der Notwendigkeit langfristigen Denkensund Handelns, auch was die Behandlung der Nachhaltig-keit im Parlament angeht, Rechnung getragen werden.Der Bundestag muss zeigen: Nachhaltigkeit ist keinModethema, sondern ist Daueraufgabe für eine verant-wortungsvolle Politik.
Es gibt manche Bereiche, in denen es besser werdenmuss. Die Frau Kollegin Gottschalck und der KollegeMichael Kauch haben darauf hingewiesen, dass es beider Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung in derGesetzesfolgenabschätzung Unterschiede zwischen denMinisterien gibt. In einigen Ministerien wie demBundesumweltministerium funktioniert sie schon sehrgut. Aber es gibt andere, die noch besser werden können.Wir arbeiten hartnäckig daran. Politik bedeutet auch hierdas Bohren dicker Bretter. Wir stellen allerdings fest,dass sich unsere Arbeit schon ausgezahlt hat, dass dieMinisterien sehr viel besser und verantwortungsvollermit dieser Aufgabe umgehen. Wir werden hier – FrauDr. Wilms hat das gerade plastisch geschildert – weiterbohren und dranbleiben.Ein weiterer Punkt, der schon thematisiert wurde, istdie Verzahnung der Nachhaltigkeitspolitik über ver-schiedene Ebenen – Europäische Union sowie Bund,Länder und Kommunen – hinweg. Hier gibt es noch vielzu tun. Wir stellen fest, dass hier Nachholbedarf bestehtund es Kritikpunkte gibt. Wir haben in unserer auswärti-gen Sitzung in Brüssel gegenüber der EU-Kommissiongemeinsam deutlich gemacht, dass es so, wie es geplantist, nicht umgesetzt werden kann. Nachhaltigkeit sollnämlich nicht – entgegen unserem gemeinsamen Ver-ständnis – das Fundament sein, auf dem alle anderenFachpolitikbereiche fußen, sondern nur noch ein kleinerAbleger der Strategie 2020 sein. Das kann nicht richtigsein. Wir sind froh, dass uns die Bundesregierung unter-stützt. Wir hoffen, gemeinsam in Europa zu verhindern,dass hier Rückschritte gemacht werden. Wir brauchenFortschritte. Da ist auch die EU in der Pflicht.
Auch die Zusammenarbeit mit den Ländern muss ver-bessert werden. Es geht nicht darum, mit dem Finger aufandere zu zeigen. Aber die Abstimmung muss verbessertwerden; sonst erreichen wir nicht eine Nachhaltigkeits-politik aus einem Guss. Es ist notwendig, dass Indikato-ren abgestimmt werden und dass vergleichbare Gremienals Ansprechpartner geschaffen werden. Man muss inden wichtigen Bereichen zusammenkommen. Ange-sichts der mir verbleibenden Redezeit will ich nur dienachhaltige Mobilität als Beispiel nennen. Wir alle sinduns einig, dass hier etwas passieren muss. Wir haben imBundestag ein Gesetz zur Förderung der Elektromobili-tät beschlossen, das eine Befreiung von der Kfz-Steuerund eine Besserstellung von Dienstwagen vorsieht,wenn sie ökologisch und nachhaltig sind. Dieses Gesetzhalten wir alle eigentlich für richtig. Es wird in derSache auch nicht von den Ländern kritisiert. Aber eswird jetzt aus anderen Motiven blockiert, die nichts da-mit zu tun haben. Mit Blick auf dieses Beispiel sage ich:Da müssen wir alle besser zusammenarbeiten. Da sindauch die Länder in der Verantwortung. Wir nehmendiese Verantwortung gemeinsam im ParlamentarischenBeirat für nachhaltige Entwicklung wahr, und wirwerden weiterhin gemeinsam dafür eintreten. Das Ein-vernehmen, die Gemeinsamkeit über Fraktionsgrenzenhinweg, die wir hier haben, machen ein Stück weitunsere Stärke aus. Insofern können wir immer wiederWichtiges bewegen. Ich freue mich auf die weitereArbeit.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/11670 und 17/8721 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Martina Bunge, Harald Weinberg, DianaGolze, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEPrivat Versicherte solidarisch versichern –Private Krankenversicherung als Vollversi-cherung abschaffen– Drucksache 17/10119 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und Soziales
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHarald Weinberg für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zuhörerinnen und Zuhörer sind leider keine mehr da. –
Kein vergleichbares Land auf der Welt hat ein so unsin-niges Nebeneinander von gesetzlicher und privaterKrankenversicherung wie Deutschland.
Bei uns werden die Menschen in die beiden unterschied-lichen Systeme mehr oder minder aufgrund des berufli-chen Status eingeteilt; historisch ist das weitgehendüberholt. Wer selbstständig ist, Beamter, gut verdienen-der Angestellter oder Berufspolitiker, zudem noch jungund gesund, der kommt in die private Krankenversiche-rung, alle anderen müssen in die gesetzliche. DiesesNebeneinander ist ein Ärgernis. Es ist ein Symbol für dieZweiklassenmedizin in Deutschland, die wir nichtwollen.
Damit stehen wir allerdings schon lange nicht mehrallein. Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Kranken-kasse hat vor kurzem umstandslos festgestellt:Die PKV passt nicht in unser System. Wir solltensie abschaffen.
Sogar der Kollege Jens Spahn hält die Trennung für„nicht mehr zeitgemäß“ und stellt laut Presse die Sys-temfrage.
Welchen Grund gibt es, von Menschen mit gleichemEinkommen unterschiedliche Beiträge zu verlangen?Welchen Grund gibt es, Menschen mit der gleichenKrankheit, mit der gleichen Diagnose, die beim selbenArzt in Behandlung sind, verschieden zu behandeln? Ichrede hier nicht von schlechter oder besser. Die Annahme,die auch in der Bevölkerung weit verbreitet ist, als Pri-vatpatient werde man automatisch besser behandelt, istzumindest sehr zweifelhaft. Richtig ist: Man bekommtschneller einen Termin beim Facharzt. Richtig ist: Manhat womöglich eigene Wartezonen. Richtig ist: Manbekommt vielleicht einen Kaffee. Aber man wird zwei-fellos häufiger und teurer behandelt, weil mehr Geld zuverdienen ist. Das ist nicht nur schädlich für das Porte-monnaie, das kann auch durchaus der Gesundheitabträglich sein, weil letztlich auch Fragwürdiges abge-rechnet werden kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Privatver-sicherter kann seinen Versicherungsvertrag in allen Ein-zelheiten verstehen. Häufig tun das noch nicht einmaldiejenigen, die diese Verträge vermitteln: die Versiche-rungsmakler.
Die Konstruktionen und Kalkulationen der Tarife wer-den auch nicht offengelegt. Es gibt Unbekannte in derKalkulation, zum Beispiel die Zinsentwicklung. Warumist das wichtig? Einen Teil der Beiträge junger Versi-cherter nutzt das Versicherungsunternehmen, um Rück-stellungen zu bilden, wenn die Versicherten alt sind. DieZinserträge hieraus entscheiden auch über die Höhe derBeiträge. Bei einem dauerhaft niedrigen Zinssatz, wiewir ihn derzeit haben, ist die direkte Folge: Die Beiträgesteigen. Selbst wenn die Zinsen über die gesamteVertragslaufzeit hoch genug wären: Weder steigendeGesundheitskosten noch die Inflation sind ausreichendin diese Berechnungen eingepreist.
Die Folge: Die Beiträge, vor allen Dingen für älterePrivatversicherte, gehen „durch die Decke“.Dann zeigt sich, dass „Hier die gesetzliche Kranken-versicherung, die als bürokratische Staatsmedizin daher-kommt, und dort die private Krankenversicherung als in-novative wettbewerbsorientierte Alternative“ schlichtein Märchen ist.
Versuchen Sie als Privatversicherter so ab 50 doch ein-mal, die Wettbewerbsfähigkeit zu testen und zu eineranderen Versicherung zu wechseln. Welch böses Er-wachen! Die Versicherungen verlangen eine Gesund-heitsprüfung, und bei ehrlicher Beantwortung der Fragenlehnen einige der Versicherungsunternehmen wegenVorerkrankung einfach die Versicherungsmöglichkeit ab,andere wollen entsprechende Leistungsausschlüsse, undwieder andere wollen Risikozuschläge erheben, die denBeitragssatz noch weiter in die Höhe treiben. Oder eswird angeboten, den Beitragssatz durch deutliche Erhö-hung der Selbstbehalte stabil zu halten. Hier ist weit undbreit kein Wettbewerb. Es gibt nur einen Wettbewerb umdie Jungen und Gesunden. Wer schon länger dabei ist,kann so gut wie nicht mehr wechseln und ist auf Gedeihund Verderb einer Versicherung ausgeliefert. Das soll in-novativer Wettbewerb sein? Für mich ist das eine Bank-rotterklärung der privaten Krankenversicherung.
Jetzt wird wieder behauptet, die Linke mache einePolitik gegen die Privatversicherten. Das ist falsch. Wirwollen die bestmögliche gesundheitliche Versorgung füralle Menschen in Deutschland. Das ist mit der Privatver-sicherung nicht möglich, dazu brauchen wir die Bürge-rinnen- und Bürgerversicherung, in die alle Menscheneinbezogen sind.
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Harald Weinberg
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Dann wird noch der Vorwurf kommen, das gehe ver-fassungsrechtlich nicht. Das haben die Konservativen inder USA auch zu Obamas Gesundheitsreform gesagt.Letztendlich hat dort der Oberste Gerichtshof Obamaaber zugestimmt. Es kommt also auf den Versuch an, dendie Linke wagen will.
Denn man kann mit Kurt Marti nur sagen:Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wirhin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wirkämen, wenn wir gingen!Vielen Dank.
Die Kollegin Karin Maag hat nun für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Weinberg!
– Persönliche Wertschätzung ist vorhanden.An der gesetzlichen Einheitsversicherung für alle ha-ben sich schon die Kollegen der Grünen und der SPDabgearbeitet. Schon deren Herangehensweise, lieberHerr Weinberg, war juristisch bedenklich. Das sagennicht Sie oder ich, sondern das sagte bereits der ehe-malige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HerrPapier, der darauf hingewiesen hat, dass genau dieseModelle die Bürger in ihrer verfassungsrechtlich garan-tierten Handlungsfreiheit und die Versicherungsunter-nehmen in ihrer Berufsfreiheit einschränken.
– Aber, lieber Herr Weinberg, wir unterhalten uns jetztnicht juristisch, sondern wir gehen zu Ihrem Antrag.Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist dünn, ist schlechtgemacht. Mit der Feinarbeit wollen Sie sich in IhremDrang, jetzt umzuverteilen, auch gar nicht aufhalten. Siewollen die PKV als Vollversicherung schlicht sofort undunmittelbar ganz abschaffen. Übergangsregelungen, diedie Kollegen der Grünen und der SPD als zentralesThema erkannt haben, brauchen Sie nicht. Die Beitrags-bemessungsgrenze stört Sie; also muss sie weg. VomÄquivalenzprinzip haben Sie noch nie gehört oder das istIhnen egal. Dann wollen Sie selbstverständlich alle Ar-ten von Einkommen zum Beitrag heranziehen. Das warauf jeden Fall schon für die Grünen und für die SPD einThema. Das sieht man an den Volten, die sie geschlagenhaben. Spätestens da hätten Sie doch merken müssen,dass es so platt nun einfach auch nicht geht.Bei der SPD hat man zumindest den hohen Verwal-tungsaufwand bei der Verbeitragung aller Einkommens-arten und den vergleichsweisen geringen Ertrag darauserkannt. Die Grünen, jedenfalls soweit mir deren letztesModell bekannt ist, wollen wenigstens die Freibeträgeeinräumen.Bei der Beitragsbemessungsgrenze hat man ja dannauch bemerkt – Sie wahrscheinlich nicht, HerrWeinberg –, dass diese die Bezieher mittlerer Einkom-men schützt und dass diese auch schützenswert sind,weil sie die Hauptlast des Staates bereits tragen.
Die Grünen wollen deshalb nur in Grenzen erhöhen unddie Beiträge für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber glei-chermaßen verteuern. Die SPD sagt dann: „Okay, wirverteuern nur für die Arbeitgeber.“ Da muss man sichdann fragen, ob Sie von der SPD noch ernsthaft daranglauben, dass dann irgendein Arbeitgeber auch nur nocheinen zusätzlichen Arbeitsplatz schafft; denn das würdedenen schlicht zu teuer werden.Aber jetzt zurück zu Ihnen. 170 Milliarden EuroAltersrückstellungen sind verfassungsrechtlich auchüber Art. 14 Grundgesetz geschützt. Das interessiert Sieschlicht nicht. Das kann man aber nur dann verstehen,wenn man Ihrem Verweis auf Ihren Antrag „Gesundheitund Pflege solidarisch finanzieren“ folgt. Dort wird for-muliert – das zitiere ich jetzt –:Die Idee, heute für spätere Leistungen Geld zurück-zulegen, führt in die Irre und hat nichts mit Genera-tionengerechtigkeit zu tun.
Der demografische Wandel und die Diskussion derletzten Jahre ist spurlos an Ihnen vorbeigegangen.
Da frage ich mich nur noch: Wo leben Sie denn eigent-lich?
In Deutschland ist die Lebenswirklichkeit eine völligandere. Unser System ist nach wie vor eines der bestender Welt. Das können wir uns von Ihnen nicht kaputt-reden lassen. Wirklich jeder, der im Ausland einen Un-fall erleidet oder krank wird, hat nur ein Interesse: Ermöchte zurück nach Deutschland, um sich behandeln zulassen.
Neun von zehn Versicherten sind mit den Wartezeitenauf einen Arzttermin zufrieden. 90 Prozent der Men-schen sind von der Freundlichkeit des Personals und der
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Karin Maag
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Atmosphäre in der Praxis begeistert. Das sage übrigensnicht ich, sondern das sagt das Wissenschaftliche Institutder von Ihnen zitierten Techniker Krankenkasse.Noch eines: Selbstverständlich, auch das System derPKV – das haben wir erkannt; wir sind ja nicht blöd,Herr Weinberg – hat Schwächen, und daran arbeiten wir.
Es ist doch sinnvoll, diese Schwächen aufzuarbeiten, dasheißt, das System zu stärken. Das ist unsere Aufgabe.
Wir bringen heute zum Beispiel Innovationen auchschneller in die GKV. Ich nenne da die §§ 137 c und eSGB V. Genau das, den schnellen Zugang zu Innovatio-nen, stellt die PKV seit langem sicher, natürlich dannauch für die Versicherten der GKV. Diese Innovationennützen allen.Dann müssen Sie noch an Folgendes denken: 11 Pro-zent privat Versicherte sorgen im Durchschnitt für 25Prozent der Honorare in einer Arztpraxis. Auch im nie-dergelassenen Bereich kommt das den gesetzlich Versi-cherten zugute.Gerade die Länder mit einem Einheitssystem sind inden letzten Jahren leider Gottes zur Rationierung über-gegangen. Schon das wäre für mich ein Grund, das Ein-heitssystem abzulehnen. Ich erinnere Sie an Großbritan-nien.
Auch das Modell des einheitlichen Marktes in den Nie-derlanden – darüber haben wir ebenfalls schon gespro-chen – krankt heute. Lesen Sie, was Fritz Beske in dieserWoche geschrieben hat! Da sind die Themen deutlichbenannt.Sie haben die schwarzen Schafe bei der PKV ange-führt. Klar, es gibt solche PKVen, die die Tarife nichtauskömmlich kalkulieren, die Provisionen jenseits desTolerierbaren gezahlt haben. Genau dort haben wir ge-handelt.
Wir haben die Provisionen begrenzt.
Wir haben die PKVen daran erinnert, dass sie ihre Versi-cherungsnehmer darüber informieren müssen, dass dieTarife gewechselt werden können. Wir haben den Aus-gabenanstieg auch dort und nicht nur in der GKV be-grenzt, etwa mit dem Privatklinikausgründungsverbot.Darüber haben wir uns in diesem Hohen Hause wirklichausgiebig unterhalten.Fazit aus meiner Sicht also: Der GKV die Konkurrenzvom Leib zu halten, ist keine Lösung. Das macht dasSystem auf Dauer nicht tragfähig. Wenn Sie sich dasnächste Mal damit befassen, wäre ich Ihnen dankbar,wenn Sie sich bei Ihren Anträgen etwas mehr Mühe ge-ben würden.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl
Lauterbach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal: An der Diagnose des System-fehlers, vorgetragen von Herrn Weinberg für die Links-partei, ist nichts auszusetzen; sie ist im Prinzip richtig.Das ist mittlerweile auch in der allgemeinen Bevölke-rung, selbst bei einem großen Teil Ihrer Wähler, zuneh-mend die einhellige Meinung. Das wird für die Unions-wähler wie für uns alle mittelfristig ein großes Problemwerden. Es ist ganz klar: Das System funktioniert in derjetzigen Form nicht.Wir haben eine ausgesprochene Zweiklassenmedizin.Dies wird von kaum jemandem mehr bestritten. Es gibtkaum jemanden, der mir ernsthaft bestreitet, dass wireine Zweiklassenmedizin haben. Es wird mittlerweileauch kaum mehr bestritten, dass sie beiden Gruppen,nämlich den gesetzlich Versicherten und den privat Ver-sicherten, schadet. Es ist nicht so, dass die privat Versi-cherten allein gewinnen und die gesetzlich Versichertenallein verlieren, sondern jeder verliert auf seine Art. Je-der verliert auf seine Weise, wenn man so will: Die ge-setzlich Versicherten haben oft keinen Zugang zu Fach-ärzten, müssen warten und werden als Patienten zweiterKlasse gesehen, empfinden sich auch so.Die Patienten, die privat versichert sind, sind oft dieVersuchskaninchen des Systems. Sie werden mit Medi-kamenten behandelt, die noch nicht wissenschaftlichausreichend erprobt sind. Sie waren mehr vom Vioxx-Problem betroffen als die gesetzlich Versicherten. In derOnkologie gibt es zahlreiche Antikörpertherapien, dienicht evidenzbasiert sind, die bevorzugt bei privat Versi-cherten eingesetzt werden. Unilaterale Kniegelenkspro-thesen, die in der Regel nur fünf Jahre halten, werden beiprivat Versicherten bevorzugt eingesetzt. Das Gleichegilt für die sogenannte Überkronung des Hüftgelenkes,ein Eingriff, der für denjenigen sozusagen lukrativ ist,der ihn vornimmt, dessen Erfolg aber wissenschaftlichüberhaupt nicht gesichert ist. Die Protonentherapie wirdbei Privatpatienten vornehmlich genutzt, obwohl neuereStudien keinen Vorteil zeigen. Jeder leidet für sich allein.Beide Gruppen – privat wie gesetzlich Versicherte – sindbetroffen. Viele ältere Privatversicherte müssen ihreAnsprüche zurückschrauben, weil sie mit dem Geldnicht mehr klarkommen. Rentner zahlen 800, 900 EuroKrankenversicherung, haben aber nur eine Rente von1 500 Euro. Oft ist dabei die Armutsgrenze fast erreicht.Das betrifft auch Geschiedene von Beamten sehr häufig.Gesetzlich Versicherte dagegen sind besser geschützt. Es
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Dr. Karl Lauterbach
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gibt also eine Vielzahl von Problemen. Zu all dem hatdie FDP, wie wir gerade von Frau Maag gehört haben,nichts beizutragen. Ich habe keinen einzigen Lösungs-vorschlag gehört.
Damit werden Sie nicht durchkommen. Die Kritik anden Vorschlägen der Linkspartei mag in dem ein oderanderen Punkt berechtigt sein, aber Sie haben nichts an-zubieten. Sind wir doch ehrlich. Im Bereich der privatenAssekuranz sind Sie nichts anderes als eine kleine Klien-telpartei, was man Ihnen immer vorwirft. Mehr ist vonder liberalen Tradition im Gesundheitssystem nichtübrig geblieben.
– Diesen Kritikpunkt räume ich ein. Das ist in der Tatrichtig.Die Lösung der Linkspartei, die vorgetragen wurde,ist ebenfalls nicht allumfassend. Das muss man sagen.Viele Dinge sind schlicht übergangen worden. So istzum Beispiel dem Antrag nicht zu entnehmen, ob die Al-tersrückstellungen überführt werden sollen oder nicht.Das steht nicht im Antrag. Ich rate auch davon ab, diesin den Antrag zu schreiben; denn diese Art der Enteig-nung ist verfassungsmäßig auf der Grundlage der unsvorliegenden Gutachten schlicht und ergreifend nicht ge-deckt. Ebenfalls ist es unklar, ob eine solche Überfüh-rung des Personals gedeckt ist. Es ist auch nicht klar, obin das Versicherungsfeld der Bürgerversicherung, wennsie eingeführt werden sollte, was wir verfolgen, die pri-vaten Krankenversicherungen einen entsprechenden Zu-gang haben sollten. Ich halte die von der Linksparteivorgenommene Diagnose des Problems im Großen undGanzen für richtig. Mit dem Antrag springen Sie aber zukurz. Es fehlt ein Vorschlag, wie die Vergütung sein soll.Was machen wir mit den Beamten? In Ihrem Antragsteht nichts über die Beamten. Wie stellen Sie sich dasvor? Ist es verfassungskonform, auch die Beamten – ichsage einmal – zwangszuüberführen? Wenn Sie das den-ken, hätte es im Antrag stehen müssen. Wir halten es fürnicht machbar. Es fehlt vieles. Somit glaube ich, dass dasursprüngliche Modell, das Originalmodell der SPD nachwie vor das einfachste und unbürokratischste Modell ist.Es werden wieder paritätische Beiträge von Arbeit-nehmern und Arbeitgebern erhoben. Damit das Systemdemografisch abgefedert ist, wird der Steuerzuschusssystematisch erhöht. Die Bürgerversicherung in einemSystem, wo gleiche Honorare von gesetzlich wie privatVersicherten bezahlt werden, beseitigt die Zweiklassen-medizin. Dann kann man den privat Versicherten denÜbergang in einem Jahr freiwillig erlauben. Wenn siewollen, wechseln sie in das Bürgerversicherungssystem,sonst bleiben sie im privaten System. Wo liegt der Feh-ler, wenn sich jeder in einem Übergangsjahr selbst ent-scheiden kann, wenn es keine Zweiklassenmedizin mehrgibt? Das ist viel unbürokratischer und gerechter, alswenn das private System – ich sage einmal – in die Kniegezwungen wird. Wieso soll ich diesen Arbeitgebernnicht die Möglichkeit geben, die Bürgerversicherungselbst anzubieten?
Ein solches System hätte darüber hinaus auch denVorteil, dass es in der Bevölkerung anerkannt ist. In derBevölkerung wird zwar eine Lösung des Systempro-blems gewünscht, aber kein Zwang. Jeder kann sichinnerhalb eines Jahres entscheiden. Die Neumitgliedergehen alle in das neue Versicherungssystem der Bürger-versicherung. Die Altmitglieder können sich entschei-den, ob sie in der Bürgerversicherung zu Hause sindoder ob sie in der PKV verbleiben. Ich sage Ihnen vo-raus: Die allermeisten werden sich für den Wechsel indie Bürgerversicherung entscheiden. Diejenigen, die dasnicht tun, treffen diese Wahl in freier Entscheidung.Die Altersrückstellungen – das hören wir von derFDP immer wieder –
sind auskömmlich. Von daher wird das als Substanz rei-chen. Niemand soll zu seinem Glück in einer Bürgerver-sicherung gezwungen werden, die ein unbürokratischesSystem darstellt, das gerecht ist, ohne Zweiklassenmedi-zin, bei gleichen Honoraren für alle Beteiligten, das be-gleitet wird durch eine Strukturreform, die ihren Namenauch verdient, mit mehr Vorbeugemedizin und einer Öff-nung der Sektorengrenzen.In einem System für alle sind auch Reformen mög-lich, die bisher nicht möglich waren. Denn oft scheiternReformen daran, dass überlegt wird, was gut ist für diePrivatversicherten und was gut ist für die gesetzlich Ver-sicherten. Sitzen alle in einem Boot, lässt sich eine Re-form aufbauen, die für die Bevölkerung gut ist und nichtfür Einzelne in unserer Gesellschaft.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Aschenberg-Dugnus für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Weinberg, kein vergleichbares Land hat ein so gu-tes Gesundheitssystem wie wir. Unser deutsches Ge-sundheitssystem gehört zu den besten der Welt. DiesenSatz habe ich von Ihnen heute leider nicht gehört.
Statt sich um eine konkrete Weiterentwicklung unsereswirklich guten Gesundheitssystems zu bemühen, zettelnSie hier eine ideologische Debatte an. Sie fordern einewie auch immer geartete Bürgerversicherung und damit
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Christine Aschenberg-Dugnus
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natürlich die Abschaffung der privaten Krankenversi-cherung.Diese Versprechen von vermeintlich mehr Solidaritätund mehr Gerechtigkeit hören sich immer toll an. Schautman jedoch hinter die Kulissen Ihres Antrages, dannwird sehr schnell klar: Ihnen geht es gar nicht um irgend-welche Leistungsverbesserungen oder mehr Qualität undEffizienz im Gesundheitswesen oder in der Versorgungder Versicherten.Ihnen geht es einzig und allein um das Erschließenneuer Geldquellen. Sie glauben, mit mehr Geld werdeschon alles besser. Sie behaupten, die PKV entziehe derGKV besser verdienende und gesündere Versicherte. Siewollen die Beiträge der PKV-Mitglieder, die dann alsZwangskunden in die Bürgerversicherung einzahlenmüssen. Ich kann Ihnen nur sagen: Nicht mit uns!
Sie vergessen dabei, dass nur 13 Prozent der PKV-Versicherten Arbeitnehmer oberhalb der Beitragsbemes-sungsgrenze sind, die in der GKV den Höchstbetrag be-zahlen würden. Außerdem vergessen Sie die Kinder unddie erwerbslosen Ehepartner, die in der PKV selbstver-ständlich Beiträge leisten. Das müssten sie in der GKVnicht, hätten aber einen vollen Leistungsanspruch.Wir wissen: Sie als Linke streben eine Ausweitungder Beitragsbasis an. Sie wollen auch noch solche Ein-kommensarten wie Kapital-, Zins- oder Mieteinkommenvereinnahmen. Ihr Ziel ist die Umwandlung des für un-sere Begriffe ohnehin schon überregulierten Kranken-versicherungssystems in ein planwirtschaftliches Sys-tem.Hier ist nach Ihrer Ideologie natürlich kein Platz mehrfür die PKV. In Ihrem System sehen Sie eine ausnahms-lose Zwangsmitgliedschaft aller Bürger in einer Ein-heitsversicherung vor. Das ist wirklich klasse! Dabeikönnen Sie auf unsere Hilfe nicht hoffen. Damit nehmenSie nämlich den Menschen ihre Wahlfreiheit. DieseWahlfreiheit erachte ich als besonders wichtig.
Dafür haben sich in Deutschland 9 Millionen Versicherteaktiv und eigenverantwortlich entschieden.
Sie wollen diese Menschen entmündigen, weil die PKVeinfach nicht in Ihre Ideologie und Ihr System passt.Meine Damen und Herren, die Linke schreibt in ih-rem Antrag, das Nebeneinander einer gesetzlichen undeiner privaten Krankenversicherung führe zu einer Zwei-klassenmedizin. Sie sagen also: Nur der PKV-Versi-cherte ist erster Klasse versichert. Schon im nächstenAbsatz – ich finde Ihren Antrag wirklich sehr putzig –beklagen Sie dann den bedauernswerten Zustand derPKV-Versicherten, beklagen einen Leistungskatalog imBasistarif mit Vergütungen von Ärzten unter GKV-Ni-veau. Ja, was denn nun? Ist es eine Versicherung ersterKlasse, oder ist es die Holzklasse? Ich habe das IhremAntrag nicht richtig entnehmen können.
Als Mittel gegen diese vermeintlichen Ungerechtig-keiten wird von Ihnen die Bürgerversicherung angeprie-sen. Aber was steckt eigentlich dahinter? Führt eine Ein-heitskrankenkasse wirklich dazu, dass alles besser undsolidarischer wird? Nein, auf gar keinen Fall, meine Da-men und Herren. De facto führt gerade das Konzept derBürgerversicherung zu einer echten Zweiklassenmedi-zin. Sie können etwa am Beispiel Großbritanniens sehrgut sehen,
wie ein einheitliches, planwirtschaftlich organisiertesstaatliches System zu langen Wartezeiten, zu Rationie-rung, zu Mangel und zu eingeschränkten Leistungenführt.
Das wollen wir hier bei uns nicht haben.
Denn die überwiegende Mehrheit bekommt in Großbri-tannien eine Minimalversorgung auf niedrigem Niveau.Wer es sich leisten kann, der nimmt natürlich bessereLeistungen gegen bar in Anspruch oder fährt ins Aus-land, am besten zu uns nach Deutschland, wo es einegute medizinische Versorgung gibt. Das ist die wahreZweiklassenmedizin, und die wollen wir hier nicht ha-ben.
Es gibt weitere Argumente dafür, die PKV nicht abzu-schaffen. Ich nenne hier insbesondere die Altersrückstel-lungen in der PKV. Denn damit ist die PKV dem Umla-gesystem der GKV deutlich überlegen.
Die PKV punktet beim Stichpunkt Demografie, meineDamen und Herren; das können Sie nicht einfach wegar-gumentieren. Wir gleiten doch in Zukunft in eine Situa-tion, in der immer weniger Beitragszahler immer grö-ßere Kostenlasten tragen müssen. Eine Ausweitung desUmlagesystems auf 100 Prozent der Bevölkerung ver-schärft dieses Problem nur. Denn mit den neuen Mitglie-dern – ich habe das am Anfang schon ausgeführt – wer-den auch deren Kosten erworben. Für diesenzweifelhaften Effekt wollen Sie also das gute System derAltersrückstellungen abschaffen; das ist mit uns nicht zu
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Christine Aschenberg-Dugnus
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machen. In der PKV wird eine generationengerechte Lö-sung praktiziert.
Doch Sie gehen sogar so weit, dass Sie in der Bürgerver-sicherung Rücklagenbildungen untersagen wollen. Dasist nicht vorausschauend; so schafft man kein Gesund-heitssystem, das zukunftsfest ist.Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Wei-terentwicklung unseres wirklich ausgezeichneten Sys-tems ist es viel zielführender, über weitere Reformen inder GKV und in der PKV nachzudenken. Das ist dochdie Lösung. Wir dürfen doch nicht das duale System aufdem Altar einer sogenannten Bürgerversicherung opfern,bei der wirklich nur der Name gut ist. Wir sollten ge-meinsam daran arbeiten, den bewährten Dualismus zuoptimieren, indem wir die jeweiligen Vorteile beiderSysteme stärken und miteinander kombinieren. Darinliegt die Zukunft des Gesundheitssystems, nicht in derEntmündigung von Millionen PKV-Versicherten.Danke schön.
Die Kollegin Birgitt Bender hat nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WerteKollegin Aschenberg-Dugnus, wenn man Sie so hört,dann ist man schon froh, dass die FDP in Umfragen beinur 2 Prozent steht.
Jetzt reden wir einmal über die PKV. Diese Regierunghat in den letzten drei Jahren immer ihre schützendeHand über die PKV gehalten. Einige Beispiele gefällig?Erst einmal hat sie die Frist, die gesetzlich Versicherteeinhalten müssen, bis sie in die PKV wechseln können,von drei Jahren auf ein Jahr verkürzt.
Mit der Pflegereform wurde der privaten Versicherungs-branche der sogenannte Pflege-Bahr geschenkt. Er wirddem Großteil der Pflegebedürftigen nichts nützen, eröff-net der privaten Krankenversicherung aber ein neues Ge-schäftsfeld – sonst eben nichts.
Die Auswirkungen des vorerst letzten Akts dieserKlientelpolitik erleben wir in diesen Tagen. Der Euro-päische Gerichtshof hat entschieden, dass die Versiche-rer für Frauen und Männer keine unterschiedlichenPreise mehr verlangen dürfen. Beflissen hat die Bundes-regierung dafür gesorgt, die Auswirkungen dieses Ur-teils auf die PKV abzupuffern; denn geschlechtsneutraleTarife soll es nur für Neukundinnen und -kunden geben,für Bestandsversicherte bleibt dank dieser Koalition al-les beim Alten.
– Werter Kollege, die Vereinbarkeit dieser Regelung mitdem Europarecht ist mehr als fraglich.
Das wird sich spätestens dann zeigen, wenn die ersteAltversicherte vor den EuGH zieht. Doch für die Bran-che ist es natürlich erst einmal bequemer: Das erspartden Ärger mit den männlichen Altversicherten, und nurdas zählt für die Bundesregierung.Aber die PKV setzt noch einen drauf. Die Beiträge fürneu eintretende Männer sind gestiegen. Aber glaubenSie etwa, die für die Frauen seien gesunken? Ganz imGegenteil! Tatsächlich haben diese Tarife bei diversenUnternehmen sogar zugelegt. Da der PKV die Ausgabendavonlaufen, braucht sie nämlich jeden Cent, und dapassen Beitragssenkungen eben nicht ins Konzept. Hierzeigt sich wieder einmal: Die Doppelstruktur von gesetz-licher und privater Krankenversicherung ist nicht nur un-gerecht, weil sie Gutverdienenden ermöglicht, sich vomSolidarausgleich zu verabschieden. Die PKV als solcheist eine Fehlkonstruktion, nichts anderes.
Man sieht es doch: Obwohl sie weit weniger chro-nisch Kranke, Behinderte und Alte versichert, liegen ihreAusgabensteigerungen deutlich über denen der GKV.
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einerAbschaffung der PKV als eigenständiges Versicherungs-system neben der GVK absolut richtig. Wir braucheneine Bürgerversicherung, die auch die bisher PKV-Versi-cherten am Solidarausgleich beteiligt
und so – hören Sie gut zu, werter Herr Kollege – den so-lidarischen Krankenversicherungsschutz demografiefestmacht; auch das ist die PKV nämlich nicht.
Allerdings – das sage ich jetzt Ihnen, Herr KollegeWeinberg – schießen die Kollegen und Kolleginnen von
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Birgitt Bender
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der Linken dann doch über das Ziel hinaus; denn siewollen den privaten Krankenversicherungsunternehmendas Vollversicherungsgeschäft verbieten. Sie sollen nurnoch Zusatzversicherungen anbieten können. Damitwürde man sich völlig überflüssigerweise verfassungs-rechtliche Probleme aufhalsen. Warum eigentlich – sofrage ich Sie – soll man den privaten Krankenversiche-rungen nicht zumuten, mit den gesetzlichen Krankenver-sicherungen in einen Wettbewerb nach gleichen Spielre-geln im Rahmen der Bürgerversicherung einzutreten?
Einen solchen Wettbewerb, in dem für alle die gleichenSpielregeln gelten, würden die gesetzlichen Kassen nichtfürchten müssen. Das genau ist unser Weg in die Bürger-versicherung.Danke schön.
Der Kollege Rudolf Henke hat für die Unionsfraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren auf denTribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns vonCDU und CSU ist jeder Mensch von gleichem Wert. InBezug auf die Substanz medizinischer Hilfe für Patien-ten lehnen wir eine Unterscheidung zwischen verschie-denen Versichertengruppen ab. Ärztliche Hilfe darf nichtvom Geldbeutel und auch nicht vom Versicherungsstatusabhängen. Ob jemand zur gesetzlichen Krankenver-sicherung gehört, ob er privat versichert ist, ob er Bei-hilfe bezieht oder von der Stütze lebt – das alles soll kei-nen Unterschied bei der ärztlichen Behandlung machen.
Beim Hotelkomfort mag es Unterschiede geben; in derMedizin muss die Behandlung eines jeden Patientenfachlich immer auf der Höhe der Zeit erfolgen. Genaudas sind die Normen, die im Sozialgesetzbuch festgelegtsind, und es sind die Normen, die Ärzte und andere Be-handelnde den Patientinnen und Patienten in der privatenKrankenversicherung schulden.Wenn man sich die Frage stellt: „Was ist denn dasKernargument des Antrags, den Sie als Linke hier einge-bracht haben?“, muss man sich vergegenwärtigen, wiedie Lage wirklich ist. Wir Deutschen werden – das istschon gesagt worden – weltweit beneidet um den sehr,sehr guten Zugang zu medizinischer Versorgung in unse-rem Land.
In kaum einem Land der Welt sind die Wartezeiten aufeinen Termin für eine notwendige Operation so kurz wiebei uns. In kaum einem Land der Welt ist es so leicht, ei-nen Arzt, Hausarzt oder Facharzt, aufzusuchen, wie beiuns. Ja, es mag Wartezeiten geben; aber wenn es daraufankommt, wird es immer möglich sein, rasch einen Ter-min zu bekommen, und sei es, weil der Hausarzt sich da-rum kümmert.
In kaum einem Land der Welt ist die Eigenbeteiligungdesjenigen, der medizinische Hilfe braucht, niedriger alshier. Erst Ende 2012 haben wir die Kassengebühr für denBesuch einer Praxis aufgehoben. Das lassen wir uns2 Milliarden Euro pro Jahr kosten. In kaum einem Landder Welt ist auch die Versorgung der Kranken, die aufder Schattenseite der Gesellschaft leben, so zuverlässigwie in Deutschland.Wenn Kritik an unserer gesundheitlichen Versorgunggeübt wird, dann bezieht sie sich eher auf ein Zuviel alsauf ein Zuwenig. In vielen Fällen verlassen wir uns sosehr auf die Qualität der Versorgung, dass wir glauben,wir könnten es uns leisten, uns wenig um Gesundheits-förderung und Prävention zu kümmern. Wir denken,dass die Versorgung all das, was wir im Bereich Präven-tion und Gesundheitsförderung versäumen, ausgleicht.CDU/CSU und FDP werden in den kommenden Wocheneine nachhaltige Initiative starten, um den Bereich Prä-vention und Gesundheitsförderung zu stärken.
Bei Krankheit gibt es oft so viele Hilfen in unseremLand, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten.In einer solchen Situation, in der sich sicher etlichesKritische zur Versorgung sagen lässt, legen Sie von derFraktion Die Linke uns einen Antrag vor, in dem das Ne-beneinander von gesetzlicher Krankenkasse und privaterKrankenversicherung als Hauptgrund aller Mängel imGesundheitswesen benannt wird. Damit führen Sie dieMenschen in Deutschland hinter die Fichte. Sie bewegensich weit weg von der Realität.
Sie haben Jens Spahn angesprochen und ihn gewis-sermaßen zum Kronzeugen gemacht. Ich will einmal ausseinen zehn Thesen zu den Anforderungen an eine Kran-kenversicherung der Zukunft zitieren:
Die Debatte zum Verhältnis von Gesetzlicher undPrivater Krankenversicherung darf nicht als linkeNeiddebatte geführt werden.In genau dieser Art führen Sie aber die Debatte.
Dieser Neid wird gleich auf zwei Ebenen geschürt:SPD, Linke und Grüne erwecken in der politischenDiskussion zum einen den Eindruck, man könntedie Finanzprobleme der GKV am besten lösen, in-dem man die „unsolidarischen Besserverdiener“ zuBeitragszahlern machte, und zum Zweiten wird dieangeblich bessere Versorgung von Privatpatientenangeprangert, beispielhaft regelmäßig illustriert an
Metadaten/Kopzeile:
26726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 216. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 16. Januar 2013
Rudolf Henke
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Bezogen auf die PKV gehört dazu: ein Ende der Billigta-rife, eine überarbeitete Systematik zur Kalkulation derTarife, ein einheitlich definierter Mindestversicherungs-schutz, eine stärkere Versorgungs- und eine geringereVertriebsorientierung bei den Versicherungen. Das sindalles Punkte, über die wir diskutieren und reden können,über die wir bereits sprechen. Aber was Sie machen, ist,Neid schüren und eine anschließende Räuberei vorberei-ten. Sie wollen eigentlich nichts anderes, als die Privat-versicherten um 170 Milliarden Euro Rücklagen bringenund dieses Geld verteilen. Dieser Betrag ist in der PKVangesammelt worden und fällt unter das Eigentumsrecht.
Das ist letzten Endes eine klassenkämpferisch moti-vierte, wahrscheinlich kommunistisch durchdachte Poli-tik,
mit der Sie letztlich nichts anderes erreichen, als Unfrie-den in der Gesellschaft zu schüren.
Kollege Henke, achten Sie bitte auf die Zeitanzeige.
Deswegen widersprechen wir Ihrem Antrag und werden
ihn ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir haben jetzt alle eine Ahnung davon, wie die wei-
tere Behandlung in den Ausschüssen zu einem entspre-
chenden Meinungsaustausch führen wird. Für heute
schließe ich aber die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10119 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 17. Januar 2013,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.