Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und teile Ihnen vor Eintritt in
die Tagesordnung mit, dass der Kollege Dr. Heinz
Riesenhuber am 1. Dezember seinen 77. Geburtstag ge-
feiert hat und die Kollegin Ute Kumpf am 4. Dezember
ihren 65. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses bei-
den herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für
die Zukunft!
Da wir gerade bei den denkwürdigen Ereignissen
sind, möchte ich auch daran erinnern, dass heute auf den
Tag vor 40 Jahren, am 13. Dezember 1972, die 7. Legis-
laturperiode eröffnet wurde und damals mit Annemarie
Renger zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin des
deutschen Parlaments gewählt wurde.
Der einzige Abgeordnete, der an dieser Konstituie-
rung des 7. Deutschen Bundestages bereits teilgenom-
men hat und immer noch dem Deutschen Bundestag an-
gehört, ist Wolfgang Schäuble, der deswegen heute ein
denkwürdiges Parlamentsdienstjubiläum begeht und
dem wir auf diesem Wege noch einmal unseren Respekt
und unsere Gratulation übermitteln können.
Wir müssen noch eine Wahl durchführen, bevor ich
den Tagesordnungspunkt 5 aufrufe. Die FDP-Fraktion
schlägt vor, für den aus dem Gemeinsamen Ausschuss
nach Art. 53 a des Grundgesetzes ausscheidenden
Kollegen Christian Ahrendt den Kollegen Dr. Stefan
Ruppert als stellvertretendes Mitglied zu wählen. Kön-
nen Sie sich mit diesem Vorschlag anfreunden? – Das ist
offensichtlich der Fall. Damit ist der Kollege Stefan
Ruppert als stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen
Ausschusses gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nungspunkte 35 und 46 b abzusetzen und die Tagesord-
nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Panzerlieferungen an Saudi-Arabien – Rüs-
tungsexportentscheidungen der Bundesregie-
rung und Vereinbarkeit mit den geltenden Re-
geln
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 46
a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Energiewirtschaftsgesetzes
– Drucksache 17/11369 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Heinz Riesenhuber,
Nadine Schön , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Martin Lindner , Claudia Bögel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Innovation stärken und Lust auf Technik
wecken
– Drucksache 17/11859 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
26192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Dietrich Monstadt, Michael Grosse-
Brömer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Heinz Lanfermann, Jens Ackermann, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Revision der europäischen Medizinpro-
dukte-Richtlinien: Vertrauen wieder her-
stellen – Patientensicherheit bei Medizin-
produkten muss erste Priorität sein
– Drucksache 17/11830 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf , Christel
Humme, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Diskriminierung abbauen – In jedem Alter
– Drucksache 17/11831 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-
Leißner, Petra Ernstberger, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD
Die soziale und wirtschaftliche Lage der
Kultur- und Kreativschaffenden verbessern
– Drucksache 17/11832 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Friedensdialog in Kolumbien aktiv unter-
stützen
– Drucksache 17/11839 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU – Lateinamerika: Partnerschaft für eine
sozial-ökologische Transformation
– Drucksache 17/11838 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 47
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Omid Nouripour, Volker Beck ,
Marieluise Beck , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Den am 12. September und am 4. Oktober
2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall be-
enden
– Drucksachen 17/11555, 17/11739 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 505 zu Petitionen
– Drucksache 17/11862 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 506 zu Petitionen
– Drucksache 17/11863 –
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 507 zu Petitionen
– Drucksache 17/11864 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26193
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 508 zu Petitionen
– Drucksache 17/11865 –
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 509 zu Petitionen
– Drucksache 17/11866 –
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 510 zu Petitionen
– Drucksache 17/11867 –
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 511 zu Petitionen
– Drucksache 17/11868 –
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 512 zu Petitionen
– Drucksache 17/11869 –
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Geplante Schließung bei Opel Bochum verhin-
dern
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ergebnisse der Gutachten zu Umweltauswir-
kungen von Fracking zügig umsetzen
– Drucksache 17/11829 –
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schäfer , Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens
und Verbot privater militärischer Dienstleis-
tungen aus Deutschland
– Drucksachen 17/4673, 17/5549 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Hans-Christian Ströbele
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zum Eu-
ropäischen Hilfsfonds für die am stärksten von
Armut betroffenen Personen
KOM(2012) 617 endg.; Ratsdok. 15865/12
hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2
– Drucksachen 17/11617 Nr. A.9, 17/11882 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß
ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-
zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 17/11821 –
ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Verantwortung der Bundesregierung ange-
sichts der Kostenexplosion bei Infrastruktur-
großprojekten S 21 und BER
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Anstelle des abgesetzten Tagesordnungspunktes 35
wird der Tagesordnungspunkt 38 aufgerufen. Im Übri-
gen werden die Tagesordnungspunkte 10 und 45 ge-
tauscht.
Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-
che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-
punkteliste aufmerksam:
Der am 29. November 2012 überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Gesundheit zur Mitbe-
ratung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Straf-
barkeit der gewerbsmäßigen Förderung der
Selbsttötung
– Drucksache 17/11126 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Der am 29. November 2012 überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkür-
zung des Restschuldbefreiungsverfahrens und
zur Stärkung der Gläubigerrechte
– Drucksache 17/11268 –
26194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der am 29. November 2012 überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zur Mitberatung überwie-
sen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwick-
lung des Städtebaurechts
– Drucksache 17/11468 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Die am 29. November 2012 überwie-
sene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem In-
nenausschuss zur Mitberatung überwie-
sen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2011
– Drucksache 17/8360 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Die am 23. November 2012 überwiesene nachfol-
gende Unterrichtung soll nunmehr nicht mehr dem
Haushaltsausschuss zur Mitberatung
überwiesen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellen-
den Existenzminimums von Erwachsenen und
– Drucksache 17/11425 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die am 23. November 2012 überwiesene nachfol-
gende Unterrichtung soll nunmehr nicht mehr dem
Haushaltsausschuss zur Mitberatung
überwiesen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Tätigkeit der Verkehrsinfra-
strukturfinanzierungsgesellschaft im Jahr
2011
– Drucksache 17/11435 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Dazu stelle ich keinen Widerspruch fest. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember
2012 in Brüssel
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regie-
rungserklärung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist
offensichtlich einvernehmlich.
Dann darf ich das Wort zur Abgabe einer Regierungs-
erklärung der Bundeskanzlerin erteilen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Am Montag dieser Woche
hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhal-
ten. Mit dieser Entscheidung mahnt uns das Nobelpreis-
komitee, wieder das in den Mittelpunkt zu rücken, was
in der gegenwärtigen Krise wirklich entscheidend ist:
Europa als Ort des Friedens, der Freiheit und des Wohl-
stands zu bewahren. Das dürfen wir bei allem, was wir
gegenwärtig zu tun haben, nie vergessen; das muss uns
bei allen Entscheidungen, die wir zu treffen haben, im-
mer leiten.
Der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van
Rompuy, hat in Oslo in seiner Rede im Namen der anwe-
senden Präsidenten und Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union gesagt – ich zitiere ihn –:
Wir alle arbeiten dafür, unseren Kindern und deren
Kindern ein besseres Europa zu hinterlassen.
Genau darum muss es bei unseren Mühen und Anstren-
gungen gehen.
In diesem Sinne verpflichtet der Nobelpreis unsere
politische Generation dazu, gemeinsam dafür zu sorgen,
dass Europa sein großes Friedens- und Wohlstandsver-
sprechen auch in Zukunft halten kann. Das gelingt nur
durch abgestimmte, durch gemeinsame Anstrengungen.
Nur so können wir unser europäisches Modell der sozia-
len Marktwirtschaft, das wirtschaftlichen Erfolg und so-
ziale Verantwortung verbindet, auch in der Welt des
21. Jahrhunderts behaupten.
Dafür müssen wir, die Mitgliedstaaten und die Organe
der Europäischen Union, angesichts einer sich verän-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26195
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
dernden Welt selber Mut zu Veränderungen haben. Wir
müssen dafür sorgen, dass sich die Stärken unserer
Union neu entfalten können: die Freiheit, die Dynamik
und der Wohlstand, die uns die Europäische Union im
Innern bieten kann; die Durchsetzungskraft und die Gel-
tung, die uns die Europäische Union nach außen ver-
schafft.
Es ist deshalb gut, dass der Präsident des Europäi-
schen Rates, Herman Van Rompuy, vorgeschlagen hat,
den Europäischen Rat im Dezember 2013, also in einem
Jahr, den Fragen der Gemeinsamen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik zu widmen; dies wollen wir auf dem
Rat heute und morgen beraten. Entscheidend ist für uns
dabei die Stärkung des umfassenden Ansatzes der Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, also
der zivilen und militärischen Instrumente, die wir im eu-
ropäischen Krisenmanagement gemeinsam einsetzen.
Hierin liegt unbestreitbar ein großer Vorteil der Europäi-
schen Union im Vergleich mit anderen internationalen
Akteuren. Wenn wir daran denken, wie sich dieser um-
fassende Ansatz auch in unserem Herangehen an viele
Konflikte inklusive des Afghanistan-Konfliktes bewährt
hat, dann wissen wir, dass wir mit unserer europäischen
Perspektive etwas Wichtiges einbringen können. Die Eu-
ropäische Union wird natürlich gleichzeitig auch stabiler
Pfeiler innerhalb der transatlantischen Sicherheitsarchi-
tektur sein.
Wie jedes Jahr im Dezember wird sich der Europäi-
sche Rat darüber hinaus auch mit der Erweiterungspoli-
tik befassen. Voraussichtlich im Juli nächsten Jahres
können wir Kroatien als 28. Mitglied der Europäischen
Union begrüßen. Aber wir werden zum jetzigen Zeit-
punkt – das ist von den Außenministern vorbereitet wor-
den – keine Entscheidung zum Beginn von Beitrittsver-
handlungen mit weiteren Ländern treffen. Dafür ist die
Zeit nach unserer Auffassung nicht reif.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat sich etwas
geändert: Bei Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit
schauen wir heute genauer hin, als wir es früher getan
haben. Genauso prüfen wir auch bei den Erweiterungs-
kandidaten sorgfältiger als früher, ob diese wirklich den
Anforderungen genügen, die die Aufnahme von Ver-
handlungen mit dem Fernziel einer EU-Mitgliedschaft
mit sich bringt. Ich glaube, das ist richtig so; das ist un-
verzichtbar, damit wir unsere Werte und Standards in
Europa wirklich leben können.
Meine Damen und Herren, die Gemeinsame Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik und die Erweiterungspo-
litik sind für Europas Durchsetzungskraft und Geltung
nach außen ohne Zweifel von großer Bedeutung, und
doch wissen wir, dass sich die Augen aller Beobachter
des heute beginnenden Rats der Staats- und Regierungs-
chefs einmal mehr vor allen Dingen auf die Bewältigung
der europäischen Staatsschuldenkrise richten. Dabei
müssen wir, ebenfalls einmal mehr, feststellen: Der Weg
zu einem Europa der Stabilität und der Stärke ist und
bleibt langwierig und anstrengend, aber er ist und bleibt
auch unverzichtbar.
Die Größe der Herausforderung sollte dennoch nicht
den Blick für das verstellen, was wir in den vergangenen
Jahren und gerade auch in diesem Jahr 2012 bereits er-
reicht haben.
Erstens. Wir haben heute einen permanenten europäi-
schen Stabilitätsmechanismus, mit dem wir Gefahren für
die Euro-Zone abwehren können.
Zweitens. Wir haben einen Fiskalvertrag, mit dem wir
die Grundlage für solides Haushalten verbessert haben.
Drittens. Das Staatsdefizit in der Euro-Zone hat sich
seit 2009/2010 halbiert.
Viertens. Im Bankenbereich werden wichtige Lehren
aus der Finanzmarktkrise gezogen und zahlreiche Tätig-
keitsfelder neu oder verschärft reguliert.
Deutschland ist in diesem Zusammenhang übrigens
an vielen Stellen Vorreiter. Ich erinnere nur an das Ver-
bot der Leerverkäufe, was heute auf europäischer Ebene
reguliert ist. Und ich erinnere daran, dass wir jetzt auch
beim Hochfrequenzhandel Vorreiter sind.
Es ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass sich
die Finanzminister der Euro-Zone heute Nacht auf einen
rechtlichen Rahmen und die Grundzüge eines gemeinsa-
men Aufsichtsmechanismus für Banken geeinigt haben.
Dies muss in den kommenden Monaten natürlich umge-
setzt werden, damit die Bankenaufsicht am 1. März 2014
ihre Arbeit aufnehmen kann. Die Aufsicht wird dann, so-
bald sie funktionsfähig ist, Fehlentwicklungen im natio-
nalen Bankensektor frühzeitig aufdecken und korrigie-
ren können, bevor Gefahren für die gesamte Euro-Zone
entstehen. Ich möchte Wolfgang Schäuble, der jetzt noch
bei der Euro-Gruppe ist, ganz herzlich dafür danken,
dass es gelungen ist, Kernforderungen Deutschlands
wirklich durchzusetzen.
Wir werden eine klare Trennung von geldpolitischer
Verantwortung der Europäischen Zentralbank und Auf-
sicht haben. Wir werden die Aufsicht auf die systemrele-
vanten Banken beschränken; das bedeutet: Banken, de-
ren Bilanzsumme größer als 30 Milliarden Euro ist oder
die mehr als 20 Prozent der Wirtschaftskraft eines Lan-
des ausmachen. Wir haben ebenfalls erreicht, dass die
Aufsicht, wenn sie entsprechende Indizien hat, über
diese systemrelevanten Banken hinaus eingreifen kann,
aber immer nur als Ganzes. Es gibt keine getrennte Ver-
antwortlichkeit, sondern klar ist: entweder nationale
Aufsicht oder europäische Aufsicht.
Fünftens. Ebenfalls einen Schritt weitergekommen
sind wir bei der Einführung der Finanztransaktionsteuer.
Das Europäische Parlament hat gestern zugestimmt, dass
elf Mitgliedstaaten die Entwicklung einer Finanztransak-
tionsteuer in verstärkter Zusammenarbeit angehen kön-
nen. Damit ist eine weitere Hürde auf dem Weg zur
Einführung einer solchen Finanztransaktionsteuer ge-
nommen.
26196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
Sechstens. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zu so-
lidem Haushalten und Strukturreformen für mehr Wett-
bewerbsfähigkeit. Ich weiß, dass dies in einigen von der
Krise besonders betroffenen Mitgliedstaaten den Bürge-
rinnen und Bürgern viel abverlangt, doch die Mühe ist
nicht umsonst. Sie lohnt sich; die Reformen zeigen erste
Erfolge, sie zeigen Wirkung. So gehen die Defizite in
den Leistungsbilanzen erkennbar zurück. In Irland ist
das Defizit bereits abgebaut. Die Lohnstückkosten sind
spürbar gesunken; das gilt ebenso für Portugal und Spa-
nien, aber auch für Griechenland.
Es ist mir auch heute wieder wichtig, zu betonen, dass
die Bemühungen der griechischen Regierung, jetzt das
Land zu reformieren, moderne Strukturen zu schaffen
und damit die Grundlagen für die Zukunft zu legen, un-
sere Unterstützung verdienen. Auf diesen Grundlagen
wird es möglich sein, wieder Wachstum zu bekommen
und damit eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage und
der Lebensverhältnisse der Menschen zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das umgesetzte
Rückkaufprogramm von Staatsanleihen hat einen wichti-
gen Beitrag zur Verbesserung der Schuldentragfähigkeit
geleistet. Ich bin dem Haushaltsausschuss dankbar, dass
gestern die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden,
dass die nächsten Tranchen ausgezahlt werden können.
Deutschland hat damit den Weg freigemacht. Ich hoffe,
dass die Euro-Gruppe diese Auszahlung heute beschlie-
ßen kann. Wer sich mit den Verhältnissen in Griechen-
land befasst, weiß, dass es sowohl dringend notwendig
ist, dass der Staat seine ausstehenden Rechnungen be-
zahlen kann, als auch, dass die Banken rekapitalisiert
werden, damit sie wieder Kredite an die Wirtschaft ge-
ben können.
Damit zeigt sich einmal mehr: Dem konsequenten
Reformkurs der Mitgliedstaaten für mehr Wettbewerbs-
fähigkeit und Konsolidierung der Haushalte steht auf der
anderen Seite die Solidarität Europas gegenüber. Auf
dieser Grundlage konnte das in diesem Hohen Hause
schon im Juli beschlossene Rekapitalisierungsprogramm
für spanische Banken in den ersten Schritten umgesetzt
werden. Die erste Tranche ist ausgezahlt.
All unseren Maßnahmen und Entscheidungen liegt
die Überzeugung zugrunde, dass alles, was wir zur Un-
terstützung einzelner Mitgliedstaaten unternehmen, der
ganzen Euro-Zone und damit auch dem deutschen Inte-
resse dient. All unsere Maßnahmen und Entscheidungen
folgen darüber hinaus der Überzeugung, dass Konsoli-
dierung eine notwendige Voraussetzung für nachhaltiges
Wachstum ist. Wir wollen neues Wachstum. Wir wollen
vor allen Dingen mehr Beschäftigung auf der Grundlage
solider Haushalte erzielen.
Die Frage, die wir immer wieder diskutieren müssen,
ist: Wie entsteht Wachstum? Dabei dürfen wir nicht au-
ßer Acht lassen: Wachstum entsteht vor allem aus unter-
nehmerischer Tätigkeit. Unternehmerische Tätigkeit ent-
steht aus Freiheit und der notwendigen Flexibilität.
Hierfür müssen wir alle in Europa arbeiten. Eine Mög-
lichkeit für neues Wachstum ist natürlich – das ist gerade
einer der großen Vorteile Europas –, den Binnenmarkt
energisch fortzuentwickeln. Auch hierüber werden wir
heute und morgen beim Europäischen Rat sprechen. Wir
haben im Juni dem Fiskalvertrag aus genau diesem
Grunde einen Pakt für Wachstum und Beschäftigung an
die Seite gestellt. Er umfasst Bemühungen der Mitglied-
staaten, eine Mobilisierung europäischer Mittel und
Rechtssetzungsvorschläge für eine Verbesserung des
Binnenmarktes. Vielleicht nicht für jedermann im Vor-
dergrund steht, dass wir im Augenblick 30 solcher
Rechtssetzungsvorschläge zur Stärkung des Binnen-
marktes umsetzen. Dabei geht es um das europäische Pa-
tentrecht – die Diskussion darüber nähert sich ihrem Ab-
schluss; diese Diskussion hat länger als eine Dekade
gedauert –, dabei geht es um so etwas Interessantes wie
die elektronische Signatur – damit sind wir in Deutsch-
land eher nicht so gut vorangekommen; mal sehen, was
uns Europa da für Wege eröffnet –, dabei geht es um ein
vernünftiges europäisches Vergaberecht und viele andere
Dinge, die in der Summe die Vorteile des Binnenmarktes
besser zum Ausdruck bringen. Deshalb müssen diese ge-
setzgeberischen Maßnahmen schnell umgesetzt werden.
Um Impulse für nachhaltiges Wachstum zu setzen,
wurden in den vergangenen zwölf Monaten circa
10 Milliarden Euro in den Strukturfonds umgeschichtet,
zum Beispiel für Lohnzuschüsse und berufliche Bildung,
vor allen Dingen in den acht Mitgliedstaaten mit der
höchsten Jugendarbeitslosigkeit. Die Kommission sagt
uns, dass 660 000 junge Menschen davon profitiert ha-
ben. Wir haben das Kapital der Europäischen Investi-
tionsbank aufgestockt. Damit können wir auch kleinere
und mittlere Unternehmen in den Ländern, in denen
Wachstum gebraucht wird, stärken. Der Abbau der Ju-
gendarbeitslosigkeit ist zentrales Thema für die Ent-
wicklung der Europäischen Union; denn alle jungen
Menschen in Europa brauchen eine Perspektive, sie
brauchen Chancen für Ausbildung und Beschäftigung.
Die Bundesbildungsministerin hat gerade mit einigen
dieser Staaten und der Kommission eine Konferenz
durchgeführt. Wir können mit unserem dualen Ausbil-
dungssystem wirklich hilfreich sein. Das wird natürlich
ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Wir müssen
schnell wirkende Maßnahmen kombinieren mit dem
Aufbau eines dualen Berufsbildungssystems; das ist die
Zukunft für Europa.
Die Erfolge gerade dieses Jahres 2012 zeigen: Wir
sind ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg zu
einem Europa der Stabilität und Stärke. Aber wir dürfen
uns mit dem Erreichten nicht zufriedengeben. Es bleibt
noch sehr viel zu tun, um das Vertrauen in die Europäi-
sche Union als Ganzes zurückzugewinnen
und die Zukunft Europas nachhaltig zu sichern. Ich habe
deshalb bereits im Oktober hier klargemacht: Wir dürfen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26197
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Anstatt uns jetzt
zurückzulehnen, müssen wir vielmehr auf allen Ebenen
Schritt für Schritt dafür sorgen, dass sich die Stärken Eu-
ropas auch wirklich entfalten können.
Genau in diesem Geiste wird sich der Europäische
Rat heute und morgen mit der Fortentwicklung der Wirt-
schafts- und Währungsunion beschäftigen. Herman Van
Rompuy hat in Absprache mit dem Präsidenten der
Kommission, der Euro-Gruppe und der EZB ein Hinter-
grunddokument vorgelegt, das auf seinen Vorarbeiten
von Juni und Oktober aufbaut. Ich sage deshalb „Hinter-
grunddokument“, weil dieses Dokument nicht Teil der
Beschlussfassung ist. Es dient als Anregung für unsere
Diskussionen heute und morgen.
Für mich steht bei unseren Gesprächen allerdings nicht
im Vordergrund, was wir irgendwann in einer fernen Zu-
kunft machen wollen, sondern ich glaube, dass das im
Vordergrund stehen muss, was wir in den nächsten ein,
zwei, drei Jahren wirklich schaffen müssen, um die Wirt-
schafts- und Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren.
Neben mehr Regulierung der Finanzmärkte, einer besse-
ren Bankenaufsicht und fiskalischer Zusammenarbeit
gibt es dabei gerade auch vor dem Hintergrund der Kon-
kurrenz weltweit eine Schlüsselfrage: Das ist die Wettbe-
werbsfähigkeit. Nur mit ihr können wir Wachstum und
Beschäftigung dauerhaft zurückgewinnen.
90 Prozent des weltweiten Wachstums finden außerhalb
Europas statt. Wir müssen exportfähig sein. Wir müssen
unsere Produkte verkaufen können. Das geht nur, wenn
wir wettbewerbsfähig sind.
Dort, wo wir in der Vergangenheit Wettbewerbs-
vorteile vertan haben, müssen wir sie jetzt früher und
entschlossener erkennen und nutzen. Dort, wo Ände-
rungsbedarf festgestellt wurde, müssen jetzt Reformen
stattfinden. Wenn wir die Augen davor verschließen,
werden wir den Wohlstand für die Zukunft nicht sichern
können. Denn es war die Abnahme der Wettbewerbsfä-
higkeit in einigen Mitgliedstaaten, die wesentlich dazu
geführt hat, dass diese Länder in Not und schließlich die
Euro-Zone als Ganzes in Gefahr geraten ist. Deshalb ist
eine Politik, die auf allen Ebenen vor allem durch Struk-
turreformen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit führt, die
richtige Antwort auf die tiefe Krise, in die Europa gera-
ten ist.
Die christlich-liberale Bundesregierung will ein star-
kes, ein wettbewerbsfähiges Europa. Die christlich-libe-
rale Bundesregierung will, dass das europäische Wirt-
schafts- und Sozialmodell erfolgreich bleibt, auch und
gerade mit Blick auf den globalen Wettbewerb. Deshalb
ist es eine gute Initiative, dass der Bundeswirtschafts-
minister zusammen mit vier anderen Wirtschaftsminis-
tern an die Kommission geschrieben und gesagt hat: Wir
müssen auch die Industriepolitik und die industrielle
Produktion in Europa wieder kräftigen.
Wir können nicht allein vom Dienstleistungssektor le-
ben.
Wir brauchen industrielle Fertigung.
Wenn man sich einmal anschaut, wie in einigen Län-
dern die Industrieproduktion in den letzten Jahren zu-
rückgegangen ist und die Exportfähigkeit abgenommen
hat, dann sieht man ein: Das ist natürlich ein Alarmsi-
gnal. Bisher gibt es in der Währungsunion keine Mög-
lichkeiten, die notwendige Ausrichtung nationalen Han-
delns auf die Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit als
Grundlage für dauerhaftes Wachstum und Beschäftigung
immer wieder einzufordern und notfalls auch durchzu-
setzen. Deshalb stehen wir bei der zwingend notwendi-
gen Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung
ganz am Anfang. Es gibt bisher dafür keinerlei Mecha-
nismen, obwohl bereits Jacques Delors vor Einführung
des Euro darauf hingewiesen hat, dass ohne wirtschafts-
politische Koordinierung in der Euro-Zone der Euro in
Schwierigkeiten geraten kann. Es führt kein Weg daran
vorbei, dass wir alles dafür tun müssen, in den Politikfel-
dern, die für das Funktionieren der Wirtschafts- und
Währungsunion von grundlegender Bedeutung sind,
besser zu werden. Denn der Verlust an Wettbewerbsfä-
higkeit eines einzelnen Mitgliedstaates wird wieder sehr
schnell zum Problem für alle.
Deshalb setzen wir uns und ich mich dafür ein, ein
neues, gestuftes und differenziertes Verfahren zu bekom-
men, in dessen Rahmen die Mitgliedstaaten mit Zu-
stimmung ihrer Parlamente – natürlich brauchen wir
die demokratische Legitimation – rechtsverbindliche
und durchsetzbare Reformvereinbarungen mit der euro-
päischen Ebene schließen. Wenn solche Reformverein-
barungen zwischen den Mitgliedstaaten und der europäi-
schen Ebene funktionieren sollen, müssen wir natürlich
Wege und Verfahren finden, um Fehlentwicklungen frü-
her aufzudecken; denn die existierenden Verfahren set-
zen zu spät an. Auch die Ungleichgewichteverfahren, die
wir jetzt im sogenannten Six-Pack haben, setzen viel zu
spät an. Denn mit diesen Verfahren ist nicht erkannt wor-
den, dass Spanien einen Rekapitalisierungsbedarf im
Bankensektor haben wird. Es ist nicht erkannt worden,
welche Schwierigkeiten Zypern hat. Kein einziges Mit-
gliedsland ist in einem solchen Ungleichgewichteverfah-
ren, obwohl erkennbar mit der Wettbewerbsfähigkeit
und der wirtschaftlichen Kraft vieles nicht in Ordnung
ist.
Zur Einführung solcher vertraglichen Vereinbarungen
müssen wir Klarheit darüber haben, welche Politikberei-
che essenziell für den Erfolg der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion insgesamt sind. Wir werden entscheiden
müssen, wie wir denn das Entstehen von solchen Fehl-
entwicklungen überhaupt messen wollen. Das ist ja
spannend, und es umfasst natürlich viele Bereiche, die
heute in nationaler Kompetenz liegen.
Deshalb habe ich bereits vor Monaten gesagt: Ich
kann mir vorstellen, konkrete Reformmaßnahmen, die
26198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
zu mehr Wettbewerbsfähigkeit führen, durch gezielte,
befristete und begrenzte finanzielle Anreize auch solida-
risch zu unterstützen.
Aber, meine Damen und Herren, weil ich manche Re-
flexe schon ahne, ergänze ich: Dies sollte nicht miss-
verstanden werden. Nur ein paar Verbesserungen an be-
stehenden Verfahren, gleichsam als Vorwand für das
Erschließen umfassender neuer Geldquellen, sind mit
Deutschland nicht zu machen.
Automatisierten Stabilisierungsmechanismen zum Aus-
gleich von Ungleichgewichten oder zur Abfederung ex-
terner Schocks, die im Übrigen nur schlecht verkleidete
Dauertransfers wären, stimmt die christlich-liberale
Bundesregierung nicht zu.
Es bleibt dabei: Deutschland lehnt die dauerhafte Verge-
meinschaftung von Schulden – in welcher Form auch
immer – ab.
Denn mit diesen Konzepten von gestern werden wir die
Krise von heute nicht lösen und die Herausforderungen
von morgen mit Sicherheit nicht bestehen.
Deshalb sage ich: Besinnen wir uns stattdessen lieber
auf die Stärken unseres europäischen Modells der sozia-
len Marktwirtschaft! Sorgen wir dafür, dass es Freiraum
für Unternehmertum in Europa gibt! Tun wir alles dafür,
damit Menschen in Europa Ideen entwickeln, sie in
hochwertige Produkte umsetzen und diese verkaufen
können – in Europa und außerhalb. Ich möchte deshalb
erreichen, dass wir heute und morgen konkrete weitere
Schritte verabreden, wie wir genau zu diesem Mehr an
Wettbewerbsfähigkeit kommen.
Als unmittelbar nächsten Schritt sollten wir dazu den
Sachverstand der Europäischen Kommission genauso
wie den Sachverstand anderer Organisationen – zum
Beispiel der OECD oder des IWF – mit einschlägiger
Expertise einbeziehen, um die Indikatoren, die Politikbe-
reiche zu identifizieren, die für das Funktionieren der
Wirtschafts- und Währungsunion entscheidend sind.
Gleichzeitig sollten wir Wege prüfen, wie die Koordinie-
rung verbessert und verbindlicher gestaltet werden kann.
Wir sollten alle Treffen des Europäischen Rates im
ersten Halbjahr 2013 nutzen, um genau diese wirt-
schaftspolitische Koordinierung konkret und dauerhaft
auszugestalten. Wenn wir für einen solchen Prozess
heute und morgen einen Fahrplan vereinbaren könnten,
dann wäre dies für mich ein gutes Ergebnis des Europäi-
schen Rates.
Am Ende dieses Prozesses sind weitreichende Festle-
gungen zu treffen. Dazu müssen alle Mitgliedstaaten in
einem transparenten Verfahren konsultiert werden, und
alle Staats- und Regierungschefs müssen sich mit ihren
Parlamenten beraten. Es ist ganz wichtig, dass wir die
nächsten Schritte so aufbauen, dass die Mitgliedstaaten
eingebunden sind und dass wir als die Vertreter der Re-
gierung mit Ihnen als den Vertretern des demokratisch
legitimierten Parlaments genau diese Dinge besprechen;
denn das wird für lange Zeit die Grundlage unserer Ko-
operation sein. Diese Reihenfolge ist absolut wichtig;
denn nur so werden die vereinbarten Maßnahmen die nö-
tige Kraft und die nötige Wirkung entfalten – die Kraft
und Wirkung, die zur Fortentwicklung der Wirtschafts-
und Währungsunion zwingend erforderlich sind. Sie
sind zwingend erforderlich, weil wir nie vergessen dür-
fen, dass der Euro weit mehr ist als nur eine gemeinsame
Währung.
Meine Damen und Herren, genau aus diesem Grunde
würdigte das Nobelpreiskomitee mit der Vergabe des
Friedensnobelpreises an die Europäische Union
in Zeiten der größten Bewährungsprobe dieser Union
nicht nur, dass Europa ein Ort der friedlichen Konflikt-
beilegung, der Überwindung von Grenzen, ein Modell
des Miteinanders und des Kompromisses geworden ist,
das seinesgleichen sucht.
Mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an die Euro-
päische Union gerade jetzt werden auch nicht nur die
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union geehrt –
die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Einfallsreich-
tum, mit ihrer Kreativität, mit ihrem Engagement dazu
beigetragen haben, dass sich Europa zu einem Kontinent
des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands entwi-
ckeln konnte. Mit der Vergabe des Friedensnobelpreises
inmitten der europäischen Staatsschuldenkrise fordert
das Nobelpreiskomitee uns vielmehr dazu auf, dass wir
uns alle auf unsere Stärke besinnen. Es fordert uns auf,
die Kraft der Freiheit zu nutzen; denn sie ist es, die den
Mut zur Veränderung gibt, und diesen Mut zur Verände-
rung brauchen wir.
Damit – davon bin ich überzeugt – wird es gelingen,
Europa stärker aus der Krise herauszuführen, als es in sie
hineingegangen ist. Das ist die große Aufgabe unserer
Zeit. Wir wissen: Wir haben es geschafft, Deutschland
stärker aus der Finanzmarktkrise hinauszuführen, als es
in sie hineingegangen ist. Deshalb wird uns das auch in
Europa gelingen, und das ist zutiefst im deutschen Inte-
resse.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26199
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrte Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es macht Sinn,
dass wir uns nach Ihrer Rede einmal die Realität in
Europa anschauen.
Das ist Ihre Bilanz nach 27 EU-Gipfeln und 27 derarti-
gen Regierungserklärungen – ich finde, die schlichten
Zahlen zeigen ganz gut, wie die Realität in Europa ist –:
18,2 Millionen Menschen sind zurzeit in der Europäi-
schen Union arbeitslos.
Das, Frau Bundeskanzlerin, ist eine halbe Million mehr
als vor diesen 27 Gipfeln und vor Ihren 27 Regierungs-
erklärungen – Tendenz steigend.
Noch schlimmer: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den
letzten drei Jahren von 18 Prozent auf fast 23 Prozent
gestiegen. Sie haben eben gesagt, dass gerade der Abbau
der Jugendarbeitslosigkeit ein Erfolg Ihrer Politik sei. In
Wahrheit sind 240 000 junge Menschen mehr arbeitslos
in Europa.
Die Schulden im europäischen Währungsraum, die Sie
ja immer senken wollten, sind in den letzten drei Jahren
ebenfalls gestiegen, und zwar um sage und schreibe
1 Billion Euro. – Das, Frau Bundeskanzlerin, ist trotz
Ihrer salbungsvollen Regierungserklärungen die bittere
Realität in Europa. Sie und Ihre konservativen Freunde
sind verantwortlich für diese bittere Realität in Europa.
Die Arbeitslosigkeit steigt, die Schulden steigen, die
Jugendarbeitslosigkeit steigt, und im gleichen Zeitraum,
Frau Bundeskanzlerin, ist der Anteil Deutschlands an
den diversen Rettungspaketen von anfangs 8,4 Milliar-
den Euro über 370 Milliarden Euro nun durch die zu-
sammen mit Ihnen organisierte Gemeinschaftshaftung
über die Europäische Zentralbank auf sage und schreibe
1 Billion Euro gestiegen. Eben haben Sie gesagt, dass es
zu genau dieser Entwicklung, einer ständig steigenden
Belastung mit neuem, frischem Geld aus Deutschland,
nicht kommen soll. Das Gegenteil, Frau Bundeskanzle-
rin, ist passiert. Sie haben 27-mal versprochen, es gebe
nicht immer mehr Geld aus Deutschland. 27-mal haben
Sie Ihre Versprechen gebrochen. Auch das ist übrigens
ein neuer Gipfel in der deutschen und europäischen Poli-
tik.
Sie haben Herman Van Rompuy zitiert, der bei der
Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo gesagt hat,
dass wir alle dafür arbeiten müssen, dass wir unseren
Kindern ein besseres Europa hinterlassen. Sie, Frau Bun-
deskanzlerin, hinterlassen unseren Kindern ein Europa
mit höherer Arbeitslosigkeit, schlechteren Chancen für
junge Leute und höheren Schulden. Sie hinterlassen ein
schlechteres Europa, in dem Millionen Menschen weni-
ger Hoffnung und Zuversicht, dafür aber Frust und Un-
sicherheit haben.
Es ist wahrlich eine schöne Bescherung, die Sie da zu
Weihnachten 2012 angerichtet haben.
– Ich habe nur die Zahlen zitiert. Offensichtlich finden
Sie 240 000 junge Menschen, die Sie mehr in die Ju-
gendarbeitslosigkeit gebracht haben, zum Lachen.
Scheinbar finden Sie um 1 Billion Euro höhere Schulden
in Europa nach drei Jahren Ihrer Politik zum Lachen.
Statt nun zu sagen, was Sie gegen diese dramatische
Entwicklung zu tun gedenken, was Sie und Ihre Kolle-
ginnen und Kollegen im Europäischen Rat denn nun ma-
chen wollen, halten Sie hier wolkige Reden. Was Sie uns
hier vorgestellt haben, ist wahrlich keine Regierungser-
klärung. Sie können ja auch nicht erklären, was Sie tun
wollen, weil Sie sonst zugeben müssten, dass Ihre eigene
Politik in den vergangenen drei Jahren diese Entwick-
lung mit steigender Arbeitslosigkeit und steigenden
Schulden produziert hat.
Frau Bundeskanzlerin, man muss nicht Volkswirt-
schaft studiert haben, um zu wissen, was passiert, wenn
man 27 Staaten der Union zum gleichen Zeitpunkt in ab-
solute Sparprogramme hineintreibt. Die Folge ist natür-
lich, dass die europäische Wirtschaft geradewegs in eine
Rezession rauscht. Genau dort stehen wir jetzt in Europa.
Statt endlich darüber zu beraten, was ganz praktisch ge-
tan werden muss, damit nicht immer mehr junge Men-
schen arbeitslos werden, was getan werden muss, um
Wachstum und Arbeit wieder in Gang zu bekommen, irr-
lichtert Ihre Regierung in der europäischen Institutionen-
debatte. Von einer sofortigen Volksabstimmung über
Europa, über den Rausschmiss Griechenlands aus der
EU und aus der Euro-Zone bis hin zur Abgabe von Sou-
veränität an die Europäische Union nach Brüssel – in Ih-
rer Regierung findet man alle Positionen, so gegensätz-
lich sie auch sein mögen.
Frau Bundeskanzlerin, das Letzte, was Europa jetzt
braucht, ist eine Geisterfahrerdebatte der deutschen Re-
gierung, sondern es geht ganz aktuell um drei konkrete
Fragen: Erstens. Wie verhindern wir eine Wiederholung
der Finanzkrise? Zweitens. Was können wir tun, um
Wirtschaft und Arbeit in Europa wieder in Gang zu be-
kommen? Drittens. Wie soll das Europa von morgen
26200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
aussehen, damit die Währungsunion endlich auch mit
einer politischen Union Hand in Hand geht?
Die Antwort auf die erste Frage, wie wir eine Wieder-
holung der Krise verhindern können, haben Herr Van
Rompuy, Herr Barroso und Jean-Claude Juncker zusam-
men mit Herrn Draghi in ihrem Fahrplan zu einer echten
Wirtschafts- und Finanzunion gegeben. Alle drei fordern
eine robuste Regulierung der Finanzmärkte. Das Pro-
blem, Frau Bundeskanzlerin, ist nur, dass es mal wieder
ausgerechnet die deutsche Bundesregierung ist, die das
blockiert. Van Rompuy, Juncker und Draghi sagen zu
Recht, dass Herr Schäuble falsch liegt, wenn er behaup-
tet, die Maßnahmen, die wir getroffen hätten, reichten
bereits aus.
Das Handelsblatt schreibt dazu:
Auf den europäischen Wertpapiermärkten geht der
Wildwuchs … weiter.
Es wurden gerade nicht, wie Sie eben behauptet haben,
die richtigen Lehren im Bankensektor gezogen. Welche
Lehre die Deutsche Bank gezogen hat, konnten wir ges-
tern wieder in der Zeitung lesen, meine Damen und Her-
ren. Der Schattenbankensektor ist nach wie vor unregu-
liert. Hier kommen Sie über Absichtserklärungen nicht
hinaus. Geschäfte und Derivate werden weiter großen-
teils im rechtsfreien Raum stattfinden. Die Beteiligung
des Finanzsektors an den Krisenkosten liegt bis heute bei
null.
Frau Bundeskanzlerin, hinzu kommt noch Ihr Ver-
steckspiel bei der Bankenunion. Erst erklären Sie diese
Bankenunion zu dem neuen Königsweg bei der Neuord-
nung des europäischen Bankenwesens. Dann stehen Sie
selbst, höchstpersönlich, permanent auf der Bremse,
wenn es darauf ankommt, diese Bankenunion zu reali-
sieren. Seit gestern Nacht wissen wir: Sie kommt – oh
Wunder – erst 2014 nach der Bundestagswahl. Warum?
Der Grund liegt auf der Hand. Während hier der Deut-
sche Bundestag auf Antrag Ihrer Fraktion, Frau Bundes-
kanzlerin, im Juni beim Fiskalpakt beschlossen hat, dass
es keine direkte Bezuschussung europäischer Banken
aus dem neuen Rettungsschirm geben soll, haben Sie am
gleichen Tag in Brüssel das Gegenteil beschlossen.
Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen sowohl den Be-
schluss als auch den Text des Gesetzes zur finanziellen
Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus
gern vorlesen.
– Wollen Sie es wissen?
Frau Merkel hat beschlossen:
Sobald unter Einbeziehung der EZB ein wirksamer
einheitlicher Aufsichtsmechanismus für Banken …
eingerichtet worden ist, hätte der ESM nach einem
ordentlichen Beschluss die Möglichkeit, Banken
direkt zu rekapitalisieren.
Sie müssen einfach einmal nachlesen, was Sie beschlos-
sen haben, auch wenn das bei der FDP möglicherweise
ein bisschen schwierig ist.
Jetzt kommt unser Beschluss; ich lese Ihnen das vor.
Zu § 2 heißt es: wenn gewährleistet ist, dass keine direk-
ten Bankrisiken übernommen werden. Darunter steht in
der Begründung:
Damit ist gewährleistet, dass der ESM keine direk-
ten Bankrisiken übernimmt.
Da gibt es keine Ausnahme. In unserem Beschluss wird
nicht gesagt: Wir brauchen eine Bankenaufsicht; dann
machen wir das. Es ist vielmehr so, dass CDU/CSU und
FDP unter Zustimmung der SPD einen Gesetzentwurf
beschlossen haben – Sie haben die Änderungen im
Haushaltsausschuss beantragt; wir haben zugestimmt –,
durch den es ohne jede Ausnahme nach deutschem Ge-
setz verboten ist, Banken direkt aus dem ESM zu rekapi-
talisieren.
Sie haben das als großen Sieg gefeiert. Zeitgleich hat
Ihre Bundeskanzlerin in Brüssel das Gegenteil verabre-
det. Jetzt geht es nur um eines: Sie möchten, dass der
Bruch dieses Gesetzes bzw. die Aufhebung dieses Geset-
zes, die kommen muss, wenn das, was in Brüssel verab-
schiedet worden ist, Wirklichkeit werden sollte, erst
nach der Bundestagswahl der deutschen Öffentlichkeit
präsentiert werden soll. Das ist der Grund, warum Sie da
auf der Bremse stehen. Es ist wirklich abenteuerlich, wie
Sie mit dem Deutschen Bundestag, der Öffentlichkeit
und der Bankenhilfe umgehen.
Während hier vollmundig versprochen wurde, dass der
Steuerzahler nicht mehr für Banken aufkommen soll,
haben Sie Ihren konservativen Freunden in den Regie-
rungen Europas das genaue Gegenteil versprochen. So-
bald die Bankenunion steht, soll es Geld direkt vom
Steuerzahler zur Rekapitalisierung von Banken geben.
Damit wir uns richtig verstehen, Frau Bundeskanzle-
rin: Sie mögen das zwar verabredet haben; mit uns wird
es aber weder eine Zahlung von Volksbanken und Spar-
kassen an europäische Großbanken geben, noch werden
wir dafür unsere Hand heben, die direkte Finanzierung
durch den Steuerzahler auszuweiten. Was wir brauchen,
ist ein Bankenfonds, den sie selber bezahlen, wenn sie in
Schwierigkeiten kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26201
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Gläubiger und Aktionäre müssen zur Kasse gebeten wer-
den statt weiterhin die Steuerzahler. Wir wollen das Ge-
genteil von dem, was Sie verabredet haben.
Sie tun nichts, um die Wiederholung der Finanz-
marktexzesse auszuschließen. Das ist wohl Ihr größtes
europäisches Versagen in den letzten drei Jahren.
Zu der zweiten Frage, wie wir Wachstum und Arbeit
schaffen, halten Sie wolkige Reden und kündigen Pro-
gramme an. Was aber passiert in der Realität? Wenige
Wochen, nachdem Sie in der EU ein Wachstumspro-
gramm verabschiedet haben, fahren Sie zu der Debatte
über den europäischen Haushalt, schließen einen wahr-
lich faustischen Pakt mit dem britischen Premier
Cameron und sperren die Mittel, die wir brauchen, um
Wachstum und Investitionen in Europa voranzubringen.
Sie haben die Forschungsförderung gestoppt. Sie ha-
ben die Programme gestoppt, die uns helfen sollen, aus
der Krise herauszukommen. Sie sorgen nicht dafür, dass
Mittel dafür vorhanden sind. Sie sorgen übrigens auch
nicht dafür, dass wenigstens das, was wir in Europa
potenziell an Steueraufkommen haben, auch wirklich
gezahlt wird. Statt den griechischen Milliardären, die
ihre Steuern hinterziehen und ihr Geld woanders hin-
bringen, mithilfe der Europäischen Union das Handwerk
zu legen,
machen Sie im eigenen Land noch Vorschläge, wie wir
Steuerkriminalität vertraglich legalisieren sollen.
Das ist der Grund, warum wir weder Ihren Versprechun-
gen glauben, was alles aus der Schweiz kommen soll,
noch dabei mitmachen werden, wenn Sie kriminelle und
bankenmäßig organisierte Steuerhinterziehung in
Deutschland legalisieren wollen. Das werden wir nicht
mitmachen.
Sie haben die ganze Zeit versucht, den Deutschen
vorzumachen, das alles ginge uns nichts an, die sollten
da nur anständig sparen, dann würde es besser. Nun stel-
len wir fest, was passiert, wenn 27 Staaten nicht mehr in
Wachstum und Beschäftigung investieren. Natürlich er-
reicht das auch Deutschland. Jeden Tag lesen wir neue
Nachrichten über die Beantragung von Kurzarbeitergeld,
weil die Aufträge aus Europa wegbrechen. Es war im-
mer eine Lebenslüge, zu glauben, dass es uns Deutschen
egal sein könnte, wie es unseren Nachbarn geht.
Nun sollte man meinen, Sie würden im deutschen
Haushalt wenigstens Vorsorge betreiben. Ihnen wird
schließlich von Ihren Sachverständigen und von der
Bundesbank vorausgesagt, dass das Wirtschaftswachs-
tum im nächsten Jahr einbrechen wird. Und was machen
Sie? Sie machen eine Miniverlängerung der Geltungs-
dauer des Kurzarbeitergeldes, stellen dafür 100 Millio-
nen Euro in den Haushalt ein und verschweigen der Öf-
fentlichkeit, dass die wirksame Kurzarbeiterregelung,
die Olaf Scholz einst durchgesetzt hat und mit der wir
Tausende Arbeitsplätze sichern konnten, 5 Milliarden
Euro kostet. Statt Vorsorge für Zeiten des wirtschaftli-
chen Abschwungs zu treffen und Investitionen zu erhö-
hen, treffen Sie null Vorsorge im Haushalt, obwohl Sie
100 Milliarden Euro neue Schulden in vier Jahren ge-
macht haben, übrigens ohne einen Cent für die Euro-
Rettung.
Anderen in Europa erzählen Sie, sie sollten Geld spa-
ren. Aber in Zeiten höchster Steuereinnahmen, höchsten
Wachstums und niedrigster Arbeitslosigkeit machen Sie
in vier Jahren 100 Milliarden Euro neue Schulden und
treffen keine Vorsorge für schlechte wirtschaftliche Zei-
ten. Es ist doch verrückt, wie Sie Deutschland regieren.
Es kann doch nicht wahr sein, dass Sie auf diese Art und
Weise damit umgehen.
100 Milliarden Euro neue Schulden in vier Jahren und
keine Vorsorge für Wachstum und Beschäftigung!
Gleichzeitig erzählen Sie den Menschen in Europa, sie
sollten endlich mehr sparen.
Bei der dritten Frage, wie Europa eigentlich aussehen
soll, wird es technokratisch und höchstens wolkig. Wo-
rum es doch geht, Frau Kanzlerin, ist, endlich den Weg
für ein anderes Europa zu ebnen. Es geht nicht um mehr
Europa. Es geht um ein anderes Europa, ein Europa, in
dem Innovation und Wettbewerbsfähigkeit bewusst ge-
fördert werden und man nicht einfach daran glaubt, dass
die Märkte das machen, ein Europa, in dem Deutschland
nicht niedrige Löhne und niedrige Steuern als Waffe ge-
gen die Wettbewerbsfähigkeit seiner Nachbarn einsetzt.
– Natürlich stimmt das. Sie sind ja noch nicht einmal be-
reit, in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn ein-
zuführen, sodass die Menschen hier anständig Geld ver-
dienen und europäische Produkte kaufen können.
Natürlich ist das Ungleichgewicht in Europa, insbe-
sondere unsere Leistungsbilanzüberschüsse, eine Ursa-
che der Probleme. Wenn Sie wenigstens dafür sorgten,
dass diejenigen, die bei uns anständig arbeiten, hinterher
nicht zum Sozialamt betteln gehen müssten, dann wäre
schon einmal etwas gewonnen. Aber nicht einmal dafür
sorgen Sie.
Wir wollen ein Europa, das sich wieder traut, seine
Gemeinwohlaufgaben durch Steuereinnahmen und nicht
durch Schulden zu finanzieren. Ja, wir müssen Schulden
abbauen. Aber das geht nicht, wenn man bei diesem
Steuersenkungswettbewerb in Europa mitmacht. Wir
müssen dafür sorgen, dass die Staaten anständige Ein-
26202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Sigmar Gabriel
(C)
(B)
nahmen haben, anstatt Steuerflucht zu begünstigen und
jeden Tag einen neuen Vorschlag zu machen, aus dem
hervorgeht, wie man diejenigen entlastet, die man nun
wahrlich nicht entlasten muss.
Kommen Sie nicht mit der Steuerprogression in
Deutschland. Wenn Sie sagen, Sie könnten eine Abmil-
derung finanzieren, dann machen Sie es. Dann stimmen
die SPD-regierten Länder garantiert zu. Aber wir ma-
chen, Frau Bundeskanzlerin und Herr Kauder, die Sie
hier letztes Mal große Reden dazu geschwungen haben,
Ihre Geschäfte zulasten Dritter nicht mit. Immer wenn
Sie Steuersenkungen vornehmen – ich verweise auf das
Hoteliergesetz und die geplante Abmilderung der kalten
Progression –, dann muss doch jemand zahlen. Das zahlt
doch nicht der Bundesfinanzminister, sondern das zahlen
die Länder, die dann weniger Geld für die Bildung zur
Verfügung haben. Am Ende zahlen die Eltern höhere
Kindergartengebühren, wenn den Kommunen die Ein-
nahmen wegbrechen. Das ist doch die Rechnung, die Sie
hier ständig aufmachen.
– Herr Kauder, das stimmt. Es ist gut, dass Sie sich an
den Kopf fassen und sagen: „Das tut weh!“ Sie haben
recht: Das tut weh.
Schauen Sie sich doch einmal an, welche Folgen es
hatte, dass die Kommunen ein paar Hundert Millionen
Euro verloren haben, als Sie die Mehrwertsteuer zuguns-
ten der Hoteliers gesenkt hatten.
Die Folgen waren steigende Gebühren – auch für Kin-
dergärten – in Deutschlands Städten und Gemeinden. So
machen Sie Politik, damit Sie Ihre Lobby bedienen kön-
nen.
Zu all dem sagen Sie kein Wort. Wie sollte es auch
anders sein? Frau Merkel, der Spiegel hat am Montag
dieser Woche Ihre Rolle ganz gut charakterisiert:
Noch nie hat ein deutscher Regierungschef so lei-
denschaftslos nach Brüssel geblickt. …
wird … nach Oslo fahren, wenn die Gemeinschaft
den Friedensnobelpreis überreicht bekommt.
Aber das ist nur ein Schauspiel für das Publikum.
Genau das war auch Ihre Regierungserklärung: ein
Schauspiel für das Publikum. Aber das reicht nicht, um
in Deutschland ein guter Regierungschef zu sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Zu dieser Rede – das hat sich, glaube ich, auch den
Zuschauern an den Fernsehern gezeigt – könnte man
Hunderte von Dingen sagen; aber ich will mich auf
einige wenige Dinge konzentrieren. Eines, Herr Gabriel,
ist klar geworden: Den Faust haben Sie nie gelesen.
Sie haben einen faustischen Pakt geschlossen, nämlich
Wahlkampf auch auf Kosten Europas zu machen.
– Treffer! – Die Aussage von Faust war: Zwar weiß ich
viel, doch will ich alles wissen. – Ihre Aussage ist: Zwar
weiß ich nichts, aber ich will auch nichts wissen; denn
sonst kann ich keinen Wahlkampf machen. – So haben
Sie hier agiert.
Europa und seine Bürger befinden sich in einer Schul-
den- und vor allem in einer Vertrauenskrise. Die Europäer
– jedenfalls die, die sich bemühen, Europäer zu sein –
merken, dass wir in einer globalen Umbruchphase sind.
Die Antworten, die Sie heute wieder geliefert haben,
nämlich dass es keine globale Umbruchphase gebe, dass
es keine Notwendigkeit gebe, die Politik zu ändern, und
die Politik aus den 80er-Jahren und den 90er-Jahren
schon funktionieren werde – Umverteilen, mehr Geld
ausgeben, Steuern erhöhen usw. –, sprechen für sich.
Herr Gabriel, das war keine Zukunftsrede, sondern eine
Vergangenheitsrede. Jetzt ist mir auch klar, warum Sie
geredet haben und nicht der Kanzlerkandidat, von dem
ich erwartet hätte, dass er in solch einer Debatte Stellung
nimmt.
Eigentlich waren wir uns hier in diesem Parlament
einmal einig, dass das, was Europa braucht, nämlich
Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, nur dann funk-
tionieren kann, wenn auch die Wirtschaft funktioniert,
wenn wir Wachstum und Beschäftigung haben. Das, was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26203
Otto Fricke
(C)
(B)
ich gerade von der SPD gehört habe, ist doch mehr oder
weniger eine Angleichung an die Grünen. Die besteht in
Folgendem: Wachstum brauchen wir gar nicht, wir brau-
chen nur mehr Geld zum Ausgeben.
Sie kritisieren – auch diese Abwendung von Europa
finde ich unverantwortlich – die Jugendarbeitslosigkeit
in europäischen Ländern, ohne zu erwähnen, wie gut es
in Sachen Jugendarbeitslosigkeit in diesem Lande läuft.
Das hätten Sie tun können. Sie hätten sagen können, dass
Europa es wie Deutschland im Bereich der Ausbildung
machen solle und nicht so, wie es Frankreich, Spanien
und Griechenland machen. Aber das tun Sie nicht.
Das ist der Unterschied in der Geisteshaltung zwi-
schen der Koalition und der Opposition. Unsere Geistes-
haltung ist: erwirtschaften, erarbeiten, verändern, an-
strengen. Ihre Geisteshaltung ist: umverteilen,
weiterleiten und empfangen. So werden Sie Europa nie-
mals nach vorne bringen.
Wenn ich mir die Troika da vorne anschaue, dann
muss ich ehrlicherweise sagen: Sie drei sind doch da-
mals nach Frankreich zu Herrn Hollande gefahren
und haben gesagt, wie toll das sei, was er vorhabe.
Jetzt hat aber die SPD-Kanzlerkandidatin der Herzen,
Frau Kraft, gestern ein wunderschönes Interview gege-
ben. Sie hat in der Welt auf die Frage: „Unsere französi-
schen Nachbarn gleiten immer tiefer in die Schulden-
krise. Taugt François Hollande noch als Vorbild für die
deutsche Sozialdemokratie?“ geantwortet – wirklich be-
merkenswert –: „Frankreich ist in keinem guten Zu-
stand.“
Nächste Frage – jetzt wird es richtig schön –: „Hat
Hollande das richtige Rezept, Frankreich aus der Krise
zu führen?“ – Antwort: „Es ist zu früh, das zu beurtei-
len.“
Meine lieben sozialdemokratischen Freunde, stellt
euch doch lieber hin und sagt, dass das, was in Frank-
reich passiert, nicht funktioniert. Nein, viel schlimmer.
Was hat Herr Gabriel gerade gemacht? Herr Gabriel hat
im Endeffekt nichts anderes versucht – das ist für mich
mit der größte Vorwurf –, als zu sagen: Wir folgen den
Vorschlägen von Hollande und Berlusconi. – Ich erin-
nere: Senkung des Renteneintrittsalters, Einführung von
Mindestlöhnen, Steuererhöhungen. – Das führt zum Ab-
würgen der Wirtschaft, zu Arbeitslosigkeit und Armut.
Alles, womit diese Länder drohen, wollen Sie von der
SPD machen.
Herr Gabriel, was Sie hier getan haben, nämlich am
Anfang Ihrer Rede zu behaupten, Deutschland sei
Schuld an den Zuständen in den schwachen Ländern
Europas, ist nichts anderes, als das Geschäft von Silvio
Berlusconi zu betreiben. Nichts Schlimmeres kann man
Europa antun, als so etwas zu sagen.
– Das tut euch weh, aber das muss an dieser Stelle gesagt
werden. – Es kann doch nicht sein, dass sich der ver-
meintliche Führer der Opposition hier hinstellt und sagt,
es liege an Deutschland, dass es Europa so schlecht
gehe, obwohl es Deutschland relativ gut geht. Sie hätten
sagen müssen: Wir wollen Europa helfen. Wir sind be-
reit, in Europa dafür zu sorgen, dass die guten Reformen,
die gemacht worden sind – die sind übrigens auch von
Herrn Steinmeier, als er in der Verantwortung war, mit-
getragen worden –, auch in den anderen europäischen
Ländern durchgeführt werden, damit mehr Menschen in
Arbeit kommen, sich die Leute weniger Sorgen machen
müssen und die Ängste verringert werden. Wir wollen
dieses Europa so gestalten, dass wir es unseren Nach-
kommen guten Gewissens hinterlassen können. – Aber
daran haben Sie kein Interesse.
Meine Damen und Herren, ich will ausdrücklich auf
einen Punkt aus dem Bereich „Wirtschaft und Finanzen“
zu sprechen kommen. Es geht hier immer wieder darum,
dass wir bezüglich Europa glauben, wir könnten den
Bürgern einfache Lösungen präsentieren. Aber die Bür-
ger sind da schon viel weiter. Sie wissen ganz genau,
dass weder Ihre Vorstellungen von „einfach mehr Geld“
noch die Vorstellungen mancher in Europa „Hauptsache,
Deutschland zahlt“ die Lösung sind. Es ist ein schwieri-
ges, ein langwieriges Projekt, das wir verfolgen. Es ver-
langt von uns ständige Veränderungen. Es verlangt von
uns, immer wieder zu fordern und – das ist das Schwie-
rige an der deutschen Position – zu führen, ohne sich wie
ein Führer zu gerieren und ohne ein Führer zu sein.
– Fahren Sie einmal nach Europa, und fragen Sie einmal
danach. Man erwartet von uns Führung. Ich sage das be-
wusst, und ich spreche dieses für Deutschland so
schwierige Wort auch aus.
Führung in Europa heißt: gemeinschaftlich, in Verant-
wortung, andere mitnehmen. Insofern will ich unseren
britischen Freunden deutlich sagen: Diese Koalition
will, dass Großbritannien in Europa bleibt. Wir wollen
dieses Land in Europa halten; denn wir haben ganz klar
erkannt, dass ohne Großbritannien ein ganz wesentlicher
Teil von Europa fehlt, nämlich der Teil, der klargemacht
hat, dass nur eine funktionierende Wirtschaft Europa in
diese Position gebracht hat. – Ich kann bei Ihnen, der
Opposition, nicht erkennen, dass Sie sich darum bemü-
26204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Otto Fricke
(C)
(B)
hen, dieses Land in Europa zu halten. Nein, es kommen
nur Aussagen wie die von Herrn Gabriel zu Herrn
Cameron und irgendwelchen Pakten. Also wirklich, das
ist doch nicht das, was wir von Europa erwarten.
Das größte Problem, das wir haben, ist – wir sehen ja,
was gegenwärtig in Italien, in Spanien und in anderen
Ländern passiert –: Kaum beruhigen sich die Märkte,
kaum gehen die Zinsen ein wenig herunter, kommen Sie
wieder aus den Löchern gekrochen und sagen: Jetzt ha-
ben wir es geschafft. Jetzt müssen wir nichts mehr tun.
Jetzt schaffen wir nur irgendwelche neuen Fonds, statten
sie mit irgendwelchem Geld aus, und das Ganze funktio-
niert. – Europa funktioniert nicht so, dass man jedes Mal
dann, wenn man ein bisschen Luft zum Atmen hat, sagt:
Jetzt ruhe ich mich aus. Die Luft zum Atmen dient viel-
mehr dazu, sich auf den Weg zu begeben, die nächsten
Reformen anzugehen und nach vorne zu schauen. Man
sollte nicht sagen: Was interessiert mich die Welt um
mich herum?
Sie haben – das muss ich der Opposition wirklich sa-
gen – keine Vorstellung davon, wie Sie Werte wie Frei-
heit zur Verantwortung, Gerechtigkeit und Demokratie
in Europa erhalten wollen, damit auch unsere Nachkom-
men sie noch leben können. Wir tun das. Wir überneh-
men dabei Verantwortung. Das ist nicht immer ange-
nehm. Das tut auch manchmal weh. Aber ganz ehrlich:
Wer das den Bürgern nicht sagt, sondern ihnen ver-
spricht, dass man durch irgendwelche Steuererhöhungen
die Probleme löst, der hat Europa nicht verstanden, der
hat die Zukunft nicht verstanden und der sollte auf den
Oppositionsbänken bleiben.
Herzlichen Dank.
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Fricke, wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll
Deutschland in Europa führen, es aber nicht so nennen.
Ich sage Ihnen: Ich bin für ein gleichberechtigtes
Europa. Niemand soll über uns, aber auch niemand soll
unter uns stehen. Das ist, glaube ich, sehr viel sinnvoller.
Aber wenn Deutschland schon führt, und das auch noch
mit der FDP an der Spitze, kann ich nur sagen: Na, dann
gute Nacht. Also, das wird nun überhaupt nichts.
Herr Gabriel, ich habe Ihnen zugehört. Das war eine
interessante, eine spannende, eine sehr kritische Rede.
Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern nur noch er-
klären, weshalb Sie trotz Ihrer Kritik bisher jede Vorlage
der Bundesregierung mit beschlossen haben. Das passt
beim besten Willen einfach nicht zusammen.
Die Euro-Krise überschattet die gesamte europäische
Integration. Die Währung gerät unter Druck. Die Krise
ist längst nicht überwunden. Frau Bundeskanzlerin, Sie
haben wieder von einer Staatsschuldenkrise gesprochen.
Sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern doch einmal,
dass die Staatsschulden deshalb so hoch sind, weil die
Staaten für ihre Banken und Hedgefonds gezahlt haben.
Das ist der Hintergrund, und das muss man einfach er-
wähnen.
Es geht im Kern um etwas, worüber wir viel zu wenig
reden, nämlich um die Frage der politischen Akzeptanz
Europas bei den Bürgerinnen und Bürgern. Bundes-
finanzminister Schäuble hat jetzt die Umsetzung des Be-
schlusses des CDU-Parteitages abgelehnt, dass endlich
auch Mütter einen Rentenzuschlag bekommen, die nicht
nach, sondern vor 1992 Kinder bekommen haben. Er tat
dies mit der Begründung, dass wir für Griechenland be-
zahlen müssten und dass deshalb kein Geld dafür zur
Verfügung stehe. Das ist abenteuerlich. Ich werde dazu
Stellung nehmen.
Das Zweite ist, dass bei den Hartz-IV-Empfängerin-
nen und Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld mit der
Begründung gestrichen wurde, man müsse den Haushalt
konsolidieren. Es ist doch wirklich beim besten Willen
nicht hinnehmbar, Herr Kauder, dass Leute, die nichts,
aber auch gar nichts getan haben, was die Krise verur-
sacht hat, diese bezahlen sollen. Hören Sie doch endlich
einmal auf mit dieser Politik!
Das muss man damit vergleichen: Frau Bundeskanz-
lerin und Herr Kauder und Sie alle verweigern eine Ver-
mögensabgabe, Sie verweigern eine Vermögensteuer.
Die Spekulanten, die vor und während der Krise verdient
haben, müssen nichts bezahlen. Nein, wir haben ja die
Mütter, die Kinder vor 1992 geboren haben; die können
das bezahlen. Wir haben Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger; die können das bezahlen; jetzt üb-
rigens – dazu komme ich noch – auch die Opelaner. Das
ist nicht nur unsozial. Ich sage Ihnen: Das ist asozial.
Das Argument des Herrn Schäuble in Bezug auf Grie-
chenland ist auch noch falsch; denn im Süden Europas
müssen Strafzinsen von 6 bis 7 Prozent gezahlt werden
und in Deutschland von 0 Prozent. Das bedeutet, dass
aus diesem Prozess in den letzten drei Jahren Deutsch-
land einen zusätzlichen Gewinn von 60 Milliarden Euro
gemacht hat. Warum erwähnen Sie das nicht? Warum
verweigern Sie stattdessen den notwendigen Rentenzu-
schlag für die Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren
haben? Es ist nicht zu fassen!
Ich frage Sie auch einmal: Wie viel Milliarden müs-
sen eigentlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in
Deutschland nach wie vor für Banken, Versicherungen
und Hedgefonds bezahlen? Nennen Sie doch einmal die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26205
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Summe! Herr Schäuble, wenn Sie einen Rentenzuschlag
für Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, mit
der Begründung ablehnen – ich betone es immer wie-
der –, dass wir zu viel an Griechenland bezahlen müs-
sen, dann schüren Sie Ressentiments. Das geht über-
haupt nicht. Das ist Gift. Das ist Bild-Zeitungs-Niveau!
Man schadet damit natürlich auch dem europäischen Ei-
nigungsgedanken.
Jetzt lese ich, dass die Märkte Berlusconi fürchten. Es
gibt einen Streit zwischen Monti und Berlusconi. Ich
finde dieses Herrengezänk ziemlich langweilig. Aber ei-
nes sage ich Ihnen: Die veränderten Haltungen der Bür-
gerinnen und Bürger in Europa sind entscheidend.
Berlusconi versucht, mit Rechtspopulismus die falsche
Auflagenpolitik der EU für sich selbst zu nutzen. Er
polemisiert logischerweise gegen die Bundesregierung,
spricht dann aber nicht von der Bundesregierung, son-
dern von ganz Deutschland. Das weisen wir zurück. Wir
sind auch Deutsche, und wir wollen eine andere Politik.
Ich hoffe natürlich, dass sich in Italien die Linken durch-
setzen werden.
Es betrifft übrigens nicht nur die Bürgerinnen und
Bürger Italiens, sondern auch die Portugals, Irlands,
Spaniens und vor allem Griechenlands. Wie erfahren die
denn gegenwärtig die Europäische Union? Wie erfahren
die denn gegenwärtig die Währungsunion? Sie erfahren
das Ganze als Instrument zum massiven Abbau sozialer
Leistungen, zur Kürzung von Löhnen, von Renten, von
Investitionen – und das alles für eine Krise, die sie nicht
verursacht haben. Diejenigen, die die Krise verursacht
haben, die Spekulanten, werden nicht mit einem halben
zusätzlichen Euro herangezogen. Das ist völlig indisku-
tabel.
Ich nehme jetzt einmal nur das Beispiel Griechenland,
nur die letzten fünf Jahre. Da sind die Griechen ununter-
brochen in einer Krise. Es gibt dort einen Rückgang von
Löhnen, von Renten und von Wirtschaftsleistung. Herr
Fricke, Sie sprechen immer von Wirtschaftsleistung. Ja,
wo denn? Die Wirtschaftsleistung ist rückläufig in Ita-
lien, in Spanien, in Portugal und in Griechenland. Sie ist
um ein Drittel zurückgegangen.
– Nein! – Mit Ihrer Sparpolitik sorgen Sie dafür, dass die
Wirtschaftsleistung weiter zurückgeht, weil Sie die
Kaufkraft der Bevölkerung reduzieren.
Wovon sollen die Leute denn noch etwas erwerben? Die
Politik, die Sie hier betreiben, ist doch völlig daneben.
Ich sage Ihnen: Der Rückgang beträgt ein Drittel, wenn
man auch noch die Teuerungsraten und die Steuererhö-
hungen berücksichtigt.
Schauen wir uns doch einmal die Schulden Griechen-
lands an! 2008: 110 Prozent der Wirtschaftsleistung. –
Wir haben übrigens Schulden von 82 Prozent der Wirt-
schaftsleistung; nur einmal als Vergleich. – Nunmehr
sind die Schulden bei 177 Prozent, und im nächsten Jahr
werden sie bei 190 Prozent der Wirtschaftsleistung sein.
Das ist das tolle Ergebnis der Griechenland-Politik die-
ser Koalition – leider auch von Grünen und SPD; denn
sie haben ja alles mitgemacht –; nicht zu fassen!
Deutschland haftet, und Sie, Frau Bundeskanzlerin,
sagen wieder: Es wird dauerhaft – jetzt kommt schon das
Wort „dauerhaft“ dazu; das heißt: kurzfristig dann doch;
ich verstehe das nicht ganz – keine gemeinschaftliche
Verschuldung geben. In Wirklichkeit haften wir gemein-
schaftlich für 400 Milliarden Euro. Das ist wirklich
– entschuldigen Sie! – Unsinn, was Sie hier erzählen.
Sagen Sie den Leuten doch einfach einmal die Wahrheit!
Das stimmt doch alles nicht mehr.
Ich füge hinzu: Wenn die Politik für den Süden Euro-
pas so weitergeht, dann ist er gar nicht zahlungsfähig.
Sie können das Geld einfach abschreiben. Die Länder
können es gar nicht zurückbezahlen. Die Steuereinnah-
men sind dort rückläufig. Die Wirtschaftsleistung geht
zurück. Wovon sollen sie das denn bezahlen? Was Sie
hier erzählen, ist doch albern. Warum sagen Sie den Bür-
gerinnen und Bürgern nicht vor der Bundestagswahl,
dass wir mit einer Summe von 400 Milliarden Euro haf-
ten und dass diese höchstwahrscheinlich bezahlt werden
muss? Niemand weiß, woher wir das Geld nehmen sol-
len. Wollen Sie das einfach in einer Maschine drucken,
oder was haben Sie diesbezüglich vor?
Ich wette, dass es einen Schuldenschnitt geben wird.
Dieser geht zulasten der öffentlichen Forderungen, auch
der Forderungen aus Deutschland. Ich weiß, Sie wollen
alles tun, damit der Schuldenschnitt erst nach der Bun-
destagswahl 2013 kommt. Herr Kauder, sagen Sie es
doch ehrlich. Der Schuldenschnitt wird kommen: Ende
2013, Anfang 2014. Sie haben die Prozesse in Europa
nicht mehr im Griff.
Es kann auch schon vorher passieren, lieber Herr
Kauder. Dann wird die Bevölkerung auch von Ihnen die
Wahrheit erfahren müssen.
– Nein, nein, prophetisch war ich schon immer. Das ist
gar nicht neu, Herr Kauder.
26206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Sie verstehen nicht, dass wir endlich eine Aufbaupoli-
tik im Süden Europas brauchen. Wir brauchen Steuerge-
rechtigkeit einschließlich einer Vermögensabgabe und
einer Vermögensteuer für die Vermögensmillionäre. Wir
müssen die Steuerflucht bekämpfen, indem wir die Steu-
erpflicht wie in den USA an die Staatsbürgerschaft bin-
den. Warum machen wir das nicht?
Ein reicher Deutscher kann doch auf die Seychellen zie-
hen, aber er soll hier steuerpflichtig bleiben. Das ist das
Entscheidende, was wir durchsetzen müssen.
Das gilt für Griechenland genauso.
Wir müssen uns von den privaten Finanzmärkten ab-
kapseln und sie endlich regulieren. Erklären Sie den
Bürgerinnen und Bürgern, wozu wir Schattenbanken,
Hedgefonds und Leerverkäufe brauchen. Wir brauchen
keine Spekulationen. Wenn diese Spekulationen ins Aus
führen, dann müssen die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler das Minus bezahlen. Das ist derart ungerecht, dass
man darüber gar nicht zu diskutieren braucht.
Die Verweigerung einer vernünftigen Politik im Sü-
den Europas schadet den Menschen dort, aber auch den
Menschen in Deutschland. Ich nenne Ihnen einen Be-
trag, Herr Brüderle: Die Schattenbanken und Hedge-
fonds spekulieren gegenwärtig weltweit mit 67 Billio-
nen Dollar. Dieser Betrag entspricht der weltweiten
realen Wirtschaftsleistung. Das machen Sie alles mit?
Das finden Sie gut? Wer bezahlt das alles, wenn die Ban-
ken die Hälfte davon verspekulieren? Nein, Sie müssen
endlich den Mut haben, das Ganze zu regulieren.
Die Bankenaufsicht ist beschlossen worden. Frau
Bundeskanzlerin, Sie sind ja stolz darauf, dass sich die
Finanzminister darauf geeinigt haben. Die Bankenauf-
sicht hat uns bei der Pleiten-HRE nichts genutzt. Abge-
sehen davon geht es um eine ganz andere Frage: Wer be-
zahlt eine Pleitebank? Das ist nicht geregelt. Da Sie
nicht geregelt haben, dass das die Banken zu bezahlen
haben, bleibt es dabei, dass die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler dies zu bezahlen haben. Genau das geht
nicht.
Ich erzähle Ihnen folgende Begebenheit: Ich war in
einer Fernsehsendung zu Gast. Dort war auch Frau Kohl,
die ARD-Korrespondentin bei der Börse. Sie sagte mir:
Herr Gysi, wenn Sie Bundeskanzler wären und die Deut-
sche Bank zu Ihnen käme und sagen würde, in einer Wo-
che müsste sie in Insolvenz gehen, dann wären Sie auch
verpflichtet, sie zu retten. Täten Sie das nicht, bräche das
ganze Wirtschafts- und Finanzsystem zusammen. – Ab-
gesehen davon, dass meine Phantasie, im Unterschied zu
ihrer, nicht ausreicht, mir vorzustellen, dass ich Kanzler
werde, würde ich Folgendes hinzufügen: Wenn das
stimmt – wahrscheinlich hat sie recht –, dann ist die
Deutsche Bank zu mächtig; denn dann hat eine Kanzle-
rin oder ein Kanzler keinen Spielraum. Wenn die Bank
kommt und sagt, dass es so ist und man das machen
muss, ist das das Primat der Banken über die Politik. Das
müssen wir endlich überwinden. Daher muss man sie
verkleinern und vergesellschaften. Es gibt keinen ande-
ren Weg.
– Nein, nicht in Landesbanken umwandeln, sondern in
öffentlich-rechtliche, wie die Sparkassen. Die funktio-
nieren hervorragend.
Noch etwas zum Rückgang des Exports, weil wir
– nicht wir, Entschuldigung, Sie – den Süden Europas
erfolgreich ruinieren. Was passiert beim Export? Beim
Pkw-Export haben wir ein Minus von 18 Prozent beim
Export nach Frankreich, ein Minus von 25 Prozent beim
Export nach Italien, ein Minus von 36 Prozent beim Ex-
port nach Spanien. Opel allein verliert 16 Prozent. Das
sind die Zahlen vom September 2012.
Herr Kollege.
Sie wollen sagen, dass meine Redezeit zu Ende ist.
Es gilt leider auch für prophetische Reden, dass die
profanen Regelungen unserer Geschäftsordnung gelten.
Sie müssen zugeben, Herr Bundestagspräsident, dass
es sehr traurig ist, wie hier herumgeeiert wird.
Absolut.
Was glauben Sie, was ich Ihnen alles gerne noch er-
klärt hätte!
Na schön, dann lassen wir das bleiben. Dann sage ich Ih-
nen am Schluss nur noch:
Aber es wird manche Kollegen trösten, dass wir das
dann bilateral ausmachen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26207
(C)
(B)
Gut, das machen wir dann. Aber wissen Sie, ich muss
mit so vielen Leuten aus der Union reden. Na ja gut, ich
lasse das bleiben.
Lassen Sie mich noch so viel sagen: Die Opelaner
sind in der Zange. Falsches Management auf der einen
Seite, auf der anderen Seite führt Ihre verheerende Poli-
tik im Süden Europas zum Rückgang der Verkaufszah-
len, und jetzt sollen sie das bezahlen. Das sind 3 000 Be-
schäftigte, und 45 000 weitere Arbeitsplätze hängen
daran. Was sagen Sie denen denn außer: „Pech gehabt“?
Das reicht wirklich beim besten Willen nicht aus.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen kein weiteres Durch-
wursteln von Krisengipfel zu Krisengipfel, wir brauchen
endlich Perspektiven und Visionen. An denen fehlt es
bei dieser Bundesregierung.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Meister für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa ist
eine Friedens- und Wertegemeinschaft.
Wir freuen uns über die Leistungen, die in den vergange-
nen fünf Jahrzehnten erbracht worden sind und dass
diese mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt worden
sind.
Wir werden als Europapartei dafür kämpfen, dass wir
nicht nur stolz sein dürfen auf die Vergangenheit, son-
dern dass wir diese Friedens- und Wertegemeinschaft
auch in die Zukunft weiterentwickeln werden.
Als ich heute Morgen Herrn Gabriel gehört habe, hat
mich schon Sorge befallen. Er hat den Versuch unter-
nommen, zulasten dieses großen Friedens- und Frei-
heitsprojekts Europa populistisch Innenpolitik zu betrei-
ben. Herr Gabriel, Europa ist ein ungeeignetes Feld für
populistische Innenpolitik.
Wenn wir Ja sagen zu Europa, dann müssen wir über-
legen, um welche Werte es überhaupt geht. An dieser
Stelle streiten wir. Wir streiten über die Frage: Steht die-
ses Europa für die Werte einer Christdemokratie und von
Liberalen, oder steht es für die Werte von Sozialisten?
Steht es für ein Europa der Mitte oder für eine linke Ent-
wicklung?
Wenn die Frage nach dem Gesicht Europas gestellt
wird, dann müssen wir uns überlegen: Wollen wir ein Eu-
ropa, in dem Verantwortung gelebt wird und wo die Ent-
scheidungsfreiheit an Verantwortung gekoppelt wird?
Oder wollen wir ein Europa, Herr Gabriel, in dem Frei-
heit durch Verantwortungslosigkeit gekennzeichnet ist?
Das ist das, was Ihre Partei bis gestern so formuliert hat.
Sie haben formuliert, dass Sie eine Transferunion wol-
len, unkonditioniert und dauerhaft. Sie wollen das Geld
des deutschen Steuerzahlers ohne Vorbedingung und
ohne zeitliches Limit an andere geben, die dann darüber
verfügen. Das ist nicht das Bild, das wir von Europa in
der Zukunft haben.
Sie haben die derzeitige Situation in Europa ange-
sprochen. Die Jugendarbeitslosigkeit und die Arbeitslo-
sigkeit bedrücken uns natürlich. Dies ist aber doch nicht
die Folge deutscher Politik. Die deutsche Politik bietet
vielmehr das Vorbild, wie man Jugendarbeitslosigkeit
und Arbeitslosigkeit reduziert und wie man den Wohl-
stand der Menschen mehrt.
Deshalb muss diese Politik als Vorbild in Europa dienen
und dafür sorgen, dass auch andere Menschen in diesem
Europa zu Arbeit, zu Perspektiven und zu Wohlstand
kommen.
Schauen wir uns die Vorschläge von Herrn Gabriel
und seiner SPD an: Sie zielen darauf ab, Arbeitsplätze
zu vernichten, Jugendarbeitslosigkeit zu schaffen und
Wohlstand zu zerstören. Das ist das, was Sie vorschla-
gen.
Sie schlagen Substanzsteuern vor, die Zerstörung von
Investitionen und Wohlstand. Sie schlagen vor, die Ar-
beitsmarktverfassung, die uns niedrige Arbeitslosenzah-
len gebracht hat, zu zerstören und die Arbeitslosigkeit
wieder nach oben zu treiben.
Sie machen die falsche Politik. Diesen falschen Weg
sollten wir weder in Deutschland noch in Europa gehen,
Herr Gabriel.
Wenn Sie schon über Steuerpolitik reden: Der Finanz-
minister, der den Spitzensteuersatz gesenkt hat, war Hans
Eichel, nach meiner Kenntnis Mitglied der Sozialdemo-
kratie. Er hat den Spitzensteuersatz um über 10 Prozent-
26208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Michael Meister
(C)
(B)
punkte gesenkt. Wenn es also jemanden gibt, der einen
Wettlauf nach unten betrieben hat, dann war es die SPD.
Was Sie gestern Nacht im Vermittlungsausschuss ge-
macht haben, war keineswegs eine Diskussion über den
Spitzensteuersatz. Ihre Partei hat heute Nacht vorge-
schlagen, den Eingangssteuersatz anzuheben, den Klein-
verdiener in Deutschland steuerlich höher zu belasten.
Das ist die Politik, die die SPD in Deutschland betreibt.
Stellen Sie sich hier nicht so populistisch hin. Sie wollen
die kleinen Leute abkassieren, Herr Gabriel.
Wir haben in Europa vier Problemfelder – die Bun-
deskanzlerin hat sie in der Regierungserklärung ange-
sprochen –: die Finanzmarktsituation, die Haushaltslage,
die Wettbewerbsfähigkeit und die Integration Europas,
damit wir handlungsfähig bleiben. Ich bin nicht bereit,
zu akzeptieren, dass es an dieser Stelle immer auf ein
Problem, nämlich die Finanzmarktregulierung, reduziert
wird. Nein, wir werden alle vier Teile nach vorne brin-
gen müssen, wenn wir die Probleme hinter uns lassen
wollen; nur dann kommen wir zu einer Lösung.
Ich will mit der Frage der Finanzmarktregulierung an-
fangen. Herr Gabriel, es hat mich überrascht, dass Sie
hier eine Bank angesprochen haben, die bis zum heuti-
gen Tag nicht einen einzigen Cent Geld vom Staat ver-
langt hat, um durch diese Krise zu kommen,
dass Sie aber kein Wort über eine Bank mit Sitz in Düs-
seldorf gesagt haben, die schon vor der Krise massiv
Steuergeld bekommen hat, nämlich die Westdeutsche
Landesbank. Ein früherer Ministerpräsident und Bun-
desfinanzminister Ihrer Partei, der jetzt Kanzlerkandidat
ist, hat diese Bank lange vor der Krise mit Steuergeld ge-
füttert. Ja, wie klaffen denn bei Ihnen Ansage und Reali-
tät auseinander! Ansage und Realität haben doch über-
haupt nichts miteinander zu tun.
Ich bin dem Bundesfinanzminister für das, was er
heute Nacht zum Thema Bankenaufsicht mit ausgehan-
delt hat, sehr dankbar. Wenn wir mehr Integration wol-
len, dann brauchen wir eine gemeinsame Aufsicht. Wir
haben hier im Bundestag am 27. September einen An-
trag beschlossen, in dem wir klar und deutlich gesagt ha-
ben, wie wir uns die Aufsicht vorstellen. Das, was
Wolfgang Schäuble zurückgebracht hat, ist das, was der
Deutsche Bundestag vorgegeben hat: eine Bankenauf-
sicht für Europa, geprägt vom Subsidiaritätsgedanken.
Die großen, gefährlichen Banken werden gemeinsam
kontrolliert; die kleinen Banken werden nach gemeinsa-
men Regeln von den nationalen Aufsehern beobachtet.
Das ist der richtige Ansatz, meine Damen und Herren.
Wir haben immer darum geworben, dass es eine klare
Trennung zwischen Geldpolitik und Aufsichtsfunktion
gibt, wenn die Bankenaufsicht bei der Europäischen
Zentralbank angesiedelt wird. Das ist heute Nacht ausge-
handelt worden; das ist der richtige Weg. Jetzt müssen
wir bei der Ausgestaltung darauf achten, dass der Grund-
satz der klaren Trennung auch eingehalten wird; auch
das ist ein entscheidender Punkt.
Jetzt komme ich zu der Frage: Was wollen wir eigent-
lich mit der gemeinsamen Aufsicht erreichen? Soll es
wirklich so sein, dass wir in Europa eine Müllhalde or-
ganisieren, zu der jener Abraum transportiert wird, den
man auf nationaler Ebene nicht mehr gebrauchen kann,
damit das Problem gemeinsam gelöst wird? Nein, was
wir brauchen, ist eine Präventionspolitik, die dafür sorgt,
dass dieser Abfall, dieser Müll gar nicht entsteht. Des-
halb haben wir klar und deutlich formuliert: Jede Bank,
die der gemeinsamen Aufsicht unterstellt wird, muss zu-
nächst einen Stresstest durchlaufen und die Altlasten be-
seitigen. Wir sind dafür, die Banken in Europa gemein-
sam sauber für die Zukunft aufzustellen, aber nicht
dafür, das Abtragen von Altlasten gemeinsam zu finan-
zieren.
Jetzt will ich einmal deutlich sagen: Der Europäische
Stabilitätsmechanismus ist aus meiner Sicht ein Erfolg;
es ist ein Erfolg, dass er gemeinsam mit dem Fiskalver-
trag eingeführt wurde. Wieder wird deutlich: Klare Re-
geln, gebunden an Verantwortung, führen dazu, dass wir
das Solidaritätsprinzip in notwendigen Fällen anwenden.
Aber der ESM ist die absolut letzte Sicherung; das müs-
sen wir auch anderen in Europa klarmachen. Der ESM
ist kein Laden, bei dem man sich einfach bedienen kann.
Nur wenn alle anderen Sicherungen versagt haben, kann
man auf den ESM zurückgreifen und darüber Unterstüt-
zung bekommen.
Lieber Herr Gabriel, Sie haben vorhin aus dem ESM-
Finanzierungsgesetz zitiert, und Sie haben richtig zitiert.
Dort heißt es: Der ESM kann keine direkte Bankenhilfe
leisten. In der Gipfelerklärung vom 29. Juni heißt es:
Nach einem ordentlichen Beschluss, das heißt nach einer
Änderung des Gesetzes, besteht die Möglichkeit der
direkten Bankenhilfe; dies setzt aber voraus, dass wir
vorher eine funktionierende gemeinsame Bankenauf-
sicht haben.
Das ist der entscheidende Punkt. Dies folgt wieder dem
Prinzip, dass Entscheidung und Verantwortung beisam-
menbleiben müssen. Deshalb ist dieser Weg der richtige;
es ist nichts Anrüchiges und auch kein „faustischer
Pakt“, lieber Herr Gabriel.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26209
Dr. Michael Meister
(C)
(B)
Wir haben eine Restrukturierung, die nicht durch den
Steuerzahler zu tragen ist, auf den Weg gebracht. Zum
1. Januar 2011 wurden in Deutschland die Bankenab-
gabe und das Restrukturierungsgesetz eingeführt. Das
heißt, das Prinzip, das Sie verlangen, hat diese Koalition
in Deutschland umgesetzt.
Wir arbeiten jetzt daran, dass das, was wir seit zwei Jah-
ren in Deutschland haben, auch in Europa umgesetzt
wird. Ich freue mich darüber, dass wir ein Restrukturie-
rungsregime in diesem Sinne bekommen. Das ist auch
ein richtiger Ansatz.
Zur Frage des Haushaltsgesetzgebers. Wir als Deut-
scher Bundestag müssen sehr vorsichtig sein, wenn über
die Fragen diskutiert wird: Gibt es gemeinsame Mittel
im Euro-Raum? Gibt es eine finanzielle Kapazität? Mir
ist Folgendes wichtig: Wir haben zwei Ebenen, die na-
tionale Ebene und die europäische Ebene. Egal, welche
Instrumente wir einführen: Es muss jeweils klar und
transparent sein, auf welcher dieser beiden Ebenen sie
angesiedelt sind. Ich wende mich gegen jegliche Vermi-
schung, weil dann die Verantwortlichkeiten nicht mehr
klar sind. Wenn wir eine klare Verantwortung haben,
dann muss auch auf demokratischer Ebene sichergestellt
sein, dass das jeweilige Parlament die Entscheidung
trifft, was dort geschieht, und kontrolliert, ob das in sei-
nem Sinne stattfindet. Deshalb bin ich der Meinung:
Klare Rolle für den Deutschen Bundestag, klare Rolle
für das Europäische Parlament, aber keine Vermischung
und keine Unklarheiten darüber, wer am Ende des Tages
die Verantwortung trägt.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zum Thema
Forschung und Entwicklung. Schauen Sie sich bitte die
Entwicklung im Lissabon-Prozess zwischen 2000 und
2010 an. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat große
Verabredungen getroffen, wie man die Innovationskraft
in Europa steigern will. Nach Betrachtung der Bilanz der
Halbzeit hat man festgestellt: Das war zwar eine Abrede,
aber niemand hat sich um diese Abrede gekümmert.
Wenn wir in Europa Abreden treffen, dann muss danach
durch ein Monitoring überprüft werden, ob die verein-
barten Ziele auch umgesetzt werden. Deshalb ist der
Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit der richtige Ansatz,
weil dort Monitoring und Überwachung stattfinden. Man
muss schlicht und ergreifend bereit sein, Prioritäten zu
setzen. Wir – Norbert Barthle schaue ich gerade an – ha-
ben die Prioritäten gesetzt. Bei uns sind jedes Jahr im
Haushalt Forschung, Innovation und Entwicklung ge-
stärkt worden. Also: Nicht nur darüber reden, sondern
auch handeln!
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es ist gerade einmal drei Tage her, da hat die Europäi-
sche Union den Friedensnobelpreis erhalten. Frau
Merkel hat ihn entgegengenommen als große Europä-
erin. Davon war heute Morgen hier nicht sehr viel zu
spüren.
Sie haben hier von mehr Wettbewerbsfähigkeit ge-
sprochen, davon, den Sachverstand der Kommission und
anderer Organisationen einzubeziehen, um Politikberei-
che zu identifizieren, die für das Funktionieren der Wirt-
schafts- und Währungsunion entscheidend sind. Was
meinten Sie genau? Das sind die üblichen Schwurbel-
sätze, das ist kurzfristiges Handeln. Das sind keine lang-
fristigen Ideen, das ist vor allem mit viel Eigeninteresse
gedacht. Frau Merkel, das ist nicht das große Europa, für
das wir eintreten und dem der Friedensnobelpreis verlie-
hen worden ist.
Sie machen Politik, als hätten Sie immer noch nicht ver-
standen, warum die Menschen in den Krisenländern ei-
gentlich auf die Straßen gehen. Die Menschen demon-
strieren gegen die harte Sparpolitik von Deutschlands
Gnaden.
Es ist richtig: Die Krisenländer müssen überfällige
Strukturreformen durchführen. Es ist richtig, dass wir für
die Hilfskredite, die wir im Rahmen der Rettungs-
schirme gewähren, Gegenleistungen erwarten. Aber die
harten Kürzungen treffen heute vor allem die Armen und
Schwächsten der Gesellschaft. Der rigorose Sparkurs er-
stickt zugleich den wirtschaftlichen Aufschwung schon
im Keim. Frau Merkel, das ist keine gute Europapolitik,
das ist das Gegenteil.
Ja, die Verleihung des Friedensnobelpreises hat uns
daran erinnert: Warum war das vereinte Europa für viele
Menschen ein Wunsch und eine Sehnsucht?
Weil es nach den beiden Weltkriegen der einzige Weg zu
Frieden und Freiheit war. Seine Verleihung war aber
auch eine Warnung. Gerade jetzt in den Zeiten der Krise
müssen die Menschen in den Staaten Europas zusam-
menhalten und die gemeinsamen Werte verteidigen. Ge-
nau deswegen, liebe Linkspartei, stimmen wir auch zu,
wenn es um die Rettung Europas geht.
Deswegen setzen wir uns für Europa ein und machen uns
nicht einen schlanken Fuß, wie Sie das tun; das ist näm-
lich nationalstaatliche Politik und nicht europäisch.
26210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Frau Merkel, das Problem ist, dass Sie den Deutschen
Europa als Belastung und als Kostenfaktor erklären. Sie
gefährden damit das Fundament der europäischen Eini-
gung, die europäische Solidarität, die Bereitschaft, wirk-
lich füreinander einzustehen. Die Menschen müssen
doch nachvollziehen können, was sie an Europa haben.
Ansonsten werden die Rechtspopulisten in ganz Europa
immer stärker werden. Sie wissen das, Frau Merkel. Sie
kennen die Gefahr, aber Sie tun so, als ob Europa irgend-
ein langwieriges Problem wäre, das man mit Anstren-
gung lösen müsste. Aber Europa ist kein Problem, auch
nicht für Deutschland. Im Gegenteil: Was gut ist für
Europa, das ist auch gut für Deutschland, Frau Merkel.
Was liegt jetzt auf dem Tisch? Ja, die Einigung auf
eine gemeinsame Bankenaufsicht ist richtig – Sie haben
das lange genug blockiert –, aber das reicht eben nicht
aus, um die Banken zu regulieren – es ist nur der halbe
Weg –, vor allem wenn Sie nicht verhindern, dass die
Steuerzahler am Ende doch die Banken retten müssen.
Erklären Sie das einmal den 30 Millionen Europäern, die
noch nicht einmal ein Konto haben. Wir brauchen neben
der Aufsicht auch ein Bankenabwicklungsregime und ei-
nen entsprechenden Fonds. Erst dann werden wir in die-
sem Zusammenhang zukunftsfähig handeln.
Natürlich brauchen wir den gemeinsamen Schulden-
tilgungsfonds. Sie haben sich heute ja irgendwie dazu
bekannt, dass Europa jetzt zur Transferunion wird. Dazu
sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! Noch lieber wäre
es uns aber, Sie würden das mit Transparenz und offe-
nem Visier machen und den Leuten sagen, worum es
wirklich geht. Uns wäre es lieber, Sie würden auch sa-
gen, worum es langfristig geht, und nicht nur kurzfristig
den nächsten kleinen Schritt erklären, Frau Merkel.
Wenn man sich den Bericht von Van Rompuy an-
schaut, dann weiß man ganz genau: Es braucht mehr
Mut beim Schuldentilgungsfonds, auch beim makroöko-
nomischen Ausgleichsmechanismus. Dabei geht es doch
darum, wirtschaftliche Schwäche ganz bewusst auszu-
gleichen, und eben nicht darum, immer wieder mit neuen
Hilfspaketen zu agieren. Frau Merkel winkt nur ab.
Stattdessen lieber: Löhne runter! Freier Markt! – Das ist
das kalte Europa, für das sich zu Recht niemand erwär-
men kann, Frau Merkel.
Das ist nicht nur mutlos, sondern das sorgt auch dafür,
dass Europa immer nur auf kurze Sicht fährt. Das ge-
fährdet den inneren Frieden. Dafür haben wir übrigens
keinen Nobelpreis gewonnen. Herr Fricke, da Sie hier
anderen vorwerfen, sie würden auf Kosten Europas
Wahlkampf machen, frage ich Sie – das muss man Ihnen
schon einmal sagen –: Können Sie sich erinnern, wofür
Sie in Berlin 1,8 Prozent bekommen haben? – Für einen
Satz wie diesen: Berlin darf nicht die Euro-Zeche zah-
len! Dafür haben Sie die Bürgerinnen und Bürger zu
Recht abgewatscht.
Das war richtig; denn das macht deutlich, worum es Ih-
nen in Wahrheit geht.
Die Europäische Union ist eben mehr als ein gemein-
samer Markt. Wir müssen dringend etwas tun gegen so-
ziale Ausgrenzung. Wer das Gefühl hat, nicht dazuzuge-
hören, wer das Gefühl hat, nicht mobil zu sein und keine
Chance zu haben, wer Zukunftsangst hat – national und
in den europäischen Ländern –, der wird sich auch in ei-
nem gemeinsamen Europa nicht zugehörig fühlen. Des-
wegen ist der soziale Ausgleich zentral für die Zukunft
Europas. Deswegen brauchen wir soziale Mindeststan-
dards. Deswegen müssen Menschen ihre Ansprüche
über die Grenzen hinweg nutzen können, genauso wie
ihre Bildungs- und Berufsabschlüsse. Erst dann haben
wir wirklich ein gemeinsames Europa, auf das es an-
kommt. Und das wird die Wirtschaft nicht regeln. Das
werden auch die Banken nicht klären. Dafür braucht es
nun wirklich einmal staatliches Handeln und auch staat-
liche Finanzen. Dabei darf man nicht halbherzig oder
symbolisch handeln, wie beim Ausbildungsprogramm
für Jugendliche. Erst wenn wir für einen sozialen Aus-
gleich in ganz Europa sorgen und Zukunftsperspektiven
eröffnen, erst dann denken wir wirklich europäisch, Frau
Merkel.
Wenn wir sagen, dass wir nicht nur über den gemein-
samen Markt reden, dann bedeutet das auch, dass wir
nicht zulassen können, dass wirtschaftliche Akteure die
Staaten gegeneinander ausspielen können, nach dem
Motto: Wo kann ich am besten Steuern hinterziehen? Wo
gibt es die niedrigsten Löhne und die niedrigsten Um-
weltstandards? – Wir brauchen eine andere Steuerpolitik
in Europa; denn die Staaten brauchen mehr Einnahmen,
wenn sie in die soziale Gerechtigkeit investieren wollen.
Steuerdumping und illegale Steuerflucht kosten – das
hat die EU-Kommission festgestellt – jedes Jahr
1 000 Milliarden Euro. An dieser Stelle würde uns Ein-
satz von Ihnen sehr gut gefallen, Frau Merkel. Dadurch
hätten wir nicht nur mehr Geld zur Verfügung, sondern
wir würden auch deutlich machen: Gerechtigkeit in Eu-
ropa gibt es nicht nur, weil wir die unten belasten, son-
dern auch, weil wir denen oben sagen, dass sie einen
Beitrag leisten müssen. Frau Merkel, darum geht es,
wenn man echtes Europa will.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26211
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Das trifft auch auf den EU-Haushalt zu. Es ist schon
darauf hingewiesen worden, dass Sie sich ausgerechnet
mit Herrn Cameron verbündet haben, um den Haushalt
massiv zu kürzen. Wo wird das Geld am Ende fehlen? Es
wird in den Bereichen Bildung und Forschung fehlen
und auch beim Netzausbau, den Sie ja eigentlich immer
gefordert haben. Sie nehmen leichtfertig hin, dass der
EU-Haushalt gekürzt wird, und Sie schränken damit die
Handlungsmöglichkeiten nicht nur bei uns, sondern vor
allem auch in den anderen europäischen Ländern ein.
Das ist kurzfristig gedacht, und das ist falsch, Frau
Merkel.
Ja, wir haben Verantwortung für Europa als Ganzes.
Wer die Arbeitslosen in Oberfranken gegen den Arbeits-
losen in Kalabrien ausspielen will, hat nicht begriffen,
was ein europäischer Wirtschaftsraum ist. Er hat übri-
gens auch nicht begriffen, dass er mit einer solchen Poli-
tik in Deutschland auch den europafeindlichen Populis-
ten in Italien Wahlkampfhilfe gibt. Europäisch denken
heißt mutig sein, auch was die Demokratie angeht. Die
Europäer und Europäerinnen werden sich auf Dauer
doch nicht damit zufriedengeben, dass die Regierungs-
chefs und die Finanzminister nächtelang tagen und ir-
gendwann weißer Rauch aufsteigt. Sie wollen mitreden
und mitbestimmen. Deswegen brauchen wir einen euro-
päischen Konvent, bei dem die nationalen Parlamente,
das Europäische Parlament und natürlich auch die Zivil-
gesellschaft beteiligt sind. Frau Merkel, Europa geht nur
mit mehr Demokratie und nicht mit Entscheidungen von
oben nach unten.
Das sage ich auch deswegen, weil gerade die europäi-
sche Geschichte von der Aufklärung bis zu den friedli-
chen Revolutionen eine großartige Geschichte der De-
mokratie ist. Wer, wenn nicht die Europäerinnen und
Europäer, könnte denn zeigen, dass man aus der Krise
mit mehr Demokratie herauskommen kann? Mut zu
mehr Demokratie, Frau Merkel, das wäre 23 Jahre nach
dem Ende der Blöcke wirklich etwas, mit dem wir den
Friedensnobelpreis würdigen könnten.
Es ist immer die Rede davon, dass die Gefahr besteht,
Deutschland werde von der EU-Krise angesteckt. An-
dersherum wird ein Schuh daraus: Wie kann Deutsch-
land mit europäischen Ideen wie Solidarität und Demo-
kratie die anderen anstecken, Frau Merkel? Der gute alte
Europäer Helmut Kohl hat einmal gesagt – das müssen
Sie aushalten –: „Wer heute von meiner pfälzischen Hei-
mat hinüberfährt ins Elsass, der kommt von Europa nach
Europa. Das ist eine geradezu faszinierende Entwick-
lung.“ Wissen Sie, Frau Merkel, viele junge Menschen
denken heute genauso. Sie gehen zum ERASMUS-Stu-
dium von Paris nach Wien oder ziehen nach Berlin oder
Warschau und mieten sich dort ein WG-Zimmer. Für sie
ist Europa nicht Ausland, und die europäischen Länder
sind eben nicht die anderen. Das muss man sich einmal
vorstellen: Helmut Kohl ist am Lebensgefühl der heuti-
gen jungen Leute näher dran als Angela Merkel.
Europa ist wirklich nobelpreiswürdig. Diese Regie-
rung ist es nicht.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Stinner für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte den außenpolitischen Blickwinkel in diese De-
batte einbringen. Zunächst einmal fällt der dramatische
Unterschied in der Einschätzung deutscher Politik im
Ausland und im Inland auf. Im Ausland werden wir be-
neidet. Wir werden gefragt: Wie macht ihr das eigent-
lich? Wie schafft ihr das in Deutschland? – Kaum über-
schreiten wir die Grenzen zu unserem Vaterland, hört
sich das ganz anders an.
Herr Gabriel hat hier eine Vorstellung abgeliefert, die
der heute-show würdig gewesen wäre. Herr Gabriel, da-
mit können Sie eins zu eins bei Oliver Welke auftreten.
Was Sie hier entworfen haben, ist ein Zerrbild. Im Aus-
land wird es völlig anders gesehen. Es ist erstaunlich,
dass die SPD und die übrige Opposition die Realitäten
nicht zur Kenntnis nehmen möchten.
Frau Göring-Eckardt, Ihnen kann ich Nachhilfe in
Mathematik leider nicht ersparen. Wenn Sie hier behaup-
ten, die Bundesregierung würde die Mittel für Europa
kürzen wollen, so ist das falsch. Es gilt die Vereinba-
rung, dass 1 Prozent des Bruttosozialprodukts nach
Brüssel geht. Die Bundesregierung besteht darauf, dass
diese Vereinbarung auch in Zukunft gilt. Wenn es bei
1 Prozent bleibt, ist das, sehr verehrte Frau Kollegin,
mathematisch gesehen keine Kürzung; ich bitte Sie, das
zur Kenntnis zu nehmen.
Meine Damen und Herren, Europa ist für viele Teile
der Welt nach wie vor ein außerordentlich attraktives
Modell. Die Staaten in Europa, die noch nicht Mitglied
der EU sind – Staaten in Südosteuropa, aber auch östli-
che Nachbarstaaten –, drängen zur EU. Sowohl in Süd-
amerika als auch in Asien als auch in Afrika versuchen
Staaten, sich in regionalen Organisationen zusammenzu-
26212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Rainer Stinner
(C)
(B)
schließen. Diese Organisationen sind sehr daran interes-
siert, zu erfahren, wie es in Europa gelungen ist, den
Streit, den Kampf, den Krieg zu überwinden und zu ei-
ner schlagkräftigen Organisation zu kommen. Europa ist
Modell für viele Teile der Welt, und dieses Modell wol-
len wir gerne erhalten.
Natürlich wird in vielen Teilen der Welt gesehen, dass
ein Scheitern des Projektes Euro auch ein Scheitern des
Projektes Europa mit sich bringen kann und wird. Des-
halb drängen wir ja so sehr darauf, dass die Stabilität der
Euro-Zone wiederhergestellt und erhalten wird.
Ich möchte hier nochmals sehr deutlich sagen, dass
der Vorwurf, der uns ja auch im Inland entgegenschallt
– wir würden so tun, als gäbe es zu diesem Kurs keine
Alternative –, falsch ist. Jawohl, es gäbe Alternativen:
Wir hätten vor zweieinhalb Jahren zulassen können, dass
Griechenland im Mittelmeer versinkt. Wir hätten vor ei-
ner Woche so abstimmen können, dass Griechenland
jetzt pleite wäre. Wir haben uns aber – ganz bewusst und
nach gründlicher Abwägung – für die bessere Alterna-
tive entschieden.
Diejenigen, die uns kritisieren – die SPD und die Grünen –,
haben diesem Weg hier im Deutschen Bundestag zuge-
stimmt; von daher ist ihre Kritik an der Politik der Bun-
desregierung meines Erachtens doppelzüngig und zwei-
schneidig.
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat
völlig zu Recht angeschnitten, dass die Gemeinsame Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik ein Thema ist, bei
dem wir in Europa besser werden müssen. Sie hat ge-
sagt, dass darüber heute und morgen diskutiert wird,
dass dieses Thema aber auch im nächsten Jahr ein
Schwerpunkt werden wird. Wir begrüßen das außeror-
dentlich; denn wir wissen, dass hier Nachholbedarf be-
steht. Ich sage aber auch sehr deutlich: Die Bundesregie-
rung hat in den letzten drei Jahren immer wieder
versucht, in Europa gemeinsame Positionen zu erarbei-
ten. Das ist vorbildlich – auch wenn es nicht immer ge-
lungen ist –, und wir unterstützen die Bundesregierung
dabei ganz besonders.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden im Aus-
land häufig gefragt: Warum macht ihr Deutschen eigent-
lich diese Europapolitik? Ihr seid doch selbst stabil und
stark, ihr seid der Anker in Europa. Ihr könntet doch
eventuell sogar allein zurechtkommen. – Wir geben da-
rauf im Ausland die gleiche Antwort wie hier im Inland,
wir sagen – dazu stehe ich; das sage ich mit voller In-
brunst –: Kein Land in Europa hat so von Europa profi-
tiert wie Deutschland. – Das meine ich nicht nur ökono-
misch. Für mich sind die politischen Erfolge noch viel
höher zu bewerten. Ein Deutschland dieser Größe, dieser
Geschichte, dieser Lage mitten in Europa wäre ohne
Einbettung in Europa nicht da, wo es heute ist. Deshalb
gelten unsere gesamten Anstrengungen dem Ziel, dieses
Europa zu erhalten.
Es gibt einen zweiten Grund, weshalb wir dieses Eu-
ropa weiter stärken wollen. Wer sich fragt, wie die Welt
des Jahres 2040 aussehen wird, wird erkennen – wir ver-
treten diese Anschauung auch in London, wo das zum
Teil anders gesehen wird, und auch überall sonst –: Die
Welt des Jahres 2040 wird eine multipolare Welt sein.
Die Frage ist: Wer sitzt dann am Tisch der Entscheider?
Unsere Meinung ist: Kein einziges europäisches Land,
auch unser schönes, starkes Deutschland nicht, wird im
Jahre 2040 in der Lage sein, alleine am Tisch der Ent-
scheider zu sitzen. Deshalb ist das Projekt Europa so
wichtig: damit wir als Europäer und als Deutsche nicht
in Gefahr geraten, im Jahre 2040 zum Objekt der Ent-
scheidungen anderer in der Welt zu werden, sondern
weiter in der Lage sind, am Tisch der Entscheider zu sit-
zen und die Weltläufe im Interesse Deutschlands, im In-
teresse Europas und im Interesse einer friedlichen Ent-
wicklung der Welt mitzubestimmen.
Schönen Dank.
Dietmar Nietan ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich setze mich dafür ein, dass wir im Dezember ei-
nen ehrgeizigen Fahrplan für eine erneuerte Wirt-
schafts- und Währungsunion beschließen. Er soll
konkrete Maßnahmen enthalten, die wir in den
kommenden zwei bis drei Jahren umsetzen wollen.
Das haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, vor gut einem
Monat vor dem Europäischen Parlament verkündet.
Und tatsächlich: Man konnte hoffnungsfroh sein.
Herr Van Rompuy hat mit seinen Kollegen, dem Kom-
missionspräsidenten, dem Präsidenten der Euro-Zone,
dem Präsidenten der EZB und teilweise auch in Zusam-
menarbeit mit dem Präsidenten des Europäischen Parla-
ments, eine entsprechende, wie das neudeutsch so schön
heißt, Roadmap vorgelegt.
Diese fand am 3. Dezember 2012 auch Eingang in die
ersten Entwürfe für Schlussfolgerungen des Europäi-
schen Rates. Wer sich die letzte Version dieser Schluss-
folgerungen anschaut, der stellt Folgendes fest: Es gibt
keinen Fahrplan mehr für eine vertiefte Wirtschafts- und
Währungsunion. Es gibt noch nicht einmal einen ver-
bindlichen Zeitplan, und von konkreten Maßnahmen
wollen wir gar nicht erst sprechen.
Wieder kann man etwas erleben, was das Prinzip der
deutschen Bundesregierung und ihrer Europapolitik
deutlich macht: Wenn es etwas gibt, was uns nicht ge-
fällt, heißt die Devise: Verhindern durch Verwässern,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26213
Dietmar Nietan
(C)
(B)
durch Vertagen und dadurch, Entscheidungen vor sich
herzuschieben. – Das ist ein fatales Signal – nicht nur für
die Märkte, sondern auch für die Bürgerinnen und Bür-
ger.
Was ist so schlimm an den Vorschlägen von Herrn
Van Rompuy, der konkrete Vorschläge für eine Fiskalka-
pazität macht, von der Sie jetzt auf einmal nichts mehr
hören wollen, obwohl die Frau Bundeskanzlerin im Ok-
tober selber eine solche – anders umschrieben als „Soli-
daritätsfonds“ – durchaus noch ins Auge gefasst hat?
Stattdessen halten Sie an Ihrem Mantra fest, durch das
sich Ihre Art, Europa zu sehen, ausdrückt: sparen, spa-
ren, sparen, bis es wehtut, ohne Perspektive für die Men-
schen, die davon betroffen sind.
Deshalb sage ich sehr deutlich: Wir erwarten von Ih-
nen konkrete Ausführungen dazu, wie Sie Europa in
Gang bringen wollen. Wie wollen Sie das erreichen,
wenn Sie auf der einen Seite Vorschläge machen, durch
die die Kohäsionsfonds überproportional gekürzt wer-
den, und auf der anderen Seite uns hier versprochen ha-
ben, sich für Investitionen in Wachstum und Beschäfti-
gung einzusetzen? Ich möchte gerne von Ihnen wissen,
was Sie den Menschen dazu sagen wollen, wie Sie die
Kapazitäten schaffen wollen, um notwendige Härten bei
der Anpassung und bei Strukturreformen im Sinne der
betroffenen Menschen abfedern zu können. Nichts, aber
auch gar nichts findet sich dazu.
Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Sie das Papier
von Herrn Van Rompuy ein Hintergrundpapier nennen.
Ich habe wirklich das Gefühl, das heißt für Sie, es solle
möglichst im Hintergrund bleiben und niemals Wirklich-
keit werden.
Das scheint das Prinzip der Bundesregierung zu sein:
Wenn ihr etwas nicht gefällt, dann tut sie nichts. Dies hat
Herr Draghi so schön mit „First, do nothing“ – Nein zu
allem – umschrieben. Das allerdings ist ein Weg, der die
Krise in Europa verschärft.
Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern endlich sa-
gen: Ja, Europa kostet uns etwas, Solidarität kostet uns
etwas, und wir bezahlen das, weil Deutschland am Ende
der größte Nutznießer sein wird, wenn Europa wieder
solidarisch ist.
Eine letzte Bemerkung zu den Ausführungen bezüg-
lich der Erweiterungsperspektiven für den Westbalkan.
Man kann trefflich über die Daten streiten, wann man
Verhandlungen eröffnet. Die Frau Bundeskanzlerin sagt
aber lediglich mit einem nonchalanten Satz, es sei jetzt
nicht die Zeit dafür, Termine für Beitrittsverhandlungen
zu nennen, ohne dass sie hier im Bundestag deutlich
macht, dass sie die Kommission unterstützt, die neue
Wege dafür finden will, dass Mazedonien seinen Weg in
die EU finden kann, ohne weiterhin von Griechenland
und Zypern blockiert zu werden. Wenn sie das sagen und
bekräftigen würde: „Wir als Europäer engagieren uns
mehr in Bosnien und Herzegowina, um dort etwas auf
den Weg zu bringen“, dann würde das doch zumindest
zeigen, dass Ihnen eine Perspektive für diese Länder am
Herzen liegt. Glauben Sie, es bringt Europa weiter, ein-
fach zu sagen: „Es ist nicht an der Zeit, ein Beitrittsda-
tum zu nennen“?
Herr Kollege.
Das ist für mich eine erbärmliche Politik gegenüber
den Menschen auf dem Westbalkan.
Ich will zum Schluss kommen.
Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich will zum Schluss kommen, auch weil der Präsi-
dent mich schon sehr nett auf das Ende meiner Redezeit
hinweist. – Das Prinzip, verehrte Bundesregierung, im-
mer dann, wenn es Ihnen passt, den Fortschritt in Europa
aufzuhalten, müssen Sie ändern.
Zum Abschluss will ich an dieser Stelle zitieren, was
Außenminister Sikorski in einer großartigen Rede vor
ungefähr einem Jahr in Berlin gesagt hat. Er sagte: „Ich
fürchte die Macht der Deutschen weniger, als ich die
deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne.“ Für mich
steht zu befürchten, dass die Ängste von Herrn Sikorski
nach all dem, was wir bei diesem Rat erleben, größer ge-
worden sind und nicht kleiner.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die
christlich-liberale Koalition unterstützt die Bemühungen
der Bundesregierung, in Europa eine starke und wettbe-
werbsfähige Marktwirtschaft zu sichern und weiterzu-
entwickeln. Das liegt absolut im deutschen Interesse.
Die Tagung des Europäischen Rates, die heute in Brüssel
beginnt, wird ein weiterer wesentlicher Schritt auf dem
Weg zur Bewältigung der Euro-Krise sein. Sicherung der
sozialen Marktwirtschaft mit Wohlstand und Arbeit für
alle ist das Grundprinzip und die Ausgangslage unserer
Politik, die wir auch in Europa gerne sehen.
26214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
Heute ist ein guter Tag, weil dem Bundesfinanzminis-
ter eine gute Vorlage gelungen ist. Ich darf ihm aus-
drücklich herzlich dafür danken, dass er beim Ecofin die
Kernforderungen, die wir zur Bankenunion, zur Banken-
aufsicht und zur finanzpolitischen Entwicklung aufge-
stellt haben, im deutschen Interesse durchgesetzt hat, so-
dass wir uns hier wiederfinden. Herzlichen Dank,
Wolfgang Schäuble.
Europa hat schon viele Krisen erlebt und überlebt. Es
hat auch aus Fehlern gelernt und Kurskorrekturen voll-
zogen. Diese Fähigkeit ist immer gefragt. Ich habe keine
Zweifel, dass Europa diese Fähigkeit erneut unter Be-
weis stellen wird. Wir sind bei den Verhandlungen durch
die Bundeskanzlerin sicher gut vertreten. Unser Land ist
gut vertreten.
Wir sind zweifellos Vorbild. Das muss immer wieder
deutlich werden. Deutschland hat die beste Krisenbewäl-
tigung. Das ist eine Tatsache, meine Damen und Herren.
Wir kämpfen mit bestem Wissen und Gewissen für die
Sicherung und Weiterentwicklung dieser europäischen
Gemeinschaft, weil dies auch im deutschen Interesse ist.
Für alle wollen wir die Wirtschafts- und Währungs-
union vertiefen und die wachsende Unsicherheit ausräu-
men. Es gibt jetzt die Chance, neue Wettbewerbsfähig-
keit in Europa zu erzielen. Die wachsende Unsicherheit
muss ausgeräumt werden. Die Verletzungen der Defizit-
grenze durch Rot-Grün haben einen großen Schaden an-
gerichtet. Wir haben eine große internationale Wirt-
schafts- und Finanzmarktkrise zu bewältigen.
Wir haben jetzt die Situation, dass wir Fortschritte auf
dem Wege der Krisenbewältigung in Europa erzielen.
Die Konsolidierungsschritte kommen voran. Eine
Grundlage für neues Wachstum und Beschäftigung in
Europa ist die Halbierung der Staatsdefizite. Ohne eine
Konsolidierung der Staatshaushalte gibt es kein neues
Wachstum und keine neue Beschäftigung in Europa.
Dieser Ansatz wird von uns verfolgt und wurde auch er-
folgreich gestaltet, meine Damen und Herren.
Die christlich-liberale Koalition steht zur Solidarität
mit unseren europäischen Nachbarn. Es gibt aber keine
Solidarität ohne Gegenleistung. Wenn in der Europäi-
schen Union die Starken den Schwachen helfen, erwar-
ten wir von den Hilfeempfängern zu Recht besondere
Solidität in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist
die Grundlage.
Wenn Frau Göring-Eckardt salbungsvoll sagt,
Deutschland müsse noch mehr leisten, dann ist das eine
völlige Fehleinschätzung. Einschneidende Reformen
müssen natürlich sein. Wir können nicht zulassen, dass
andere Länder Strukturreformen verweigern und mehr
Geld von uns erhalten wollen. Es gibt dafür keine
Grundlage.
Wir haben selbst einschneidende Reformen durchge-
führt und die Lohnstückkosten gesenkt, auch durch
Lohnverzicht unserer Arbeitnehmer. Das ist der Ansatz,
bei dem wir darauf achten müssen, dass die Balance
stimmt. Wir müssen Akzeptanz für die europäische Poli-
tik auch im Inland finden. Ich glaube, dieses Geben und
Nehmen unter der ständigen Voraussetzung, dass wir
eine Gegenleistung zur Solidarität benötigen, ist der
richtige Kurs, der von unserer Koalition eingeschlagen
wurde.
Wer es mit der Konsolidierung ernst meint, darf nicht
den Funken eines Zweifels daran aufkommen lassen,
dass Haftung und Kontrolle nun einmal zusammengehö-
ren. Sie von der SPD und den Grünen sind von diesem
Grundsatz nach wie vor weit entfernt. Herr Gabriel hat
gewissermaßen ein Horrorszenario der Finanz- und
Europapolitik gemalt.
Dabei wissen wir doch, dass wir die Schuldenbremse
in Deutschland einhalten, den Fiskalpakt auf den Weg
gebracht haben und letzten Endes auch ohne Nettoneu-
verschuldung und strukturelles Defizit in den Haushalt
2014 gehen. Das ist unser Weg, meine Damen und Her-
ren.
Was aber macht Rot-Grün? Rot-Grün hat in Nord-
rhein-Westfalen und Baden-Württemberg mehr Schul-
den gemacht. Wir in Bayern machen seit acht Jahren
keine neuen Schulden. Wo sitzen denn die Schulden-
barone in Deutschland? Sie sitzen hier bei Rot-Grün.
Das ist die Wahrheit.
Ich hätte erwartet, dass nach der gestrigen Pressekon-
ferenz zur angeblichen Bändigung der Finanzpolitik
Herr Steinbrück und Herr Trittin das Wort ergreifen. Das
wären sie dem Parlament eigentlich schuldig gewesen;
statt nur draußen Reden zu schwingen, hätten sie auch
hier deutlich machen müssen, was sie als Gegenentwurf
zu unserer Politik der Konsolidierung und Entschuldung
vorhaben.
Das Programm zur Überwindung der Finanzkrise, das
von Herrn Steinbrück und Herrn Trittin, sozusagen dem
finanzpolitischen Duo infernale, vorgestellt wurde,
würde Deutschland und Europa innerhalb kürzester Zeit
zugrunde richten. Ihr Ansatz ist völlig falsch. Sie wollen
den Banken 200 Milliarden Euro nehmen. Wo sollen die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26215
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
Banken dann noch Eigenkapital zur Finanzierung der
Realwirtschaft hernehmen? Das ist doch Voodoo-Politik,
meine Damen und Herren. So, wie es von Herrn
Steinbrück vorgeschlagen wurde, geht Wirtschaftspolitik
nicht.
Heute ist ein guter Tag für die Realwirtschaft und für
den deutschen Mittelstand, weil nun auch bei der Ban-
kenaufsicht Klarheit besteht: Die von uns immer gefor-
derte Trennung der Bankenaufsicht in eine europäische
Aufsicht und eine nationale Aufsicht für unsere Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken wurde durchgesetzt.
Das ist ein Erfolg, dass keine Überbürokratie entsteht,
sondern die erforderliche Finanzierung des Mittelstands
durch die Sparkassen und Genossenschaftsbanken erfol-
gen kann. Das ist praktische und erfolgreiche Politik für
Europa und in Europa, meine Damen und Herren.
Deswegen darf ich deutlich machen, dass wir den
Gipfel, der heute und morgen ansteht, mit großem Inte-
resse verfolgen werden. Wir wünschen unserer Verhand-
lungsführerin, der Frau Bundeskanzlerin, alles Gute und
auch, dass sie diesen Kurs, Solidarität zu üben, aber auch
Solidität einzufordern, weiter durchsetzen und fahren
kann. Das ist der Kurs, der bisher erfolgreich gestaltet
wurde und der auch für die Zukunft Erfolg verspricht.
Herzlichen Dank.
Bettina Kudla ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Im Vorfeld des Europäischen Rates, welcher
heute und morgen stattfindet, lagen der Rompuy-Bericht,
also die Mitteilung des Europäischen Rates, und der Be-
richt der Europäischen Kommission, überschrieben mit
„Ein Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts-
und Währungsunion“, als Auftakt für eine europäische
Diskussion vor. Vieles in diesem Diskussionspapier ist
sehr kritisch zu sehen. Als Blueprint – so wird das Kom-
missionspapier genannt – eignet es sich allerdings nur
teilweise. Nicht nur, dass sich die Kommission für Euro-
Anleihen ausspricht. Nein, hinter den Vorschlägen mit
wohlklingenden Überschriften – integrierter Finanzrah-
men, integrierte Haushaltspolitik und integrierter wirt-
schaftspolitischer Rahmen – verbergen sich Vorschläge
zur Einführung einer Transferunion. Nichts anderes zum
Beispiel bedeutet der Vorschlag zur integrierten Fis-
kalkapazität. Auch die Leichtfertigkeit, wie mit dem
Einstimmigkeitsprinzip umgegangen wird, ist problema-
tisch. Es ist daher gut und richtig, dass die Bundesregie-
rung nicht alle diese Vorschläge akzeptiert.
Die Konsolidierung der nationalen Haushalte wird
nur gelingen, wenn die nationalen Reformprogramme
auch wirklich wirtschaftlichen Gehalt haben. Dazu be-
dürfen die Vereinbarungen, die im Rahmen des Europäi-
schen Semesters getroffen werden, einer konsequenten
und nachprüfbaren Umsetzung. Die Konsolidierung der
nationalen Haushalte muss sich auf die Schwerpunkte
konzentrieren, die die Haushalte am meisten belasten. In
der Regel sind das die Zuschüsse zu den sozialen Siche-
rungssystemen wie die Renten-, die Kranken- und die
Arbeitslosenversicherung. Auf diese Kernelemente und
nicht auf verschiedene Details muss sich das Europäi-
sche Semester konzentrieren. Ein echtes Konzept für
eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion muss all
die Maßnahmen und Rahmenbedingungen enthalten, die
die europäischen Länder wirklich stark gemacht haben.
„Bitte gut zuhören, Herr Gabriel“, wollte ich jetzt eigent-
lich sagen. Aber er ist leider nicht mehr anwesend.
– Da ist er. Umso besser! Bitte gut zuhören!
Zu viel Geld ausgeben allein, hat die einzelnen Län-
der sicherlich nicht vorangebracht. Das ist doch ein
Grund für die vielen Probleme. Die Prinzipien der sozia-
len Marktwirtschaft haben die Länder vorangebracht.
Gute Rahmenbedingungen, damit sich wirtschaftliche
Kreativität entfalten kann, sind das Erfolgsrezept. Die
EU braucht einen flexiblen Arbeitsmarkt, der insbeson-
dere den kleinen und mittelständischen Unternehmern
ermöglicht, auf Angebot und Nachfrage von Arbeits-
kräften zu reagieren. Wenn der Export eine Volkswirt-
schaft stark macht, dann soll diese Stärke auch erhalten
bleiben. Entscheidend für eine importorientiere Volks-
wirtschaft ist, dass sie nur das finanziert, was sie sich
leisten kann, und dass sie strukturelle Anstrengungen
unternimmt, die Importabhängigkeit zu verringern.
Gute Finanzierungsbedingungen für mittelständische
Betriebe sind das Erfolgsrezept. Sparkassen, Volksban-
ken und Förderbanken haben den Mittelstand in
Deutschland stark gemacht, da diese Banken für die not-
wendige Finanzierung gesorgt haben.
Die Schwäche des Mittelstandes in anderen Ländern
muss daher durch die Schaffung entsprechender struktu-
reller Rahmenbedingungen für die Finanzierung ausge-
glichen werden. Direkte Finanzhilfen sind aber nicht die
Lösung. Tenor der Vorschläge aus Brüssel ist, die Pro-
bleme mit der Bereitstellung finanzieller Hilfen lösen zu
wollen. Das ist auch der Tenor der Vorschläge der Oppo-
sition. Ich betone nochmals: Nur die strukturellen Rah-
menbedingungen einer sozialen Marktwirtschaft können
das Erfolgsrezept der EU sein.
Die föderale Struktur mit unseren 16 Bundesländern
und den Kommunen, die unser Land wirtschaftlich vo-
rangebracht hat, darf nicht durch Vorgaben der Europäi-
schen Kommission zerstört werden. Der Ruf nach mehr
Zentralismus in Europa ist verführerisch. Er ist vielleicht
26216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bettina Kudla
(C)
(B)
auch deswegen so laut, weil in anderen europäischen
Ländern diese kleinteilige Struktur der Kommunen nicht
so ausgeprägt ist. Denken wir zum Beispiel an die Ho-
heit der Kommunen bei den kommunalen Steuern und an
die eigene Entscheidungshoheit bei Investitionen und
Wirtschaftsansiedlungen. Aus der Möglichkeit der Ent-
scheidung vor Ort erwächst wirtschaftliche Stärke, da
die Entscheidungsträger konkret auf die Gegebenheiten
vor Ort reagieren können. Und: Die Entscheidungsträger
können auch vor Ort zur Verantwortung gezogen wer-
den.
Bei all den Überlegungen zur Weiterentwicklung der
Wirtschafts- und Währungsunion, insbesondere auch bei
denen zur Bankenaufsicht, sei an Folgendes erinnert:
Grundsätzlich gilt: Kein Unternehmen, kein Investor
sollte sich bei seiner Investitionsentscheidung aus-
schließlich von steuerlichen Anreizen oder der Möglich-
keit der Erlangung von Subventionen – sprich: von
Geld – leiten lassen.
Die Erfahrung zeigt, dass dann häufig keine Nachhaltig-
keit gegeben ist.
So ist es auch bei der Diskussion über die Bankenauf-
sicht. Das Ziel der Errichtung einer funktionierenden
Bankenaufsicht für systemrelevante Banken muss bei
der Diskussion im Vordergrund stehen, und nicht das
Ziel der Erlangung von finanziellen Mitteln für marode
Banken. Daher ist es gut und richtig, dass die Bundesre-
gierung einen Stresstest von denjenigen Banken fordert,
die künftig unter das Dach der europäischen Bankenauf-
sicht kommen sollen.
Bei der Aufnahme in die EU mussten die Länder je-
weils die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Ich sage das
ganz bewusst; denn manchmal scheint das aus dem
Blickwinkel zu geraten. Das bedeutet, dass die Beitritts-
kandidaten über ein funktionierendes Staatswesen verfü-
gen mussten. Das war die Aufnahmevoraussetzung. In
den zurückliegenden Monaten wurde immer mehr fest-
gestellt, dass es in mehreren Ländern zum Teil keinen
funktionierenden Staatsapparat gibt. Die Lösung kann
aber auf keinen Fall darin liegen, dass nun Brüssel natio-
nale Aufgaben übernimmt.
Das Subsidiaritätsprinzip gilt nach wie vor. Vor-
schläge der Kommission, die die Regeln des Lissabon-
Vertrags einfach außer Acht lassen, werden dem An-
spruch einer Vision über die Weiterentwicklung von Eu-
ropa nicht gerecht.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie sind auch nicht im Interesse unserer Bürger.
Lassen Sie mich daher meine Rede mit einem Dank
an die Bundesregierung schließen: Danke, Frau Bundes-
kanzlerin,
danke, Herr Bundesfinanzminister, dass Sie die Interes-
sen unserer Bürger in Europa wahrnehmen.
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Europäische Rat, der heute beginnt, wird grundlegende
Weichen für die europäische Bankenaufsicht stellen. Ich
halte es zunächst für wichtig, festzuhalten, dass wir diese
europäische Aufsicht stärken, dass wir aber auch die na-
tionale Aufsicht über die Banken enger koordinieren. Es
geht also nicht allein um Zentralisierung, sondern es
geht vor allem darum, dass möglichst viele Augen da-
rauf schauen, wie Banken beaufsichtigt werden und wie
sie Geschäfte betreiben. Dabei gibt es keinen Zeitdruck.
Ich glaube, das kann eine wichtige Botschaft dieses Gip-
fels sein: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
Ich halte es auch für notwendig, dass wir die europäi-
schen Regeln zur Bankenaufsicht auf wirklich systemre-
levante Institute beschränken. Denn das Ziel der europäi-
schen Bankenaufsicht besteht doch darin, dass Banken,
wenn sie straucheln, nicht ganze Staaten mit in den Ab-
grund reißen können. Deshalb wollen wir auf europäi-
scher Ebene die Geschäftstätigkeit von Banken überwa-
chen. Dazu ist es notwendig, dass man die Kontrolle
risikoadäquat ausübt. Ich freue mich, dass es in der letzten
Nacht offenbar gelungen ist, dafür objektive Kriterien zu
finden. Man will nämlich an der Bilanzsumme der Ban-
ken festmachen, ob die europäische oder die nationale
Bankenaufsicht zuständig ist.
Es gehört meines Erachtens noch etwas Weiteres
dazu, die Bankenaufsicht zu verbessern. Wir sollten da-
rauf achten, dass der Kauf von Staatsanleihen auch mit
Eigenkapital hinterlegt werden muss. Wenn wir darauf
abzielen, dass wir Banken und Staaten in ihrer Tätigkeit
voneinander trennen und dass die Zukunft von Staaten
und Gesellschaften nicht davon abhängig sein soll, wie
erfolgreich die Banken wirtschaften, dann dürfen wir
nicht zulassen, dass sich die Banken förmlich aufsaugen
mit Staatsanleihen, die sie nicht mit Eigenkapital hinter-
legen. Vielmehr gehört es zur Stabilität auf den Finanz-
märkten, dass Staatsanleihen ebenfalls mit Eigenkapital
hinterlegt werden.
Wenn die Bankenaufsicht bei der Europäischen Zen-
tralbank angesiedelt werden soll – die Verträge geben
nach meiner Lesart zumindest einige Hinweise darauf,
dass einzelne Aufgaben bei der Aufsicht auf die Euro-
päische Zentralbank übertragen werden können –, dann
müssen wir darauf achten, dass die Aufsicht von der
Geldpolitik strikt getrennt wird.
Dann darf es nicht sein, dass man die Abstimmungsre-
geln, die man für die unabhängige Geldpolitik vereinbart
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26217
Thomas Silberhorn
(C)
(B)
hat, eins zu eins auf die Bankenaufsicht überträgt. Viel-
mehr müssen wir uns die Abstimmungsregeln in der Eu-
ropäischen Zentralbank dann noch einmal anschauen,
und wir müssen darauf achten, dass Deutschland ein
ständiges Stimmrecht im EZB-Rat hat und dass sich das
Stimmgewicht dort an den Haftungsmassen orientiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn eine
europäische Bankenaufsicht geschaffen werden soll,
dann müssen wir zeitgleich dafür sorgen, dass auch Re-
geln über die Abwicklung von Banken bestehen, Regeln,
über die wir uns gemeinsam verständigen. Man kann
nicht einerseits die Erwartung wecken, Banken zu hel-
fen, ohne andererseits die Frage zu beantworten, was mit
maroden Banken passiert, denen man auch mit Hilfe
nicht mehr beikommen kann, die man vielleicht abwi-
ckeln muss, die man in die Insolvenz schicken muss, die
man fusionieren muss – wie auch immer. Diese Regeln
müssen nach Möglichkeit zeitgleich mit der Bankenauf-
sicht geschaffen werden. Dabei muss auch deutlich wer-
den, dass es zunächst eine vorrangige Aufgabe der Mit-
gliedstaaten ist, die Abwicklung von Banken zu regeln.
Es sind zunächst einmal die Inhaber der Banken, die
ein Ungleichgewicht in den Bilanzen beseitigen müssen,
im Zweifel durch eine Kapitalerhöhung. Es sind ansons-
ten die Gläubiger der Banken, die herangezogen werden
müssen. Erst wenn die direkt Betroffenen nicht ausrei-
chend in der Lage sind, ein Kreditinstitut zu stabilisie-
ren, dann muss der Sitzstaat der jeweiligen Bank überle-
gen, ob er eingreift.
Wir haben in Deutschland mit unserem Finanzmarkt-
fonds Entsprechendes gemacht. Wir haben dabei sehr
klare Kriterien angelegt. Wir haben Zinsen verlangt, die
deutlich über Marktniveau lagen, sodass diese Hilfen nur
in Anspruch genommen worden sind, wenn es gar nicht
mehr anders ging, und sie so schnell wie möglich zu-
rückgezahlt wurden. Wenn es mit Zinsen über Marktni-
veau nicht gereicht hat – wie im Falle der Hypo Real Es-
tate –, dann haben wir das Problem durch eine staatliche
Beteiligung gelöst. Das ist also eine ganz klare Schritt-
folge, die auch in allen anderen Mitgliedstaaten einge-
halten werden muss. Darauf sollten wir achten.
Meine Damen und Herren, das öffentliche Interesse,
das wir als Politiker vertreten, kann sich doch nicht da-
rauf richten, Banken generell zu retten. Es gibt kein öf-
fentliches Interesse daran, ein bestimmtes Unternehmen
oder eine bestimmte Bank per se zu retten. Es gibt ein
öffentliches Interesse daran, die Spareinlagen zu sichern.
Es gibt ein öffentliches Interesse daran, die Kreditver-
sorgung des Mittelstands zu sichern. Es gibt ein öffentli-
ches Interesse daran, die Liquidität, die Funktionsfähig-
keit des Finanzmarkts zu sichern. Dafür waren wir in
Deutschland bereit, Steuermittel einzusetzen.
Es ist mir wichtig, dass wir auch auf europäischer
Ebene deutlich machen, dass wir hier eine Rangfolge
einhalten müssen und dass Steuermittel nur im Notfall
eingesetzt werden können und nur gegen Reformaufla-
gen, was aber ergänzt werden muss durch Mechanismen
zur Abwicklung von Banken.
In diesem Zusammenhang wird über einen einheitli-
chen Einlagensicherungsfonds in Europa diskutiert, den
Sie von der Opposition immer wieder fordern.
Ich will nur darauf hinweisen, dass wir bereits europäi-
sche Vorschriften haben, die alle Mitgliedstaaten ver-
pflichten, nationale Einlagensicherungssysteme zu er-
richten. Diese Einlagensicherungssysteme dienen dazu,
die Einlagen unserer Sparer zu sichern. Wenn Sie diese
Mittel der Einlagensicherung jetzt für ganz andere Zwe-
cke ausgeben wollen, dann müssen Sie uns schon die
Frage beantworten, wie Sie denn dann die Einlagen un-
serer Sparer sichern wollen; denn Sie können einen Euro
nicht zweimal ausgeben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können
in Europa nicht so Politik machen, dass wir alles in einen
gemeinsamen Topf schmeißen und damit den Sinn der ei-
genen Einlagensicherung untergraben. Wer die Einlagen-
sicherungsmittel für andere Zwecke wie beispielsweise
die Abwicklung von Banken ausgeben will, der muss
deutlich machen, dass dann die Einlagen der Sparer nicht
mehr gesichert werden. Das ist mit uns nicht zu machen.
Deswegen sind wir gegen einen einheitlichen Fonds zur
Einlagensicherung und gegen grenzüberschreitende Ein-
standspflichten in der Europäischen Union.
Die Europäische Kommission hat eine Reihe von Vor-
schlägen gemacht. Ich will sie nicht im Einzelnen be-
werten. Aber eines muss doch deutlich werden: Wir dür-
fen die Krise jetzt nicht zum Anlass für einen weiteren
Zentralisierungsschub nehmen, sondern wir sollten uns
tunlichst auf das Notwendige beschränken, nämlich auf
das, was jetzt erforderlich ist, um die Not zu wenden.
Die Europäische Kommission hat viele neue Vorschläge
gemacht – von Frauenquoten bis zur Tachografenpflicht.
Da würde ich mir wünschen, dass die Europäische Kom-
mission in ihrer Arbeit auch zu erkennen gibt, dass sie
die Prioritäten richtig setzt; alles andere ist diskreditie-
rend für die europäische Idee.
Ich kann auch den Vorschlägen für eine neue fiskali-
sche Kapazität, wie das so schön heißt, also für einen
neuen Haushalt der Euro-Zone, wenig Charme abgewin-
nen. Das wäre der Weg in die Verschuldung der Europäi-
schen Union. Das wäre der Weg, Euro-Bonds durch die
Hintertür einzuführen und im Übrigen auch die nationa-
len Parlamente auszuhebeln. Deswegen halte ich diese
Vorschläge der Kommission eher für Science-Fiction.
Wir sollten uns auf das konzentrieren, was jetzt unmittel-
bar notwendig ist, um die Handlungsfähigkeit in der
Euro-Krise sicherzustellen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßen: Unser Ziel muss sein, dass alle Länder in Europa
wettbewerbsfähig werden; das ist in einem globalen
Maßstab erforderlich. Dazu braucht es Haushaltsdiszi-
26218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Thomas Silberhorn
(C)
(B)
plin. Dazu braucht es Strukturreformen. Wir müssen uns
dem Wettbewerb stellen und dürfen nicht nur Kuschel-
zonen schaffen. Wir müssen jetzt die Ärmel hochkrem-
peln.
Wir dürfen nicht darin verfallen, Schuldige zu suchen,
sondern wir müssen jetzt Leistungsbereitschaft zeigen
und dürfen nicht in Lethargie verfallen. Das ist der rich-
tige Weg aus dieser Krise.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/11848. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von
SPD und Grünen abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/11849. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über einen weiteren
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/11850. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehrheitsver-
hältnissen wie zuvor abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz , Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Studienfinanzierung sozial gerecht gestalten –
Studiengebühren abschaffen und BAföG stär-
ken
– Drucksache 17/11823 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Studiengebühren jetzt bundesweit abschaffen
– Drucksache 17/11824 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Neunzehnter Bericht nach § 35 des Bun-
desausbildungsförderungsgesetzes zur Über-
prüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie
Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach
§ 21 Absatz 2
– Drucksache 17/8498 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem von uns eingebrachten Antrag möchten wir die Auf-
merksamkeit des Plenums, aber auch der Öffentlichkeit
auf drei Punkte richten, die uns im Umfeld von Studien-
finanzierung und BAföG besonders wichtig sind. Der
erste Punkt ist: Wir brauchen noch mehr Schub in Rich-
tung Abschaffung der Studiengebühren. Der zweite
Punkt ist: Wir brauchen eine neue Ausrichtung der Sti-
pendienkultur. Der dritte Punkt ist: Wir brauchen eine
klare Antwort in Bezug auf die Stärkung des BAföG.
Der erste Punkt. Manchmal geht Bildungspolitik
merkwürdige Wege. Wir alle hier im Bundestag und
manche außerhalb des Parlaments wissen, dass die Bun-
desbildungsministerin wie auch die Verantwortlichen in
der CDU/CSU- und FDP-Fraktion pro Studiengebühren
sind. Wenn man das weiß, wundert man sich, dass in
Hessen, wo CDU und FDP mit klarer Mehrheit regieren,
keine Studiengebühren existieren. In Hessen haben CDU
und FDP nämlich beibehalten, was SPD und Grüne
durchgesetzt haben: Weg mit Studiengebühren!
Wir wissen, dass in Nordrhein-Westfalen ein Möchte-
gern-Ministerpräsident angekündigt hatte, auch er werde
dort die Rücknahme der Studiengebühren beibehalten,
weil sie keinen Sinn machen. Im Saarland hat die CDU-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26219
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(C)
(B)
Ministerpräsidentin nicht darauf gedrungen, Studienge-
bühren einzuführen. In Berlin hat der stellvertretende
Regierende Bürgermeister ebenfalls nicht darauf gedrun-
gen. Und was ist mit Seehofer in Bayern? Das von Ein-
sicht geprägte Südgestirn der deutschen Bildungspolitik
hat allen versprochen: Es wird nach der nächsten Land-
tagswahl, egal wie sie ausgeht, keine Studiengebühren in
Bayern geben.
An dieser Stelle wollen wir Klarheit. Wir wollen
Klarheit über die Position der bürgerlichen Koalition
von CDU/CSU und FDP. Wir wollen Klarheit darüber,
wohin sie sich orientiert. Diese Klarheit muss es auch in
Bezug auf Niedersachsen geben; denn Niedersachsen,
regiert von CDU und FDP, ist offensichtlich das letzte
Bundesland ohne Einsicht. In Niedersachsen müssen
jetzt die Wählerinnen und Wähler dafür sorgen – so ha-
ben sie es auch in anderen Ländern getan –, dass Stu-
diengebühren sozusagen abgewählt werden.
Besser wäre es allerdings, wenn nicht erst die Wähler
dafür sorgen müssten, sondern wenn die Einsicht beim
bayerischen Ministerpräsidenten vielleicht schon jetzt
dazu führen könnte, Studiengebühren auch in Bayern ab-
zuschaffen. Besser wäre es außerdem, wenn die Einsicht
bei allen für Bildungspolitik Verantwortlichen dahin füh-
ren könnte, Studiengebühren deshalb abzuschaffen, weil
diese Gebühren ein Studium, das sowieso teuer ist und
die Familien finanziell beansprucht, noch teurer machen.
Deshalb: Studiengebühren weg, damit alle einen Zugang
zum Studium haben und es keine Finanzierungsbelas-
tung gibt.
Wir brauchen Studenten aus allen sozialen Schichten.
Wir wollen eine positive Weiterentwicklung der Hoch-
schulen, wir wollen, dass Hochschulen attraktiv sind, zu
einem Studienabschluss führen und allen eine Bildungs-
und Berufsperspektive bieten. Hochschulpolitik für alle
sozial gerecht zu gestalten, ist das erste Ansinnen, das
wir haben.
Der zweite Punkt bezieht sich auf die neue Ausrich-
tung der Stipendienkultur. Wir und auch Sie wissen,
dass wir in der Großen Koalition vieles getan haben, die
Begabtenförderwerke besser auszustatten. Sie wissen,
dass wir unterschiedlicher Auffassung über das
Deutschlandstipendium sind. Aber es gibt einen Kon-
sens darüber – das wird anscheinend vergessen –, dass
auch in der Hochschulbildung soziale Gerechtigkeit der
Maßstab ist. Es gibt viele beruflich Qualifizierte ohne
Abitur, die gerne ein Aufstiegsstipendium in Anspruch
nehmen würden. Sie können das aber nicht tun, weil das
Ziel von 10 000 Stipendien, mit dem das Studium von
beruflich Qualifizierten unterstützt werden soll, noch
nicht erreicht ist. Da sind wir bei 4 200 hängen geblie-
ben.
Wir möchten Ihnen allen empfehlen: Wenn wir die
Stipendienkultur in Deutschland gemeinsam neu aus-
richten wollen, sollten wir mit den Begabtenförderwer-
ken ins Gespräch kommen, damit diese besonders Stu-
dierende aus nicht so guten finanziellen Verhältnissen in
den Blick nehmen. Wir sollten uns außerdem darum be-
mühen und dafür werben, das Aufstiegsstipendium als
eine von uns allen getragene Perspektive der Stipendien-
kultur zu verstärken.
Mittelfristig müssen wir dafür sorgen, dass es einen
Rechtsanspruch darauf gibt und dass es nicht bei einer
Stipendienlotterie bleibt. Man sollte sich planerisch da-
rauf einstellen können, unter bestimmten finanziellen
oder sozialen Voraussetzungen eine Unterstützung für
einen gewählten Bildungsweg zu erhalten. Die mittel-
fristige Perspektive muss dahin gehen, diese Überlegun-
gen zum Inhalt des Aufstiegsfortbildungsförderungsge-
setzes zu machen.
Damit komme ich zum dritten Punkt, zum BAföG.
Auch die Studierendenförderung bietet eine Perspektive
für mehr Gerechtigkeit im Hochschulbereich. Es gibt ei-
nen Rechtsanspruch auf BAföG. Dieser Rechtsanspruch
wurde zwischenzeitlich in Zweifel gezogen. Mittler-
weile konnten wir aber erleben – in der Großen Koali-
tion, aber auch in der CDU/CSU-FDP-Koalition –, dass
wieder mehr fürs BAföG getan wird.
Wenn das BAföG jedoch wieder die Qualität bekom-
men soll, die es in den Anfangsjahren, also vor 40 Jah-
ren, einmal hatte, als es von fast 50 Prozent der Berech-
tigten tatsächlich in Anspruch genommen wurde, dann
darf es hinsichtlich der Verbesserungen der Bedingungen
für den Erhalt von BAföG zu keinem Stillstand kom-
men.
Deshalb sagen wir: Wir wollen endlich eine Antwort
seitens der Bundesregierung auf die Frage, was sie zu-
sätzlich zur Verstärkung des BaföG tun will. Dieses
Spiel zwischen Bund und Ländern, bei dem jeder auf
den anderen schaut, zerstört wiederum das Vertrauen in
das BAföG, das Studierende mittlerweile gewonnen
haben.
Aus unserer Sicht sollte die Perspektive darin beste-
hen – vielleicht können wir hier gemeinsam handeln –,
vor allen Dingen die Freibeträge stärker anzuheben.
Denn die Anhebung der Freibeträge hat vielen Studie-
renden den Zugang zum BAföG überhaupt erst ermög-
licht.
In Klammern sage ich: Wer sich so echauffiert über die
kalte Progression im Steuerrecht,
der darf einen kurzen Moment darüber nachdenken, ob
nicht auch beim BAföG das Problem darin besteht, dass
manche Familien aus dem Kreis der Berechtigten he-
rausfallen, weil ihr Einkommen gewachsen ist und sie
damit nicht mehr anspruchsberechtigt sind.
26220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(C)
(B)
Da wir in der Hochschulbildungsrepublik etwas ganz
Konkretes tun wollen, lautet unser Wunsch: Unterneh-
men Sie etwas in Bezug auf die Erhöhung der Freibe-
tragsgrenzen, weil dies dafür sorgt, dass mehr Men-
schen, die eine Hochschule besuchen wollen, einen
Rechtsanspruch auf Unterstützung haben.
Ich möchte abschließend sagen: Sie von CDU/CSU
und FDP haben jetzt die Chance, uns Klarheit zu ver-
schaffen – sei es im Namen Ihrer eigenen Fraktion oder
im Namen der Koalition –, wie es denn eigentlich von
Bayern bis Niedersachsen um Ihre Position im Hinblick
auf Studiengebühren bestellt ist.
Sind Sie bei Seehofer, oder wo stehen Sie?
Ich frage weiter: Wie ernst nehmen Sie das, was im
Hinblick auf die Aufstiegsstipendien und damit auf den
verbesserten Zugang zur Hochschulbildung für beruflich
Qualifizierte geplant ist? In Bezug auf das BAföG frage
ich: Meinen Sie, Nichtstun macht das BAföG stärker?
Gehen Sie mit uns den Weg, das BAföG mehr Familien
und mehr Studierenden zugänglich zu machen.
Diese drei Fragen zur Gerechtigkeit sollten Sie heute
dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit beant-
worten.
Danke schön.
Das Wort hat nun Stefan Kaufmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In elf Tagen ist Weihnachten.
Da darf man als Bildungs- und Forschungspolitiker
schon mal mit einigen Fakten – Weihnachtskugeln
gleich – beginnen, die den Menschen in unserem Lande
ein Leuchten und Glänzen in die Augen zaubern sollten.
Der Haushalt für Bildung und Forschung ist in dieser
Legislaturperiode um 13 Milliarden Euro gewachsen.
Die deutsche Forschung ist Weltspitze; junge erfolgrei-
che Forscherinnen und Forscher kehren nach Deutsch-
land zurück.
Die Zahl der Studienanfänger ist seit 2006 pro Jahr um
8,5 Prozent gestiegen: 2011 begannen 517 000 junge
Menschen ein Studium. Nie gab es weniger Schulabbre-
cher, nie gab es mehr Abiturienten und Hochschulabsol-
venten als in diesem Jahr.
Der Qualitätspakt Lehre mit strukturellen Verbesse-
rungen für die Studierenden an unseren Hochschulen ist
auf dem Weg. Ausbildungspakt und Bildungspaket si-
chern die Chancen benachteiligter junger Menschen auf
einen Aufstieg durch Bildung.
Und was machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, in Ihrem Antrag? – Das gilt allerdings we-
niger für Ihre Rede, lieber Herr Rossmann. – Sie kom-
men wie der Weihnachtsmann durch den Schornstein,
auf dem Rücken ein großer, dicker Sack mit vermeintli-
chen Geschenken. Auf dem Sack steht: Studienfinanzie-
rung. Aber was ist in diesem Sack drin? Solides, nach-
haltiges Holzspielzeug oder vielleicht innovative
Hightechware? Nein, nur unnützer Plastikramsch, alle-
samt Ladenhüter.
Der Weihnachtsmann stellt sich vor den Weihnachts-
baum. In der Hand hält er eine Rute. Darauf steht: so-
ziale Selektivität. Wild wedelt der Bärtige die Rute
durch die Luft und versucht vergeblich, den Anwesen-
den Angst einzujagen, wenn sie schon seine Geschenke
nicht haben wollen.
Und was hat der Weihnachtsmann mit der Realität zu
tun? Nichts, genauso wenig wie der Antrag der SPD,
Herr Rossmann.
Sie wollen das Bild einer Alternative in der Bildungs-
politik zeichnen, aber Ihr Bild gerät zum Zerrbild.
Es ist fast schon tragisch, Herr Rossmann. Sie outen sich
als eine bildungsferne Partei, als eine Partei fern der bil-
dungspolitischen Realität in unserem Land.
Das weiß jeder spätestens dann, wenn er Ihren Antrag
liest oder wenn er von SPD-Bildungspolitik in den Län-
dern betroffen ist. Man kann nur hoffen, dass die Bürge-
rinnen und Bürger in diesem Lande schlauer sind und
nicht auf Ihre Ladenhüter hereinfallen.
Ich möchte anhand von drei Beispielen verdeutlichen,
welches Zerrbild Sie in Ihrem Antrag zeichnen:
Erstens: Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit.
Zu Anfang Ihres Antrages schreiben Sie wieder einmal
von der angeblichen „sozialen Selektivität im deutschen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26221
Dr. Stefan Kaufmann
(C)
(B)
Bildungswesen“ und davon, dass es Ihrer Meinung nach
zu viele Akademikerkinder gibt, die studieren.
Zwei Absätze weiter steht, dass die Studienanfänger-
quote mittlerweile bei deutlich mehr als 50 Prozent eines
Jahrgangs liegt und wir erstmals in der deutschen Ge-
schichte rund 2,5 Millionen Studierende haben. Bravo!
Wann also sind Sie denn zufrieden? Wenn 100 Prozent
eines Jahrgangs Abitur machen und 100 Prozent studie-
ren?
In der Folge würde es dann nur noch Akademikerkinder
geben, was nach Ihrer Logik ein Zeichen großer sozialer
Ungerechtigkeit wäre. Dabei ist es doch ganz einfach:
Ein höherer Akademisierungsgrad in unserer Bevölke-
rung führt zwangsläufig auch zu mehr Akademikerkin-
dern an unseren Hochschulen.
Im Übrigen gibt es nach wie vor Unterschiede in der
Studierwahrscheinlichkeit zwischen Arbeiter- und Aka-
demikerkindern, und diese Unterschiede – nehmen Sie
bitte auch das zur Kenntnis! – laufen seit Mitte der 90er-
Jahre praktisch parallel.
Sie können eben nicht alle Unterschiede bei der Studier-
neigung mit Politik und Geld allein beeinflussen.
Sie reden immer von der sozialen Selektivität unseres
Bildungssystems, ändern daran aber selbst nichts. Wie
sieht denn die Realität aus? In der von Ihnen angeführten
19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks steht
Berlin ganz eindeutig als das sozial ungerechteste Bun-
desland da.
Dort stehen Sie von der SPD seit über zehn Jahren in Re-
gierungsverantwortung.
Dort haben Sie keine Ihrer eigenen Forderungen umge-
setzt.
Nehmen wir die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stif-
tung. In welchen Schulsystemen gibt es die höchste
Durchlässigkeit nach oben? Sie ahnen es: in Bayern und
Baden-Württemberg,
beides Länder, die noch nicht jahrelang SPD-Bildungs-
politik erdulden mussten. Leider ist der SPD-geführte
Bildungsabbau in meinem Heimatland Baden-Württem-
berg nun gerade in vollem Gange: Heute demonstrieren
in Stuttgart Tausende Lehrer, angeführt von der GEW,
gegen die katastrophale grün-rote Bildungssparpolitik.
Sie können denen in Baden-Württemberg nichts von ei-
nem Bildungsaufbruch unter der SPD erzählen; denn sie
kennen die Diskrepanz zwischen dem, was die SPD for-
dert, und dem, was sie vor Ort tut.
Zweitens: BAföG. Sie besitzen die Dreistigkeit, er-
neut über die glorreichen Zeiten des BAföG während Ih-
rer Regierungszeit zu schreiben. Sie verschweigen, dass
es die SPD-geführte Bundesregierung unter Bundes-
kanzler Schmidt war, die bereits 1981 erhebliche Leis-
tungskürzungen beim BAföG durchgesetzt hat. In der
glorreichen Zeit Ihrer Regierung von 1998 bis 2005 ist
Ihnen, abgesehen von einer einzigen BAföG-Erhöhung
im Jahr 2001, der wir zugestimmt haben, nicht viel ge-
lungen. Für die meisten Betroffenen kamen nicht einmal
10 Euro im Monat mehr heraus.
Sie wissen schon: Stichwort „Pizzareform“.
Unter der CDU/CSU-geführten Bundesregierung mit
der Ministerin Annette Schavan konnten beim BAföG
hingegen viele Erfolge erreicht werden. Wir haben 2011
Rekordausgaben für das BAföG verbucht. Erstmals wur-
den mehr als 3 Milliarden Euro ausgegeben. Die Zahl
der BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger erreichte
mit 963 000 Personen fast die Millionengrenze. Seit
2005 wurden die BAföG-Ausgaben um 43 Prozent ge-
steigert. Damit ist das BAföG der größte Einzelposten
im Bildungshaushalt. Auch das sollten Sie zur Kenntnis
nehmen.
Es gibt keine Kürzungen beim BAföG; daran ändern
auch Ihre Falschbehauptung in Ihrem Antrag und auch
die zehnte falsche Pressemitteilung von Ihnen, Herr Kol-
lege Hagemann, nichts.
Im Übrigen hat Annette Schavan – Herr Rossmann,
das haben Sie angesprochen – den Ländern längst Ge-
spräche über eine Weiterentwicklung des BAföG ange-
boten. Mir ist aber leider kein einziges SPD-regiertes
Land bekannt, das sich für eine BAföG-Erhöhung ein-
setzt.
Ihr Antrag ist in diesem Punkt also wieder einmal pure
Show.
Sie fordern von anderen viel und liefern selbst nichts;
das ist auch Ihre Haltung beim BAföG.
Drittens zum Deutschlandstipendium. Man kann sich
immer nur wundern: Wir geben die Verdoppelung der
Zahl der Stipendien auf immerhin 11 000 in diesem Jahr
bekannt, und Sie schaffen es, auch das noch schlechtzu-
reden. Das alles ficht Sie aber nicht an. Sie fordern, das er-
folgreich gestartete Stipendium abzuschaffen und die
Mittel dem BAföG oder den Begabtenförderungswerken
– so klar wird das in Ihrem Antrag nicht – zukommen zu
26222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Stefan Kaufmann
(C)
(B)
lassen. Dies würde der von Ihnen offensichtlich nicht ge-
wollten Mitfinanzierung unseres Hochschulsystems
durch private Geldgeber den Garaus machen und dem ein-
zelnen BAföG-Empfänger eine Erhöhung um 1,50 Euro
pro Monat bringen. Wenn Sie das als erfolgreiche SPD-
Politik verkaufen möchten –
bitte sehr, aber darüber würde selbst Gerhard Schröder
lachen.
Ich würde Ihnen vorschlagen, dass die SPD-Länder lie-
ber für eine vernünftige Ausstattung der Studentenwerke
sorgen. Ein schnell bearbeiteter BAföG-Antrag oder ein
Wohnheimplatz sind im Zweifel deutlich wichtiger für
die Studierenden als 1,50 Euro mehr im Monat auf dem
Konto.
Bei den Studiengebühren ist es ähnlich. Sie behaup-
ten, sie förderten soziale Selektivität. Genau das Gegen-
teil ist der Fall,
das zeigen alle Erhebungen. Es gibt keine negativen Ef-
fekte von Studiengebühren auf die Studierneigung.
Franz Josef Strauß hätte Ihnen zu all dem geantwortet:
„Irren ist menschlich, aber immer irren ist sozialdemo-
kratisch.“
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ihr Antrag enthält viel Luft und kaum Substanz. Peer
Steinbrück würde – wäre er jetzt noch hier – gewiss von
einem „Popcornantrag“ sprechen. Eine konstruktive De-
batte über die Studienfinanzierung ist so leider nicht
möglich. Sie nutzen dieses wichtige Thema zu einem
billigen, parteitaktisch motivierten Profilierungsversuch.
Der ist gescheitert.
Danke sehr.
Das Wort hat nun Diether Dehm für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Kaufmann, ich will Ihnen einmal sagen,
was Sie tun: Sie behandeln Bildung als ganz normale
Ware auf dem Markt.
Ist Ihnen vielleicht schon einmal aufgefallen, dass Bil-
dung ein Menschenrecht ist und Studiengebühren eine
volkswirtschaftliche Idiotie?
Verschuldete Akademiker helfen niemandem. Wer we-
gen Studiengebühren ins Ausland gehen muss, kommt
meistens nie wieder.
Wir können auf Spekulanten verzichten – das folgt un-
mittelbar aus der Debatte über die Bankenaufsicht –,
aber auf Bildung können wir niemals verzichten.
Sie aber wollen lieber die Schulden der Deutschen Bank
und anderer Großzocker übernehmen. Wir hingegen
wollen, dass sich junge Menschen, die studieren, nicht in
Schulden stürzen müssen.
Niedersachsen ist neben Bayern das letzte Land, in
dem es die allgemeinen Studiengebühren noch gibt. Für
die Linke ist klar: Diese Niedersachsen-Steuer muss
weg!
Niedersachsen hat in diesem Jahr nach den Erkenntnis-
sen der Steuerschätzung im November Mehreinnahmen
von etwa 360 Millionen Euro. Investieren wir doch nur
ein Drittel davon in die Zukunft des Landes! Mit gerade
113 Millionen Euro wären alle Studiengebühren weg.
Außerdem hätte Niedersachsen noch wesentlich mehr im
Topf, wenn Schwarz-Gelb und übrigens vorher Rot-
Grün den Superreichen die Steuern nicht heruntergesetzt
hätten.
Kollege Rossmann, Ihre Rede war zwar in der Ten-
denz wunderbar; aber Sie sollten den Grünen und der
SPD in Niedersachsen klarmachen, dass man die Stu-
diengebühren sofort abschaffen muss – das läge in der
Logik –,
und nicht erst zum Wintersemester 2014/2015 und auch
nur dann, wenn der Haushalt es zulässt. Diese Deh-
nungsfuge sollten Sie ihnen noch ausreden.
Machen Sie es wie die Linken: Wir wollen, dass die
Studiengebühren sofort abgeschafft werden.
Bis zum Ende des Studiums droht den Studierenden ein
Schuldenberg – Kollege Kaufmann, vielleicht hören Sie
einmal genau hin – von 15 000 Euro. Das schreckt Ju-
gendliche aus finanziell schlechter gestellten Familien
ab.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26223
Dr. Diether Dehm
(C)
(B)
Als einzige Partei wollen wir alle Studiengebühren
abschaffen, wie es Nordrhein-Westfalen vorgemacht hat –
übrigens auf Druck der Linken.
– Sie wurden auf Druck der Linken in Nordrhein-West-
falen abgeschafft. Selbstverständlich!
Wir wollen auch die von der SPD eingeführten Stu-
diengebühren für Langzeitstudierende abschaffen. Was
sind denn diese sogenannten Langzeitstudiengebühren,
die Sie eingeführt haben? Die sind eine Strafe für dieje-
nigen, die, um ihr Studium finanzieren zu können, ne-
benbei arbeiten müssen. Das bedeutet eine Langzeitstu-
diengebühr, und die muss auch weg.
Die ebenfalls von der SPD eingeführten und von allen
Studierenden zu zahlenden Verwaltungskostenbeiträge
fließen direkt in den Landeshaushalt. Auch die müssen
weg.
Um die Unterfinanzierung der Hochschulen abzu-
bauen, bedarf es bundesweit jährlich circa 10 Milliar-
den Euro. Für Niedersachsen läge der Gesamtaufwand
bei 1,37 Milliarden Euro im Jahr. Das ist nicht wenig
Geld; aber statt Spekulanten zu retten, sollten wir alle
lieber die gebührenfreie Bildung retten. Das ist ein wirk-
licher kategorischer Imperativ.
Es ist bezeichnend, dass die als Griechenland-Hilfe
getarnte milliardenschwere Bankenrettung mit öffentli-
chen Geldern quasi über Nacht durchgesetzt wird. Geht
es hingegen darum, einen Bruchteil dieser Beträge für
sozialpolitische Maßnahmen zur Verfügung zu stellen,
dann kommt die Lüge von den angeblich leeren Kassen.
Den Jungen geht es so schlecht wie den Alten in dieser
Krise. Herr Schäuble hat zum Beispiel unter Verweis auf
die Griechenland-Hilfe eine Besserstellung von älteren
Müttern in der Rente mit der Begründung abgelehnt,
dass dafür das Geld fehle.
Ihnen von der Koalition fehlt der politische Wille zum
Sozialen, Ihnen fehlt das Herz für soziale Gerechtigkeit,
und Ihnen fehlt der Mut, gegen die Bankenmacht vorzu-
gehen.
Sie halten Zockerbanken und Spekulanten für heilige
Kühe und meinen, dass man sie nicht pleitegehen lassen
kann. Wir wollen nicht Banken retten. Statt Spekulanten
wollen wir unsere Kitas, Schulen und Hochschulen ret-
ten. Statt kriminelle Finanzhaie sollten wir den kostbars-
ten Rohstoff, den unser Land hat, retten: gebildete Men-
schen.
Das Wort hat nun Patrick Meinhardt für die CDU/
CSU-Fraktion, nein, für die FDP-Fraktion. Entschuldi-
gung, ich wollte Sie nicht überwechseln lassen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich hatte gehofft, dass wir hier eine ernsthafte Debatte
über die Bildungsfinanzierung, über die Zukunft der Bil-
dungsrepublik Deutschland führen würden. Was ich
hierzu aber bisher von der SPD und der Linken gehört
habe, ist, angesichts der Niedersachsen-Wahl, billigste
Wahlkampfrhetorik. Da hat nichts mit den Kindern,
nichts mit den Studierenden und nichts mit der Verbesse-
rung des Bildungssystems zu tun.
Sie wollen sich damit überhaupt nicht auseinanderset-
zen.
Sie wollen nur bestimmte ideologische Vorstellungen
bedienen. Das ist unglaublich!
Schauen wir uns doch einmal an, was wir mit der
23. BAföG-Novelle im Oktober 2010 auf den Weg ge-
bracht haben: Das war eine umfassende BAföG-Moder-
nisierung im Bereich der Bedarfssätze: eine Steigerung
um 2 Prozent. Die Freibeträge sind um 3 Prozent gestie-
gen. Die förderrechtliche Altersgrenze für die Aufnahme
eines Masterstudiums wurde auf 35 Jahre angehoben.
Die Wohnkosten wurden im Zusammenhang mit den Be-
darfssätzen pauschalisiert. Eingetragene Lebenspartner-
schaften wurden im BAföG förderungsrechtlich durch-
gängig mit der Ehe gleichgestellt. – Meine sehr geehrten
Damen und Herren, wir haben 2010 mit der BAföG-Mo-
dernisierung einen richtigen Qualitätssprung hingelegt.
Das ist das Ergebnis der CDU/CSU-FDP-Koalition.
Sie haben anscheinend einen äußerst getrübten Blick
auf die Realität. Die Realität wird deutlich, wenn man
sich den Gesamtbetrag ansieht, den wir für das BAföG
zur Verfügung stellen. Hier gab es in einem sehr kurzen
Zeitraum, innerhalb von vier bis fünf Jahren, eine Erhö-
hung von 800 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro.
Wir versuchen alle gemeinsam, gute Ausgangsvoraus-
setzungen zu schaffen, damit junge Menschen ein Stu-
dium aufnehmen können. Ein wesentliches Element ist,
26224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Patrick Meinhardt
(C)
(B)
dass wir mehr Geld in die Hand nehmen. Eine Verdoppe-
lung innerhalb von vier Jahren ist ein Zeichen für eine
solide Bildungsfinanzierung in der Bundesrepublik
Deutschland.
Das Gleiche gilt für die Anzahl der BAföG-Empfän-
ger. Ich bin gottfroh, dass wir an die Grenze von 1 Million
BAföG-Empfänger herankommen; Kollege Kaufmann
hat das soeben schon beschrieben. Das ist ein gutes Zei-
chen.
Ich hoffe auch – das sage ich ganz klar –, dass wir im
kommenden Jahr mit der BAföG-Erhöhung vorankom-
men werden, und zwar in beiden Bereichen, beim
Grundbetrag und bei den Freibeträgen. Die Ministerin
hat es hier, vor diesem Hohen Hause, in der Haushalts-
debatte ganz klar gesagt: Die Länder haben ein Angebot
auf dem Tisch.
Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Jetzt sind die
16 Bundesländer an der Reihe. Wir machen hier keinen
Kuhhandel und keinen Basar mehr.
Ich will nicht, dass die Sozialdemokraten auf dem
Rücken der Studierenden eine Blockadepolitik beim
BAföG in den Ländern betreiben und sich hier hinstellen
und so tun, als ob sie die Retter des BAföG seien. Das ist
heuchlerisch, das ist doppelzüngig, das ist doppelmora-
lisch.
Kümmern Sie sich in Ihren Bundesländern darum,
dass ein klares Angebot auf den Tisch kommt. Dann
werden wir sofort darüber verhandeln.
Nur diese klare Vorgehensweise ist möglich. Nehmen
Sie Ihre Verantwortung wahr, und schauen Sie, ob Ihre
Matschies, Ihre Kretschmanns und Ihre Becks auf Linie
zu bringen sind; denn es gibt aktuell keine einheitliche
Linie in den rot-grünen Koalitionen, bei den Linken erst
recht nicht.
Wir brauchen in diesem Land eine neue Stipendien-
kultur; denn wir haben etwas Katastrophales vorgefun-
den.
Wenn nur 0,5 bis 0,6 Prozent der Studierenden in einer
Wirtschafts- und Wissenschaftsnation ein staatlich ge-
fördertes Stipendium bekommen, dann ist das eine bo-
denlose Unverschämtheit. Wir sind erst auf 0,85 Prozent
gekommen und haben nun erreicht, dass es heutzutage
40 000 durch die öffentliche Hand geförderte Stipendien
gibt. Dies ist ein bedeutender Schritt in der Geschichte
der Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland.
Wir sind jetzt dabei, Talente und Begabungen junger
Menschen adäquat zu fördern. Hier müssen wir weiter
vorangehen und starke Zeichen setzen.
Das sieht man auch daran, dass die Landesregierung
in Nordrhein-Westfalen die 2 600 Stipendien eben nicht
abschafft, wie man es einst gefordert hat, sondern sie
fortsetzen will. Denn die dortige Regierung weiß inzwi-
schen, dass Begabtenförderung kein Teufelszeug ist,
sondern elementarer Bestandteil der äußerst guten Bil-
dungspolitik unseres Landes sein muss.
Hinsichtlich des Deutschlandstipendiums sage ich, da
Sie immer über soziale Gerechtigkeit sprechen, Folgen-
des:
Erstens. Es gibt eine Verdoppelung auf 11 000 Stipen-
diaten. Ich bin sehr froh darüber. Diese 11 000 würden
kein Stipendium bekommen, wenn diese Bundesregie-
rung das Deutschlandstipendium nicht in die Wege ge-
leitet hätte.
Zweitens. Wir haben bei den Begabtenförderungswer-
ken das Büchergeld in Höhe von 80 Euro – so viel gab es
zu Beginn dieser Legislatur – auf 300 Euro im kommen-
den Jahr fast vervierfacht. Wir vervierfachen das Bü-
chergeld in nur einer Legislaturperiode, um eine opti-
male Förderung junger Menschen zu erreichen. Beides
zusammen, Deutschlandstipendium und Begabtenförde-
rungswerk, sind zwei Seiten einer Medaille. So können
wir endlich erreichen, dass die Talent- und die Eliteför-
derung in der Bundesrepublik Deutschland gute, richtige
und tragfähige Begriffe sind.
Ich bin heilfroh, dass wir beim Deutschlandstipendium
endlich erreicht haben, dass 30 Prozent der Stipendien an
Fachhochschüler vergeben werden. Denn Fachhochschü-
ler sind diejenigen, die den harten Weg gegangen sind, die
über Hauptschule oder Realschule, über berufliches
Gymnasium oder berufliche Schule auf die Fachhoch-
schule gekommen sind. Bis jetzt waren 8 Prozent der
Stipendiaten bei den Begabtenförderungswerken Fach-
hochschüler. Bei den Deutschlandstipendien sind es
30 Prozent. Damit haben wir endlich ein Ziel erreicht, das
für soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutsch-
land steht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26225
Patrick Meinhardt
(C)
(B)
Sie haben das Thema Studiengebühren auf Ihrer
Agenda. Dazu möchte ich zwei Anmerkungen machen.
Erstens. Lassen Sie uns bitte darüber diskutieren, wie
wir künftig die Ausbildung eines jungen Menschen, der
zum Beispiel Schreinermeister, Bäckermeister oder Kon-
ditormeister werden will, handhaben wollen. Im berufli-
chen Bereich muss derjenige, der einen Meisterabschluss
machen möchte, dafür 7 000 Euro selbst aufbringen.
Wenn Sie hier über soziale Gerechtigkeit sprechen wol-
len, dann möchte ich eine Debatte darüber führen, wie wir
akademische und berufliche Bildung auf gleiche Art und
Weise behandeln sollten. Alles andere ist heuchlerisch
und falsch.
Zweitens. Ich glaube, dass wir im Bereich der Stu-
dienbeiträge in der Debatte zu einem bestimmten Punkt
kommen sollten. Studienbeiträge sind dann gut, wenn
Hochschulen selbst und eigenständig darüber entschei-
den können, wenn es nachgelagerte Studiengebühren
gibt, wie wir es in Niedersachsen haben und wie wir es
in Bayern auf den Weg gebracht haben. Das ist der Weg:
Fair ist es, Gerechtigkeit ist, darüber zu sprechen, dass
Studierende selbst mit entscheiden können.
Der falsche Weg ist, wenn – wie in Nordrhein-West-
falen – die Hochschulfreiheit zurückgeschraubt wird.
Nein, wir brauchen mehr Hochschulfreiheit und mehr
Entscheidungsfreiheit über Studiengebühren und Stu-
dienbeiträge. Dann haben wir genau das, was wir brau-
chen: mehr Bildung und mehr Bildungsbeteiligung und
damit auch mehr Bildungsgerechtigkeit. Dafür steht
diese Regierung.
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Arbeiterkind sage ich: Bildungsaufstieg muss in einer
echten Bildungsrepublik Alltag sein.
Diesem Anspruch wird diese Bundesregierung nicht ge-
recht.
Der Zugang zur Hochschule ist auch 2012 alles an-
dere als chancengerecht. Die Finanzierungsfrage stellt
für viele junge Menschen eine hohe Hürde dar. Je gerin-
ger die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern,
umso geringer ist die Chance auf ein Studium. Das muss
sich ändern.
Wer aus einer Familie kommt, die einkommensarm ist
oder in der noch niemand studiert hat, braucht Ermuti-
gung, braucht Unterstützung, um sich für ein Studium zu
entscheiden – ideell wie finanziell.
In so einer Ausgangslage braucht man gute Beratung,
gute Studienbedingungen
und ein BAföG, das zum Leben reicht.
Was man nicht braucht, liebe Union, liebe FDP, sind
Schuldenberge durch Studienkredite, unsichere, elitäre
Deutschlandstipendien oder Bildungsbarrieren wie Stu-
diengebühren.
Wir Grüne kämpfen für Studiengebührenfreiheit, egal
in welcher Koalition. Wir haben die Campusmaut abge-
schafft: in Hessen, NRW und Baden-Württemberg mit
der SPD, im Saarland mit CDU und FDP.
Überall gab es eine vollumfängliche finanzielle Kom-
pensation für die Hochschulen.
Das waren gute Entscheidungen für die Studierenden
und die Hochschulen.
Die Ziele der Grünen sind klar: Niemand darf wegen
der sozialen Herkunft oder wegen der Finanzlage seiner
Eltern von der Aufnahme eines Studiums abgehalten
werden. Wir brauchen alle – aus allen sozialen Schich-
ten. Wir wollen mehr Arbeiter- und Migrantenkinder auf
dem Campus. Akademische Bildung muss für alle er-
schwinglich und für alle offen sein.
26226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Kai Gehring
(C)
(B)
Jeder hier im Haus wird mir doch zustimmen, dass es
keine Bildungsrepublik ohne finanziell gut ausgestattete
Kitas, Schulen und Universitäten gibt. Der wesentliche
Unterschied zwischen CDU, CSU und FDP auf der ei-
nen Seite und SPD und Grünen auf der anderen Seite ist,
dass wir die staatliche Finanzierung öffentlicher Bil-
dungseinrichtungen stärken wollen.
Sie dagegen wollen immer wieder Teile der Bildungs-
ausgaben privatisieren, und das ist falsch.
Sie waren es, die in sieben Bundesländern Studienge-
bühren für alle Studierenden, von Anfang an, eingeführt
haben. Studien haben bestätigt: Bundesweit sind da-
durch Zehntausende Hochschulzugangsberechtigte von
der Aufnahme eines Studiums abgeschreckt worden,
insbesondere Frauen und Jugendliche aus Nichtakademi-
kerfamilien.
Selbst die Bundesregierung sieht keine positiven Ef-
fekte von Studiengebühren. Auf unsere Anfrage von An-
fang 2012 hat sie wie folgt geantwortet:
Der Bundesregierung … liegen keine Daten über
Qualitätsverbesserungen an Hochschulen vor, die
sich ursächlich auf die Einführung von Studienge-
bühren zurückführen ließen.
Damit wurde das wichtigste Argument der Studienge-
bührenbefürworter wie Meinhardt & Co. regierungsamt-
lich vom Tisch gewischt.
Ich sage Ihnen auch, warum das so ist: Länder mit Stu-
diengebühren haben zwar ihre Studierenden abkassiert;
aber sie haben die entsprechenden Einnahmen zweckent-
fremdet, und genau diese Länder haben im Gegenzug die
Landeshochschuletats abgesenkt. Geblieben sind also
keine zusätzlichen Einnahmen, geblieben ist eine
plumpe Umverteilung von Staat zu privat.
Das war und das ist ein Irrweg, den wir nicht gehen wol-
len und den auch die Menschen in diesen Ländern nicht
gehen wollen.
Ich sage Ihnen: Das bundesweite Ende von Studien-
gebühren ist zum Greifen nahe. Als Nächstes sind die
Studiengebühren in Niedersachsen und Bayern dran. Die
Bürgerinnen und Bürger beider Bundesländer wissen,
dass ihre Landtagswahlen auch Volksabstimmungen
über die Abschaffung der ungerechten Campusmaut
sind. Ich gehe davon aus, dass sie entsprechend abstim-
men.
Auch über das Betreuungsgeld – also die Prämie, um
kleine Kinder von der Bildungseinrichtung Kita fernzu-
halten;
1,5 Milliarden Euro lassen Sie sich das kosten – haben
Sie eine Privatisierung von Bildungsausgaben eingelei-
tet, und zwar mit dem Bildungssparen.
Bessere Bildung gibt es nicht durch Subventionen für die
Versicherungswirtschaft. Bessere Bildung gibt es auch
nicht dadurch, dass FDP-Minister Rösler sagt: Mit den
Bildungssparkonten kann man dann die Studiengebüh-
ren in Bayern und Niedersachsen finanzieren.
Bessere Bildung gibt es nur mit steuerfinanzierten, qua-
litativ guten Bildungseinrichtungen für alle.
– Ja, genau um diese Alternative geht es.
Es ist durchaus gerecht, dass sich Akademikerinnen
und Akademiker stärker an Bildungsinvestitionen betei-
ligen,
aber nicht während ihres Studiums, sondern im Nach-
hinein durch einen höheren Spitzensteuersatz. Darum
geht es!
– Ja, damit trifft man die, die besonders viel verdienen.
Das ist der Unterschied.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26227
Kai Gehring
(C)
(B)
Für eine bessere Bildung wollen wir gezielt die stär-
keren Schultern belasten, anstatt Bildungszugänge durch
finanzielle Hürden zu verbauen; das ist gerechter.
Wer über Studienfinanzierung spricht, der darf das
BAföG nicht verschweigen. Ich glaube, es bringt jetzt
nichts, uns wechselseitig vorzubeten, was die einzelnen
Fraktionen für das BAföG getan haben.
Alle Regierungsparteien seit 1998 haben sich beim
BAföG-Ausbau Verdienste erworben und Erfolge er-
zielt.
Entscheidend ist aber, was jetzt und zukünftig passiert
und welche Taten jetzt folgen.
Eine Aufstockung ist schon inflationsbedingt völlig
überfällig. Bundesbildungsministerin Schavan sollte
nicht mit Nebelkerzen werfen; Herr Meinhardt, Sie auch
nicht.
Sie sagen, ein Angebot liege auf dem Tisch. Die Länder
sagen mir: Das kennen wir gar nicht. – Sagen Sie hier
doch, worin das Angebot besteht! Machen Sie es doch
öffentlich, und sagen Sie es! Führen Sie hier keine
Nebelkerzendebatten!
Sie müssen Ihre Blockadehaltung beim BAföG aufge-
ben.
Die Länder sind bereit, die Studienfinanzierung zu refor-
mieren. Frau Schavan, nicht zögern und zaudern, son-
dern den eigenen Finanzminister überzeugen: Das ist
jetzt Ihr Job; das ist Ihre Rolle.
Wir sagen: Beim BAföG müssen die Fördersätze für
Studierende und die Freibeträge für die Eltern im ersten
Schritt je um mindestens 5 Prozent steigen. Das ermög-
licht mehr Bildungsaufstiege und ist allemal gerechter
als die Luftnummer Deutschlandstipendium.
Herr Meinhardt,
von diesem Deutschlandstipendium
profitieren 0,4 Prozent der Studierenden in Deutschland.
Hier von neuer Stipendienkultur zu reden, haut dem Fass
wirklich den Boden aus. Man muss hier wirklich mit der
Lupe suchen. Das ist schlicht lächerlich.
Die Deutschlandstipendien sind, gemessen an Ihren
eigenen Ankündigungen, ein fulminanter Flop
und Symbol einer Hochschulpolitik, die an den Bedarfen
der Studierenden vorbeigeht. Sie bringen den Studieren-
den keine Finanzierungssicherheit,
dafür den Hochschulen einen enormen bürokratischen
Aufwand. Sprechen Sie einmal mit den Hochschulen da-
rüber,
was das für einen Bürokratieaufwand bedeutet. Hier
müssen jetzt große Fundraising-Abteilungen aufgebaut
werden.
Wir sagen zum Deutschlandstipendium: Wegfall ist bes-
ser als Fortsetzung.
Bürokratieabbau ist sowieso keine Stärke von Union
und FDP. Zweieinhalb Jahre nach den Empfehlungen
des Nationalen Normenkontrollrats hat die Bundesregie-
rung noch immer keinen Plan zur BAföG-Entbürokrati-
sierung vorgelegt. Weiterhin müssen sich Studierende
und ihre Familien durch einen Berg kompliziertester
Formulare und Nachweispflichten kämpfen. Beim Aus-
füllen des Antrags, aber auch in den BAföG-Ämtern
fragt man sich: Warum gibt es nicht beispielsweise eine
Krankenversicherungspauschale? Warum wird bei ei-
nem sechssemestrigen Bachelor am Leistungsnachweis
nach vier Semestern festgehalten? Wie soll der ganze Er-
lassdschungel von Bund und Ländern eigentlich gelich-
tet werden?
Der Nationale Normenkontrollrat hat die Bundesre-
gierung aufgefordert, noch in dieser Wahlperiode zu ei-
ner weiteren Entbürokratisierung zu kommen. Also:
Handeln statt Ignorieren! Entbürokratisieren hilft!
26228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Kai Gehring
(C)
(B)
Darüber hinaus muss das BAföG für deutlich hetero-
gener gewordene Studierendenschaften strukturell fit ge-
macht werden. Der Zehn-Punkte-Plan des Deutschen
Studentenwerks ist eine hervorragende Diskussions-
grundlage. Wir sollten darüber reden.
Das BAföG muss erweitert und verbessert werden.
Ohne eine schnelle Novelle wird es an Attraktivität ver-
lieren. Das können wir nicht wollen.
Die Regierung Merkel wird der nächsten Bundesre-
gierung viele bildungspolitische Baustellen hinterlas-
sen. Das hat auch der gestern vorgelegte Bildungsfinanz-
bericht 2012 gezeigt. Als grüner Regierungspartner
werden wir mit der SPD mehr für Bildungsgerechtigkeit
tun.
Dafür haben wir die Bewohner der Bildungsrepublik an
unserer Seite. Sie haben die Bildungsprivatisierer und
Studiengebührenbefürworter Dräger, Pinkwart, Rüttgers,
Frankenberg und wie sie alle hießen, reihenweise abge-
wählt. Als Nächstes sind Seehofer, McAllister und diese
Bundesregierung dran.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Oppositionsanträge zur Studienfinanzie-
rung liest, beschleicht einen allmählich das Gefühl, Ih-
nen täte manche adventliche Einkehr ganz gut.
Insbesondere bei der SPD fällt auf, dass die größte oppo-
sitionelle Tugend, die konstruktive Kritik – manchmal
üben wir sie ja sogar im Ausschuss –, einer ziemlich bil-
ligen – Herr Rossmann, diesen Vorwurf kann ich Ihnen
nicht ersparen – Wahlkampfpolemik gewichen ist.
Nur noch einmal ganz kurz zur Erinnerung: Unser
Grundgesetz hat die Bildungsverantwortung in die
Hände der Länder gelegt. Dort bleibt sie auch, wenn die
SPD ihre destruktive Blockade gegen die Aufhebung des
Kooperationsverbotes beibehält.
– Reden wir hier nicht über Hochschulen? Könnten wir
Art. 91 b Grundgesetz nicht gemeinsam ändern, wenn
Sie, die Sie behaupten, dass auch Sie das wollen, es tat-
sächlich täten?
Gute Studienbedingungen zu schaffen und jungen
Menschen die beste Ausbildung zu ermöglichen, genau
das ist die zentrale Aufgabe der Länder. Dass Bildung
trotzdem auch eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, hat
diese Bundesregierung verstanden. Sie hat gehandelt wie
keine andere Regierung vor ihr.
In den letzten vier Jahren hat der Bund zweistellige
Milliardenbeträge für Bildungsaufgaben investiert, für
die nach wie vor die originäre Zuständigkeit bei den
Ländern liegt. 13,8 Milliarden Euro gibt die Bundesre-
gierung in diesem Jahr für Bildung und Forschung aus.
Ich darf daran erinnern, dass Rot-Grün zu seiner Zeit ge-
rade einmal 7,5 Milliarden Euro dafür übrig hatte. Die
christlich-liberale Koalition hat dafür gesorgt, dass der
Bildungshaushalt in jedem der vergangenen vier Jahre
um jeweils 700 Millionen Euro gewachsen ist. Rot-Grün
hat in sieben Jahren Regierungszeit,
Herr Gehring, den Bildungshaushalt dagegen genau
dreimal gekürzt.
Das ist die Wahrheit. Vor diesem Hintergrund finde ich
es fast schon dreist, mit welcher Selbstverständlichkeit
gerade die SPD hier mehr Engagement vom Bund for-
dert,
dieselbe SPD übrigens – ich muss das noch einmal sa-
gen –, die aus wahltaktischen Gründen eine Verfassungs-
reform verhindert,
die die von Ihnen geforderte unterstützende Hochschul-
finanzierung ermöglichen würde.
Doris Ahnen, Herr Schulz, hat die Position der SPD in
der Anhörung auf den Punkt gebracht: Lieber nieman-
dem etwas geben, als besonders leistungsstarke Unis zu
fördern.
Intellektuelle Gleichmacherei ist ja auch das durch-
gängige Prinzip Ihres heutigen Antrages. Lieber Herr
Rossmann, Sie haben in der Anhörung gesagt, 2017 sei
noch lange hin. Das finde ich verdammt kurzsichtig.
Lieber installieren Sie ideologische Denkblockaden im
Wahlkampf. Aber Vorsicht: Die Menschen durchschauen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26229
Monika Grütters
(C)
(B)
das, vor allen Dingen, wenn solche populistischen Ges-
ten mit der Realität nichts zu tun haben. Denn gerade in
SPD-regierten Ländern ist die Kürzung der Bildungsaus-
gaben – nicht nur die Kürzung der Ausgaben für Kultur
wie in Nordrhein-Westfalen, die heute der Aufmacher in
allen Zeitungen ist, sondern auch die Kürzung der Aus-
gaben für Bildung – das Markenzeichen sozialdemokra-
tischer Politik. Ein Zeugnis dafür ist der Rücktritt von
Renate Jürgens-Pieper, die nicht mehr weiß, wie sie in
Bremen ihren Bildungsauftrag umsetzen soll.
Lieber Kai Gehring, dafür sind auch Sie von den Grü-
nen in Nordrhein-Westfalen mit verantwortlich: Ja, die
Studiengebühren haben Sie abgeschafft, und Sie haben
Entschädigungen aus dem Steuersäckel gezahlt. Sie ha-
ben sie aber leider nicht dynamisch an die Zahl der Stu-
dierenden geknüpft. Deshalb bleibt die Summe auf ei-
nem konstant niedrigen, auf einem zu niedrigen Niveau.
Immerhin machen das die Grünen in Baden-Württem-
berg anders. Dort hat man sich für dynamische Entschä-
digungszahlungen entschieden. Aber dort – das muss ich
sagen – stellt auch nicht die SPD den Ministerpräsiden-
ten und den Wissenschaftsminister.
Herr Dehm, soeben haben Gerichte in Berlin die un-
verschämte Höhe der Immatrikulationsgebühr – so heißt
das dort –, die Rot-Rot installiert hatte, für unangemes-
sen erklärt.
Das waren verkappte Studiengebühren, die den Unis
nicht zugutekamen.
– Das war Rot-Rot, Herr Schulz; das haben wir jetzt ab-
geschafft. Die Gebühren sind in den acht Regierungsjah-
ren von Rot-Rot siebenmal erhöht worden.
Es geht um die Höhe und darum, dass die Einnahmen
nicht bei den Unis landen, sondern im Staatssäckel.
Statt den Bachelor schlechtzureden, statt ein erfolg-
reiches zusätzliches Stipendienprogramm – Sie wollen
doch ein zusätzliches Stipendienprogramm – gleich wie-
der aufgeben zu wollen, statt beim Aufstiegsstipendium
nur wieder nach noch mehr Geld vom Bund zu rufen und
statt ermüdend gegen Studiengebühren zu polemisieren,
sollten auch Sie über kreative, leistungsorientierte und
sozialverträgliche Modelle im Interesse der Studieren-
den und der Unis nachdenken.
Sie, die SPD, sollten Ihren üblen etatistischen Ansatz
überdenken, statt Ihre Hochschulen in Nordrhein-West-
falen erneut an das ganz kurze Gängelband des Staates
zu legen. Das ist die Realität.
Würden die Aufwüchse der Länder mit dem Auf-
wuchs des Bundes nur ansatzweise Schritt halten, dann
bräuchten wir hier keine Debatte über Studienfinanzie-
rung zu führen. Weil es vor allem SPD-regierte Länder
sind, die ihrer bildungspolitischen Verantwortung so
wenig gerecht werden, sollte Ihnen Ihre Kritik am Bund
eigentlich im Halse stecken bleiben.
Diese Bildungsregierung ist für die Bildungsrepublik
Deutschland das Beste, was ihr bisher passiert ist. In der
Vorweihnachtszeit sollten auch Sie langsam zur Besin-
nung kommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marianne Schieder für die SPD-
Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Seit fünf Jahren gibt es in meinem Heimatland, dem
Freistaat Bayern, die allgemeinen Studiengebühren, und
seit fünf Jahren gibt es einen erbitterten Streit über deren
Sinnhaftigkeit und Nutzen, oder besser: deren Unsinn
und Schaden.
Jetzt ist sogar ein Volksbegehren zur Abschaffung der
Studiengebühren auf den Weg gebracht worden. Vom 17.
bis zum 30. Januar müssen sich 10 Prozent der wahlbe-
rechtigten Bürgerinnen und Bürger Bayerns in ihren Rat-
häusern eintragen, um schließlich einen Volksentscheid
zu erreichen.
Die Liste der Unterstützerinnen und Unterstützer die-
ses Volksbegehrens macht deutlich, wie breit die gesell-
schaftliche Ablehnung der Studiengebühren ist. Neben
der SPD, den Grünen, den Freien Wählern und der ÖDP
stehen Gewerkschaften, Studierendenbewegungen, Leh-
rer-, Eltern-, Schüler- und Jugendverbände, ja sogar das
Landeskomitee der Katholiken in Bayern als Mitglieder
des Bündnisses „Nein zu Studienbeiträgen“ dahinter.
Und siehe da: Sogar die CSU-Abgeordneten geben
jetzt, nachzulesen in den Regionalzeitungen, überall be-
kannt, dass auch sie Gegner der Studiengebühren seien.
26230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Marianne Schieder
(C)
(B)
Sogar der Herr Ministerpräsident outet sich als Kritiker.
Nur weiß man bei ihm nie, Herr Kollege Rossmann: Ist
es die Überzeugung oder der Populismus, was ihn treibt?
Noch viel weniger weiß man: Meint er das morgen auch
noch, oder sagt er dann schon wieder etwas völlig ande-
res?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer unbedarft die
Situation und die Diskussion in Bayern verfolgt, könnte
meinen, die Studiengebühren wären vom Himmel gefal-
len wie der Schnee im Winter, nur dass sie nicht von
selber wieder weggehen. Sie kleben jetzt an der CSU,
weil es die CSU war, die noch unter ihrer Alleinherr-
schaft die Studiengebühren eingeführt hat. Jetzt will sie
sie weghaben, aber sie bekommt sie nicht weg.
Denn stellen Sie sich vor, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Die sich sonst so bärenstark und wortgewaltig
gerierende CSU ist der schmächtigen kleinen FDP
hilflos ausgeliefert und darf die Studiengebühren nicht
abschaffen, ob sie will oder nicht.
Ich weiß nicht, was man dazu sagen soll. Mit der CSU
in Bayern ist es weit gekommen. Dazu kann man nur mit
Karl Valentin sagen: „Mögen hätt’ ich schon wollen,
aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, seien Sie
nicht unglücklich. Denn Sie werden es erleben: Wenn
am 30. Januar die Unterschriften beieinander sind und
der Volksentscheid kommt, dann traut sich der Herr
Ministerpräsident. Dann werden die Studiengebühren
sicherlich über Nacht abgeschafft.
Vielleicht braucht er nicht einmal den Landtag dafür.
Davon gehe ich aus.
Aber zurück zum Ernst der Lage. In einem Land, das
sich Bildungsrepublik nennen will, in dem man weiß,
wie wichtig gute Bildung für alle ist und in dem man al-
les daransetzen muss, dass auch möglichst viele junge
Menschen ein Studium ergreifen, sind Studiengebühren
das absolut falsche Signal an junge Menschen und ihre
Familien.
Sie wirken abschreckend und ausgrenzend. Das wissen
Sie auch, Herr Kollege Meinhardt. Sie kennen doch die
HIS-Studie und wissen genau, dass für drei Viertel der
jungen Menschen, die sich nach dem Erlangen der
Hochschulreife gegen ein Studium entscheiden, die un-
gesicherte Studien- und Lebensunterhaltsfinanzierung
der ausschlaggebende Grund ist, auf ein Studium zu ver-
zichten. Sie wissen auch, dass 20 Prozent der Studien-
abbrecher finanzielle Gründe für das Aus angeben. Ge-
rade junge Menschen aus einkommensschwächeren und
bildungsfernen Elternhäusern werden von Universitäten
und Hochschulen ferngehalten. Nahezu jede Bildungs-
studie, ob national oder international – das wissen Sie
genauso gut wie ich –, weist nach, dass in keinem ande-
ren vergleichbaren Land die Entscheidungen für die
Schullaufbahn und der Schulerfolg junger Menschen
mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen als hierzu-
lande. Das kann uns Bildungspolitiker doch nicht ruhen
lassen.
Selbstverständlich muss das Geld, das den Universitä-
ten und Hochschulen verloren geht, wenn die Studienge-
bühren abgeschafft werden, aus dem Staatshaushalt zu-
geführt werden. Die Hochschulen und Universitäten sind
chronisch unterfinanziert. Dieser Befund ist nicht neu.
Aber da helfen keine Studiengebühren. Da hilft nur ein
Kraftakt von Bund und Ländern. Dazu sind wir bereit.
Wir haben Ihnen einen Vorschlag zur Aufhebung des
Kooperationsverbots vorgelegt. Was Sie wollen, ist eine
minimale Öffnung für Eliteuniversitäten. Das hat mit
Studiengebühren überhaupt nichts zu tun.
Wenn Sie wirklich wollen, dass Bund und Länder zu-
sammen etwas tun, dann stimmen Sie unserem Entwurf
zu. Sorgen Sie dafür, dass der Bund hier wieder mit-
arbeiten kann!
Schauen wir uns doch die bayerische Realität an.
Wozu wurden denn die Studiengebühren verwendet? Zu-
nächst einmal wurden sie laut Süddeutscher Zeitung ge-
bunkert. Der bayerische Wissenschaftsminister musste
Sanktionen androhen, damit die Gelder endlich abflie-
ßen konnten. Dann wurden Studiengebühren laut Süd-
deutscher Zeitung zum Beispiel in Augsburg ausgege-
ben, um kleinere Baumaßnahmen zu finanzieren, die
dazu dienten, die drangvolle Enge in den Seminar-
räumen zu lindern. In München wurde die Studiengang-
koordination finanziert. In Nürnberg und Erlangen
wurde die Wartung von Multimediageräten mit Studien-
gebühren bezahlt.
Jeder vernünftige Bildungspolitiker muss doch sagen,
dass solche Maßnahmen eigentlich zur Grundausstattung
einer Universität gehören und aus dem Staatshaushalt fi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26231
Marianne Schieder
(C)
(B)
nanziert werden müssen. Dazu brauchen wir doch keine
Studiengebühren.
Auch um die von Ihnen, Herr Meinhardt, so geprie-
sene Mitentscheidung der Studierenden ist es schlecht
bestellt. Natürlich gibt es paritätisch besetzte Gremien.
Aber Sie wissen doch, dass sich die Hochschulleitung
über die Empfehlungen hinwegsetzen darf, so geschehen
an der Universität Regensburg. Dort ist eine halbe
Million Euro gegen die gemeinsame Empfehlung von
Studierenden und Professoren ausgegeben worden. Das
ist die Realität. Erzählen Sie doch nichts anderes!
Sie wissen auch, dass das Geld nicht ausreicht, um die
Lehre zu verbessern; denn damit lassen sich keine unbe-
fristeten Stellen finanzieren, sondern höchstens schlecht
bezahlte Lehraufträge, um die großen Lücken im Lehr-
angebot zu füllen. Wenn man genau hinschaut, wozu das
Geld verwendet wurde, stellt man fest, dass es große
Probleme gibt. Das zeigt, dass die Universitäten und
Hochschulen unterfinanziert sind und dass nicht die Stu-
dierenden gefragt sind, Geld einzubringen, sondern dass
der Staat – Bund und Länder – gefragt ist, sich hier zu
engagieren.
Unter dem Strich kann man also nach fünf Jahren
Studiengebühren in Bayern sagen: abschreckende und
ausgrenzende Wirkung, fragwürdige Investitionen, feh-
lende Mitsprache der Geldgeber, mangelnde langfristige
Planungssicherheit, unnötige Rücklagen und zusätz-
licher Verwaltungsaufwand. Ich bitte Sie herzlich, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CSU und der FDP:
Schaffen Sie die Studiengebühren in Bayern ab! Lassen
Sie uns in dieser Republik nicht zum Schlusslicht
werden!
Machen Sie sich mit uns auf den Weg hin zu kostenloser
Bildung von Anfang an, von der Krippe bis zur Univer-
sität! – Herr Rupprecht, Sie brauchen nicht den Kopf zu
schütteln. Sie werden erleben, dass Ihr Ministerpräsident
am 30. Januar der größte Gegner von Studiengebühren
sein wird, den es jemals in diesem Land gegeben hat.
Das alles können wir auch ohne Popanz haben. Schaffen
Sie die Studiengebühren heute ab,
und machen Sie sich mit uns auf den Weg hin zu kosten-
loser Bildung von der Kinderkrippe bis zur Universität!
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! „Karl Marx hatte recht“.
Mit dieser gewagten These überschrieb die taz am
24. Oktober einen Artikel zur Gerechtigkeit von Stu-
diengebühren. Ja, Sie hören richtig: zur Gerechtigkeit
von Studiengebühren; denn nicht nur nach der Überzeu-
gung des Autors verstärken Studiengebühren die demo-
kratische Beteiligung. Sie sind ein Moment des sozialen
Ausgleichs. Ich darf an dieser Stelle einmal unseren
PISA-Papst Andreas Schleicher zitieren. Er hat es in der
Anhörung zum Thema Studiengebühren treffend formu-
liert:
Die internationalen Erfahrungen lassen auch hier
darauf schließen, dass Studiengebühren in der
Regel durch den Ausbau des Bildungssystems mehr
dazu beigetragen haben, soziale Disparitäten ab-
zubauen, also mehr Menschen mit sozialer Benach-
teiligung den Hochschulzugang zu gewähren als
umgekehrt.
Dieses Zitat sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben.
Die OECD beziffert den Einkommensvorsprung von
deutschen Akademikern mit durchschnittlich
180 000 Euro gegenüber den Nichtakademikern. Die
Kernaussage einer Studie der Universität Bochum lautet,
dass der Verzicht auf Studiengebühren vornehmlich den
sozial Stärkeren zugutekommt. Die Gebührenfreiheit, so
die Bochumer Wissenschaftler, führt zu einer faktischen
Umverteilung von unten nach oben.
Die Mittel des Staates sind begrenzt. Deshalb müssen
wir sie so effektiv wie möglich einsetzen. Ich bin des-
halb der festen Überzeugung, dass wir mit den knappen
öffentlichen Mitteln vorrangig in ein umfassendes, allen
zugängliches Bildungsangebot investieren müssen.
26232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Martin Neumann
(C)
(B)
Als Hochschullehrer könnte ich mir einen schlanken Fuß
machen und Studierenden nach dem Mund reden. Ich
hätte mir viele zähe Gespräche erspart, hätte ich großzü-
gige Versprechungen gemacht. Wie einfach wäre doch
das gewesen!
Ich will an dieser Stelle aus der Vielzahl der Gründe
fünf wichtige Gründe nennen.
Erstens.
Studiengebühren tragen dazu bei, die Qualität der Hoch-
schullehre zu verbessern. Zweitens. Studienbeiträge
stärken die Mitwirkungsmöglichkeiten und das Interesse
der Studierenden – auch das ist ein wichtiges Argument –
an der Partizipation im Hochschulbereich. Drittens.
Studiengebühren führen dazu, dass Studierende die
öffentlich bereitgestellte Ressource Bildung effektiver
nutzen. Viertens. Studienbeiträge stärken den Wett-
bewerb zwischen den Hochschulen mit Blick auf die
Ausgestaltung eines attraktiven Lehrangebots.
Fünftens. Studienbeiträge tragen dazu bei, die bereit-
gestellten Mittel für den Wissenschaftsbereich deutlich
zu steigern. Auch die 19. Sozialerhebung des Deutschen
Studentenwerkes unterstreicht diese Thesen.
Gebührenflucht ist nicht feststellbar. Der Wegzug von
Studierenden aus Gebührenländern hält sich mit dem
Zuzug aus den Ländern, die keine Studiengebühren
erheben, nahezu die Waage. Gleichzeitig sind es über-
proportional viele Studierende aus sozial besseren
Schichten, die ein Studium in Ländern ohne Gebühren,
wie zum Beispiel Berlin, suchen. Doch auch das Berliner
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung hat jüngst
festgestellt – ich zitiere –: „Zusammengenommen wider-
legen die Ergebnisse einen negativen Effekt von
Studiengebühren auf die Studierabsicht der Studien-
berechtigten.“ Das ist eine Feststellung, die wir seit Jah-
ren geteilt haben. Der widersprechen Sie immer wieder
mit unsachlichen Argumenten.
Wie werden denn die Einnahmeausfälle aus den weg-
brechenden Studienbeiträgen kompensiert?
– Richtig, durch Steuergelder. – Das sind die Gelder von
der Krankenschwester, vom Automechaniker,
vom Tischler, und dieses Geld wird dann für das Stu-
dium des Arztsohnes, der Professorentochter und des
Sohnes eines Bundestagsabgeordneten ausgegeben.
Liebe Frau Schieder, jetzt will ich Ihnen einmal die
Zahlen aus Bayern nennen, die ich mir extra besorgt
habe. Seit Einführung der Studiengebühren sind
890 Millionen Euro an die Hochschulen geflossen. Was
hat man damit gemacht? Man hat fast 1 900 zusätzliche
Beschäftigte eingestellt, über 1 Million Tutorenstunden
geschaffen,
17 Millionen Euro für längere Öffnungszeiten und eine
bessere Ausgestaltung der Bibliotheken ausgegeben,
10 Millionen Euro – das könnte man ewig fortführen –
hat man für zusätzliche Exkursionen bereitgestellt usw.
usf.
Auch der Präsident des Wissenschaftsrats, Professor
Marquardt, erklärt ganz aktuell, dass angesichts der
überall angespannten Haushaltssituation und des Investi-
tionsbedarfs im Hochschulbereich eine Diskussion über
die Wiedereinführung unverzichtbar ist.
Aber Sie, SPD und Linke, kämpfen dagegen, dass das
unsinnige Kooperationsverbot im Hochschulbereich ab-
geschafft wird –
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
– im Moment nicht –, damit die Hochschulen künftig
mit Mitteln des Bundes unterstützt werden. Andererseits
schaffen Sie in Zeiten der Schuldenbremse die erfolg-
reich eingeführten Studiengebühren ab und entziehen
den Hochschulen auf lange Sicht dringend benötigte
Mittel, um die Hochschullehre deutlich zu verbessern.
Als wäre das noch nicht schlimm genug, fordern Sie
schließlich, die mühsam von FDP und Union gesetzten
zarten Pflänzchen zur Etablierung einer längst fälligen
Stipendienkultur in Deutschland achtlos herauszureißen
– Herr Rossmann, Sie haben es angesprochen –,
und Sie versagen somit vielen jungen Menschen in unse-
rem Land die finanzielle Unterstützung. Offensichtlich
haben Sie bereits auf einen Wahlkampfmodus geschaltet
und torpedieren vieles, was im Positiven von FDP und
Union erreicht wurde. Ich fordere Sie deshalb auf, die
bildungspolitischen Erfolge der christlich-liberalen Ko-
alition anzuerkennen und dort, wo Sie politische Verant-
wortung haben, für mehr Hochschulfreiheit, für sozial
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26233
Dr. Martin Neumann
(C)
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gerechte Studienbeitragsmodelle – von mir aus auch
nachgelagert – und eine Ausweitung des Stipendiensys-
tems, beispielsweise mit unserem neuesten Erfolgsschla-
ger Deutschlandstipendium, einzutreten. Ein bildungs-
politisches Profil täte Ihnen sicher gut und würde Ihre
miserablen bildungspolitischen Bilanzen erheblich opti-
mieren.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr
werden Tausende von jungen Menschen davon abgehal-
ten, zu studieren, und schuld daran sind vor allem zwei
Punkte. Erstens: die Zulassungs- und Zugangsbeschrän-
kungen, die nur existieren, weil es nicht genug Studien-
plätze gibt. Zweitens: Junge Menschen können sich ein
Studium nicht leisten, weil die Kosten, die damit verbun-
den sind, zu hoch sind. Sie haben Angst, sich zu ver-
schulden.
Das ist ein unhaltbarer Zustand. Dass diese Regie-
rung, die dafür mitverantwortlich ist, auch noch Worte
wie „Bildungsrepublik“ in den Mund nimmt, ist einfach
nur frech.
Die Linke will, dass dieser Zustand endlich überwun-
den wird. Die Regelung des Hochschulzugangs, also die
Frage „Wer kommt wie an eine Hochschule?“, und die
Studienfinanzierung, also die Frage „Wie finanziert man
sich ein Studium?“, sind die zentralen Stellschrauben,
über die die unsägliche Aussortiererei an der Hochschule
beendet werden kann. Deshalb fordern wir in diesem Be-
reich eine Regelung auf Bundesebene, die allen jungen
Menschen ein Studium ermöglicht und nicht, wie
Schwarz-Gelb das tut, den Zugang erschwert.
Wir wollen eine Ausbildungsförderung, die diesen
Namen verdient. Wir wollen ein BAföG ohne Darle-
hensanteil, bei dem sich junge Menschen nicht erst ein-
mal verschulden müssen, und eines, das die Lebenshal-
tungskosten auch tatsächlich deckt. Wir wollen ein
Bundeshochschulzulassungsgesetz aus der Perspektive
der Studierenden, das endlich einmal deren Interessen
vertritt. Sie müssen doch das Recht haben, sich beim Ba-
chelor und beim Master ihr Studienfach, ihre Hoch-
schule selbst auszusuchen und nicht länger von den
Hochschulen gnädig erwählt zu werden.
Die Linke fordert, dass die Einschränkung der Hoch-
schulzulassung durch die Erhebung von Studiengebüh-
ren endlich und ein für alle Mal ausgeschlossen wird.
In die Debatte um die Abschaffung der Studiengebüh-
ren ist in den letzten Wochen neuer Schwung gekom-
men, als überraschenderweise das Volksbegehren gegen
Studiengebühren in Bayern zugelassen wurde. Nun sind
es ausgerechnet die beiden Bundesländer, in denen als
Nächstes gewählt wird – Niedersachsen und Bayern –, in
denen noch Studiengebühren und Studienbeiträge exis-
tieren. Und: Dieses Thema könnte in beiden Bundeslän-
dern wahlentscheidend sein, so wahlentscheidend, dass
jetzt sogar die CSU, sogar der bayerische Ministerprä-
sident Horst Seehofer angesichts einer drohenden Nie-
derlage bei einem Volksbegehren auf einmal diese
Gebühren am liebsten selbst abschaffen will, so wahl-
entscheidend, dass jetzt sämtliche Oppositionsparteien
so tun, als hätten sie persönlich dieses Thema erfunden.
Aber ich möchte noch einmal daran erinnern: Es wa-
ren die Studierenden und die Schülerinnen und Schüler,
die in den letzten Jahren quer durch die Republik – in
Hessen, in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen, in Bayern,
in Niedersachsen – gestreikt und dieses Thema immer
wieder auf die politische Agenda gesetzt haben. Es ist
ihrem Druck zu verdanken, dass die Studiengebühren
nach und nach in vielen Bundesländern wieder abge-
schafft wurden.
In den Reihen der Koalition fällt es offenbar schwer,
sich in die Situation eines jungen Menschen oder Studie-
renden hineinzuversetzen, der durchschnittlich 800 Euro
monatlich zur Verfügung hat und der davon kaum Le-
benshaltungs- und Studienkosten und dazu noch Stu-
diengebühren bestreiten kann, wenn da nicht auch noch
Eltern sind, die finanziell zuschießen können.
Ich nenne für Sie noch einmal ein paar Gründe, wa-
rum Studiengebühren nicht erhoben gehören:
Erstens. Studiengebühren sind unsozial. Überwiegend
Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern werden
durch die Erhebung von Gebühren vom Studium abge-
schreckt.
Drei Viertel derjenigen, die auf ein Studium verzichten,
geben das Fehlen von finanziellen Voraussetzungen als
Grund dafür an. Stellen Sie sich doch nicht dumm! Es
liegt auf der Hand, dass Gebühren für einen Studienver-
zicht mitverantwortlich sind. Es macht für den Großteil
der jungen Menschen natürlich einen Unterschied, ob sie
im Semester zusätzlich 500 Euro bezahlen müssen oder
nicht.
Überall dort, wo Studiengebühren erhoben werden, neh-
men weniger Menschen ein Studium auf. Nachdem
Schwarz-Gelb in Hessen Studiengebühren eingeführt
hatte, sank die Zahl der Studienanfänger um 5,2 Prozent.
26234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Nicole Gohlke
(C)
(B)
In Nordrhein-Westfalen ging die Zahl um 6,5 Prozent
zurück.
Herr Neumann, da interessiert sich die FDP einmal
– vermeintlich! – für das Leben einer Krankenschwester
und behauptet, Studiengebühren seien sozial gerecht,
weil dann die Krankenschwester nicht dem Sohn eines
Arztes das Studium finanzieren müsse. Das ist lachhaft
und wirklich ein alter Hut; das ist längst widerlegt.
Dass die FDP in Fragen sozialer Gerechtigkeit nicht ge-
rade geübt ist, erkennt man daran, dass sie die Kranken-
schwester einfach nur instrumentalisiert, um Gebühren
in der Bildung zu rechtfertigen.
– So ist es doch!
Es ist doch Ihre Politik, die Eliten- und Gebührenpoli-
tik von Schwarz-Gelb, die den Kindern von Lehrern und
Lehrerinnen, von Erwerbslosen und von der Kranken-
schwester den Eintritt in die Hochschule erschwert.
Wenn jetzt ausgerechnet Sie, die Vertreter von Union
und FDP, die in den letzten Jahren durch ihre Steuerge-
setzgebung wirklich alles für eine Umverteilung von
unten nach oben getan haben, in der Debatte um die Stu-
diengebühren mit der sozialen Gerechtigkeit argumen-
tieren,
dann ist das lachhaft und Heuchelei.
Zweitens. Gebühren – das muss ich dann aber auch an
die Adresse von SPD und Grünen sagen – haben generell
nichts in der Hochschule oder in der Bildung verloren.
Sie feiern sich hier als Anti-Gebühren-Parteien, tun so,
als wären Sie das allein, und vergessen, zu erwähnen,
dass Sie in den letzten Jahren in entscheidenden Momen-
ten Studiengebühren nichts entgegengesetzt haben, son-
dern, im Gegenteil, auch noch daran mitgewirkt haben,
dass Dämme eingerissen wurden.
In Niedersachsen war es der damalige Ministerpräsi-
dent und heutige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der
Langzeitstudiengebühren eingeführt hat. In Nordrhein-
Westfalen waren es Wolfgang Clement und Ihr frisch-
gekürter Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, die die Studi-
enkonten, eine Sonderform der Gebühren, durchgesetzt
haben. In Hamburg waren die Grünen gemeinsam mit
der CDU für die Einführung nachgelagerter Studienge-
bühren verantwortlich.
Wenn Sie mit alldem jetzt nichts mehr zu tun haben wol-
len, dann sagen Sie doch wenigstens, dass Sie da poli-
tisch falsch gelegen haben, und distanzieren Sie sich von
solchen Positionen!
Drittes Argument: Bildung ist eine öffentliche Auf-
gabe. Einer Politik, die Bildung zur Ware machen will,
muss man sich im Ansatz widersetzen und darf ihr nicht
auch noch auf halbem Weg entgegenkommen, wie das
SPD und Grüne getan haben; denn genau das war es: ein
Entgegenkommen.
Die Dämme sind gebrochen. Der Weg hin zu allgemei-
nen Studiengebühren wurde geebnet. Nachdem in NRW
SPD und Grüne die Studienkonten eingeführt hatten,
legte Schwarz-Gelb nach und führte zwei Jahre später
allgemeine Studiengebühren in Höhe von 500 Euro ein.
Nach dieser Erfahrung ist mir unbegreiflich, wie SPD
und Grüne in Niedersachsen, wenn sie gewählt würden,
die Abschaffung der Studiengebühren aufschieben wol-
len.
Und dann verknüpfen Sie die Abschaffung auch noch
mit der Frage, ob der Landeshaushalt das zulässt!
Meine Damen und Herren, bei der Linken ist die Hal-
tung zu Studiengebühren und Gebühren in der Bildung
eine prinzipielle und nicht eine, die je nach Kassenlage
oder Wahltaktik neu entschieden wird.
In Niedersachsen und Bayern gibt es jetzt die Mög-
lichkeit, die traurige Stellung dieser beiden Länder als
unsoziale Hochburgen in der Hochschullandschaft end-
lich abzuschaffen. Deswegen rufe ich alle Gebührengeg-
nerinnen und Gebührengegner auf, sich am Volksbegeh-
ren in Bayern zu beteiligen, für die Abschaffung zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26235
Nicole Gohlke
(C)
(B)
stimmen und sich am 18. Januar in Hannover an der zen-
tralen Demo gegen Studiengebühren zu beteiligen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Ministerin Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bildungschancen sind Zu-
kunftschancen. Daran orientieren sich diese Bundesre-
gierung und die sie tragenden Fraktionen.
Deshalb investiert der Bund heute doppelt so viel in die
Hochschulen wie seit 2005 nach der Abwahl von Rot-
Grün.
Die Bildungsausgaben in Deutschland sind – der
Bundesfinanzbericht, der in den letzten Tagen veröffent-
licht worden ist, weist das aus – auf 110 Milliarden Euro
gestiegen. Das 10-Prozent-Ziel ist in Reichweite.
Wir liegen bei 9,5 Prozent. Deshalb gibt es in Deutsch-
land eine Stipendienkultur. Deshalb sind die Ausgaben
pro Kopf von 3 300 Euro im Jahr 2005 auf 4 500 Euro
im Jahr 2012 gestiegen.
Sie wissen dies alles. Ich muss es nur noch einmal sa-
gen, damit es im Protokoll steht:
Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für das BAföG
2,2 Milliarden Euro. Heute sind es 3,2 Milliarden Euro.
Die Zahl der geförderten Studierenden ist um 27 Prozent
gestiegen, weil viele junge Leute ein Studium aufneh-
men und Spaß an diesem Studium haben. Würden die
Studierenden diese Debatte hören, dann würden sie uns
auslachen
mit Blick auf das Bild, das von der Opposition gezeich-
net wird.
In den Ländern, die von der SPD und anderen Par-
teien regiert werden, wird mehr und mehr deutlich, dass
Bildung und Wissenschaft dort keine Priorität haben.
Die Sparorgien sind in vollem Gange. Jeder weiß: Priori-
tätensetzung ist vor allem dann notwendig, wenn es eng
wird, wenn Sparmaßnahmen notwendig sind. Das haben
wir alle erlebt. Die Kunst des Politischen ist, vor dem
Hintergrund des Leitgedankens „Bildungschancen sind
Zukunftschancen“ trotz niedrigeren Gesamtbudgets für
höhere Budgets in Bildung und Forschung zu sorgen. Sie
bringen es in nahezu keinem Land zuwege.
Das Traurige ist, dass die Senatorin Jürgens-Pieper in
Bremen, eine erfahrene Bildungspolitikerin, zurückge-
treten ist. Das ist ein Verlust. Ich habe sie geschätzt. Ihr
Rücktritt ist das beste Beispiel: Sie hat ihrer eigenen Phi-
losophie folgend viel erreicht. Sie trat nicht aus irgendei-
nem Grund zurück. Sie ist nicht zurückgetreten, weil sie
keine Lust mehr hatte. Sie ist zurückgetreten, weil sie
gesagt hat: Die Finanzbeschlüsse meines Senates in Be-
zug auf Bildung und Wissenschaft sind unverantwort-
lich. Die kann ich nicht mittragen. Einen besseren Be-
weis für die Situation innerhalb der SPD im Bereich
Bildung und Wissenschaft gibt es nicht.
Deshalb finde ich, dass vieles von dem, was Sie ge-
sagt haben, purer Populismus ist. Das Positive der De-
batte ist: Wir wissen, was Sie in den nächsten neun Mo-
naten sagen werden.
Der Refrain ist heute formuliert worden. Er kommt jetzt
unentwegt. Das Schlimmste daran ist: Wo Sie regieren,
machen Sie es nicht. Man muss nicht viele Zahlen ha-
ben, um das zu wissen.
Außerdem sind viele Inhalte, die damit verbunden sind,
rückwärtsgewandt und tragen der Internationalisierung
des Bildungs- und Wissenschaftssystems überhaupt
keine Rechnung.
26236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(C)
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Sie sind rückwärtsgewandt. Sie haben das 21. Jahrhun-
dert überhaupt nicht begriffen.
Deshalb zur Sache.
Sie, Herr Rossmann, haben gefragt, welche Position wir
in Sachen Studiengebühren haben.
– Die CSU hat mit den Studiengebühren in Bayern große
Erfolge erzielt. Denken Sie nur an den Zustrom der Stu-
dierenden.
Sie wissen doch genau: Ihre Regierungen hatten das
40-Prozent-Ziel. Wir übrigens auch. Wir haben gesagt:
Wir wollen erreichen, dass 40 Prozent eines Jahrganges
studieren. Als wir anfingen, zu regieren, waren wir bei
36 Prozent. Heute sind wir bei 50 Prozent.
Sie wissen, dass es vor allen Dingen in Bayern einen
Zustrom an Studierenden gibt wie nie zuvor. Deshalb – das
weiß Herr Seehofer auch –: Sollte diese Landesregierung
die Studiengebühren abschaffen – das sage ich, obwohl
meine Freunde in dieser Regierung sitzen –, bin ich in
diesem Punkt total anderer Meinung. Keine Studienge-
bühren zu erheben, ist ungerecht, weil die Situation im
Vergleich zur beruflichen Bildung in der Tat eine völlig
andere ist.
Deshalb ist meine Position – ich bin davon überzeugt,
dass diese Position international verantwortbar und not-
wendig ist –: Jede Landesregierung muss ihren Hoch-
schulen freistellen, ob sie die Studiengebühren erhöhen.
Die Hochschulen entscheiden, wie hoch die Studienge-
bühren sind. Die Landesregierung kann eine Höchst-
grenze festlegen, mehr aber nicht; denn das Ganze fällt
unter die Entscheidungsbefugnis der Hochschule, ein-
schließlich der Frage, ob die Gebühren aktuell zu zahlen
oder nachgelagert sind. Das sind keine Entscheidungen,
die die Politik zu treffen hat, sondern Entscheidungen,
die in den Bereich der Wissenschaft und zur Selbststän-
digkeit der Hochschulen gehören.
– Das ist doch wunderbar; jetzt haben wir zwei klare
Positionen, da lohnt es sich doch, zu streiten. Dann wol-
len wir doch einmal schauen, welche Position am Ende
überzeugt.
Die Bürger und Bürgerinnen dieses Landes wissen,
dass Bildung ein hohes Gut ist. Sie wissen darum, dass
diese Bundesregierung wie keine zuvor in Bildung und
Forschung investiert hat und wie keine zuvor die Leis-
tungsfähigkeit des Bildungssystems vorangebracht hat.
Deshalb wissen sie auch, dass es richtig ist, in Bildung
zu investieren.
Herr Gehring, Sie haben von der vollumfänglichen
Kompensation gesprochen.
Jetzt setzen Sie einmal einen wissenschaftlichen Mitar-
beiter an dieses Thema, der wird Ihnen anhand der Haus-
haltsentwicklungen der Länder beweisen, dass das, was
Sie gesagt haben, nicht stimmt.
Das sagt Ihnen jeder Rektor. Jeder Rektor sagt Ihnen,
dass es ein großes Problem ist, wenn die Zunahme der
Studierendenzahlen nicht berücksichtigt wird.
Im Hinblick auf Nordrhein-Westfalen gibt es heute ja
wunderbare Schlagzeilen; da geht es einmal nicht um
Bildung, sondern um Kultur. Auch in Nordrhein-West-
falen ist eine Haushaltsgesetzgebung in Arbeit, von der
ich nur sagen kann: Sie ist rückwärtsgewandt; sie hat
nichts zu tun mit dem Status international anerkannter
Hochschulen. Deshalb werden wir in den nächsten zehn
Monaten über das Bildungs- und Wissenschaftssystem
des 21. Jahrhunderts diskutieren.
Dieses System kann nicht beim derzeitigen Status quo
verharren, und schon gar nicht darf es zurückfallen in ir-
gendwelche Ideen der 70er-Jahre, die sich als völlig
falsch erwiesen haben und die uns nach hinten und nicht
nach vorne gebracht haben.
Nun zum BAföG: Sie wissen genau, wie die letzte
Runde verlaufen ist. Sie wissen genau, wie sich die Län-
der aufgeregt haben, wie unverschämt sie es fanden, dass
der Bund ein Angebot gemacht hat. Die Situation wird
im BAföG-Bericht sehr genau beschrieben. Die beiden
Kennziffern, die die Orientierung für die Weiterentwick-
lung des BAföG liefern, sind die Lebenshaltungskosten
und die Nettolöhne.
Die deutliche Erhöhung von Freibeträgen und Förder-
beträgen, die wir in zwei Schritten vorgenommen haben,
hat dazu geführt, dass wir genau diesen beiden Indikato-
ren Rechnung tragen. Die Entwicklung der Lebenshal-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26237
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(C)
(B)
tungskosten, die Entwicklung der Nettolöhne und die
Entwicklung von BAföG in der Zeit seit 2004/05 korres-
pondieren. Insofern gibt es überhaupt keine Notwendig-
keit, ein Angebot seitens des Bundes zu machen.
Ich habe den Ländern jedoch gesagt: Die Attraktivität
des BAföG hängt an der kontinuierlichen Weiterent-
wicklung.
Wir sollten sie vorbereiten.
Die letzte war 2010. Ich habe einen ganzen Abend lang
mit den Ländern darüber diskutiert.
Ich habe sie gefragt: Wie sieht es denn aus? Würde denn
ein Land die Erhöhung von Freibeträgen oder Förder-
beträgen mittragen? Es liegt bis heute nicht von einem
einzigen Land die Antwort vor, dass es bereit sei, die Er-
höhung von Frei- und Förderbeträgen mitzutragen.
So sieht die Lage aus. Deshalb kann ich Ihnen nur sa-
gen: Das Spiel wird doch nicht bei uns getrieben. Das
Spiel treibt eine Opposition, die beschlossen hat, nicht
mehr zu gestalten, die beschlossen hat, nichts mehr zu
bescheiden, sondern alles abzulehnen.
Damit kann ich nur sagen: Sie schaden den Studieren-
den, und Sie schaden den Hochschulen. Die liegen Ihnen
überhaupt nicht am Herzen.
Auf das ganze Gerede über das Thema Elite gehe ich
jetzt gar nicht mehr ein. Ein modernes Land des
21. Jahrhunderts, das Eliten nicht mehr fördern darf,
kann einpacken! Das wissen Sie auch; Sie wissen es ge-
nau!
Ganz besonders die SPD verweigert sich auf ganzer
Linie – einschließlich Art. 91 b des Grundgesetzes. Das
ist ein Trauerspiel.
Das werden wir bei jeder Gelegenheit sagen und ansons-
ten genau auf diesem Kurs bleiben. Bildungschancen
sind Zukunftschancen. Entsprechend müssen auch die
Budgets der Länder und des Bundes aussehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Lars Klingbeil für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Dr. Ministerin, ich bin schwer beein-
druckt.
Sie reden hier zehn Minuten eine katastrophale Bilanz
schön.
Sie reden hier zehn Minuten am Thema vorbei. Und Sie
tun das mit einer Überzeugung, dass man denken könnte,
Sie meinten das ernst.
Frau Ministerin, ich sagen Ihnen: Die Menschen sind
schlauer, als Schwarz-Gelb denkt.
Das haben wir bei allen vorherigen Landtagswahlen ge-
sehen,
und ich sage Ihnen, das werden wir auch in Bayern und
Niedersachsen sehen. Die Menschen durchschauen Ihre
Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Baden-Württem-
berg, in Hamburg, in Hessen, in Nordrhein-Westfalen
und im Saarland
hat man es eingesehen: Studiengebühren einzuführen,
war ein Fehler. Neue politische Mehrheiten haben für
Klarheit gesorgt.
In ganz Deutschland scheint man verstanden zu haben,
dass Studiengebühren bildungspolitisch, wirtschaftspoli-
tisch und gesellschaftspolitisch falsch waren. Selbst
Horst Seehofer kommt ins Lavieren, wenn es um dieses
Thema geht. Nur ein Bundesland leistet erbitterten Wi-
derstand. Die letzten Ideologen der Studiengebühren sit-
zen in meinem Heimatland, in Niedersachsen.
Ich sage Ihnen, das wird sich bald ändern.
Es gibt keinen Nachweis darüber, dass die Studienge-
bühren die Situation an den Hochschulen und den Uni-
versitäten verbessert haben – das Gegenteil ist der Fall.
Fünf von sieben Bundesländern haben das mittlerweile
verstanden. Das waren politische Erfolge. Aber das ha-
ben wir auch den Studierenden zu verdanken, die auf die
Straße gegangen sind. Das haben wir den Eltern und an-
26238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Lars Klingbeil
(C)
(B)
deren zu verdanken, die immer wieder gegen Studienge-
bühren protestiert haben und präsent waren. In Bayern
und in Niedersachsen erleben wir das aktuell.
Sie haben immer wieder gezeigt, wie sinnlos Studienge-
bühren sind. Ich sage Ihnen: Diese Menschen werden am
Ende auch in Niedersachsen und in Bayern Erfolg ha-
ben.
Schwarz-gelbe Studiengebühren halten junge Men-
schen vom Studium ab.
Schwarz-gelbe Studiengebühren bringen junge Men-
schen dazu, sich zu verschulden, ohne dass sie vorher
überhaupt einmal einen Gehaltsscheck in der Hand hat-
ten.
Schwarz-gelbe Studiengebühren treffen vor allem junge
Menschen aus sozial schwachen Familien. Dabei wissen
wir doch, dass wir mehr Absolventinnen und Absolven-
ten der Hochschulen brauchen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Wir leben in einer globalisierten Welt in einem Land,
das kaum über Rohstoffe verfügt. Wir wissen doch, wie
wichtig das Wissen ist, um unseren Wohlstand zu si-
chern.
Deswegen müssen wir massiv in die Bildung unserer
jungen Menschen investieren, statt ihnen den Zugang
dazu zu versperren.
Schauen Sie sich die Studien der OECD an! Wir lie-
gen bei den Bildungsausgaben hinter Mexiko, Brasilien
und Korea. Wir investieren zu wenig in die Bildung. Das
ist die Bilanz von Schwarz-Gelb, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Ich sage Ihnen: Die Welt schläft nicht.
Deswegen müssen wir die Grundlagen legen, damit es in
Deutschland auch zukünftig gut läuft. Unsere Stärken
waren und sind das Know-how, die Kreativität, die Ideen
und Innovationen. Wir müssen mehr in Bildung und
Ausbildung investieren. Junge Menschen müssen auf
diesem Weg unterstützt werden. Stattdessen werden ih-
nen von Schwarz-Gelb mit den Studiengebühren Steine
in den Weg gelegt und wird der Zugang zu Bildung ver-
hindert.
Studiengebühren behindern auch im ländlichen Raum
etwa den Zugang zu Fachhochschulen, der doch an vie-
len Stellen so wichtig ist.
Fachhochschulen sind Innovationsmotoren und der Ort,
an dem die Betriebe die Chance haben, Fachkräfte zu ge-
winnen und ausreichend geeignetes Personal zu finden.
Wenn ich mit jungen Menschen rede, die ein Prakti-
kum bei mir machen oder die ich in den Schulen besu-
che, dann bemerke ich eine große Verunsicherung. Viele
fragen sich: Kann ich es mir überhaupt leisten, in Nie-
dersachsen zu studieren?
Frau Dr. Schavan, Sie haben davon geredet, was Mo-
dernität ist. Ich sage Ihnen: Wenn im Jahr 2012 in Nie-
dersachsen immer noch geeignete, begabte junge Men-
schen mit ihren Eltern am Küchentisch sitzen und
darüber reden müssen, ob sie ein Studium beginnen kön-
nen, nicht weil vielleicht Fähigkeiten nicht vorhanden
sind, sondern weil Geld nicht vorhanden ist, dann offen-
bart dies eine unsoziale Politik, die Sie vertreten und die
schlecht für Deutschland ist.
Die Zeit, in der der Geldbeutel entscheidet, ob man stu-
dieren kann oder nicht, muss endlich vorbei sein. Wir se-
hen auch an anderen Stellen, wie hoch die Belastungen
für Studierende sind. Wir diskutieren gerade viel über
die Wohnsituation von Studierenden.
Ich bin damit aufgewachsen, dass mir meine Eltern
beigebracht haben: Wenn man sich im Leben anstrengt,
dann hat man die Chance, aufzusteigen, dann gibt es eine
Perspektive, die einen Aufstieg ermöglicht. – Genau da-
für stehen Sie mit Ihrer Politik nicht. Bei Ihnen entschei-
det immer noch der Geldbeutel, nicht die Begabung,
nicht die Leistungen und Anstrengungen, die man er-
bringt. Das ist das Ergebnis schwarz-gelber Politik.
Wenn wir nach Niedersachsen schauen und uns fra-
gen, was die Bilanz von sechs Jahren Studiengebühren
in Niedersachsen ist, dann sehen wir: Wir haben dort die
niedrigste Studienanfängerquote.
Arbeiterkinder haben keine Chance auf ein Studium, und
junge Menschen verlassen Niedersachsen. Bundesweit
nehmen mittlerweile mehr als 42 Prozent eines Jahr-
gangs ein Studium auf. In Niedersachsen sind es um die
30 Prozent; das sind 12 Prozentpunkte weniger als im
Durchschnitt. Niedersachsen ist damit Tabellenletzter
bei den Studienanfängerzahlen.
Ein Arbeiterkind nimmt nicht in der Regel, sondern
eher im Ausnahmefall ein Studium auf. Der nationale Bil-
dungsbericht hat das aufs Neue bestätigt: Von 100 Kin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26239
Lars Klingbeil
(C)
(B)
dern, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben, stu-
dieren 77. Von 100 Kindern, deren Eltern einen
Hauptschulabschluss haben, studieren gerade einmal 13.
Hier sieht man: Die finanzielle Machbarkeit ist ein ganz
entscheidender Faktor, wenn es darum geht, ob man stu-
dieren kann oder nicht.
In den letzten Jahren haben in der Bilanz jährlich
30 000 Studierende das Land Niedersachsen verlassen;
seit 2003 sind es 250 000 junge Menschen, die Nieder-
sachsen verlassen haben.
– Das ist keine Wahlkampfrhetorik, lieber Kollege. Aber
ich will Ihnen sagen: Es ist doch gut, wenn die Men-
schen wissen, was der Unterschied zwischen einer
schwarz-gelben Bildungspolitik und einer rot-grünen
Bildungspolitik ist.
Ich freue mich darauf, dass die Menschen in Niedersach-
sen am 20. Januar darüber abstimmen können. Ich sage
Ihnen: Wer nicht hören will, der muss fühlen.
Wir bieten eine deutliche Alternative an; die Menschen
sollen das wissen. Der Deutsche Bundestag ist der rich-
tige Ort, darüber zu diskutieren.
250 000 junge Menschen haben das Land Niedersach-
sen seit 2003 verlassen.
Das ist – ich sage das auch als Vertreter des ländlichen
Raums – ein großer Verlust für unser Land. Diese Men-
schen kommen in der Regel nicht zurück. Ich freue mich
darüber, dass es am 20. Januar eine klare Alternative
gibt.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat nun Tankred Schipanski für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schon überraschend, wer sich in der SPD vor diversen
Wahlkämpfen plötzlich mit Bildungspolitik beschäftigt.
Dementsprechend, lieber Herr Klingbeil, war aber auch
Ihr Beitrag gerade.
Ich möchte den Autor des Antrags, Herrn Rossmann,
direkt ansprechen. Ich bin enttäuscht; denn ich hätte von
der SPD nicht erwartet, dass man heute hier einen so
links-ideologischen Antrag einbringt.
Ihr Kanzlerkandidat hat ihn mit Sicherheit weder gele-
sen, noch weiß er davon.
Liebe Kollegin Schieder, Ihr Beitrag wäre im Bayeri-
schen Landtag besser aufgehoben gewesen.
Wir haben gar nicht die Kompetenz, hier über Studien-
gebühren zu entscheiden; das ist reine Ländersache. Sie
hätten den Antrag auch gleich zusammen mit der Links-
fraktion schreiben können; ideologische Unterschiede
waren heute nicht zu sehen, wenn man die Reden von
Frau Gohlke und dem guten Kollegen Dehm ausnimmt.
Diese Debatte ist reiner Wahlkampf. Das bedauere ich
sehr; Martin Neumann hat es angesprochen. Sie haben
sich von der Sacharbeit in diesem Hohen Hause verab-
schiedet und in den Wahlkampfmodus umgeschaltet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag fügt
sich in ein Bild von der SPD, das Forschungspolitiker
und Wissenschaftler in ganz Deutschland zunehmend
bekommen: das Bild von einer Partei, die gegen Koope-
rationen im Wissenschaftsbereich kämpft,
sich mit ihren Forderungen immer mehr isoliert und an
den Wirklichkeiten der Bildungsrepublik Deutschland
vorbeiträumt.
Seit der Anhörung zur Grundgesetzänderung mit
Blick auf Art. 91 b wissen wir: Die Vertreter der SPD
kennen keinen föderalen Bundesstaat, und sie wissen
auch gar nicht, dass Bundesländer eigene Aufgaben
wahrzunehmen haben.
– Doch, so ist es. Wir wissen auch, wie die SPD argu-
mentiert. Sie nimmt sich einen Satz aus der Gesetzesbe-
gründung heraus und legt ihn dann aus, wie sie gerne
möchte. Das hat uns Ihre Sachverständige Ahnen am
28. November eindrucksvoll gezeigt.
26240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Tankred Schipanski
(C)
(B)
Der vorliegende Antrag macht genau das Gleiche. Da
wird eine Studie herangezogen, aus der Sätze aus dem
Zusammenhang zitiert werden, und daraus werden Un-
terstellungen gebastelt. Liebe Genossen, das ist eine Art
von Arbeiten, die wir in diesem Hohen Hause nicht
schätzen können.
Im Medienrecht würde man nach dem Lesen eines
solchen Antrags eine Eindrucksrichtigstellung verlan-
gen. Sie können in Ihrem Antrag gerne die einzelnen
Punkte mitlesen. Der Bundestag kann feststellen, dass
wir erstens Chancengerechtigkeit in Deutschland haben,
dass zweitens der Hochschulzugang sozial gerecht ist,
dass drittens die akademische Bildung für alle offen ist,
dass viertens BAföG und Stipendien für Chancengerech-
tigkeit in der Hochschulbildung stehen und dass fünftens
Studiengebühren keinen Studenten von einem Studium
abhalten. Das sind die Tatsachenbehauptungen, um die
sich diese Debatte heute hier dreht.
Was macht die SPD? Sie unterstellt, sie redet schlecht,
und primär führt sie als Beweismittel die 19. Sozialerhe-
bung des Deutschen Studentenwerkes an. Leider setzen
Sie sich mit dem Zahlenmaterial, das die Studie enthält,
nur unzureichend auseinander. In der von Ihnen zitierten
Studie wird der Zusammenhang zwischen der sozialen
Herkunft und der Wahrscheinlichkeit, ein Studium auf-
zunehmen, erörtert. Auf Seite 125 wird ausdrücklich
festgestellt, dass der unterstellte Trend schon seit Jahren
gestoppt ist. Immerhin erwähnen Sie das in einem Neben-
satz. Bereits auf Seite 11 der Studie finden Sie den Hin-
weis, dass die Bildungsbeteiligung von Akademikerkin-
dern an Hochschulen nachgelassen hat, eine Tendenz,
über die Sie sich freuen, wir jedoch nicht, weil wir der
Meinung sind, dass wir jeden für unsere Bildungsrepu-
blik Deutschland brauchen.
Ferner beziehen sich sämtliche Zahlen und die damit
verbundenen Behauptungen in Ihrem Antrag nur auf
Universitäten, die Fachhochschulen werden völlig aus-
geblendet. Wir wissen alle, dass gerade bei der anwen-
dungsorientierten Ausbildung viele Nichtakademiker-
kinder beschult werden.
Wissen Sie, liebe Genossen der SPD, wir stehen für
Vielfalt und für Differenzierung. Die Koalition steht für
ein christliches Menschenbild, das heißt, dass wir die
Unterschiede von Menschen bewusst als Chance begrei-
fen.
Neigungen, Talente, individuelle Bedürfnisse sind bei je-
dem Menschen unterschiedlich. Daher stehen wir für
Vielfalt und für Durchlässigkeit statt für Einheitsbrei.
Wir stehen für individuelle Förderung statt kollektiver
Gleichmacherei.
Die OECD lobt Deutschland in ihrer Anfang Dezem-
ber veröffentlichten Integrationsstudie ausdrücklich. Der
nationale Bildungsbericht in diesem Jahr stellte fest,
dass Kinder von Einwanderern gute Bildungschancen
und gute Jobgarantien haben. Ich zitiere:
Die Bildungsbeteiligung der Jugendlichen und jun-
gen Erwachsenen im Alter von 16 bis unter 29 Jah-
ren mit Migrationshintergrund hat sich seit 2005 er-
höht und entspricht etwa der Bildungsbeteiligung
der Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie müssen lernen, Erfolge anzuerkennen. Einen Antrag
primär lediglich auf eine einzige Studie zu stützen und
unserem deutschen Bildungssystem zu unterstellen, wir
hätten keine Bildungs- und Chancengerechtigkeit in un-
serem Land, das ist einfach unredlich.
Die bildungspolitische Debatte ist immer weniger
orientiert an den Kriterien Rationalität und Ehrlich-
keit, sondern immer mehr geprägt von Schreckens-
szenarien.
So der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef
Kraus, am 6. Dezember im Tagesspiegel. Und weiter:
Damit solche Szenarien ihre Wirkung entfalten
können, werden sie als „Studien“ und damit als
„Wissenschaft“ verkauft.
Dieser Art von Handwerk hat sich die 19. Sozialerhe-
bung des Deutschen Studentenwerkes bedient. Die SPD
ist hier aufgesprungen und hat die falschen Schlüsse da-
raus gezogen. Wir bestreiten diese Debatte mit Rationa-
lität und mit Ehrlichkeit und lehnen den vorliegenden
Antrag daher ab.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Relevanz, die diese Debatte hat, zeigt sich
auch daran, wie viele Menschen auf der Pressetribüne
sitzen, wie viele Ihre Interpretation des Themas teilen
und diese Debatte ernst nehmen. Es sind ganz wenige,
fast niemand.
Über die Frage, die Sie aufwerfen, wurde 20, 30 Jahre
lang diskutiert. Sie ist schon längst kein Thema mehr.
55 Prozent eines Altersjahrgangs nehmen ein Studium
auf. Die Hälfte davon sind junge Mädchen. Ein großer
Anteil der Studierenden hat einen Migrationshintergrund.
Das ist die Realität in Deutschland. Es ist gesellschaftli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26241
Michael Kretschmer
(C)
(B)
cher und politischer Konsens, dass Bildung in unserem
Land nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf. Das
ist, Gott sei Dank, auch Realität in Deutschland.
Dass das so ist, hat viel damit zu tun, dass wir in den
vergangenen Jahren die Weichen richtig gestellt haben.
Die Zahlen wurden mehr als einmal genannt. Der Auf-
wuchs beim BAföG – absolut –, die Anzahl junger Leute,
die BAföG beziehen, und der Anteil der jungen Leute,
die ein Stipendium bekommen, sind schon angesprochen
worden. Das sind wichtige Ergebnisse. Das alles war nur
möglich, weil wir Prioritäten gesetzt haben: für Wissen-
schaft, für Bildung. Es war nicht einfach, umso mehr
freuen wir uns über dieses Ergebnis.
In dieser Debatte alles klein- und mieszureden, wird
Ihnen nichts nutzen. Mit mehr Aggressivität gewinnt
man kein Vertrauen. Ich glaube, Sie verspielen immer
mehr Vertrauen bei den Leuten, die früher geglaubt ha-
ben, dass SPD und Grüne etwas von Bildung und Wis-
senschaft verstehen.
Die Realität in den Bundesländern ist ebenfalls be-
reits angesprochen worden: Im Bereich der Bildung, im
Bereich der Wissenschaft und im Bereich der Kultur
wird gekürzt und gestrichen. Das ist sozialdemokrati-
sche Bildungspolitik. Das ist die Realität, und das ist bit-
ter.
Im Freistaat Sachsen wird
im Bereich der Kultur, im Bereich der Wissenschaft und
im Bereich der Bildung zusätzliches Geld akquiriert. Ich
kenne kein anderes deutsches Bundesland, das bis zum
Jahr 2015 über eine halbe Milliarde Euro zusätzlich für
Bildung, für Schule ausgibt. Ich finde, das ist eine ganz
großartige Leistung des Freistaats Sachsen.
Die Frage der Studiengebühren ist in den vergangenen
Jahren ausreichend diskutiert und beantwortet worden.
Das Wissenschaftszentrum Berlin hat erst in den letzten
Tagen wieder deutlich gesagt – das war auch Thema im
Ausschuss –: Es gibt keinen Hinweis, es gibt keinen wis-
senschaftlichen Beleg dafür, dass Studiengebühren in ei-
ner Größenordnung von 500 Euro pro Semester, über die
wir in Deutschland reden, tatsächlich von der Aufnahme
eines Studiums abhalten. Das Gegenteil ist mit Sicherheit
der Fall. Diese Realität, diese wissenschaftlichen Ergeb-
nisse sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen
und uns nicht immer mit Ideologie kommen. Nein, ein
bisschen mehr Praxis und Realitätsbezug können auch
der Sozialdemokratie nicht schaden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röspel?
Nein.
Unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag ist weder,
Studiengebühren vorzugeben, noch, sie unmöglich zu
machen. Unsere Aufgabe ist, gemeinsam mit den Bun-
desländern für eine auskömmliche Studienfinanzierung
zu sorgen. In diesem Zusammenhang kann man Folgen-
des sagen: Der Freistaat Bayern ist mit Sicherheit das
Land, das am ehesten in der Lage ist, die Hochschulfi-
nanzierung auch ohne Studiengebühren zu garantieren.
Deswegen liegt es allein in der Verantwortung der Bay-
ern, zu entscheiden, ob sie Studiengebühren wollen oder
nicht.
Es zeugt von einer völlig fehlgeleiteten Diskussion,
wenn wir hier anlässlich 500 Euro Studiengebühren ei-
nen Glaubenskrieg anfangen.
Es war von vornherein klar, dass diese Studiengebühren
nachgelagert sein müssen und die Refinanzierung so or-
ganisiert sein muss, dass die Studiengebühren auch von
denjenigen, die geringe Einkommen haben, bezahlt und
refinanziert werden können.
Das ist in jedem Bundesland, in dem Studiengebühren
eingeführt worden sind, am Ende auch so realisiert wor-
den.
Die SPD drückt uns mit dieser Debatte eine Diskus-
sion auf, die in der Praxis niemanden interessiert. Sie
lenkt aber gleichzeitig von den wirklich großen Themen,
die wir zu bearbeiten haben, ab. Die Kooperation von
außeruniversitärer und universitärer Forschung ist eines
dieser Themen. Ich sage noch einmal: Wir werden uns
nicht von einer Blockade aus parteitaktischen und wahl-
kampftaktischen Gründen der Opposition behindern las-
sen. Wir werden gemeinsam mit der Wissenschaft den
eingeschlagenen Weg weitergehen. Diese Koalition ist
Partner und Anwalt der Wissenschaft. Wir werden wei-
tere Projekte realisieren.
26242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Michael Kretschmer
(C)
(B)
Mit jedem Projekt, das wir kreieren – MDC und Cha-
rité ist das neueste –, wird der Druck auf die Sozialde-
mokraten größer, einer Grundgesetzänderung zuzustim-
men. Mit jedem dieser Beispiele verspielen Sie Ihren
Kredit, den Sie im Bereich Wissenschaftspolitik gehabt
haben.
Ich wünsche der Opposition mehr bürgerlichen Prag-
matismus
bei der Gestaltung der Politik für unser Land gerade im
Wissenschaftsbereich. Dieses Land braucht keine Ideo-
logen, sondern Pragmatiker, die vorangehen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11823, 17/11824 und 17/8498 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion Die
Linke hat gebeten, jetzt die Sitzung für etwa 30 Minuten
zu unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird
rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 46 a und 46 c
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g:
46 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Lebens-
mittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie an-
derer Vorschriften
– Drucksache 17/11818 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Unseriöses Inkasso eindämmen
– Drucksache 17/11837 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 2 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Energiewirtschaftsgesetzes
– Drucksache 17/11369 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Dr. Heinz Riesenhuber, Nadine Schön
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Innovation stärken und Lust auf Technik wecken
– Drucksache 17/11859 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Dietrich Monstadt, Michael Grosse-Brömer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Jens Ackermann, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Revision der europäischen Medizinprodukte-
Richtlinien: Vertrauen wieder herstellen – Pa-
tientensicherheit bei Medizinprodukten muss
erste Priorität sein
– Drucksache 17/11830 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf , Christel
Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Diskriminierung abbauen – In jedem Alter
– Drucksache 17/11831 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26243
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner,
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Die soziale und wirtschaftliche Lage der Kul-
tur- und Kreativschaffenden verbessern
– Drucksache 17/11832 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Friedensdialog in Kolumbien aktiv unterstüt-
zen
– Drucksache 17/11839 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
EU – Lateinamerika: Partnerschaft für eine
sozial-ökologische Transformation
– Drucksache 17/11838 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint
der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 47 a bis
47 j sowie den Zusatzpunkten 3 a bis 3 i. Es handelt sich
um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkte 47 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Auswanderer-
schutzgesetzes
– Drucksache 17/11047 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/11772 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Aydan Özoğuz
Jörg von Polheim
Jörn Wunderlich
Katja Dörner
Der Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Ju-
gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11772, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/11047 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppo-
sitionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Vorschlägen für einen
Beschluss des Rates über die Unterzeichnung
und für einen Beschluss des Rates über den
Abschluss des Abkommens zwischen der Eu-
ropäischen Union und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft über die Zusammenarbeit
bei der Anwendung ihres Wettbewerbsrechts
– Drucksache 17/11050 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11888 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11888, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/11050 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in der zweiten Beratung bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
26244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Depo-
nieverordnung
– Drucksachen 17/11475, 17/11614 Nr. 2.1,
17/11732 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11732, der Verordnung der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/11475 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen worden mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
men der Linken und der Grünen.
Tagesordnungspunkt 47 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses
zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfas-
sungsgericht 2 BvR 1561/12, 2 BvR 1562/12,
2 BvR 1563/12 und 2 BvR 1564/12
– Drucksache 17/11799 –
Berichterstattung:
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, in den vier Streitverfahren vor dem Bun-
desverfassungsgericht Stellung zu nehmen und den Prä-
sidenten zu bitten, Professor Dr. Christian von Coelln als
Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt da-
für? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist ein-
stimmig so beschlossen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 47 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 499 zu Petitionen
– Drucksache 17/11679 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 499 ist einstimmig angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 47 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 500 zu Petitionen
– Drucksache 17/11680 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 500 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 501 zu Petitionen
– Drucksache 17/11681 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 501 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grü-
nen.
Tagesordnungspunkt 47 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 502 zu Petitionen
– Drucksache 17/11682 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 502 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.
Tagesordnungspunkt 47 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 503 zu Petitionen
– Drucksache 17/11683 –
Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 503 ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Gegenstim-
men von SPD und Linken.
Tagesordnungspunkt 47 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 504 zu Petitionen
– Drucksache 17/11684 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 504 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen.
Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26245
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Nouripour, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den am 12. September und am 4. Oktober
2001 ausgerufenen NATO-Bündnisfall been-
den
– Drucksachen 17/11555, 17/11739 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11739, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11555 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 505 zu Petitionen
– Drucksache 17/11862 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 505 ist einstimmig angenom-
men.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 506 zu Petitionen
– Drucksache 17/11863 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 506 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 507 zu Petitionen
– Drucksache 17/11864 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 507 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grü-
nen.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 508 zu Petitionen
– Drucksache 17/11865 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 508 ist einstimmig angenom-
men.
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 509 zu Petitionen
– Drucksache 17/11866 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 509 ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 510 zu Petitionen
– Drucksache 17/11867 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 510 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 511 zu Petitionen
– Drucksache 17/11868 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 511 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Grünen bei
Gegenstimmen von SPD und Linken.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 512 zu Petitionen
– Drucksache 17/11869 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 512 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen.
26246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Geplante Schließung bei Opel Bochum verhin-
dern
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! General Motors hat faktisch die Schlie-
ßung des Opel-Werks in Bochum, in meinem Wahlkreis,
zu 2016 bekannt gegeben. Die Marke Opel selbst ist in
Gefahr. Die Menschen in Bochum und im ganzen Ruhr-
gebiet fragen sich zu Recht besorgt: Was wird aus Opel
Bochum? Was wird aus dem Ruhrgebiet? Es steht ja viel
mehr auf dem Spiel als die 3 000 Arbeitsplätze in Bo-
chum selbst. Es geht um 10 000 Arbeitsplätze bei den
Zulieferern. Es geht um 45 000 Arbeitsplätze in der Re-
gion. Ja, 45 000 Beschäftigte werden voraussichtlich ih-
ren Arbeitsplatz im Ruhrgebiet verlieren, sollte Opel Bo-
chum tatsächlich geschlossen werden.
Und was macht die Bundesregierung? Sie zeigt allein
auf General Motors, glänzt hier mit Abwesenheit und
legt die Hände in den Schoß. Das Schicksal der Men-
schen im Ruhrgebiet ist ihr völlig gleichgültig.
Herr Rösler, auch wenn Sie hier wieder einmal durch
Abwesenheit glänzen: Sie erwecken den Anschein, dass
Sie nicht einmal wissen, wo das Ruhrgebiet überhaupt
liegt.
Wer nicht Mövenpick heißt und vorher kräftig an die
FDP gespendet hat, hat von Ihnen nichts zu erwarten.
Das ist die Botschaft, die Sie hier aussenden. Das ist ein-
fach unerträglich.
Die Opelaner werden schlicht von zwei Seiten in die
Zange genommen: einmal von der Europapolitik der
Bundesregierung, die grundfalsch ist, zum anderen von
der üblen Politik des GM-Managements. Opel ist das
erste Opfer der europäischen Kürzungsdiktate von
Angela Merkel. Deshalb ist der Absatzmarkt weggebro-
chen, den GM Opel in Europa übriggelassen hat, gerade
im Süden Europas. Vor diesem Hintergrund klingt Ihr
Jammern, lieber Herr Rösler, über die GM-Führung, die
Opel den Weg auf die Märkte in Asien versperrt, nach
der Haltet-den-Dieb-Methode. Ich sage Ihnen: Gerade
weil die Bundesregierung Mitschuld an dem Desaster
bei Opel trägt, darf sich die Hilfe des Bundes für die Be-
schäftigten nicht auf warme Worte beschränken.
Wie anders würden Sie handeln, wenn Opel eine
Bank wäre! Während Sie hier mit der SPD und den Grü-
nen für die Bankenrettung jedes Mal Milliarden Euro
ohne jede Gegenleistung zulasten der öffentlichen Hand
ausgereicht haben, weil diese Banken für Sie systemrele-
vant sind, sind die 45 000 Beschäftigten und ihre Fami-
lien im Ruhrgebiet für Sie offensichtlich ohne jede Rele-
vanz. Die lassen Sie einfach im Stich. Das Problem soll
jetzt allein der Markt regeln. „Kapitalismus statt Solida-
rität“ ist das Motto der Regierung Merkel und Rösler.
Aber ich kann Ihnen eines versprechen: Die Menschen
in meiner Heimat, im Ruhrgebiet, werden es nicht zulas-
sen, dass man so mit ihnen umgeht. Solidarität ist für uns
im Gegensatz zu Ihnen kein Fremdwort.
Das zeigte sich auch, als wir vorletzte Woche gemein-
sam mit Gregor Gysi an einer Betriebsratssitzung im
Opel-Werk in Bochum teilgenommen haben.
Die Bundesregierung muss gemeinsam mit den Be-
schäftigten und dem Management nach Alternativen zur
Schließung suchen. Deshalb fordere ich die Bundesre-
gierung und speziell Frau Bundeskanzlerin Merkel von
hier auf: Frau Bundeskanzlerin, machen Sie Opel zur
Chefsache!
Das Ruhrgebiet darf nicht sehenden Auges in eine regel-
rechte Elendszone verwandelt werden.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit die
Verhandlungen mit General Motors an die Wand gefah-
ren. Wir erinnern uns an die Bilder von Ihrem Großpla-
giator von und zu Guttenberg in den USA. GM aber lässt
Opel langsam sterben. Das sollte nunmehr auch dem
Letzten klar geworden sein. 2011 hat General Motors
den größten Gewinn in über 100 Jahren Unternehmens-
geschichte erzielt. Die schwarzen Zahlen von General
Motors sind die roten Zahlen von Opel. Wenn die
Schließung dieses Werks in Bochum hingenommen
wird, kommt die gesamte Marke Opel in schweres Fahr-
wasser. Die Linke fordert von der Bundesregierung,
nicht weiter der Öffentlichkeit ein unwürdiges Schwar-
zer-Peter-Spiel vorzuführen, indem sie auf General Mo-
tors zeigt.
Was ist jetzt zu tun? Es muss eine Beschäftigungsga-
rantie für die Opel-Mitarbeiter her, auch über 2016 hi-
naus.
Ich verweise hier auf die zahlreichen Initiativen der Lin-
ken, zum Beispiel auf die Initiative für ein Verbot von
Massenentlassungen. Es wäre schön, wenn sich die an-
deren Fraktionen endlich auch für ein solches Verbot
aussprechen würden. Es ist doch nicht hinzunehmen und
einzusehen, dass Unternehmen für eine reine Profitstei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26247
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
gerung die sozialen Kosten von Massenentlassungen der
öffentlichen Hand aufbürden.
Deshalb sind Sie aufgefordert, endlich Gespräche zu
führen. Die Bundesregierung darf nicht weiter die Hände
in den Schoß legen. Es muss jetzt Druck auf das GM-
Management gemacht werden. Die Absage des Tages
der offenen Tür bei Opel Bochum an diesem Samstag,
der ein Tag der Solidarität werden sollte, ist ein Armuts-
zeugnis ohnegleichen. So darf man mit den Menschen
weder in Bochum noch im Ruhrgebiet umgehen. Die
Demokratie muss endlich auch in die Betriebe Einzug
halten, damit die Profitinteressen von Konzernen nicht
ganze Regionen zerstören können.
Die Linke jedenfalls steht an der Seite der Menschen
in Bochum und im Ruhrgebiet.
Lassen wir die Menschen nicht im Stich, meine Da-
men und Herren! Opel Bochum muss bleiben. Das sind
wir den Menschen im Ruhrgebiet, in der ganzen Region,
schuldig.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Heider
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Titel dieser Aktuellen
Stunde auf Wunsch der Linken lautet: „Geplante Schlie-
ßung bei Opel Bochum verhindern“. Wir haben hier ge-
rade nichts, wirklich überhaupt nichts gehört, womit
man politisch oder betriebswirtschaftlich in der Lage
wäre, eine Werksschließung zu verhindern, wenn man
marktwirtschaftliche Maßstäbe anlegt.
Der Montag war für die Opel-Beschäftigten in Bo-
chum ein schwarzer Tag. Die Entscheidung zur Schlie-
ßung, die nach vielen Jahren des Bangens zur Gewiss-
heit wurde, ist nicht leicht zu verdauen, und sie ist ein
schwerer Schlag für die Arbeitnehmer, für ihre Familien
und auch für die Stadt Bochum.
Zwei Punkte erscheinen mir wesentlich – dazu haben
Sie überhaupt nichts gesagt, Frau Kollegin –:
Erstens. Die Managementfehler in den vergangenen
Jahren, die betriebswirtschaftlichen Probleme sind Le-
gion, nicht erst seit 2009. Ob Markenpflege oder Mo-
dellpolitik, an die einst klangvollen Namen – Opel Kapi-
tän, Opel Admiral, Opel Diplomat, Opel Senator
und auch an die Kassenschlager Opel Kadett und Opel
Manta – reichen die heutigen Produkte nicht mehr heran.
Der Marktanteil von Opel auf dem europäischen Pkw-
Markt lag mit sinkender Tendenz im Oktober nur noch
bei 6 Prozent. Zum Vergleich: Der Branchenführer VW
brachte es auf über 25 Prozent. Opel als Produkt nur für
den westeuropäischen Markt, das funktionierte nach
1945 nur mit interessanten, marktgängigen Modellen,
und das war auch das Problem des Standortes Bochum.
Man muss deshalb leider sagen: Für die Unternehmens-
entwicklung von Opel war GM in der vergangenen De-
kade eher eine Handbremse als ein Gaspedal.
Zweitens: die Standortpolitik. Das Bochumer Opel-
Werk war lange Zeit das Symbol für den Strukturwandel
im Ruhrgebiet. Doch Strukturwandel ist kein abschlie-
ßender Prozess, sondern eine stetige Veränderung.
Nokia, ThyssenKrupp, Opel – nicht globalisierte Groß-
konzerne sind die Triebfeder des deutschen Jobwunders
der letzten Jahre; es sind die Mittelständler,
regional verwurzelt, inhabergeführt, sozial verantwort-
lich und hochinnovativ. Sie sind das Rückgrat der deut-
schen Wirtschaft. Da muss man schon die Frage stellen,
welche Standortpolitik betrieben worden ist.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat die
Lohnnebenkosten gesenkt und damit internationalen
Wettbewerb – denken Sie zum Beispiel an die EEG-No-
velle – ermöglicht. Wir haben die ZIM-Mittel in den ver-
gangenen Jahren auf einem guten Niveau gehalten und
damit Forschung und Entwicklung befeuert. Das sind
präventive Maßnahmen, um Werkschließungen zu ver-
hindern. Das ist eine gute Standortpolitik.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen: In der Rei-
henfolge der Gewerbesteuer-Hebesätze für die Opel-
Standorte in Deutschland liegt Bochum mit Abstand
vorne.
Das ist wahrscheinlich nicht der ausschlaggebende
Grund für die Werksschließung, aber es ist dennoch ein
Hinweis auf die tiefer liegenden Probleme am Standort
Ruhrgebiet.
Ich will Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen nen-
nen: Rüsselsheim 390 Prozentpunkte, Eisenach 400 Pro-
26248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Matthias Heider
(C)
(B)
zentpunkte, Kaiserslautern 410 Prozentpunkte, Bochum
480 Prozentpunkte, und dabei haben Sie, SPD, Grüne
und Linke, im Stadtrat von Bochum noch 2010 für die
Erhöhung der Gewerbesteuer gestritten.
– Herr Kollege Heil, Sie sind zwar als Lautsprecher Ihrer
Fraktion bekannt. Aber wenn wir ins Gespräch kommen
wollen, dann müssen Sie als Lautfrager auftreten.
Auch die Steuerpolitik ist eine Standortfrage. Denken
Sie einmal darüber nach, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Opposition, bevor Sie mit der Forderung
nach der Wiedererhebung der Vermögensteuer und der
Erhöhung der Kapitalertragsteuer, der Einkommensteuer
und der Erbschaftsteuer in das Wahlkampfjahr 2013 zie-
hen und den Mittelstand noch weiter belasten.
Die Liste der Grausamkeiten, die Sie für den Indus-
triestandort Deutschland vorhaben, insbesondere in
Nordrhein-Westfalen, ließe sich fortsetzen. Nehmen Sie
einmal die Infrastruktur. Ich sage Ihnen: Sie vernachläs-
sigen es, Infrastruktur zu ermöglichen, indem Sie kein
Baurecht in Nordrhein-Westfalen schaffen. Im Vergleich
zu Bayern mit 1 918 Planfeststellungsbeschlüssen gibt
es im Land Nordrhein-Westfalen lediglich 241 Planfest-
stellungsbeschlüsse, und von denen wird gegen 97 noch
geklagt. Das ist keine gute Infrastrukturpolitik, von der
auch der Standort Bochum profitieren könnte, meine Da-
men und Herren.
Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist robust,
und die Aussichten auch für die 3 000 bei Opel direkt
Beschäftigten sind nicht schlecht.
Es ist Verantwortung gefordert. Die Zusagen, die Opel
für das Logistikzentrum und eine Komponentenferti-
gung macht, müssen eingehalten werden. Blicken wir
also etwas optimistisch in die Zukunft! Ein Werkstor
schließt sich; aber viele andere Türen werden sich öff-
nen.
Ich sage es Ihnen an dieser Stelle noch einmal: Was
wir brauchen, ist ein innovationsfreundliches und ein in-
vestitionsfreundliches Umfeld für den Industriestandort
Deutschland. Damit werden Probleme gelöst.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Am 10. Dezember hat der Interimsvorstandsvorsit-
zende der Adam Opel AG, Herr Dr. Sedran, bekannt ge-
geben, den Standort Bochum der Adam Opel AG zum
Jahr 2016 zu schließen, die Produktion zu beenden. Das
war ein bitterer Tag für die Beschäftigten von Opel, für
die 3 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für
3 000 Familien in Bochum kurz vor Weihnachten und
für 100 Zulieferunternehmen mit anhängiger Beschäfti-
gung. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, der Sie vor mir ge-
sprochen haben: Ihre Rede spricht nicht so sehr dafür,
dass Sie ein Herz für die Interessen der arbeitenden
Menschen in diesen Unternehmen und eine Beziehung
zur industriellen Basis dieses Landes haben.
Was sind die tatsächlichen Ursachen dieser Entwick-
lung? Ich sage Ihnen, dass das, was die Opel AG zur Be-
gründung vorschiebt und was die Linkspartei offensicht-
lich nachspricht, nicht ganz die Wahrheit ist.
Es ist gar keine Frage, dass die schwierige Situation auf
den südeuropäischen Absatzmärkten insgesamt für den
Standort Deutschland mittlerweile zu einem Klotz am
Bein wird, zu etwas, das uns herunterzieht; das hat uns
in der Debatte heute Morgen schon beschäftigt. Aber die
Begründung von Opel für diese Entscheidung – die Pro-
bleme in Südeuropa sind verantwortlich für die Schlie-
ßung von Opel in Bochum –
ist fadenscheinig; denn Tatsache ist, dass gerade der
Standort Bochum eine sehr hohe Auslastungsquote hat,
dass es übrigens im Gegensatz zu dem, was Sie eben ge-
quatscht haben von Manta und Kadett und Admiral, mit
dem Zafira am Opel-Standort Bochum ein Produkt gibt,
das gerade das Goldene Lenkrad bekommen hat. Das ist
ein hocherfolgreiches Automobilprodukt.
Die Ursachen liegen woanders. Sie liegen erstens im
Missmanagement von GM in den Vereinigten Staaten
von Amerika. GM hat Opel insgesamt die Möglichkeit
genommen, neue Absatzmärkte zu erschließen, hat Opel
regelrecht verboten, zum Beispiel auf den mittel- und
osteuropäischen Markt zu gehen, nach Russland und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26249
Hubertus Heil
(C)
(B)
nach China. Das ist die verfehlte Konzernpolitik dieses
Unternehmens. Der zweite Grund ist – das kann ich Ih-
nen nicht ersparen –, dass Sie damals, als wir 2009
versucht haben, die Adam Opel AG aus dem Konzern
herauszuführen und einen strategischen Investor zu fin-
den, der es ermöglicht hätte, solche Absatzmärkte zu er-
schließen, diese Bemühungen diffamiert haben. Diese
Politik – „Das Erbe der Guldenburgs“ will ich nicht sa-
gen –, dieses Erbe des Guttenberg und auch des Herrn
Brüderle, die Diffamierung der Bemühungen, die wir da-
mals an den Tag gelegt haben, ist eine Ursache für das,
was wir heute erleben. – Konzernfehlentscheidungen
und Politikversagen in dem, was Sie gemacht haben,
sind die Gründe.
Sie haben sich damals als Hüter der freien Marktwirt-
schaft aufgespielt. Es ging überhaupt nicht um Steuer-
geld im Sinne von Verstaatlichung oder Ähnliches. Es
ging darum, einen Investor zu finden und den Weg abzu-
stützen, um Standorte wie Bochum, aber auch Rüssels-
heim und Eisenach in Deutschland dauerhaft zu erhalten.
Eines wissen wir – da haben Sie vollkommen recht –:
Das eigentliche Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist
der Mittelstand, auch der industrielle Mittelstand. Aber
ohne grundlegende Produktion, auch von großen Unter-
nehmen, haben wir nicht die ganze Wertschöpfungs-
kette, die wir brauchen. Diesen Zusammenhang haben
Sie nicht begriffen. Sie haben in Ihrer Rede die kleinen
gegen die großen Unternehmen ausgespielt. Das macht
überhaupt keinen Sinn. Am Beispiel Bochum sehen Sie
doch: Da ist nicht nur Bochum als Opel-Standort betrof-
fen, sondern da sind auch 100 Zulieferunternehmen
– das sind kleine und mittlere Unternehmen –, die unter
Ihrer falschen Politik leiden.
Was ist jetzt notwendig? Jetzt geht es nicht um
Steuergeld, das wir einsetzen können und wollen; darum
kann es nicht gehen. Jetzt geht es, im Gegenteil, darum,
General Motors – übrigens in Amerika mit viel Steuer-
geld gerettet –
in die Pflicht zu nehmen, seiner Verantwortung gegen-
über den Beschäftigten in Bochum und auch gegenüber
der Region gerecht zu werden. Dazu sind drei Dinge not-
wendig:
Erstens. Es ist notwendig, von diesem Unternehmen
zu verlangen, dass es über das Jahr 2016 hinaus keine
betriebsbedingten Kündigungen der Beschäftigten von
Opel gibt. Das ist eine klare Forderung der nordrhein-
westfälischen Landesregierung. Ich hätte mich gefreut,
wenn die CDU, die CSU und die FDP sich dieser Forde-
rung gegenüber General Motors heute angeschlossen
hätten, anstatt sich über das EEG oder ähnliche sach-
fremde Zusammenhänge auszulassen.
Zweitens. Die Arbeitsgruppe „Perspektive für Bo-
chum“ darf kein Sozialplanprogramm im Interesse die-
ses Unternehmens werden, sondern es muss eine Beteili-
gung, auch eine finanzielle Beteiligung von General
Motors, an der Umstrukturierung des Standortes geben,
um für die Region eine Perspektive zu entwickeln.
Drittens. Wir müssen mit dem Unternehmen alle
Möglichkeiten besprechen, damit Bochum ein Produk-
tionsstandort bleiben kann. Es wird vermutlich nicht so
bleiben, wie es ist. Es müssen aber Entscheidungen ge-
troffen werden, zum Beispiel ob Bochum als Kompo-
nentenwerk erhalten werden kann. Das wäre eine ganz
konkrete Zusage.
Meine Aufforderung an die Bundesregierung ist, sich
für diese drei sehr konkreten Ziele einzusetzen. Es geht
nicht um Planwirtschaft, um Verstaatlichung, sondern es
geht darum, das herauszuholen, was im Interesse der Be-
schäftigten, der Region, der industriellen Basis unseres
Landes notwendig ist. Was passiert in diesem Zusam-
menhang? Wir haben einen Bundeswirtschaftsminister,
der es nicht einmal für nötig hält, in dieser Debatte an-
wesend zu sein, geschweige denn zu reden. Ein Blick auf
die Rednerliste zeigt: Es soll nicht einmal ein Staats-
sekretär aus dem Wirtschaftsministerium reden, sondern
ein Staatssekretär aus dem Arbeitsministerium. Wie war
die Reaktion von Philipp Rösler auf diese Entscheidung?
Er hat wie ein kleiner Junge mit dem Fuß aufgetreten
und gesagt, er sei sauer, und im Übrigen die Beschäftig-
ten an die Bundesagentur für Arbeit verwiesen. Das,
meine Damen und Herren, hat mit industriepolitischer
Verantwortung eines Bundeswirtschaftsministers über-
haupt nichts zu tun. Das zeigt, welch Geistes Kind Sie an
dieser Stelle sind.
Meine Forderung an Sie ist: Unterstützen Sie den
Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Garrelt
Duin, und die nordrhein-westfälische Landesregierung!
Die kämpfen für Beschäftigung, die kämpfen für die in-
dustrielle Basis. Wir wissen, was das industrielle Rück-
grat dieser Gesellschaft bedeutet. Was an Wertschöpfung
verschwindet, kommt nicht wieder. Deshalb erwarte ich
von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition
und der Bundesregierung: Werden Sie Ihrer Verantwor-
tung gegenüber den Menschen in Bochum, gegenüber
dem Industrieland Deutschland gerecht! Wir können
nicht alles konservieren; das ist keine Frage.
Herr Kollege Heil, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir können betriebswirtschaftliche Fehler nicht poli-
tisch korrigieren. Aber wir haben eine Verantwortung,
der Sie gerecht werden können.
Herzlichen Dank.
26250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin
Lindner das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Un-
sere Gedanken sind heute als Erstes – Kollege Heil, das
sollten wir uns nicht wechselseitig absprechen – bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Opel. Ich glaube,
jeder Mensch, der ein bisschen Herz hat, kann nachemp-
finden, was es für die Menschen und deren Familien ge-
rade in dieser Jahreszeit, kurz vor Weihnachten, bedeu-
tet, eine solche Nachricht zu bekommen.
Jeder, der mitfühlend ist, weiß, was gerade in den Köp-
fen dieser Menschen vorgeht. Umso lausiger und billiger
ist es, dass die Opposition wieder, wie bei Schlecker und
Quelle, das Schicksal dieser Menschen ausbeutet für bil-
lige Polemik und billigen Populismus, wie wir es gerade
von Ihren Rednern gehört haben.
Zumindest Teilen der Opposition – Sie nicht; in Ihren
Köpfen ruht das ewig staatlich organisierte Bitterfeld –
müsste bekannt sein, dass der Staat in einer sozialen
marktwirtschaftlichen Ordnung für die Volkswirtschaft,
für die Makroökonomie, zuständig ist und das Manage-
ment für die Betriebswirtschaft; dazu gehören auch das
Schließen und das Eröffnen von Standorten. Das ist eine
Aufgabenteilung, die sich in der sozialen Marktwirt-
schaft bewährt hat.
Bedeutet das, dass der Staat in einer sozialen Markt-
wirtschaft keine Aufgabe hat, dass ihn das nichts an-
geht? Natürlich haben wir Aufgaben. Wir setzen die
Rahmenbedingungen dafür, dass gut gewirtschaftet wer-
den kann. Dies geschieht beispielsweise durch Investi-
tionen in Forschung und Bildung
– Schwarz-Gelb hat 12 Milliarden Euro mehr für For-
schung und Bildung in dieser Legislaturperiode ausgege-
ben –, beispielsweise durch die Verbesserung von
Exportchancen – der Export ist auf über 1 Billion Euro,
1 000 Milliarden Euro, in dieser Legislaturperiode ge-
stiegen –, beispielsweise durch die Verbesserung bei den
Energiepreisen – dazu zählen auch Ausnahmen, die wir
geschaffen haben, zum Beispiel für den Mittelstand
durch die Befreiung von der EEG-Umlage –, beispiels-
weise durch eine maßvolle Steuer- und Abgabenpolitik,
durch steuerliche Entlastungen und natürlich durch die
zweimalige Absenkung des Rentenbeitrags auf 18,9 Pro-
zentpunkte. – Diese Maßnahmen dieser Regierung, die-
ser Koalition haben Früchte getragen. Die Arbeitslosen-
quote ist in dieser Legislaturperiode auf 6,5 Prozent
gesunken. Wir haben insgesamt 1,5 Millionen mehr so-
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland
geschaffen. Gerade in der Automobilbranche ist seit
2009 ein Zuwachs von ursprünglich 700 000 Arbeits-
plätzen auf 750 000 Arbeitsplätze zu verzeichnen; in den
letzten zwei Jahren konnten wir in der Automobilbran-
che jedes Jahr einen Zuwachs von 20 000 Arbeitsplätzen
vermerken.
Was macht die Opposition, außer scheinheilige und
populistische Aktuelle Stunden zu beantragen?
Sie setzen sich gegen Exporte ein, wie wir gestern wie-
der bei der Debatte um die wehrtechnischen Exporte er-
lebt haben.
Sie setzen sich gegen die Energiepreisabsenkungen ein.
Sie sorgen dafür, dass alles, was an steuerlichen Entlas-
tungen möglich ist, im Bundesrat blockiert wird.
Sie sorgen für hohe Gewerbesteuersätze, wie der Kol-
lege Heider gerade gesagt hat. Und dann wundern Sie
sich wie kleine Kinder, dass Ihr Verhalten eine Reaktion
von Unternehmerinnen und Unternehmern auf dem
Markt nach sich zieht.
Sie können gar nichts, egal wo Sie regieren, egal wo Sie
die Verantwortung haben.
Sie schaffen gar nichts. Sie können hier allenfalls Sprü-
che klopfen. Sie können hier allenfalls populistisch das
Schicksal und die Misere der Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter von Opel für Ihre billige Parteipolitik ausnutzen.
Sie nutzen – das ist der einzige Vorteil dieser Aktuel-
len Stunde – Aktuelle Stunden, um deutlich zu machen,
wo die Unterschiede liegen. Unsere beiden Fraktionen
und diese Regierung stehen für soziale Marktwirtschaft.
Die anderen Fraktionen stehen für sozialdemokratische
oder sozialistische Misswirtschaft.
Das ist der Unterschied. Genau an diesem Gang zwi-
schen den Fraktionen verläuft die Grenze.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26251
Dr. Martin Lindner
(C)
(B)
Deswegen werden wir uns nächstes Jahr dafür einsetzen,
dass die soziale Marktwirtschaft wieder die Mehrheit be-
kommt und nicht das, was Sie hier vertreten, was die
Leute in die Arbeitslosigkeit führt, was kleine und mitt-
lere Unternehmen belastet, was zu nichts anderem führt,
als dass Deutschland herunterkommt, so wie unsere
Nachbarstaaten, wo die Sozialisten regieren. Das werden
wir bekämpfen. Wir werden dafür sorgen, dass die klei-
nen und mittleren Betriebe in Deutschland wieder die
Chance haben, in diesem Land zu wirtschaften, und dass
die Menschen hier Arbeitsplätze haben.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Tobias Lindner
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Diese Aktuelle Stunde ist zuallererst eine Stunde
zum Ausdruck des Bedauerns und des Mitgefühls gegen-
über den betroffenen Beschäftigten in Bochum, gegen-
über dem betroffenen Standort und gegenüber den be-
troffenen Beschäftigten bei den Zulieferbetrieben.
Ich habe mich eben gefragt, was Betroffene gedacht
haben mögen, die diese Debatte am Fernsehen verfol-
gen. Sie, Herr Kollege Lindner, haben der Opposition in
diesem Hause Polemik
und Populismus vorgeworfen. Ich komme aus einer
Kommune, die selbst Automobilindustrie hat. Ich frage
mich, was Gewerbesteuer-Hebesätze in Kommunen,
wo vielfach, wenn es den Unternehmen schlechtgeht,
keine Gewerbesteuer gezahlt wird, mit dem Problem in
Bochum zu tun haben.
Ich frage mich, was Befreiungen von der EEG-Umlage
für Schlachthöfe und Pommesfabriken mit dem Problem
in Bochum zu tun haben. Wenn das einzige Argument
der Koalition in diesem Hause lautet, dass wir in der Op-
position angeblich gar nichts können,
dann habe ich Angst im Hinblick auf die Art und Weise,
wie man dem Standort Bochum helfen kann.
Ja, es ist richtig: Die Entscheidung, ein Werk zu
schließen oder nicht zu schließen, ist eine unternehmeri-
sche und keine politische Entscheidung. Ja, meine Da-
men und Herren, es ist richtig, dass die Verantwortung
zuallererst bei General Motors liegt, dass Fehler ge-
macht wurden, und zwar nicht erst vorgestern, dass Opel
– das wurde gesagt – von Absatzmärkten abgehängt
wurde, dass es Unsicherheiten über das Fortbestehen der
Marke gab, dass das Management im Konzern nahezu
im Dreijahresrhythmus gewechselt hat. Das ist alles an-
dere als eine Voraussetzung dafür, Vertrauen von Konsu-
mentinnen und Konsumenten in eine Automobilmarke
zu schaffen. An dieser Stelle muss sich auch General
Motors zu seiner Verantwortung bekennen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen: Auch ein
Qualitätsmerkmal der deutschen Automobilindustrie ist
– das wird gerade auf dem deutschen Absatzmarkt ge-
schätzt – das gute und oftmals faire Miteinander von Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern. Ich kann in Richtung
General Motors nur sagen: Besinnen Sie sich auch auf
dieses Qualitätsmerkmal, wenn Produkte der Marke
Opel in Deutschland eine Zukunft haben sollen!
Wenn wir über die Verantwortung von Politik reden,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dann
gehört zu dieser Verantwortung auch, den Menschen
nichts vorzumachen und keine falschen Versprechungen
zu geben.
Wenn man sich hier hinstellt und die Idee formuliert,
man könnte staatlich Massenentlassungen verbieten,
dann streut man Sand in die Augen der Betroffenen. Da-
mit werden Sie Ihrer Verantwortung genauso wenig ge-
recht, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Linkspartei.
Kommen wir zur Verantwortung der Bundesregie-
rung: Nachdem vor wenigen Tagen diese bittere Nach-
richt für die Betroffenen bekannt wurde, genügt es eben
auch nicht, einzig und allein zu sagen, General Motors
hätte Opel vom Wachstumsmarkt China abgehängt.
Wenn wir ehrlich sind und uns klarmachen, dass die Pro-
bleme nicht erst seit vorgestern bestehen, dass die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie
nicht davon abhängen wird, ob die Löhne irgendwo hö-
her oder niedriger sind, sondern davon, ob man die Tech-
nologieführerschaft hat, ob man für neue Ideen offen ist,
ob der Blaumann in der deutschen Automobilindustrie
endlich grün wird, dann muss man sagen: Da hat diese
Bundesregierung kläglich versagt.
26252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Tobias Lindner
(C)
(B)
Bei Opel geht es ja gerade um Autos im Kleinwagen-
und Mittelklassebereich. Gerade in diesem Bereich geht
es um die Technologieführerschaft, darum, auch in der
Wirtschaftspolitik die richtigen Rahmenbedingungen zu
schaffen, neue Antriebskonzepte zu fördern, Ressour-
ceneffizienz und Ressourcensparsamkeit bei der Herstel-
lung zu einem Qualitätsmerkmal zu machen und in der
Politik dafür die richtigen Leitplanken zu setzen. Nein,
da haben Sie vonseiten dieser Bundesregierung nichts
getan. Auch das ist ein Problem.
Ich komme zum Schluss: Dass man mit grünen Ideen
schwarze Zahlen schreiben kann, ist inzwischen wohl
auch bei Ihnen angekommen. Wenn das nicht bei Ihnen
angekommen ist, verwundert mich das auch wenig. Aber
ich sage Ihnen eines ganz klar, wenn wir über Technolo-
gieführerschaft, über Fortschritt und Vorsprung, über
Konkurrenzfähigkeit auf Weltmärkten reden: In grünen
Ideen liegt die Zukunft, auch im Automobilbereich und
gerade für die deutsche Automobilindustrie.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
am 20. Mai 1960, also vor über 52 Jahren, die Stadt Bo-
chum die Ansiedlung eines Opel-Werkes auf dem Ge-
lände der ehemaligen Zeche Dannenbaum bekannt gab,
begann für Opel in Bochum und im Ruhrgebiet eine bei-
spiellose Erfolgsgeschichte, die ein halbes Jahrhundert
lang anhielt. Ganze Generationen in Bochum und im
Ruhrgebiet sind mit Opel aufgewachsen. Als jemand,
der aus der schönen Nachbarstadt Hattingen kommt,
kann ich sagen: Diese Entscheidung von General Motors
trifft viele Menschen, aber auch mich persönlich zutiefst.
Lieber Kollege Heil, wenn ich Sie ansprechen darf:
Ich fand es ein bisschen kleinkariert, dass Sie ausgerech-
net den Umstand skandalisieren wollten, dass ich hier als
jemand aus der Region für die Bundesregierung rede.
Der Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hat das
Richtige und Notwendige zu diesem Thema gesagt; er
muss es nicht täglich wiederholen. Wenn jemand anderes
hier gesprochen hätte, dann hätten Sie kritisiert: Aus
dem Ruhrgebiet ist keiner da, der für die Regierung re-
den kann. – Wie man es macht, macht man es verkehrt.
Das ist eigentlich nicht Ihr Niveau, Herr Kollege Heil.
Lassen Sie mich klar feststellen: Diese Entscheidung
von General Motors kann nicht im Sinne der Menschen
in Bochum und im Ruhrgebiet sein. Die Ankündigung,
die Autoproduktion am Standort Bochum zu beenden, ist
eine schlimme Nachricht für Bochum und das Ruhrge-
biet; sie ist ein dramatischer Rückschlag für den Indus-
triestandort Nordrhein-Westfalen. Es ist daher die be-
rechtigte Erwartung aller politisch Verantwortlichen,
dass mit den betroffenen Menschen, die hochqualifiziert
und hochmotiviert ihre Arbeit tun, die jahrzehntelang
auch unter schwierigen Umständen hervorragende Ar-
beit geleistet haben, anständig umgegangen wird. Das
sollte unsere allgemeine und berechtigte Erwartung sein,
meine Damen und Herren.
Den Menschen in der Region, den vielen Tausend Opel-
Beschäftigten und ihren Familien gilt unsere Solidarität,
die Solidarität der Bundesregierung und der sie tragen-
den Fraktionen.
Was die Menschen bei Opel nicht verdient haben, ist
zum einen die Entscheidung, die am Montag gefallen ist.
Zum anderen haben sie es nicht verdient, dass Illusionen
geschürt werden, dass eine Fraktion versucht, auf ihre
Kosten ein politisches Süppchen zu kochen,
beginnend mit dem Titel dieser Aktuellen Stunde, der ir-
reführend ist und den Eindruck erweckt, als würde die
Entscheidung über die Schließung bei Opel Bochum hier
im Deutschen Bundestag oder in der Politik fallen. Das
ist irreführend; diese Irreführung haben die Menschen
bei Opel nicht verdient.
Die Wahrheit ist doch eine andere: Der Strukturwan-
del im Ruhrgebiet, gerade auch die Entwicklung des
Opel-Standortes Bochum, ist über Jahrzehnte hinweg
von der öffentlichen Hand begleitet und unterstützt wor-
den: von der Bundesregierung, von der Landesregierung,
von den Verantwortlichen in der Region, von den Vertre-
terinnen und Vertretern der Stadt Bochum. Es gehört zu
den Wahrheiten, die man nicht ignorieren darf: Die öf-
fentliche Hand kann einen Unternehmensstandort auf
Dauer nicht gegen den Willen des Unternehmens si-
chern. Darum geht es hier. Wenn der Staat anfängt, selbst
Autos zu produzieren, dann kommen eben Trabis dabei
heraus; diese Erfahrung haben wir gerade Ihnen von der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26253
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
Linken zu verdanken. Das kann nicht der Weg in die Zu-
kunft sein.
Der Kern des Problems liegt in der Entscheidung, die
General Motors getroffen hat. Es hat hier – darauf hat
der Bundeswirtschaftsminister zu Recht hingewiesen –
jahrzehntelang schwere Managementfehler gegeben, die
immer wieder auf dem Rücken der Beschäftigten ausge-
tragen worden sind. Die Beschäftigten sind hochqualifi-
ziert. Das Werk verfügt beispielsweise über eine absolut
moderne Karosserielackiererei. Bei einer guten Auslas-
tung des Werkes konnten pro Tag rund 1 200 Fahrzeuge
der Modelle Zafira und Astra im Dreischichtbetrieb ge-
baut werden. Aber es gehört eben auch zur Wahrheit,
dass Opel insgesamt – Opel in Europa, Opel in Bo-
chum – immer wieder auch eine Teststation, ein Ver-
suchsballon für amerikanisches Führungspersonal war.
Seit dem Jahr 1970 sind die Opel-Manager im Schnitt
alle drei Jahre ausgetauscht worden. Kontinuität und
Nachhaltigkeit in der Politik, auch in einer Unterneh-
menspolitik, sehen anders aus.
Das hat etwas mit der Entwicklung zu tun, die dann
eingesetzt hat: In Deutschland hat Opel allein in den
letzten anderthalb Jahrzehnten die Hälfte seines Markt-
anteils verloren, und zwar – ich sage es noch einmal –
nicht aufgrund schlechter Qualität oder der Arbeit der
Beschäftigten, sondern aufgrund von Managementfeh-
lern, die gemacht worden sind. Es lag jedoch nicht nur
an der Entwicklung am Standort Bochum und am Ma-
nagement. Es hat auch damit zu tun, dass man es in
Detroit nicht zugelassen hat, dass Opel die in Europa
entstandenen Verluste auf den aufstrebenden Märkten
außerhalb Europas, in Asien, in Lateinamerika und in
Afrika, ausgleicht. Auch dies hat zu diesem Ergebnis ge-
führt. Deswegen sage ich: Opel muss endlich die Mög-
lichkeit haben, weltweit zu produzieren und weltweit zu
verkaufen; denn das stärkt auch den Heimatmarkt in
Deutschland.
Jeder, der sich ernsthaft mit den Herausforderungen
befasst, vor denen wir jetzt stehen, weiß: Schon aus bei-
hilferechtlichen Gründen kann die Bundesregierung
nicht einfach mit Krediten und Bürgschaften intervenie-
ren.
Wer der Bundesregierung ernsthaft Versäumnisse vor-
wirft, der muss sagen, was an dieser Stelle konkret über
das hinaus, was wir bereits machen, passieren sollte. Es
ist aus beihilferechtlichen Gründen nicht möglich, mit
Krediten und Bürgschaften in den Wettbewerb einzu-
greifen. Wer das suggeriert, der streut den Menschen
Sand in die Augen.
Das kann nicht die Lösung sein.
Es wird in der Tat darum gehen, das Opel-Manage-
ment beim Wort zu nehmen und gemeinsam die Chancen
zu ergreifen, die sich in dieser Situation noch bieten. Wir
erwarten, dass alles getan wird, um betriebsbedingte
Kündigungen zu vermeiden. Wir wollen keine betriebs-
bedingten Kündigungen bei Opel in Bochum – um das
deutlich zu sagen.
Opel selbst – auch da muss man das Management
beim Wort nehmen – hat angekündigt, in Bochum prä-
sent zu bleiben, in Bochum weiter aktiv zu sein, auch
über 2016 hinaus. Es geht insbesondere um das Thema
Ausbau der Komponentenfertigung. Über diese Fragen
wird zu reden sein, und über diese Fragen wird geredet
werden.
Es wird umso erfolgreicher sein, etwas im Interesse der
Beschäftigten zu erreichen, wenn, wie in der Vergangen-
heit und auch in der Zukunft, alle politisch Verantwortli-
chen nicht nur an einem Strang ziehen, sondern auch in
die gleiche Richtung.
Die Bundesregierung, die Landesregierung und die
vor Ort Verantwortlichen tun alles, damit betriebs-
bedingte Kündigungen vermieden werden können, damit
die sich bietenden Chancen genutzt werden, um einen
Ausbau der Komponentenfertigung hinzubekommen
und die Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neu anzusiedeln.
Das ist die Aufgabe, vor der wir jetzt gemeinsam stehen.
Nicht wohlfeiles Reden, sondern konkretes Handeln an
der Stelle, wo Politik durch entsprechende Rahmen-
bedingungen handeln kann – das ist das Gebot der
Stunde. Das haben die Menschen in der Tat auch ver-
dient.
Die Menschen im Ruhrgebiet, in Bochum und in der
Nachbarstadt, sind es gewohnt, jedes Mal aufzustehen,
wenn sie hinfallen. Sie haben durch den Strukturwandel
Schwieriges durchstanden, und zwar mit der Solidarität
des ganzen Landes. Um diese Solidarität geht es jetzt
wieder. Die Bundesregierung steht solidarisch an der
Seite der Beschäftigten von Opel und ihren Familien.
Das wird unser Handeln auch in der Zukunft bestimmen.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
26254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Tiefensee
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich be-
grüße es ausdrücklich, dass wir heute über dieses Thema
reden. Es muss den Bund, es muss den Bundestag
interessieren, wenn in Nordrhein-Westfalen, wenn in
Bochum 3 000 Arbeitsplätze direkt und Hunderte indi-
rekt betroffen sind. Das gehört hierher, das gehört in die
Diskussion, und ich bin froh, dass wir darüber sprechen.
Was erwarten die Menschen von dieser Diskussion?
Sie erwarten, dass sie die Standpunkte der unterschiedli-
chen Fraktionen und auch der Regierung erkennen
können. Sie erwarten nicht, lieber Kollege Lindner, dass
Sie in einer Denunziation einen Teil des Hohen Hauses
bezichtigen, er würde billige Polemik verbreiten und
hätte keinerlei Lösungsvorschläge.
Das ist nicht das, was die Opelaner und die Zulieferer zu
erwarten haben. Wir wollen klare Botschaften senden
und keine billige Polemik auf dem Rücken der anderen
verbreiten.
Worum geht es im Kern? Es geht darum, dass
Tausende von Arbeitsplätzen bedroht sind. Aus dem
Bundestag muss die klare Botschaft kommen: Wir kön-
nen uns in die Situation der direkt Betroffenen und ihrer
Familien hineindenken, aber auch in die Situation derer,
die indirekt von der Schließung betroffen sind. Wir
können uns vorstellen, wie es diesen Menschen vor
Weihnachten gehen muss. Wir stehen solidarisch an
deren Seite. Das ist die erste Botschaft.
Hier geht es darum, klar die Ursachen dafür zu nen-
nen, dass wir jetzt so dastehen, wie wir dastehen. Dies-
bezüglich gehen zwei Botschaften an General Motors in
Detroit:
Erste Botschaft: Es kann nicht sein, dass man eine
funktionierende Produktion, dass man Produkte, die
weltweit wettbewerbsfähig sind, von den Wachstums-
märkten in den USA und Brasilien einerseits ausschließt
und den Export nach China mindestens erschwert. Das
ist der Vorwurf, den wir GM machen.
Zweite Botschaft: Es kann nicht sein, dass mitten in
der Diskussion über die Umstrukturierung der Werke
– sprich: „Drive Opel 2022“ – ein Werk geschlossen
werden soll.
Wie finden wir es eigentlich, dass von diesem Konzept,
das vor drei Monaten vorgestellt wurde, nicht mehr die
Rede ist? Hat uns – darüber haben wir heute zu diskutie-
ren – GM etwa hinters Licht geführt? Das ist ein weiterer
Punkt.
Von GM kommen wir sehr schnell zu einer zweiten
Ursache – diese Ursache muss uns hier interessieren –:
Was tut eigentlich die Bundesregierung? Was hat sie ge-
tan?
Das war und ist viel zu wenig.
Das war und ist deutlich zu wenig, und das gilt es hier
anzuprangern.
Was meine ich ganz genau? Erstens. Sehr verehrter
Herr Rösler, sind Sie ein einziges Mal in Detroit gewe-
sen? Kennen Sie eigentlich die Ministerin Rebecca
Blank? Wenn es um ein Unternehmen in den USA geht,
das in Teilen staatlich dominiert ist, gehört es sich, dass
der Wirtschaftsminister interveniert und den Standort
Deutschland anpreist. Ich befürchte, dass man in Detroit
nicht einmal genau weiß, wo sich die Standorte befin-
den. Man muss sich darum kümmern. Ist er dort gewe-
sen? Hat er sich gekümmert? Ich vermute, nein.
Zweitens. Es geht darum, dass man in der jetzigen
Situation solidarisch an der Seite der Opelaner steht und
dafür kämpft, dass es keine betriebsbedingten Kündi-
gungen gibt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
heute haben wir zum ersten Mal von Ihnen etwas dazu
gehört. Ich hätte mir gewünscht, dass es mehr als warme
Worte in einem Interview gibt. Ich hätte mir gewünscht,
dass die Bundesregierung hier ein klares Bekenntnis
abgibt.
Drittens. Was tun wir insgesamt in der Investitions-,
in der Industriepolitik in Deutschland, in der Politik für
den Mittelstand? Sie haben alles Mögliche aufgezählt,
was aber nichts damit zu tun hat. Die Frage ist: Wo sind
Ihre Impulse, damit in der jetzigen Situation, in der wir
auf eine Rezession zusteuern, in Deutschland eine Indus-
triepolitik, eine Wirtschaftspolitik, eine Mittelstands-
politik vorangetrieben wird, die diesen Namen tatsäch-
lich verdient?
Wir erkennen nichts. Sie ruhen sich lediglich auf den Er-
folgen der Vergangenheit aus.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26255
Wolfgang Tiefensee
(C)
(B)
Wir stehen an der Seite der IG Metall, wenn sie sich
darum kümmert, dass der Standort erhalten bleibt, dass
es eine Perspektive gibt. Wir erwarten von Minister
Rösler, dass er nicht nur auf Bochum schaut, sondern
auch den Standort Deutschland im Blick behält. Es geht
nicht nur um Bochum. Es geht auch um Rüsselsheim, es
geht um Kaiserslautern, es geht um Eisenach, es geht um
den Industriestandort Deutschland,
und darum hat sich der Minister zu kümmern.
Wir stehen auch an der Seite von Hannelore Kraft und
Garrelt Duin, denjenigen, die sich anders als die Bundes-
regierung tatsächlich engagieren.
Unsere Unterstützung haben Hannelore Kraft und
Garrelt Duin bei der Suche nach Lösungen für die Be-
schäftigten.
Wir rufen ihnen zu: Wir stehen solidarisch an eurer
Seite. Ihr könnt euch auf uns verlassen, wenn es darum
geht, solide Industrie- und Mittelstandspolitik auch für
die Automobilindustrie in der Zukunft zu machen.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Pascal Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Schicksal der Menschen am Automobilstandort Bochum
bewegt uns. Das haben die Redner aller Fraktionen hier
zum Ausdruck gebracht. Das ist gut so. Das ist wichtig.
Die Nachricht ist schade für den Automobilstandort
Bochum. Das ist aber nicht das Ende des Standorts
Bochum. Das wollen wir einmal festhalten. Bochum ist
ein starker Industriestandort und wird es – das ist meine
Zuversicht – auch bleiben, wenn die Rahmenbedingun-
gen richtig gesetzt werden.
Die Politik kann aber nicht – Herr Tiefensee, ich
zitiere das, was die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
zu Recht gesagt hat – Managementfehler ausgleichen.
Diesen Punkt müssen wir immer benennen. Das haben
auch Sie zu Recht genannt. Es ist schon zu fragen,
warum Opel von bestimmten Wachstumsmärkten aus-
geschlossen ist. Es ist nicht so, dass die Politik dieser
Bundesregierung, Frau Dağdelen, dazu führt, dass die
Absatzmärkte in Südeuropa daniederliegen
und dass daran der Opelstandort Bochum zugrunde geht.
Das ist gänzlich falsch. Wir sehen an den Absatzzahlen
vergleichbarer Automobilbauer in Deutschland, bei-
spielsweise Volkswagen, dass sie rückläufige Absatzzah-
len in bestimmten Teilen Europas durch steigende Ab-
satzzahlen in anderen Teilen Europas ausgleichen.
So kann beispielsweise Volkswagen einen Zuwachs von
25,9 Prozent in Zentral- und Osteuropa verzeichnen.
Insofern ist tatsächlich die Frage zu stellen, ob das
Management hier richtig handelt.
Die Menschen in Bochum haben tatsächlich gute
Arbeit gemacht. Sie bauen vorzügliche Fahrzeuge, die
immer wieder prämiert werden. Der Zafira hat das
Goldene Lenkrad gewonnen; das haben Sie zu Recht
erwähnt, Herr Heil. Der Ampera wurde als „Auto des
Jahres 2012“ ausgezeichnet. Der Insignia wurde es 2009.
Das sind hervorragende Leistungen der Menschen in
Bochum. Wer so gut qualifiziert ist, der wird auch in
Zukunft gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben,
solange diese Bundesregierung ihre wachstumsorien-
tierte Politik betreiben und fortsetzen kann.
– Liebe Frau Dağdelen, Sie rufen mir zu, wir würden die
Menschen im Stich lassen.
Ich persönlich kann bei Ihnen überhaupt nicht leiden,
wenn ich das einmal sagen darf, dass Sie die Entwick-
lungen in Bochum skandalisieren und dazu eine Aktuelle
Stunde beantragen. Die Situation in Bochum ist nicht die
einzige kritische Situation in einem Unternehmen in
unserem Land.
Es gibt Zehntausende Unternehmensinsolvenzen im
Jahr,
26256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Pascal Kober
(C)
(B)
und nie beantragt die Linke hier eine Aktuelle Stunde, in
der Sie dann um Hilfe rufen.
Nur wenn es die ganz Großen trifft, wenn die Fernseh-
kameras auf das Schicksal von Menschen gerichtet sind,
dann stehen Sie nicht weit entfernt und rufen laut um
Hilfe.
Das ist nicht fair gegenüber den anderen Menschen, die
ihren Arbeitsplatz verlieren. Glücklicherweise übersteigt
die Zahl der Unternehmensgründungen in Deutschland
bei weitem die der Insolvenzen. Das ist das Ergebnis ei-
ner wachstumsorientierten Politik, die diese Bundes-
regierung betreibt.
– Liebe Kollegin Frau Dağdelen, wenn Sie so viel Ener-
gie haben, hier dazwischenzurufen, könnten Sie sich
auch einmal zum Kollegen Ernst umdrehen. Wenn er
nicht Porsche, sondern Opel fahren würde, würde man-
ches vielleicht besser gehen.
Das sind die Grundsätze der Marktwirtschaft. Ein
Produkt muss sich verkaufen. Sie können das nicht von
der Politik dirigieren. Wenn Sie Massenentlassungen
verbieten wollen, dann müssen Sie auch sagen, was die
Menschen machen sollen, wenn die Produkte nicht
gekauft werden.
Lieber Herr Heil, auch Sie stehen aktuell in der Ver-
antwortung.
Die Frankfurter Rundschau ist ins Schlingern geraten.
Sie wird den Betrieb einstellen. Sie mit der SPD sind mit
Ihrer Medienholding mit 40 Prozent an der Frankfurter
Rundschau beteiligt.
Wir wären interessiert, zu erfahren, in welcher Weise Sie
Ihre Verantwortung dort wahrnehmen.
Diese Bundesregierung macht die erfolgreichste
Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit
Jahrzehnten. Noch nie seit der Wiedervereinigung hat es
so viele Menschen in Beschäftigung gegeben wie heute.
41,7 Millionen Menschen sind in Beschäftigung. Die
Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt. Wir machen eine
verantwortungsvolle Politik. Dort, wo wir noch weitere
Wachstumsimpulse setzen wollen, beispielsweise bei der
Absenkung des Rentenversicherungsbeitrags,
blockieren Sie. Sie möchten diese Chancen für die Men-
schen verhindern, statt sie zu nutzen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, das ist die falsche Politik.
Wir werden weiter regieren zugunsten der Menschen in
unserem Land. Das wird so sein.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass es richtig war, dass meine Fraktion heute
diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Deutlicher kann
man den Opelanern in Bochum oder auch in anderen
Städten nicht sagen, dass diese Bundesregierung für ihre
Zukunft nichts machen wird. Das ist es, was CDU, CSU
und FDP uns mitteilen, ganz nach dem Motto: Die
Schließung ist ein Ergebnis der Marktwirtschaft. Wenn
ein Unternehmen, das 150 Jahre alt geworden ist, ein
Traditionsunternehmen in Deutschland, von dem Hun-
derttausende Arbeitsplätze abhängen, verkündet, ein
Werk zu schließen, wie es in Bochum geschehen ist,
dann nehmen wir das achselzuckend wahr und verwei-
sen darauf, dass es massenhaft Jobs zu Niedriglöhnen
gibt, auf die sich die Opelaner ja bewerben können. Sie
haben heute deutlich gemacht: Die Opelaner in Bochum
und an den anderen Standorten können von dieser Bun-
desregierung nichts erwarten.
Ich möchte noch einmal deutlich machen: Wir reden
hier nicht nur über den Standort Bochum. Wenn man
sich anschaut, was General Motors in den letzten zwei
Jahrzehnten mit Opel gemacht hat, erkennt man: Opel ist
nur der Anfang. Ich teile auch die Einschätzung des
Betriebsrats von Opel Bochum, dass, wenn die so wei-
termachen, General Motors Opel scheibchenweise abwi-
ckelt. Dann ist auch der Standort Kaiserslautern betrof-
fen, dann ist auch der Standort Rüsselsheim betroffen,
dann ist auch der Standort Eisenach betroffen. Wir müs-
sen hier den Untergang eines Unternehmens befürchten,
an allen Standorten.
Das muss dem Bundestag klar sein, wenn es darum
geht, sich zu fragen: Was kann die Politik dagegen tun?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26257
Alexander Ulrich
(C)
(B)
Die Menschen erwarten sehr wohl, dass sich die Politik
darum kümmert.
Was kann die Politik tun? Viele Vorredner haben bestä-
tigt, dass die Probleme am Missmanagement von Gene-
ral Motors liegen. Ich möchte auch noch einmal betonen:
Es ist geradezu tragisch, dass die Fahrzeugpalette von
Opel noch nie so gut war wie zurzeit. Sehr viele Fach-
leute sagen: Opel baut von Kleinstwagen bis Großwagen
sehr gute Autos in guter Qualität.
General Motors hat es geschafft, das Image der Marke
Opel zu beschädigen.
Darüber hinaus hat General Motors es geschafft, die
Wachstumsmärkte zu schließen, sodass Opel diese wun-
derbaren Fahrzeuge nicht verkaufen kann. Das ist eine
Strategie von General Motors in Amerika. Die US-Re-
gierung ist mittlerweile ein Großaktionär von General
Motors. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass die
Bundesregierung mit der US-Regierung darüber redet,
warum General Motors Opel zugrunde richtet. Darüber
muss die Bundesregierung mit der US-Regierung disku-
tieren.
Man kann doch nicht einfach sagen: Es ist ein Ergebnis
der Marktwirtschaft, wenn ein Unternehmen zugrunde
geht. – Die Probleme von Opel liegen doch am Miss-
management von General Motors.
Zweiter Punkt. Es reicht auch nicht aus, zu sagen:
Nordrhein-Westfalen oder Bochum – oder in der Folge
vielleicht Kaiserslautern oder Rüsselsheim oder Eise-
nach – soll sich um die Probleme kümmern. Wenn ein
Traditionsunternehmen, an dem – einschließlich Zulie-
ferindustrie – Hunderttausende Arbeitsplätze hängen,
kaputt gemacht wird, dann sind Städte und Regionen da-
mit überfordert, den Strukturwandel zu begleiten. Des-
halb ist es zwingend notwendig, dass die Bundesregie-
rung deutlich macht: Wir unterstützen die Regionen,
wenn ein Strukturwandel ansteht. – Auch dazu haben
wir heute überhaupt nichts gehört.
Die Forderung ist doch relativ klar: Opel muss tat-
sächlich zur Chefsache gemacht werden.
Die Kanzlerin muss mit den Ministerpräsidenten reden,
sie muss mit der IG Metall, mit den Betriebsräten reden,
und sie muss auch mit der US-Seite reden. Es muss ein
klares, abgestimmtes Programm geben, um die Marke
Opel in Deutschland zu erhalten.
Die IG Metall und die Betriebsräte befinden sich derzeit
in Sanierungsverhandlungen. Die Bundesregierung muss
sie dabei unterstützen, über 2016 hinaus Arbeitsplätze zu
sichern und alle vier Werke abzusichern. Hier muss die
Bundesregierung Farbe bekennen.
Welche Lehre muss die Politik aus dem Fall Opel
ziehen? Das Mantra, das immer wieder vor sich herge-
tragen wird, nämlich dass Lohnzurückhaltung Arbeits-
plätze sichert, ist gerade bei Opel gescheitert. Die Be-
schäftigten von Opel haben – in dem Glauben, dass sie
dadurch ihre Arbeitsplätze erhalten – zwei Jahrzehnte
lang Lohnverluste akzeptiert. Es sind viele Tausend Ar-
beitsplätze abgebaut worden; doch die restlichen sind
weiterhin gefährdet. Lohnzurückhaltung – das hat sich
gerade bei Opel gezeigt – hilft nicht, dass Arbeitsplätze
gesichert werden. Ich hoffe, dass die Gewerkschaften,
die Betriebsräte diesen Fehler nicht wieder machen.
Wir müssen uns auch anschauen: Warum läuft es bei
VW so anders als bei Opel? Weil die Mitbestimmung im
Unternehmen bei VW eine andere ist: Bei VW können
die Betriebsräte und die Gewerkschaften mitbestimmen
bei der Frage, wie die Unternehmensstrategie aussieht,
bei der Frage, welche Modelle gebaut werden, bei der
Frage, welche Standorte erhalten werden. Das VW-Ge-
setz ist geradezu der Grundpfeiler, dem es zu verdanken
ist, dass VW diese Probleme nicht hat. Was müssen wir
daraus lernen? Wir müssen die Mitbestimmungsmög-
lichkeiten, die es bei VW gibt, auf die komplette Wirt-
schaft in Deutschland übertragen,
damit auch andere Arbeitnehmer erfolgreich um ihre Ar-
beitsplätze kämpfen können.
Abschließend: Was Herr Lindner von der FDP gesagt
hat, ist an Arroganz, an Abneigung und an mangelndem
Einfühlungsvermögen im Hinblick darauf, was in den
Beschäftigten von Opel gerade vor sich geht, nicht zu
überbieten. Herr Lindner, Sie sollten sich Ihre Rede noch
einmal anschauen. Wenn es parlamentarisch erlaubt
wäre, Herr Präsident, würde ich Herrn Lindner jetzt am
liebsten mit einem Gesäßteil vergleichen; das wäre si-
cherlich die richtige Antwort auf so eine Rede. Ich sage
nur: Schämen Sie sich!
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Jarzombek
von der CDU/CSU-Fraktion.
26258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die-
sem Niveau möchte ich nicht fortfahren.
Ich kann nur sagen: Es tut mir wirklich leid um das
Werk und um die 3 000 Jobs und die Familien, die be-
troffen sind. Ich bedauere das sehr.
Was Sie mit dem Ruhrgebiet an dieser Stelle machen,
bedauere ich allerdings noch sehr viel mehr. Ich bin ein
Fan des Ruhrgebiets. Ich finde, der Ruhrpott ist eine
toughe Region. Da gibt es gute Leute. Im Ruhrgebiet
gibt es viele Erfolgsgeschichten. Es gibt dort echte High-
tech und sehr viel Positives, von dem man erzählen
kann. Sie reden das hier nur schlecht; Sie reden das
ganze Ruhrgebiet kaputt.
– Maulen Sie nicht herum.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben hier vorhin vom
Ruhrgebiet von einer „Elendszone“ gesprochen.
Ich erwarte, dass Sie hier nicht herummoppern, sondern
dass Sie sich entschuldigen. Nehmen Sie das zurück! Sie
können vom Ruhrgebiet so nicht sprechen. Das Ruhrge-
biet ist ein toller Ort und keine Elendszone. Das ist eine
unglaubliche Sauerei!
– Entschuldigen Sie sich! Das ist die richtige Maß-
nahme!
Der krude Kollege von der SPD hier vorne hat uns
vorhin erzählt, was die Landesregierung alles gemacht
hat. Ich sage Ihnen einmal, was die Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen gemacht hat:
Als Hannelore Kraft Wissenschaftsministerin des
Landes gewesen ist, hat sie den industriellen Kern des
Landes mit 110 Millionen für eine Firma mit 25 Mit-
arbeitern begleitet, die Trickfilme in Oberhausen produ-
ziert.
4,35 Millionen für jeden dieser Arbeitsplätze! Die waren
dann weg. Peer Steinbrück hat gesagt, die Projekte seien
nichts als „eine schöne Tapete, die wir um die Staats-
kanzlei gelegt haben“. – Damit hat Peer Steinbrück voll-
kommen recht; das kann man gar nicht in Abrede stellen.
Wissen Sie, was Hannelore Kraft noch gemacht hat?
Als sie 2009 Oppositionsführerin gewesen ist, hat sie
sich demonstrativ einen Opel Insignia gekauft und von
Solidarität gesprochen. Sie ist mit diesem Opel Insignia
zu jedem Termin gefahren und hat erzählt, was das für
ein tolles Auto ist. Als sie Ministerpräsidentin wurde, hat
sie das Ding einfach zur Seite geschoben, sich einen
Audi A8 angeschafft und das Zeichen gesetzt – den Ein-
druck muss man ja gewinnen –: Gewinner fahren keinen
Opel.
Das, was Sie da gemacht haben, ist eine Schande.
Deshalb brauchen wir eine Erfolgsgeschichte für das
Ruhrgebiet. Erzählen Sie doch einmal von den Erfolgen,
die wir da erreicht haben:
Dort, wo Nokia gegangen ist, sind 300 Jobs von
Blackberry entstanden.
Da werden keine Platinen mehr gelötet, sondern Soft-
ware entwickelt.
Es ist ein Spin-off für alle Navigationsgeräte von
Ford gemacht worden. Durch ein Management-Buy-out
werden mittlerweile hochinnovative Dinge produziert.
In Duisburg, das direkt nebenan liegt, gibt es mittler-
weile einen Riesenerfolgsfaktor, nämlich die Logistik.
Sie müssen einmal über Logistik im Ruhrgebiet reden.
In der Logistik sind dort in den letzten zehn Jahren
60 000 neue Jobs entstanden. In Duisburg gibt es
50 000 Quadratmeter neue Flächen, wo früher einmal
alte Industriewerke gestanden haben.
In Dortmund finden Sie eine absolute Hightechin-
stallation. Dort gibt es das erste Logistikzentrum, in dem
komplett autonome Logistikroboter fahren. Das ist da
entwickelt worden. Absolute Super-Hightech!
Darüber müssen wir doch einmal reden und sagen,
was das Ruhrgebiet alles kann.
Dietrich Grönemeyer, der Bruder des Sängers, ein gu-
ter Mediziner, hat im Juni in der Wirtschaftswoche er-
klärt, dass das mit Opel gar nicht so wild sei; denn die
Medizin sei ein positiver Wirtschaftsfaktor – gerade in
Bochum. Er setzt auf das Medical Valley Ruhr mit fast
300 000 Arbeitsplätzen, die die Rüttgers-Regierung mit
ihrer Cluster-Strategie unterstützt hat.
Das sind die Erfolgsgeschichten im Ruhrgebiet, von
denen wir erzählen müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26259
Thomas Jarzombek
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(B)
Wir brauchen neue Unternehmen und Gründer. An-
statt für die Gründer etwas zu tun, haben Sie und Nord-
rhein-Westfalen an der Spitze im Bundesrat gerade erst
beschlossen, dass Start-ups benachteiligt werden sollen
und dass Business Angels aus Deutschland vertrieben
werden, weil Veräußerungserlöse von deutschen Körper-
schaften mit Streubesitz körperschaftsteuerpflichtig wer-
den sollen. 1 600 junge Menschen, die Unternehmen
gründen oder gegründet haben, haben dagegen unter-
schrieben. Wir mussten das Ganze retten. Das ist Ihr
Umgang mit denjenigen, die neue Jobs schaffen wollen.
Daran sollten Sie einmal arbeiten. Damit würden Sie den
Menschen in Bochum, im Ruhrgebiet und in ganz
Deutschland helfen.
Ich finde den Ruhrpott toll. Ich freue mich, beim
nächsten Mal in Bochum auch Menschen zu sehen, die
viel optimistischer sind als Sie hier heute.
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
in Bochum direkt gewählter Abgeordneter, zusammen
mit Gerd Bollmann, möchte ich mich anlässlich dieser
Debatte zunächst einmal bei all den Kolleginnen und
Kollegen bedanken, die gesagt haben: Wir werden euch
vor Ort solidarisch unterstützen. – Ich werde die Kolle-
ginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb daran erinnern,
wenn es politische Entscheidungen zu treffen gilt und
wenn es darauf ankommt, die eigene Bundesregierung in
die Pflicht zu nehmen. Demokratie ist eine Frage des gu-
ten Gedächtnisses.
Ich will auch etwas aus 40-jähriger persönlicher Er-
fahrung sagen. Ich bin mit diesem Werk, auch wenn ich
dort nur ein Wochenpraktikum mit Montage am Band
und vielem anderen mitgemacht habe, eng verbunden.
Ich bin das schon seit meinen Zeiten als Jugendsprecher,
als junger Gewerkschafter. Ich führe viele, viele Gesprä-
che mit Betriebsräten, mit Vertrauensleuten und war
auch auf unzähligen Belegschaftsversammlungen. Ich
weiß schon, wie man dort tickt.
– Da Sie dazwischenrufen: Ich weiß nicht, ob Sie jemals
bei Opel gewesen sind. Ich empfehle Ihnen, einmal dort-
hin zu gehen. Ich lade Sie gerne dorthin ein.
Was wir an Unternehmensentscheidungen erlebt ha-
ben – nicht nur das Was, sondern auch das Wie –, war
menschenverachtend gegenüber den Beschäftigten, die
dort tagein, tagaus arbeiten.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder er-
lebt, dass von GM oder auch vom Opel-Vorstand Ver-
sprechungen gemacht worden sind, Pläne entwickelt
wurden, dann aber wenig oder weniger umgesetzt wor-
den ist und Dinge nicht eingehalten worden sind. Wir ha-
ben erlebt, dass die Kolleginnen und Kollegen dort Ver-
zicht geübt und gleichzeitig weiterhin exzellente Autos
gebaut haben. All das hat dies nicht zu dauerhafter Si-
cherheit geführt, die notwendig gewesen wäre.
Wir haben am Montag eine Belegschaftsversamm-
lung erlebt. Zu ihr kamen drei Vorstandsmitglieder von
Opel durch die Vordertür. Ein Vorstandsmitglied hat eine
Erklärung abgegeben. Nach 15 Minuten, als der Be-
triebsratsvorsitzende zur Diskussion aufgerufen hat, ist
dieses Vorstandsmitglied mit seinen Kollegen durch die
Hintertür verschwunden. Das war inakzeptabel, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Das werden wir uns politisch
so nicht gefallen lassen. Das muss auch einmal als unso-
zial und als Raubtierpolitik, wie man sich den Kapitalis-
mus nur malen kann, benannt werden. So geht es nicht!
Wenn man Verantwortung hat, muss man sich ihr
auch stellen, und zwar Auge in Auge, auf Augenhöhe,
indem man miteinander redet, indem man zuhört und in-
dem man gemeinsam nach Lösungen sucht. Die Kolle-
ginnen und Kollegen vor Ort haben dafür wirklich ver-
dammt viel investiert.
Wenn ich von der Union „Gewerbesteuerproblem
Opel Bochum“ höre, kann ich nur sagen: Opel zahlt seit
Jahren überhaupt keine Gewerbesteuer. Wovon reden Sie
denn in diesem Zusammenhang überhaupt?
Ich habe Ihren ehemaligen Generalsekretär, Herrn
Geißler, in der Talkshow erlebt. Dort hat er gesagt: Bo-
chum, diese marode Stadt. – Ich halte dagegen, Herr
Geißler: Bochum, diese lebendige Stadt. Ihre Aussage ist
eine Unverschämtheit. Wir lassen das hier in diesem
Hause nicht unwidersprochen stehen.
Die Landesregierung hat sich engagiert; in der Tat mit
ganz klaren Vorgaben auch in Bezug auf das, was von
der Arbeitsgruppe bereits vor dem schrecklichen Montag
eingestielt worden ist: GM muss zum Thema „keine be-
triebsbedingten Kündigungen“, zum Thema „Sicherung
und Schaffung von innovativen Arbeitsplätzen“, zum
Thema „Entwicklung von Gewerbeflächen“ in die
Pflicht genommen werden. Das muss gemacht werden.
Die Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP
können über das Ruhrgebiet erzählen, was sie wollen.
Sie haben doch gerade bei der Landtagswahl die
schlimmste Niederlage Ihrer Geschichte erlebt. Das war
das Urteil der Menschen dort über Ihre Politik. Sie haben
26260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Axel Schäfer
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ihre Unterstützung für die SPD und die Grünen und da-
mit für diese Regierung ausgesprochen.
Für all diejenigen, die noch nicht da waren: Wir sind
stolz darauf, dass wir 50 000 organisierte Gewerkschaf-
ter haben.
Wir sind aber genauso stolz darauf, dass wir mittlerweile
50 000 Studierende an einer Universität und sieben
Hochschulen haben.
Wir sind genauso stolz, dass wir mittlerweile 22 museale
Einrichtungen und 25 Theater in den verschiedensten
Sparten haben und auf dem Weg zu so etwas wie einem
National Health Center sind. Das sind neue Werte.
Wir werden damit weitermachen. Wir haben oben-
drein mit Starlight Express das erfolgreichste Musical
der Welt, und wir wissen, wie es ist, wenn man neue
Wege gehen muss.
Diese neuen Wege werden wir auch gehen. Dazu ge-
hört für unser Regierungsprogramm zusammen mit den
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen der Ausbau
der Arbeitnehmermitbestimmung. Denn diese haben im
Betrieb nicht nur etwas zu schaffen, sondern auch etwas
zu sagen. Sie haben Kompetenz und sie können es ein-
fach.
Das heißt auch, dass wir die gesamtwirtschaftliche
Mitbestimmung, Stichwort Wirtschaftsdemokratie, wie-
derbeleben müssen. Das ist unsere Aufgabe, und das ist
unser Versprechen für 2013. Sie können davon ausge-
hen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP: Das werden die Bürgerinnen und Bürger im nächs-
ten Jahr einlösen und uns verpflichten, das auch zu tun.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Axel Schäfer. – Nächster Red-
ner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Ernst Hinsken. Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst vier Bemerkungen: Frau Dağdelen, Sie haben
heute unter Beweis gestellt, dass Sie, was Marktwirt-
schaft angeht, von Tuten und Blasen keine Ahnung ha-
ben.
Zweite Bemerkung: Herr Heil, was Sie geboten ha-
ben, ist unter Ihrer Würde. Das war billige Polemik und
nichts dahinter.
Herr Tiefensee, ich schätze Sie persönlich sehr – das
wissen Sie –, aber Sie haben nur Forderungen an die
Bundesregierung gestellt. Forderungen an die Landesre-
gierung, die dabei in erster Linie gefordert ist, haben Sie
nicht gestellt.
Sie haben gesagt: Die regeln das Problem. – Wo wird es
geregelt? Wie wird es geregelt? Die Leute im Ruhrgebiet
und alle Betroffenen haben ein Recht darauf, in Erfah-
rung zu bringen, was die jeweils zuständige Institution
für sie tut.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns
doch alle miteinander nichts vor: Wenn heute mehrere
Redner der Opposition so tun, als wäre der Bund mit
schuld an dieser Misere, frage ich Sie: Wo leben wir
denn? Wir sollten das Kind schon beim Namen nennen.
Wir sollten bei der Sache bleiben und uns dem Thema
widmen, das uns momentan bedrückt, weil wir alle mit-
fiebern. Wir wissen, dass es sehr wehtut, den Arbeits-
platz zu verlieren, vor allem, wenn man unmittelbar vor
Weihnachten mitgeteilt bekommt, dass dieser Arbeits-
platz in wenigen Jahren nicht mehr da ist. In so einem
Fall gibt es Solidarität, und an Solidarität lassen sich
meine Fraktion und auch die der FDP von niemandem
übertreffen.
Bei den vielen Aufmachern in verschiedenen Zeitun-
gen in den letzten Tagen war einiges nicht nachvollzieh-
bar. Da hieß es: Premiummarken Audi und BMW auf
Rekordkurs. Gleichzeitig war zu lesen: Opel-Werk in
Bochum soll 2016 schließen.
Das ist eine riesige Bandbreite. Für die Mitbürger im
Ruhrgebiet war das eine Hiobsbotschaft.
Von Ende 2017 an wird Bochum nach dem Auslaufen
der Produktion des Familienwagens Zafira keine neue
Modellreihe erhalten. Das ist ein schwerer Schlag für die
Menschen in der Region Bochum, und das gerade, wie
gesagt, kurz vor Weihnachten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26261
Ernst Hinsken
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Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, so schmerz-
haft es für die Betroffenen ist: Wir müssen ehrlich sein
und können nicht das Christkind spielen. Denn mit uner-
füllbaren Versprechungen ist niemandem geholfen. Wer
meint, dass der Staat grundlegende Strukturprobleme des
Unternehmens lösen kann, gaukelt den Betroffenen etwas
vor. Schließlich ist der Staat – wie oft festzustellen – der
schlechtere Unternehmer. Nach diesem Leitgedanken ha-
ben wir immer gelebt, und den halten wir weiterhin hoch.
Die Hilfe zugunsten eines Unternehmens ginge doch zu-
lasten anderer Unternehmen, denen nicht geholfen wird.
Zudem verzerren staatliche Eingriffe den Wettbewerb.
Meine Damen und Herren von der Linken, wenn ein so
großes Unternehmen wie Opel in Schwierigkeiten gerät,
rennen alle. Aber haben Sie sich schon einmal Gedanken
über die Tausende, Zehntausende oder vielleicht sogar
Hunderttausende kleine und mittlere Betriebsunterneh-
mer gemacht,
die leider nicht mehr standhalten und ihre Probleme
nicht mehr bewältigen konnten?
– Hören Sie zu! Dann lernen Sie etwas Gescheites. – Es
wäre angebracht, sich den vielen anderen zu widmen, die
in Schwierigkeiten geraten und dann oft auf der Strecke
bleiben.
Nun sind Opel und GM gefordert. Das Unternehmen
muss den Beschäftigten Perspektiven eröffnen. Zudem
müssen sozialverträgliche Lösungen für die Beschäftig-
ten gefunden und Voraussetzungen für die Ansiedlung
neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze geschaffen werden.
Das Unternehmen ist gefragt. Es muss vorangehen und
Geld auf den Tisch legen. Dann kann der Staat subsidiär
unterstützen.
Es ist fast nicht nachvollziehbar: Allein in diesem
Jahr verzeichnet Opel einen Verlust von mindestens
1,2 Milliarden Euro. Das ist der sechste hohe Verlust
hintereinander. Woran liegt das?
Zum einen bestehen Überkapazitäten in der gesamten
Automobilindustrie in Europa. Zum anderen schrumpft
der europäische Markt seit fünf Jahren.
2013 werden voraussichtlich so wenige Autos in Europa
verkauft wie seit 20 Jahren nicht mehr. Hinzu kommen
die hausgemachten Schwierigkeiten bei Opel selbst. Der
Absatz von Opel in Europa ging mit 15 Prozent in die-
sem Jahr doppelt so stark zurück wie der Gesamtmarkt.
Es ist unbestreitbar: Opel schreibt rote Zahlen, weil sich
das Unternehmen nicht ausreichend auf die Globalisie-
rung eingestellt hat.
Wenn sich Opel weiterhin allein auf den schrumpfenden
europäischen Markt konzentriert, hat das Unternehmen
keine Chance.
– Sie können nichts anderes, als dumm daherschreien.
Zu mehr sind Sie nicht in der Lage.
Sie sollten zuhören, damit Sie lernen, was Marktwirt-
schaft bedeutet, und das Haus etwas klüger verlassen, als
Sie es betreten haben. Das wäre für Sie angebracht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es tut mir
leid, aber das alles zeigt: Opel hat die Zeichen der Zeit
nicht erkannt.
Herr Kollege Hinsken, mir tut es auch leid, aber den-
ken Sie an Ihre Redezeit!
Ich denke daran und sage nur noch einen Abschluss-
satz.
Technik ist bei Opel nicht das Problem. Dringend er-
forderlich sind neue und hochwertige Modelle sowie
mehr Investitionen in die Werke.
Opel muss von anderen Automobilfirmen lernen. Es gibt
genügend Beispiele für Automobilfirmen in Deutsch-
land, die glänzen, weil sie Absatzmärkte in Russland und
im Fernen Osten haben. Opel hat ein anderes, ein fal-
sches System
und sollte sich an diesen erfolgreichen Unternehmen
orientieren. Dann sind auch die bestehenden Arbeits-
plätze sicher, und es können sogar neue entstehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
26262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
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Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Carsten
Linnemann. Bitte schön, Kollege Dr. Linnemann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sollten es uns nicht so leicht machen und
ausschließlich über Managementfehler reden. Wir sollten
grundsätzlich aufpassen, dass wir uns nicht als Richter
über Entscheidungen privater Natur aufspielen. Manage-
mentfehler sind für die betroffenen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter nichts anderes als verschüttete Milch. Reali-
tät ist, dass wir es mit Überkapazitäten auf diesem Markt
zu tun haben, weil die private Nachfrage nicht da ist. Nun
müssen wir den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern die benötigten Perspektiven eröffnen.
General Motors und Opel sind in der Pflicht – da un-
terstütze ich die Bundesregierung und insbesondere
Herrn Brauksiepe –, zu sozialverträglichen Lösungen zu
kommen, genauso wie – darüber wurde heute noch gar
nicht gesprochen – die Bundesagentur für Arbeit. Zu-
ständig ist Frau Schönefeld, Chefin der Regionaldirek-
tion Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Ich habe heute
Morgen länger mit ihr telefoniert. Sie hat mir mehrere
Punkte mit auf den Weg gegeben. Es stimmt, was Sie,
Herr Tiefensee, gesagt haben, nämlich dass wir nicht nur
an die Opelaner denken dürfen, sondern auch an die Zu-
lieferer und Dienstleister denken müssen. Sie hat auch
gesagt, dass es eine Taskforce gibt. Man muss wissen,
dass die Beschäftigten, die bei Opel in Bochum arbeiten,
nicht nur in Bochum leben, sondern auch in anderen Or-
ten ringsherum, in Dortmund, Herne, Castrop-Rauxel,
Gelsenkirchen usw. Die hatten bisher bei der Bundes-
agentur für Arbeit verschiedene Ansprechpartner. Jetzt
hat man aber eine Taskforce eingerichtet, sodass alle Be-
schäftigten bei Opel einen einzigen Ansprechpartner ha-
ben, der auch ins Werk kommt, sich über Qualifikatio-
nen informiert und diesen Menschen Perspektiven
eröffnet.
Die Bundesregierung unterstützt diesen Weg, Per-
spektiven zu eröffnen. Dafür sind wir dankbar. Sie er-
wägt nicht, mit einer direkten Hilfe zu versuchen, die
Überkapazitäten, die wir aufgrund niedriger privater
Nachfrage haben, durch staatliche Nachfrage aufzufan-
gen. Das würde auch nicht klappen.
Das hat die Geschichte gezeigt. Das ist vergleichbar mit
einer Droge, die abhängig macht. Am Ende des Tages
würde das zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Deshalb
wundere ich mich ein bisschen über Herrn Steinbrück.
Ich möchte das Zitat jetzt nicht auf die Goldwaage legen,
aber er hat am 2. April 2009 im stern über direkte Staats-
hilfen gesagt, dass man von Fall zu Fall entscheiden
müsse. Ich zitiere: „Mit der Schwäche, dass damit auch
Willkür verbunden sein könnte“.
Diese Willkür wollen wir nicht. Wir wollen alle Unter-
nehmen gleich behandeln.
Diese Willkür gibt es, wie ich finde, auch bei den Lin-
ken. Ich habe mir einmal die Themen der Aktuellen
Stunden der letzten zwei, drei Jahre angesehen. Die Lin-
ken beantragen immer dann eine Aktuelle Stunde, wenn
es um ein großes, bekanntes Unternehmen geht. Das ma-
chen Sie dann fernsehgerecht mit einer Liveübertragung
der Aktuellen Stunde. Vielleicht sollten Sie einmal eine
Aktuelle Stunde einberufen, die allgemein Insolvenzen
behandelt und in der darüber debattiert wird, wie man
mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgeht, nicht nur
dann, wenn es um Opel geht.
Wir müssen alle gleich behandeln. Wir haben in die-
sem Jahr rund 31 000 Insolvenzen
mit 350 000 Beschäftigten, die betroffen sind. Die sind
vielleicht zu leise und melden sich nicht in der Zeitung
zu Wort; sie sind aber genauso betroffen. Deswegen
müssen wir für alle da sein.
– Nein, aber wenn man Ihnen zuhört, muss man zu dem
Schluss kommen, dass Sie nur dann eine Aktuelle
Stunde beantragen, wenn ein großes Unternehmen in der
Bredouille ist.
Dann machen Sie einen großen Aufschlag. Wenn es aber
um den Mittelstand geht, der 99 Prozent der Unterneh-
men stellt, bei dem 80 Prozent der Arbeitnehmer be-
schäftigt sind und 70 Prozent der Auszubildenden, dann
ducken Sie sich weg.
Wir ducken uns nicht weg. Wir sind für alle da. Daher
unterstützen wir als Fraktion die Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
Kollege Dr. Carsten Linnemann war der letzte Redner
in unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26263
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh-
rungsgesetzes zur Verordnung Nr. 648/
2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenpar-
– Drucksachen 17/11289, 17/11690 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/11883 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Carsten Sieling
Björn Sänger
Was immer das Thema dieses Tagesordnungspunkts
bedeutet, wir werden es von unseren Rednern genau er-
läutert bekommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Alle sind damit
einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so be-
schlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Der erste Redner, der
das Thema erläutern wird, ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön,
Kollege Klaus-Peter Flosbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein sehr wichtiger Tag für die Finanzmarktre-
gulierung in Europa; denn heute Morgen haben sich die
europäischen Finanzminister geeinigt, eine gemeinsame
Bankenunion aufzubauen, eine gemeinsame europäische
Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank einzu-
setzen.
Diese gemeinsame Bankenaufsicht konzentriert sich
in einem wesentlichen Bereich auf die großen, systemre-
levanten Banken, die international vernetzt sind. Das ist
genau der richtige Weg, den wir gefordert haben.
Wenn sich die Europäische Zentralbank hier engagiert,
dann muss sie sich auf die großen europäischen vernetz-
ten Banken konzentrieren.
Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, haben
in diesem Parlament im September gefordert: Wenn es
zu einer europäischen Bankenaufsicht kommt, dann
muss Qualität vor Schnelligkeit gehen. Wir haben ge-
sagt: Es kann nicht sein, dass bereits zum 1. Januar 2013
eine Aufsicht in Gang gesetzt wird, die noch nicht effek-
tiv arbeiten kann. Zu diesem Bereich gab es völlig unter-
schiedliche Auffassungen. Einige haben gesagt: Wir
müssen uns anstrengen, dass wir das bis zum 1. Januar
2013 schaffen. Aber gerade das große Problem der gro-
ßen europäischen Banken in wenigen Monaten zu lösen,
war nicht zu schaffen. Deswegen sind wir stolz darauf,
dass unser Finanzminister durchgesetzt hat, dass zum
1. März des Jahres 2014 diese europäische Bankenauf-
sicht durchgesetzt wird.
Wir sind froh, dass man sich bei diesem Thema auf
die Großen und nicht auf die Kleinen konzentriert. Wir
alle kennen aus unseren Wahlkreisen die Volksbanken,
die Raiffeisenbanken, die Sparkassen. Wir kennen auch
viele kleine Privatbanken in Deutschland.
Das Wichtige ist, dass hier eine nationale Aufsicht nach
einheitlichen Regeln erfolgt und dass wir uns darauf
konzentrieren, dass die großen Risiken bekämpft
werden. Denn von ihnen gehen die Gefahren für die Sta-
bilität dieses Finanzmarktes aus.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse-
rer Kollegin Lisa Paus?
Ja, natürlich. Bitte sehr.
Bitte schön.
Genau, Herr Zöllmer. Zum eigentlichen Thema kom-
men wir bestimmt noch. Das Thema „Bankenunion,
Bankenaufsicht“ ist ja auch ein spannendes Thema. –
Herr Flosbach, Sie haben gerade ausdrücklich begrüßt,
dass es jetzt einen Termin gibt – 1. März 2014 –, zu dem
die Bundesregierung und offenbar auch die Koalition
stehen. Wir beide waren gestern im Finanzausschuss an-
wesend, als die Bundesbank und die Bankenaufsicht an-
gemahnt haben, dass sie auch für dieses Datum eine
Roadmap brauchen. Bisher haben Sie nicht die Fantasie
entwickelt, wie eine solche Roadmap in dieser Zeit er-
stellt werden kann. Könnten Sie mir etwas dazu sagen,
wann diese Bundesregierung und der Europäische Rat
eine entsprechende Roadmap mit Unterstützung der
Koalition entwickelt haben werden, damit dieses Vorha-
ben bis zu diesem Datum Wirklichkeit werden kann?
26264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Vielen Dank für diese Frage. – Wir sind ja bei dersel-
ben Veranstaltung gewesen. Die Bankenaufsicht, also
auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
sicht, hat deutlich gemacht, dass die Vorschläge, die von
einigen europäischen Ländern gewünscht sind, nicht
umsetzbar sind. Das verweist auf genau den Weg, den
wir vorgeschlagen haben: Wir brauchen eine gewisse
Zeit, um eine Roadmap, wie man heute sagt, einen Plan,
vorzulegen, wie das alles abgewickelt werden kann.
Genau das ist von unserem Finanzminister vorgelegt
worden: Wir brauchen einen gewissen Zeitraum, um das
abzuwickeln, aber auch, um die anderen Punkte anzu-
sprechen.
Es geht um die Trennung von Geldpolitik und Auf-
sicht. Beantwortet werden muss die Frage, ob beispiels-
weise Banken, die in einer Schieflage sind, sozusagen
nach Europa übertragen werden können oder ob deren
Rettung möglicherweise finanziell gemeinsam verant-
wortet wird. Wir haben gesagt: Überall, wo es Schiefla-
gen gibt, müssen die jeweiligen Länder auch dafür gera-
destehen. Das kann nicht auf uns abgewälzt werden.
Ich komme damit zu einem weiteren Bereich, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Heute ist neben der Neurege-
lung der Bankenaufsicht ein zweiter zentraler Baustein
gesetzt worden: Es geht um die Regulierung des Handels
mit Derivaten, und zwar außerhalb der Börsen. Nun hat
nicht jeder mit Derivaten zu tun. Aber jeder kann sich
vorstellen: Wenn ein deutscher Unternehmer in den USA
Waren einkauft – etwa für 100 000 Dollar; das entspricht
etwa 80 000 Euro –, dann macht er ein Termingeschäft,
ein Zinsgeschäft oder ein Wechselkursgeschäft und sagt:
Wenn die Ware in einem halben Jahr geliefert wird, dann
will ich auch nicht mehr als diese 80 000 Euro bezahlen.
Derivate beziehen sich auch auf Preise von Handels-
gütern, auf Rohstoffe oder möglicherweise sogar auf
Kreditausfallversicherungen. Es sind also abgeleitete
Produkte, die sich auf andere Preise beziehen. Wenn sich
diese Derivate, diese Finanzinstrumente, wie man heute
sagt, immer nur auf die Realwirtschaft beziehen würden,
hätten wir wahrscheinlich kein Problem. Aber inzwi-
schen hat sich dieses Geschäft von der Realwirtschaft
gelöst. Wir reden davon, dass heute möglicherweise
600 Billionen Euro Nominalvolumen an Derivaten welt-
weit gehandelt werden. Wir fordern daher, dass unser
Anliegen umgesetzt wird, dass eine scharfe Kontrolle
ausgeübt wird. Dem kommen wir mit diesem Gesetzent-
wurf nach.
Wir haben im Jahre 2008 die Pleite von Lehman
Brothers erlebt. Hier gab es keine Aufsicht, die in dieses
Unternehmen hineinblicken konnte: Was wurde dort ge-
handelt? Wer handelte mit wem? Welches Volumen
wurde gehandelt? Welches Risiko ergab sich? – Das war
einer der zentralen Gründe, dass auf dem G-20-Gipfel
beschlossen wurde: Bis zum Ende des Jahres 2012, also
bis Ende dieses Monats, soll eine Regulierung des Deri-
vatehandels erfolgen.
Warum wollen wir das? Wir wollen die Gefahren be-
grenzen, die damit verbunden sind. Wir haben immer
wieder gesagt, auch in unserer Koalitionsvereinbarung –
das ist die Strategie der letzten drei Jahre –: Es darf
keinen Markt, es darf kein Produkt, es darf keinen Ak-
teur auf den Finanzmärkten geben, der bzw. das nicht
kontrolliert wird, liebe Freunde.
Meine Damen und Herren, wir haben es hier zu tun
mit einem Ausführungsgesetz zu einer EU-Verordnung,
zu einer europäischen Verordnung. Es geht also um die
Anpassung auf nationaler Ebene. Die Regeln beziehen
sich auf Derivate, die außerhalb der Börse gehandelt
werden. Wir legen in diesem Gesetz fest, dass in Zukunft
bestimmte Derivate nicht mehr zwischen zwei Ge-
schäftspartnern gehandelt werden dürfen; sie müssen
über Börsen oder sogenannte zentrale Abwicklungsstel-
len geleitet werden.
Dabei ist wichtig, dass europaweit einheitlich gehan-
delt wird; denn sonst gibt es wieder Versuche, abzuwan-
dern oder andere Wege zu beschreiten, um sich der
Kontrolle zu entziehen. Also, es gibt europaweit einheit-
lich hohe Sicherheitsstandards. Es gibt eine einheitliche
Absicherung für alle Geschäfte und für alle Marktteil-
nehmer. Das Wichtigste ist: Alle Geschäfte – alle Ge-
schäfte! – müssen an zentrale Datenbanken gemeldet
werden, sowohl alle Geschäfte der Banken als auch alle
Geschäfte der Realwirtschaft.
Warum machen wir das? Wir haben Lehman Brothers
erlebt. Wir haben gesagt: Unsere wichtigste Aufgabe als
Parlamentarier ist, die Steuerzahler zu schützen. Wir
sind dafür verantwortlich, dass wir Stabilität auf den
Finanzmärkten, aber auch finanzielle Stabilität in den
Haushalten haben. Das ist unsere Richtschnur; an der
orientieren wir uns. Dafür kämpfen wir. Wir wollen Sta-
bilität hier in Deutschland und in Europa haben.
Die Transparenz ist bei diesem Gesetz sehr gelobt
worden, auch von allen Experten von außerhalb. Wir
wissen, dass durchaus neue Risiken damit verbunden
sind, wenn neue Systeme installiert werden. Wir erwar-
ten von unserer deutschen Aufsicht, also vom Ausschuss
für Finanzmarktstabilität, vom Europäischen Ausschuss
für Systemrisiken und auch vom Financial Stability
Board, der international für die Stabilität zuständig ist,
eine sehr scharfe Kontrolle. Das muss genauestens be-
obachtet werden.
Nach mir wird der Kollege Sieling von der SPD spre-
chen. Er wird wie jedes Mal sagen: Das alles reicht nicht
aus.
Die Opposition wird sagen: „Sie in der Regierungskoali-
tion haben einfach zu wenig gemacht“, und wird begeis-
tert sein.
Ich möchte hier einen Satz zitieren:
Anders als manche Oppositionspolitiker behaupten,
lässt sich belegen, was uns in diesen letzten zwölf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26265
Klaus-Peter Flosbach
(C)
(B)
Monaten an Regulierungsmaßnahmen und der
Umsetzung des Prinzips, dass kein Finanzmarktteil-
nehmer, kein Finanzmarktprodukt, kein einzelner
Finanzmarkt ohne Aufsicht und ohne Regelung sein
soll, gelungen ist.
Dieser Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, stammt
von Peer Steinbrück aus dem Jahr 2009. Es war seine
letzte Rede hier im Deutschen Bundestag als Finanz-
minister. Er hat behauptet, er habe bereits alles reguliert.
Die meisten hier gehören dem Finanzausschuss an.
Wir wissen, was in dieser Zeit reguliert worden ist. Es
geht nicht nur um die Frage der Eigenkapitalunter-
legung. Wir alle wissen, dass die Banken inzwischen
eine deutlich höhere Eigenkapitalquote haben, auch
wenn wir noch in der Umsetzungsphase sind, wenn es
darum geht, das europäische Recht hier in Deutschland
zu installieren, weil es die letzte Einigung auf europäi-
scher Ebene noch nicht gibt.
Wir waren die Ersten, die ein Banken-Restrukturie-
rungsgesetz verabschiedet haben,
sodass wir in der Lage sind, Banken zu zerschlagen,
wenn es sein muss. Wir können sie sanieren, aber wir
können sie auch zerschlagen und abwickeln. Wir waren
die Ersten, die Leerverkäufe, also Spekulationsgeschäfte
auf Aktien, auf Staatsanleihen oder auf Kreditversiche-
rungen, verboten haben. Wir haben gemeinsam die
Vergütungsregeln, aber auch die Verbriefungsregeln ge-
ändert. Wir haben die Ratingagenturen reguliert. Wir
sind die Ersten, die den Hochgeschwindigkeitshandel
reguliert haben. Wir sind aktuell dabei, die Hedgefonds-
manager zu regulieren. Wir haben den Anlegerschutz
reguliert. Wir haben die Finanzvermittler reguliert. Wir
haben als Erste in Europa die Honorarberatung vorange-
bracht.
Wir sind wieder einmal diejenigen, die die notwendi-
gen Gesetze vor den anderen europäischen Ländern
verabschieden, weil Stabilität für uns wichtig ist. Wir
brauchen Stabilität für unsere Bürger. Auch das vorlie-
gende Gesetz leistet wieder einen wesentlichen Beitrag
dazu, dass wir in Deutschland mit einem stabilen Fi-
nanzmarkt auf Dauer ein Stück Sicherheit für unsere
Bürger schaffen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Flosbach. – Nächs-
ter Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
ser Kollege Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege
Dr. Sieling.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal möchte ich mich beim Kollegen Flosbach
außerordentlich dafür bedanken, dass er einen Teil
meiner Argumente ausgeführt hat, damit seine Redezeit
geopfert hat und mir die Möglichkeit gibt, weitere Argu-
mente vorzutragen. Vielen Dank dafür! Ebenso danke
ich dafür, dass Sie das Zitat von Peer Steinbrück verle-
sen haben, das auch in meinem Manuskript steht.
Sie haben es allerdings in einen falschen Zusammenhang
gestellt, lieber Herr Kollege.
– Das kann man in der Tat in einen richtigen Zusammen-
hang stellen, und dies will ich sofort tun. – Es war die
Zeit der Großen Koalition, und da war Peer Steinbrück
auch Ihr Finanzminister; das will ich an dieser Stelle sa-
gen. Diese Rede bezog sich insbesondere auf Vorschläge
zur Restrukturierung. Sie hatten später die Gelegenheit,
diese zu einem Restrukturierungsgesetz weiterzuentwi-
ckeln, aber nur deshalb, weil Sie aus dem Hause von
Peer Steinbrück eine gute Vorarbeit hatten; Sie haben ihn
aber damals leider blockiert.
Der entscheidende Zusammenhang – wir wollen ver-
suchen, über das Gesetz selber zu reden – ist, dass auf
dem G-20-Gipfel in Pittsburgh im September 2009 die
Derivateregulierung verabredet und beschlossen worden
war. Darauf bezog sich Peer Steinbrück, als er von Auf-
gaben sprach, die erledigt worden sind. Sie haben aller-
dings drei Jahre gebraucht, um in diesem Haus einen Ge-
setzentwurf vorzulegen. Sie sind zu langsam. Sie haben
die Regulierung verschlafen.
Herr Kollege, dieses Argument, das Sie freundlicher-
weise schon für mich referiert haben, ist so wichtig, dass
ich es hier wiederholen musste. – Das ist das eine Pro-
blem.
Bezogen auf dieses Gesetz – das müssen wir ganz
nüchtern sehen – ist die Leistung, die die schwarz-gelbe
Koalition und die Bundesregierung an dieser Stelle
erbringen, minimal; denn es handelt sich hier um eine
europäische Verordnung.
Es geht um nichts anderes, als diese Verordnung schlicht
und einfach handwerklich in nationales Recht umzuset-
zen und unsere deutschen Gesetze daran anzupassen.
Dass Sie bei dieser relativ simplen Arbeit hier mit großer
Geste auftreten, hat erstens mit Ihrem schlechten Gewis-
26266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Carsten Sieling
(C)
(B)
sen zu tun. Es wurde schon genannt: Sie haben zu lange
geschlafen.
Zweitens hat es damit zu tun, dass Ihnen in den letzten
Wochen das Herz in die Hose gerutscht ist. Seien Sie
doch ehrlich: Ihnen ist das Herz spätestens zu dem
Zeitpunkt in die Hose gerutscht, als Peer Steinbrück mit
seinen Vorschlägen gekommen ist. Das war eine Liste
Ihrer Versäumnisse.
Gestern hat Peer Steinbrück gemeinsam mit dem Kolle-
gen Trittin noch einmal die wesentlichen Punkte ange-
sprochen und herausgearbeitet. Das ist gleichzeitig Ihre
Mängelliste und unsere Aufgabenliste. Sie überlassen
uns das, und wir werden es angehen. Ich sage es noch
einmal. Einführung einer Finanztransaktionsteuer, eine
wirkungsvolle europäische Bankenabgabe, damit wir
Steuerzahler nicht weiter herangezogen werden – das
haben Sie nicht verhindert –, eine Abtrennung des
Investmentbanking und natürlich eine Einschränkung
dieser spekulativen Derivategeschäfte, das sind die Auf-
gaben, vor denen wir stehen.
Der vorliegende Gesetzentwurf zu den Über-den-
Tisch-Geschäften, over the counter – man hat angesichts
der mangelnden Transparenz allerdings den Eindruck,
dass es sich eher um etwas handelt, was unter dem Tisch
stattgefunden hat –, ist schon deshalb dringend notwen-
dig, weil diese Art von Geschäften in den letzten 15 bis
20 Jahren explodiert ist. Es geht international um ein
Volumen von 500 Billionen Euro. Das ist das Zehnfache
der realwirtschaftlichen Leistung, die auf diesem Globus
erzielt wird. Damit sind Blasen verbunden, und eine
große Gefahr für die Stabilität des Finanzmarktes geht
damit einher.
Sie hatten die Aufgabe – kürzlich gab es die erste
Lesung –, dies in ordentliche handwerkliche Arbeit um-
zusetzen. Diese ist, weil Sie so nervös waren, so über-
hastet entstanden, dass es im Finanzausschuss 18 Ände-
rungsanträge der Koalition gab. Allein 15 Anträge hatten
redaktionellen Charakter. Das zeigt, dass nicht sauber
gearbeitet worden ist.
– Es sind einige wesentliche Essentials verändert wor-
den, Herr Kollege. Ich finde es auch gut, dass Sie diese
geändert haben. Sie haben die Nachteilsausgleichsver-
pflichtung gestrichen. Diesen Ansatz teilen wir sehr. Wir
halten diese Maßnahme für eine weitere Verbesserung.
Des Weiteren gibt es Änderungen, die einen besseren
Zugang für die Aufsicht, insbesondere bei der Ermitt-
lung von Preisquellen, ermöglichen.
Ich will hier auch sagen – das dämpft vielleicht Ihre
Erregung –, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen
werden, und zwar vor allem wegen der Notwendigkeit
einer gesetzlichen Regelung, die längst überfällig ist.
Wir brauchen in Deutschland eine Regulierung für Deri-
vate. Wir hätten das Vorhaben schneller umgesetzt, aber
jetzt werden wir dieses Gesetz mittragen.
Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass damit
noch nicht alle Aufgaben erledigt sind. Wir haben ver-
schiedene Themen diskutiert. Ich will es in aller Öffent-
lichkeit sagen: Wenn wir in drei oder vier Jahren hier
feststellen, dass nicht alle Probleme gelöst sind, dann
müssen wir einen anderen Weg finden.
Folgendes ist noch zu sagen. Erstens. Die zentralen
Stationen, die es geben wird und über die die Handels-
vorgänge ablaufen müssen, stellen ein neues Klumpenri-
siko dar. Das ist eine neue Gefahr, die man sehr im Auge
behalten muss. Zweitens. Es ist leider versäumt worden
– die Deutsche Bundesbank hat in der Anhörung dazu
Vorschläge gemacht –, eine Erweiterung von Eingriffs-
und Aufsichtsmöglichkeiten vorzunehmen. Eine solche
Erweiterung wäre gut gewesen. Von Bündnis 90/Die
Grünen lag ein Änderungsantrag hierzu vor. Es wäre
richtig gewesen, diese Erweiterungen vorzunehmen. Ich
sage Ihnen hierzu nur: Wenn es dann an dieser Stelle
brennt, müssen wir dort nacharbeiten und das Gesetz in
diesem Punkt noch stärker und stabiler machen.
Schlussendlich ist es aber so, dass die eigentliche Mu-
sik dann gespielt wird, wenn es um die Entscheidung
geht, welche Derivate – sie haben insgesamt ein Volu-
men von über 500 Billionen Euro – wie behandelt wer-
den. Auch hierüber müssen wir sprechen; denn die ei-
gentliche Musik im Hinblick auf die Frage, was denn
nun unter die strenge Regulierung fallen wird und was
weiter außerhalb laufen darf, wird in Brüssel gespielt.
Diese Entscheidung wird sich unseren Einflussmöglich-
keiten entziehen. Darum richte ich die Aufforderung an
die Bundesregierung, auf der europäischen Ebene ver-
nünftig und handwerklich sauber zu arbeiten.
Wir wollen nicht nur – das ist unser Ziel als Sozialde-
mokraten –, dass möglichst alle Derivate registriert wer-
den – das ist übrigens eine wichtige Voraussetzung für
die Einführung einer Finanztransaktionsteuer –, sondern
wir wollen auch, dass sie standardisiert werden und über
die gemeinsamen Plattformen laufen. Achten Sie darauf,
dass keine Schummelstellen entstehen und es keine Aus-
weichmöglichkeiten gibt, um beispielsweise an Schwel-
lengrenzen vorbeizukommen. Darauf müssen Sie als Re-
gierung aufpassen; denn das Ganze wird in Brüssel
entschieden.
Das ist sozusagen die Musik dieses Gesetzes, das an-
sonsten reine Pflichtarbeit ist. Sie arbeiten hier mit gro-
ßer Geste, um Ihre Versäumnisse insgesamt zu verschlei-
ern. Das wird Ihnen aber nicht helfen. Ich glaube, man
weiß in Deutschland, dass es bei der Finanzmarktregu-
lierung drei Jahre Tiefschlaf gab. Das muss im Septem-
ber nächsten Jahres geändert werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26267
(C)
(B)
Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling.
Lieber Kollege Ralph Brinkhaus, es gibt Worte, die
wir im parlamentarischen Leben vermeiden wollen und
sollen und die auch in den Sitzungen des Finanzaus-
schusses, soweit ich das erlebe, nicht üblich sind. Inso-
fern werden Sie meinen Hinweis in Ihrer Rede nachher
sicherlich aufgreifen.
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Björn Sänger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich glaube, wir sollten die Diskussion ein bisschen
versachlichen und uns einfach einmal vergegenwärtigen,
um was es denn bei dieser Debatte geht.
Wir verabschieden heute – ich denke, das ist unstrittig –
ein wichtiges Gesetz, das für mehr Stabilität an den Fi-
nanzmärkten sorgen wird. Wenn ich die Debatte im Aus-
schuss und das, was der Kollege Sieling heute schon an-
gekündigt hat, richtig interpretiere, dann wird dieses
Gesetz auch eine breite Mehrheit finden oder zumindest
auf wenig Widerspruch stoßen. Insofern kann man si-
cherlich festhalten, dass wir alle im Hause der Meinung
sind, dass es sich um ein wirklich wichtiges Gesetz han-
delt.
Die Umsetzung der EMIR-Richtlinie wird in der Tat
den Derivatemarkt stabilisieren und weniger risikoanfäl-
lig gestalten. Grundsätzlich betrachtet, sind Derivate erst
einmal sinnvolle Finanzinstrumente. Sie verteilen Risi-
ken; sie sorgen im Vergleich zu Basispapieren für eine
Kostenersparnis bei Investoren, und sie erhöhen die Li-
quidität am Markt. Aber es hat sich eben in der Finanz-
krise gezeigt, dass es Unzulänglichkeiten in diesem
Markt gibt. Wir mussten einen Vertrauensverlust auf-
grund der Causa Bear Stearns und der Causa Lehman
Brothers feststellen.
Unsere Aufgabe ist es jetzt schlicht und einfach,
Transparenz bei den Transaktionsvolumina zu schaffen.
Die sogenannten Über-den-Tisch-Geschäfte – in der Tat,
Kollege Sieling, könnte man auch darüber nachdenken,
ob das nicht vielleicht eher Unter-dem-Tisch-Geschäfte
sind –, die OTC-Geschäfte, müssen besser überwacht
werden. Das stellt dieses Gesetz sicher. Die systemge-
fährdenden Kontrahentenrisiken müssen verringert wer-
den. Aber wir müssen insgesamt auch darauf achten,
dass die Straße, die wir bauen, so beschaffen ist, dass
auch noch gerne darauf gefahren wird und nicht gesagt
wird: Die Kosten für das Befahren dieser Straße sind so
hoch; wir suchen uns lieber andere Wege.
Ich sagte es anfänglich schon: Derivate sind Dual-
Use-Güter; man kann sie gut oder schlecht verwenden.
Sie ähneln damit gewissermaßen dem Unimog, einem
Fahrzeug, das die Kommunen jetzt in der Winterzeit ein-
setzen, um die Straßen freizumachen, das aber eben auch
im Armeedienst eingesetzt werden kann.
Die Intransparenz dieser OTC-Geschäfte – ich sagte
es bereits – liegt quasi in der Natur der Sache. Deshalb
schaffen wir jetzt zentrale Gegenparteien. Diese zentra-
len Gegenparteien wickeln diese Geschäfte besichert ab.
Es wird ein zentrales Transaktionsregister geben. Aber
auch an die Geschäfte, die nicht über eine zentrale Ge-
genpartei abgewickelt werden müssen, werden höhere
Anforderungen hinsichtlich der Sicherung und des Risi-
komanagements gestellt werden.
Damit sind wir zwei zentrale Probleme angegangen.
Erstens haben wir damit das Informationsdefizit abge-
baut. Zukünftig wird transparent sein, wer was wann ge-
macht hat. Es wird sich ein Gesamtbild ergeben, sodass
das Misstrauen reduziert wird. Wir werden zweitens das
Gegenparteiausfallrisiko absichern. Das ist in der Welt
der bilateralen Geschäfte bisher unzureichend gesche-
hen. Deswegen wird es die zentralen Gegenparteien ge-
ben. Die Geschäfte können also nur über Clearing Mem-
bers – das sind häufig sehr große Geldinstitute –
entsprechend abgesichert werden.
An dieser Stelle haben wir eine wichtige Änderung an
dem Gesetzentwurf vorgenommen, indem wir die soge-
nannte Nachteilsausgleichsverpflichtung im Insolvenz-
fall gestrichen haben. Damit haben gerade wir als Libe-
rale uns nicht leicht getan; das möchte ich an dieser
Stelle sagen. Denn das ist natürlich ein Eingriff in die
Grundordnung des Insolvenzrechts; die anderen Gläubi-
ger werden benachteiligt. Aber bei einer ökonomischen
Betrachtung des Sachverhalts muss man feststellen, dass
die entsprechenden Summen dieses Geschäftes in der In-
solvenzmasse eigentlich nichts zu suchen haben. Man
kann es im Prinzip wie ein Treuhandgeschäft begreifen;
denn wir zwingen letztendlich denjenigen, der das Ge-
schäft abschließt, geradezu dazu, es über eine zentrale
Gegenpartei – über ein entsprechendes Kreditinstitut,
über eine Bank – abzuwickeln.
Schon die Möglichkeit der Vertragsübertragung im
Insolvenzfall auf ein anderes Clearing Member stellt ei-
gentlich einen Eingriff in das Insolvenzrecht dar. Wir ha-
ben uns bei der Abwägung „Grundordnung des Insol-
venzrechts erhalten oder Finanzmarkt stabilisieren“
tatsächlich dafür entschieden, den Finanzmarkt zu stabi-
lisieren – natürlich auch in dem Wissen, dass möglicher-
weise Abwanderungen der entsprechenden Anbieter aus
dem deutschen Markt in andere Länder drohen, in denen
es ein Insolvenzrecht wie in Deutschland nicht gibt. Wir
haben damit dazu beigetragen, dass die Too-big-to-fail-
Problematik im Bankenbereich ein Stück weit abgebaut
wurde.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Wir sichern den Ein-
satz von Derivaten für die Realwirtschaft – gerade auch
im Bereich von kleineren und mittleren Unternehmen –,
indem wir die Schwellenwerte, ab denen spezielle Son-
derprüfungen durchgeführt und Prüfungsberichte ange-
fertigt werden müssen, von 10 auf 100 Millionen Euro
hochsetzen. Wir sind der Auffassung, dass wir uns in
diesem Bereich noch in der Realwirtschaft bewegen und
26268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Björn Sänger
(C)
(B)
die Risiken überschaubar sind. Dabei handelt es sich um
Unternehmen, die, wie Kollege Flosbach schon sagte,
Zinsrisiken und Währungsrisiken absichern. Es liegt ja
auch eine Studie des Deutschen Aktieninstituts vor, die
zeigt, dass diese Risiken im Prinzip handelbar sind, zu-
mal alle diese Geschäfte über Banken abgewickelt und
damit gewissermaßen indirekt erfasst werden. Insofern
ist das jetzt ein Beitrag zur Entlastung bei den Bürokra-
tiekosten.
Jetzt hat der Kollege Sieling – ich kündige schon ein-
mal an: jetzt werde ich wieder unsachlich –
von den Änderungsanträgen gesprochen. In der Tat gab
es 18 Änderungsanträge, von denen aber 16 der Tatsache
geschuldet sind, dass in Brüssel die CRD-IV-Umsetzung
schlichtweg noch nicht so weit ist, wie wir dachten, und
wir insofern logischerweise dieses Gesetz, das eigentlich
erst nach der CRD-IV-Umsetzung auf die Schiene ge-
setzt werden sollte, korrigieren mussten. Die CRD-IV-
Richtlinie ist in Deutschland noch nicht umgesetzt. Des-
halb kann man im EMIR-Ausführungsgesetz natürlich
nicht darauf verweisen. Nur zwei der 18 Änderungsan-
träge – ich habe sie eben genannt: die Änderungsanträge
zur Nachteilsausgleichsverpflichtung und zu den Schwel-
lenwerten – führen tatsächlich zu materiellen Änderun-
gen am Gesetz. Insofern, Herr Kollege Sieling, fand ich
das, was Sie hier gesagt haben, nicht ganz fair.
Zu Ihrem zweiten Vorwurf, dass die ganze Geschichte
zu lange gedauert habe: Am 4. Juli 2012 – das ist keine
sechs Monate her – ist die EMIR-Verordnung auf euro-
päischer Ebene angenommen worden; am 16. August ist
sie in Kraft getreten. Ich muss sagen: Vom 16. August
bis zum 13. Dezember, also bis wir das Baby in Deutsch-
land sozusagen zur Welt gebracht haben, ist nicht sehr
viel Zeit vergangen; als langsam kann ich das nicht be-
zeichnen. Insofern müssen Sie Ihre Beschwerden in
Brüssel abladen. Sie waren ja am Montag und Dienstag
mit Ihrer ganzen Truppe vor Ort. Ich hoffe, Sie haben
das dort auch getan
und haben sich nicht nur mit Schokolade, Bier und Pom-
mes beschäftigt.
Diese Koalition hat inzwischen die Ratingagenturen,
die Kreditverbriefungen, die Boni und die Investment-
fondsbranche reguliert; wir haben die Regulierung des
Hochfrequenzhandels auf die Schiene gesetzt, haben ein
Bankenrestrukturierungsgesetz geschaffen und Leerver-
käufe untersagt – um nur einiges von dem, was hier in
den letzten dreieinhalb Jahren passiert ist, beispielhaft zu
nennen. Sie von der SPD haben dazu nichts beigetragen.
Ihr Kanzlerkandidat hat sich heute früh in der Debatte
zur Regierungserklärung nicht geäußert. Ich frage mich,
wo er heute ist, da die Finanzregulierung für die Sozial-
demokraten doch so ein wichtiges Thema ist.
Ich kann Ihnen anbieten, demnächst eine Sammel-
büchse herumgehen zu lassen, damit wir ihn möglicher-
weise dazu bewegen können, hier zu uns zu sprechen.
Ich kann allerdings nicht zusagen, dass sich ein ansehnli-
cher Betrag ergibt. Ganz ehrlich: Seine Reden sind das
Geld auch nicht wert.
Herzlichen Dank.
Das war unser Kollege Björn Sänger. – Nächster Red-
ner ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Axel
Troost. Bitte schön, Kollege Dr. Axel Troost.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ein paar Jahren herrschte an den Finanzplätzen der Wall-
Street, in London und in Frankfurt ein frivoler Über-
schwang. Die Finanzwirtschaft feierte die große Party.
Es gab damals schon einige Spaßbremsen, die sich be-
schwerten; aber das Ordnungsamt konnte nichts machen,
weil die Gesetze fehlten. Am Ende gab es den großen
Knall, weil der Schnaps gepanscht war und obendrein
niemand die Rechnung begleichen wollte.
Dann war die Party zu Ende. Der Staat und die Steuer-
zahlerinnern und -zahler durften das Aufräumen über-
nehmen. Die Finanzwirtschaft hat die Musik etwas leiser
gestellt, aber vom Umfang her geht die Party genauso
weiter wie bisher.
Heute geht es um Derivate.
Mit Derivaten kann man mit wenig Einsatz große Volu-
men bewegen. Sie versprechen hohe Renditen bei ho-
hem Verlustrisiko. Fehlspekulationen enden leicht im
Ruin. Mit Derivaten – das ist heute mehrfach gesagt
worden – lassen sich Risiken absichern. Hauptsächlich
dienen sie aber heute als Finanzwetten. Mit komplexen
Derivaten wurden Risiken verschleiert; Derivate wurden
gutgläubigen und geldgierigen Käufern angedreht. In der
Finanzkrise spielten Derivate eine große Rolle.
Es ist heute schon gesagt worden – das ist wirklich
ein zentraler Punkt –: Wir haben inzwischen ein welt-
weites Derivatevolumen in einer Größenordnung von
600 bis 650 Billionen Euro; das ist das Neun- oder Zehn-
fache des Weltsozialprodukts. Da kann in einer sachli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26269
Dr. Axel Troost
(C)
(B)
chen Debatte niemand sagen, das diene der Absicherung
der Realwirtschaft, also dazu, realwirtschaftliche Ge-
schäfte abzusichern. Vielmehr sind Derivate heute ein
ganz zentrales Element, das riesige Spekulationen er-
möglicht. Das muss aus unserer Sicht beendet werden.
Worüber reden wir heute konkret? 2013 tritt in der EU
die Verordnung EMIR in Kraft. Nun muss in Deutsch-
land mit einem entsprechenden Ausführungsgesetz eine
Anpassung vorgenommen werden. Daran war der Bun-
destag bisher nicht beteiligt. Insofern reden wir über eine
Umsetzungsverordnung. Die BaFin wird zur zuständi-
gen Aufsichtsbehörde, Sanktionen werden festgezurrt,
und viele Details werden vernünftig geregelt.
EMIR bringt sicherlich neue Transparenzvorschriften.
Künftig müssen standardisierte Derivate über soge-
nannte Clearinghäuser, also feste Einrichtungen, abge-
wickelt werden. Das ist vom angelsächsischen Finanz-
markt abgeschaut. Aber – das ist schon angesprochen
worden – das birgt einige Risiken, weil diese Clearing-
häuser jetzt systemrelevant werden. Wenn die Siche-
rungsleinen reißen, dann werden wieder die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler dafür geradestehen müssen.
Gegenüber dem heutigen Wildwestregime ist EMIR
eindeutig eine Verbesserung, darüber sind wir uns einig.
Ich möchte noch einmal auf das Volumen zurückkom-
men. Wir haben mehrfach gehört, wie toll Derivate sind
für den Mittelstand, für die Riester-Sparer und für die
Bauern, die ihre Ernte absichern, und für viele andere.
Wenn wir uns aber die Welt der real existierenden Deri-
vate anschauen, dann stellen wir fest, dass viele aus-
schließlich Zockerprodukte sind.
Ich will das an einem Beispiel festmachen. Nehmen
wir einmal an, ich hätte vom Derivateverband einen Ad-
ventskalender mit 24 Türchen geschenkt bekommen.
Hätte ich das erste Türchen aufgemacht, dann hätte ich
dahinter ein CDO gefunden. Das ist das Instrument, mit
dem faule Häuserkredite in den USA aufgekauft und
dann weltweit verteilt worden sind. Hätte ich das zweite
Türchen aufgemacht, hätte ich vielleicht ein CDO-
squared gefunden, also ein CDO von einem CDO, ein
reines Spekulationsprodukt.
Hinter dem dritten Türchen wäre vielleicht ein Credit
Ladder Swap gewesen. Das ist ein Produkt, mit dem
Kommunen über den Tisch gezogen worden sind.
Hinter dem sechsten oder siebten Türchen hätten wir
ein Rohstoff-Future gefunden, also ein vernünftiges, re-
lativ schlichtes Termingeschäft. Aber wenn dieses Pro-
dukt von einem Hedgefonds genutzt wird, der es nach
30 Minuten wieder glattstellt – er nutzt es also nicht, um
wirklich etwas abzusichern –, dann wären wir wieder im
spekulativen Bereich. An Heiligabend wäre hinter dem
entsprechenden Türchen ein Instrument gewesen, das
dazu dient, dass ein Unternehmen sein Wechselkursri-
siko durch ein Derivat absichern kann.
Das zeigt das Problem. Es geht nicht nur darum, bes-
ser zu regulieren und die Regulierung über eine Platt-
form zu machen, sondern es muss auch darum gehen,
diese Geschäfte insgesamt massiv herunterzufahren,
weil sie Unsicherheit in den Kapitalmarkt bringen und
weil sie nach wie vor zu großen spekulativen Verlusten
führen.
Wir bleiben dabei: Wir brauchen so etwas wie einen
Finanz-TÜV. Es muss Schluss damit sein, dass alles an
Derivaten möglich ist, was nicht verboten wird. Viel-
mehr brauchen wir eine Genehmigungsbehörde, die be-
stimmt: Welche Art von Derivaten ist zulässig – die
wollen wir haben, die brauchen wir auch für die Real-
wirtschaft –, und welche ist es nicht? Bestimmte Deri-
vate dürfen erst gar nicht auf den Markt kommen. Ein
Finanz-TÜV würde auch auf die Akteure, die auf den Fi-
nanzmärkten aktiv sind, regulierend wirken. Eine Bank
mit einer Niederlassung in einer Steueroase bekäme zum
Beispiel von einer solchen TÜV-Einrichtung gar keine
Zulassung. Ein Finanz-TÜV würde sich auch endlich
mit dem Thema Schattenbanken beschäftigen. Sie trauen
sich an dieses Thema ja nicht heran, obwohl dieses Pro-
blem immer größer wird. Das ist von der Präsidentin der
BaFin schon angesprochen worden.
Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über
diesen Gesetzentwurf enthalten. Es geht sicherlich in die
richtige Richtung, das heißt, mehr Transparenz zu schaf-
fen. Wenn Sie an die Volumina nicht herangehen, haben
wir zwar viel Transparenz, aber weiterhin hochspekula-
tive Produkte, und die müssen eingedämmt werden.
Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Dr. Axel Troost. – Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen un-
sere Kollegin Frau Lisa Paus. Bitte schön, Frau Kollegin
Lisa Paus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Europäischen Marktinfrastrukturregulation für Deri-
vate, kurz: EMIR, und ihrer Umsetzung in deutsches
Recht wird endlich ein Mindestmaß an Regulierung und
Transparenz auf dem billionenschweren und bisher völ-
lig unregulierten europäischen Derivatemarkt geschaf-
fen. Das ist zu begrüßen. Das ist tatsächlich ein Fort-
schritt; darüber herrscht auch Einigkeit in diesem Haus.
Es ist mehr als überfällig, dass künftig sämtliche De-
rivate an sogenannte Transaktionsregister gemeldet wer-
den müssen, sodass die Aufsicht hoffentlich endlich ei-
nen besseren Überblick über Vernetzungen und Risiken
auf dem Derivatemarkt erhält, etwa hinsichtlich hoher
offener Positionen einzelner Akteure. Wir haben gerade
noch geflachst: Wir wissen einfach nicht, ob es weltweit
500 Billionen oder 700 Billionen Euro oder vielleicht
26270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Lisa Paus
(C)
(B)
noch mehr sind. Mit diesem Gesetz wird eine Grundlage
gelegt, um Abhilfe zu schaffen.
Es ist richtig, dass standardisierbare Derivate künftig
über sogenannte Clearinghäuser abgewickelt werden
müssen, sodass das Ausfallrisiko künftig zentral gema-
nagt und beaufsichtigt wird. Ansteckungseffekte können
so im besten Fall vermieden werden. Trotzdem muss
auch ich Wasser in den Wein gießen und die Lobeshym-
nen der Koalition relativieren:
Erstens. Diese neuen Clearinghäuser wachsen als so-
genannte zentrale Gegenparteien zu zentralen Spielern
mit hoher systemischer Relevanz heran. Wir haben
plötzlich neue systemrelevante Spieler auf den interna-
tionalen Finanzmärkten, und das ist problematisch. Wir
wissen aus der Bankenkrise ja, welche großen Gefahren
von systemrelevanten Instituten ausgehen. So hat der Vi-
zechef der Bank of England, Herr Tucker, kürzlich ge-
warnt, die Pleite einer solchen zentralen Gegenpartei
könne weit schlimmere Auswirkungen auf die System-
stabilität haben als die Insolvenz einer internationalen
Großbank.
Auch Frau Dr. König, BaFin-Chefin, warnte im Juni,
„too big to fail“ sei auch bei den zentralen Gegenpar-
teien ein Problem. Zwar sieht das Umsetzungsgesetz
weitreichende Eingriffsmöglichkeiten der Aufsicht vor,
um die Schieflage einer zentralen Gegenpartei abzuwen-
den – das ist schon richtig –, aber es gelingt letztlich
nicht, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler glaubhaft
vor neuen milliardenschweren Haftungszwängen zu
schützen. Das ist ganz klar die Kehrseite der vorliegen-
den Regulierung. Für dieses Problem hat die Bundesre-
gierung, haben Sie von der Koalition noch nicht einmal
eine überzeugende Lösung für die Zukunft in Aussicht
gestellt.
Zweitens. Wir befürchten, dass die zentralen Gegen-
parteien prozyklisch wirken, die Ausschläge im Konjunk-
turzyklus also nach oben und unten verstärkt werden, was
wiederum zu gefährlichen Folgeproblemen für die Sys-
temstabilität führen kann. Diese Einschätzung – das
wurde schon erwähnt – haben nicht nur wir, sondern auch
die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel,
das European Systemic Risk Board und die Bundesbank.
Das haben alle Sachverständigen in der entsprechenden
Anhörung gesagt.
Man hätte leicht die nötigen Instrumente zum Gegen-
steuern schaffen können. Wir haben auch entsprechende
Vorschläge unterbreitet; Kollege Sieling hat bereits da-
rauf hingewiesen. Wir haben einen Änderungsantrag
vorgelegt. Sie haben dem nicht zugestimmt. Wir können
nach wie vor überhaupt nicht nachvollziehen, was Sie da
geritten hat.
Drittens. Auch wenn zentrale Clearinghäuser für De-
rivate einen Beitrag zu mehr Transparenz und System-
stabilität leisten können, ist am heutigen Tage noch völ-
lig offen, wie groß dieser Beitrag tatsächlich sein wird.
Es ist eben nicht so, dass zukünftig alle Derivate in die-
sen zentralen Clearinghäusern gecleart werden. Es wird
weiterhin standardisierte Produkte geben, die gecleart
werden, aber es wird daneben weiterhin auch nichtstan-
dardisierte Derivate und Kontrakte geben, die nicht in
diesen Clearinghäusern gecleart werden.
Heute ist noch völlig offen, wie viele Derivate zentral
gecleart werden und wie viele nicht. Das hängt von den
Ergebnissen der Verhandlungen zu Basel III ab. Vorgese-
hen ist, dass die Eigenkapitalunterlegung für nichtstan-
dardisierte Produkte – vielleicht – höher sein muss. Wir
wissen es heute aber nicht. Daher ist völlig offen, ob wir
diese Konstruktion am Ende des Tages für 10, für 20, für
50 oder für 70 Prozent der real existierenden Derivate
geschaffen haben. Wir kaufen sozusagen die Katze im
Sack. Damit bleibt die Relevanz der heutigen Beschluss-
lage noch sehr im Ungefähren und im Ungewissen.
Viertens. Die Entscheidung der Bundesregierung, die
Aufsicht über die zentralen Gegenparteien letztlich na-
tional zu organisieren, halte ich ebenfalls für völlig
falsch. Das Europäische Parlament forderte hier eine
starke Rolle der ESMA, der entsprechenden europäi-
schen Aufsichtsbehörde. Denn es ist völlig klar: Zentrale
Gegenparteien werden grenzüberschreitendes Geschäft
betreiben. Deshalb wäre eine echte Aufsicht auf europäi-
scher Ebene folgerichtig gewesen. Genau das aber hat
der Europäische Rat mit Unterstützung der Bundesregie-
rung verhindert. Letztlich wiederholen Sie hier die Feh-
ler, die Sie bereits bei der Bankenaufsicht begangen
haben. Sie haben jetzt angefangen, Ihre Haltung zu revi-
dieren. Herr Flosbach hat eben darauf hingewiesen, wie
gut es sei, dass wir endlich zu einer europäischen Ban-
kenaufsicht kommen. Es wird sich auch in diesem Punkt
über kurz oder lang rächen, dass Sie hier erst einmal den
nationalen Weg gehen wollen.
Deswegen wird sich meine Fraktion enthalten.
Zum Schluss möchte ich noch einen kurzen Ausblick
wagen. Sollten sich die zentralen Gegenparteien doch
bewähren – dies hoffe ich und dies wünsche ich mir –,
dann sollten wir darüber nachdenken, nach den Deriva-
ten auch das Interbankengeschäft auf zentrale Gegenpar-
teien zu übertragen. Hier besteht nach meiner Einschät-
zung weiterer Handlungsbedarf, um Ansteckungseffekte
infolge von Adressausfällen zu begrenzen. Die zentralen
Gegenparteien könnten auch hier eine Antwort sein, zu-
mindest wenn es richtig gemacht wird und es gelingt,
ihre systemischen Risiken in den Griff zu bekommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lisa Paus. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26271
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
(B)
CDU/CSU unser Kollege Peter Aumer. Bitte schön, Kol-
lege Peter Aumer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Wir diskutieren über die Umsetzung
der EMIR-Verordnung. Der Berichterstatter des Euro-
päischen Parlaments, unser Kollege Werner Langen, hat
diese Verordnung als ein Herzstück der Finanzmarktre-
gulierung bezeichnet. Lieber Herr Kollege Sieling, ich
verstehe daher nicht, dass Sie, wenn Sie heute schon in
Ihrer Rede von Zusammenhängen sprechen, nicht versu-
chen, Ihren Kanzlerkandidaten zumindest ein bisschen
im Glanz des Lichtes dastehen zu lassen.
Wir, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, haben nicht langsam gearbeitet, und wir ha-
ben nichts verschlafen. Vielmehr waren wir es, die in
den letzten drei Jahren hart gearbeitet haben.
Wir haben bisher 20 Gesetze im Bereich der Finanz-
marktregulierung umgesetzt. Weitere sind in Arbeit. Vor
zwei oder drei Monaten hat der Kanzlerkandidat der
SPD ein Konzept vorgelegt, in dem es um all die Dinge,
die wir schon umgesetzt haben oder an denen wir arbei-
ten, geht.
– Ja, Sie dürfen jetzt ruhig zugeben, dass es so ist. – Er
hat nichts Neues vorgelegt. Sein Konzept enthält keine
wesentlichen neuen Inhalte. Trotzdem wollen Sie uns
vorwerfen, wir hätten Maßnahmen verschlafen. Das,
meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, ist
schon fast peinlich.
Wir arbeiten ganz intensiv an der Regulierung des Fi-
nanzmarktes, um ihn zu bändigen. Dazu trägt das EMIR-
Ausführungsgesetz bei. Die OTC-Derivate waren eine
Hauptursache der Finanzmarktkrise, weil – das ist heute
schon angesprochen worden – Transparenz und Eigen-
kapitalunterlegung bei diesen Geschäften fehlten. Heute
geht es darum, diesen unübersichtlichen billionenschwe-
ren außerbörslichen Derivatemarkt zu regulieren. Am
Tag der Lehman-Pleite waren US-Angaben zufolge nur
1,24 Prozent dieser Geschäfte und Wetten im Interban-
kenverkehr in den Bilanzen der US-Institute erkennbar.
Der Derivatehandel hat ein immenses Volumen. Die
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich – die Kolle-
gin hat es schon angesprochen – schätzte für das Jahr
2011 ein Volumen von nominal etwa 707 Billionen US-
Dollar. Das ist eine bedenkliche Zahl. Gerade deswegen
ist es in diesen unsicheren Zeiten wichtig und erforder-
lich, die OTC-Derivate zu regulieren.
Lieber Kollege Troost, in einigen Punkten sind wir
uns durchaus einig, zum Beispiel darin, dass die Regu-
lierung von Derivaten wichtig ist. Ich glaube, das ist uns
allen ein wichtiges Anliegen.
Die Derivate, die für die Realwirtschaft wichtig sind,
dürfen allerdings nicht überreguliert werden. Die deut-
sche Exportwirtschaft sichert sich durch Derivate zum
Beispiel gegen Wechselkurs-, Zins- und Preisschwan-
kungen ab. Wir haben uns Mühe gegeben, eine gute
Lösung zu finden, durch die Derivate nicht überreguliert
werden.
Um die negativen Eigenschaften von Derivaten, die
von allen angesprochen worden sind, zu bändigen, haben
die G 20, auch auf Druck von Bundeskanzlerin Angela
Merkel, auf dem Gipfel in Pittsburgh Entscheidungen
getroffen, zum Beispiel dass erstens alle standardisierten
OTC-Derivatekontrakte bis spätestens 2012 über eine
zentrale Gegenpartei gecleart und dass zweitens OTC-
Derivatekontrakte an Transaktionsregister gemeldet
werden sollen. All diese Dinge setzen die EU und die
Bundesregierung jetzt pünktlich um. Mit Verschlafen,
sehr geehrter Herr Dr. Sieling, hat das nichts zu tun.
Wir arbeiten hart an der Finanzmarktregulierung, ge-
meinsam mit der Europäischen Kommission. Die Bun-
desregierung ist ein verlässlicher Partner auch der deut-
schen Banken, auch des deutschen Finanzmarktes,
gerade was die Vertretung der deutschen Eigenheiten
betrifft. Wir sind nicht nur einmal in Brüssel gewesen
– wie das bei der AG Finanzen der SPD vielleicht der
Fall gewesen ist –, wir sind sehr regelmäßig, lieber
Klaus-Peter Flosbach, in Brüssel und versuchen, unsere
Meinung auf europäischer Ebene einzubringen. Denn je
früher und je besser wir deutsche Interessen vertreten
– das sollte unser gemeinsames Ziel sein –, desto besser
können wir die Eigenheiten des deutschen Finanzmark-
tes in die Debatte in Brüssel mit einbringen.
Mit dem heute zu beschließenden EMIR-Ausfüh-
rungsgesetz leisten wir einen weiteren wichtigen Beitrag
zur Regulierung der Finanzmärkte.
Liebe Frau Kollegin Paus, Sie haben vorhin gesagt,
Ihnen fehle eine überzeugende Lösung.
Ich habe bei Ihrer Rede aufgepasst, auch wenn ich nicht
mitgezählt habe, wie oft Sie gesagt haben: Wir wissen es
heute aber noch nicht. – Als Regierung, die wir in der
Verantwortung sind, müssen wir heute diese Regulierun-
gen auf den Weg bringen. Das Wesentliche ist, dass wir
als unseren Auftrag die Verantwortung sehen, für die
Menschen in unserem Land die Finanzmärkte zu regulie-
ren.
26272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Peter Aumer
(C)
(B)
Das Wissen ist sicherlich nicht alles; das Tun ist das Ent-
scheidende. Deswegen finde ich es sehr schade, dass Sie
sich heute bei diesem für die Regulierung der Finanz-
märkte doch wesentlichen Gesetz enthalten.
Wir halten uns daran, was wir den Menschen in unse-
rem Land versprochen haben:
dass kein Markt, kein Teilnehmer und kein Produkt un-
reguliert bleiben darf. Um die notwendige Transparenz,
Sicherheit und Stabilität auf den Finanzmärkten weiter
herstellen zu können, bitte ich Sie, meine sehr geehrten
Damen und Herren, um Zustimmung zu diesem Gesetz;
vielleicht können Sie sich das noch überlegen. Dieses
Gesetz ist nämlich ein wesentlicher Schritt in die richtige
Richtung.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Aumer. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der Sozialdemokraten: Kollege
Manfred Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred
Zöllmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Flosbach, Sie haben Ihre Rede damit
begonnen, dass Sie gesagt haben, der Finanzminister
habe das, was die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
bezüglich der Bankenaufsicht gefordert haben, nun um-
gesetzt. Dazu fällt mir nur ein, zu sagen: Die Koalitions-
fraktionen sind offenkundig als Torpedo gestartet und als
Flaschenpost angekommen.
Es ist vereinbart worden, dass die EZB in Zukunft
Durchgriffsrechte bis auf die letzte Sparkasse hat.
Vergleichen Sie das einmal mit Ihrem Antrag!
Sie haben auch gesagt, eine Rekapitalisierung von
Banken durch den ESM komme für Sie überhaupt nicht
infrage. Doch genau das ist vereinbart worden.
Es tut mir leid: Da müssen Sie Ihren Finanzminister
demnächst besser vorbereitet auf den Weg schicken.
Spekulative Geschäfte mit Derivaten haben die Fi-
nanzkrise zwar nicht verursacht, sie stehen aber in dem
Verdacht – und ich glaube, dieser Verdacht ist richtig –,
die Finanzkrise massiv beschleunigt zu haben. Bisher
sind die Akteure auf diesem riesigen Markt, der sich von
1990 bis 2009 etwa um den Faktor 120 vergrößert hat, in
sogenannte Dark Pools geflüchtet. Das heißt, man wollte
die Geschäfte ohne Transparenz und ohne irgendeine
Aufsicht machen; man wollte verschleiern und verste-
cken.
Deshalb ist es natürlich wichtig, dass eine wesentliche
Forderung ist, Transparenz in diese Geschäfte zu brin-
gen. Die Abwicklung über zentrale Clearingstellen und
die Dokumentation in Transaktionsregistern werden in
Zukunft für Transparenz sorgen. Dieser Überblick über
die Märkte wird die Aufsicht überhaupt erst in die Lage
versetzen, in diese bisher unregulierten Bereiche einzu-
greifen.
Auch wir hätten uns gewünscht, dass die Aufsichtsbe-
hörden hier noch stärkere Eingriffsmöglichkeiten gehabt
hätten. Deswegen haben wir dem Antrag der Grünen
auch zugestimmt. Die Koalitionsfraktionen sind dieser
Forderung aber leider nicht gefolgt.
Zentrale Gegenparteien sind für die Stabilität von
Finanzmärkten von herausragender Bedeutung. Dies
wird alleine durch das Volumen auf den Derivatemärk-
ten deutlich. Sie übernehmen Risiken aus Finanzmarkt-
transaktionen und betreiben ein System, das die Sicher-
stellung der eingegangenen Verpflichtungen einfordert.
Wenn die Bedeutung zentraler Gegenparteien aber so
stark aufgewertet wird, dann können sehr schnell neue
Risiken entstehen. Dort werden dann Ausfallrisiken ku-
muliert, und es entstehen erneut systemische Risiken.
Die Insolvenz zentraler Gegenparteien ist bereits Reali-
tät gewesen. Wir bewegen uns damit also nicht im
Bereich der Spekulation.
Nach unserer Auffassung wird diesem möglichen
Risiko vonseiten der Koalitionsfraktionen aber nicht die
notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Hier hätte mehr
erfolgen müssen.
Die Krisenszenarien werden sich nicht eins zu eins wie-
derholen. Es muss deshalb verhindert werden, dass das,
was ich eben beschrieben habe, die Ursache für die
nächste große Finanzmarktkrise ist.
Herr Brinkhaus, Sie werden ja auch noch reden. In
der ersten Debattenrunde haben Sie die Gesetzgebung,
über die wir heute abstimmen, als „epochales Regulie-
rungswerk“ bezeichnet. Epochal wäre es allerdings,
wenn die Verursacher der Krise tatsächlich an den
Kosten der Krise beteiligt würden.
Bei dieser Aufgabe versagt die Koalition allerdings auf
ganzer Linie.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26273
(C)
(B)
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster
Redner – er ist eben vom Kollegen Zöllmer schon ange-
kündigt worden –: Ralph Brinkhaus für die Fraktion der
CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
Herr Präsident! Die Worte von eben sind wohl ange-
kommen, und ich werde meinen Furor in Zukunft
zügeln, wobei der Furor noch immer relativ groß ist;
aber darauf werde ich gleich eingehen.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über
die Umsetzung von EMIR, wie es, kurz genannt, heißt.
Damit werden die OTC-Derivatemärkte reguliert. Das
ist die Umsetzung einer EU-Verordnung; sie beseitigt
einen weißen Fleck auf der Regulierungslandkarte. Inso-
fern, lieber Kollege Zöllmer, ist diese Geschichte schon
epochal. Es ist ein Zusammenwirken von deutscher und
in erster Linie auch europäischer Gesetzgebung, und ich
denke, es ist auch in Ordnung, dass wir das auf europäi-
scher Ebene regeln.
Es gibt zu dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bun-
desregierung in der Tat einige Umdrucke. Lieber Herr
Sieling, ich denke, Sie werden es noch einmal nachge-
schaut haben: Die meisten Umdrucke sind technischer
Art. Dazu kam es deswegen, weil unsere Kollegen auf
europäischer Ebene mit Basel III/CRD IV nicht fertigge-
worden sind. Insofern bestand bei mir Furor, und ich
habe gesagt: Dies liegt nicht an handwerklichen Fehlern
an dieser Stelle, sondern beruht auf Notwendigkeiten,
für die weder die Bundesregierung noch sonst jemand
etwas kann. Ich denke, das sehen Sie nach dem Nachprü-
fen mittlerweile auch so.
Wir haben zwei politische Änderungswünsche in die-
sem Gesetzentwurf untergebracht: Zum einen ging es
um den Nachteilsausgleich; der Kollege Sänger hat
schon darauf hingewiesen. In Bezug auf die Systematik
des Insolvenzrechtes und auf die Stabilität des Finanz-
marktes gibt es hier in der Tat einen Wertungswider-
spruch. Da die Systematik des Insolvenzrechtes an die-
ser Stelle aber nur ganz leicht und wahrscheinlich auch
ohne jegliche faktische Auswirkung durchbrochen wird,
haben wir an dieser Stelle gesagt, dass die Stabilität des
Finanzmarktes für uns wichtiger ist.
Ein Zweites ist auch ganz wichtig – denn dies bedeutet
Bürokratieabbau für die mittelständische Wirtschaft –: Es
gibt auch für Unternehmen der Realwirtschaft eine
Prüfungspflicht bezogen auf die Frage, wie sie mit ihren
Derivaten umgehen. Ursprünglich war hier eine
Schwelle von 10 Millionen Euro vorgesehen. Das hätte
viele Tausend Unternehmen betroffen, die einen Prü-
fungsbericht hätten anfertigen lassen müssen. Wir glau-
ben, dass es vertretbar ist, diese Schwelle auf 100 Mil-
lionen Euro hochzusetzen. Denn wir wollen gerade nicht
die Derivategeschäfte treffen, die aus gutem Grund getä-
tigt werden, nämlich um realwirtschaftliche Vorgänge
abzusichern. So weit, so gut.
Nun zum EMIR-Ausführungsgesetz. Dieses Gesetz
steht am Ende eines langen Regulierungsjahres. Wir ha-
ben weit über 30 Debatten zu diesem Thema hier im
Deutschen Bundestag geführt, das heißt in jeder Plenar-
woche mehr als eine Debatte. Im Grunde ist das sympto-
matisch für das, was wir während der gesamten Legis-
laturperiode gemacht haben. Wir haben hart an der
Regulierung des Finanzmarktes gearbeitet – mit unter-
schiedlichem Erfolg: Manchmal sind wir sehr weit ge-
kommen. An der einen oder anderen Stelle sind wir nicht
so weit gekommen, wie wir das gewollt haben.
Ich würde mir wünschen – jetzt geht mein Blick noch
einmal zu den Kollegen von der SPD, zu Frau Paus von
den Grünen und zu den Linken –, dass wir uns mehr
fachlich mit den Dingen beschäftigen, als immer wieder
pauschal zu sagen: Ihr seid zu langsam und hättet mehr
machen müssen. – Wir würden uns wünschen, dass wir
einmal tatsächlich eine fachliche Auseinandersetzung
über ein Gesetz führen und uns über einzelne Details
sachlich unterhalten könnten und dass wir es gemeinsam
schaffen könnten, die Finanzmarktregulierung besser zu
gestalten, anstatt in den Reden, wie Sie dies immer wie-
der tun, ein Gegeneinander aufzubauen.
Meine Damen und Herren, wenn wir dieses Jahr ein-
mal Revue passieren lassen, können wir das, was wir
machen, in verschiedene Kategorien einteilen. Wir ha-
ben zum einen nationales Recht geschaffen. Dazu gehört
die Neuordnung der deutschen Finanzaufsicht. Dazu ge-
hört auch das, was unlängst in den Deutschen Bundestag
eingebracht worden ist, nämlich die Regulierung des
Hochfrequenzhandels. Zum anderen haben wir im
Zusammenhang mit EMIR und SEPA europäisches
Recht umgesetzt. Die AIFM-Richtlinie, die in deutsches
Recht umzusetzen ist, ist gestern im Kabinett behandelt
worden.
Wir haben aber auch Entschließungsanträge einge-
bracht, in denen wir uns mit Dingen beschäftigt haben,
die die europäische Ebene betreffen: Entschließungsan-
träge – ganz wichtig – zur Zukunft der betrieblichen
Altersversorgung – auch dort wollte man regulieren –,
zu Rohstoffderivaten und auch zum Thema Banken-
union. Für die Technik des Arbeitens im Deutschen Bun-
destag sind diese Entschließungsanträge sehr wichtig.
Auf europäischer Ebene haben wir einen bestimmten
Rechtssetzungsprozess; dort spielen das Europäische
Parlament, die Europäische Kommission und der Rat
eine Rolle. Bei dem Rat handelt es sich um die Vertreter
der nationalen Regierungen. Wenn wir die Vertreter un-
serer Regierung ohne Leitplanken in Brüssel auflaufen
ließen und sagen würden: „Verhandelt mal!“, ohne dass
der Deutsche Bundestag mitwirkt, ohne dass er in Ent-
schließungsanträgen sagt, was er sich vorstellt und
wünscht, würden wir uns als Deutscher Bundestag, als
26274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
nationales Parlament, sehr viel vergeben. Deswegen sind
diese Entschließungsanträge so ungemein wichtig.
In der Tat kann man sich im Zusammenhang mit dem
Entschließungsantrag zur Bankenunion darüber unter-
halten, was erreicht worden ist. Aber ich glaube, wir
müssen uns von einer Illusion lösen, nämlich dass alles
das, was wir für gut und richtig erachten, zu 100 Prozent
im europäischen Verhandlungsprozess durchgesetzt wer-
den kann.
Es wäre ja schlimm, wenn es im europäischen Wirken
quasi ein Grundgesetz wäre, dass das, was der Deutsche
Bundestag beschließt, eins zu eins umgesetzt wird. Das
geht nicht. Wir werden Kompromisse schließen müssen.
Im Bereich der Bankenunion haben wir einen Kom-
promiss erreicht, in dem wir ziemlich viel von dem, was
wir gefordert haben, unterbringen konnten. Dafür noch
einmal ein herzliches Dankeschön an die Bundesregie-
rung!
– Das ist Beifall für die Bundesregierung.
Dazu muss man auch sagen: Wir haben erreicht, dass
wir uns mit unserer Forderung „Qualität vor Schnellig-
keit“ durchsetzen konnten. Die Einführung wird erst
2014 erfolgen. Bis dahin ist noch eine Menge zu tun.
Wir müssen die rechtlichen Grundlagen legen, und wir
müssen natürlich auch die entsprechenden Organisa-
tionsstrukturen schaffen.
Ja, wir haben auch eine Lösung für eine saubere
Abgrenzung zwischen dem, was europäisch direkt kon-
trolliert und beaufsichtigt wird, und dem, was national
beaufsichtigt wird, gefunden.
Herr Kollege Brinkhaus, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Lisa Paus?
Die Kollegin Paus hat heute das Bedürfnis zu vielen
Zwischenfragen. Vor dem Hintergrund der vielen na-
mentlichen Abstimmungen, die wir auf Wunsch ihrer
Fraktion heute durchführen, ist das zwar etwas unhöflich –
aber trotzdem.
Frau Kollegin Lisa Paus macht es kurz. Nach dem ge-
genwärtigen Stand wird die letzte namentliche Abstim-
mung um genau 0 Uhr stattfinden. – Bitte schön, Frau
Kollegin.
Jetzt ist der Stand 0.03 Uhr. Herzlichen Dank!
Gern geschehen, Herr Brinkhaus; für Sie doch immer.
Ich habe an Sie die gleiche Frage, die ich Herrn
Flosbach schon gestellt habe. Wir haben gestern zusam-
men im Finanzausschuss gesessen. Insbesondere Bun-
desbank und BaFin hatten darauf hingewiesen, dass man
eigentlich eine Roadmap braucht, um ein konkretes Ein-
führungsdatum für die Bankenaufsicht festzulegen. Sie
haben gesagt, der 1. März 2014 soll es sein. Ist in den
letzten 24 Stunden eine Roadmap bei Ihnen eingetrof-
fen? Können Sie mir sagen, wie dieses Ziel zum 1. März
2014 erreicht werden soll?
Liebe Frau Paus, ich glaube, die Vorstellung von Poli-
tik, dass sich Finanzminister nachts in Brüssel treffen
und dann eine Roadmap malen,
wie man jeden Projektschritt eins zu eins umsetzen kann,
ist etwas naiv. Insofern ist Ihre Frage damit beantwortet.
Das Ganze ist ein Prozess. Ich komme noch dazu, wenn
Sie mir weiter zuhören mögen.
Ich habe das jetzt übrigens abgekürzt: Wir sind wie-
der bei 0.01 Uhr. Dafür bekomme ich sicherlich Beifall.
– Danke schön.
Wir müssen natürlich noch an einigen Dingen arbei-
ten. Dabei ist für uns eines wichtig – das geht jetzt auch
in Richtung Bundesregierung –: Wir haben uns entschie-
den, die Aufsicht bei der EZB anzusiedeln. Die EZB
sitzt in Frankfurt, und sie sollte mit all ihren Bereichen
in Frankfurt sitzen. – Punkt eins.
Punkt zwei. Wir haben es bei der Installation der eu-
ropäischen Banken-, Versicherungs- und Wertpapierauf-
sicht durchaus verpasst, dass deutsche Mitarbeiter ent-
sprechend dem Anteil Deutschlands am Finanzmarkt
auch in hierarchisch höheren Funktionen und Leitungs-
funktionen untergebracht sind. Wir erwarten von der
Bundesregierung, dass das jetzt bei der Organisation der
europäischen Finanzaufsicht bei der Europäischen Zent-
ralbank gelingt. Das ist uns als Koalitionsfraktion sehr
wichtig. Ich denke, wir haben dabei den einen oder ande-
ren Nachholbedarf.
Wenn ich jetzt zu dem Thema Bankenunion und dazu
komme, dass man in Verhandlungen nicht immer alles
erreicht, dann komme ich auch zu dem, was gestern in
der Pressekonferenz von Herrn Trittin und Herrn
Steinbrück vorgebracht worden ist. Ich habe gestern mit
einem Kollegen unter anderem über die allgemeinen
Einstellungen zum Finanzmarkt gesprochen. Irgend-
wann haben wir festgestellt, dass wir, insbesondere
wenn wir gemeinsam auf einem Podium sitzen und mit
der Branche diskutieren, in vielen Dingen nicht so weit
auseinanderliegen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26275
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
Wir sollten uns bei aller Wahlkampfauseinandersetzung,
die sicherlich notwendig ist und für die Sie ein Thema
brauchen, bemühen, diese Gemeinsamkeit ein bisschen
mehr zu betonen.
Mit Blick auf das, was gestern gefordert worden ist,
denke ich: Natürlich möchten auch wir eine klare Tren-
nung zwischen der unabhängigen Bundesbank und der
Aufsicht. Wir müssen uns auch darüber unterhalten, in-
wieweit die Aufsicht demokratisch kontrolliert wird und
wie wir zu einem europäischen Restrukturierungsmecha-
nismus kommen.
Sie haben ins Rennen gebracht, dass dafür ein Fonds
mit einem Volumen von 200 Milliarden Euro notwendig
ist, der von den Banken finanziert werden muss. Ganz
ehrlich, wenn wir das hinkriegen würden, dann würden
wir sagen: Spitze, klasse, super! Aber das ist nicht so
einfach, wie Sie sich das vorstellen. Denn die Banken,
die die 200 Milliarden Euro in den Fonds einbringen sol-
len, sollen weiterhin Kredite vergeben, Eigenkapital ha-
ben, Steuern zahlen und ihre Mitarbeiter nicht entlassen.
Bei diesem Wertungswiderspruch müssen wir schauen,
dass wir eine vernünftige Beteiligung der Branche hin-
bekommen.
Wir haben in Deutschland mit der Bankenabgabe
schon einiges auf den Weg gebracht.
Wir werden es gegebenenfalls noch nachträglich schär-
fen müssen. Aber ich denke, dabei sind die Gegensätze
nicht in dem Maße vorhanden, wie Sie sie ausmalen.
Ich glaube, es ist relativ hoffnungslos, einen Wahl-
kampf zum Thema Banken zu führen, wie Sie es jetzt
zum zweiten Mal versucht haben. Denn alles, was vorge-
schlagen wird, sind Dinge, die wir a) entweder schon
umgesetzt haben, die b) in der Umsetzung sind oder die
c) in der internationalen Diskussion sind.
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass die Ge-
meinsamkeiten an dieser Stelle größer sind als die Unter-
schiede. Mit diesem adventlichen Abschiedswort möchte
ich mich aus der letzten Finanzmarktdebatte, die wir im
Jahr 2012 führen, verabschieden.
Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. – Dennoch
hat der Kollege Lothar Binding das letzte Wort. Bitte
schön, Kollege Lothar Binding für die Fraktion der So-
zialdemokraten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Der Kollege
Brinkhaus hat Fachlichkeit reklamiert, und der Kollege
Aumer hat vorhin gesagt, Peer Steinbrück habe vorge-
schlagen, was die Koalition schon längst geregelt habe.
Deshalb bitte ich Sie, mir zu sagen, in welchem Gesetz
ich das Trennbankensystem finden kann, mit dem wir
die Sparer und deren Spargeld vor Spekulationen der
Spekulanten schützen können.
Dass die Finanztransaktionsteuer schon eingeführt
worden ist, wäre mir auch neu. Sie müssten mir noch zei-
gen, wo das geregelt ist und inwiefern Sie sich um Schat-
tenbanken gekümmert haben, wie es Peer Steinbrück
vorschlägt.
Es wäre interessant, zu erfahren, wann Sie das beschlos-
sen haben und in welchem Gesetz das geregelt ist.
Nun zum Stichwort Bankenunion. Wir haben noch
kein europäisches Aufsichtsregime. Sie kennen die
große Problematik bei dem Vorhaben, das einfach der
EZB zu übergeben.
Wir haben kein Restrukturierungs- und Abwicklungs-
system. Wir haben keine Einlagensicherung. Der ESM
ist derzeit durch die Versprechen der Kanzlerin hochge-
fährdet. Man führt Deutschland letztendlich auf die
Schlachtbank der Risikomananger und der Privatbanker,
statt die ESM-Mechanismen der Rettung der Staaten
vorzubehalten.
Es wäre interessant, zu wissen, wo Sie den Schulden-
tilgungsfonds reguliert haben. All das schlägt Peer
Steinbrück vor. Sie sagen, das sei alles schon geregelt
und erledigt. Ich sage Ihnen: Nichts von dem ist geregelt.
Deshalb ist es nicht so, wie Sie sagen, und deshalb ist die
Fachlichkeit bei Ihnen sehr unter Druck.
Ich will noch den Blick auf etwas anderes lenken. Ich
war gestern bei einem Börsenlunch an der Straße Unter
den Linden 36.
Referent war zufälligerweise der Risikovorstand der
Commerzbank. Er hat sich nicht über den Steuerbetrug
der Banken beschwert. Er hat sich nicht darüber be-
schwert, dass der Libor von den Banken manipuliert
wurde. Er hat sich nicht darüber beschwert, dass Sub-
primes, also sehr schlechte Kredite, verbrieft und auf den
deutschen bzw. europäischen Markt gedrückt wurden. Er
hat sich nicht darüber erregt, was OTC-Derivate auf dem
Markt anrichten. Er hat sich nicht darüber aufgeregt,
welche Folgen das CDS-Spekulationsverhalten auf dem
Markt hat.
26276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Lothar Binding
(C)
(B)
Er hat sich nicht darüber aufgeregt, was Credit Ladder
Swaps bei den Kommunen angerichtet haben. Er hat sich
nicht darüber aufgeregt, welche Folgen Rohstoffspekula-
tionen haben.
Sie werden es nicht glauben: Er hat sich darüber auf-
geregt, dass wir – er meinte uns alle und sprach immer
von „der Politik“ – nicht genug reguliert hätten. Das
heißt, die Bankenwelt ist deshalb in die Krise geraten –
das war die Schlussfolgerung seiner Logik –, weil wir
nicht genug reguliert haben.
Er hat als Vergleich ein Beispiel aus dem Verkehr ge-
nannt: Wenn jemand einen Unfall auf der Autobahn ver-
ursacht, weil er viel zu schnell gefahren ist, dann liegt
das daran, dass wir kein Schild aufgestellt haben, das die
Höchstgeschwindigkeit auf 100 Kilometer pro Stunde
begrenzt. – Das ist die Logik der Banker.
Deshalb ist es so wichtig, dass Sie Peer Steinbrück
folgen, seine Vorschläge ernst nehmen und entsprechend
regulieren. Sie sollten nicht behaupten, alles Notwendige
sei schon geschehen. Es bleibt viel zu tun. Mit einer gu-
ten Regulierung sind wir auf dem richtigen Weg.
Schönen Dank.
Lothar Binding war der letzte Redner in unserer Aus-
sprache. Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe nun die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungs-
gesetzes zur Verordnung Nr. 648/2012 über OTC-
Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregis-
ter. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11883, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/11289
und 17/11690 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind wieder die Koalitionsfraktionen und die Frak-
tion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Enthaltungen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen. – Vielen Dank, liebe Kollegin-
nen und Kollegen. Wir kommen zum nächsten Tagesord-
nungspunkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Raju Sharma, Jan Korte, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen
und kirchlichen Einrichtungen stärken
– Drucksachen 17/5523, 17/10872 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wie ich
sehe, sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das
gemeinsam beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Am 20. November dieses Jahres hat das Bundesarbeits-
gericht ein höchstrichterliches, aber auch, wie ich finde,
ein sehr kluges Urteil gefällt. Es hat festgestellt, dass das
kirchliche Arbeitsrecht in den verfassungsrechtlich ga-
rantierten Schutzbereich des kirchlichen Selbstbestim-
mungsrechts nach Art. 140 Grundgesetz fällt. Ich hätte
eigentlich erwartet, dass nach diesem eindeutigen und
klaren Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Fraktion Die
Linke ihren Antrag zu den Grundrechten der Beschäftig-
ten von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen zurück-
zieht.
Wie wir leider feststellen müssen, macht sie das nicht,
was zeigt, dass die Fraktion Die Linke ein Urteil des
Bundesarbeitsgerichts überhaupt nicht anficht, selbst
wenn das, was im Antrag steht, diesem Urteil klar und
eindeutig widerspricht. Das zeigt, was die Linken vom
Rechtsstaat halten, nämlich nichts.
So fordern die Linken in ihrem Antrag, wir, das Parla-
ment, die Politiker, sollten entscheiden, dass kirchliches
Arbeitsrecht nur für den verkündigungsnahen Bereich
und nicht für den verkündigungsferneren Bereich – was
immer das ist – gilt.
Das Bundesarbeitsgericht sagt klar und eindeutig, dass
eine solche Einmischung in die innerkirchlichen Angele-
genheiten der Neutralitätsverpflichtung des Staates wi-
derspricht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26277
Peter Weiß
(C)
(B)
Ein solcher Vorgang wäre keine Achtung der Trennung
von Staat und Kirche, sondern eine massive staatliche
Einmischung in die innerkirchliche Organisation und in
innerkirchliches Leben. Das weisen wir im Sinne der
Trennung von Kirche und Staat, wie sie unser Grundge-
setz vorgibt, nachdrücklich zurück.
Ein weiterer Punkt ist: Die Linke behauptet in ihrem
Antrag, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchli-
chen Dienst seien im Vergleich zu den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst oder im privaten
Bereich strukturell benachteiligt.
Auch dazu sagt das Bundesarbeitsgericht eindeutig, dass
die Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz nicht
auf die Tarifautonomie und deren Wahrnehmung be-
schränkt ist, sondern auch sogenannte konsensuale Lö-
sungen erfasst. Was ist damit gemeint? Damit ist ge-
meint, dass die Kirchen über einen sogenannten Dritten
Weg ihr Arbeitsrecht und ihr Tarifgefüge weitgehend
durch paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
oder, wie es im kirchlichen Sprachgebrauch heißt, von
Dienstgebern und Dienstnehmern besetzte Kommissio-
nen, die dauerhaft eingerichtet sind, regeln.
Das Bundesarbeitsgericht sagt: Jawohl, die Kirchen kön-
nen das so machen; das ist so okay.
Allerdings – und das ist sicherlich neu in der Recht-
sprechung des Bundesarbeitsgerichts – darf dieses
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen mit diesen eigenen
Regelungen, um zu Tarifen zu kommen, die koalitions-
mäßige Betätigung der Gewerkschaften nicht ausschlie-
ßen. Wenn sich die Gewerkschaften also am Dritten Weg
beteiligen und in ihn eingebunden sind, dann ist das
Recht aus Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes auch ver-
wirklicht.
Dann beklagen die Linken in ihrem Antrag, dass Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst
schlechter bezahlt würden. Ein Blick in die Tarifwerke
zeigt aber,
dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen
Dienst, bei Caritas und Diakonie, durchweg besser be-
zahlt werden als in vergleichbaren privaten Einrichtun-
gen.
Was den Vergleich mit staatlichen oder kommunalen
Einrichtungen anbelangt, werden sie zumindest in ähnli-
cher Weise bezahlt.
Der einzige Vorwurf, der in der Vergangenheit zu
Recht gemacht werden konnte, ist, dass es einzelne
kirchliche Dienste und Einrichtungen gab und gibt, die
aus dem Tarifwerk ausgeschert sind und nach eigenem
Gusto ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezahlt ha-
ben. Deswegen ist es umgekehrt richtig – das sagt auch
das Bundesarbeitsgericht, und das entspricht dem, was
beide großen Kirchen ausdrücklich in ihren Gremien be-
schlossen haben –, dass ich kirchliches Arbeitsrecht
nicht aufteilen kann. Entweder falle ich unter das kirchli-
che Arbeitsrecht – dann müssen alle Regelungen, auch
die vereinbarten Tarifregelungen, eins zu eins angewen-
det werden –, oder ich falle nicht darunter. Wenn ich
nicht darunterfalle, dann gilt selbstverständlich staatli-
ches Arbeitsrecht, das Betriebsverfassungsgesetz usw.
Deshalb ist kirchliches Arbeitsrecht kein Arbeitsrecht
zweiter Klasse, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in kirchlichen Einrichtungen sind auch keine Be-
schäftigten zweiter Klasse. Kirchliches Arbeitsrecht ist
einfach ein anderes Arbeitsrecht, das den speziellen An-
forderungen des Kirchendienstes Rechnung trägt.
Ich finde, wir als Parlament, als Politikerinnen und
Politiker können eigentlich dankbar dafür sein, dass die
Kirchen in unserem Land mit ihrer Caritas, mit ihrer
Diakonie ein großartiges Leistungsangebot vor allem im
Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen vorhalten und
dass dort hochmotivierte und engagierte Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter arbeiten. Dafür sollten wir diesen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einer solchen De-
batte auch ausdrücklich danken.
Klar ist auch, dass diese Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter für diesen Dienst auch gute Löhne verdienen. Da-
für kann in Tarifverträgen Sorge getragen werden. Dafür
kann in Tarifwerken Sorge getragen werden, die eine
Kommission, die paritätisch besetzt ist, schafft. Die
Hauptsache ist, dass sich alle an diese Tarife halten. Da-
für sollten wir uns einsetzen. Wir sollten diesen eigenen
Weg, den die Kirchen gehen, nicht durch staatliche Ein-
mischung zerstören oder tangieren, sondern – so wie es
das Bundesarbeitsgericht getan hat – diese Eigenständig-
keit achten und respektieren.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Ottmar Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner.
26278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
handelt sich ja erkennbar um ein sensibles Thema, mit
dem man sehr sorgfältig umgehen muss. Zunächst ein-
mal ist es ein Verdienst der Antrag stellenden Fraktion
– es ist ein Gebot der Fairness, Herr Kollege Weiß, das
zu sagen –, dass dieses Thema parlamentarisiert worden
ist. Die Kirchen sind – das wissen die wenigsten – nach
dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber in
Deutschland. Mitsamt den kirchlichen Wohlfahrtsver-
bänden gibt es dort fast anderthalb Millionen Beschäf-
tigte. Allein die Größenordnung macht das Thema zu
einem öffentlichen und damit eben auch zu einem parla-
mentarischen Thema.
Ich will eine zweite Bemerkung machen. Ich hoffe,
das von Ihnen lang zitierte Urteil des Bundesarbeitsge-
richts vom 20. November dieses Jahres ist – zumindest
für einige Zeit – das letzte Urteil. Es sieht ja so aus, als
ob das Bundesverfassungsgericht nicht angestrengt wer-
den soll. Ich halte das für eine wirkliche Chance, um aus
den Schützengräben herauszukommen und nach ver-
nünftigen Lösungen zu suchen.
Nun kann man sich fragen, warum der Kampf um das
Streikrecht in kirchlichen Betrieben ausgerechnet in die-
ser Zeit ausbricht. Über Jahrzehnte war Ruhe an der
Front – um den Begriff zu benutzen, der Ihnen gefällt –,
aber seit einer Reihe von Jahren haben wir es mit hefti-
gen Konflikten zu tun. Der Kampf um das Streikrecht in
kirchlichen Einrichtungen ist, wie viele andere Konflikte
auch, Folge eines grundlegenden Wandels bei der Festle-
gung der Lohn- und Arbeitsbedingungen auf dem Feld
der sozialen Arbeit. Das lange geltende Prinzip der Kos-
tendeckung wurde infolge politischen Handelns durch
das Wettbewerbsprinzip ersetzt. Früher wurden die Kos-
ten erstattet, die anfielen. Seit Jahren gilt nunmehr ein
teilweise brutaler Lohnkostenwettbewerb.
Ich will es einmal an einem kleinen Beispiel aus mei-
nem Bundesland deutlich machen. Es gibt eine Gemein-
same Erklärung der Saarländischen Allianz für Kranken-
häuser vom 8. November dieses Jahres, der übrigens
Verdi, der Marburger Bund, die Träger der katholischen
Krankenhäuser und die Träger der evangelischen Kran-
kenhäuser angehören. Sie schreiben:
Die stetig steigenden Personalkosten in den Kran-
kenhäusern und die im Gegensatz hierzu nur gering
steigende Vergütung für Krankenhausleistungen
lässt die Schere zwischen Einnahmen und Ausga-
ben immer weiter auseinanderklaffen. Unter dem
daraus entstehenden immer größeren wirtschaftli-
chen Druck leiden sowohl die Patienten als auch die
Beschäftigten.
Das sagen die kirchlichen Träger und die Gewerk-
schaften. Es ist ja auch klar: Im arbeitsintensiven Be-
reich der sozialen Dienste führt das Wettbewerbsprinzip
zwangsläufig zu Lohndumping oder zum Stellenabbau
oder zu beidem. Natürlich wird in der öffentlichen Dis-
kussion als Erstes wahrgenommen, wenn Häuser mit
christlichem Anspruch gegen diese Kernprinzipien ver-
stoßen.
Diese Grundtendenz des Wettbewerbsprinzips wird
noch verstärkt durch die äußerst zersplitterte Tarif-
landschaft. Allein in der Diakonie gibt es Hunderte
von unterschiedlichen Regelungen. Das begünstigt die
Lohndumpingspirale weiter. Das heißt, der zentrale Kon-
flikt verläuft nicht zwischen Kirchen und Gewerkschaf-
ten, sondern das zentrale Problem sind die Bedingungen
der Refinanzierung sozialer Arbeit. Das ist der Kern des
Problems.
Deshalb wäre es für die Gewerkschaften wie für die
Kirchen, natürlich auch für die freien Wohlfahrtsver-
bände und für alle anderen Träger, ein großer Schritt
nach vorne, wenn man sich auf einen gemeinsamen
Branchentarif verständigen könnte, durch den die Tarif-
konkurrenz untereinander beseitigt wird und durch den
Druck in Richtung deutlich besserer, angemessenerer
Bedingungen im Bereich der sozialen Dienste ausgeübt
würde.
Das ist der Kern der ganzen Auseinandersetzung, Herr
Kollege Weiß.
Dabei sind nicht nur die Kirchen, die Gewerkschaften
und die Wohlfahrtsverbände gefordert, sondern zualler-
erst sind wir hier in diesem Hohen Hause gefordert. Die
Kernfrage lautet: Wie viel darf der menschenwürdige
Umgang miteinander in den Krankenhäusern, in den
Pflegeheimen, in den Kinderkrippen und in den Kinder-
gärten kosten? Wie viel darf ein menschliches Miteinan-
der in den Einrichtungen kosten, die auf menschliche
Zuwendung in allen Bereichen dringendst angewiesen
sind? Was darf das die Gesellschaft kosten? Diese Fra-
gen haben zuallererst wir zu beantworten. Insofern ist
das eine Debatte, die nicht nur die Gewerkschaften, etwa
Verdi, oder die Linkspartei oder die Kirchen angeht, son-
dern es ist eine Debatte, die im Zentrum uns selbst be-
trifft. Die gennannten Fragen haben wir also zu beant-
worten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Ottmar Schreiner. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26279
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schreiner, ich bin immer wieder überrascht
über Ihre Geschichtsvergessenheit. Sie stellen sich hier-
hin und fragen mit Verweis auf ein Krankenhaus: Was
darf Zuwendung kosten? Ich frage mich: Haben Sie
wirklich vergessen, wer die Fallpauschalen in Deutsch-
land eingeführt hat?
– Doch, auch bei diesem Thema, Frau Müller-
Gemmeke. Der Kollege Schreiner hat es angesprochen:
Es war die Kollegin Ulla Schmidt, die zu Ihrer Regie-
rungszeit den Kostendruck, den Sie heute hier beweinen,
eingeführt hat. Das geht so nicht!
Im Übrigen will ich feststellen – ich habe heute eine
sehr kurze Redezeit –: Auf ihrem Weg der Skandalisie-
rung der Gesellschaft sind die Linken jetzt bei den Kir-
chen angekommen. Jetzt muss festgestellt werden: Auch
da läuft alles schief. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer werden geknechtet. – Ich muss Ihnen hier sehr
deutlich sagen: Wir als FDP-Fraktion sind nicht bereit,
diesen Weg mitzugehen. Ich glaube, es gibt gute histori-
sche Gründe dafür, dass die Kirchen ein Arbeitsrecht sui
generis, also eigener Art, haben. Dieses Recht sieht den
Verzicht auf Arbeitskämpfe vor und schreibt vor, dass
über Löhne und andere Tariffragen in arbeitsrechtlichen
Kommissionen entschieden wird. Das hat sich in der
Vergangenheit bewährt. Ich sehe das unverändert als ein
bewährtes Modell an, allen Unkenrufen und allen Skan-
dalisierungsversuchen der Linken zum Trotz.
Angesichts dessen muss man das Ganze auch an den Er-
gebnissen messen.
Es ist zu Recht gesagt worden und auch in der Anhö-
rung des Ausschusses für Arbeit und Soziales deutlich
gemacht worden, dass in kirchlichen Einrichtungen re-
gelmäßig über Tarif bezahlt wird, dass die Arbeitsbedin-
gungen dort also alles andere als schlecht sind. In der
Regel ist dort ein anständiges Verhältnis zwischen
Dienstgeber und Dienstnehmer an der Tagesordnung.
Es mag sein – der Kollege Peter Weiß hat es hier vor-
getragen –, dass im Einzelfall in kirchlichen Einrichtun-
gen manches nicht so gelaufen ist, wie man es sich vor-
stellen würde. Aber man muss den Kirchen zugestehen,
dass hier die Selbstheilungskräfte wirksam werden. Ich
glaube, dass die Kirchen mittlerweile aufgrund der öf-
fentlichen Diskussion sehr sensibilisiert sind, was dieses
Thema anbelangt. Ich glaube, dass wir auch nach dem
richtungsweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts in
dieser Frage erleben werden, dass die Kirchen, gerade
um ihren eigenen Weg sicherzustellen, in Zukunft Miss-
bräuche, wie sie bisher punktuell aufgetreten sind, sehr
sensibel angehen und bekämpfen werden.
Wir sehen den Gesetzgeber hier also ausdrücklich
nicht in der Pflicht, über eine Änderung des Grundgeset-
zes – wie Sie es vorschlagen – den sogenannten Dritten
Weg zu beseitigen; das kommt für uns ausdrücklich
nicht infrage. Es ist jahrzehntelanges, etabliertes Recht,
diesen Dritten Weg zu gehen.
Wir werden dies auch in Zukunft für richtig halten und
Ihre Versuche abwehren, diesen Weg sozusagen ins Ab-
seits zu stellen. Es gibt dafür aus unserer Sicht keinen
Grund.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb. – Nächster Redner ist
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Raju Sharma.
Bitte schön, Herr Kollege Sharma.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach un-
serer Verfassung haben die Kirchen das Recht, ihre eige-
nen Angelegenheiten selbst zu organisieren, selbst zu
regeln. Das betrifft auch das Kirchenarbeitsrecht. Im
Rahmen des Kirchenarbeitsrechts gilt das sowohl für das
kollektive Arbeitsrecht, also für Fragen der Lohnforde-
rungsdurchsetzung und für Fragen des Streikrechts, als
auch für das individuelle Arbeitsrecht der insgesamt
1,3 Millionen Beschäftigen. Das heißt, die Kirchen defi-
nieren selbst, wie die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäf-
tigen aussehen, in welchem Rahmen Gewerkschaften
zugelassen werden, um an der Seite der Beschäftigten
Lohnforderungen durchzusetzen, und in welchen For-
men das passiert. Das Ganze führt zu einer strukturellen
Benachteiligung. Wir Linke empfinden das als unge-
recht.
Aber nicht nur wir empfinden das als ungerecht, son-
dern auch viele Beschäftigte. Sie wollen gegen diese Un-
gerechtigkeit vorgehen, indem sie Gerichte anrufen. Die
Muster, nach denen die Gerichte entscheiden – der Kol-
lege Weiß hat schon die jüngste Entscheidung des Bun-
desarbeitsgerichts genannt –, sind eigentlich immer die
gleichen: Im Einzelfall, so stellen die Gerichte fest, gab
es Ungerechtigkeiten; da wird den Betroffenen recht ge-
geben. Aber die Struktur des Dritten Weges, nämlich das
26280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Raju Sharma
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(B)
Recht der Kirchen, ihre Angelegenheiten selbst zu re-
geln, wird von den Gerichten im Prinzip bestätigt.
Das ist für die Betroffenen im Einzelfall schön, aber
das ist so, wie wenn man Unkraut beseitigen will:
Wenn man nur ein bisschen an den missliebigen Trieben
herumschnippelt, aber die Wurzel drinlässt, bleibt die
Struktur problematisch.
– Sie können sich nachher gern zu Wort melden. Sie
kommen ja sogar noch zu Wort, Herr Ruppert. Also
bitte!
Die Beschäftigten suchen Hilfe bei Gericht, aber sie
erhalten die Hilfe bei Gericht nicht. Deswegen gilt eine
alte Volksweise – ich zitiere jetzt mit Genehmigung des
Präsidenten –:
Es rettet uns kein höh’res Wesen
kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun
uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!
– Danke schön.
„Selber tun“, wie es in dieser Volksweise heißt, das
betrifft nicht nur die Beschäftigten selbst, die ja selber
etwas tun können, die mithilfe ihrer Gewerkschaften für
bessere Lohnbedingungen, für bessere Arbeitsbedingun-
gen kämpfen können. Das tun sie ja auch. Ich kann die
Beschäftigten eigentlich nur ermutigen, mit den Ge-
werkschaften zusammen nicht zu warten, bis ihnen
Rechte, auch Streikrechte, zugeteilt werden, gnädig zu-
gewiesen werden, sondern ihre Rechte beherzt und mu-
tig in die Hand zu nehmen, sich die Rechte zu nehmen,
die ihnen ohnehin schon zustehen.
„Selber tun“, das betrifft auch uns hier im Parlament;
das hat der Kollege Schreiner völlig zu Recht gesagt.
Auch wir können selber etwas tun. Die Linke hat dazu
im April 2011 einen Antrag vorgelegt, der vorsieht, dass
die Beschäftigten bei den Kirchen und kirchlichen Ein-
richtungen die gleichen Rechte bekommen wie andere
Beschäftigte auch. Wir finden das auch völlig legitim.
Nun habe ich nicht erwartet, als wir diesen Antrag
vorgelegt haben, dass es von der rechten Seite des Hau-
ses große Zustimmung geben wird. Das ist heute bestä-
tigt worden. Sie wollen an dem festhalten, was es immer
schon gab, weil es das immer schon gab; daran soll
nichts geändert werden.
Wir stellen fest: Es gibt Ungerechtigkeiten. Das stel-
len auch die Beschäftigten fest; wir haben es im Aus-
schuss gehört. Ich spreche jetzt nicht so sehr Sie von der
Koalition an; von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet.
Ich wende mich jetzt einmal an die Kolleginnen und
Kollegen von Grünen und SPD, die ja auch eine sehr kri-
tische Haltung zum Kirchenarbeitsrecht und zum Dritten
Weg haben. Sie haben gesagt: Das alles ist richtig. – Sie
teilen unsere Kritik, aber Sie teilen den Weg nicht, und
Sie teilen die Schärfe des Antrags nicht. Deswegen wer-
den die Grünen sich kraftvoll enthalten.
Zur SPD. Ich freue mich natürlich über das Lob des
Kollegen Schreiner, der sagt: Sie haben ein wichtiges
Thema beleuchtet. Aber im Ergebnis werden wir Ihren
Antrag ablehnen. –
Das Lob ist schön, aber das hilft den Beschäftigten über-
haupt nicht.
Wozu führt das jetzt? Das führt dazu, dass wir in den
kommenden Wahlkämpfen sagen können: Wir haben ei-
nen Antrag vorgelegt, nach dem die Rechte der Beschäf-
tigten gestärkt würden – immerhin geht es um 1,3 Mil-
lionen Beschäftigte –, und die und die und die und die im
Hause haben gesagt: Da gehen wir nicht mit. – Davon
haben wir nichts. Deswegen werbe ich noch einmal bei
den Grünen und auch bei den Genossinnen und Genos-
sen von der Sozialdemokratie darum: Dann legen Sie
bitte eigene Anträge vor!
Wir können gemeinsam darüber reden. Lassen Sie uns
im Interesse der Beschäftigten etwas erreichen! Und was
könnten wir erreichen, wenn wir schreiten Seit’ an Seit’!
Bitte legt was vor! Wir sind dabei!
Danke schön.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke.
Bitte schön, Frau Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Kirchen haben ein Selbstbestim-
mungsrecht, und vor diesem Hintergrund ist der Dritte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26281
Beate Müller-Gemmeke
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(B)
Weg entstanden. Auf den ersten Blick scheint also alles
ganz einfach. Inzwischen beschäftigen sich aber die Ge-
richte mit dem kirchlichen Arbeitsrecht. Vor allem hören
wir von den Mitarbeitervertretungen lautstark Kritik.
Deswegen beschäftigen wir Grüne uns schon länger mit
dem kirchlichen Arbeitsrecht. Wir haben dazu eine
Kleine Anfrage gestellt und zwei Fachgespräche durch-
geführt. Das Thema ist komplex. Deshalb ist die Debatte
in unserer Fraktion auch noch nicht abgeschlossen. Wir
werden uns heute beim Antrag der Linken enthalten.
Auch weil uns die Debatte und die Diskussion wichtig
sind. Wir nehmen das Thema und vor allem die Beschäf-
tigten in kirchlichen Einrichtungen ernst. Das sollten
Sie, die Regierungsfraktionen, auch tun. Herr Weiß, Herr
Kolb, Augen zu und durch ist einfach zu wenig.
Ich möchte kurz drei Aspekte ansprechen:
Erstens die kirchlichen Loyalitätspflichten: Wenn die
private Lebensführung im verkündigungsfernen Bereich
zur Kündigung führen kann, dann ist das heute schlicht-
weg nicht mehr zeitgemäß. Damit muss sich die katholi-
sche Kirche auseinandersetzen.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie sehen, dass eine
Zwischenfrage des Kollegen Otto Fricke angemeldet ist.
Gestatten Sie diese?
Ja.
Bitte schön, Kollege Otto Fricke.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, damit es nachher
nicht zu einer Verschiebung der Wahrnehmung führt,
frage ich, ob das, was Sie jetzt sagen, mit der Meinung
Ihrer Spitzenkandidatin und der Vizepräsidentin in Ein-
klang steht,
oder muss ich nachher hören, dass das die Meinung der
Grünen ist, aber nicht die von Frau Göring-Eckardt?
Bei den Loyalitätspflichten sind wir uns einig. Wir
machen Antidiskriminierungspolitik. Dieses Thema ge-
hört schlichtweg dazu. Von daher können Sie diese, wie
ich finde, langsam lächerlichen Angriffe lassen.
Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen. Das ist in
Ihrer Partei sicher auch so.
Wir sind eine bunte Partei und haben unterschiedliche
Meinungen. Aber in diesem Punkt sind wir uns einig.
Von daher hätten Sie sich diese Frage sparen können.
Ich sage es noch einmal: Mit den Loyalitätspflichten
muss sich die katholische Kirche auseinandersetzen. Ob
jemand homosexuell ist, ob sich jemand scheiden lässt,
ob jemand wieder heiratet oder aus der Kirche austritt:
Das ist für uns Privatsache. Das Eintreten dafür ist Teil
unserer Antidiskriminierungspolitik.
Zweitens das Streikrecht: Dazu gab es ein BAG-Ur-
teil. Die obersten Arbeitsrichter haben das absolute
Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen aufgehoben.
Gleichzeitig wurde aber das kirchliche Selbstbestim-
mungsrecht bestätigt. Insofern sind Streiks dann doch
wieder ausgeschlossen, aber nur unter eindeutigen Vo-
raussetzungen. Laut BAG-Urteil müssen die Kirchen das
Koalitionsrecht akzeptieren. Sie müssen die Gewerk-
schaften einbinden und die Verhandlungsergebnisse
dann auch wirklich verbindlich umsetzen. Dieser letzte
Aspekt ist mir ein besonderes Anliegen; denn gerade die
Diakonie hat hier viel Spielraum, den sie auch nutzt, und
zwar zulasten der Beschäftigten. In diesen Fällen droht
den kirchlichen Einrichtungen zukünftig Streik – und ich
meine: zu Recht.
Dennoch wurden mit diesem Urteil beide Seiten
– Kirchen und Gewerkschaften – gleichermaßen ge-
stärkt. Die Erfurter Richter setzen auf Kompromiss und
auf Verständigung. Vielleicht bringt das Bewegung in
die bislang unversöhnlichen Positionen. Wir würden das
begrüßen.
Damit bin ich beim dritten Aspekt, der Situation all-
gemein: Wir alle wissen, dass die Einführung des Wett-
bewerbs im sozialen Bereich eine politische Entschei-
dung war. Kollege Schreiner hat es gerade ausführlich
dargestellt. Mittlerweile ist – auch in kirchlichen Ein-
richtungen – der Kostendruck enorm. Der Wettbewerb
gefährdet die Qualität und geht zulasten der Beschäftig-
ten, und das ist nicht akzeptabel. Meiner Meinung nach
brauchen wir Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, die
für alle Anbieter im sozialen Bereich gleichermaßen gel-
ten. Dafür haben wir eigentlich das Instrument der All-
gemeinverbindlicherklärung. Die Kirchen aber lehnen
Tarifverträge ab. Das Tarifvertragsgesetz hingegen kennt
26282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Beate Müller-Gemmeke
(C)
(B)
keine kirchlichen Entgeltregelungen, und das ist für
mich auch nicht verhandelbar. Genau dieser Konflikt
muss gelöst werden. Hierfür tragen alle Verantwortung,
auch die Politik.
Wir brauchen qualitativ gute soziale Dienste. Not-
wendig sind faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen und
auch eine Mitbestimmung auf Augenhöhe. Eine radikale
Änderung per Gesetz funktioniert nicht. Wir dürfen uns
nicht wegducken; wir müssen uns einmischen, wir müs-
sen Anforderungen formulieren und im Dialog Lösun-
gen entwickeln; denn die soziale Arbeit braucht endlich
gesellschaftliche sowie politische Wertschätzung und
Anerkennung. Dafür sollten wir uns gemeinsam einset-
zen, liebe Regierungsfraktionen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. –
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
ser Kollege Ulrich Lange. Bitte schön, Kollege Ulrich
Lange.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben dieses Thema bereits vor eineinhalb Jahren
diskutiert, und wir waren uns auch im Großen einig – die
SPD-Fraktion und die Koalition für den Dritten Weg, die
Linken klar dagegen. Das haben wir jetzt noch einmal
gehört mit Verweis auf die Internationale und die Volks-
weise „Seit’ an Seit’“. Das ist natürlich Ideologie, darum
geht es Ihnen.
Zu den Grünen, Frau Kollegin Müller-Gemmeke: So
einfach verhält es sich natürlich nicht, wie Sie es in der
Antwort auf die Zwischenfrage des Kollegen von der
FDP dargestellt haben. Sie haben auf der einen Seite auf
dem Parteitag in Kiel etwas beschlossen. Sie haben auf
der anderen Seite eine Spitzenkandidatin, die ganz of-
fensiv in die Kirche hineinwirken möchte,
und die in Die Welt Online auf die Frage, wie sie zum
kirchlichen Arbeitsrecht steht, geantwortet hat – ich zi-
tiere –: „Es gibt bei uns viele Menschen, die sich klar
zum christlichen Glauben bekennen.“ Diese Antwort be-
sagt schon alles. Aber das Bekenntnis der EKD-Ratsvor-
sitzenden zu ihren kirchlichen Arbeitseinrichtungen hat
sie im Interview nicht abgeben können. Da möchte ich
dann doch wissen, wo Sie wirklich stehen.
Die durchaus unterschiedlichen Entscheidungen des
BAG sind Einzelfallentscheidungen. Wir alle wissen
das; solche Entscheidungen ergehen. Wir sprechen heute
– das ist auch wieder einmal typisch – über ein Urteil,
dessen Begründung wir nicht kennen. Wir alle legen in
dieser Debatte inzidenter die Presseerklärung des BAG
vom 20. November zu zwei Entscheidungen zum Zwei-
ten und zum Dritten Weg aus – das möchte ich bitte klar
unterscheiden –, wobei wir Folgendes feststellen kön-
nen: zum einen die Bestätigung der sogenannten Kir-
chenautonomie des Dritten Weges und zum anderen,
dass die bisherige Rechtsprechung zum generellen
Streikverbot insoweit aufgehoben wurde, als dass es Ge-
werkschaften möglich sein muss, sich innerhalb des
Dritten Weges koalitionsmäßig betätigen zu können. So-
weit die Presseerklärung des Bundesarbeitsgerichtes.
Ich bitte darum, diese hier genau beschriebene Grund-
rechtskollision
als solche anzuerkennen und zu versuchen, sie entspre-
chend aufzulösen. So verfährt auch das BAG in seiner
Pressemitteilung, indem es ganz klar sagt:
Die Gewährleistungen des Art. 9 Abs. 3 GG sind
allerdings nicht auf die Tarifautonomie beschränkt,
sondern erfassen auch konsensuale Lösungen.
Dann verweist es ganz ausdrücklich auf den schonen-
den Ausgleich nach dem Grundsatz der praktischen
Konkordanz. Dort wird noch einmal ganz genau ausge-
führt, dass bei der vorzunehmenden Güterabwägung sich
aufseiten der Religionsgemeinschaften Maß und Ge-
wicht der Beeinträchtigung nach ihrem Selbstverständ-
nis, also dem Selbstverständnis der Religionsgemein-
schaften, bestimmen.
Die Urteilsbegründung wird für uns sicherlich noch
interessant werden. Ich gehe einmal davon aus, dass wir
uns spätestens nach Veröffentlichung der Urteilsbegrün-
dung hier wieder treffen, weil eine Reihe von Fragen
noch offen ist, zum Beispiel, wie eine Zusammensetzung
kirchenferner Personen mit Mitgliedern dieser Dienstge-
meinschaft funktionieren soll und welche praktischen
Auswirkungen das auf das bisher gut funktionierende
Modell haben wird.
Die Entscheidungen des 20. November haben sicher-
lich Auswirkungen auf unsere Beurteilung des Dritten
Weges. Aber eines, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, ist auch klar: Die von Ihnen aufgestellten Forde-
rungen werden durch die Urteile des BAG ausdrücklich
nicht gestützt. Es handelt sich dabei um Einzelfallent-
scheidungen.
Und das BAG hat auch klargemacht: Der Dritte Weg
ist mehr. Er ist nicht kirchliches Arbeitsrecht, nicht Kol-
lektivarbeitsrecht, nicht Tendenzbetrieb im Sinne des
§ 118 Abs. 1 BetrVG, sondern es handelt sich hier um
Recht sui generis.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26283
Ulrich Lange
(C)
(B)
Auf das Individualarbeitsrecht möchte ich nicht mehr
eingehen; das haben wir im Rahmen der ersten Debatte
zu dem Antrag bereits getan. Aber eines ist klar: Auch in
diesem Bereich hat das BAG seine grundsätzliche
Rechtsprechung nicht geändert. Ich halte also fest: Es
gibt Einzelfallentscheidungen, aber sicherlich kein gene-
relles Streikrecht für Gewerkschaften in Kirchen. Viel-
mehr wurde gerade dies abgelehnt.
Nach unserer Auffassung besteht derzeit kein legisla-
tiver Handlungsbedarf. Kirchliches Arbeitsrecht und
Verfassungsrecht entwickeln sich allerdings in Kontex-
ten; das möchte ich sehr deutlich sagen. Das heißt, das
Recht prägt die gesellschaftliche Praxis, und die gesell-
schaftliche Praxis prägt das Recht. Diesem Grundsatz
müssen sich auch die kirchlichen Arbeitgeber in beson-
derer Weise bewusst sein. Das heißt, Dienstgemeinschaft
will gelebt werden. Das heißt, es muss eine Balance zwi-
schen den aus der Dienstgemeinschaft und dem kirchli-
chen Verständnis heraus wirkenden Grundeinsichten und
der praktischen Verwirklichung gefunden werden. Das
ist manchmal nicht einfach. Wo dies nicht gelingt – das
will ich für unsere Fraktion ganz deutlich sagen –, führt
der Dritte Weg zwangsläufig zu Akzeptanzverlust.
Letztlich glaube ich, dass nicht wir über die Frage des
kirchlichen Individual- oder Kollektivarbeitsrechtes ent-
scheiden, sondern die Entscheidung muss sich aus einer
Reflexion der kirchlichen Dienste und daraus folgendem
glaubwürdigen Handeln ergeben.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Ulrich Lange. – Nächste Red-
nerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere
Kollegin Frau Kerstin Griese. Bitte schön, Frau Kolle-
gin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Beide Seiten des Hohen Hauses machen
es sich hier etwas zu einfach. Der Antrag von den Lin-
ken ist inzwischen überholt und veraltet. Er bleibt auch
nur an der Oberfläche und benennt die Ursachen des
Problems nicht.
Und Sie, meine Damen und Herren von den Koali-
tionsfraktionen, verschließen völlig die Augen davor,
dass es sehr wohl Probleme im sozialen Sektor und auch
im Bereich der in den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden
Beschäftigten gibt. So einfach geht es nicht. Das Pro-
blem ist ein bisschen komplizierter. Und bei aller Liebe
zum Juristischen – wir müssen es nun mal auch politisch
bewerten.
Nach den Urteilen des Bundesarbeitsgerichtes vom
20. November, die hier schon vielfach zitiert wurden, ist
klar: Das kirchliche Arbeitsrecht kann nicht abgeschafft
werden. Aber dieses Urteil hat einige Hausaufgaben auf-
gegeben und vorgegeben, in welche Richtung es jetzt ge-
hen muss.
Wir müssen die genaue Begründung des Urteils ab-
warten, aber schon jetzt wissen wir: Erstens. Den kirchli-
chen Beschäftigten kann das Streiken nicht generell ver-
boten werden. Ich finde, das ist eine gute Entscheidung.
Zweitens hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass
die Kirchen sehr wohl das Recht haben, weiterhin den
Dritten Weg zu wählen. Auch das ist richtig und verfas-
sungsgemäß. Drittens hat das Bundesarbeitsgericht in
seinem Urteil zu dem Fall in Hamburg festgestellt, dass
das besondere Modell, das in Norddeutschland und auch
hier in Berlin-Brandenburg gewählt wurde, nämlich der
Zweite Weg, sehr wohl auch gewählt werden kann. Es
können also Tarifverträge zwischen Kirchen und Ge-
werkschaften unter Ausschluss von Streik und Aussper-
rung abgeschlossen werden.
Das sind weise Urteile. Wir müssen jetzt schauen,
welche Chancen wir haben, um die Mitarbeiterrechte,
die Position der Mitarbeiter und die soziale Arbeit in
Deutschland zu stärken; denn darum geht es uns als So-
zialdemokraten.
Ich finde es gut, wenn jetzt ein Weg gefunden wird,
über den Dritten Weg das Streikrecht zu ermöglichen.
Ich appelliere ausdrücklich an alle Beteiligten, das mög-
lich zu machen. Wichtig ist uns, dass der verfassungs-
rechtliche Anspruch der Kirchen, ihre Angelegenheiten
selbst zu regeln, selbstverständlich akzeptiert wird. Völ-
lig klar ist für uns auch, dass zum Auftrag der Kirchen
die soziale Arbeit dazugehört – zu wem denn auch
sonst? Man braucht doch nur in die Geschichte zu bli-
cken: Hospizarbeit, Kinderbetreuung und Altenpflege
gehören sehr wohl zu christlichem Handeln dazu. Aber
selbstverständlich fordern wir von der SPD, dass vor-
handene Missstände behoben werden müssen, und sagen
ganz klar: Outsourcing und Leiharbeit passen nicht zum
selbst gesteckten Anspruch der Kirchen.
Das kirchliche Arbeitsrecht muss reformiert werden.
Frau Kollegin Griese, Sie merken, dass sich der Kol-
lege Peter Weiß gemeldet hat. Sie gestatten die Zwi-
schenfrage?
Natürlich.
26284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Bitte schön.
Frau Kollegin Griese, da Sie selbst im Diakonischen
Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, der
Wohlfahrtsorganisation der evangelischen Kirche, an
oberster Stelle Leitungsverantwortung getragen haben,
möchte ich Sie fragen: Ist es nicht so, dass die Probleme,
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen, dia-
konischen oder karitativen Dienst haben, daraus resultie-
ren, dass sich einzelne Institutionen, die dem Diakoni-
schen Werk oder der Caritas angehören, nicht an die in
ihren Verbänden geltenden Tarifregelungen allgemeiner
Art gehalten haben, sondern versucht haben, über Out-
sourcing und Ähnliches aus dem Tarif auszusteigen? Ist
das nicht ein Problem, das die Leitungen zum Beispiel
der Caritas und der Diakonie und die Leitungen der
evangelischen und der katholischen Kirche regeln müs-
sen, indem sie in ihren rechtlichen Regelungen klarstel-
len: „Zu uns kann nur gehören, das kirchliche Selbstbe-
stimmungsrecht kann nur wahrnehmen, wer die
Tarifregelungen anwendet; wer sie nicht anwendet, ist
eben draußen“?
Da Sie in diesem Bereich Leitungsverantwortung ge-
tragen haben und es aus eigener Anschauung kennen,
bitte ich Sie, dazu ein klares Wort zu sprechen: Wer trägt
die Verantwortung, und wer muss konsequent regeln,
dass man den kirchlichen Tarifregelungen nicht entflie-
hen kann?
Lieber Herr Kollege Weiß, das tue ich sehr gerne;
denn Sie sprechen ein wichtiges Problem an. Da Sie bei
der Caritas – viele Jahre länger als ich bei der Diakonie –
einen Blick von innen auf diese Arbeitsverhältnisse hat-
ten, können wir, glaube ich, beide sagen: Ein Teil der
Hausaufgaben, die uns das Bundesarbeitsgericht aufge-
geben hat, ist der Appell, der deutliche Auftrag an Kir-
chen, Diakonie und Caritas, sich an ihre selbst gesteck-
ten Regeln zu halten. Auch ich als Vertreterin der Politik
fordere das ausdrücklich von Diakonie und Caritas ein;
selbstverständlich muss man sich an die geschlossenen
Tarifverträge und an die Arbeitsvertragsrichtlinien hal-
ten. Es ist interessant, dass das Bundesarbeitsgericht in
seinem Urteil sagt: Wenn man sich nicht daran hält, ist
Streiken sehr wohl erlaubt.
Insofern ist ganz klar: Die Vielfalt – manche sagen
auch: die Zerklüftung – der Tarifverträge im Bereich der
Kirchen und der kirchlichen Wohlfahrtsverbände muss
überwunden werden; da müssen einheitliche Regelungen
geschaffen werden.
Das Bundesarbeitsgericht hat gesagt: Die Gewerk-
schaften müssen beteiligt werden; wörtlich heißt es, sie
müssten „organisatorisch eingebunden“ sein. Auch da
geht mein Appell an Diakonie und Caritas: Die Gewerk-
schaften organisatorisch einzubinden, heißt nicht, dass
sie einfach nur dabei sein sollten, dass einfach nur ein
Mitarbeitervertreter gewählt werden kann, der Gewerk-
schaftsmitglied ist. Vielmehr heißt es, dass eine struktu-
relle Beteiligung der Gewerkschaften gewährleistet sein
muss. Das ist eine der Konsequenzen aus dem Urteil.
Die zweite Konsequenz haben wir schon eben in un-
serem kleinen Dialog angesprochen: Die Arbeitgeber-
seite darf nicht aus geschlossenen Tarifverträgen und vor
beschlossenen Arbeitsvertragsrichtlinien flüchten. Hier
wird mehr Verbindlichkeit eingefordert. Die eine Seite
kann nicht einfach einen anderen Vertrag wählen, weil es
ihr besser passt. Das geht nicht, und das müssen wir, der
Bundestag, den Kirchen, der Diakonie und der Caritas
ausdrücklich sagen.
Das Urteil hat aber auch den Gewerkschaften eine
Hausaufgabe aufgegeben: Sie dürfen sich einer Mitarbeit
in den Gremien nicht verweigern, sondern müssen sich
dort tatsächlich konstruktiv einbringen. Deshalb sage ich
ausdrücklich: Wir, die SPD, begrüßen alle Äußerungen
von Verdi, von den Gewerkschaften, von Diakonie, Cari-
tas und Kirchen, die jetzt ausdrücklich sagen, dass es um
die Zusammenarbeit geht. Denn der gemeinsame Gegner
aller, die im sozialen Bereich arbeiten, der gemeinsame
Gegner von Kirchen, ihren Wohlfahrtsverbänden und
Gewerkschaften ist der ruinöse Wettbewerb in der So-
zialbranche.
Wenn es so weitergeht, werden die privaten Träger,
die mit ihrem Lohndumping die Preise und die Löhne
drücken, mehr und mehr Platz gewinnen. Ich nenne ein
paar Zahlen: In der stationären Pflege befinden sich in-
zwischen circa 40 Prozent in privater Trägerschaft; nur
noch 55 Prozent liegen in frei-gemeinnütziger Verant-
wortung und nur 5 Prozent in öffentlicher, kommunaler
Verantwortung. In der ambulanten Pflege werden schon
60 Prozent von privaten Trägern übernommen, und sie
sind es, die für das Lohndumping verantwortlich sind.
Deshalb hat mein Kollege Ottmar Schreiner zu Recht
gesagt: Das, was wir brauchen – das ist nicht nur eine
Aufgabe der Kirchen, Herr Kollege Weiß, sondern sehr
wohl auch eine Aufgabe der Politik bzw. eine gemein-
same Aufgabe der Kirchen, der Gewerkschaften und der
Politik –, ist ein Branchentarifvertrag Soziales, der für
allgemeinverbindlich erklärt werden muss, um bessere
Bedingungen für die Menschen zu schaffen, die im so-
zialen Bereich arbeiten, und für die Menschen, die dort
gepflegt und betreut werden.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26285
(C)
(B)
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die
SPD-Fraktion, Entschuldigung, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In meiner Großvatergeneration hat das mit der
Mitgliedschaft in der SPD aufgehört. Danach hat sich
die Familie anders entwickelt.
Lassen Sie uns auf das Grundsätzliche dieser Debatte
zurückkommen. Wir reden hier über einen Ausfluss der
Religionsfreiheit. Die bisherige Debatte hat gezeigt, wel-
che Fraktionen die Religionsfreiheit und ihre Konse-
quenzen besonders ernst nehmen und hochhängen. Das
sind die beiden Fraktionen auf der rechten Seite dieses
Hauses, während auf der linken Seite eine gewisse reli-
giöse Amusikalität vorzuherrschen scheint, wenn man
sich die Tonalität des Antrages ein bisschen näher be-
trachtet.
– Ich habe mich früher gefragt, ob mein Vater, der so laut
in der Kirche neben mir singt, das etwas leiser tun
könnte. Heute tue ich es aus Inbrunst ebenfalls laut und
ebenfalls falsch, das will ich Ihnen ersparen.
Die Religionsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht.
Dieses Grundrecht hat unter anderem zur Folge, dass es
ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht im Staatskir-
chenrecht gibt, und dieses gilt es, ernst zu nehmen. Ein
Antrag der Linken kann eine grundrechtliche Situation
nicht einfach so ändern, wie Sie sich das vorstellen.
Auch das Bundesarbeitsgericht hat dies im Grundsatz
bestätigt.
Hier im Haus hat eine Sachverständigenanhörung
stattgefunden, in der der Dritte Weg mehrheitlich sehr
stark bestätigt wurde. Auch hier hätte Ihr Antrag keine
Zustimmung erfahren. Ich glaube, in Ihrem Antrag geht
es mehr um Symbolik als darum, das Problem sachlich
in den Griff bekommen zu wollen.
Man muss sagen: Die Kirchen haben reagiert. Sowohl
die katholische als auch die evangelische Kirche haben
erkannt: Es gibt in Teilen des Arbeitsrechts Probleme im
kirchlichen Bereich, weil einzelne Institutionen dem ei-
genen Anspruch der Kirche nicht gerecht werden. Die
Kirchen haben reagiert und gesagt: Es ist nicht in Ord-
nung, dass es Missstände gibt, dass man dem eigenen
Anspruch in Teilen nicht gerecht wird. Ich glaube, wir
können darauf vertrauen, dass die kirchlichen Institutio-
nen wie Diakonie und Caritas Wert darauf legen, dass
ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ordentlich
beschäftigt werden.
Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Punkt
nennen. Als Christ wünsche ich mir manchmal auch,
dass christliches Profil im Tun dieser Institutionen deut-
licher zum Ausdruck kommt. Manche Institution an der
Peripherie der Kirche hat vielleicht mit dem eigentlichen
Auftrag nicht mehr so viel zu tun. Deswegen tun die Kir-
chen gut daran, sich dort auf die christliche Botschaft der
Nächstenliebe zu konzentrieren, wo sie exemplarisch ge-
lebt werden kann;
denn wer – das sollten Sie bei Ihren Einlassungen be-
rücksichtigen – schon einmal gespürt hat, mit welchem
Enthusiasmus und mit welcher Motivation kirchliche
Mitarbeiter in den Einrichtungen tätig werden, der hätte
über die Zustände nicht so gesprochen, wie Sie es getan
haben, Herr Schreiner und Herr Sharma, sondern Sie
hätten festgestellt, dass durchaus sehr viele motivierte
und nicht geknechtete Mitarbeiter tätig sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen und kirch-
lichen Einrichtungen stärken“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10872, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5523 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung von CDU/CSU, FDP und SPD, die
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, Bündnis 90/
Die Grünen hat sich enthalten.
– Bei der SPD gab es eine abweichende Stimme? War
das so? – Es gab eine Gegenstimme in der SPD. Ent-
schuldigung, das habe ich nicht gesehen. Dann nehmen
wir das in das Protokoll auf. Vielen Dank.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die energetische Modernisierung von ver-
mietetem Wohnraum und über die verein-
26286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
fachte Durchsetzung von Räumungstiteln
– Drucksache 17/10485 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/11894 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Ingo Egloff
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Soziales Mietrecht erhalten und klimage-
recht verbessern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Halina Wawzyniak, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Wohnen muss bezahlbar bleiben
– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mietrechtsnovelle nutzen – Klimafreundlich
und bezahlbar wohnen
– Drucksachen 17/9559, 17/10776, 17/10120,
17/11894 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Ingo Egloff
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
Über den Entwurf eines Mietrechtsänderungsgesetzes
der Bundesregierung werden wir später namentlich ab-
stimmen.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Drei-
viertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen Wi-
derspruch. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Deutschland ist ein Land der Mieter und der Vermieter.
Es gibt in Deutschland 40 Millionen Wohnungen. Davon
sind 24 Millionen Mietwohnungen. Über 40 Prozent der
Deutschen wohnen zur Miete. In anderen, vergleichba-
ren Ländern Europas ist der Anteil eigengenutzten
Wohnraums viel höher. Deshalb ist das Mietrecht ein un-
gemein wichtiges Regelungsgebiet unseres bürgerlichen
Rechts. Es ist auch sehr politisch, weil sehr viele Men-
schen davon betroffen sind.
Zum Mietverhältnis gehören immer zwei: Mieter und
Vermieter. Vom Vermieter wird erwartet, dass er in den
Wohnraum investiert. Neuer Wohnraum muss gekauft
und gebaut werden, damit Mietwohnungen entstehen
können. Wohnraum muss modernisiert und in Schuss ge-
halten werden, weil anderenfalls der Bestand an zeitge-
mäßen Wohnungen knapp wird und dann auch die Mie-
ten steigen. All das muss finanziert werden. Der
Vermieter muss Zins und Tilgung für die Anschaffung
leisten. Er muss gegebenenfalls auch einen Mietausfall
überbrücken können.
Wenn man will, dass auch in Zukunft noch in Wohn-
raum investiert wird, weil Wohnraum sonst noch knap-
per und damit auch teurer wird, dann darf man Woh-
nungsinvestitionen nicht allen wirtschaftlichen und
rechtlichen Anreiz nehmen.
Nun haben die letzten Mietrechtsreformen die Mieter-
rechte immer weiter aufgebaut. Dahinter steckt das poli-
tische Kalkül, dass es mehr Mieter als Vermieter gibt
und man demgemäß mit dem Aufbau von Mieterrechten
mehr Wähler ansprechen kann als mit dem Aufbau von
Vermieterrechten. Es gibt einen Punkt, an dem die recht-
lichen Positionen von Mietern und Vermietern optimal
ausgependelt sind. Wenn man die Schraube aber noch
weiter dreht,
dann entsteht irgendwann eine Schieflage, und dann
muss man etwas tun, um die Sache wieder ins Lot zu
bringen und die Anreize für Investitionen zu erhöhen.
Mit unserer Mietrechtsnovelle greifen wir zwei solcher
Punkte auf:
Zum einen geht es um die energetischen Sanierungen.
Wir wollen die Eigentümer ermutigen, ihre Miethäuser
und Mietwohnungen energetisch auf den aktuellen Stand
zu bringen. Damit leisten wir in der Rechtspolitik unse-
ren Beitrag zur Energiewende.
Im Wohnungsbestand steckt noch eine ganze Menge
Potenzial. Es gibt viele Möglichkeiten, Primärenergie
einzusparen. Es gibt eine ganze Reihe Möglichkeiten,
alte Stromfresser aus den Häusern herauszuschmeißen.
In diesem Zusammenhang erwarten wir einen Beitrag
der Vermieter: Sie müssen solche Sanierungen vorfinan-
zieren und das Risiko tragen, dass sie ihre Kosten nicht
zu 100 Prozent umlegen können, dass sie nicht alles zu-
rückerhalten. Wir erwarten aber auch einen Beitrag der
Mieter: Ihnen erlegen wir auf, diese Sanierungsmaßnah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26287
Stephan Thomae
(C)
(B)
men zu dulden, außer in ganz extremen Fällen, und für
die Dauer von drei Monaten die Miete nicht zu mindern;
denn – das ist der Gedanke, der uns dabei leitet – wenn
in einem Mehrfamilienhaus 5, 10 oder 20 Mieter die
Miete mindern, dann ist das schon ein gewaltiges Hin-
dernis für den Eigentümer bei der Durchführung dieser
Modernisierung.
Wir erhöhen also den Anreiz, eine solche Modernisie-
rung durchzuführen, indem wir die Minderung für drei
Monate ausschließen.
Der zweite wichtige Punkt, der für die Vermieter von
Bedeutung ist, ist das Thema Einmietbetrug, Stichwort
„Mietnomadentum“. Gegen die Einmietbetrüger sollen
sich die Vermieter künftig besser zur Wehr setzen kön-
nen. Hier im Bundestag wurde immer wieder darüber
diskutiert, ob das nun ein großes oder kleines Problem
ist, ob es viele oder wenige solcher Fälle gibt. Kollege
Egloff, Sie werden gleich nach mir sprechen. Sie haben
in Ihrer letzten Rede das Mietnomadentum mit dem
Scheinriesen Tur Tur aus dem Buch Jim Knopf und die
Wilde 13 von Michael Ende verglichen.
Dabei geht es um einen Scheinriesen, der aus der Ferne
riesenhaft aussieht, aber, wenn man näherkommt, auf
Normalmaß schrumpft. Ich halte diesen Vergleich, Kol-
lege Egloff, für völlig verkehrt. Das Gegenteil ist der
Fall: Aus der Ferne mag es wie eine Bagatelle aussehen,
weil es nicht so viele Fälle gibt, aber wenn Sie als Ver-
mieter einmal so einen Einmietbetrüger in der Wohnung
haben, dann wird die Riesenhaftigkeit des Problems
deutlich. Denn wenn dieser alle Register zieht, bekom-
men Sie ihn zuerst einmal nicht wieder raus, und bis Sie
ihn herausbekommen, summieren sich Monat um Monat
die Mietrückstände. Am Ende müssen Sie noch für die
Wohnungsrenovierung aufkommen. Dann ist dies kein
Scheinproblem mehr, sondern ein riesiges Problem für
den Vermieter.
Deswegen wollen wir in solchen Fällen die Räumung
erleichtern. Da, wo der Fall klar ist, soll der Vermieter
die Möglichkeit haben, die Räumung über den Weg der
einstweiligen Verfügung durchzuführen.
Man sollte nicht die Angst haben, Kollegin Wawzyniak,
dass damit Mieter völlig rechtlos gestellt und aus der
Wohnung hinausgeworfen werden. Die Praktiker haben
uns in der Sachverständigenanhörung, der auch Sie bei-
gewohnt haben, deutlich gesagt, dass da, wo es Bedenken
gibt, natürlich über den Weg des einstweiligen Rechts-
schutzverfahrens Beweiserhebung stattfinden wird. Das
ist ein Schutzelement. Außerdem, Frau Kollegin, kann
der Mieter auch die Räumung abwenden, indem er den
Mietzins hinterlegt.
Dann gibt es für den Mieter den Schutz, dass er nicht aus
der Wohnung herausfliegt, und der Vermieter hat die Si-
cherheit, dass er, wenn er den Räumungsprozess ge-
winnt, nicht auch noch das Insolvenz-, das Zahlungsun-
fähigkeitsrisiko des Mieters tragen muss.
Insgesamt ist das also – das werden Sie mir sicherlich
nicht zugestehen, aber es ist einfach so; insgeheim wis-
sen Sie das – eine gute Korrektur, die ehrliche Mieter
nicht berührt, aber Tricksereien unehrlicher Mietbetrü-
ger erschwert und damit Vermietern das Leben leichter
macht.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir Schützenhilfe bei der
Energiewende gewähren, indem wir Wärmelieferver-
träge, das sogenannte Contracting, regeln. In vielen
Mietshäusern stehen noch die alten Heizkessel im Kel-
ler. Die Energiewende ist nicht nur ein Wunderwerk der
Solarenergie, sondern es geht dabei auch um Energieef-
fizienz, um Energieeinsparung. Da ist im Wohnungsbe-
stand noch eine ganze Menge zu tun. Wir wollen deswe-
gen die energetische Sanierung dort erleichtern, wo
professionelle Wärmelieferanten die Wärmeproduktion
im Haus verbessern, also moderne Heizkessel in die Kel-
ler einbauen, für die Wartung sorgen und damit auch da-
für sorgen, dass der Energieverbrauch im Haus zurück-
geht.
Das ist das, was wir für die Vermieter tun. Dies ist,
wie wir meinen, eine wichtige Korrektur, ein wichtiger
Beitrag zum Mietrecht, wobei wir die Mieter nicht ver-
gessen. Wir erschweren Luxussanierungen, die auf dem
Rücken der Mieter geschehen. Wir verzichten übrigens
darauf, die Kündigungsfristen, die momentan sehr asym-
metrisch zugunsten der Mieter sind, anzugleichen. Ich
bin der Meinung, dass es sich um einen ausgewogenen
Gesetzentwurf handelt – Frau Präsidentin, ich komme
zum Schluss –, der, wie ich meine, die Zustimmung die-
ses Hauses verdient.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ingo Egloff für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Mietrecht hat eine zentrale Bedeutung in
unserer Gesellschaft; denn die Wohnung ist der Mittel-
punkt des sozialen Lebens und der privaten Existenz.
Mieter müssen sich daher auf einen Rechtsrahmen ver-
lassen können, der für einen Ausgleich der unterschiedli-
chen Interessen von Mietern und Vermietern sorgt. Die-
ser Interessenausgleich, meine Damen und Herren von
der Koalition, findet in diesem Gesetzentwurf leider
nicht statt.
26288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Ingo Egloff
(C)
(B)
Es ist auch nicht unser Kalkül, Herr Thomae, dass
mehr Mieter Wähler sind als Vermieter. Vielmehr ist die
Tatsache, dass wir hier für vertretbare Mieten und für
eine soziale Ausgestaltung des Mietrechts sorgen müs-
sen, Ausdruck des Sozialstaatsprinzips der Bundesrepu-
blik Deutschland. Darauf kommt es an.
In dieser Woche haben Sie Ihren Gesetzentwurf zur
Änderung des Mietrechts mit ein paar Korrekturen ver-
sehen. Sie hoffen wahrscheinlich, dass damit die Ver-
säumnisse der letzten zwei Jahre, in denen wir mit Ihnen
darüber debattieren mussten, aufgeholt werden können.
Aber wie sagt der Engländer? Too little, too late. Ihre
Verbesserungsvorschläge sind weiße Salbe. Sie nehmen
ein paar Kritikpunkte aus der Anhörung auf, mehr nicht.
Sie beruhigen das soziale Gewissen des einen Teils der
Koalition, indem Sie in letzter Minute noch die Länder-
ermächtigung zur Kappung der Mietsteigerungshöhe bei
den Bestandsmieten in den Gesetzentwurf geschrieben
haben.
Ihr Kollege Singhammer hat sich im November in ei-
ner bayerischen Lokalausgabe der Bild-Zeitung schon
als Retter der geknechteten Mieter feiern lassen. Die Be-
grenzung auf 15 Prozent in drei Jahren ist aber wahrlich
nur die halbe Miete – vom Rest kann man nur hoffen,
dass er Ihnen nicht schmerzhaft auf die Füße fällt.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden
die Spaltung der Städte und die Verdrängung der ange-
stammten Bevölkerung aus den Stadtzentren nicht auf-
halten, wenn Sie keine Regelungen zur Begrenzung der
Miethöhe bei Neuvermietungen vorsehen – und das tun
Sie in Ihrem Gesetzentwurf nicht.
Auch die Berechnung der ortsüblichen Vergleichs-
mieten gehen Sie nicht an, obwohl Sie genau wissen,
dass hier die entscheidenden Voraussetzungen für ein
Ende der Gentrifizierung unserer Innenstädte liegen. Die
Begründung, die Sie im Ausschuss gegeben haben – In-
vestitionen würden sonst nicht stattfinden –, trägt nicht,
und das wissen Sie in Wahrheit auch, Herr Thomae.
Den anderen Teil der Koalition freut derweil, dass er
im Interesse seiner Wählerklientel an wesentlichen Pfei-
lern des Mietrechts herumsägen darf: Kündigung wegen
Nichtzahlung der Kaution ohne Abmahnung; Räu-
mungstitel wegen Mietverzugs ohne Entscheidung in der
Hauptsache, in der möglicherweise doch die Rechtmä-
ßigkeit der Mietkürzung festgestellt würde. Es gibt dann
zwar einen Schadenersatzanspruch; aber man ist aus der
Wohnung raus. Mit sozialem Mietrecht hat das über-
haupt nichts mehr zu tun.
Einer der Punkte, die Ihnen schon in der Expertenan-
hörung um die Ohren geflogen sind, ist – Sie haben es
selber angesprochen – der Punkt Mietnomaden.
Meinen Vergleich mit dem Scheinriesen aus Jim Knopf
fand der Kollege Sensburg in einer Debatte zynisch, und
Herr Thomae hat ihn humoristisch genannt. Ich zitiere
einfach einmal einen Sachverständigen, den, glaube ich, die
CDU/CSU-Fraktion benannt hatte: Richter Börstinghaus,
jemand aus der Praxis. Er hat in seiner Stellungnahme
angeführt:
Mietnomaden … sind hierzulande ebenso selten
wie der Satanspilz … Und doch macht er den Leu-
ten Angst. Der Satanspilz ebenso wie der Mietno-
made, wie die Schweinegrippe und Vogelgrippe,
Rinderwahn oder SARS.
Sie haben – da zitiere ich Herrn Mayer aus der Haus-
haltsdebatte vor drei Monaten – entgegnet: Die Frage,
wie viele Mietnomaden es gibt, sei schon im Ansatz ver-
fehlt.
Ich will Ihnen sagen, wie die Fakten sind: Schauen Sie
sich Statistiken über Einmietbetrug an! Sie werden se-
hen, dass es in fast allen Fällen Zechpreller sind, die ihre
Hotelrechnung nicht bezahlen – jedenfalls keine Wüs-
tenvölker, die von Wohnung zu Wohnung ziehen.
Es bleibt also bei der Feststellung: Sie haben keine be-
lastbaren Fakten, die eine derartige Regelung rechtferti-
gen würden; aber sie machen es trotzdem.
Sie beschädigen darüber hinaus das Äquivalenzprin-
zip des Vertragsrechts, und zwar indem Sie versuchen,
energetische Gebäudesanierungen dadurch zu fördern,
dass den Mietern während der Bautätigkeit für ein Vier-
teljahr die Mietminderung untersagt sein soll. Damit
schränken Sie die Mieterrechte meines Erachtens in
nicht hinnehmbarer Weise ein, nur um gute Laune unter
ein paar Leuten zu verbreiten, von denen Sie nächstes
Jahr noch einmal gewählt zu werden hoffen.
Ihre eigenen Sachverständigen haben es Ihnen in der An-
hörung doch deutlich gesagt: Eine Differenzierung der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26289
Ingo Egloff
(C)
(B)
Mietminderung ist vollkommen sinnlos, weil energeti-
sche Gebäudesanierungen, Modernisierungen und In-
standhaltung in der Praxis vernünftigerweise in einem
Rutsch erledigt werden. Wie Sie das auseinanderhalten
wollen, bleibt schleierhaft. Als Beschäftigungsprogramm
– das habe ich hier schon öfter gesagt – für Anwälte und
Gerichte mag das taugen; aber es wird nicht dazu führen,
dass die energetische Sanierung von Gebäuden signifi-
kant gefördert wird.
Sie haben es trotz langer Beratung nicht geschafft, ein
sozial verträgliches, modernes Mietrecht vorzulegen.
Das liegt daran, dass Sie aus Angst vor der Immobilien-
wirtschaft die Probleme der sozialen Schieflage auf dem
Mietmarkt nicht angehen wollen. Dazu gehört letztend-
lich auch, dass Sie es bei der Umlage von 11 Prozent pro
Jahr belassen wollen, obwohl Sie wissen, dass energeti-
sche Gebäudesanierungen zu Steigerungen von 3,50 bis
4 Euro pro Quadratmeter führen werden. Zumindest für
den Teil der Bevölkerung, der schon jetzt 40 Prozent und
mehr des Einkommens für die Miete ausgeben muss, ist
das nicht mehr zu verkraften.
Fazit: Der Gesetzentwurf ist schlecht, er blendet die
soziale Wirklichkeit in unseren Städten aus, er wird den
Klimazielen nicht dienen, er ist sozial unausgewogen –
und das nach zwei Jahren Beratung! Meine Damen und
Herren, Sie haben nichts gelernt in diesem Prozess. Wir
werden dem Gesetz nicht zustimmen und nach dem Sep-
tember 2013 einen besseren Gesetzentwurf vorlegen.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Jan-Marco Luczak.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Egloff, Sie haben jetzt gerade
auf unsere lange Beratungszeit hingewiesen.
In der Tat: Zweieinhalb Jahre sind ein langer Zeitraum.
Die Beratungszeit war aber deswegen so lang, weil das
Mietrecht eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat. Wir
haben es uns deswegen wirklich nicht einfach gemacht,
weil wir die Umsetzung unserer Ziele bei der Reform
– die Beförderung der energetischen Sanierung, ein bes-
serer Schutz gegen Mietnomaden und eine rechtssichere
Regelung bei der gewerblichen Wärmelieferung – si-
cherstellen wollten. Dabei haben wir von Anfang an da-
rauf geachtet, dass es hier nach wie vor eine soziale Aus-
gewogenheit des Mietrechts gibt. Das haben wir mit
diesem Gesetzentwurf auch geschafft.
Liebe Opposition, Sie poltern hier jetzt lauthals los,
wir würden einen Gesetzentwurf zugunsten der Vermie-
ter vorlegen, also Klientelpolitik betreiben und die Mie-
ter einseitig belasten. Dazu sage ich: Das ist in der Sache
falsch, unredlich und populistisch und wird dem ange-
messenen Ernst und dem Respekt für das Thema auch
überhaupt nicht gerecht.
Schauen Sie sich nur einmal an, was wir mit diesem
Gesetzentwurf beschließen und was wir vor allen Din-
gen in den Beratungen während des parlamentarischen
Verfahrens geändert haben. Man stellt dann nämlich sehr
schnell fest, dass wir die Rechte von Mietern nicht, wie
Sie hier behaupten, an vielen Stellen verschlechtern,
sondern dass wir sie im Gegenteil an vielen Stellen sogar
verbessern.
Lassen Sie mich das einmal an drei Beispielen fest-
machen:
Die regionalisierte Kappungsgrenze. Mit unserem
Gesetzentwurf verschärfen wir diese Kappungsgrenze.
Zukünftig können Mieten nicht mehr um 20 Prozent in-
nerhalb von drei Jahren bis zur ortsüblichen Vergleichs-
miete angehoben werden, sondern nur noch um 15 Pro-
zent. Mit dieser Änderung leisten wir einen wichtigen
Beitrag dafür, dass die Mieten in Ballungszentren zu-
künftig nicht mehr so stark steigen können.
Wir wirken damit der Verdrängung von Mietern aus ih-
ren angestammten Wohnrevieren entgegen. Das ist ein
echter Beitrag für mehr Mieterschutz, und das können
Sie als Opposition an dieser Stelle ruhig auch einmal an-
erkennen.
Anders als Sie von der Opposition wollen, haben wir
diese verschärfte Kappungsgrenze aber nur für die Ge-
biete vorgesehen, in denen tatsächlich Wohnungsknapp-
heit herrscht, also in Ballungszentren und großen Städ-
ten wie Berlin, Hamburg, München und anderswo. Wir
geben es in die Hände der Länder, per Rechtsverordnung
zu entscheiden, wo dies der Fall sein soll. Wir treffen
hier also nicht eine Einheitsregelung, mit der wir alles
über einen Kamm scheren, sondern wir treffen eine ziel-
genaue Regelung. Damit werden wir der Unterschied-
lichkeit der regionalen Wohnungsmärkte gerecht.
26290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
(C)
(B)
Uns war und ist an dieser Stelle nämlich wichtig, dass
wir uns hier nicht allein an den Symptomen abarbeiten;
denn ich will einmal klar betonen: Die eigentliche Ursa-
che für Mietpreissteigerungen ist die Wohnungsknapp-
heit.
Es gibt schlicht zu wenige Angebote an Mietwohnun-
gen. Deswegen brauchen wir mehr Wohnungsbau.
Das kann aber nicht allein der Staat leisten, sondern
dafür brauchen wir zwingend auch private Investitionen.
Hier geht es gar nicht so sehr um die großen Finanzinves-
toren, sondern vor allen Dingen um private Kleinvermie-
ter. Diese bieten nämlich etwa 60 Prozent der Wohnun-
gen in unserem Land an. Das sind kleine mittelständische
Handwerksmeister um die 60 Jahre, die drei bis fünf
Wohnungen als Altersvorsorge für sich gebaut haben.
Diese Menschen brauchen wir, wenn es auch zukünftig
genügend Wohnraum in unserem Land geben soll.
Privat investiert wird aber natürlich nur dort, wo sich
das wirtschaftlich rechnet. Wenn man nun aber weiß,
dass die durchschnittliche Rendite beim Wohnungsbau
bei gerade einmal etwas über 2 Prozent liegt, dann kann
man sich sehr schnell ausrechnen, dass eine generelle
Verschlechterung der Investitionsbedingungen durch uns
dazu führen würde, dass niemand mehr in den Woh-
nungsbau investieren würde.
Deswegen ist hier unser Ansatz, dort, wo die Notwen-
digkeit dafür besteht, eine zielgenaue Verschärfung der
Kappungsgrenze vorzunehmen, aber nicht eine Einheits-
regelung zu treffen. Eine solche Regelung ist genau das
Richtige.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, durch
den wir die Rechte der Mieter gegenüber dem geltenden
Recht deutlich verbessern. Das ist nämlich beim Con-
tracting der Fall, bei der gewerblichen Wärmelieferung.
Heute ist es ja möglich, dass man quasi einen Vertrag
zulasten Dritter schließt, nämlich einen Vertrag zulasten
der Mieter. Der Vermieter schließt mit dem Contractor
einen Vertrag und sagt: Du lieferst mir die Wärme, stellst
mir das in Rechnung, und ich lege das dann als Betriebs-
kosten auf die Mieter um. – Diese neuen Betriebskosten
können deutlich höher als das sein, was die Mieter vor-
her bezahlen mussten.
Das ändern wir jetzt. Wir wollen zwar, dass es zu-
künftig mehr Contracting gibt, weil das auch einen wich-
tigen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann, in unserem
Gesetzentwurf schließen wir aber gleichzeitig aus, dass
Mieter dadurch belastet werden. Wir sagen: Die Umstel-
lung auf gewerbliche Wärmelieferung muss kostenneu-
tral erfolgen. Das bedeutet, es wird hier keine Gewinne
auf Kosten der Mieter mehr geben.
Mit dieser Regelung werden viele Millionen Men-
schen in unserem Land von potenziellen Mehrkosten
entlastet, und gleichzeitig tragen wir zum Klimaschutz
bei. Deswegen ist das eine gute Regelung, die wir alle
hier mittragen sollten.
Noch einen letzten Punkt möchte ich nennen, wenn es
um die Verbesserung von Mieterrechten geht: Auch
beim Kündigungsschutz machen wir Fortschritte. Bei
der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentums-
wohnungen besteht ein spezieller Kündigungsschutz für
Mieter. In der Vergangenheit gab es viele trickreiche Ge-
staltungen, durch die dieser Schutz umgangen wurde.
Hier schieben wir jetzt einen wirksamen Riegel vor. Da-
mit verhindern wir zukünftig, dass Mieter aus ihren
Wohnungen verdrängt werden. Das Münchener Modell
wird es künftig nicht mehr geben. Dafür gibt es einen
wirksamen Riegel. Mehr Mieterschutz also auch hier,
meine Damen und Herren.
Schon allein an diesen drei Punkten – ich könnte noch
weitere Punkte nennen – wird sehr deutlich, dass die
Vorwürfe der Opposition nichts weiter als Wahlkampf-
getöse sind.
Sie wollen den Mietern in unserem Land einreden, dass
wir die Rechte der Mieter schleifen wollen, um daraus
einen politischen Vorteil zu ziehen. Richtig ist: Die
christlich-liberale Koalition braucht Sie nicht als sozia-
les Gewissen, um die Rechte der Mieter zu schützen.
Das war und ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Richtig ist natürlich, dass auch die Mieter ihren Bei-
trag erbringen müssen. Denn wir wollen eine ausgewo-
gene Reform. Daher haben wir auch den Klimaschutz
und die Interessen der Eigentümer natürlich mit im Blick
gehabt.
Die Reform des Mietrechtes ist ein wichtiger Bau-
stein der Energiewende; das ist schon angesprochen
worden. Wir wollen, dass die Eigentümer mehr in ener-
getische Sanierung investieren. Es geht also darum, An-
reize für die Gebäudesanierung zu schaffen, weil hier
nämlich enorme Potenziale zur Einsparung von Energie
und zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes liegen. Deswe-
gen brauchen wir Rahmenbedingungen, die Eigentümer
nicht von Investitionen abhalten. Gerade private Klein-
vermieter – nochmals: Sie stellen die Mehrheit der Woh-
nungen in unserem Lande – müssen wir dazu ermutigen,
in die energetische Sanierung ihres Eigentums zu inves-
tieren. Deswegen sagen wir: Die Eigentümer sollen in
den ersten drei Monaten nicht durch Mietminderungen
belastet und dadurch möglicherweise von einer energeti-
schen Modernisierung abgehalten werden. Natürlich
stellt das eine Belastung der Mieter dar. Aber wir können
unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele nur erreichen,
wenn alle an einem Strang ziehen. Das ist eine gesamt-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26291
Dr. Jan-Marco Luczak
(C)
(B)
gesellschaftliche Aufgabe, deren Lasten gerecht verteilt
werden müssen. Daran müssen alle mitwirken. Deswe-
gen ist es, so glaube ich, gerechtfertigt, dass auch Mieter
hier ihren Beitrag zum Gelingen der Energiewende leis-
ten.
Eines kommt noch hinzu. Wir haben in den parlamen-
tarischen Beratungen festgeschrieben, dass es einen
Minderungsausschluss nur dann gibt, wenn Mieter tat-
sächlich von der Sanierung profitieren, wenn und weil
sie zukünftig Betriebskosten sparen. Es fließt also un-
mittelbar etwas an die Mieter zurück. Vor diesem Hinter-
grund sage ich noch einmal, dass es sich bei dem
dreimonatigen Mietminderungsausschluss um eine zu-
mutbare Regelung handelt. Man kann das den Mietern
an dieser Stelle auch durchaus sagen: Das ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe. Auch ihr müsst einen
kleinen Anteil dazu leisten.
Zu einer ausgewogenen Reform gehört natürlich
auch, dass wir etwas gegen das tun, wovon schon die
Rede war. Ich meine den besseren Schutz der Eigentü-
mer vor Mietnomaden. Die Opposition wird – Herr
Egloff hat das auch gerade wieder getan – sagen, das
Problem existiere nicht oder sei nicht der Rede wert. Ich
kann Ihnen nur empfehlen: Reden Sie einmal mit betrof-
fenen Eigentümern! Reden Sie einmal mit einem priva-
ten Kleinvermieter, der durch einen Mietnomaden einen
Schaden von vielen Tausend Euro erlitten hat und da-
durch in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht ist.
Wenn Sie dann immer noch sagen, es bestehe kein ge-
setzgeberischer Handlungsbedarf, sage ich Ihnen, Herr
Egloff: Das ist zynisch, was Sie an dieser Stelle sagen.
Für mich kommt es gar nicht so sehr darauf an, wie hoch
die relevante Zahl an Fällen ist. Ich finde: Jeder Mietno-
made ist einer zu viel. Es handelt sich um Kriminelle,
gegen die man wirklich intensiv, geschlossen und hart
vorgehen muss.
Deswegen geben wir den Eigentümern mit der Siche-
rungsanordnung jetzt ein wirksames Instrument an die
Hand, sich gegen Mietnomaden zu wehren. Jetzt kann
das Gericht einen Mieter verpflichten, für die sich wäh-
rend des Prozesses aufhäufenden Mietrückstände eine
Sicherheit zu hinterlegen.
Vermieter werden so davor geschützt, dass sie zwar den
Prozess gewinnen, aber danach ihre Forderungen nicht
durchsetzen können, weil der Mieter zwischenzeitlich
insolvent geworden ist.
An die Sicherungsanordnung knüpft noch eine wei-
tere Rechtsfolge: Kommt der Mieter der gerichtlichen
Anordnung nicht nach und dokumentiert damit seine kri-
minelle Energie, kann der Vermieter eine einstweilige
Räumungsverfügung erwirken. Jetzt ist endlich Schluss
mit dem unerträglichen Zustand, dass Vermieter bis zu
zwei Jahre klagen müssen, bis sie endlich ihre Wohnung
zurückbekommen.
Deswegen kann man am Schluss unter dem Strich
feststellen, dass wir hier einen Gesetzentwurf vorlegen,
von dem wirklich deutlich geworden ist, dass er ausge-
wogen ist.
Er berücksichtigt die Interessen von Vermietern und
Mietern. Zugleich leistet er einen wichtigen Beitrag zum
Klimaschutz.
Deswegen kann ich an der Stelle nur an die Opposi-
tion appellieren: Verzichten Sie auf Ihr Wahlkampfge-
töse! Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Es ist ein
guter Gesetzentwurf. Deswegen verdient er, glaube ich,
vom Plenum breit getragen zu werden.
Vielen Dank.
Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mehrere Jahrzehnte hat das Mietrecht für faire und aus-
geglichene Verhältnisse zwischen Mietern und Vermie-
tern gesorgt. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse ha-
ben sich verändert, und insofern sind auch wir der
Auffassung, dass das Mietrecht geändert werden sollte,
allerdings nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen aus
der Koalition, wie Sie es vorhaben.
Unter dem Vorwand der notwendigen energetischen
Sanierung verschieben Sie mit dem vorliegenden Ent-
wurf eines Mietrechtsänderungsgesetzes alle Lasten auf
die Schultern der Mieterinnen und Mieter. Selbst nach
der Anhörung, in der Ihre eigenen, von Ihnen bestellten
Sachverständigen Ihnen gesagt haben, dass der vorlie-
gende Entwurf kein wirklicher Anreiz zur energetischen
Ertüchtigung der Gebäude ist, halten Sie an der Durch-
setzung Ihres Vorhabens fest. Denn der wirkliche Grund
für Ihre Gesetzesinitiative ist nicht die energetische Sa-
nierung, sondern der weitere Rückzug aus der Verant-
wortung des Staates in der Wohnungspolitik.
26292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Heidrun Bluhm
(C)
(B)
Genauso, wie Sie in den vergangenen Jahren alles un-
ternommen haben, um weiter öffentliche Wohnungen zu
verscherbeln, den Privatisierungsprozess förmlich ange-
heizt haben, steuerliche Vorteile für private Vermieter
weiter ausbauen wollen, das Wohngeld und die Städte-
baufördermittel weiter zurückgefahren haben, so soll
heute nun auch das letzte Glied in der Kette Ihrer Woh-
nungspolitik hinzugefügt werden, mit der Verschlechte-
rung des Mietrechts auch die Verwertungsbedingungen
von Wohnraum für die private Wohnungswirtschaft wei-
ter zu verbessern – und das ausschließlich auf Kosten der
Mieterinnen und Mieter, zum Beispiel durch satte Miet-
erhöhungen nach einer vermeintlichen energetischen Sa-
nierung
– Sie wollen zwar von 20 Prozent auf 15 Prozent zurück-
gehen, aber das reicht immer noch nicht aus –, durch die
„Bereinigung“ der Mieterschaft nach deren Zahlungsfä-
higkeit oder durch einen kräftigen Aufschlag bei Neu-
vermietung, nachdem man die weniger zahlungsfähigen
Mieter bereits wegsaniert hat.
Dieses Gesetzespaket ist nicht nur, wie die Sachver-
ständigen einhellig meinen, ineffizient, unfair, system-
fremd und verfassungswidrig. Es ist schlichtweg sitten-
widrig.
Wenn man die Energiewende im Wohnungsbestand
voranbringen will – was auch nach unserer Überzeugung
notwendig ist –, dann geht das nur in einem fairen Inte-
ressenausgleich. Eine Mietrechtsreform, die dem An-
spruch, die energetische Sanierung von Wohnraum vo-
ranzubringen, gerecht werden will, kann das niemals
durch eine Kostenexplosion im Mietwohnungsbereich
erreichen.
Viele Mieterhaushalte – auch normal verdienender
Mieter – sind bei den Wohnkosten inzwischen am Ende
ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen. Es
kommt zu Recht zu öffentlichen Protesten und Wider-
stand Tausender Mieterinnen und Mieter, wie im No-
vember in Freiburg, Hamburg oder auch Berlin. Das
wird weiter zunehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Gegen Millionen Mieterinnen und Mieter kann aber
die Energiewende nicht gelingen. Unser Verständnis des
Zusammenhangs zwischen Energiewende und Miet-
recht ist ein völlig anderes.
Unseren Antrag zu diesem Thema haben wir deshalb un-
ter der Forderung „Wohnen muss bezahlbar bleiben“,
Herr Kauder, zusammengefasst, und zwar nicht trotz der
Energiewende, sondern mit der Energiewende und vor
allem durch die Energiewende.
Dazu sind nicht in erster Linie neue Verordnungen
und Rechtsänderungen notwendig, sondern vor allem ein
klares politisches Bekenntnis zum Klimaschutz als
Staatsziel, umgesetzt durch entsprechendes politisches
Handeln.
Unsere konkreten Forderungen dazu haben wir in
acht Punkten zusammengefasst. Einige davon will ich
Ihnen nennen. Die Linke will qualifizierte Miet-, Be-
triebs- und Heizkostenspiegel im gesamten Bundesge-
biet. Die Mietspiegel müssen alle Bestandsmieten erfas-
sen.
Wir wollen die Erhöhung der Nettokaltmiete bei be-
stehenden Mietverhältnissen und bei Neuvermietung nur
bei wohnwertverbessernden Maßnahmen zulassen, an-
sonsten höchstens im Rahmen des Inflationsausgleichs.
Wohnkosten müssen im Verhältnis zu den Durch-
schnittseinkommen der Mieterhaushalte gedeckelt wer-
den. Wer unterhalb des Durchschnittseinkommens der
Bevölkerung verdient, darf mit maximal 30 Prozent sei-
nes Einkommens dazu herangezogen werden. Was da-
rüber hinausgeht, muss durch Wohngeld, ergänzt durch
eine Klimakomponente, aufgefangen werden.
Die Umlage von Modernisierungskosten muss an den
Abschreibungsfristen orientiert werden.
Dafür reichen bei wirtschaftlicher Betrachtung 5 Prozent
aus, und zwar begrenzt auf den Amortisationszeitraum.
Die Umlage ist aber überhaupt nur dann gerechtfer-
tigt, wenn aus der Modernisierung eine spürbare Ener-
gieeinsparung für den Mieter resultiert und damit paral-
lel auch die Betriebskosten sinken.
Vermieter sollen einen Rechtsanspruch auf öffentliche
Förderung haben, wenn sie Sanierungsmaßnahmen
entsprechend staatlicher Vorgaben realisieren. Die öf-
fentliche Förderung von Modernisierungsmaßnahmen
schließt eine kostenlose Mieter- und Energieberatung
ein. Eine ersatzlose Räumung der Wohnung nach Kündi-
gung ist für uns nicht zulässig, wenn dadurch in die Ob-
dachlosigkeit geräumt wird.
Diese von uns vorgeschlagenen Regelungen sind um-
setzbar, und sie vermeiden eine einseitige und damit un-
gerechte Belastung der Mieterinnen und Mieter. Auch
die Vermieter werden nicht unzumutbar belastet, weil
die von uns vorgeschlagene Modernisierungsumlage
wirtschaftlich auskömmlich ist. Im Übrigen glaube ich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26293
Heidrun Bluhm
(C)
(B)
nicht, dass die Vermieter in Erwartung der anstehenden
Mietrechtsänderung eine große energetische Sanierungs-
offensive starten werden. Dazu war diese Bundesregie-
rung bisher nicht imstande, und mit diesem Gesetz
schafft sie es auch nicht. Das Handwerkszeug, das Sie
gewählt haben, ist einfach schlecht. Genauso arbeitet
auch die gesamte Bundesregierung.
Danke schön.
Die Kollegin Daniela Wagner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Angesichts der öffentlichen Debatte über den Man-
gel an bezahlbarem Wohnraum nicht nur für ein-
kommensschwache Haushalte, sondern auch für
Normalverdiener und Studierende und angesichts einer
regelrechten Mietpreisexplosion in zahlreichen Metro-
polregionen verwundert es doch sehr, dass Sie mit Ihrer
Mietrechtsnovelle auf diese Probleme an keiner Stelle
reagieren,
außer vielleicht mit der Landesermächtigung zur Absen-
kung der Kappungsgrenze von 20 auf 15 Prozent in Ge-
bieten mit Wohnraummangel – in letzter Minute. Damit
bestätigen Sie das, was wir seit zwei Jahren sagen, näm-
lich dass wir Versorgungsprobleme auf zahlreichen
Wohnungsmärkten haben. Aber Sie ziehen keinerlei
Konsequenz daraus. Sie sind nicht konsequent. Sie ver-
suchen, mit Ihrer Regelung den Anschein von Konse-
quenz zu erwecken. Aber die Kappungsgrenze muss
bundesweit von 20 auf 15 Prozent gesenkt werden.
Außerdem müssen Sie die Neuvertragsmieten ins Auge
fassen; denn diese sind die entscheidenden Mietpreistrei-
ber.
Es passt zu Ihrem bisherigen Vorgehen, die woh-
nungs- und mietenpolitische Verantwortung komplett
auf die Länder abzuschieben.
Sie, Herr Ramsauer, verweisen ständig – einem Mantra
gleich – auf die Bundesländer und ihre Zuständigkeit für
die soziale Wohnraumförderung. Sicherlich ist das ein
Teil der Lösung. Aber es muss wesentlich mehr getan
werden. Das wird nicht ausreichen.
Sie vernachlässigen Ihre Bundeszuständigkeit beim
Mietrecht. Das Mietrecht ist das zentrale Instrument,
wenn es darum geht, den Rahmen für Miethöhen festzu-
legen und notfalls Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Sie versuchen unter dem Vorwand der Energiewende,
Mieterinnen- und Mieterrechte abzubauen.
Wenn mietrechtliche Stellschrauben zugunsten der ener-
getischen Modernisierung verstellt werden, müssen Sie
gleichzeitig die Mieterschutzrechte anpassen. Bei Ihnen
geht es leider einseitig in die andere Richtung, obwohl
wir spätestens seit 2009 wissen, mit welchen Verdrän-
gungstendenzen wir es auf dem deutschen Wohnungs-
markt zu tun haben.
– Doch, wir wollen auch eine energetische Gebäudesa-
nierung. Aber wir wollen, dass Mieterinnen und Mieter
das auch finanzieren können. Es hat keinen Sinn, Miete-
rinnen und Mieter komplett aus ihrem bezahlbaren
Wohnraum herauszusanieren.
Wir brauchen eine verlässliche Förderkulisse und ei-
nen zuverlässigen Planungshorizont für die Eigentümer.
Im Übrigen sei Ihnen nochmals gesagt: Das Mietrecht ist
nicht das originäre Instrument, um die energetische Ge-
bäudesanierung voranzubringen. Dazu bedarf es voll-
kommen anderer Instrumente. Wir brauchen eine ge-
rechte Verteilung der Lasten zwischen dem Staat, der
Mieterschaft sowie den Eigentümerinnen und Eigentü-
mern.
– Nein, die haben wir jetzt nicht mehr. Die gab es eine
ganze Zeit lang.
Wir werden Ihren Entwurf eines Mietrechtsände-
rungsgesetzes nicht mittragen.
Sie haben immer noch den Minderungsausschluss bei
der energetischen Gebäudesanierung für die ersten drei
Monate im Gesetzentwurf. Sie vernachlässigen das
Äquivalenzprinzip des Vertragsrechts: 100 Prozent Be-
zahlung, 100 Prozent Leistung. Sie senken die Moderni-
sierungsumlage nicht, obwohl sie vielerorts schon lange
nicht mehr durchzusetzen ist, und Sie halten immer noch
an der Sicherungsanordnung fest, mit der Sie Tausende
von korrekten Mieterinnen und Mietern bedrohen, wenn
sie einmal in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind.
Das ist extrem unfair. Das Mindeste wäre, dass zuvor ein
Hauptsacheverfahren stattgefunden hat. Aber einfach die
Leute herauszudrängen, um anschließend im Hauptsa-
cheverfahren vielleicht festzustellen, dass sie recht hat-
ten, sie aber dann ihre Wohnung los sind, ist ein Unding –
vor allen Dingen dort, wo sich wegen des angespannten
Wohnungsmarkts nicht so leicht eine neue Wohnung fin-
den lässt.
26294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Daniela Wagner
(C)
(B)
Wir hatten bis heute ein soziales und faires Mietrecht.
Wir glauben auch, dass es in diesem Mietrecht Instru-
mente gibt, die man zugunsten der energetischen Gebäu-
desanierung einsetzen kann. Aber was wir nicht glauben,
ist, dass Sie eine beschleunigte energetische Gebäudesa-
nierung mit dieser Mietrechtsnovelle bewerkstelligen.
Sie werden überhaupt keinen Unterschied zu vorher fest-
stellen. Dazu bedarf es vor allen Dingen klarer, ausrei-
chender Förderbedingungen für die Hauseigentümerin-
nen und Hauseigentümer.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Gero
Storjohann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Wagner,
es ist schon ein starkes Stück, dass Sie versuchen, uns
weiszumachen, dass das Mietrecht jetzt auf ganz neue
Füße gestellt wird. Bisher habe ich die Grünen so ver-
standen, dass sie die Energiewende wollen und dass sie
alles dafür tun, damit die Energiewende gelingt. Aber
immer wenn es konkret wird, machen Sie nicht mit. Das
bedaure ich zutiefst, zumal Ihre Rede im Ausschuss an-
ders als das klang, was Sie hier gesagt haben.
Es geht hier um soziale Mieten, und wir werden die
sozialen Mieten selbstverständlich erhalten. Es geht aber
auch darum, dass wir jetzt eine Energiewende einleiten.
Mit dem Mietrecht kann man etwas verhindern, sodass
sich Leute nämlich nicht anstrengen, energetisch zu sa-
nieren. Ich kann die Weichen aber auch so stellen, dass
Bremsen wegfallen. Wir meinen, dass wir das mit die-
sem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute zur Abstim-
mung vorlegen, geschafft haben.
Wir wollen den Wärmebedarf im Gebäudebereich bis
2020 um 20 Prozent senken. Damit müssen wir jetzt an-
fangen. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. Wir haben nied-
rige Zinsen, und es besteht die Bereitschaft der Leute,
neue Häuser zu beziehen. Es gibt Probleme auf einigen
Wohnungsmärkten, besonders in den Zentren. Diese
Probleme gehen wir an.
Künftig werden wir Contracting zulassen. Es ist hier
schon gesagt worden, dass das nicht eine Möglichkeit
für den Mieter oder Vermieter ist, Kosten zu sparen; es
geht vielmehr um Energieeinsparung. Es geht darum,
dass wir CO2-Emissionen einsparen. Das ist insgesamt
ein guter Ansatz, den wir weiter verfolgen und nicht ver-
teufeln sollten.
Die Kappungsgrenze ist erwähnt worden. Wir haben
die Kappungsgrenze bei den Beratungen im Ausschuss
neu definiert. Das ist ein Angebot an die Länder. Die
Länder haben seit 2006 die Verantwortung, im sozialen
Mietwohnungsbau die richtigen Rahmenbedingungen zu
setzen und sich zu engagieren.
Die Länder müssen jetzt definieren, wo Wohnungs-
knappheit herrscht. In dem Bundesland, aus dem ich
komme, in Schleswig-Holstein, wird das schon gemacht.
Da wird in den Bereichen, in denen Wohnungsknappheit
herrscht, auch gezielt gefördert. Andere Bundesländer
sind hingegen gar nicht mehr im sozialen Wohnungsbau
tätig. Ich glaube, das ist sogar hier in Berlin der Fall. In-
sofern gibt es viel zu tun.
Die Kappungsgrenze kann auch „tödlich“ sein – es
wird ja hier gefordert, die Kappungsgrenze auch bei
Neuvermietungen einzuführen –: Ich habe meine Woh-
nung in einem Objekt bezogen, das energetisch saniert
worden ist. Vorher wurden – das ist an der ehemaligen
Zonengrenze – dafür 2,50 Euro pro Quadratmeter ge-
nommen. Nachdem es energetisch saniert und mit sehr
viel Staatsgeld aufgeflitzt worden ist, werden jetzt
5,40 Euro pro Quadratmeter verlangt. Wenn man aber
eine Kappungsgrenze einführt, dann muss man viele
Jahre warten, bis man bei den 5,40 Euro ist; denn das
sind über 100 Prozent. Wenn Sie das auf 15 Prozent bei
Neuvermietung begrenzen wollen, dann kann ich nur sa-
gen: Viel Vergnügen! – Dieses Objekt mit 500 Wohnein-
heiten würde nie saniert werden können, wenn wir eine
solche Regelung einführen.
Deswegen sage ich: Vorsicht an der Bahnsteigkante mit
einer solchen Forderung, Frau Kollegin Bluhm.
Wir haben das Mietminderungsrecht des Mieters im
Falle von energetischen Sanierungen für die ersten drei
Monate ausgeschlossen. Das ist uns nicht leichtgefallen.
Aber das ist ein Mittel, um letzten Endes eine Moderni-
sierung in diesem Bereich nicht zu verhindern – und sei
es auch nur, dass Fenster ausgetauscht werden. Es sind
nicht nur Maßnahmen, deren Umsetzung sechs oder
neun Monate dauert, sondern es gibt auch kleine Maß-
nahmen. Allein der Umstand, dass man sich den Papier-
kram wegen der Mietminderung erspart, ist, glaube ich,
durchaus ein positiver Effekt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26295
Gero Storjohann
(C)
(B)
Wenn auf diese Weise erreicht wird, dass mehr saniert
wird und somit mehr Wohnungen auf den Markt kom-
men, dann wird sich der Wohnungsmarkt insgesamt ent-
spannen. Das erreicht man nicht durch Reden und auch
nicht durch harte Regeln für die Vermieter; vielmehr er-
reicht man das durch ein verbessertes Angebot. Dann ha-
ben die Mieter ein größeres Angebot, aus dem sie aus-
wählen können. Das führt insgesamt auch zu einer
Entspannung im Miteinander.
Wer hat denn etwas davon, wenn die Marktsituation
so ist, dass investiert wird? Das sind Handel, Handwerk
und die Baustoffindustrie. Das ist auch gut für die Kon-
junktur. Das ist gut für Deutschland. Insofern: Wir sind
von unserem Gesetzentwurf sehr überzeugt.
Als Letztes möchte ich noch auf den Punkt Mietno-
maden eingehen. Ich bin persönlich von einem betroffe-
nen Vermieter auf einen solchen Fall aufmerksam ge-
macht worden. Über 100 000 Euro hat er durch einen
Mietnomaden, der ungefähr acht verschiedene Wohnun-
gen in seinen Objekten besetzt hat, verloren. Das ist so-
gar im Wahlkreis von Herrn Egloff passiert. Insofern
wundert es mich, dass er das alles nicht wahrhaben will.
Über mehrere Jahre sind Prozesse geführt worden; dabei
ging es auch um Untermietverhältnisse. Da konnte man
den Porsche nicht aus der Tiefgarage herausklagen, weil
wieder ein Untermietverhältnis präsentiert wurde. Ange-
sichts dessen, glaube ich, müssen wir dieses Problem zur
Kenntnis nehmen. Wir haben uns damit beschäftigt und
einen Lösungsvorschlag gemacht. Ich bin sehr zufrieden
damit, dass wir im Bereich Mietnomaden sagen: Es ist
ein vereinzeltes Problem. Aber wir wollen den betroffe-
nen Vermietern helfen und ihnen Sicherheit davor geben,
damit sie, wenn sie im Wohnungsbereich investieren,
von einem Mietnomaden nicht wirtschaftlich zerstört
werden.
Meine Damen und Herren, das Gesetz, das wir heute
beschließen werden, ist sozial ausgewogen. Es schafft
die richtigen Anreize für Kleinvermieter, nimmt die He-
rausforderungen der Energiewende an, und es bekämpft
Mietbetrüger. Wir bitten um Zustimmung zur Beschluss-
empfehlung des Rechtsausschusses.
Jetzt hat für die SPD-Fraktion Florian Pronold das
Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Luczak hat
die energetische Sanierung angesprochen und gesagt:
Sie stellt eine Belastung für die Mieterinnen und Mieter
dar, aber sie müssen sie halt tragen, um ihren Anteil zur
Energiewende zu leisten. – Wenn die Sanierung einer
Wohnung 25 000 Euro kostet, dann können nach gelten-
dem Recht 11 Prozent dieser Kosten pro Jahr auf den
Mieter umgelegt werden. Das sind 230 Euro im Monat
für einen normalen Mieter, für eine normale Mieterin,
und zwar nicht nur so lange, bis die Maßnahme abfinan-
ziert ist, sondern unendlich lange. Das hat doch mit ge-
rechter Lastenverteilung beim besten Willen nichts zu
tun.
Gerade Menschen in Metropolregionen haben Angst
vor energetischer Sanierung. Sie haben Angst davor,
über diese Form der Wohnraumsanierung ihr ange-
stammtes Wohnumfeld zu verlieren. Wir wollen doch,
dass Polizeibeamte, dass Krankenschwestern, dass Be-
schäftigte im Bewachungsgewerbe, die in den Metropol-
regionen Arbeit für uns tun, auch dort wohnen können
und dass sie nicht erst eineinhalb Stunden vom Stadtrand
in die Stadt fahren müssen, wo sie ihren Dienst tun.
Damit sie dort wohnen können, bedarf es nicht nur ei-
nes sozialen Mietrechtes, sondern auch einer vernünfti-
gen Lastenteilung bei der energetischen Sanierung. Sie
haben in Ihrem Gesetzentwurf nichts geregelt, um dies
sicherzustellen. Nein, Sie machen das Gegenteil: Sie
verschlechtern das bestehende Mietrecht und sagen:
Wenn jemand von Umbaumaßnahmen betroffen ist, hat
er nicht mehr das Recht, die Miete zu mindern. – Das
steht in Ihrem Gesetzentwurf. Damit geben Sie die Aus-
gewogenheit, die Sie gerade selber im Hinblick auf das
soziale Mietrecht bilanziert haben, auf. Das ist die Wahr-
heit hinter dem Gesetzentwurf, über den wir heute bera-
ten.
Herr Körber – er sitzt hier vorne – war im Ausschuss
ehrlicher als viele hier. Im Ausschuss hat er nicht von
Ausgewogenheit des sozialen Mietrechts in diesem Ge-
setzentwurf gesprochen, sondern er hat klar gesagt: Es
ist toll und er freut sich, dass es endlich wieder ein ei-
gentümerfreundliches Mietrecht gibt.
Das ist es, was hier Gegenstand der Auseinandersetzung
ist: Sie verschieben mit dem Gesetzentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, einseitig die Lasten hin zu denen, die
sich am wenigsten wehren können: hin zu den Mieterin-
nen und Mietern.
26296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Florian Pronold
(C)
(B)
Sie erfahren anhand der öffentlichen Debatte und
durch Gespräche, wie sie täglich in Metropolregionen
geführt werden, dass die Menschen wirklich Sorge ha-
ben, wie sie sich das Wohnen noch leisten können.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der Haus-
halte, die 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus-
geben müssen, verdoppelt. In den Metropolregionen, in
den Universitätsstädten
haben die Leute Angst, ob sie dort überhaupt wohnen
bleiben können. Was ist Ihre Antwort darauf? Ihre Ant-
wort ist eine Verschlechterung der Situation der Miete-
rinnen und Mieter durch den vorliegenden Gesetzent-
wurf.
Sie haben endlich eine Forderung der Sozialdemokra-
tie und anderer aufgenommen, aber wie immer nicht
richtig umgesetzt. Die Reduzierung der Mietkappungs-
grenze von 20 Prozent auf 15 Prozent wird auch in unse-
rem Antrag gefordert. Aber bei uns gilt sie für alle Mie-
terinnen und Mieter, und bei uns gilt sie für vier Jahre.
Und wir schieben dieses Problem nicht auf die Länder ab
und schaffen keine neue Rechtsunsicherheit, sondern wir
wollen das für alle regeln.
Wir wollen – das ist einer der wichtigen Punkte –,
dass es auch bei Neuvermietungen einen Schutz gibt.
Das Beispiel mit der Wohnungsbaugesellschaft, das ge-
rade gebracht worden ist, ist unsinnig. Die Vorstellungen
richten sich nämlich nach dem Mietspiegel. Nach die-
sem Mietspiegel darf bei Neuvermietungen der Miet-
preis nicht über 10 Prozent von dem, was in diesem
Mietspiegel festgestellt ist, hinaus gesteigert werden.
Das bietet genügend Möglichkeiten für Investitionen.
Gerade bei niedrigen Zinsen besteht diese Möglichkeit
weiterhin, eine Möglichkeit, die wir doch alle wollen.
Spannend war für mich auch – das betrifft eine De-
batte, die uns die nächsten Jahre noch beschäftigen wird –:
Wir werden über die Zukunft des sozialen Wohnungs-
baus reden. Herr Körber hat im Ausschuss gesagt, er ver-
steht gar nicht, warum Kommunen überhaupt noch
Wohnbestand halten sollen. Ich will Ihnen einfach ein-
mal sagen, warum ich als Sozialdemokrat felsenfest da-
von überzeugt bin, dass wir öffentlichen Wohnbestand
brauchen. In München ist es so, dass die durchschnittli-
che Kaltmiete pro Quadratmeter bei über 10 Euro liegt.
Die Miete für Wohnungen von Wohnungsbaugesell-
schaften in München liegt knapp über 6 Euro. Wenn wir
keinen öffentlich geförderten Wohnraum hätten, wenn
wir keine öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften hät-
ten, dann würden viele Menschen ihre Wohnung verlie-
ren. Das, was Sie wollen, ist genau das. Auch darauf zie-
len Sie mit diesem Gesetzentwurf ab. Wir werden ihm
nicht zustimmen.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
die energetische Modernisierung von vermietetem
Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von
Räumungstiteln. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11894, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10485 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustim-
men wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung, die wir namentlich vornehmen. –
Es liegen übrigens zwei Erklärungen nach § 31 der Ge-
schäftsordnung vor.1) – Ich bitte jetzt die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind
alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergeb-
nis wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/11894
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9559 mit dem Titel
„Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbes-
sern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Ich nehme an, dass die SPD eher da-
gegen stimmt. Wer enthält sich? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen, relativ zögerlicher Ablehnung durch
die SPD-Fraktion; enthalten haben sich die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/10776 mit dem Titel „Wohnen muss bezahlbar
bleiben“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch Ko-
alitionsfraktionen und SPD. Die Linke war dagegen;
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
1) Anlage 4
2) Ergebnis Seite 26299 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26297
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/10120 mit dem Titel „Mietrechtsnovelle nutzen –
Klimafreundlich und bezahlbar wohnen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung durch CDU/CSU und FDP. Dage-
gen waren Grüne und SPD; die Linksfraktion hat sich
enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 45 sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:
45 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna
Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbot des Fracking in Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Nicole Maisch, Dorothea Steiner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium für die Fracking-Technologie
in Deutschland
– Drucksachen 17/11328, 17/11213, 17/11712 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ergebnisse der Gutachten zu Umweltauswir-
kungen von Fracking zügig umsetzen
– Drucksache 17/11829 –
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie dem der SPD
werden wir später wiederum namentlich abstimmen.
Vorgesehen ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Das
ist nicht viel Zeit. Deswegen müssen wir die Chance ha-
ben, uns besonders gut zuzuhören. Ich bitte, alle Bespre-
chungen in vorderen wie hinteren Reihen nach draußen
zu verlegen oder sich zu setzen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Kollege
Manfred Todtenhausen für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kollegen! Zum Antrag der Grünen
kann ich nur sagen: Wenn es um den Bau neuer Kraft-
werke geht, ist es die Angst vor dem Feinstaub.
Wenn es um den Bau neuer Stromtrassen geht, ist es die
Angst vor dem Elektrosmog. Wenn es um die Entwick-
lung der CCS-Technologie geht, ist es die Angst vor
CO2. Wenn es um die Förderung von Erdgas geht, ist es
die Angst vor Chemie.
Wann immer ein Gespenst in dieser Republik umher-
geht, es sind immer die gleichen Verhinderer und Blo-
ckierer.
Und warum? Sie glauben weiterhin, Wohlstand entstehe
durch Subventionen, wachsende Schulden und staatliche
Umverteilung. Wir bekennen uns zum Industriestandort
Deutschland; denn Wohlstand entsteht durch Wachstum,
Wettbewerb und industrielle Wertschöpfung – auch
wenn Ihnen das nicht gefällt.
Lieber Kollege Krischer, bevor Sie wieder twittern
„Todtenhausen will Fracking – jetzt und überall“, kann
ich Sie beruhigen: Auch ich will meine Mitmenschen
nicht vergiften.
Auch mir liegt die intakte Umwelt am Herzen.
Selbstverständlich kommt es mir auch auf die richtigen
Rahmenbedingungen an. Nein, auch in Zukunft keine
Förderung in Wasserschutzgebieten!
Ja, Förderung nur nach Prüfung möglicher Umweltaus-
wirkungen! Wir werden dafür sorgen, dass Schiefergas-
gewinnung sicher und umweltgerecht durchgeführt wer-
den kann, ohne etablierte Wirtschaftszweige zu ruinieren.
Sie betonen in Ihren Anträgen, bei der Anwendung
von Fracking seien noch Fragen offen. Ja richtig, natür-
lich sind Fragen offen. Technischer Fortschritt bringt im-
mer auch neue Herausforderungen mit sich und wirft
neue Fragen auf. Das ist doch normal.
Leider haben Sie bisher offenbar nur zwei Gutachten
zur Kenntnis genommen. Aber nicht einmal die von Ih-
nen zitierten Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass
Schiefergasgewinnung grundsätzlich verboten werden
muss. Beide Gutachten beschränken sich zudem weitge-
hend auf wasserwirtschaftliche Belange und empfehlen
ausdrücklich – ja, ausdrücklich –, einzelne Vorhaben be-
hördlich und wissenschaftlich begleitet fortzuführen.
Die politische Entscheidungsfindung muss sich auf
mehr berufen als nur auf ein oder zwei Gutachten. Ne-
ben geologischen, technischen und finanziellen Fragen
26298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Manfred Todtenhausen
(C)
(B)
sind auch die Abläufe der Verwaltungspraxis zu betrach-
ten. Weiterhin sind Abwägungen hinsichtlich Rohstoff-
abhängigkeit, Versorgungssicherheit und ganz besonders
– ich betone: ganz besonders – der Beschäftigungssiche-
rung einzubeziehen.
Wenn zudem in Deutschland effiziente, sichere und
umweltfreundliche Förderverfahren entwickelt werden,
können wir diese auch in andere Regionen der Welt ex-
portieren.
– Ich glaube, die Industrie arbeitet daran. – Die dortigen
Fördermethoden kritisieren Sie ja bekanntermaßen auch
sehr gern. Wer aber immer reflexartig nach Verboten
schreit, der will in Wahrheit gar keine Antworten be-
kommen.
Meine lieben Grünen, auch wenn Sie noch so viele
Wirtschaftskongresse abhalten: Sie können Angst, aber
keine Wirtschaft.
Vielen Dank.
Frank Schwabe hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
So viel Offenheit, Herr Todtenhausen, hatte ich gar nicht
erwartet. Ich finde es wunderbar, dass Sie hier klar Stel-
lung beziehen. Heute ist wieder so ein Tag – im Übrigen
nicht der erste –, an dem in namentlicher Abstimmung
jedes Mitglied des Deutschen Bundestages schwarz auf
weiß beweisen kann, wo es eigentlich steht.
Diese Debatte, dieses Werfen von Nebelkerzen, er-
streckt sich mittlerweile über zwei, drei Jahre. Sie ver-
weigern am Ende Ihre Arbeit; Sie verweigern als Bun-
desregierung Ihre Arbeit, indem Sie nach Jahr und Tag
keinen Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag vor-
legen.
Es gibt Hunderttausende Menschen, die diese Debatte
sehr interessiert. Es gibt viele Menschen, zum Beispiel
im Kreis Recklinghausen, aus dem ich komme, oder in
Niedersachsen, die sich sehr genau anhören, was Sie hier
dazu sagen. Im Übrigen sagen Sie hier das Gegenteil von
dem, was die örtlichen Bürgermeister von FDP – Sie ha-
ben, glaube ich, nicht so viele – und CDU sagen. Die
warnen nämlich alle vor Fracking. Sie aber machen
nichts; Sie sorgen nicht für eine gesetzliche Regelung im
Deutschen Bundestag.
In Wahrheit geht es wieder um einen Streit zwischen
dem Umweltminister und dem Wirtschaftsminister. Wer
wissen will, wie es beim Emissionshandel aussieht, der
braucht nur die Zeitungen von heute zu lesen. Das Ab-
surde ist, Herr Todtenhausen, dass Sie auf diese Weise
einiges in diesem Land unmöglich machen. Wenn Sie In-
frastrukturprojekte durchsetzen wollen, dann müssen Sie
die Menschen mitnehmen, dann brauchen Sie ordentli-
che gesetzliche Regelungen; sonst werden Sie am Ende
der Totengräber der Technologie sein, die Sie eigentlich
haben wollen.
Wir brauchen klare Regelungen: kein Einsatz von gif-
tigen Chemikalien, kein Einsatz in Wasserschutzgebie-
ten, eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung,
keine „Umweltverträglichkeitsprüfung light“, wie es die
Landesregierung von Niedersachsen immer noch for-
dert. Außerdem brauchen wir ein Moratorium. Die Men-
schen brauchen Klarheit; sie müssen wissen, dass es so
lange kein Fracking gibt, bis endlich klare gesetzliche
Regelungen vorliegen. Sie sind aber eben nicht in der
Lage, für Klarheit zu sorgen.
Ein Blick in die Historie zeigt, dass wir uns mit die-
sem Thema im Deutschen Bundestag seit mehr als zwei
Jahren beschäftigen. Ich habe am 31. März 2011 die
Frage an die Bundesregierung gestellt:
Wie bewertet die Bundesregierung die Risiken der
Gewinnung von unkonventionellem Erdgas?
Die Antwort lautete:
Bezüglich möglicher Risiken bei der Gewinnung
von unkonventionellem Erdgas geht die Bundesre-
gierung nach jetzigem Kenntnisstand davon aus,
dass … keine wesentlichen Unterschiede zur Ge-
winnung von konventionellem Erdgas bestehen.
Vor zwei Jahren also wusste man nichts.
Herr Schwabe, der Kollege Mattfeldt würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zu-
lassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Schwabe, Sie spielen sich hier auf, als
seien Sie allwissend.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26299
Andreas Mattfeldt
(C)
(B)
Sie sind eben explizit auf Niedersachsen eingegangen
und haben davon gesprochen, dass es dort Verfehlungen
gab.
Ich selbst komme aus einem Wahlkreis, in dem nicht nur
Fracking ein Problem ist, sondern auch die Verseuchung
von Leitungen, die Lagerstättenwasser transportiert ha-
ben, sodass großflächige Verschmutzungen eingetreten
sind. Ihre rot-grüne Regierung hat Ende der 90er-Jahre
in Niedersachsen die Genehmigung zur Verpressung von
Lagerstättenwasser erteilt, auf die sich die Industrie
heute noch beruft.
Diese Genehmigung ist der Grund dafür, dass es zu die-
sen großflächigen Verschmutzungen kam. Jetzt frage ich
Sie: Wie stehen Sie dazu, dass Ihre Regierung diese Ge-
nehmigung erteilt hat? Und wie passt das mit Ihrer Rede
hier zusammen?
Ich darf aber auch sagen – weil aus dem linken Lager
schon große Empörung kommt –: Ich bin einer derjeni-
gen, der heute den Antrag der Grünen unterstützen wird.
Nichtsdestotrotz habe ich große Schwierigkeiten mit
Blick auf Ihr Reden und Handeln; denn Sie haben in der
Vergangenheit anders gehandelt, als Sie heute reden. Sie
sind verantwortlich dafür, dass es zu diesen großflächi-
gen Verschmutzungen gekommen ist.
Das ist ja spannend. Ich nehme zunächst einmal zur
Kenntnis, dass Sie in der Tat den Mut haben, sich bei der
namentlichen Abstimmung heute richtig zu entscheiden.
Ich bin einmal gespannt – das kann ja jeder im Protokoll
nachlesen –, wie sich andere niedersächsische Abgeord-
nete Ihrer Partei hier verhalten.
Die entscheidende Frage ist doch: Wollen wir den
völlig unbefriedigenden, zum Teil sogar skandalösen
und unhaltbaren Zustand, den Sie angesprochen haben,
nämlich dass heute noch Frack-Fluide verpresst und
nicht vernünftig entsorgt werden, ändern, ja oder nein?
Bei der Beantwortung dieser Frage gibt es eben einen
fundamentalen Unterschied zwischen der Landesregie-
rung in Niedersachsen – Ihrer Landesregierung,
Schwarz-Gelb – und zum Beispiel der rot-grünen Lan-
desregierung in Nordrhein-Westfalen, die diese Debatte
seit zwei Jahren mit Anträgen im Bundesrat vorantreibt.
– Niedersachsen hat diese Anträge ständig abgelehnt,
Herr Grindel. Sie hatten Gelegenheit, bei einem Work-
shop des Bundesumweltministeriums Stellung zu neh-
men, im Übrigen – skandalös, wie ich finde – als einzi-
ger Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Da hätten
Sie sich zu Wort melden können. Ansonsten stellen Sie
hier entsprechende Zwischenfragen.
Dieser Zustand ist also nicht haltbar. Die Frage ist
doch nur, wer diesen Zustand ändern will.
Es ist die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und
es ist die Opposition in diesem Haus, die den Zustand
ändern wollen, und Sie eben nicht. Sie haben wiederholt
nichts auf den Tisch gelegt.
Ich sagen Ihnen noch eines: Frau Dött, ihres Zeichens
umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion,
hat zusammen mit Herrn Dr. Paul, Umweltpolitiker, der
interessanterweise heute gar nicht reden darf – da ist
schon klar, wie die Koalition dieses Thema eigentlich
betrachtet –, eine Pressemitteilung herausgegeben. Darin
heißt es – ich zitiere –:
Die Union strebt an, unmittelbar nach der Sommer-
pause eine politische Initiative zu ergreifen.
Wissen Sie, von wann die Pressemitteilung ist? Vom
5. August 2011. Unmittelbar nach der Sommerpause
2011 sollte also eine politische Initiative ergriffen wer-
den. Jetzt ist Ende des Jahres 2012; aber es ist nichts pas-
siert.
Sie versuchen, dieses Thema über die Wahlen zu brin-
gen, über die Wahl in Niedersachsen und – das prophe-
zeie ich – auch über die Bundestagswahl. Sie werden es
nicht schaffen, vor der Bundestagswahl einen Gesetzent-
wurf auf den Tisch zu legen. Sie üben den schwarz-gel-
ben Fracking-Dreisprung: zunächst einmal nicht erken-
nen, dann verharmlosen und schließlich auf nach den
Wahlen verschieben. Das heißt für mich: Bei Ihnen geht
es nur mit Druck durch das Engagement der Menschen
vor Ort, der vielen Bürgerinitiativen, der Bürgermeister
und anderer. Am Ende geht es nur durch Wahlen. In
Nordrhein-Westfalen hat das ganz gut funktioniert. Dort
gibt es jetzt eine klare Haltung der Landesregierung. Es
wäre im Übrigen gut, wenn das in Niedersachsen in eini-
gen Wochen auch der Fall wäre.
Glück auf!
Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
über die energetische Modernisierung von vermietetem
Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von
Räumungstiteln auf den Drucksachen 17/10485 und
17/11894 bekannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja ha-
ben gestimmt 308 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein
haben gestimmt 262 Kolleginnen und Kollegen. Es gab
eine Enthaltung. Damit ist der Gesetzentwurf angenom-
men.
26300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 308
nein: 262
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26301
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Joachim Günther
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar Schreiner
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
26302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Enthalten
FDP
Burkhardt Müller-Sönksen
Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe
dem Kollegen Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Glaubt man dem Kalender der Maya, geht
nächste Woche Freitag die Welt unter. Wenn das
stimmte, würde sich die Debatte, die wir heute führen,
erübrigen. Herr Kollege von der SPD, Sie haben doch
jetzt eigentlich klargemacht: Es hat nur wahlkampftakti-
sche Gründe, dass Sie jetzt vor dem Weltuntergang war-
nen. Sie haben doch dem gesamten Plenum und der Öf-
fentlichkeit klargemacht: Ihnen geht es nicht um das
Thema, sondern ausschließlich um Wahlkampf. Und das
kritisieren wir.
Wir kritisieren immer wieder, dass es der Opposition
nicht um eine sachliche Diskussion über das Thema
Fracking geht. Alle Anträge, die Sie heute vorgelegt ha-
ben, sind höchst einseitig formuliert. Die SPD hat
schnell einen Antrag nachgeschoben, damit sich nicht
nur Anträge der Linken und der Grünen im Geschäfts-
gang befinden; vorgestern kam der Antrag herein, abge-
schrieben von den Kollegen der Grünen.
Meine Damen und Herren, man muss erst einmal ei-
nes feststellen: Fracking gibt es in Deutschland seit
50 Jahren; über 260 Fracks sind in Deutschland bereits
bearbeitet worden. Ich habe nicht gehört, dass Sie sich in
den letzten 50 Jahren darüber aufgeregt haben.
Sie führen Wahlkampf, aber es gibt keine sachliche Aus-
einandersetzung mit dem Thema. Sie verunsichern die
Bürger im Lande und versuchen, dadurch Wählerstim-
men zu erhaschen.
Man muss einmal deutlich machen: Die rechtlichen
Anforderungen im Bereich des Fracking sind in
Deutschland schon heute enorm hoch. Sie wissen ganz
genau, dass es in Deutschland keine Wildwestmethoden
gibt. Vielmehr muss im Zusammenhang mit der Beantra-
gung einer Erlaubnis für das Aufsuchen von Erdgasquel-
len die Bergbaubehörde eingespannt werden; die Was-
serbehörden erhalten Mitsprache, und es muss
abgewogen werden, ob das beantragende Unternehmen
zuverlässig ist und die Allgemeininteressen überwiegen.
Bei der Bewilligung der Förderung ist es genauso – das
wissen Sie ganz genau –: Auch hier verfügt die Bergbau-
behörde über ein ganz klares Regularium, nach dem ge-
prüft werden muss; da geht es etwa um Gefahrenvor-
sorge und Abfallbeseitigung. Die Zulassung für eine
Förderung erfolgt letztendlich unter Anwendung des
Bergrechts im Einvernehmen mit den Wasserbehörden,
und die Kommunen sind als Planungsträger an dem Ver-
fahren beteiligt. Nach der geltenden Rechtslage ist es so,
dass erst bei einer Förderung von mehr als 500 000 Ku-
bikmetern pro Tag eine UVP, also eine Umweltverträg-
lichkeitsprüfung, obligatorisch vorgeschrieben ist.
Ich sage es noch einmal: Es gibt in Deutschland keine
Wildwestmethoden, anders als Sie es den Menschen zu
suggerieren versuchen.
Wenn man sich die Anträge genau anschaut, stellt
man fest, dass Sie die Gutachten, die Ihnen passen, zitie-
ren, aber andere Gutachten, die ebenso in Auftrag gege-
ben wurden, um das Thema Fracking von allen Seiten zu
beleuchten, einfach ausblenden. Was Ihnen nicht passt,
findet nicht statt; nur das, was Ihnen passt, erzählen Sie
den Leuten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26303
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
Das ist keine seriöse Politik.
Ich will noch etwas sagen: Die Gewerkschaft, die
IG BCE, ist da wesentlich vernünftiger und hat einen
wesentlich differenzierteren Blick auf die Dinge als Sie
von der SPD.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schwabe zulassen?
Wenn es ihm nicht wieder um Wahlkampf geht und er
eine fachliche Frage stellen will, kann er das gerne tun.
Herr Schwabe, bitte.
Herr Lämmel, darf ich Ihnen eine ganz einfache Frage
stellen?
Ich möchte nach Ihren Ausführungen – Sie sagen, es
gebe Regelungen und es laufe eigentlich alles ganz gut –
die einfache Frage stellen: Halten Sie eine gesetzliche
Neuregelung in Sachen Fracking für notwendig, ja oder
nein?
Sie wissen genau, was die Verfahrensschritte sind.
– Langsam! Die Linken wollen grundsätzlich nur verbie-
ten; da braucht man gar nicht weiterzudiskutieren.
Sie wollen nicht einmal den Prozess beobachten.
Zu Ihrer Frage: Es gab dazu die klare Aussage, dass
die entsprechenden Gutachten in Auftrag gegeben und
ausgewertet werden und die Ergebnisse dann im Regie-
rungshandeln umgesetzt werden. Wir sind gerade dabei,
die entsprechenden Gutachten auszuwerten, und werden
die entsprechenden Fachgespräche durchführen. Dann
werden wir, wenn es notwendig sein sollte, aktiv wer-
den.
– Woher wissen Sie das denn?
Sie haben immer so klare Aussagen.
Das Gute ist: Sie wissen schon vorher, was am Ende
steht.
– Man spürt Ihre Aufregung. Sie wollen sich mit diesem
Thema doch gar nicht auseinandersetzen, sondern Sie
wollen Wahlkampf betreiben.
Die christlich-liberale Koalition wird das Thema
sachlich anpacken. Wenn am Ende des Prozesses die
Notwendigkeit besteht, zum Beispiel eine Verordnung
anzupassen, dann wird man das auch tun. Aber wir be-
finden uns noch auf dem Weg, wir befinden uns noch im
Diskussionsprozess. Deswegen kann ich nur sagen:
Wenn Sie schon vorher alles wissen, dann brauchen wir
diese Diskussion nicht mehr gemeinsam fortzuführen.
Wir prüfen sorgfältig, und wir nutzen den wissen-
schaftlichen Sachverstand, den wir selbst beauftragen
und mit Steuergeld bezahlen. Die Menschen haben ein
Anrecht darauf, dass das, was die Wissenschaft uns emp-
fiehlt, auch öffentlich gemacht wird.
Herr Lämmel, es gibt noch eine Frage von Frau
Bulling-Schröter.
Ich will meinen Satz noch zu Ende bringen. – Für uns
ist die Antwort vor Ende des Prozesses nicht klar. Das ist
Ihre Politik, aber nicht unsere.
Wollen Sie die Frage der Kollegin Bulling-Schröter
noch zulassen?
Das ist zwar relativ sinnlos, aber bitte.
Herzlichen Dank, Herr Lämmel, für die Einschät-
zung.
In Bayern gibt es das Sprichwort: Trau keiner Studie,
die du nicht selbst gefälscht hast.
Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die von den Fir-
men, die Fracking einsetzen wollen, geschrieben oder fi-
26304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Eva Bulling-Schröter
(C)
(B)
nanziert wurden. Es gibt auch eine ganze Reihe von Be-
richten darüber, wie sich Fracking in den USA auswirkt.
Ich gehe davon aus, dass auch Sie die Berichte gesehen
haben, die zeigen, dass Grundwasser verseucht wird. In
einem Filmbericht war zu sehen, wie ein Bauer seinen
Wasserhahn aufdreht und das Wasser aufgrund des Ga-
ses angezündet werden konnte. Große Flächen waren
verseucht. Das war kein wissenschaftlicher Bericht, son-
dern eher ein Bericht aus der Praxis.
Nun zu meiner Frage. Machen Sie solche Berichte
nicht nachdenklich? Uns unterstellen Sie, wir würden
von Anfang an Nein sagen. Diese Tatsachen aber sind
nicht zu leugnen.
Verehrte Frau Kollegin, zu Ihrem Satz „Ich traue kei-
nem Gutachten, das ich nicht selbst beauftragt habe“:
Zum Glück sind Sie im Moment nicht in der Lage, Gut-
achten zu beauftragen; denn dann dürfte man Ihnen kein
Wort glauben. Da Sie Sachverstand in Ihrer Partei gene-
rell ausschließen, sind Sie gleich für ein Verbot. Sie dis-
kutieren nicht einmal darüber, sondern Sie wollen gleich
verbieten.
Dass die Amerikaner Fracking auf eine ganz andere
Art und Weise anwenden, als das bei uns überhaupt
möglich wäre, ist unbestritten. Deswegen haben wir in
diesem Hohen Hause schon mehrfach über dieses Thema
gesprochen. Wir versuchen gemeinsam, einen Weg zu
finden, wie Fracking in Deutschland ermöglicht werden
kann. Wir brauchen diese Technologie, und wir brauchen
den Rohstoff Erdgas, so er noch in Deutschland zu ge-
winnen ist. Insofern kann ich Ihnen nicht zustimmen.
Ich kann nur sagen: Trinkwasserschutz hat bei uns
schon heute oberste Priorität.
Die Erforschung und die Unterstützung der Erforschung
von biologisch unbedenklichen Fracking-Flüssigkeiten
ist im ureigensten Interesse der Unternehmen, weil sie
genau wissen: Das Vorhaben wird nur zu vermitteln sein,
wenn man mit Flüssigkeiten arbeitet, die möglichst
keine Giftstoffe enthalten und daher von der Bevölke-
rung akzeptiert werden.
Für eine Probebohrung ohne Fracking braucht man
meiner Ansicht nach keine Umweltverträglichkeitsprü-
fung. Übrigens: Sie versuchen, den Menschen zu sugge-
rieren, dass ganz Deutschland zum Fracking-Gebiet
wird. Der Flächenverbrauch für die unkonventionelle
Gasgewinnung ist um ein Vielfaches kleiner als bei der
Erzeugung der gleichen Energiemenge durch Solarzel-
len, Windmühlen oder Ähnliches. Sie müssen doch ein-
mal über diesen Widerspruch nachdenken: Auf der einen
Seite wollen Sie die Energiewende zum Erfolg bringen,
und zwar mit möglichst wenig Flächenverbrauch,
und auf der anderen Seite stellen Sie sich gegen jegliche
technologische Entwicklung in Deutschland. Das ist
nicht unsere Politik. Wir machen auch keinen Wahl-
kampf damit. Wir setzen uns sachlich mit den Dingen
auseinander.
Vielen Dank.
Johanna Voß hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Unsere Geduld ist am Ende.
Seit anderthalb Jahren verspricht die Koalition, zu lie-
fern. Damals habe ich bereits Fachgespräche geführt;
unterstellen Sie uns nicht, dass wir uns nicht kundig ge-
macht haben.
Monatlich gibt es neue Beruhigungspillen in Sonntags-
und Montagsreden, erst von Minister Röttgen, dann von
Minister Altmaier. Am 3. Dezember gab es noch eine
Beruhigungspille des frisch gekürten Fracking-Experten
der CDU, Herrn Grindel, CDU-Vertreter im PUA Gorle-
ben. Dort zeigt er sich gänzlich bildungsresistent, was
Umweltfragen angeht. Auch in seinem Wahlkreis kann
er nicht darüber hinwegtäuschen: Die Bundesregierung
liefert nicht. Sie will nicht liefern.
Sie ist nicht bereit, Trinkwasserreserven im Boden zu
schützen. Sie ist nicht bereit, dem Trinkwasserschutz ge-
genüber Konzerninteressen Vorrang zu geben. Sie ist
nicht bereit, die Forderung von mehr als 100 Bürgerini-
tiativen zum Thema Fracking ernst zu nehmen. Sie
sperrt sich gegen ein neues Bergrecht mit UVP, Umwelt-
verträglichkeitsprüfung, am Anfang des Genehmigungs-
verfahrens, vor der ersten Probebohrung und vor dem
ersten Probe-Frack.
Sie ist erst recht nicht bereit, dem einzigen wirksamen
Mittel zuzustimmen, einem Fracking-Verbot. Das haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26305
Johanna Voß
(C)
(B)
Großbritannien, Frankreich und Bulgarien vorgemacht.
Es geht doch!
Bundesländer beschließen nun Moratorien. Die blei-
ben wirkungslos, sind Fassadenpolitik. Sie hängen ab
vom freiwilligen Verzicht der großen Konzerne, aber die
Menschen in den betroffenen Regionen brauchen
Rechtssicherheit, brauchen eine bundeseinheitliche Re-
gelung zum Schutz vor Gefahren des Fracking. Das kann
nur das Verbot sein.
Stellen wir uns vor: Mit einem verbesserten Bergrecht
und dem Einspruch einer mutigen unteren Wasserbe-
hörde versagt ein Bergamt eine Förderungsgenehmi-
gung. Dann wird der Gaskonzern damit vor Gericht ge-
hen. Dort stehen sich dann ein Global Player und ein
armes Bundesland gegenüber. Jeder kann sich vorstellen,
was das heißt, wer da am längeren Hebel sitzt und meter-
dicke Gegengutachten zur Umweltverträglichkeit bezah-
len und beschaffen kann. Das geht aus wie das Hornber-
ger Schießen.
Was ist mit Bohrungen neben Wasserschutzgebieten,
die horizontal in das Trinkwasserschutzgebiet hineinge-
hen? Das ist bei Verden und im Wattenmeer bereits ge-
schehen. Was ist mit Spätfolgen? Was ist mit einer
Untersuchung der bisherigen Umwelt- und Gesundheits-
schäden, verursacht durch die Öl- und Gasindustrie? Es
gibt sie nicht, weil Quecksilbervergiftungen nicht er-
kannt werden und weil Quecksilbervergiftungen bei Mit-
arbeitern von Öl- und Gasfirmen nicht anerkannt wer-
den.
Nach den Wahlen werden CDU und FDP ein verläss-
licher Wegbereiter der Öl- und Gasindustrie bleiben.
Sagte ich „nach den Wahlen“? Nein, in Niedersachsen
geht das schneller. Die Tinte unter dem Landtagsbe-
schluss war noch nicht trocken, da hat man sich schon
wieder für Steuerbegünstigungen für die unkonventio-
nellen Lagerstätten bis 2017 ausgesprochen. Die Erinne-
rung an das letzte Erdbeben, hervorgerufen durch Erd-
gasförderung, am 22. November 2011 bei Langwedel,
war noch frisch, Bürgerinnen und Bürger protestierten
vor der Staatskanzlei – da machte Herr Bode diesen Vor-
schlag. So weit reicht das Umweltbewusstsein der Koali-
tion.
Eine Energiepolitik, die die Senkung des Verbrauchs
ernst nimmt, ist der richtige Weg. Keine unkalkulierba-
ren Risiken mit unkalkulierbaren Technologien! Davon
haben wir bereits mehr als genug.
Wir brauchen keinen Run auf die letzten fossilen Reser-
ven. Angesichts aller Gefahren und der schlechten
Klimabilanz, die auch und gerade das Fracking aufweist:
Stimmen Sie unserem Antrag zu! Stimmen Sie für ein
Verbot dieser Technologie! Geben Sie endlich Rechtssi-
cherheit!
Danke schön.
Oliver Krischer hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Giftige und gesundheitsgefährdende Chemikalien in den
Untergrund zu verpressen, um dann mittels Fracking
Gas zu fördern, das ist ein unverantwortliches Risiko
und gehört verboten. Das steht in Ihrer eigenen Studie:
der des Umweltbundesamtes.
Ich sage Ihnen: Noch viel unverantwortlicher als das
Fracking selber finde ich den Umgang der Koalition mit
diesem Thema. Da haben Bigotterie und Doppelzüngig-
keit seit zwei Jahren die Oberhand. Sie laufen im Land
herum und erzählen dort das, was das Publikum hören
will. Vor Ort machen Sie auf Fracking-Kritiker, und hier,
wo Sie etwas tun, wo Sie etwas entscheiden können, ma-
chen Sie gar nichts. Sie führen die Menschen an der
Nase herum. Das ist die Realität.
Ich habe die Bundesregierung am 21. November
– das ist noch nicht lange her – gefragt, was sie noch in
dieser Legislaturperiode in Sachen Fracking zu tun ge-
denkt. Die Antwort ist eindeutiger, wie sie nicht sein
kann. Sie lautet: Die Veröffentlichung einer gemeinsa-
men Position ist nicht geplant. – Wer keine Position hat
oder sie nicht veröffentlichen will, will auch nichts tun.
Das passt zu dem, was die Kollegen Lämmel und
Todtenhausen hier eben gemacht haben. Sie wollen fra-
cken, bis der Meißel glüht. Das ist Ihre Position.
Ich habe vor ein paar Tagen gemerkt, dass es in der
CDU ein bisher unentdecktes Fracking-Talent gibt. Herr
Grindel war der einzige Experte der Politik auf einer Ta-
gung des BMU zum Thema Fracking. Man höre sich an,
was der Mann alles verkündet. Er fordert Fracking ohne
Gift. Er fordert ein Moratorium. Er fordert die Verschär-
fung der Rechtsgrundlage. Er fordert eine Reform des
Bergrechtes. Er fordert, die Bergbehörden abzuschaffen.
Wieso beantragen Sie das nicht hier? Die Realität ist: Sie
dürfen nicht einmal reden. Stattdessen reden bei Ihnen
26306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Oliver Krischer
(C)
(B)
die Fracking-Befürworter. Das ist die Lage in der Koali-
tion.
Sie verkünden das, was Sie wollen, in der Rotenburger
Kreiszeitung. Vor Ort verkaufen Sie das. Dort machen
Sie Wahlkampf. Hier, wo Sie etwas tun müssen, kommt
von Ihnen gar nichts.
Die Krönung des Ganzen konnte ich gestern Abend
bei Twitter erleben.
Dort las ich von einem gewissen Peter Altmaier:
Bürger wissen, dass CDU und BMU Gefahren
durch Fracking verhindern.
Das ist Realsatire, nichts anderes.
Ich sage Ihnen: Diese Doppelzüngigkeit haben wir
hier in diesem Hause schon einmal erlebt. Sie erinnert
mich an eine Rede, die hier am 10. Mai 2012 gehalten
wurde. Ich zitiere:
Weil die Sicherheit von Mensch und Natur unser
Leitprinzip ist, wollen wir Fracking in sensiblen
Gebieten ganz ausschließen. Daraus folgt: Wir wol-
len eine verpflichtende Umweltverträglichkeitsprü-
fung einführen und das Bergrecht ändern.
Das sagte der Bundesumweltminister Norbert Röttgen
am 10. Mai hier in diesem Hause. Was er noch nicht
wusste, war, dass dies seine Abschiedsrede als Bundes-
umweltminister war. Herr Altmaier, zu dieser Doppel-
züngigkeit, die wir von Ihnen und von Ihrem Amtsvor-
gänger erleben, sage ich Ihnen: Das wird Ihnen auf die
Füße fallen. Das kauft Ihnen niemand mehr ab.
Ihre eigenen Leute, nicht nur Ihre Bürgermeister, son-
dern auch Ihre Bundestagsabgeordneten und Ihre Land-
tagsabgeordneten sagen rauf und runter in Hunderten
von Resolutionen, dass sie das nicht wollen. Sie machen
hier nichts außer Show, außer Politik zu simulieren. Da,
wo Sie etwas entscheiden können, kommt von Ihnen gar
nichts. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen,
spätestens am 22. September 2013.
Ich danke Ihnen.
Jetzt hat Michael Kauch das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Krischer, Sie haben kritisiert, hier würden keine Um-
weltpolitiker reden. Als umweltpolitischer Sprecher der
FDP-Bundestagsfraktion freue ich mich, dass meine
Fraktion sowohl die Wirtschafts- als auch die Umwelt-
seite sieht; denn das ist ja die Abwägung, die wir zu tref-
fen haben.
Wir haben auf der einen Seite eine Importabhängig-
keit beim Erdgas, das wir – das hängt mit der Energie-
wende zusammen – zunehmend brauchen, um die
Schwankungen von Wind und Sonne auszugleichen. Wir
wollen nicht auf Dauer von den Russen abhängig sein.
Wir müssen auch eigene Quellen erschließen.
Deswegen ist die Schiefergasförderung für die Versor-
gungssicherheit wichtig.
Auf der anderen Seite ist aber genauso klar: Es darf
keine Gasförderung geben, wo eine Gefährdung des
Grundwassers oder des Trinkwassers entstünde. Die In-
tegrität des Wassers hat absoluten Vorrang vor der Gas-
förderung.
Hier wurde schon niedersächsischer Wahlkampf ge-
macht. Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sa-
gen: Die Koalition in Niedersachsen, allen voran Um-
weltminister Birkner, hat eine klare Position in den
Landtag eingebracht: kein Fracking in Wasserschutzge-
bieten und eine klare Umweltverträglichkeitsprüfung.
Ich kann Sie beruhigen, meine Damen und Herren: Ge-
nau das ist die Position der FDP,
nicht nur der FDP-Bundestagsfraktion, sondern auch der
FDP in den Ländern, in NRW und in Niedersachsen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26307
(C)
(B)
Herr Kollege Kauch, Frau Remmers würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zu-
lassen?
Ja. Bitte.
Bitte.
Kollege Kauch, Sie haben zum wiederholten Male die
Trinkwassersicherheit angesprochen. Im Hinblick auf
die Trinkwassersicherheit hat das Fracking natürlich ein
Gefährdungspotenzial; aber es gibt bekanntermaßen eine
Menge mehr Gefährdungspotenziale. Eines davon ist die
Erfahrung aus den USA, dass, wenn man Zehntausende
Liter Flüssigkeit mit 5 000 Bar in die Erde presst, das zu
Erderschütterungen führen kann, die zwischen 1 und 3
auf der Richterskala liegen. Kollege Kauch, Sie kommen
genauso wie ich aus dem Ruhrgebiet. Wir beide wissen
ziemlich genau, wie es unter der Erde im Ruhrgebiet so
aussieht. Wollen Sie dieses Risiko tatsächlich eingehen?
Das ist meine erste Frage.
Meine zweite Frage. Die Firma Wintershall hat von
der Bezirksregierung Arnsberg bereits im Jahre 2011
eine Genehmigung fürs Fracken bekommen. Sind Sie
dafür, dass diese Genehmigung zurückgezogen wird?
In Deutschland werden Umweltrecht und Bergrecht
nach Recht und Gesetz von den Landesbehörden ent-
schieden
und nicht im Einzelfall hier vom Deutschen Bundestag.
Das ist ein rechtsstaatliches Prinzip.
Die Verwaltung hat zu prüfen, ob im Einzelfall eine Um-
weltgefährdung vorliegt oder nicht. Deshalb ist es Auf-
gabe der Bezirksregierung in Arnsberg – und, in der
Aufsicht, der Landesregierung Nordrhein-Westfalen –,
die Entscheidung zu treffen, ob an dieser Stelle nach
Recht und Gesetz gehandelt worden ist oder nicht.
Es ist auch ganz klar: Wir wollen nicht nur den Aus-
schluss von Fracking in Wasserschutzgebieten, wir wol-
len nicht nur eine gute Umweltverträglichkeitsprüfung,
wir wollen auch ein Einvernehmen der Wasserbehörden
voraussetzen.
Wenn die Wasserbehörde sagt: „Es darf nicht gefrackt
werden, weil es das Grundwasser gefährdet“, dann soll
das ein Ausschlusskriterium sein für einen Fracking-An-
trag.
Möchten Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Kauch, ich finde, Ihre Forderungen ge-
hen schon relativ weit; darüber könnte man diskutieren.
Meine einzige Frage: Wo ist der Gesetzentwurf – den
wir baldmöglichst verabschieden können –, in dem das
steht?
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. Das er-
möglicht es mir, in meiner knappen Redezeit auch diesen
Punkt noch aufzunehmen.
Es ist ganz klar: Die FDP-Bundestagsfraktion hat in-
zwischen eine einheitliche Haltung zu diesen Punkten.
– Ich habe Sie Ihnen soeben vorgetragen.
Sie deckt sich nicht mit der Position der Grünen. Die
Grünen reden zwar davon, wir müssten hier Gesetze vor-
legen; aber gleichzeitig sagt Herr Krischer, wir müssten
das Fracking verbieten.
Sie müssen sich schon entscheiden: verbieten oder re-
geln? Wir sind für regeln; das ist unsere Position.
Deshalb laden wir auch den Koalitionspartner herz-
lich ein, noch in dieser Wahlperiode eine gesetzliche
Klarstellung zu diesen Punkten vorzunehmen.
Vielen Dank.
26308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Der Kollege Lars Klingbeil hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mich zunächst recht herzlich bei
meiner Fraktion dafür bedanken, dass sie mir heute die
Möglichkeit gibt, zum Thema Fracking zu reden.
Ich rede hier als Abgeordneter des Wahlkreises „Ro-
tenburg I – Heidekreis“. In diesem Wahlkreis gibt es
viele Fracking-Maßnahmen und -Vorhaben, und die Ver-
unsicherung bei den Menschen ist groß.
Ich konnte in den vergangenen Monaten viele Gesprä-
che mit Energieunternehmen, mit Bürgerinitiativen, mit
Kommunalpolitikern und mit den Menschen vor Ort füh-
ren, egal ob in Bötersen im Landkreis Rotenburg, im
Heidekreis oder auch im Nachbarlandkreis Verden in
Völkersen. Ich sage Ihnen: Es gibt eine große Verunsi-
cherung der Menschen dort darüber, was unter ihren
Füßen passiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU, FDP und
CSU, ich sage Ihnen: Die Menschen haben kein Ver-
ständnis mehr für Ihr Zaudern, für Ihr Zögern, für Ihr
Taktieren, für Ihr Abwarten und für Ihr Nichthandeln.
Wir brauchen endlich klare Regeln, wenn es um das Fra-
cking geht.
Egal ob bei mir im Wahlkreis, in Niedersachen oder
im Rest der Republik: Es sind doch Kollegen aus Ihren
Reihen, die all diese Bedenken teilen. Es sind Ihre Kreis-
tagsabgeordneten und Ihre Stadt- und Gemeinderäte, die
parteiübergreifend Resolutionen gegen das Fracking auf
den Weg bringen. Trotzdem sind wir hier nach fast zwei
Jahren Debatte keinen Schritt weiter.
Nachdem ich hier einige Redebeiträge gehört habe,
bin ich mir fast sicher, dass der Antrag der Grünen und
der Antrag der SPD heute eine Mehrheit finden müssten.
Ich bin gespannt, ob Sie diesen Mut aufbringen.
Ich finde es sehr spannend, dass auch konservative
Politiker auf die Bürgerinitiativen vor Ort zugehen. Das
passiert ja nicht überall. Es scheint dann aber etwas zu
passieren. Im Wahlkreis vertreten Sie unsere Meinung,
und auf dem Weg nach Berlin scheint das dann verloren
zu gehen. Ich sage Ihnen: Die Menschen bekommen es
mit, wenn hier ein doppeltes Spiel gespielt wird. Lösen
Sie endlich diesen Widerspruch auf und handeln Sie!
Vertreten Sie eine klare Position, wenn es um das Fra-
cking geht!
Es gibt keinen Grund mehr, zu warten. Wir brauchen
jetzt Entscheidungen. Sie haben sich monatelang mit
dem Gutachten des Umweltministeriums herausgeredet,
das neue Erkenntnisse bringen sollte. Ich glaube Peter
Altmaier und dem, was in seinem Gutachten steht, ja,
aber ich frage mich: Warum gibt es noch keine Konse-
quenz aus diesem Gutachten, das doch sehr klar sagt,
was passieren soll? Ich sage Ihnen: Das Leitmotiv bei
unseren politischen Entscheidungen muss sein: im Zwei-
fel für die Sicherheit der Menschen.
Wir Sozialdemokraten und auch die Grünen haben
klar auf den Tisch gelegt, was hier passieren soll:
Wir sind für ein Moratorium, und wir wollen ein
grundsätzliches Verbot von Fracking-Maßnahmen in
Trinkwassergewinnungsgebieten. Wir wollen, dass die
Verpressung von Fracking-Abwässern untersagt wird
und klare Regeln für die Entsorgung verabschiedet wer-
den. Wir wollen eine verbindliche Umweltverträglich-
keitsprüfung, um die Risiken für Mensch und Umwelt
frühzeitig zu erkennen und zu verhindern, und vor allem
wollen wir mehr Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir wollen
mehr Transparenz und Informationen für die, die es
betrifft.
Auch hier sage ich: Hier müssten Sie doch mitgehen
und diesen Weg der Beteiligung und der Transparenz
auch für richtig empfinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Zeit für Ent-
scheidungen. Die Koalition redet und redet und redet.
Sie erstellt Gutachten, führt Fachkonferenzen durch,
bildet Arbeitskreise und macht Ankündigungen. Dann
redet sie wieder und redet, und alles beginnt von vorne.
Hier liegen klare Vorschläge von SPD und Grünen auf
dem Tisch. Hören Sie auf, zu taktieren! Treffen Sie Ent-
scheidungen! Das ist das, was die Menschen im meinem
Wahlkreis, in Niedersachsen und an vielen anderen Stel-
len der Republik erwarten: verantwortliches Handeln,
klare Kante. Hören Sie auf, zu lavieren!
Danke fürs Zuhören.
Franz Obermeier hat jetzt das Wort für CDU/CSU-
Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26309
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befassen uns heute zum wiederholten Mal mit dem
Thema Fracking, mit der Fracking-Methode. Im Prinzip
geht es der Regierungskoalition darum, die Erdgasbasis
in Deutschland und in Europa auf solidere Beine zu stel-
len. Erdgas ist ein äußerst wertvoller Energieträger.
Erdgas hat eine hohe Energiedichte, und vor allem ist
Erdgas speicherbar.
Die Diskussion, die wir hier im Plenum führen, ist für
meine Begriffe sehr stark durch den Wahlkampf in Nie-
dersachsen geprägt. Es ist völlig klar, dass das das ei-
gentliche Motiv ist. Das ist aber nicht gerechtfertigt,
wenn man sich mit der Basis der Thematik befasst.
Deutschland importiert einen sehr hohen Anteil an Erd-
gas beispielsweise aus Russland und aus Norwegen.
Kolleginnen und Kollegen, wir unternehmen sehr
viel, um Bioerdgas ins Netz zu bringen, weil das ein sehr
wertvoller Energieträger ist. Heute unterhalten wir uns
über die Gewinnung von unkonventionellem Erdgas und
speziell über die Fracking-Methode. Es ist wahr: Bei der
Fracking-Methode wurden bislang Chemikalien einge-
setzt, die kritisch zu beurteilen sind. Wir haben sie in
Deutschland in der Dichte so weit noch nicht erprobt.
Das geht eindeutig aus dem BGR-Gutachten hervor.
Das BGR-Gutachten hat ebenso wie das Gutachten des
Umweltbundesamtes einen vorläufigen Charakter. Wir
sollten etwas Dampf aus der Diskussion nehmen und uns
die Zeit nehmen, um die Gefährlichkeit der eingesetzten
Stoffe richtig beurteilen zu können.
Ich nenne ganz bewusst die Chancen, die sich aus der
heimischen Erdgasgewinnung ergeben. Wir haben damit
die Wertschöpfung im eigenen Land. Ist Ihnen das gar
nichts mehr wert, Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition?
Auch ich sehe natürlich auf der anderen Seite die
Risiken. Ich appelliere an das gesamte Haus, bei der
Diskussion mit den Bürgern über die Risiken ein gewis-
ses Maß an Objektivität an den Tag zu legen. Natürlich
legen wir in den Regierungsfraktionen den allergrößten
Wert darauf, dass wir unser Trinkwasser nicht gefährden.
Es wäre das erste Mal, dass wir hier bedenkenlos wären.
Wir legen allergrößten Wert darauf, dass die kontami-
nierten Abwässer gereinigt werden. Es wäre das erste
Mal, dass die christlich-liberale Koalition mit dieser
Aufgabe nicht seriös umginge. Kolleginnen und Kolle-
gen, wir kümmern uns auch intensiv um die induzierte
Seismizität. Das sind schwierigste Bereiche, die wir zu
bearbeiten haben. Man muss ehrlich mit den Bürgerin-
nen und Bürgern diskutieren und sie darauf hinweisen,
dass wir uns bei der Behandlung dieser Themen noch im
Forschungs- und Entwicklungsbereich bewegen. Wenn
von uns jetzt verlangt wird, in konkrete gesetzgeberische
Handlungen einzutreten, muss ich Ihnen leider sagen,
dass wir einfach noch nicht so weit sind, die Dinge
konkret abwickeln zu können.
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Ab-
schluss noch ein Wort
aus vollster Überzeugung vor dem Hintergrund meiner
beruflichen Erfahrung sagen.
Herr Kollege, Entschuldigung! Möchten Sie eine
Zwischenfrage von Herrn Schwabe zulassen?
Herr Schwabe hat so viele Gelegenheiten gehabt, sein
Gift zu versprühen. Lassen wir das lieber sein, Herr
Schwabe.
Ich will noch etwas anderes ansprechen. Wenn wir die
Energiewende in absehbarer Zeit zu einem vernünftigen
Ergebnis bringen wollen,
dann müssen wir auch der Energiebasis und den rein
physikalisch bedingten Erfordernissen Rechnung tragen.
Wenn wir uns nun in den Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP die Zeit nehmen, die Dinge sauber abzuwägen –
vor allem die Risiken aus dem Chemikalieneinsatz;
wir wissen schließlich noch gar nicht, welche Chemika-
lien konkret zum Einsatz kommen sollen –,
dann sollten wir bei den Diskussionen mit den Bürgerin-
nen und Bürgern auch deutlich sagen, dass wir ihre
Besorgnis ernst nehmen,
statt noch Gas in das Feuer zu gießen, das schon am
Brennen ist. Denn damit tun wir unserem Land und un-
serer Volkswirtschaft ganz sicher keinen Gefallen.
Herzlichen Dank.
26310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Verbot des Fracking in Deutschland“. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11712, den Antrag auf
Drucksache 17/11328 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. SPD
und Grüne haben sich enthalten. Die Linke hat dagegen
gestimmt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass jetzt zwei nament-
liche Abstimmungen unmittelbar nacheinander folgen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11213
mit dem Titel „Moratorium für die Fracking-Technolo-
gie in Deutschland“. Wir stimmen nun über Buchstabe b
der Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer mögen bitte
die vorgesehenen Plätze einnehmen.
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann
eröffne ich die Abstimmung über Buchstabe b der
Beschlussempfehlung.
Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich bekannt, dass es
zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung gibt, die uns hier vorliegen.1)
Sind noch Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimmkarte nicht einwerfen konnten? – Das ist der Fall.
Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die noch nicht
abstimmen konnten? – Das ist offensichtlich nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Wir kommen direkt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11829 mit dem
Titel „Ergebnisse der Gutachten zu Umweltauswirkun-
gen von Fracking zügig umsetzen“. Auch hierzu stim-
men wir namentlich ab. Sind alle Urnen besetzt? – Das
ist der Fall. Dann eröffne ich die zweite namentliche Ab-
stimmung, und zwar in diesem Fall über den Antrag der
SPD.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? – Das scheint
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim-
mung. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen unsere Beratungen fort.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 und 1373
des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-
nen
– Drucksachen 17/11466, 17/11890 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 17/11891 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Priska Hinz
Auch über diese Beschlussempfehlung werden wir
später namentlich abstimmen.
Verabredet ist es, dazu eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich bitte herzlich alle Kolleginnen und Kollegen in
den Gängen und vor den Tischen, sich zu setzen, damit
wir dem ersten Redner zuhören können.
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Rainer
Stinner für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Mandat, um das es heute geht, ist weltweit eines der
populärsten Mandate der NATO überhaupt. 63 Staaten
beteiligen sich daran. Zu unserer aller Überraschung be-
teiligt sich selbst Russland, das der NATO sehr kritisch
gegenübersteht, an dieser Operation der NATO. Es muss
also einen Sinn haben, dass wir im Mittelmeer eine sol-
che Operation durchführen.
Nun gibt es Kritik an diesem Mandat. Ich nehme die
drei Kritikpunkte auf, die Herr Mützenich in seiner Rede
in der letzten Woche vorgebracht hat. Einen Kritikpunkt
verstehe ich. Als Oppositionspolitiker würde auch ich
1) Anlagen 5 bis 9
2) Ergebnisse Seite 26312 D und Seite 26315 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26311
Dr. Rainer Stinner
(C)
(B)
ihn vorbringen; für die zwei weiteren Kritikpunkte habe
ich kein Verständnis.
Herr Mützenich hat hier namens der Opposition kriti-
siert, dass die Begründung für das Mandat problematisch
ist. Das würde auch ich als Oppositionspolitiker sagen.
Auch ich würde das der Regierung vorhalten.
Sie wissen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, dass die Bundesregierung nachdrücklich
versucht hat, die Begründung entsprechend zu ändern.
Sie hat versucht, das Mandat anzupassen und es in eine
ständige Operation zu überführen. Staatsminister Link
hat das in einer sehr sympathischen Offenheit bei der
Einbringung des Mandats gesagt. Wir sehen das ge-
nauso. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind
nicht alleine auf der Welt, sosehr wir das manchmal be-
dauern mögen. Wenn es uns trotz eines nachdrücklichen
Versuchs nicht gelingt, die Partner davon zu überzeugen,
werden wir deswegen nicht eine sonst sinnvolle Opera-
tion nicht mehr durchführen.
Den zweiten Kritikpunkt von Herrn Mützenich ver-
stehe ich nun überhaupt nicht. Herr Mützenich hat sich
an der Mandatsobergrenze gestoßen. Er hat kritisiert,
dass wir Soldaten, die sich sowieso im Mittelmeer auf-
halten, während der Dauer des Aufenthalts im Mittel-
meer diesem Mandat unterstellen. Diese Kritik kann ich
in keiner Weise verstehen. Wenn wir eine Beobachtungs-
mission haben, die nichts anderes tut, als zu beobachten
und aufzupassen, dass nichts Schlimmes in dieser Re-
gion geschieht, ist es doch sinnvoll, unsere Schiffe, die
sowieso durchs Mittelmeer fahren, für einige Tage die-
sem Mandat zu unterstellen. Wie man daran Kritik üben
kann, kann ich beim besten Willen nicht verstehen.
Auch Ihr dritter Kritikpunkt, Herr Mützenich, ent-
spricht nicht dem – Sie wissen, dass ich Sie sehr
schätze –, was ich von Ihnen sonst intellektuell gewöhnt
bin. Es geht um die Kritik daran, dass in der Begründung
ausgeführt wird, dass sich die Situation in der arabischen
Welt geändert hat. Uns allen und auch Ihnen, Herr
Mützenich, ist doch klar, dass durch die Veränderungen
in Ägypten, in Libyen und in Syrien sich die Situation in
der Region, im Mittelmeerraum, natürlich verändert hat
und es deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt sinnvoll
ist, dass wir wissen, was in dieser Region passiert. Zu
diesem Wissen trägt die Operation Active Endeavour
wesentlich bei. Aus diesem Grunde kann ich die Kritik
nicht verstehen. Das ist nämlich eine sinnvolle Opera-
tion.
Die Bundesregierung hat in einer erfrischenden Of-
fenheit gesagt, dass sie versucht, dieses Mandat weiter-
zuentwickeln und daraus eine ständige Operation zu ma-
chen, die keines Mandats mehr bedarf. Sie will auch
nicht mehr die Terrorbekämpfung in den Vordergrund
stellen, sondern mit dieser Operation dazu beitragen,
dass durch die Überwachung des Seeraums der Waffen-
schmuggel in der Region verhindert werden kann. Die-
ses Thema sollte uns allen am Herzen liegen.
Aus diesem Grunde stimmen wir diesem Mandat zu.
Wir bitten die Opposition, unserer Argumentation zu fol-
gen. Stimmen auch Sie zu! Damit machen Sie nämlich
etwas Sinnvolles.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Wolfgang
Hellmich das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Operation Active Endeavour ist ein schwie-
riges Mandat. Das hat der Außenminister schon im Jahre
2011 festgestellt. Vor 2010 sagt die Bundesregierung,
dass sich die Aktivitäten des internationalen Terrorismus
verändert haben, und steigt aus Maßnahmen aus. Zwei
Jahre später begründet dieselbe Bundesregierung die an-
gestrebte Mandatsverlängerung der Operation Active
Endeavour mit der kollektiven Selbstverteidigung und
der gemeinsamen Bekämpfung des internationalen Ter-
rorismus, die seit den schrecklichen Ereignissen im Sep-
tember 2001 gilt. Wie passt das zusammen? Meiner und
unserer Meinung nach überhaupt nicht.
Die Bundesregierung will den Einsatz bewaffneter
deutscher Streitkräfte im Rahmen der NATO-Operation
Active Endeavour bis zum 31. Dezember 2013 verlän-
gern. Zur Erinnerung: OAE dient der gemeinsamen Re-
aktion auf terroristische Angriffe gegen die USA und
soll terroristische Aktivitäten im Mittelmeerraum ver-
hindern und bekämpfen. Sehen Sie momentan derartige
Aktivitäten im Mittelmeerraum, und können Sie diese
terroristischen Aktivitäten benennen, von denen die
USA bedroht sind? Der Lagebericht zum Einsatz von
Streitkräften stellt in der Mittelmeerregion keine akute
Bedrohung fest. Mit der realen Situation ist die Verlän-
gerung eines solchen Mandates wohl nicht zu begrün-
den.
Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion ist die recht-
liche Grundlage des Einsatzes schon seit einigen Jahren
nicht mehr gegeben; denn sie gründet nach wie vor auf
dem nach dem 11. September 2001 ausgerufenen
NATO-Verteidigungsfall gemäß Art. 5 des NATO-Ver-
trages. Dass der Einsatz nunmehr auch mit der Entwick-
lung in den Staaten des sogenannten arabischen Früh-
lings und mit der Entwicklung in Syrien, Libyen und
anderen Staaten begründet wird, wirft nur zusätzliche
Fragen auf. Die Mandatierung wird dadurch nicht plau-
sibler und die Begründung nicht stichhaltiger. Im Gegen-
teil: Sie wird noch problematischer.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, natürlich halten wir als SPD die Präsenz
der Bundeswehr auf See sowie die Überwachung und
Kontrolle des Seeverkehrs für wichtig. Natürlich müssen
die auf der Durchfahrt befindlichen Schiffe verteidigt
werden können; das ist keine Frage. Unser Nein richtet
sich gegen die Möglichkeit eines mandatierten Einsatzes
26312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Wolfgang Hellmich
(C)
(B)
von Einheiten der Bundeswehr, eines sogenannten ro-
busten Mandats.
Der bereits seit Jahren von uns kritisierte Hinweis auf
Art. 5 des NATO-Vertrages ist nicht nachvollziehbar. Elf
Jahre nach den Ereignissen des 11. September 2001 be-
ziehen Sie sich in Ihrer Mandatsbegründung noch immer
auf die damaligen Ereignisse und die im Oktober 2001
beschlossene Bündnisverteidigung. Aber finden Sie es
nicht auch sehr weit hergeholt, von Bündnistreue zu
sprechen, wenn Legitimation und Begründung für ein
Mandat nicht mehr vorhanden sind? Da wird Bündnis-
treue letztendlich zu einem leeren Schlagwort und für
andere Ziele missbraucht.
Sehr verehrte Bundesregierung, vielleicht sollten Sie
Ihre Begründung durchdenken, bevor Sie sie nieder-
schreiben und diesem Haus vorlegen. Sie, Herr Bundes-
verteidigungsminister, möchte ich ausdrücklich auf Ihre
eigene Forderung hinweisen: ein Mandat nur, wenn es
notwendig ist. – Dies ist hier wohl nicht gegeben; denn
mit der Operation Active Endeavour wurde bisher kein
einziges Schiff mit islamistischen Terroristen im Mittel-
meer aufgebracht. Die Begründung für dieses Mandat ist
nicht nachvollziehbar.
Völlig unabhängig davon, dass die NATO sich zeit-
nah mit der Aufhebung des Bündnisfalles befassen
muss, ist die Welt heute eine andere als damals; das
stimmt. Richtig ist, dass der internationale Terrorismus
nach wie vor eine der großen Herausforderungen für die
Staatengemeinschaft ist und wohl auch in absehbarer
Zeit bleiben wird. Richtig ist aber auch, dass es den Ak-
tivitäten des Nachrichtendienstes und der Polizei zu ver-
danken ist, dass es keine mit 2001 vergleichbaren isla-
mistischen Anschläge in Deutschland gegeben hat.
Nun hat die Bundesregierung allerdings neben dem
Bündnisfall noch eine weitere Begründung für die Wei-
terführung der OAE aus dem Hut gezaubert. Die Umbrü-
che in der arabischen Welt, die auch von der derzeitigen
Bundesregierung noch vor wenigen Wochen als Chance
für Demokratisierung gewertet wurden, sollen nun als
Legitimation für 700 Bundeswehrsoldaten im Mittel-
meer herhalten. Es ist stark untertrieben, wenn ich sage,
dass Ihre Argumentation sehr konstruiert klingt. Wie
kann es sein, dass wir einerseits demokratische Bewe-
gungen und Umwälzungen in diesen Staaten befürwor-
ten und uns andererseits angeblich davor schützen müs-
sen?
Die Freiheitsbewegungen in den Ländern Nordafrikas
müssen wir unterstützen, so gut es geht. Im Fokus müs-
sen gesellschaftliche und zivile Aufgaben stehen, nicht
die Terrorismusbekämpfung.
Es wäre auch das falsche Signal, all diese Bewegun-
gen unter den Generalverdacht zu stellen, potenzielle
Quelle für terroristische Aktivitäten zu sein. Die Rolle
der Bundesrepublik muss hier eine völlig andere sein.
Überdies ist es nicht hinzunehmen, dass der nach 9/11
ausgerufene NATO-Bündnis-Fall jetzt für die Antiterror-
patrouillen im Mittelmeer herhalten muss. Das ist auch
völkerrechtlich völlig unhaltbar.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Sinnlosigkeit
des Mandates wird belegt durch die momentane Stärke
des deutschen OAE-Kontingentes: null.
– Null.
Dies ist zumindest der Website der Bundeswehr zu ent-
nehmen, Stand 5. Dezember 2012, 10 Uhr; das kann
man nachlesen. Wie viele Schiffe anderer NATO-Staaten
aktuell beteiligt sind – das haben wir diskutiert –, muss
erst noch festgestellt werden. Letzte Aussage: Es gibt
dazu keine Informationen.
Das vorerst letzte deutsche Schiff war die Fregatte
„Karlsruhe“, die im November dieses Jahres auf dem
Weg zum Antipiraterieeinsatz vor Somalia während
ihrer Fahrt durchs Mittelmeer der Operation Active
Endeavour unterstellt war. Womit soll dann also noch
ein robustes Mandat begründet werden?
Natürlich ist es richtig und sinnvoll, weiterhin den
Terrorismus zu bekämpfen. Wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten sagen Ja zu Aufklärung und
Überwachung sowie zum Sammeln von Informationen
im Mittelmeerraum, zum Austausch mit den Bündnis-
partnern über die Lage; das ist keine Frage. In diesem
Sinne sollte die Bundesregierung in der NATO konse-
quent tätig werden.
Angesichts einer Vielzahl von Unklarheiten und
Widersprüchen in dem Mandat und angesichts der
mangelnden völkerrechtlichen Grundlagen lehnen wir
als SPD-Fraktion dieses Mandat nach wie vor ab. Die
fast 7 Millionen Euro, die im Haushalt des Verteidi-
gungsministeriums eingespart werden können, sind im
Bereich der Betreuungskommunikation und in anderen
Bereichen besser eingesetzt als in solch einem falschen
Einsatz.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstim-
mung bekannt.
Zunächst einmal gebe ich Ihnen das Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu
dem Antrag der Grünen „Moratorium für die Fracking-
Technologie in Deutschland“ bekannt: abgegebene Stim-
men 570. Mit Ja haben gestimmt 309, mit Nein haben
gestimmt 259, Enthaltungen 2. Diese Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26313
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 570;
davon
ja: 309
nein: 259
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Stephan Mayer
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Rainer Arnold
Stefan Rebmann
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
26314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
Nein
CDU/CSU
Andreas Mattfeldt
Dr. Patrick Sensburg
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26315
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Enthalten
CDU/CSU
Reinhard Grindel
Hans-Georg von der Marwitz
Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Ergebnisse
der Gutachten zu Umweltauswirkungen von Fracking
zügig umsetzen“: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja
haben gestimmt 195, mit Nein haben gestimmt 305,
Enthaltungen 71. Der Antrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 194
nein: 305
enthalten: 68
Ja
CDU/CSU
Andreas Mattfeldt
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
26316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26317
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
Enthalten
CDU/CSU
Reinhard Grindel
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Damit setzen wir die Debatte fort. Das Wort hat jetzt
als nächster Redner der Kollege Roderich Kiesewetter
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, steht die Operation
Active Endeavour für ordentliche, aktive und effektive
Durchführung. Ich habe bei der Opposition manchmal
den Eindruck, für sie steht OAE für „Opposition arbeitet
entgegen“.
Das tut mir mit Blick auf die SPD besonders leid; denn
hier geht es schlichtweg um sicherheitspolitische Ver-
nunft. Bei dieser sicherheitspolitischen Vernunft ist es
schon wichtig, ein paar Fakten zu kennen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Opposition.
Es sind ja nicht die Resolutionen aus dem Jahr 2001,
sondern all die Dinge, die wir in diesem Jahr erlebt
26318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
haben. In diesem Jahr fand die dritte Konferenz zur
Überprüfung der Antiterrorismusstrategie der Vereinten
Nationen statt. Die Vereinten Nationen haben in ihrer
Generalversammlung einhellig bestätigt, dass der inter-
nationale Terrorismus weiterhin eine Gefahr ist. Darauf
beruft sich die NATO.
Noch im Oktober dieses Jahres ist die UN-Sicher-
heitsratsresolution 2069 verabschiedet worden, Herr
Kollege Hellmich. Auch hierbei waren alle Nationen
einvernehmlich der Auffassung, dass dem internationa-
len Terrorismus entgegengewirkt werden muss. Bei
allem „Geräusch“ in den jeweiligen Positionen sind wir
in einer Sache dennoch gar nicht so weit entfernt: bei der
Zukunft der Operation OAE. Bevor ich darauf aber ein-
gehe, möchte ich noch ein paar Fakten nennen.
Wenn es um die Obergrenzen geht, so ist klar: Wenn
ein deutsches Schiff durch das Mittelmeer fährt, dann
sind gleich rund 300 Soldaten betroffen. Zurzeit sind
fünf Soldaten über AWACS im Einsatz. Es ist ein „at-
mendes“ Mandat. Es erlaubt der Regierung, flexibel zu
reagieren und immer wieder deutsche Schiffe zu beauf-
tragen, wenn sie in der Durchfahrt sind. Damit ist es
auch ein sehr effektives Mandat.
Was aber viel wichtiger ist und im Laufe der Jahre
– wir sind ja jetzt schon im Jahr elf nach der Resolution –
entscheidend ist, ist der Gedanke der kooperativen
Sicherheit. Deswegen bin ich enttäuscht, dass die Oppo-
sition der Operation entgegenarbeitet. Es geht doch
darum, dass wir mit Partnern kooperative Sicherheit ent-
wickeln, dass wir gemeinsame Verfahren entwickeln –
bei Schiffsdurchgängen, bei Schiffskontrollen, aber auch
in der täglichen Zusammenarbeit. Mit wem machen wir
das? Mit Russland, mit der Ukraine, auch mit Marokko!
Was spricht denn dagegen, künftig die Operation Active
Endeavour auszubauen zu einem besseren Instrument
kooperativer Sicherheit im Mittelmeerraum?
Wir hatten in dieser Woche im Bundestag einen Teil
der Parlamentarischen Versammlung der Union für den
Mittelmeerraum zu Gast. Das Thema waren Energie-
fragen. Es geht also auch um Fragen der Energieversor-
gungssicherheit. Warum sollten wir das Thema Energie-
versorgungssicherheit hier nicht in den Mittelpunkt
stellen und dabei unsere Partner am südlichen Rand des
Mittelmeers intensiv einbeziehen?
Es geht gar nicht mehr darum, den Terrorismus auf
dem Gebiet der USA zu bekämpfen,
sondern es geht darum, dass wir Seite an Seite mit den
Vereinigten Staaten von Amerika den Terrorismus in un-
serem eigenen Verantwortungsbereich – dazu gehört das
Mittelmeer – bekämpfen.
Dazu ist die Operation Active Endeavour ein hervorra-
gend geeignetes Instrument, weil es nämlich zukunfts-
fähig ist, was die Einbindung entsprechender Partner be-
trifft. Es geht also gar nicht um veraltete Resolutionen;
es geht einfach darum, dass wir tagesaktuelle Herausfor-
derungen bestehen können.
Unser Land ist den sicherheitspolitischen Herausfor-
derungen immer nachgekommen – Beispiel Afghanistan –,
mit sehr starken zivilen und militärischen Elementen.
Die Operation Active Endeavour hat – deswegen wollen
wir sie ja auch mandatieren – einen ganz robusten An-
teil. Dieser robuste Anteil kann dazu führen – das ist
doch völlig klar –, dass Schiffe aufgebracht werden müs-
sen. Deswegen bin ich auch froh, dass wir den Parla-
mentsvorbehalt haben und unsere Soldatinnen und Sol-
daten in diesem Bereich mandatieren. Darum geht es
doch auch, dass die Soldaten im Einsatz wissen: Das
Parlament steht dahinter.
Des Weiteren gilt es aus meiner Sicht, deutlich zu ma-
chen, dass wir Deutschen fest auf dem Boden von Bünd-
nissolidarität und auf der Basis des Völkerrechts stehen.
Das ist ein ganz entscheidender Beitrag auch zur Be-
kämpfung des internationalen Terrorismus. Was leistet
denn die Bundeswehr? Sie leistet erhebliche Beiträge zu
einem Lagebild. Sie sollten sich das bei Ihren zahlrei-
chen Truppenbesuchen, auch im Mittelmeer, einmal an-
schauen. Da werden Sie ein wunderbares Bild sehen, auf
dem Sie erkennen: Im Mittelmeer sind Tausende Schiffe.
Jedes dieser Schiffe muss sich anmelden. Jedes dieser
Schiffe ist erkennbar, kann abgerufen werden. Wer dort
kooperiert – das sind die meisten –, ist in diesem Lage-
bild integriert. Es lohnt sich, das einmal zu sehen, um zu
wissen, wie dicht die Seeschifffahrt im Mittelmeer ist.
Für uns gilt es, bei der Terrorismusbekämpfung auch
abschreckend zu wirken. Die Umbrüche in der arabi-
schen Welt begründen nicht OAE,
aber sie unterstreichen die Bedeutung des Einsatzes. Die
Proliferation konventioneller Waffen, die aus den
Beständen der Gaddafi-Armee in Massen auf den Markt
gekommen sind, ist ein Beispiel dafür.
Mir geht es auch darum, dass wir Schiffe, Schiffsladun-
gen und Ähnliches untersuchen können, wenn es
Verdachtsfälle gibt. Sicherheitspolitik heißt ja nicht, dass
man immer eingreifen muss, sondern verantwortliche
Sicherheitspolitik setzt auf den Ausgleich ziviler und mi-
litärischer Instrumente und hat vor allen Dingen eine
Aufgabe: Vorsorge zu treffen. Das leistet die Bundes-
regierung mit voller Unterstützung unserer Fraktion.
Staatsminister Link hat das genauso wie unser Vertei-
digungsminister bei der ersten Lesung am 29. November
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26319
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
dieses Jahres gesagt. Staatsminister Link sprach vom
„präventiven Ordnungsfaktor im Mittelmeer“. Darum
geht es. Sicherheitspolitik ist Prävention.
Ich möchte zu meiner eingangs gemachten Bemer-
kung über die Zukunft von OAE zurückkommen. Wir
sollten den Ansatz der kooperativen Sicherheit ausdeh-
nen, indem wir verstärkt Anrainerstaaten mit einbezie-
hen. Eine Weiterentwicklung von OAE ist nötig, und das
sollten wir mit großer Mehrheit hier im Hause so sehen.
Allerdings ist klar, dass dazu zunächst der Art.-5-
Charakter aufgehoben werden muss. Nur – ich sage es
wieder –: Die Opposition arbeitet leider entgegen,
entgegen dem einvernehmlichen Abstimmen im Bünd-
nis, dem einvernehmlichen Abstimmen innerhalb der
NATO. Es geht doch darum, dass wir innerhalb der
NATO dazu kommen, die Operation gemeinsam weiter-
zuentwickeln. Das wird, wie wir wissen, in wenigen Jah-
ren geschehen müssen.
Lassen Sie mich abschließend eine Anregung geben:
Wir debattieren im Jahr neun Einsätze in zwei Lesungen;
das heißt, 18-mal wird über diese Einsätze debattiert.
Lassen Sie uns doch einmal grundsätzlich darüber nach-
denken, ob wir nicht die Öffentlichkeit stärker einbezie-
hen und eine regelmäßige sicherheitspolitische Debatte
als Dachdiskussion über die einzelnen Mandate führen
sollten.
Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, möchte ich den Soldatinnen und Soldaten, vor allem
aber unseren Reservistinnen und Reservisten in allen
Einsätzen für ihre Arbeit herzlich danken. Alles erdenk-
lich Gute!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan van Aken von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich
vor drei Jahren im Bundestag zum ersten Mal das Man-
dat zur Operation Active Endeavour gelesen habe, habe
ich ganz ehrlich gedacht, das ist ein Witz. Müsste man es
in einem Satz zusammenfassen, dann geht es um Folgen-
des: Weil am 11. September 2001 die verheerenden An-
schläge in New York und Washington verübt worden
sind, sollen jetzt deutsche Kriegsschiffe ins Mittelmeer
fahren. – Das ist nicht wirklich logisch. Denn was ist die
normale Antwort auf einen Anschlag? Was passiert der-
zeit in Bonn? Dort gab es gerade einen versuchten Bom-
benanschlag auf den Hauptbahnhof. Sie kommen jetzt
– Gott sei Dank! – nicht auf die Idee, ein Kriegsschiff in
die Ostsee zu schicken.
Hier ermittelt natürlich die Polizei. Das ist der normale
Weg.
Der entscheidende Unterschied ist folgender: Damals,
genau einen Tag nach dem Anschlag, am 12. September
2001, hat die NATO den Bündnisfall ausgerufen. Die
NATO hat damals den Krieg erklärt, den Krieg gegen
den Terror, wie Sie es nennen. Das war von Anfang an
mit Problemen behaftet. Es stellte sich die Frage: Wo
wohnt denn der gemeine Terrorist? Wo führen Sie den
Krieg gegen den Terror? Die erste Antwort auf diese
Frage – das muss ich als Hamburger leider sagen – wäre
natürlich gewesen: in Hamburg. In Hamburg ist dieser
Anschlag in New York und Washington vorbereitet wor-
den. Zum Glück, muss ich sagen, ist das nicht die
Antwort gewesen; in Hamburg wurde ganz normal poli-
zeilich ermittelt. Die zweite Antwort auf die Frage wäre
gewesen: Saudi-Arabien. Die meisten Attentäter kamen
aus Saudi-Arabien. Bis heute finanziert das saudische
Königshaus viele radikale Gruppen mit Millionen-
geldern. Auch da war Ihre Antwort ganz typisch, ganz
klassisch: Dahin werden Panzer und Maschinengewehre
geliefert.
Darüber könnte man lachen, wenn es nicht so tödlich
ernst wäre.
Denn dieser Krieg gegen den Terror wird seit elf Jahren
in die ganze Welt getragen. Es fing an mit Afghanistan.
Der Krieg mit Einsatz der Bundeswehr tobt dort bis
heute. Es ging weiter mit Irak – über 500 000 Tote. Bis
heute führen Sie den Krieg gegen den Terror in vielen
Ländern mit Kampfdrohnen, mit gezielten Tötungen in
Somalia, im Jemen, in Pakistan. Ich finde, dieses dauer-
hafte Morden kann man auch als Terror bezeichnen.
Die ganze Dramatik dieses Krieges gegen den Terror
ist doch, dass die NATO sich seit elf Jahren selbst er-
mächtigt, sich selbst einen Freibrief dafür ausstellt, über-
all auf der Welt Krieg zu führen, gewalttätig einzugrei-
fen. Zur Not wird auch der Terrorbegriff sehr weit
ausgedehnt. Dann wird auch die Sicherung von Handels-
wegen plötzlich zur Terrorbekämpfung.
Sie alle wissen ganz genau, dass ein Kriegsschiff im
Mittelmeer keinen einzigen Anschlag verhindert: nicht
in Bonn, nicht in London, nicht in Madrid; keinen einzi-
gen. Deswegen suchen Sie händeringend nach irgend-
welchen Argumenten.
Ich habe mir letztes Jahr den Text des Mandats wieder
durchgelesen und musste fast lachen. Im letzten Jahr war
26320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Jan van Aken
(C)
(B)
die Begründung für Kriegsschiffe im Mittelmeer natür-
lich der arabische Frühling. In diesem Jahr gibt es eine
neue Begründung: Mali. Ganz aktuell. Es stimmt: Natür-
lich haben Gruppen, die al-Qaida nahestehen, den ge-
samten Norden Malis besetzt. Aber was hilft da ein
Kriegsschiff im Mittelmeer?
Jetzt höre ich hier Ihre Rede, Herr Kiesewetter; da ge-
hen Sie noch weiter. Ihre neue Begründung lautet: Ener-
giesicherheit, und ganz neu ist: Waffen von Gaddafi.
Wissen Sie, Deutschland hätte sehr viel mehr für den
Frieden tun können, wenn Sie nicht gleich die 600 Ma-
schinengewehre an Gaddafi geliefert hätten.
Bei Gaddafi wurden nämlich G-36-Sturmgewehre von
Heckler & Koch gefunden. Deutsche Kriegsschiffe im
Mittelmeer damit zu begründen, ist wirklich dreist.
Eigentlich müsste ich darüber lachen, wenn es hier
nicht um eine ganz ernste Sache ginge. Es geht um einen
Auslandseinsatz der Bundeswehr, und ich möchte ein-
mal daran erinnern: Das ist bereits der dritte Einsatz,
über den wir in dieser Woche debattieren. Morgen wird
ein völlig neuer Auslandseinsatz der Bundeswehr in der
Türkei mit 400 Soldaten beschlossen. Gleich reden wir
über den Kriegseinsatz in Afghanistan. Jetzt winken Sie
die Operation Active Endeavour durch. Wir von der Lin-
ken lehnen alle drei Auslandseinsätze ab.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen exportieren sollte, nicht an Libyen und
auch nicht an irgendein anderes Land.
Ich danke Ihnen.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege
Omid Nouripour.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Kiesewetter, Sie haben nicht ganz genau zugehört: Wir
haben eigentlich nicht sehr viel gegen die Mission ge-
sagt, wir haben nur etwas gegen das Mandat gesagt. Das
Mandat ist das Problem.
Sie haben mit Kalauern angefangen, das können wir
auch: „OAE“ steht mittlerweile für ein Mandat „ohne
ausreichende Erklärung“. Es geht nämlich darum, dass
die Rechtsgrundlage, so wie Sie sie darstellen, schlicht
nicht mehr existiert.
Es geht nicht mehr um den 11. September. Genau das
steht aber in dem Antrag, Herr Kollege Kiesewetter, und
nicht das, was Sie die ganze Zeit beschrieben haben und
was in den VN gerade diskutiert wird.
Ich weiß noch, wie in der ersten Debatte der Kollege
Mißfelder hier gesagt hat: Wer gegen OAE ist, ist eigent-
lich gegen den Kampf gegen den Terrorismus. – Es geht
um die Art und Weise; es geht um die Grundlage; es geht
darum, dass wir uns einfach nicht mehr im Sicherheits-
zeitalter von 9/11 befinden. Wir sind elf Jahre weiter. Ich
kann Ihnen nur empfehlen: Lesen Sie doch einfach ein-
mal den Artikel von Fareed Zakaria in der Washington
Post, der nicht gerade dafür bekannt ist, ein Grüner zu
sein. Lesen Sie, was er dazu schreibt, wie weit wir
von 9/11 entfernt sind und dass diese Art von Krieg
gegen den Terror aus der Bush-Ära nicht mehr zu verant-
worten ist und dieser Krieg längst beendet gehört. Die-
sen Geist atmet das Mandat jedoch weiterhin, und des-
halb lehnen wir es ab.
Zu Ihrer Begründung „arabischer Frühling“: Die Waf-
fen von Gaddafi sind nicht mehr da. Sie liegen nicht auf
dem Grund des Mittelmeers; deshalb brauchen wir dort
keine U-Boote. Das Ganze wird nicht besser dadurch,
dass Sie versuchen, sich eine Begründung für dieses
Mandat hinzubiegen.
Ja, es ist richtig: Es wäre gut und wünschenswert
– das ist im Ausschuss auch gesagt worden –, wenn wir
auf dem NATO-Territorium, und davon reden wir, so et-
was hätten wie eine „Standing Maritime Defence Struc-
ture“. Das macht Sinn, das ist aber nicht das, was Sie
heute hier vorlegen.
Sie haben letztes Jahr schon erzählt, dass man darüber
nachdenken müsse, dieses Mandat weiterzuentwickeln.
Es ist in der Zwischenzeit nicht so viel passiert. Außer
dem Kollegen Mißfelder haben bei der ersten Lesung
alle davon gesprochen, dass man im Bündnis darüber re-
den müsse, ob der Bündnisfall vom Oktober 2001 noch
aktuell sei. Herr Staatsminister Link hat bei der letzten
Beratung davon gesprochen, dass man das Ganze jetzt
thematisieren wolle, dass es derzeit jedoch keine Mehr-
heit im NATO-Rat dafür gebe. Im NATO-Rat ist das
Thema bislang noch gar nicht angesprochen worden,
wenn ich richtig informiert bin.
Wenn die Bundesregierung jedoch vorhat, diese Frage
zu thematisieren, und wenn sie dabei Unterstützung ha-
ben will, dann kann sie unsere Unterstützung hierfür be-
kommen. Wir haben einen Antrag eingebracht, der sich
heute noch in der Abstimmung befindet. Darin wird ge-
fordert, diesen derzeit existierenden Bündnisfall zu be-
enden, weil die Gründe hierfür mittlerweile nicht mehr
vorhanden sind. Das würde auch eine Entlastung für die
Strukturen innerhalb der NATO bedeuten.
Ich kann Ihnen nur sagen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von den Fraktionen der Koalition: Stimmen
Sie einfach unserem Antrag zu und unterstützen Sie da-
mit Ihre eigene Regierung. Stärken Sie die Position, die
von Ihrer eigenen Regierung formuliert worden ist.
Dann können Sie mit einem Mandat des Hohen Hauses
in die entsprechende NATO-Beratung gehen, um dort
dafür zu kämpfen und zu streiten, dass der Bündnisfall
beendet wird. Wir geben Ihnen bei der Abstimmung über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26321
Omid Nouripour
(C)
(B)
unseren Antrag die Möglichkeit, Ihre eigene Regierung
dabei zu unterstützen, den NATO-Verteidigungsfall zu
beenden. Damit zeigen Sie, dass Sie das ernst meinen,
was Sie in der ersten Lesung gesagt haben. Hier habe ich
jedoch meine Zweifel. Wir werden es bei der Abstim-
mung sehen. Dieses Mandat ist so, wie es vorliegt, nicht
tragfähig.
Herzlichen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Abschluss der Debatte will ich noch einmal auf drei
zentrale Argumente eingehen, die die CDU/CSU-Frak-
tion dazu bringen werden, der Mandatsverlängerung
heute zuzustimmen.
Das erste Argument bezieht sich auf die Frage, ob es
sich in der Tat um ein Mandat auf Basis von Art. 5 des
NATO-Vertrages handelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 12. September
2001 hat der Bundeskanzler hier die „uneingeschränkte
Solidarität Deutschlands“ verkündet. Da die Wahrheit
immer konkret ist, hat der deutsche Botschafter dement-
sprechend im NATO-Rat für die Feststellung des Vertei-
digungsfalles die Hand gehoben. Das haben in der NATO
alle Mitgliedstaaten gemeinsam getan – ohne Ausnahme.
Es ist selbstverständlich, dass es bei der Beendigung ei-
nes solchen Mandats keinen deutschen Alleingang gibt,
sondern dass dies in Gemeinschaft aller 28 NATO-Part-
nernationen erfolgt. Deshalb ist heute nicht der Zeit-
punkt, das Mandat infrage zu stellen, sondern es geht da-
rum, dass wir das Mandat so fortführen, wie es unsere
Partner von uns erwarten.
Das zweite Argument hat mit der Frage zu tun, ob ein
solches Mandat, ein solcher Einsatz im Mittelmeer,
heute noch angemessen und notwendig ist.
Ich glaube, dieser Einsatz ist mehr als angemessen
und notwendig. Wenn man sich die Situation im Mittel-
meer anschaut, stellt man fest, dass die Anzahl der Län-
der, in denen instabile Verhältnisse drohen oder gar in-
stabile Verhältnisse bestehen, in den letzten zwölf
Monaten eher gestiegen denn gesunken ist. Wir betrach-
ten die friedlichen Umstürze in Nordafrika nicht in ir-
gendeiner Weise mit Argwohn, aber überall dort, wo
Machthaber Waffen aus der Hand geben müssen und an-
dere die Macht übernehmen, besteht natürlich die Ge-
fahr, dass sich terroristische Kräfte dieser Waffen be-
mächtigen und dass terroristische Kräfte diese Länder
infiltrieren. Das ist im Maghreb so, das ist in einzelnen
anderen Staaten Nordafrikas so, und das ist natürlich
auch in Syrien so. Wir wissen aus Berichten – Sie kön-
nen das heute in der Welt nachlesen –, dass circa 100 Eu-
ropäer mit islamistischem Hintergrund bereits in Syrien
sind. Sie werden dort wahrscheinlich ihre Verwandten
besuchen; ich vermute, die begeben sich alle in rein
friedlicher Absicht in dieses Land.
Auch der Konflikt zwischen Israel und Palästina, den
ich in einem engen Zusammenhang mit den Bemühun-
gen des Iran um den Bau einer Atombombe sehe, ist ein
weiteres kritisches Indiz.
Deswegen ist dieser Einsatz richtig und notwendig.
Wenn man der Argumentation folgt, der Einsatz sei
überflüssig, weil man in den letzten Jahren nicht mehr
hätte robust handeln müssen, dann muss ich sagen: Mit
dieser Argumentation hätte man in den 60er-, 70er- und
80er-Jahren alle alliierten Truppen aus Westeuropa ab-
ziehen können. Denn sie haben keinen einzigen Schuss
abgegeben. Sie waren aber natürlich für den Frieden und
für unsere Freiheit von unschätzbarer Bedeutung.
Das dritte Argument bezieht sich auf die Mandats-
obergrenze. Zunächst einmal ist es das Wesen einer ma-
ritimen Operation, dass sie eine sehr stark schwankende
Zahl von Mandatsteilnehmern aufweist. Wir haben dort
derzeit fünf Soldaten im Einsatz. Bis heute Morgen hat-
ten wir dort die Korvette „Magdeburg“ mit circa
60 Mann, die dem Einsatzverband unterstellt waren, im
Einsatz. Diese haben im Übrigen trotz aller Sorgen, die
wir mit diesem Schiff hatten, vor der libanesischen
Küste einen super Job gemacht, und sie sind jetzt auf
dem Weg zurück in die Heimat.
Wir werden diesem maritimen Einsatzverband in den
kommenden Monaten im Zweifel wieder mindestens eine
Fregatte und einen Betriebsstofftransporter, möglicher-
weise auch andere Schiffe, unterstellen. Dann kommt
man sehr schnell auf 700 Soldaten im Einsatz. Deswegen
ist es auch gut, dass wir an dieser Mandatsobergrenze
festhalten.
Im Jahr 2012 haben insgesamt 1 430 Soldaten der
Bundeswehr an insgesamt 210 Tagen an diesem Einsatz
teilgenommen. Wenn Sie hier behaupten, das sei ein
Phantomeinsatz, dann werden Sie dem Engagement die-
ser 1 430 Soldaten an diesen 210 Tagen nicht gerecht.
Das ist einfach ungerecht denen gegenüber, die diesen
Job gemacht haben.
Wir hatten außerdem an 127 Tagen AWACS-Flug-
zeuge mit deutscher Beteiligung im Einsatz. Vermutlich
werden bis zum Ende dieses Jahres insgesamt rund
24 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an
diesem Einsatz teilgenommen haben.
Ich möchte an dieser Stelle – sicherlich nicht nur im
Namen meiner Fraktion, sondern im Namen aller – die-
sen 24 000 Soldaten für ihren geleisteten Dienst danken.
– Die Linke legt Wert darauf, dass sie sich an diesem
Dank nicht beteiligt. Auch das nehmen wir hier gerne zu
Protokoll.
26322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Jürgen Hardt
(C)
(B)
In diesem Sinne werden wir dem Mandat heute zu-
stimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung
der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe ge-
gen die USA. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11890, den An-
trag der Bundesregierung auf Drucksache 17/11466
anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussemp-
fehlung namentlich ab.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
an diese namentliche Abstimmung zwei Wahlen mit
Stimmzettel und Wahlausweis durchführen werden.
Haben die Schriftführer und Schriftführerinnen die
vorgesehenen Plätze eingenommen? – Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihre Karte
eingeworfen haben, bitte ich, hier zu bleiben, weil wir
im Anschluss eine Wahl durchzuführen haben, bei der
die Kanzlermehrheit notwendig ist.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Karte noch nicht eingeworfen hat? – Das scheint nicht
der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später mitge-
teilt.1)
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 und 13 ge-
meinsam auf:
12 Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
– Drucksache 17/11833 –
13 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushalts-
ordnung
– Drucksache 17/11834 –
Beide Wahlen werden aus Vereinfachungsgründen in
einem Wahlgang, aber mit getrennten Stimmzetteln
durchgeführt. Das heißt, Sie müssen nur einmal zur
Wahlurne gehen, um Ihre beiden Stimmzettel abzuge-
ben.
Die Fraktion der FDP schlägt auf Drucksachen
17/11833 und 17/11834 für das Parlamentarische Kon-
trollgremium und das Vertrauensgremium die Abge-
ordnete Gisela Piltz vor.
Ich bitte noch um Aufmerksamkeit für einige Bemer-
kungen zum Wahlverfahren. Gewählt ist, wer die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf
sich vereint, das heißt, wer mindestens 311 Stimmen er-
hält. Die Wahlen erfolgen mit blauem und gelbem
Stimmzettel sowie mit dem grünen Wahlausweis. Der
Wahlausweis gilt für beide Wahlen. Den Wahlausweis
können Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimm-
kartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte achten Sie un-
bedingt darauf, dass der Wahlausweis Ihren Namen
trägt.
Die Stimmzettel wurden verteilt. Sollten Sie den
blauen und den gelben Stimmzettel nicht haben, besteht
jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassisten-
ten zu erhalten. Gültig sind die Stimmzettel nur, wenn
sie mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“ angekreuzt
sind. Ungültig sind demzufolge Stimmzettel, die kein
Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zu-
sätze enthalten. Beide Wahlen finden offen statt. Sie
können beide Stimmzettel also an Ihrem Platz ankreu-
zen.
Dann können wir mit dem Wahlverfahren beginnen.
Geben Sie bitte Ihren Wahlausweis ab, und werfen Sie
die Stimmzettel in die Urne. Der Wahlvorgang ist damit
eröffnet.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Wahlzettel
eingeworfen? – Das ist der Fall. Dann schließe ich den
Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse
der Wahlen werden Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes über die Ruhebezüge des
Bundespräsidenten
– Drucksache 17/11593 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Michael Hartmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wer hätte gedacht, dass wir jemals über die Versor-
gung des Bundespräsidenten so, wie das heute Abend
leider notwendig geworden ist, debattieren müssten?
Das hat sicherlich keiner in diesem Hause vor einem
Jahr für möglich erachtet. Das hätten sich erst recht nicht
1) Ergebnis Seite 26327 D 2) Ergebnis Seite 26330 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26323
Michael Hartmann
(C)
(B)
jene Abgeordnete vorstellen können, die in den Jahren
1953 und 1959 die gesetzlichen Grundlagen geschaffen
haben.
Aber auf den Tag genau vor einem Jahr wurde erst-
mals ein Bündel von Vorwürfen gegen den damaligen
Bundespräsidenten veröffentlicht, die am Schluss zum
Rücktritt von Christian Wulff führten, einem unrühmli-
chen Rücktritt. Große Teile der Öffentlichkeit waren da-
mals besorgt, dass die Würde und das Ansehen des Am-
tes darunter leiden würden. Das ist glücklicherweise
nicht eingetreten, weil wir einen Bundespräsidenten be-
kommen haben, der voll und ganz das Format hat, das
dieses Amt erfordert.
Die Autoren des Versorgungsgesetzes aus den 50er-
Jahren sind davon ausgegangen, dass ein Bundespräsi-
dent im Regelfall ein würdiger älterer Herr ist und dass
dieser in jedem Falle sein Amt nicht niederlegt. Als ein-
ziger Grund für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem
Amt wurden Krankheit oder Tod in Betracht gezogen.
Durch Horst Köhler wurden wir eines Besseren belehrt.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass jene Regelung
aus dem Jahre 1959 unter besonderen Voraussetzungen
geschaffen worden ist. Es ging damals um eine mögliche
Kandidatur von Konrad Adenauer für das Amt des Bun-
despräsidenten. Diese Regelung sieht vor – man muss
sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen –, dass
eine hundertprozentige Versorgung von Anfang an und
lebenslang ausgezahlt wird, unabhängig von der Amts-
dauer.
So soll es nach unserer Auffassung nicht weitergehen.
Wir von der SPD-Fraktion haben uns die Mühe gemacht,
uns Aussagen aus allen Fraktionen im Lichte der damali-
gen Debatte genau anzuschauen, diese zusammenzufas-
sen und daraus einen Gesetzentwurf zu entwickeln. Wir
handeln damit beispielsweise ganz im Sinne der Aussa-
gen des Unionskollegen Thomas Strobl; er ist immerhin
Vorsitzender des Immunitätsausschusses. Er sagte da-
mals richtigerweise:
Wir sollten in einigen Wochen oder Monaten, ganz
sachlich und in Ruhe, überdenken, wie wir die Al-
tersbezüge von künftigen Bundespräsidenten re-
geln.
Er sagte weiterhin, nie zuvor sei ein Bundespräsident
so früh, so schnell und unter solchen Bedingungen aus
dem Amt geschieden. – Recht hatte er.
Deshalb haben wir eine Idee entwickelt: Es soll nicht
länger unabhängig von der Amtszeit eine lebenslange
hundertprozentige Versorgung möglich sein. Stattdessen
soll nach einer halben Amtszeit eine 50-prozentige Ver-
sorgung gewährt werden, nach einer ganzen Amtszeit
eine 75-prozentige Versorgung und nach zwei Amtszei-
ten eine volle, also hundertprozentige Versorgung. Sie
sehen also: Es geht hier nicht um ein Herabwürdigen der
Versorgung aus kleinkarierten Motiven oder gar aus
Neid. Die Versorgung, die nach unserem Gesetzesent-
wurf gewährt würde, wäre wahrhaftig noch honorig ge-
nug.
Allerdings haben Unkundige, die den Gesetzestext
noch gar nicht kennen konnten, schon gewähnt, dass
Christian Wulff Unheil droht, dass er das Opfer dieser
Initiative sein soll, dass der SPD-Vorschlag sozusagen
eine reine Strafaktion oder gar eine am Wahlkampf in
Niedersachsen orientierte Aktion ist. Das ist Unsinn.
Ich darf all jenen sagen, die um den Lebensunterhalt
des 53-jährigen früheren Ministerpräsidenten und Bun-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er wird weiterhin ein aus-
kömmliches Einkommen haben und in geordneten Ver-
hältnissen leben können, wenn Sie unseren Vorschlag
annehmen. Unser Entwurf sieht vor – dies ist vollkom-
men verfassungsgemäß –, dass die Bezüge für ehemalige
Bundespräsidenten ab Inkrafttreten des Gesetzes jährlich
um ein zartes Zehntel gesenkt werden, sodass Herr
Wulff diese Abschmelzung auf 50 Prozent im Alter von
64 Jahren, also in gut zehn Jahren, erreichen würde. Es
geht also wahrhaftig nicht um eine Lex Wulff, die den
früheren Bundespräsidenten für irgendetwas bestrafen
soll; es kann aber auch nicht um eine Lex Wulff in um-
gekehrter Richtung gehen, durch die einfach ignoriert
werden würde, wie und unter welchen Bedingungen er
aus dem Amt geschieden ist.
Unser Vorschlag wahrt Maß und Mitte. Er zieht von al-
len Fraktionen anerkannte überfällige Konsequenzen; er
will weg von einer Art hoheitlicher Apanageregelung und
hin zu einer einem demokratischen Rechtsstaat angemes-
senen Versorgung. Deshalb bieten wir allen an, offene
Gespräche über diesen Vorschlag zu führen. Vielleicht
möchten Sie ebenfalls eigene Vorschläge entwickeln und
im Hause einbringen. Wir bieten auf jeden Fall faire und
einigungsbereite Gespräche an. Bitte lassen Sie diese
Chance, die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße
zu stellen, nicht einfach vergehen. Wischen Sie unseren
Vorschlag nicht weg, wenn Ihnen das Amt des Bundes-
präsidenten tatsächlich etwas bedeutet.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Helmut Brandt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst ein paar Worte zu dem eingebrachten
Gesetzentwurf und zu dem, was Kollege Hartmann dazu
gesagt hat. Ich muss zunächst einmal darüber lächeln,
dass Sie hier den Versuch unternommen haben, etwas,
was auf der Hand liegt, sozusagen zu verschleiern. Der
Jahrestag der Veröffentlichung der einen oder anderen
Information über den ehemaligen Bundespräsidenten ist
26324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Helmut Brandt
(C)
(B)
nicht der Anlass der heutigen Debatte; das sind nicht die
Beweggründe, warum wir heute darüber diskutieren. Die
Beweggründe sind eindeutig: Im Januar finden in Nie-
dersachsen Wahlen statt, und mit diesem Gesetzentwurf
unternimmt man heute den Versuch – er ist nach meiner
Auffassung allerdings untauglich –, hier ein Wahl-
kampfthema zu finden.
– Das mag richtig sein. Das gehört im Übrigen auch zu
der Frage, weshalb man die Bezüge eines ausgeschiede-
nen Bundespräsidenten früher einmal so festgelegt hat.
Denn er steht nach dem Ausscheiden aus diesem Amt
nicht mehr für andere Ämter zur Verfügung.
Ich lasse die Vorschläge der SPD noch einmal Revue
passieren. Es ist tatsächlich so, wie eben schon gesagt,
dass nach zwei Jahren und sechs Monaten 50 Prozent
der Amtsbezüge gezahlt werden sollen, nach fünf Jah-
ren, also nach einer Amtsperiode, 75 Prozent und nach
zehn Jahren, also nach zwei Amtsperioden, 100 Prozent.
Lieber Michael Hartmann, nach meiner Auffassung sind
verschiedene Punkte im Entwurf – darauf werde ich
gleich noch eingehen – einfach unhaltbar. Es genügt
nicht, den eingebrachten Gesetzentwurf damit zu be-
gründen, dass man aus Reaktionen von Kollegen, egal
wer es war, einen Gesetzentwurf sozusagen zusammen-
gezimmert hat. Man sollte sich schon mehr Zeit nehmen
und mehr Sorgfalt aufwenden.
Die Einbringung dieses Gesetzentwurfs ist im Grunde
genommen – ich bleibe dabei – eine Hoppla-hopp-Ak-
tion, um den bedauerlichen Rücktritt des Bundespräsi-
denten Wulff kurz vor der Wahl in Niedersachsen noch
einmal in die Öffentlichkeit zu zerren. Sie zielen damit
auf Christian Wulff, treffen aber im Grunde genommen
das Amt des Bundespräsidenten. Es ist mir wichtig, das
einmal deutlich zu machen.
Bloße Wahlkampfhilfe für die Genossen in Nieder-
sachsen genügt eben nicht, um einen diskussionswürdi-
gen Punkt, den man in Zukunft sicherlich wird erörtern
können, hier auf sachlicher und vernünftiger Ebene zur
Diskussion bzw. zur Abstimmung zu stellen.
Wenn es nur darum ginge, diese Diskussion in Gang
zu setzen, dann hätte, lieber Michael, zunächst etwas an-
deres passieren müssen, was in diesem Hause immer Ge-
pflogenheit war: dass man bei solchen Fragen erst ein-
mal den Kontakt zu den anderen Fraktionen sucht, sich
mit ihnen abstimmt: „Ist ein Bedürfnis da? Können wir
da eine breite Mehrheit erwarten?“,
und dann einen Gesetzentwurf einbringt.
Man kann nicht den umgekehrten Weg wählen und die
Sprecher der Fraktionen gewissermaßen drei Tage vor
dem Wahltermin in Niedersachsen einladen, um das
Thema zu besprechen. So geht es nicht. So machen wir
das nicht mit.
– Nein, das ist eindeutig; du bekommst das nicht wegdis-
kutiert.
Worüber man – neben anderen Fragen – auf jeden Fall
wird reden können, ist die auch nach meiner Auffassung
nicht mehr zeitgemäße Bezeichnung „Ehrensold“, wie
die Entschädigung des Bundespräsidenten nach seinem
Ausscheiden heißt. Das ist sicherlich ein Begriff, der
nicht mehr in die heutige Zeit passt und dem, was es tat-
sächlich damit auf sich hat, auch nicht gerecht wird.
Auch über andere Fragen werden wir gerne diskutieren.
Ich wollte nur deutlich machen, weshalb man das hier
und heute so vielleicht nicht hätte tun sollen.
Grund für die derzeitige Altersregelung – teilweise
wurde darauf eingegangen – ist die Tatsache, dass die Si-
tuation beim Bundespräsidenten in aller Regel eine an-
dere ist als beispielsweise bei Bundeskanzlern, die nach
ihrem Ausscheiden attraktive Jobs in der Wirtschaft an-
genommen haben; Altkanzler Schröder ist ein leuchten-
des, wenn auch nicht gerade positives Beispiel.
Der Bundespräsident wird nach dem Ausscheiden aus
dem Amt nicht mehr beruflich tätig. Er hat – auch auf-
grund des Amtes als solches – noch sehr viele und viel-
seitige Verpflichtungen; aber er wird niemals mehr einen
normalen Beruf ergreifen können und sollen.
Deshalb hat man damals die derzeitige Höhe der Ent-
schädigung gewählt. Die Bedeutung des Amtes wird
eben auch durch diese entsprechende Vergütung heraus-
gestellt.
Nun ein paar Bemerkungen zu dem vorliegenden Ge-
setzentwurf. Ich habe ja schon gesagt, dass das mehr
oder weniger Stückwerk ist. In dem Entwurf ist zum
Beispiel nicht der Fall vorgesehen, dass ein Bundesprä-
sident nach seiner Wahl beispielsweise aus Krankheits-
gründen ausscheidet und noch keine zweieinhalb Jahre
Amtszeit hinter sich hat. Soll er dann nichts bekommen?
Ich treibe es einmal auf die Spitze: Soll, wenn er wäh-
rend der ersten zweieinhalb Jahre stirbt, seine Witwe
nichts bekommen? Dazu ist in dem Entwurf nichts vor-
gesehen. Das zeigt doch, dass man sich mit der Sache
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26325
Helmut Brandt
(C)
(B)
nicht intensiv genug beschäftigt hat; sonst hätte man ei-
nen solchen Fall nicht vergessen.
Die eben dargestellte jährliche Absenkung der Ent-
schädigung ist nach meiner Auffassung – da bin ich an-
derer Meinung als die SPD – als echte Rückwirkung an-
zusehen und daher nicht verfassungsgemäß.
Derjenige, der aus seinem Amt ausscheidet, hat einen
gewissen Anspruch erworben. Diesen Anspruch kann
man ihm nicht nachträglich durch Abschmelzung bis auf
einen gewissen Betrag – der dann auch willkürlich ge-
wählt wäre – wieder nehmen. Das ist rechtsstaatlich
schlicht und ergreifend nicht möglich. Davon ist völlig
unabhängig, dass der ausgeschiedene Bundespräsident
Christian Wulff selbst vor seinem Amtsantritt einmal da-
rauf hingewiesen hat, dass man die bestehenden Rege-
lungen durchaus ändern kann und sollte.
Da sind wir einer Meinung; aber nur in diesem einen
Punkt.
Es gibt sicherlich viele Gründe – einige von denen,
die Sie genannt haben, tragen auch –, über eine Ände-
rung der bestehenden Vorschriften nachzudenken. Aber
ich sage es noch einmal: Ein seriöses Interesse an einer
solchen Änderung sieht anders aus als das, was Sie uns
vorgelegt haben.
Der eilig gestrickte Gesetzentwurf kann weder über
die in ihm enthaltenen handwerklichen Mängel noch
über die eigentliche Intention hinwegtäuschen, nämlich
darüber – ich wiederhole es –, dass Sie diesen Vorgang
für die bevorstehende Wahl in Niedersachsen ausnutzen
wollen. Deshalb und auch wegen der inhaltlichen Män-
gel müssen wir den Gesetzentwurf, so wie er uns vorge-
legt wurde, derzeit ablehnen.
Ich muss die gesamte SPD-Fraktion wirklich auffor-
dern, künftig darauf zu verzichten, aus rein wahltakti-
schen Gründen ein für unser Land so wichtiges Amt zu
beschädigen.
Danke schön.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Dr. Dietmar Bartsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, die Ruhebe-
züge des Bundespräsidenten neu zu regeln. Die Rege-
lung, die wir haben, stammt aus dem vorigen Jahrhun-
dert. Allein schon die Bezeichnung „Ehrensold“ reicht,
um das zu erkennen. Das kann man wirklich nicht ak-
zeptieren.
Herr Hartmann hat darauf hingewiesen: Die Regelung
ist aus dem Jahre 1959. Bis zu den Haushaltsberatungen
habe ich gar nicht gewusst, wie die Regelung entstanden
ist. Das war ja eine reine Regelung Lex Adenauer. Das
alles ist für den damaligen Kanzler Adenauer gemacht
worden, um ihn irgendwann mit hohen attraktiven Ruhe-
bezügen loszuwerden. Deswegen war das für mich auch
eine Lehrveranstaltung.
Was wir jetzt aber nicht machen dürfen, ist, eine Lex
Wulff zu verabschieden.
Wir können doch nicht aufgrund des Anlasses, der sich
in diesem Jahr ergeben hat, jetzt auf einmal eine Lex
Wulff verabschieden. Es gibt ein laufendes Verfahren
gegen Herrn Wulff. Das sollten wir vielleicht irgendwie
berücksichtigen. Eine parteipolitische Instrumentalisie-
rung an dieser Stelle finde ich wirklich nicht angebracht.
Es stimmt schlichtweg, dass die zeitliche Nähe zur
Landtagswahl in Niedersachsen – Herr Wulff war da ja
mal Ministerpräsident und kommt dorther – einen scha-
len Beigeschmack hat. Gerade aufgrund des Verhaltens
von Wulff ist diese Instrumentalisierung hier im Deut-
schen Bundestag ein wirkliches Problem. Dieses wich-
tige Thema können wir eben nicht wahlpolitisch instru-
mentalisieren.
Ich bin jemand, der gerne auch sehr deutliche und sehr
scharfe Attacken gegen die politischen Konkurrenten
fährt – das ist überhaupt keine Frage –, aber ich sage
ganz klar: Bei diesem Thema ist das wirklich falsch.
Ich finde – das sage ich auch im Namen meiner Frak-
tion –, wir sollten zeigen, dass das Parlament in der Lage
ist, dieses wichtige Problem zu lösen.
Das ist die Aufgabe. Ansonsten erzeugen Sie nämlich
nicht einen kurzen parteipolitischen Erfolg, sondern
Politikerverdrossenheit. Das wird Ihnen keinen kleinen
26326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Dietmar Bartsch
(C)
(B)
Erfolg bringen, sondern uns allen hier im ganzen Haus
schaden.
Es ist ja wirklich komisch, dass Sie die Bezüge des
Bundespräsidenten neu regeln wollen, aber die der ehe-
maligen Bundeskanzler nicht.
Hier kann man schon auf die Idee kommen: Die einen
kommen mehr von der CDU und der FDP, die anderen
mehr von der SPD. – Das hat eine kleine Tendenz; der
eine oder andere könnte das jedenfalls denken.
Ich würde jetzt ganz gerne zum Gesetzentwurf selbst
noch etwas sagen.
Ich habe eine Frage: Wieso entscheidet eigentlich das
Bundespräsidialamt – darüber sollten wir nachdenken –,
ob der ehemalige Bundespräsident Altersbezüge bekommt
oder nicht? Ich finde, das können wir nicht so lassen.
Hier sollten wir eine unabhängige Entscheidungsinstanz
schaffen, damit jemand unabhängig entscheiden kann,
ob er sie bekommt oder nicht.
Es ist schon erstaunlich, dass wir diese Debatte hier
führen. Ich will einmal ein anderes Beispiel nennen: Der
ehemalige Chef der HRE, Herr Wieandt, bekommt nach
18 Monaten Tätigkeit bei der HRE ab dem 60. Lebens-
jahr rund 240 000 Euro Rente.
Das ist jetzt ein bundeseigenes Unternehmen. Warum
gibt es eigentlich keine Gesetzesinitiative dafür, dort et-
was zu verändern?
Weil das gerade in den Zeitungen steht, machen wir das
jetzt ganz neu zum Thema. Darum sollten wir uns auch
kümmern; denn das ist natürlich ein ähnliches Problem.
Eines will ich ganz klar sagen: Ich stimme Ihnen zu –
das ist vernünftig –, dass ein Bundespräsident nach sei-
nem Ausscheiden nicht weiterhin 100 Prozent seiner Be-
züge bekommen kann. Es ist ja nirgendwo so, dass man
nach seinem Ausscheiden weiterhin 100 Prozent seiner
Bezüge erhält. Ich bin sehr dafür – hier sollten wir uns
einigen –, dass er nach dem Ausscheiden aus seinem
Amt etwas weniger bekommt, weil er dann ja auch nicht
mehr die entsprechenden Aufgaben hat. Das gehört zur
Normalität.
Man sollte auch das Alter berücksichtigen – das ist
völlig klar –, sodass er dann, wenn er wirklich in Rente
geht, andere Bezüge bekommt. Wenn man das aber von
der Amtszeit abhängig machen würde, dann entstünde
natürlich die Situation, dass man möglichst zwei Amts-
perioden im Amt sein will. Das ist diesem Amt nicht
wirklich angemessen.
Ich sage ganz klar: Wir sollten keine Lex Wulff schaf-
fen. Das ist auch Herr Wulff nicht wert.
Lassen Sie uns im Sinne des Amtes eine einvernehmli-
che Lösung des ganzen Hauses finden. Damit würden
wir in dieser Diskussion wirklich einen Schritt nach
vorne machen.
Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Selten – ich würde sogar sagen: nie – hat mir ein
Mitglied der Fraktion Die Linke so aus dem Herzen ge-
sprochen wie heute Abend.
Ich habe mir auf dem Weg zum Rednerpult überlegt, ob
mir das irgendwie zu denken geben sollte.
Es ist eigentlich ein gutes Signal, dass in gewissen
Punkten alle Fraktionen dieses Hauses – mit kleinen Ab-
strichen bei der SPD-Fraktion – der Meinung sind, dass
dieses Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und in
Wahrung der Würde der repräsentativen Demokratie be-
handelt werden soll – und nicht einseitig auf Initiative ei-
ner Fraktion ohne vorheriges Gesprächsangebot an alle
anderen Fraktionen.
Ich nenne einmal ein anderes Beispiel aus dieser Le-
gislaturperiode. Wir haben den subjektiven Wahlrechts-
schutz verbessert. Wie ist das abgelaufen? Bei einem
solchen Thema setzt man sich zusammen und fragt – den
einen oder anderen vielleicht zu wenig, aber doch die
meisten –: Könnt ihr euch vorstellen, eine Grundgesetz-
änderung, eine Neuregelung zu treffen? Wo liegen eure
Interessen? Was wollt ihr berücksichtigt wissen? Dann
wird man sich zusammensetzen und mit Experten in al-
ler Ruhe und Gelassenheit dieses Thema debattieren. Ein
solches Thema erblickt erst nach einer gewissen Zeit das
Licht der parlamentarischen Öffentlichkeit – vielleicht
auch nicht unbedingt im Vorfeld einer Landtagswahl,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26327
Dr. Stefan Ruppert
(C)
(B)
sondern dann, wenn es ausgewogene und sachliche Er-
gebnisse gibt. Aber so ist es in dem vorliegenden Fall
leider nicht geschehen.
Machen wir uns doch nichts vor: Wir setzen eine Spi-
rale in Gang, die am Ende wiederum nur die repräsenta-
tive Demokratie schlechter aussehen lässt. Wir fangen
dann an, über Bundeskanzler zu diskutieren sowie über
die Frage, wie viele Dienstwagen wer braucht, wo der
Dienstsitz, wo das Büro nach der Amtszeit sein muss.
Glauben Sie wirklich, dass die gesellschaftlichen Eliten
dieses Landes, die sich aus meiner Sicht leider zu selten
und zu wenig in politische Prozesse einbringen,
dann am Ende sagen werden: „Das ist ein Verein, da ma-
che ich mal mit. Als Wissenschaftler bzw. als Wissen-
schaftlerin, als Mann bzw. Frau aus der Wirtschaft bin
ich interessiert, mich mehr in politische Debatten einzu-
bringen“, wenn wir eine solche uns gegenseitig eher be-
schädigende Debatte führen? Wir wissen doch alle, dass
das nicht so ist.
Als Rechtsstaatspartei sollte man vielleicht einmal
darauf hinweisen, dass es gegen Herrn Wulff bisher noch
kein abgeschlossenes Verfahren gibt.
Sie haben gesagt: Ein Jahr nach dem Rücktritt bringen
Sie diese Debatte auf. Sie selbst haben damit die Verbin-
dung zu diesem Thema hergestellt. Man sollte sich ein-
mal vor Augen führen, durch welche Situationen dieser
Mann und seine Frau in den letzten anderthalb Jahren
gegangen sind. Ich frage mich, ob wir uns wirklich mit
einer Causa Wulff, die mehrere ausgeschiedene Amtsträ-
ger treffen würde, einen Gefallen täten.
Der Verfassungsrechtler in mir will noch einige Hin-
weise auf die Ausgestaltung Ihres Gesetzentwurfs ge-
ben. Man kann geteilter Meinung sein, ob Sie hier einen
Fall echter Rückwirkung normieren. Sie nutzen ge-
schickterweise den Kniff, nur zukünftige Erhöhungen
der Besoldung der Beamten nicht auf die ehemaligen
Bundespräsidenten zu übertragen, um die Ruhebezüge
dann, wenn sie bei 50 oder 75 Prozent der Dienstbezüge
angelangt sind, einzufrieren. Auch hierzu kann man sehr
wohl der Auffassung sein, dass das doch eine Rückwir-
kung bedeutet. Sie regeln nämlich in einem Gesetz einen
Tatbestand, der künftige politische Entscheidungen die-
ses Hauses vorwegnimmt. Dabei geht es um die Frage,
ob wir die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst auf das
Beamtenwesen übertragen.
Das ist meiner Meinung nach regelungstechnisch eher
missglückt als geglückt. Das ist sozusagen der Notaus-
gang für Helden gewesen, um sich aus der Problematik
einer echten Rückwirkung einigermaßen glaubwürdig zu
verabschieden. Aber ich glaube, das ist nicht gelungen.
Mein Fazit ist also: Insgesamt ist das kein guter An-
lauf wenige Wochen vor einer Landtagswahl. Ein guter
Anlauf wäre gewesen, die in der Tat bestehenden und
auch zu diskutierenden Fragen gemeinsam mit Kollegen
zu besprechen und danach unterschiedliche Positionen in
der Öffentlichkeit auszutragen, aber eine Gemeinsamkeit
der Demokraten festzustellen. Dann wären wir hier zu
einer guten Lösung gekommen.
Übrigens glaube ich, dass wir noch zu dieser guten
Lösung kommen werden. Es gibt – darauf hat Herr
Bartsch zu Recht hingewiesen – durchaus den einen oder
anderen Einzelfall, in dem man sagen würde: Hier be-
steht Regelungsbedarf – aber von uns gemeinsam, in der
Gemeinsamkeit aller Demokraten. Denn das Bundesprä-
sidentenamt ist ein wichtiges und würdevolles Amt, und
wir sollten es nicht beschädigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich Herrn Nouripour das Wort erteile, gebe ich
Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmung
bzw. Wahlen bekannt.
Zunächst das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortset-
zung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte
bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf
terroristische Angriffe gegen die USA“: abgegebene
Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 311, mit Nein ha-
ben gestimmt 255, Enthaltungen 1. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 568;
davon
ja: 311
nein: 256
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
26328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Hartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26329
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Krista Sager
Manuel Sarrazin
26330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Enthalten
SPD
Hans-Ulrich Klose
Dann kommen wir zum Ergebnis der Wahl eines Mit-
glieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß
Art. 45 d des Grundgesetzes: abgegebene Stimmen 566,
alle waren gültig. Mit Ja haben gestimmt 470, mit Nein
haben gestimmt 52, Enthaltungen 44.
Die Abgeordnete Piltz hat 470 Stimmen erreicht. Die
erforderliche Mehrheit wurde erreicht.
Dann kommen wir zum Ergebnis der Wahl eines Mit-
glieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der
Bundeshaushaltsordnung: abgegebene und gültige Stim-
men 566. Mit Ja haben gestimmt 468, mit Nein 54, Ent-
haltungen 44. Frau Piltz erhielt 468 Stimmen. Die erfor-
derliche Mehrheit wurde auch jetzt erreicht. Ich gratuliere
Ihnen zu den beiden Wahlergebnissen und zu Ihrer
Wahl.1)
Jetzt erteile ich als letztem Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt dem Kollegen Omid Nouripour das Wort
für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, der
Fall Wulff war kein Ruhmesblatt. Und ja, wir alle haben
Zuschriften von sehr vielen Menschen erhalten, die über
den Ehrensold sehr empört waren. Wir haben als Grüne
ein Konzept dazu vorgelegt, wie wir uns vorstellen, wie
es weitergehen kann. Wir haben das in den Haushalts-
ausschuss eingebracht und dort im Rahmen der Bericht-
erstattung diskutiert.
Wir sagen auch: Der Ehrensold gehört abgeschafft.
Aber er muss durch eine faire Pensionsregelung ersetzt
werden. Wir sind der Meinung, dass die Systematik dieser
Pensionsregelung an die bereits bestehenden Pensionsre-
gelungen für Kanzlerinnen und Kanzler, Exministerinnen
und -minister, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre so-
wie Richterinnen und Richter angelehnt sein muss. Im
Kern sagen wir: Nach der Hälfte der Amtszeit gibt es die
vollen Bezüge und vorher 50 Prozent.
Jetzt hat die Sozialdemokratie etwas vorgelegt. Bevor
ich etwas dazu sage, möchte ich eine Vorbemerkung ma-
chen. Wenn wir etwas von dieser Koalition lernen – und
wir wollen schließlich mit der SPD koalieren –, dann ist
es, dass man öffentlich nicht so miteinander umgeht, wie
sie es tut. Deshalb muss ich erst einmal sagen: Gut, dass
Sie etwas vorgelegt haben. Ja, wir reden darüber; das
können wir machen. – Wir hatten auch schon etwas vor-
gelegt und in einem anderen, aus unserer Sicht richtigen
Rahmen diskutiert.
Ich kann Ihnen aber sagen, was wir als Grüne nicht
machen werden, und zwar zweierlei. Das eine ist: Nach-
trägliche Regelungen finden wir an sich völlig falsch.
Das Zweite ist: Keinerlei Pensionen zu gewähren, halten
wir für genauso falsch. Wir reden nämlich nicht über ei-
nen Einzelfall, sondern über eine Regelung, die für alle
greifen muss.
Wenn eine Person mit einer unglaublich großen Be-
liebtheit in der Bevölkerung ein solches Amt innehat,
die, um ein fiktives Beispiel zu nennen, nach einem hal-
ben Jahr oder nach einem Jahr aufgrund eines Pflegefalls
in der Familie das Amt nicht mehr ausüben kann, weil
sie sich selbst darum kümmern will – Sie haben selbst in
Ihren Reihen solche Fälle gehabt –, dann geht es nicht
an, zu sagen: Es gibt keinerlei Pension.
Wenn wir zudem bedenken, dass es um Personen
geht, die möglicherweise noch viele Jahre berufstätig
sein werden, und wenn wir Schaden vom Amt abwenden
wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die betref-
fenden Personen gut, würdig und im Rahmen der dann
anfallenden repräsentativen Aufgaben leben können.
Das sind unsere Grundregeln.
Ansonsten kann ich nur sagen: Wir müssen zwar eine
Regelung finden, die bei allen Bundespräsidenten greift.
Wenn man aber auf Dauer Schaden vom Amt abwenden
will, dann muss man genau darauf achten, wen man in
dieses Amt bringt. Das ist die wichtigste Regel.
Dass die Personen, die ausgewählt werden, für das Amt
geeignet sind, kann man leider nicht gesetzlich regeln.
Hier geht es um Menschenkenntnis, Kompetenz und
Führungsqualität.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26331
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11593 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
auf Grundlage der Resolution 1386 und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
2069 vom 9. Oktober 2012 des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen
– Drucksache 17/11685 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschussgemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido
Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung
beantragt die Verlängerung des ISAF-Mandats. Das ha-
ben wir zuletzt vor knapp einem Jahr getan. Wir konnten
seitdem, genauso wie wir es im letzten Mandat angekün-
digt und dem Parlament auch zugesagt haben, die Perso-
nalobergrenze des Mandats entsprechend reduzieren.
Wir haben seinerzeit zu Recht von einer Trendwende ge-
sprochen. Sie verstetigt sich. Aber es ist mit Sicherheit
zu früh, von einer Entwarnung zu sprechen. Wir müssen
uns noch immer auf schwierige Nachrichten aus Afgha-
nistan einstellen. Das heißt, wir müssen den Prozess der
Übergabe der Verantwortung weiterhin so verantwor-
tungsvoll gestalten, wie das in den letzten drei Jahren der
Fall gewesen ist.
Wir schlagen Ihnen vor, die personelle Obergrenze
mit Beginn des neuen Mandats von derzeit 4 900 auf
4 400 Soldatinnen und Soldaten abzusenken. Im nächs-
ten Mandatszeitraum, also in den 13 Monaten, die wir
jetzt beantragen, zielt die Bundesregierung darauf, das
Bundeswehrkontingent dann auf 3 300 Soldatinnen und
Soldaten weiter zu reduzieren. Bis Ende Februar 2014
werden wir damit deutlich mehr als 1 000 Soldatinnen
und Soldaten abziehen.
Wie bisher gelten diese Zahlen, soweit die Lage vor
Ort dies erlaubt. Wie bisher gelten diese Zahlen, ohne
dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des
Übergabeprozesses zu gefährden. Wir müssen uns in un-
serem Mandat immer auf Unvorhergesehenes in den
Entwicklungen in Afghanistan einstellen. Deswegen ist
es richtig, dass wir dieselbe Mechanik des Mandats wäh-
len, wie wir das in den letzten beiden Jahren getan ha-
ben.
Die Zahlen zeigen: Der Scheitelpunkt des deutschen
militärischen Engagements in Afghanistan ist überschrit-
ten. Wir sind auf dem Weg, den Einsatz der deutschen
und der internationalen ISAF-Kampftruppen bis Ende
2014 zu beenden. Es ist eine gute Nachricht für das ge-
samte Haus: Der Abzug wird planmäßig und verantwor-
tungsvoll umgesetzt.
Das Engagement für Afghanistan wird aber auch da-
nach nicht beendet sein. Es bekommt aber ein zivileres
Gesicht. Es geht darum, dass wir Afghanistan natürlich
auch nach 2014 nicht im Stich lassen. Nur wenn Afgha-
nistan diese Perspektive für die Zeit nach 2014 hat, wird
übrigens auch der Übergabeprozess bis dahin gelingen.
Nur dann wird auch der Prozess gelingen, dass die Si-
cherheitsverantwortung in Afghanistan mehr und mehr
von den afghanischen Stellen übernommen wird.
Die afghanischen Sicherheitskräfte tragen bereits
heute die Verantwortung für 75 Prozent der Bevölke-
rung. Mitte 2013 wird ganz Afghanistan in der soge-
nannten Transition sein, sich also im Übergabeprozess
befinden. Afghanistan kann mehr und mehr für die ei-
gene Sicherheit sorgen. Die Übergabe der Verantwor-
tung in Verantwortung läuft.
Wir anerkennen die Fortschritte, aber wir sind uns
ebenso bewusst, dass noch ein schwieriger Weg vor uns
liegt. Es wird auch weiterhin Rückschläge geben. Dauer-
haften Frieden in Afghanistan kann es nur in einem poli-
tischen Prozess der innerafghanischen Aussöhnung und
der Verständigung geben. Das ist ja der Strategiewech-
sel, der auf der Londoner Afghanistan-Konferenz An-
fang des Jahres 2010 beschlossen worden ist. Das ist in
Wahrheit auch die Strategie, die jetzt Jahr für Jahr, wenn
wir die Mandate besprechen, überprüft werden muss.
Wir sind der Überzeugung, dass diese Strategie, die wir
in London beschlossen haben und die darin besteht, zu
erkennen, dass es keine militärische Lösung, sondern
eine politische Lösung geben wird, die militärisch gesi-
chert werden muss, mehr und mehr aufgeht, trotz man-
cher schrecklicher Rückschläge und neuer Herausforde-
rungen.
Unter dem Strich kann man wirklich sagen: Dieser
Strategiewechsel von Anfang des Jahres 2010 war über-
fällig und notwendig. Es ist richtig, dass er jetzt umge-
setzt wird. Wir sollten daraus lernen; denn eines ist völ-
lig klar: Dieser Einsatz, der jetzt mittlerweile im elften
Jahr ist, kann nicht noch einmal zehn oder elf Jahre dau-
ern. Das weiß hier jeder. Deswegen ist es richtig, dass
wir – hoffentlich mit einer großen Mehrheit in diesem
26332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(C)
(B)
Deutschen Bundestag – diese neue Strategie, die die
Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, umsetzen.
In meinen Augen ist das Ausdruck der Verantwortung
des Deutschen Bundestages für unsere Parlamentsarmee.
Natürlich müssen am Ende des Versöhnungsprozesses
Bedingungen und Kriterien erfüllt sein: der Bruch mit
dem internationalen Terrorismus, der Verzicht auf Ge-
walt, die Anerkennung der afghanischen Verfassung ein-
schließlich ihrer Gebote zum umfassenden Schutz der
Menschenrechte. Diese Bedingungen sind nicht verhan-
delbar. Das hört sich relativ abstrakt an. Wer von Ihnen
– das sind die meisten, die jedenfalls an dieser Debatte
teilnehmen – in Afghanistan gewesen ist und Gespräche
geführt hat, wird mir recht geben: Vor allen Dingen viele
Vertreter der Zivilgesellschaft und viele Frauen machen
sich große Sorgen darüber, was aus ihnen nach der Über-
gabe der Verantwortung wird. Deswegen ist es von ganz
großer Bedeutung, dass wir gegenüber den afghanischen
Partnern mit großem Nachdruck immer wieder darauf
bestehen, dass die fundamentalen Menschenrechte
– dazu zählt vor allen Dingen auch der Respekt vor
Frauen und den Rechten der Frauen – geschützt bleiben.
Wir dürfen andererseits kein Machtvakuum hinterlas-
sen. Der historische Fehler, der uns schon einmal in
Schwierigkeiten gebracht hat, darf sich nicht wiederho-
len. Deswegen ist es auch richtig, dass wir bei der inter-
nationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn, aber auch
bei der Folgekonferenz in Tokio eine Perspektive in dop-
pelter Hinsicht gegeben haben. Zum einen gibt die inter-
nationale Gemeinschaft die Perspektive, dass wir Afgha-
nistan nach 2014 nicht im Stich lassen. Umgekehrt muss
Afghanistan selber aber auch zeigen, dass es nicht in
eine Zeit zurückwill, in der Menschenrechte nichts gal-
ten, in der der Respekt gegenüber Frauen und Minder-
heiten alles andere als die Regel war. Wir müssen also
auch von Afghanistan erwarten, dass die Aufgaben, die
es übernommen hat, erfüllt werden.
Dazu zählt ausdrücklich auch die Korruptionsbekämp-
fung, dazu zählt mit Sicherheit auch die Bekämpfung der
organisierten Kriminalität – ich denke insbesondere an
die Drogenkriminalität – und vieles Weitere. Da ich da-
von ausgehe, dass wir diesbezüglich einen überparteili-
chen Konsens in diesem Hause haben, ist es nicht erfor-
derlich, darauf noch weiter einzugehen.
Meine Damen und Herren, das ISAF-Mandat steht
unverändert auf der völkerrechtlichen Grundlage eindeu-
tiger Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen, zuletzt der Resolution 2069 vom 9. Oktober
dieses Jahres.
Wir haben dieses Mandat nach entsprechenden Vorge-
sprächen mit den Fraktionen, auch mit den Oppositions-
fraktionen, dieses Mal auf 13 Monate ausgeweitet. Das
hat einen ganz praktischen Grund. Wenn man sich den
politischen Kalender anschaut, dann muss man sagen, es
ist vernünftig, dass ein neuer Deutscher Bundestag und
die nächste Bundesregierung – wer auch immer sie stel-
len wird – im Herbst des nächsten Jahres Gelegenheit
haben, die Dinge – im Bündnis und nach innen – so
solide zu beraten, dass dann wirklich eine sachlich-
fachliche, unaufgeregte Beratung des Afghanistan-
Mandates in der entscheidenden Schlussphase stattfin-
den kann. Ich denke, das ist sinnvoll.
Meine Damen und Herren, es gab Überlegungen – das
will ich nicht verschweigen –, ob man es noch ein Stück
erweitert. Aber aus allen Fraktionen ist sehr viel Wert
darauf gelegt worden, es bei diesen 13 Monaten zu be-
lassen, weil es vernünftig ist. Ein Mehr hat auch die
Sorge geweckt, dass dadurch die parlamentarische Kon-
trolle reduziert werden könnte. Das wollen wir nicht.
Das war nicht unsere Absicht. Deswegen ist es richtig,
dass wir uns auf diesen Konsens verständigen.
Das Mandat ist alles andere als Routine. Die Tatsa-
che, dass wir es zu so später Stunde beschließen, in der
wir gewissermaßen unter uns sind und nur einige interes-
sierte Zuhörerinnen und Zuhörer dieser Debatte folgen,
bedeutet nicht, dass das Mandat, das wir jetzt erteilen,
Routine geworden wäre oder weniger wichtig wäre. Es
ist und bleibt eine der wichtigsten außenpolitischen Auf-
gaben der Bundesrepublik Deutschland, dass wir diesen
Einsatz verantwortungsvoll zu Ende bringen. Genau das
tun wir. Die Abzugsperspektive, die wir erarbeitet
haben, wird jetzt umgesetzt. Das betrachte ich als einen
guten Erfolg der internationalen Gemeinschaft, auch als
einen guten Erfolg der Bundesregierung und der Außen-
politik der christlich-liberalen Koalition.
Dieser Einsatz ist zu anderen Zeiten und auch von an-
deren in Regierungsverantwortung begonnen worden.
Das sollte ein Grund sein, jetzt auch bei der Beendigung
dieses Einsatzes verantwortungsvoll mitzuwirken. Ich
möchte mich ausdrücklich an den Teil der Opposition
wenden, der sich dieser Verantwortung, die er vorher in
der Regierung wahrgenommen hat, auch in der Opposi-
tion nicht entzieht. Ich halte das für die richtige staats-
politische Herangehensweise, wenn Sie mir erlauben,
das so zu sagen.
Wir haben das Gespräch mit Ihnen gesucht. Sie haben
das Gespräch entsprechend angenommen. Deswegen,
meine Damen und Herren, lassen Sie uns den Soldatin-
nen und Soldaten danken. Lassen Sie uns aber auch den
Frauen und Männern danken, die nicht in Uniform in
Afghanistan Dienst tun. Es ist eine wirklich schwierige
Aufgabe. Diese Frauen und Männer haben es eigentlich
verdient, dass wir unsere Verantwortung als Parlament
überparteilich wahrnehmen. Das ist auch mein Appell an
die Opposition, in dem Fall dem Beispiel der größten
Oppositionsfraktion zu folgen.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26333
(C)
(B)
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. h. c. Gernot Erler
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jede neue Mandatsentscheidung sollte damit verbunden
sein, Rechenschaft darüber abzulegen: Wie weit sind wir
mit unseren Zielen, Hoffnungen und Erwartungen in
Afghanistan?
Einmal mehr müssen wir von einem gemischten Bild
sprechen. Die Erreichung des Ziels, ISAF bis Ende 2014
abzuschließen, setzt voraus, dass die Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an die afghanische Seite –
„transition“ genannt oder „intequāl“ auf Dari und
Paschtu – funktioniert. Hierfür sind im vergangenen Jahr
weitere Voraussetzungen geschaffen worden. Von den
geplanten 352 000 afghanischen Polizisten und Soldaten
galt im November des Jahres eine Zahl von 337 000 als
erreicht. Quantitativ wären das 95 Prozent des Planziels.
Aber wir hören, in qualitativer Hinsicht gilt der Ausbil-
dungsstand immer noch als problematisch, und die
Schwundquote macht weiterhin Sorgen.
Die Transition liegt im Plan. Drei Tranchen, wie man
das dort nennt, sind vollzogen; zwei sollen noch folgen.
Im Antrag der Bundesregierung heißt es, dass mit der
vierten Tranche, die noch in diesem Jahr begonnen wer-
den soll, schon 90 Prozent der afghanischen Bevölke-
rung unter dem Schutz der eigenen Sicherheitskräfte le-
ben werden.
Das darf aber nicht über einen Umstand hinwegtäu-
schen: In der Logik des Transition-Prozesses liegt es,
dass die schwierigsten Gebiete – ich denke einmal an die
Taliban-Hochburg Helmand – erst zum Schluss in die
afghanische Verantwortung übergeben werden. Hier
stehen wir vor einem Berg, dessen Gipfel erst noch er-
klommen werden will.
Zur Frage der Zahl der sicherheitsrelevanten Zwi-
schenfälle und Angriffe durch Aufständische gibt es
unterschiedliche Auskünfte. Fest steht: Im Gang der
Transition verschiebt sich die Anzahl der Opfer in Rich-
tung der afghanischen Sicherheitskräfte. Das liegt in der
Logik der Verantwortungsübergabe an die afghanischen
Kräfte. Aber leider nehmen parallel dazu die sogenann-
ten Internal Attacks zu, also Attentate durch unifor-
mierte afghanische Soldaten auf ihre eigenen Kamera-
den oder auf ISAF-Kollegen. In diesem Jahr waren das
leider schon annähernd 50 Fälle. Das hat auch auf der
deutschen Seite – wir sind zum Glück nicht so sehr be-
troffen – schon zu Veränderungen der Art und Weise der
Ausbildung geführt.
Der plangemäße Fortgang der Transition erlaubt eine
stufenweise Reduzierung der eingesetzten deutschen
ISAF-Kräfte, wie wir sie immer gefordert haben. Über
die Grenzen von 5 350, 4 900 und jetzt 4 400 Mann wer-
den wir am Ende dieser Mandatszeit – Herr Minister
Westerwelle hat es eben bestätigt – nur noch 3 300 Bun-
deswehrkräfte im Einsatz haben. Der Ende November
vorgelegte fünfte „Fortschrittsbericht Afghanistan“, für
den wir uns bedanken, ermöglicht es uns allen, aber be-
sonders unserer Taskforce Afghanistan-Pakistan, sich
mit allen Einzelheiten der Entwicklung in Afghanistan
detailliert auseinanderzusetzen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird mit deutlicher
Mehrheit dem Antrag der Bundesregierung zur Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an der ISAF-Mission zu-
stimmen. Wir machen uns allerdings keine Illusionen
über die verbleibende Größe und Gefährlichkeit dieses
Einsatzes, und wir werden immer wieder kritische
Fragen stellen, zuallererst zur Anpassung des Einsatz-
konzeptes angesichts des Fortgangs der Transition und
besonders zur Frage der angemessenen Ausrüstung der
Bundeswehr für die verbleibenden Herausforderungen.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass gerade heute zwei
Kampfhubschrauber Tiger von Leipzig nach Masar-i-
Scharif verfrachtet werden, auf die unsere Einheiten vor
Ort lange – sehr lange – gewartet haben, und dass bis
Weihnachten zwei weitere Tiger folgen sollen, bis Früh-
jahr 2013 dann auch noch vier NH-90, also Sanitätshub-
schrauber.
Aber wir stellen eben auch fest – das sage ich in Rich-
tung Bundesregierung –, dass diese gerade für den plan-
mäßigen Rückzug wichtige Ausrüstung mit fünf Jahren
Verspätung erfolgt. Wir fordern die Bundesregierung
auf, rechtzeitig mit uns das Gespräch über das sich erst
in allgemeinen Konturen abzeichnende Anschlussman-
dat ab 2015 zu suchen. Herr Minister, Sie haben darüber
jetzt gar nichts gesagt. Vielleicht wird der nächste Red-
ner dazu etwas sagen. Ein Name für dieses Mandat ist
schon da – er klingt ein bisschen holprig –: International
Training, Advisory and Assistance Mission, abgekürzt:
ITAAM. Viel mehr wissen wir aber nicht.
Wir brauchen Auskunft zu den genauen Aufgaben
dieser Anschlussmission, zu ihrem Gesamtumfang, zu
dem deutschen Anteil, einschließlich der Frage der soge-
nannten Peripherie, also dazu, wie viele zusätzliche
Kräfte pro Ausbilder auf deutscher Seite da eigentlich
gebraucht werden. Nicht nur die Opposition, sondern
auch die Öffentlichkeit hat hier den Anspruch, zeitnah
informiert und einbezogen zu werden. Wir werden es je-
denfalls nicht akzeptieren, wenn wir hier irgendwann
vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Wir dringen auch darauf, dass die Bundesregierung
verstärkte Anstrengungen unternimmt, um in dem politi-
schen Bereich voranzukommen, bei dem es bisher am
langsamsten vorangeht. Dazu gehört an erster Stelle das,
was wir „Good Governance“ nennen, also eine bessere
Vertrauensbildung dieser Regierung und des Präsidenten
Karzai gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Daneben ist der Versöhnungs-, Verhandlungs- und
Reintegrationsprozess zu nennen. Es ist in der Tat so,
dass wir hier die wenigsten Fortschritte erkennen können
und dass es auch regelrechte Rückschläge gibt. Verhand-
lungsstränge, die schon etabliert worden waren, sind in-
zwischen wieder abgerissen, ohne dass man erkennen
26334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. h. c. Gernot Erler
(C)
(B)
kann, ob das die Taliban oder das Haqqani-Netzwerk
oder Hekmatjar waren. Leider ist wenig von dem übrig
geblieben, worauf wir eine Zeit lang große Hoffnungen
gesetzt haben.
Es müssen größere Anstrengungen in Richtung Pakis-
tan unternommen werden; darüber haben Sie, Herr
Außenminister, auch nichts gesagt. Es ist einfach so,
dass wir mit gemeinsamer Anstrengung diesen Prozess
voranbringen müssen; denn die Geschichte lehrt uns,
dass noch nie ein Land einen Aufstand erfolgreich been-
den konnte, das von einem Nachbarland kontinuierlich
und nachhaltig unterstützt wurde. Das hat es bisher noch
nicht gegeben. Diese Lehre muss in Sachen Pakistan zu
international viel intensiveren Anstrengungen führen, als
das bisher sichtbar ist.
Wir erwarten auch auf diesem Gebiet ständige Unter-
richtung durch die Bundesregierung und einen nachhalti-
gen gemeinsamen Beratungsprozess.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi-
gung, Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich über die Tonlage und die Substanz dieser Debatte.
Ich muss aber zunächst auf die Debatte zurückkommen,
die wir eben hatten, und eine Bemerkung des Abgeord-
neten van Aken aufgreifen, der jetzt leider nicht hier ist.
– Sie können ihm das gern ausrichten. – Er hat das
Verhalten und das Auftreten von NATO-Soldaten ein-
schließlich Bundeswehrsoldaten in die Nähe von terro-
ristischen Aktivitäten gerückt.
Ich finde das unerhört. Ich lasse das auf den Soldaten un-
serer Verbündeten und auf unseren Bundeswehrsoldaten
nicht sitzen.
Nun möchte ich ein paar ergänzende Bemerkungen zu
dem machen, was der Außenminister vorgetragen hat,
vielleicht auch kurz dem Abgeordneten Erler antworten.
Der Rückgang der Anzahl der Soldaten auf 3 300 zum
Mandatsende wird erhebliche Auswirkungen haben. Wir
haben darüber schon geredet, und wir werden weiter da-
rüber reden. Die Lage erlaubt – das ist auch notwendig –,
dass, um dieses Ziel zu erreichen, das Lager in Kunduz
und der OP North geschlossen werden. Der Zeitplan ist
noch zu bestimmen; an wen genau und wie das an die
Afghanen übergehen wird, auch. Ich sage das deswegen,
weil für die Bundeswehr und für uns Kunduz und der OP
North nicht irgendein Lager ist. Dort musste die Bundes-
wehr – ich gucke Franz Josef Jung an – lernen, zu kämp-
fen. Wir haben dort die meisten Verluste erlitten. Alle er-
innern sich an das Thema Tanklastzug. Unsere große
Inside-Attack war dort im OP North – mit drei gefalle-
nen Soldaten. Wir werden die Schließung der Lager
sorgfältig, behutsam, unter Beteiligung der Angehörigen
und mit einem sensiblen Umgang mit den Gedenktafeln
vornehmen, damit ganz klar ist, was dort geschehen ist.
Das sind schwierige Traditionspunkte in der Entwick-
lung der Bundeswehr, und das werden wir bei der Rück-
verlegung und danach immer bedenken.
Meine Damen und Herren, die Rückverlegung – wir
haben darüber öfter gesprochen – ist als solche ein kom-
plizierter Vorgang. Deswegen bin ich froh, dass wir in
diesen Tagen und zu Beginn des nächsten Jahres – Herr
Erler hat das auch angesprochen – den Kampfhubschrau-
ber Tiger und den NH-90, den neuen Hubschrauber für
Fälle der medizinischen Evakuierung, dort einsetzen
können.
– Das ist zu spät. Wir haben darauf lange gewartet. Man
kann jetzt lange debattieren, woran das liegt.
Ich will nur zwei Punkte in dem Zusammenhang nen-
nen:
Erstens. Es wird gefragt: Warum jetzt Kampfhub-
schrauber? Ihr geht doch raus! Dazu ist zu sagen, dass
die Kampfhubschrauber bestens geeignet sind, die Sol-
daten bei der Rückverlegung zu schützen. Das ist unser
Auftrag.
Das zweite Argument. Wir sind unseren amerikani-
schen Verbündeten sehr dankbar – das sagen wir ihnen
bei jeder Gelegenheit –, dass sie unter Lebensgefahr un-
sere Jungs, unsere Soldaten aus kritischen Situationen
mit ihren Hubschraubern herausgeholt haben, die der Sa-
nität dienen.
Jetzt haben wir die Gelegenheit – das hat auch zu
lange gedauert –, den Beitrag, den wir leisten können, so
schnell wie möglich zu leisten, dass wir unsere eigenen,
gegebenenfalls gefährdeten Soldaten selbst aus kriti-
schen Situationen herausholen können. Das ist, ehrlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26335
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
(C)
(B)
gesagt, unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Das
werden wir jetzt hiermit tun.
Herr Erler, Sie haben gesagt, wir hätten nichts zu ei-
nem Anschlussmandat gesagt. Dies wird kein Anschluss-
mandat sein, sondern es ist ein neues Mandat. Es hat eine
neue Qualität. Es ist ein Aliud, juristisch gesprochen. Ich
spreche nicht gerne von einem Folgemandat. Es hat in-
zwischen auch einen neuen Namen. Es wird nicht
ITAAM, sondern es wird wohl ANTAAM heißen. Erste
Profile haben wir dazu bei dem Gipfeltreffen in Chicago
beschlossen. Bei der letzten Tagung der Verteidigungs-
minister haben wir einen weiteren Schritt in Aussicht ge-
nommen. Dazu werden wir im Februar den ersten Bericht
hören. Ich sage gerne allen Beteiligten zu, dass wir dann
darüber informieren. Es wird sich entwickeln. Vieles
hängt von den amerikanischen Entscheidungen ab. Eine
Frage wird sein, wann man die Entscheidungen über die
Größe des Mandates trifft: vor oder nach den Präsident-
schaftswahlen. Wir streben einen Beschluss des Sicher-
heitsrates an. Sie auch. Wir brauchen eine Einladung der
afghanischen Regierung. Welche? Gilt die dann noch?
Wir brauchen auch für deutsche Soldaten eine Konkreti-
sierung in einem Truppenstatut aus dem Abkommen, das
wir mit den Afghanen geschlossen haben. Es ist viel zu
tun. Wir wollen das gerne gemeinsam erörtern.
Wir haben heute sehr viel über das Mandat gesprochen
und relativ wenig über den Friedensprozess in Pakistan.
Dazu wird Gelegenheit sein. Wir können gerne – ich habe
das mit dem Außenminister nicht besprochen – zu jeder
Zeit eine große Afghanistan-Debatte führen, die das
ganze Feld in den Blick nimmt.
Heute geht es um das Mandat. Das Mandat hat seine
eigene Würde und seine eigene Rolle als Teil des Ge-
samtprozesses, Afghanistan so zu befrieden, dass es dort
ein angemessenes Sicherheitsniveau gibt. Ich finde, un-
sere Soldatinnen und Soldaten, unsere Verbündeten und
die Öffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, dass
wir das nachhaltig und seriös machen und so gemeinsam
wie nur irgend möglich.
Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege
Wolfgang Gehrcke das Wort.
Danke sehr, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Krieg in Afghanistan, der Krieg am
Hindukusch dauert jetzt elf Jahre. Ich rufe in Erinnerung,
dass der US-Krieg in Vietnam genau acht Jahre gedauert
hat. Acht Jahre hat auch die sowjetische Intervention in
Afghanistan gedauert.
Nach elf Jahren ist diese Bundesregierung nicht in der
Lage, eine glaubwürdige und realistische Beurteilung,
eine Bilanz des Krieges zu ziehen. Das ist politisch eine
Katastrophe.
Zusätzlich lügt sie einen Abzug herbei, der so überhaupt
nicht stattfinden wird.
Auch das entspricht nicht der Realität in Afghanistan.
Ich will Ihnen meine Bilanz nicht verhehlen. Meine
Fraktion will das auf gar keinen Fall. Wir wollen diese
Afghanistan-Debatte. Wir sind der Auffassung, dass die
deutsche Kriegsbeteiligung, die mit Stimmen der SPD,
der Grünen, der FDP und der CDU/CSU beschlossen
worden ist, von Anfang an politisch falsch und mora-
lisch schändlich gewesen ist. Das ist unsere Bilanz des
Krieges.
Diese werde ich Ihnen Punkt für Punkt beweisen.
Punkt eins. Der Krieg am Hindukusch hat mehr als
70 000 Menschen das Leben geraubt. Hunderttausende
wurden verletzt. Vor allen Dingen Einheimische sind
Opfer des Krieges geworden. Der Tod fragt nicht nach
Gesinnung, und der Tod fragt nicht, zu welcher Seite je-
mand gehört.
Auch ISAF-Soldaten, darunter Angehörige der Bun-
deswehr, wurden Opfer des Krieges. Der Krieg hat nicht
etwa Menschenrechte verteidigt, der Krieg hat vielmehr
vielen Menschen das entscheidende Menschenrecht, das
Recht auf Leben, geraubt. Das ist ein wichtiges Argu-
ment gegen diesen und gegen jeglichen anderen Krieg.
Punkt zwei. Deutschland ist in diesen Krieg hineinge-
logen worden. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen,
zu denen Sie sich einmal verhalten müssen: Der dama-
lige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am 8. Novem-
ber 2001 zum ersten Afghanistan-Mandat im Bundestag
ausgeführt – ich zitiere –:
Es geht weder um eine deutsche Beteiligung an
Luftangriffen noch um die Bereitstellung von
Kampftruppen am Boden.
Das ist schlichtweg eine Lüge, und zwar für beide ange-
sprochenen Bereiche. Der damalige Außenminister
Joseph Fischer von den Grünen hat hier ausgeführt:
„Niemand, meine Damen und Herren, führt einen Krieg
in Afghanistan“. Das ist die noch größere Lüge.
Auch heute lügen Sie, wenn Sie von Abzug reden, aber
bis zu 4 400 Soldaten in Afghanistan bleiben sollen. Das
ist eine Tatsache. Sie lügen auch, wenn Sie nicht darauf
aufmerksam machen, dass auch die Kampfformationen
und die Tornados bleiben und neue Tiger-Hubschrauber
hinzukommen sollen. Die NATO und die Bundesregie-
rung halten sich die Kriegsoptionen für Afghanistan of-
26336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
fen, das gilt auch für diesen Antrag. Das ist die Tatsache
und nicht das, was Sie der Öffentlichkeit vorspiegeln.
Im Krieg stirbt die Wahrheit immer zuerst. Das gilt
auch für die Zukunft. Solange der Krieg in Afghanistan
andauert, werden die Verantwortlichen die Öffentlichkeit
über den Krieg täuschen.
Punkt drei. Auch hierüber reden Sie nicht: Der Krieg
am Hindukusch hat viele Verlierer, vor allen Dingen Af-
ghaninnen und Afghanen. Er hat aber auch Gewinner –
das ist jedoch nicht die Bevölkerung. Gewinner sind
vielmehr die afghanischen Warlords und die weltweite
Rüstungsindustrie.
Bis 2013 wird allein der Bundeswehreinsatz in Af-
ghanistan 7,5 Milliarden Euro gekostet haben. Das DIW
rechnet für diesen Krieg mit Gesamtkosten in Höhe von
20 bis 30 Milliarden Euro. Der Krieg am Hindukusch hat
die Rüstungsindustrie richtig in Gang gebracht. Die
Kriegsführung ist immer weiter brutalisiert worden.
Auch das ist Teil der Wahrheit.
Ich sage Ihnen, Herr Verteidigungsminister: Gezielte
Tötungen durch Eingreiftrupps oder Drohnen, auch das
Führen von Listen mit Namen von Menschen, die ausge-
schaltet werden sollen, macht Militärs zu Anklägern,
Richtern und Vollstreckern. So zerstört dieser Krieg
auch unseren Rechtsstaat. Das finde ich schlimm. Das
muss hier ausgesprochen werden.
Punkt vier. Der Kampf gegen den Terror kann gewon-
nen werden, der Krieg gegen den Terror niemals. Das
haben wir von Anfang an immer wieder versucht, dem
Hause deutlich zu machen und zu erklären.
Ich glaube, dass wir recht behalten haben.
Ich sage dazu, Herr Minister, weil Sie das gerade an-
gesprochen haben: Der Krieg gegen den Terror, so wie er
geführt worden ist und wie er angelegt war, hat dem Ter-
rorismus weltweit mehr Menschen zugetrieben als von
ihm abgewandt. Wer in dieser Art und Weise mit Terror
umgeht – und das, was Bush und andere getan haben, ist
Terrorismus gegen die Menschheit –,
der treibt Menschen in den terroristischen Untergrund.
Der Krieg sorgt für Spaltungen in der Welt: Spaltun-
gen von Religionen, von arm und reich. Spaltungen ver-
tiefen sich zu Feindschaften, und aus Feindschaften wer-
den Hass und Gewalt. In einem solchen Klima, das in
Afghanistan noch immer herrscht, können Frauen- und
Menschenrechte nicht gedeihen. Sie werden zu einer
Hülle, und sie werden benutzt, um von den tatsächlichen
Absichten abzulenken.
Auch der Krieg in Afghanistan ist um geopolitischen
Einfluss, um den Zugriff auf Rohstoffe und um Welt-
herrschaft geführt worden. Das sind die Hintergründe
des Krieges, über die gesprochen werden muss.
Punkt fünf. Ich finde, dass die Bundesregierung aus
elf Jahren deutscher Kriegsbeteiligung nichts gelernt hat.
Im Gegenteil: Ob Rot-Grün oder Schwarz-Gelb – die
Regierungen haben die Bundeswehr zum Instrument der
Außenpolitik gemacht. Das war nie vorgesehen.
Die Bundeswehr wird weltweit eingesetzt – wie Sie
immer sagen: jederzeit weltweit einsatzbereit; das ist
Ihre Losung, Herr de Maizière –: in Afghanistan, am
Horn von Afrika, jetzt an der türkisch–syrischen Grenze.
Sie soll auch in Mali eingesetzt werden; darüber reden
Sie ja peinlicherweise überhaupt nicht.
Man konnte aus elf Jahren Krieg in Afghanistan ler-
nen: Solange Soldaten im Ausland stehen, solange Sol-
daten in Afghanistan stationiert sind, wird keine Versöh-
nung stattfinden. Das ist die eigentliche Dramatik. Wer
Versöhnung in Afghanistan will, der muss als ersten
Schritt die ausländischen Truppen abziehen. Das ist das,
was wir wollen. Wir wollen wirkliche Verhandlungen.
Ich sage Ihnen zum Schluss auch – das werden Sie
nicht gerne hören, Herr Verteidigungsminister –: Sie ma-
chen sich Gedanken darüber, wie Soldaten in diesem
Land gewürdigt werden sollten,
wie Opfer gewürdigt werden sollten. Ich möchte die
Spaltung in diesem Land zwischen Soldaten und Nicht-
soldaten beenden.
Ich meine, eine solche Spaltung aufzuheben, schaffen
Sie nur,
indem Sie eine andere Politik betreiben. Mit Heldenge-
denktagen und Heldenverehrung werden Sie das nicht
regeln. Ich finde, das ist auch ein Teil der Unmoral die-
ser Kriegsführung. Ich möchte das nicht. Wir sind stolz
darauf, dass Sie für Ihren Afghanistan-Krieg nie eine
Mehrheit in der Bevölkerung haben werden. Sie dürfen
nicht Mehrheiten hier im Saal mit Mehrheiten im Leben
verwechseln.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26337
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Gehrcke, ich frage mich schon länger, was Sie alles an
Afghanistan nicht verstehen. Jetzt weiß ich es. Sie haben
davon gesprochen, dass in Afghanistan seit elf Jahren
Krieg ist. Sie haben nicht begriffen, dass in diesem Land
seit über 30 Jahren Krieg ist. Das ist die Situation.
Und die Situation heute ist Resultat dieses dekadenlan-
gen Krieges.
Die Weltgemeinschaft hat sich auf verschiedenen
Konferenzen in London, Tokio und Chicago zwei Ziele
gesetzt. Erstens. ISAF und die Kampfaufträge werden
2014 beendet. Zweitens. Wir werden in der sogenannten
Transformationsdekade, also 2014 bis 2024, die Afgha-
nen nicht alleinlassen. Das sind die beiden Ziele, die wir
als Maßstab nehmen müssen, wenn wir das vorliegende
Mandat bewerten: ISAF beenden und die Afghanen
nicht alleinlassen.
Wenn man sich das Mandat und den jetzt eingegange-
nen Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Gemüte
führt, dann muss man die Frage stellen, ob diese beiden
Ziele erreicht werden können. Der Begriff Fortschritts-
bericht ist ja von manchen kritisiert worden, aber es gibt
natürlich Fortschritte in Afghanistan; das sollte man
nicht verhehlen. Ich war selbst Anfang Oktober vor Ort
in Herat im Westen des Landes – eine blühende Metro-
pole mit ganz, ganz wenig Stacheldraht und noch weni-
ger Menschen mit Waffen. Ich war auch in Kabul bei ei-
nem Spiel der allerersten nationalen afghanischen
Fußballliga. Da spielte eine Mannschaft aus Dschalala-
bad gegen eine Mannschaft aus Kandahar. Das war ein
grottenschlechter Kick, aber die Stimmung auf den Rän-
gen war sensationell. Da waren 4 000 Menschen, die das
pure Leben gefeiert haben.
– Da war auch eine Frauentribüne, das ist nicht zu ver-
schweigen. – Es war unglaublich, das zu sehen: Die
Menschen waren da, weil sie etwas tun durften, was in
vielen anderen Ländern der Welt normal ist, was aber in
Afghanistan jahrzehntelang nicht normal war, nämlich
zu einem Fußballspiel zu gehen.
Besonders bewegend daran war, dass dieses kleine
Stadion quasi direkt auf dem Parkplatz vom alten
Ghazni-Stadion errichtet wurde, das aufgrund der Bilder
der fürchterlichen, traurigen Massaker in den 90er-Jah-
ren, die wir alle kennen, weltbekannt ist. Das sollte man
nicht vergessen, wenn man über Krieg in Afghanistan
spricht, Herr Kollege Gehrcke.
Wenn wir über Fortschritt reden und uns den Fort-
schrittsbericht anschauen, dann sollten wir aber auch
keine Schönfärberei betreiben. Zum Beispiel steht im
Fortschrittsbericht, es gebe eine kontinuierliche Ab-
nahme der Sicherheitsvorfälle. Aber darin sollte auch
stehen, dass es laut UNAMA, also der Vereinten Natio-
nen, im August 2012 die zweithöchste Zahl an zivilen
Opfern gab, und zwar seit Beginn des Einsatzes. Ich
glaube, dass Ihr Sicherheitsbegriff völlig falsch ist. Denn
Sie schauen sich ausschließlich an, wie viele Angriffe es
auf internationale Truppen gibt. Die Truppen haben aber
einen Auftrag, und das ist der Schutz der Bevölkerung.
Deshalb ist die Zahl der zivilen Opfer relevant. Insofern
kann man nicht davon sprechen, dass das Land derzeit
sicherer wird; das ist eine Schönfärberei.
Zugleich gibt es einen neulich veröffentlichten Be-
richt des Pentagons. Ich habe gerade davon gesprochen,
wie es in manchen Metropolen Afghanistans aussieht.
Das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten
kommt aber zu dem Ergebnis, dass die Taliban gerade in
der Peripherie immens an Einfluss gewinnen. Auch das
ist eine Beobachtung, die ich im Fortschrittsbericht so
nicht gefunden habe.
Ja, Herr Außenminister, Sie haben recht: Die Aussöh-
nung ist der Schlüssel dazu, dass Afghanistan auf Dauer
Frieden findet. Aber es gibt zurzeit faktisch keinen Aus-
söhnungsprozess; er läuft einfach nicht. Die Frage, die
Sie in Ihren Ausführungen und auch im Fortschritts-
bericht ausgespart haben, lautet: Was dann? Was passiert
eigentlich, wenn der Aussöhnungsprozess nicht in Gang
kommt? – Wir erleben doch gerade, dass sich viele der
ehemaligen Warlords, auf die wir teilweise gesetzt haben
– das war wirklich ein Riesenfehler der Weltgemein-
schaft –, hochrüsten und auf den Tag vorbereiten, an
dem sie sich die Macht mithilfe der Waffen aneignen
können. Der Versöhnungsprozess ist wichtig; aber man
muss auch artikulieren, was passieren würde, wenn
dieser Prozess nicht mehr in Gang käme. Das haben Sie
nicht getan, und insofern ist Ihre Formulierung unehr-
lich.
Wir müssen gleichzeitig aber auch sagen, dass wir in
den letzten Jahren im zivilen Bereich, im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit, nicht fokussiert genug
arbeiten konnten. Da ist natürlich die Frage: Was ist das
Konzept der Bundesregierung für die Entwicklungs-
zusammenarbeit nach 2014? – Hiermit verbinden sich
Fragen, die sich derzeit viele NGOs, aber auch Regie-
rungsorganisationen stellen: Wie werden wir dann
eigentlich arbeiten? Wie geht es eigentlich weiter?
Welches Sicherheitsumfeld wird es geben? Wie kann es
dort Schutz geben? Wo kann man arbeiten? – All diese
Fragen haben Sie überhaupt nicht beantwortet.
Eine der Aussagen aus meinen Gesprächen mit vielen
Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft in Af-
ghanistan war in diesem Zusammenhang: Ihr habt jetzt
26338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Omid Nouripour
(C)
(B)
in Tokio die Bereitstellung von Geldern beschlossen; wir
glauben euch nicht ganz, dass die Mittel tatsächlich flie-
ßen werden. – Das heißt, wir brauchen Symbole; wir
müssen das klare Zeichen setzen, dass das Geld, das zu-
gesagt worden ist, auch fließen wird. Ich möchte zwei
Beispiele nennen, die hier unsere Glaubwürdigkeit mas-
siv unterminieren:
Erstens. Sie haben just vor wenigen Wochen im Haus-
haltsausschuss die Mittel für den Stabilitätspakt Afgha-
nistan um 10 Millionen Euro gekürzt. Wie wollen Sie ei-
gentlich den Menschen in Afghanistan weiterhin
erklären, dass Sie zu Ihren Aussagen stehen und die Mit-
tel fließen werden, die dieses Land so dringlich braucht?
Zweites Beispiel. Die Weltgemeinschaft hat sich zum
Ziel gesetzt, bis zu 350 000 afghanische Sicherheits-
kräfte auszubilden. Die Zahl von 350 000 Sicherheits-
kräften wurde deutlich schneller als erwünscht erreicht.
Nun wird aber gesagt: So viele Sicherheitskräfte sind
nicht bezahlbar. Die neue Gesamtzahl soll demnach bei
228 000 liegen. Das heißt, wir reden über rund 120 000
Menschen, die wir an Waffen ausgebildet haben und
dann faktisch in die Arbeitslosigkeit entlassen. Da ist re-
lativ deutlich abzusehen, wie diese Menschen ihr Geld
verdienen werden; sie dürften jedenfalls in die Versu-
chung kommen. Ich kann Sie nur anflehen: Bitte wirken
Sie im internationalen Bereich darauf hin, dass das nicht
passiert. Versuchen Sie zu artikulieren, dass es im Sinne
aller ist, wenn die Weltgemeinschaft weiterhin Verant-
wortung übernimmt. Diese Menschen dürfen nicht auf
die Straße gesetzt werden; denn sie könnten am Ende die
Waffen gegen uns und vor allem auch gegen die Zivil-
bevölkerung in Afghanistan richten.
Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit wenige Sätze
zum Abzug sagen. Es ist zurzeit nicht ganz klar, welche
Pläne die Bundesregierung hat; es ist sehr unkonkret. Da
müssen wir noch nacharbeiten. Das werden wir in den
Ausschüssen tun.
Als Letztes möchte ich Herrn Westerwelle noch etwas
sagen. Herr Minister, Sie haben gegen Ende Ihrer Rede
im Groben gesagt – ich sage es in meinen Worten –: Nur
wer der Mandatsverlängerung zustimmt, ist auch daran
interessiert, dass die Menschen, die wir dorthin ge-
schickt haben, ob in Uniform oder nicht, Unterstützung
bekommen. – Wir Grüne diskutieren diese Themen seit
Jahren sehr gründlich. Es gibt Menschen wie mich, die
der Mandatsverlängerung zustimmen; es gibt viele an-
dere, die anders abstimmen. Ich kann Ihnen für all diese
Leute sagen: Das Abstimmungsverhalten hat sehr viel
mit Ihrer Politik zu tun, nicht nur mit der Situation in
Afghanistan. Deshalb weisen wir Ihre Kritik gemeinsam
zurück.
Ich muss jetzt zum Ende kommen.
Sie müssen bitte einen Punkt setzen.
Ich möchte nicht nur den Soldatinnen und Soldaten,
sondern auch den Polizistinnen und Polizisten sowie den
Entwicklungshelferinnen und -helfern herzlich für das
danken, was sie tun. Vor allem möchte ich ihnen und ih-
ren Familien vorweihnachtliche Grüße schicken. Denn
die härtesten Zeiten, die Menschen im Einsatz haben,
sind tatsächlich die Tage um Heiligabend herum, in de-
nen die Einsamkeit und die Trennung von der Familie
besonders heftig zu spüren sind. Herzlichen Dank für
das, was Sie dort tun.
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dem Dank des Kollegen Nouripour schließen
wir uns natürlich nahtlos an. Keine Frage: Wir danken
den Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern,
wir danken auch den Diplomatinnen und Diplomaten,
die vor Ort im Einsatz sind. Damit machen wir deutlich
– Sie haben es dankenswerterweise aufgezählt –, dass
nicht nur Soldaten im Einsatz sind, sondern auch ziviles
Engagement auf sehr breiter Basis vor Ort stattfindet.
Das werden wir auch fortsetzen. Dem Dank schließe ich
mich an, ich glaube, dass wir uns alle hier im Hause ei-
nig sind.
Herr Gehrcke, ich hoffe, dass auch Sie sich einig sind;
denn das, was Sie vorhin gesagt haben, spaltet unsere
Gesellschaft. Wenn Sie bei so einer ernsten Angelegen-
heit, bei der das Leben von Soldaten auf dem Spiel steht,
hier so tun, als sei die Bundeswehr nicht Teil des deut-
schen Volkes, dann schaden Sie dem Ansehen unserer
Armee, und Sie schaden auch dem Ansehen dieses
Hauses.
Deutschland hat sich in der Zeit des Afghanistan-
Einsatzes verändert. Es liegt heute nicht an uns, das zu
beurteilen. Wir werden heute auch nicht abschließend
beurteilen können, ob sich Deutschland zum Besseren
oder zum Schlechteren verändert hat. Aber eins steht
doch fest: Die Bundeswehr ist durch diesen Einsatz we-
sentlich stärker in die Herzen vieler Deutschen gedrun-
gen, als das vorher der Fall war. Das muss man doch zur
Kenntnis nehmen: überall gelbe Schleifen, das große En-
gagement von vielen Vereinen, die den Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz alles Gute wünschen und mittrauern
und mitleiden, wenn ein Soldat stirbt. Deshalb konnte
ich Ihre Bemerkung vorhin nicht verstehen. Ich hoffe,
dass Sie das so nicht gemeint haben, sondern dass es
eher anderen Überlegungen geschuldet war, als dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26339
Philipp Mißfelder
(C)
(B)
Hintergrund, den Sie aufgezeigt haben. Ich war wirklich
sprachlos.
Vor elf Jahren hat Gerhard Schröder in diesem Hohen
Haus als Bundeskanzler das Mandat durch die Verknüp-
fung an eine Vertrauensfrage durchgesetzt. Damals war
von uneingeschränkter Solidarität die Rede. Damals hat
sich Joschka Fischer – auch das ist erwähnt worden –
vor dem Wort „Krieg“ gedrückt. Wir waren es, die be-
nannt haben, um was es geht. Wir waren es, die das hin-
zugefügt haben, was fehlte, nämlich eine Exit-Strategie.
Wie mühsam das ist, sehen wir bei jeder Beratung, die
wir hier in diesem Haus dazu durchführen. Denn eines
war klar – vielleicht war das auch der Fehler von uns al-
len gemeinsam, nicht nur von Rot-Grün, Schröder und
Fischer, sondern auch von denjenigen, die das Mandat
im Herbst 2011 hier im Haus mit breiter Mehrheit getra-
gen haben –: Wir haben unterschätzt, wie lange dieser
Einsatz dauert, und wir haben auch unterschätzt, wie
sehr es unser Land verändern wird, wenn wir so lange in
eine schwere militärische Auseinandersetzung verwi-
ckelt werden.
Das hat Deutschland sicherlich verändert. Aber man
kann jetzt schon sagen, dass es Deutschland in einer
Hinsicht definitiv zum Guten verändert hat. Wir zeigen
unseren Verbündeten und Partnern und denjenigen, die
auf unsere Hilfe angewiesen sind, dass wir vertrauens-
voll und solidarisch zu unserer Bündnisverpflichtung
stehen, selbst wenn wir Opfer erbringen müssen. Schaut
man sich die Nachkriegsgeschichte an, dann stellt man
fest: Das ist ein Paradigmenwechsel.
Ich würde deshalb zwei umstrittene Einsätze, die hier
im Haus immer kontrovers diskutiert worden sind, zu-
sammenfassen: den Afghanistan-Einsatz und natürlich
die Entscheidung im Falle des Kosovo. Die Entschei-
dung für diese Einsätze ist sicherlich keinem hier leicht-
gefallen, aber sie zeigen, wie gut die Bundeswehr ihre
Aufgaben erfüllt. Beide Einsätze zeigen auch, wie
verantwortungsbewusst die Politik mit ihren Entschei-
dungen umgeht. Das dokumentieren wir fortwährend.
Der „Fortschrittsbericht Afghanistan“ ist keine Schön-
färberei. Wir haben ihn ja auch kritisch diskutiert, rauf
und runter, in dieser Woche in unserer Arbeitsgruppe
Auswärtiges mit dem Afghanistan-Beauftragten der
Bundesregierung, der uns schonungslos offengelegt hat,
was falsch läuft.
Viele Enttäuschungen und viele Rückschritte in Af-
ghanistan prägen auch unser Bild des Einsatzes. Nichts-
destotrotz – Herr Nouripour hat es angesprochen – ist
ziviles Leben für Mädchen und für Jungen in Afghanis-
tan – nicht überall, aber überhaupt – wieder möglich. Es
sind geringe Erfolge. Sie sind nicht so groß, wie man
sich das vielleicht am Anfang erhofft hat; aber die gerin-
gen Erfolge, die es gegeben hat, darf man doch nicht
kleinreden, und man darf so tun, als seien sie gar nicht
vorhanden.
Ich will nicht herbeireden, dass durch einen Abzug
zwangsläufig die Herrschaft der Taliban zurückkehrt.
Wer weiß das schon? Es liegt doch an uns, wie wir mit
diesem Einsatz weiter umgehen.
Damit komme ich zu der zivilen Seite. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass hier jemals ein Minister
behauptet hat, dass eine militärische Intervention die
Lösung für die politische Herausforderung in Afghanis-
tan sei. Keiner hat das gesagt. Hier haben alle Verteidi-
gungsminister, egal welcher Couleur, und alle Außen-
minister, egal welcher Couleur, immer gesagt: Der zivile
Anteil ist das Wichtigste. Ich finde – eine entsprechende
Frage wurde ja gerade von der Opposition gestellt –,
430 Millionen Euro pro Jahr ist ganz schön viel Geld.
Die Ausgabe dieser Steuergelder müssen wir rechtferti-
gen. Dieses Geld ist gut angelegt bei den Menschen, die
sich für uns einsetzen. Kollegin Pfeiffer als Entwick-
lungspolitikerin wird darauf in ihrer Rede gleich einge-
hen. Ich glaube, es ist eine positive Seite des Einsatzes,
dass die zivile Komponente einen so großen Umfang hat
und von solcher Dauer ist. Jetzt, da diese Regierung den
Abzug einleitet – gerade Minister Westerwelle hat mit
seinem Engagement auf der Konferenz in London maß-
geblich dazu beigetragen, dass wir heute da stehen, wo
wir stehen –, verabschiedet sie sich nicht aus der zivilen
Verantwortung, ganz im Gegenteil. Wir sagen: Wir blei-
ben beim zivilen Teil dabei. Wir bleiben auch in Zeiten,
in denen wir die Ausgabe eines jeden Euro vor unseren
Bürgerinnen und Bürgern rechtfertigen müssen, in gro-
ßem Umfang dabei. Wir werden das Geld effizient und
effektiv einsetzen.
Insofern werbe ich für unser gesamtpolitisches Kon-
zept. Das ist bei weitem nicht die Lösung aller Probleme.
Aber ich glaube, dass wir trotzdem auf dem richtigen
Weg sind, und bitte deshalb um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Johannes Pflug für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Abzug der internationalen Kampftruppen
aus Afghanistan bis Ende 2014 ist beschlossene Sache.
Die Rückverlegung der Truppen hat bereits begonnen.
Bei denjenigen, die seit Jahren gegen den Afghanistan-
Einsatz der Bundeswehr sind, mag dies ein Aufatmen
auslösen. Dies gilt aber auch für alle Mitglieder dieses
Hohen Hauses.
Ich warne jedoch davor, dass Afghanistan in der Ver-
senkung unserer politischen Agenda verschwindet; denn
hier haben wir mit dem Eintritt in den ISAF-Einsatz eine
Verantwortung übernommen. Wir sind nicht Herrn
Karzai verpflichtet, aber wir sind den Menschen in
Afghanistan verpflichtet, denen wir Hoffnungen und
Versprechungen gemacht haben.
26340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Johannes Pflug
(C)
(B)
Die Ankündigung des Abzugs hat in Afghanistan Ver-
unsicherung ausgelöst. Viele befürchten den Rückfall in
Chaos und Bürgerkrieg, schlimmstenfalls eine erneute
Herrschaft der Taliban. Und diese Befürchtungen sind
nicht unbegründet. Um wirklich die Sicherungsverant-
wortung an die Afghanen guten Gewissens übergeben zu
können, müssen wir in den verbleibenden zwei Jahren
alles daransetzen, das Land, soweit nur irgend möglich,
zu stabilisieren. Auch danach dürfen wir unser Engage-
ment für eine Entwicklung Afghanistans nicht erlahmen
lassen. Das heißt jedoch nicht, dass die Afghanen aus der
Selbstverantwortung entlassen werden. Langfristige
Unterstützung von unserer Seite sollte nur gegen Re-
formfortschritte der afghanischen Regierung geleistet
werden. Wir dürfen uns nicht scheuen, konsequent
Verbesserungen in den Bereichen der Korruptions- und
Drogenbekämpfung sowie gute Regierungsführung und
bei den Menschenrechten einzufordern. Präsident Karzai
hat diese Verbesserungen zugesagt.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung sieht
eine außerordentliche Verlängerung des Mandats um
13 Monate anstatt, wie bisher üblich, um 12 Monate vor.
Dies befürworten wir. Der neugewählte Bundestag sollte
nicht sofort nach der Konstituierung über das nächste
Mandat entscheiden müssen.
Die Zahl der Bundeswehrsoldaten soll bis zum
Mandatsende im Februar 2014 auf 3 300 zurückgehen.
Diese geplante Reduzierung begrüßen wir ebenfalls. Je-
doch steht diese Reduzierung unter dem Vorbehalt, dass
die Lage dies erlaubt. Aber wie sieht die aktuelle Sicher-
heitslage aus? Mehrere renommierte Think Tanks äußern
sich äußerst negativ über die Sicherheitslage. Demge-
genüber fällt der „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der
Bundesregierung positiver aus, zumindest positiver, als
die Presse dies darstellt.
Sicher ist: In Afghanistan stehen wir, was die Zukunft
betrifft, vor immensen Herausforderungen. Ein zentraler
Faktor für die zukünftige Entwicklung des Landes wird
die Präsidentenwahl 2014 sein. Die meisten Afghanen
haben jedes Vertrauen in ihre Regierung verloren, und
die wenigsten glauben daran, dass es freie und faire
Wahlen geben wird. Bestätigte sich diese Sorge, hätte
dies einen enormen Vertrauensverlust zur Folge. Präsi-
dent Karzai, der nicht mehr kandidieren darf, sollte allen
Versuchungen widerstehen, einen Verwandten oder Ver-
trauten ins Amt zu hieven. Wir müssen also entsprechen-
den Druck auf den Präsidenten ausüben, die Vorbe-
reitungen zügig und sorgfältig zu treffen, die
Sicherheitslage unterstützen und den Auszählungspro-
zess begleiten.
Von genauso großer Bedeutung ist innerafghanische
Versöhnung. Bisher sind alle Ansätze hierzu versandet
bzw. gescheitert. Wir müssen diesen Prozess, soweit wir
können, unterstützen und vor allen Dingen die Zivilge-
sellschaft in die Verhandlungen einbeziehen. Wir wissen
und sagen seit langem: Ohne die Einbeziehung der re-
gionalen Nachbarn wird der Konflikt in Afghanistan
nicht zu lösen sein. Der sogenannte Heart-of-Asia-Pro-
zess hat das Potenzial, hier eine entscheidende Rolle zu
spielen.
Das nächste Außenministertreffen wird im April
nächsten Jahres in Astana stattfinden. Wir erwarten, dass
sich die Bundesregierung dort voll einbringen wird. Herr
Minister Westerwelle und Herr Minister de Maizière, ich
habe jetzt zum wiederholten Male von chinesischer Seite
deutliche Kooperationsbereitschaft bezüglich der zivilen
und wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans nach
Abzug der internationalen Truppen gehört. Ich bitte Sie
sehr inständig, die Chinesen beim Wort zu nehmen und
auch in diese Gespräche einzubeziehen.
Ein großes Fragezeichen stellt sich hinsichtlich der
geplanten Mission, die sich an den ISAF-Einsatz nach
2014 anschließen soll. Diese soll keine Kampfhandlun-
gen mehr vorsehen, sondern nur noch auf Training und
Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte abzie-
len. Über die genaue Ausgestaltung dieser Mission wis-
sen wir jedoch bislang so gut wie nichts.
Wir befinden uns in Afghanistan in einer kritischen
Umbruchphase. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt
mit Bestimmtheit sagen, wie die Zukunft Afghanistans
aussehen wird. Sicher ist, dass die Entwicklung auch von
unserer Unterstützung abhängen wird. Dabei muss unser
zukünftiges Engagement in Afghanistan auf der Grund-
lage einer langfristigen Strategie und einer umfassenden
Evaluation unserer vergangenen Aktivitäten erfolgen,
um Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden,
zukünftig zu vermeiden. Diese Evaluation muss von un-
abhängigen Experten durchgeführt werden, um politi-
sche Handlungsmaximen entwickeln zu können. Sie,
verehrter Kollege Gehrcke und die Linken, wussten das
alles bereits seit zehn Jahren. Sie werden sich also an
dieser Evaluation nicht beteiligen müssen. Ich schlage
vor, dass wir diese sehr ernsthaft durchführen werden.
Ansonsten darf ich sagen: Wir werden dieser Verlän-
gerung des Mandats zustimmen.
Danke sehr.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute debattieren wir über die künftige Mandatierung
des verringerten deutschen Kontingents für ISAF, mit
dem wir unseren Truppenabzug bis 2014 einleiten. Da-
mit fällt automatisch der Blick der öffentlichen Debatte
auf die Zeit nach dem Truppenabzug. Nachdem ich die
Debatte verfolgt habe, muss ich sagen, Herr Gehrcke,
dass nur allzu oft sicherheitspolitische Schreckensszena-
rien an die Wand gemalt werden: Kommen die Taliban
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26341
Sibylle Pfeiffer
(C)
(B)
zurück? Wann kommen sie zurück? Nach 2014? War ei-
gentlich alles, was wir gemacht haben, umsonst?
Es ist legitim, diese Fragen zu stellen; auch ich habe
sie mir gestellt. Aber, lieber Johannes Pflug, wie das Ka-
ninchen vor der Schlange zu sitzen und darauf zu war-
ten, dass irgendetwas passiert, und Szenarien sozusagen
herbeizureden, das ist, glaube ich, der falsche Weg. Im
Gegenteil: Wir müssen uns viele Gedanken darüber ma-
chen, welche grundsätzlichen Parameter unseres Enga-
gements sich verändern werden und wie wir uns darauf
einstellen können.
Dabei dürfen wir diese Debatte nicht nur auf sicher-
heitspolitische Aspekte verengen. Wir müssen auch den
zivilen Wiederaufbau in den Blick nehmen; denn ab
2014 wird die internationale Entwicklungspolitik eine
größere Rolle für die Zukunft Afghanistans spielen.
Vor einem halben Jahr, im Juni 2012, hat die interna-
tionale Gemeinschaft in Tokio eine Fortsetzung des zivi-
len Engagements und der finanziellen Unterstützung Af-
ghanistans mit rund 4 Milliarden Dollar pro Jahr be-
schlossen. Deutschland hat gegenüber Afghanistan zu-
gesagt, sein Engagement von derzeit 430 Millionen Euro
in der Transformationsdekade zu verstetigen. Wir wer-
den die Menschen in Afghanistan auch nach 2014 nicht
im Stich lassen.
Diese Zusage – das ist in diesem Zusammenhang min-
destens genauso wichtig – ist aber Zug um Zug an kon-
krete Reformschritte der afghanischen Regierung ge-
knüpft.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat vor zwei Wo-
chen einen Afghanistan-Kongress durchgeführt. Wir ha-
ben dort sowohl Bilanz gezogen und eine Bestandsauf-
nahme gemacht als auch den Blick in die Zukunft
gerichtet. Dabei ist deutlich geworden, dass die Lage in
Afghanistan bei weitem nicht so desolat ist, wie es von
einigen suggeriert wird, Herr Gehrcke. Vielmehr sind
Fortschritte in den Schwerpunktbereichen der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl sichtbar. Bei-
spielsweise haben sich die staatlichen Einnahmen in den
letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht. Das jährliche
Pro-Kopf-Einkommen beträgt mittlerweile 585 US-Dol-
lar. Zugang zu Basisgesundheitsleistungen hatten einmal
8 Prozent der Bevölkerung – mittlerweile sind es 85 Pro-
zent der Bevölkerung. 7 Millionen Kinder, darunter fast
3 Millionen Mädchen, gehen heute in die Schule.
Natürlich gibt es auch Defizite, insbesondere in den
Bereichen Müttersterblichkeit, Zugang zu Trinkwasser
und sanitärer Versorgung sowie Unterernährung von Kin-
dern.
Inwieweit die skizzierten Fortschritte nach Abzug der
militärischen Kampfverbände Bestand haben werden,
hängt definitiv von vielen Faktoren ab. Dazu gehört ne-
ben der allgemeinen Sicherheitslage maßgeblich der
politische Versöhnungsprozess zwischen den Taliban
und den anderen politischen Gruppierungen in Afghani-
stan.
Eine Stabilisierung der Fortschritte hängt aber auch
davon ab, ob es uns gelingen wird, Perspektiven für die
junge Generation von Afghanen zu schaffen. Gemeint ist
in erster Linie ein nachhaltiges und selbsttragendes Wirt-
schaftswachstum. Schätzungen gehen davon aus, dass
derzeit bis zu 10 Prozent der arbeitenden Bevölkerung
von Beschäftigungsmöglichkeiten durch ausländische
Geber abhängen. Hier ist absehbar, dass der erwartete
Rückgang des Wirtschaftswachstums infolge des Trup-
penabzugs zu einer großen Herausforderung werden
wird.
Die afghanischen Budgetplanungen der nächsten
Jahre und auch die internationalen Zusagen der Tokio-
Konferenz beruhen zu einem großen Teil auf der An-
nahme steigender Einnahmen aus dem Rohstoffsektor.
Es ist von entscheidender Bedeutung, ob es Afghanistan
gelingen wird, eine entwicklungsorientierte Rohstoff-
politik zu machen. Afghanistan muss seine Abhängig-
keit von der Hilfe internationaler Geber verringern. Viel
hängt ab von der Zukunft des Entwurfs für ein neues
Rohstoffgesetz, das ausländischen Investoren Rechtssi-
cherheit bringen soll. Dieses Gesetz ist leider in der
Mitte des Jahres im afghanischen Kabinett zunächst ge-
scheitert. Deutschland hat deshalb gegenüber Afghani-
stan sehr deutlich gemacht, dass es der Verabschiedung
dieses Gesetzes eine hohe Priorität für die weitere Ent-
wicklung des Landes zumisst.
Das starke Bevölkerungswachstum stellt Afghanistan
vor große Probleme. Bei einem Bevölkerungswachstum
von 2,8 Prozent wird das Wirtschaftswachstum nicht
ausreichen, um die Zahl der in Armut lebenden Afgha-
nen dauerhaft zu verringern.
Es ist das Ziel unserer zukünftigen Bemühungen,
durch die Schaffung von Lebensperspektiven für die
Bürger Afghanistans die Legitimität des afghanischen
Staates zu erhöhen. Nur so kann eine Stabilisierung des
Landes über 2014 hinaus erreicht werden. Die Entwick-
lungspolitik Deutschlands steht da an der Seite Afgha-
nistans.
Vielen Dank.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Florian Hahn aus der Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-
nen und Kollegen! Vor elf Jahren hat die damalige rot-
grüne Bundesregierung zum ersten Mal in diesem Hause
einen Antrag zur Beteiligung bewaffneter deutscher Sol-
daten am Afghanistan-Einsatz zur Abstimmung vorge-
legt. Seither hat sich viel verändert, nicht nur das Ab-
stimmungsverhalten von Bündnis 90/Die Grünen, die
früher in federführender Funktion bei diesem Einsatz
waren und sich nun ganz besonders mutig enthalten wol-
len, sondern auch vieles in Afghanistan. Das hat zentral
26342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Florian Hahn
(C)
(B)
mit unserem enormen politischen, militärischen und zi-
vilen Engagement in diesen elf Jahren zu tun.
Im Gegensatz zu 2001, als es nur circa 1 Million
Schüler gab – davon nur 10 Prozent Mädchen –, besu-
chen heute 8 Millionen Kinder – davon 2,7 Millionen
Mädchen – die Schule. Inzwischen haben 85 Prozent der
Afghanen Zugang zu einer medizinischen Versorgung.
2001 waren es weniger als 10 Prozent. Auch konnte die
Kindersterblichkeit in den letzten sieben Jahren um
30 Prozent verringert werden.
Diese Beispiele zeigen: Vieles ist in Afghanistan bes-
ser geworden. Die Menschen sind froh, dass sie nicht
mehr von den Taliban unterjocht werden. Eine aktuelle
Umfrage zeigt, dass 90 Prozent der Afghanen in keinem
Fall die Rückkehr der Taliban-Herrschaft wollen. Diese
und andere Verbesserungen und Erfolge der letzten Jahre
wären ohne den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten so
nicht möglich gewesen.
Das neue ISAF-Mandat soll auf 13 Monate verlängert
werden und sieht in dieser Zeit eine Verringerung der
Truppenstärke um fast 30 Prozent auf 3 300 Soldaten
vor. Selbsttragende afghanische Sicherheitsstrukturen
nehmen mehr und mehr Gestalt an und ermöglichen
diese Reduzierung. So übernehmen afghanische Sicher-
heitskräfte seit Juli 2011 nach und nach die Verantwor-
tung in ihrem Land. Im Norden des Landes operieren sie
zunehmend selbstständig und werden von Soldaten der
ISAF beraten, begleitet und unterstützt.
So können wir an unserer Entscheidung festhalten
und die Truppen weiter verantwortungsbewusst verrin-
gern. Hierbei liegt die Betonung auf dem Wort „verant-
wortungsbewusst“. Wir dürfen nicht zulassen, dass Er-
reichtes riskiert oder verloren wird. Die Lage vor Ort
muss entscheidend für die schrittweise Rückverlegung
sein. Ich bin dankbar, dass dies so auch im Antrag der
Bundesregierung berücksichtigt wird.
Eine Fortsetzung der Professionalisierung der afgha-
nischen Sicherheitskräfte ist absolut notwendig. Ich
möchte deswegen noch einmal mit aller Deutlichkeit sa-
gen, dass wir die Afghanen auch in dieser Hinsicht nicht
im Stich lassen. Ganz im Gegenteil: Wir werden unser
Engagement für die Ausbildung der Afghanen weiter er-
höhen.
Zu diesem Zweck plant das Bündnis eine Folgemis-
sion für die Zeit ab Anfang 2015. Diese Mission soll
zwar keinen Kampfauftrag mehr beinhalten, sich dafür
aber auf Ausbildung, Beratung und Unterstützung der
afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren.
2013 wird für unsere Truppen in Afghanistan in vie-
lerlei Hinsicht eine große Herausforderung. Wir müssen
gewaltige logistische Aufgaben bewältigen. Die Rück-
verlegung von Personal und Material innerhalb kurzer
Zeit ist eine Mammutaufgabe.
Nach jetzigem Stand gilt es, unter anderem etwa
6 000 Container und rund 1 700 Fahrzeuge über Land,
Luft und See zurück nach Deutschland zu verlegen. Die
Sicherheitsvorkehrungen für die Rückverlegung selbst,
aber auch die generellen Sicherheitsanstrengungen für
das Land müssen dabei unbedingt gewahrt bleiben.
Als bayerischer Abgeordneter komme ich nicht um-
hin, darauf hinzuweisen, dass im nächsten Jahr beson-
ders viele bayerische Soldaten bzw. Soldaten aus bayeri-
schen Standorten im Einsatz sein werden.
Bei einem Besuch eines Bataillons der Gebirgsjäger-
brigade 23 während ihrer Einsatzvorbereitung auf dem
Gefechtsübungsplatz des Heeres in Letzlingen war ich
beeindruckt von der Motivation und der Professionalität,
mit der die Soldaten ihrem Einsatz im Februar entgegen-
sehen. Viele waren bereits mehrfach im Einsatz und ge-
ben ihre Erfahrungen entsprechend weiter.
Daran sieht man einmal mehr, wie sich unsere Armee
verändert und professionalisiert hat. Das bestätigte mir
gestern bei einem Gespräch auch der neue Münchener
Generalkonsul der Vereinigten Staaten, William Moeller,
der selbst in Afghanistan an der Seite deutscher Einsatz-
kräfte im Einsatz war. Ich kann ihm nur beipflichten,
wenn er sagt, dass wir auf unsere Bundeswehr stolz sein
können. Die Frauen und Männer riskieren in unserem
Auftrag tagtäglich Leib und Leben, unterstützen eine
friedliche Entwicklung im Einsatzland und schützen un-
sere Interessen. Dies ist meist mit großen persönlichen
und familiären Entbehrungen verbunden. Unsere Gesell-
schaft reagiert darauf weitgehend mit Desinteresse
und nicht selten – wir haben das heute erlebt – sogar mit
Ablehnung. Damit werden gerade auch die Familienan-
gehörigen konfrontiert.
Ich möchte daher ausdrücklich unserer Bundeskanz-
lerin danken, dass sie vor wenigen Tagen Familienange-
hörige unserer Soldaten und Polizisten, die im Ausland
Dienst tun, im Kanzleramt empfangen hat.
Das ist ein starkes und wichtiges Signal für die Betroffe-
nen und ihre Familien, aber auch für unsere Gesell-
schaft: Wir stehen hinter unseren Frauen und Männern
im Einsatz.
Ich wünsche ihnen ganz besonders ein frohes Weih-
nachtsfest und Gottes Segen im Einsatz.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11685 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26343
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Düngeverordnung novellieren
– Drucksache 17/10115 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10115 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Beschleunigung der Rückholung radioaktiver
Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage
Asse II
– Drucksache 17/11822 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
auch hier keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
Peter Altmaier.
Peter Altmaier, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Ihnen,
liebe Frau Kotting-Uhl von Bündnis 90/Die Grünen, bei
Angelika Brunkhorst von der FDP, bei Ute Vogt von der
SPD, bei Maria Flachsbarth von der CDU/CSU, bei
Dorothée Menzner von der Linkspartei, aber auch bei
meiner Staatssekretärin Ulla Heinen-Esser und bei den
Mitgliedern der Asse-Begleitgruppe ganz herzlich dafür
bedanken, dass dieser Gesetzentwurf möglich geworden
ist.
Er ist in der Sache richtig. Er ist aber auch ein über-
zeugendes Signal, dass wir imstande sind, über Partei-
grenzen hinweg bei wichtigen Fragen gemeinsam zu
handeln. Wir wissen, dass in den letzten Jahren viel Ver-
trauen in die Asse verloren gegangen ist. Wir wollen die-
ses Vertrauen gemeinsam wiedergewinnen. Wir wollen
Lösungen, die den Belangen der Betroffenen vor Ort ge-
recht werden und die transparent sind.
Nach meiner Ernennung zum Bundesumweltminister
habe ich sehr schnell einen Besuch der Schachtanlage
Asse II in Begleitung von Vertretern aller Fraktionen
durchgeführt, weil es mir wichtig war, dort deutlich zu
machen: Die Rückholung der radioaktiven Abfälle aus
der Schachtanlage Asse II ist kein regionales Thema,
sondern liegt in der Verantwortlichkeit des ganzen Lan-
des und der Politik insgesamt. Ich habe bei diesem Be-
such gesagt, dass ich bereit bin, von meinem Haus aus
die Erarbeitung eines solchen Gesetzentwurfs zu unter-
stützen, wenn wir ihn im Konsens erarbeiten und ge-
meinsam tragen. Genau das ist geschehen.
Dafür ist allen Fraktionen zu danken, die daran mitge-
wirkt haben.
Dieser Gesetzentwurf ist wichtig, weil er nicht nur
Vertrauen und Sicherheit schafft, indem er der Rückho-
lung den Vorzug gibt, die Rückholung beschleunigt und
dabei keinerlei Abstriche am Strahlenschutz der Bevöl-
kerung und der Beschäftigten zulässt.
Er ist auch deshalb wichtig, weil wir alle wissen, dass
die Probleme in der Asse unter Tage groß sind, dass es
Stabilitätsprobleme des alten Grubengebäudes gibt, dass
wir dringend einen neuen Schacht brauchen, weil wir
heute nur eingeschränkte Betriebsmöglichkeiten unter
Tage haben, und dass wir der Gefahr eines unbeherrsch-
baren Laugenzutritts begegnen müssen. Deshalb müssen
wir die Arbeiten beschleunigen.
Der Gesetzentwurf soll hierfür eine Grundlage bilden.
Er stellt klar, dass die Rückholung der radioaktiven Ab-
fälle Priorität hat. Er stellt fest, dass die Rückholung nur
noch in gesetzlich festgeschriebenen Fällen abgebrochen
werden kann. Der Gesetzentwurf enthält eine Regelung
für den Fall der Pflichtenkollision, und er stellt auch
klar, dass es für die Rückholung keiner atomrechtlichen
Planfeststellung nach § 9 b Atomgesetz bedarf.
Er regelt es so, dass wir keinerlei Beschneidung von
Beteiligungs- und Mitspracherechten haben, und er re-
gelt den Umgang mit radioaktiven Stoffen unter Tage in
einer Art und Weise, die die Arbeiten zu beschleunigen
hilft.
Wir schaffen damit die Voraussetzung, einer Lösung
einen Schritt näher zu kommen. Die Lösung selbst wird
viele Jahre brauchen, bis sie gefunden ist. Deshalb brau-
chen wir einen langen Atem.
Ich will für die Bundesregierung die Bereitschaft un-
terstreichen, dass wir auch künftig die nötigen Mittel zur
Verfügung stellen, um diese Rückholung durchzuführen.
Wir haben den Mittelansatz im Haushalt um 20 Millionen
Euro erhöht. Wir haben dem Bundesamt für Strahlen-1) Anlage 11
26344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bundesminister Peter Altmaier
(C)
(B)
schutz im Haushalt neue Stellen bewilligt. Ich habe vor
wenigen Tagen eine Vorlage abgezeichnet, die im Wege
eines Ausführungserlasses des BMU eine freihändige
Vergabe bis zu einer Größenordnung von 100 000 Euro
ermöglicht. All das soll dazu beitragen, dass wir dort vo-
rankommen.
Ich habe vor 14 Tagen meinen zweiten Besuch bei
den Beteiligten der Asse-Begleitgruppe durchgeführt.
Ich werde mich im Frühjahr – hoffentlich wiederum ge-
meinsam mit Vertretern aller Fraktionen – einer Bürger-
versammlung stellen, um dort auch in der Bevölkerung
insgesamt dafür zu werben, dass wir dieses Problem ge-
meinsam klären.
Die Asse ist eine klaffende Wunde in der Natur. Sie
zeigt, dass wir, als diese Entscheidungen seinerzeit ge-
troffen worden sind, weder ihre Tragweite noch ihre Im-
plikationen ausreichend bedacht haben. Weil dafür auch
diejenigen, die damals noch keine Verantwortung getra-
gen haben – das sind alle im Raum, soweit ich das über-
schauen kann –, trotzdem heute verantwortlich sind, ist
es so wichtig, dass wir gemeinsam agieren, um diese
Wunde zu schließen.
Schließlich und letztens, meine sehr verehrten Damen
und Herren: Die Gemeinsamkeit in der Frage der Asse
reiht sich ein in eine Gemeinsamkeit, in der wir seit Fu-
kushima und dem Sommer letzten Jahres eines der größ-
ten Streitthemen der deutschen Politik der letzten
30 Jahre einvernehmlich klären: Wir haben gemeinsam
den Atomausstieg und die Energiewende beschlossen.
Wir haben heute einen gemeinsamen Konsens im Hin-
blick auf die Rückholung der Abfälle aus der Asse, und
ich bin zuversichtlich, dass wir es mit gutem Willen der
Beteiligten auch schaffen können, noch vor der Bundes-
tagswahl einen gemeinsamen Konsens im Hinblick auf
die Endlagersuche zustande zu bringen. Es wäre ein star-
kes Signal, dass wir unsere Lektion gelernt haben und
dass wir bereit sind, die Vergangenheit gemeinsam so
aufzuarbeiten, dass dies angemessen ist und den Men-
schen im Lande dient.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! In der Tat ist es eine erfreuliche Ent-
wicklung, die heute mit der ersten Lesung des Entwurfs
des Asse-Beschleunigungsgesetzes dokumentiert wer-
den kann. Wir haben am 17. Januar dieses Jahres als
SPD-Fraktion einen Antrag zur Beschleunigung der
Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse vorgelegt.
Es ist mehr als erfreulich, wie sich dieses Thema seither
entwickelt hat.
Ausgangspunkt für uns als Sozialdemokratie war da-
mals der Besuch des örtlichen Abgeordneten in der
Asse. Dabei hatten wir den Eindruck, dass trotz großer
Bemühungen auch der Verantwortlichen vor Ort es
schlichtweg viele bürokratische Hürden gibt und viele
Vorgänge zu langsam vorangehen und dass das Ver-
trauen der Bevölkerung, dass eine Rückholung noch
ernsthaft verfolgt wird, mehr und mehr schwindet.
Schon damals haben wir im Zusammenhang mit un-
serem Antrag – ich weiß, dass das auch andere Opposi-
tionsfraktionen getan haben – engen Kontakt zur Asse-
Begleitgruppe gehalten. Auch unser jetziges Verfahren
zeigt, dass es gut war, die Asse-Begleitgruppe von An-
fang an mit im Boot zu haben. Ich denke, das ist wieder
ein Beispiel dafür, dass echte Bürgerbeteiligung Akzep-
tanz schafft und uns Lösungen oft schneller nahebringt,
als wenn wir zuerst etwas im Bundestag oder in anderen
politischen Gremien beschließen und dann versuchen, es
zu vermitteln. Das ist mit Sicherheit eine gute Blaupause
für andere Verfahren. Das Verfahren ist sicherlich nicht
dadurch erschwert worden, dass für alle Fraktionen und
auch für das Bundesumweltministerium Frauen als Be-
richterstatterinnen verhandelt haben. Das hat das Ganze
ziemlich unkompliziert und sehr lösungsorientiert nach
vorne gebracht.
Wir haben jetzt eine Regelung gefunden, mit der wir
den Verantwortlichen vor Ort sowie vor allem den Be-
hörden und denen, die entscheiden, den Rücken stärken
wollen. Die Rückholung hat absoluten Vorrang. Wir ha-
ben mit diesem Gesetz fraktionsübergreifend all denen
eine Absage erteilt, die sogar noch bis vor kurzem ver-
sucht haben, eine Rückholung – auf welchem Weg auch
immer – zu verhindern. Wir wissen zwar, dass die Rück-
holung die teurere Variante ist. Aber es ist gut, dass das
Thema Sicherheit für uns alle hier im Haus Vorrang hat.
Mit der absoluten Priorität, die wir der Rückholung ein-
räumen, wird auch der Streit beendet, ob die Rückholung
tatsächlich der bestmögliche Weg zur sicheren Stillle-
gung ist. Wir sind uns hier im Hause einig: Es gibt nichts
Sichereres, als die Abfälle zurückzuholen, damit sie
eben nicht Tausende und Abertausende Jahre im Boden
liegen und dort – wer weiß, wohin – diffundieren. Die
Rückholung ist eine ganz notwendige Festlegung.
Es kann jetzt beschleunigt gearbeitet werden. Das
schafft sicherlich nicht allein das Gesetz; es schafft nur
die Grundbedingungen. Alle Beteiligten – Bundesregie-
rung, Landesregierung und Betreiber – müssen sich nun
frühzeitig zusammensetzen, konstruktiv zusammenar-
beiten und die nächsten Schritte vereinbaren, damit es
tatsächlich Zug um Zug vorwärts gehen kann. Es ist uns
wichtig, dass der Strahlenschutz der Beschäftigten und
der Bevölkerung auf sehr hohem Niveau erhalten bleibt,
dass wir an diesem Punkt also keine Abstriche machen.
Es ist gut, dass wir uns auch darüber verständigt haben.
Ich erinnere daran, dass es nicht unumstritten war, dass
Sigmar Gabriel als Umweltminister die Asse-Anlage
dem Atomrecht unterstellt hat. Ich denke, das war ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26345
Ute Vogt
(C)
(B)
richtiger Schritt, um das notwendige Schutzniveau für
alle Beteiligten zu erhalten. Die Asse wird damit ge-
nauso behandelt wie andere atomare Lager. Deshalb war
es nicht ganz einfach, Regelungen zu finden, die uns
pragmatisch weiterhelfen.
Gerade weil es so schwierig war, bin ich froh, dass es
gelungen ist, ein Asse-Beschleunigungsgesetz zu erar-
beiten. Das zeigt – da haben Sie durchaus recht, Herr
Minister –, was möglich ist, wenn die Regierung auch
auf Initiativen und Vorschläge seitens der Opposition
eingeht, sich alles unvoreingenommen anhört und Vor-
schläge – egal, woher sie kommen – ernst nimmt und in
ihre Arbeit einbezieht.
– Frau Kollegin Flachsbarth, das gilt sicherlich für alle
Themen, insbesondere für diejenigen, bei denen es relativ
egal ist, wer regiert. Es gibt Probleme, die uns und die
nachkommenden Generationen Jahrzehnte oder – wie im
Fall eines Endlagers für atomaren Müll – sogar Jahrhun-
derte beschäftigen werden. Das Verfahren zeigt: Wenn
alle Beteiligten offen sind und bereit sind, aufeinander zu-
zugehen – das gilt auch für das Endlagersuchgesetz –, und
wenn wie im Asse-Verfahren eine Bürgerbeteiligung er-
möglicht wird, dann sehe ich keine Probleme, dass wir bei
der Endlagerstandortsuche einen Konsens finden werden,
vielleicht sogar schneller, als sich das mancher oder man-
che vorstellen kann.
Trotzdem sollten wir heute erst einmal froh sein, dass
es uns gelungen ist, an dieses Thema einen Knopf zu
machen. Es ist jetzt unsere Aufgabe als Bundestag, am
Ball zu bleiben. Wir dürfen das Ganze nicht aus den Au-
gen lassen. Es ist immer wieder nötig und sinnvoll, dass
wir die Kräfte vor Ort verstärken.
Einen Wermutstropfen hat das Ganze, wie ich finde.
Wir haben fraktionsübergreifend an dem Gesetzentwurf
gearbeitet. Weil aber der Kollege Kauder einer besonde-
ren Ideologie anhängt, ist es nicht möglich gewesen,
dass auch die Fraktion Die Linke auf dem Gesetzentwurf
erscheint. Das aber wäre ein gutes Signal gewesen.
Wenn schon einmal alle Seiten konstruktiv an einem
Strang ziehen, dann sollten Sie von der Union sich einen
Ruck geben, damit alle Fraktionen, die an dem Gesetz-
entwurf gearbeitet haben, auch auf dem Gesetzentwurf
erscheinen.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch aus Sicht meiner Fraktion ist heute wirklich ein
guter Tag. Dass wir heute, in der letzten Sitzungswoche
vor Weihnachten, dieses Gesetz im Plenum anberaten
können, ist schon sehr gut. Wir hatten einen ambitionier-
ten Fahrplan, und wir alle haben ambitioniert mitgear-
beitet. Ich möchte in erster Linie den Berichterstatterin-
nen der anderen Fraktionen für die sachliche, wirklich
pragmatische und zielorientierte Arbeit danken. Es war
für einige von uns eine gute Erfahrung, zu sehen, dass es
auch gemeinsam gehen kann. Wir haben jetzt auch ein
gutes Ergebnis eingefahren.
Ich möchte betonen, dass es das unbedingte Ziel der
FDP-Fraktionen sowohl auf Bundes- als auch auf Lan-
desebene ist, dass die Rückholung der Abfälle gelingt.
Ich möchte daran erinnern, dass auch der Landesum-
weltminister Stefan Birkner sich schon sehr früh im Jahr,
nämlich im Februar, dahin gehend geäußert hat, dass wir
ein Einzelgesetz brauchen, das uns hilft, diese Dinge
voranzutreiben. Das ist wichtig, weil die Standsicherheit
begrenzt ist. Das Grubengebäude ist marode. Es ist im-
mer noch damit zu rechnen, dass der Laugenzutritt un-
kontrollierbar wird. Das liegt nicht in unserer Hand. Mit
der Lex Asse haben wir das gesetzgeberische Beschleu-
nigungspotenzial gehoben. Das hilft uns bei den Vorbe-
reitungsarbeiten zur Faktenerhebung, wobei wir unter
Berücksichtigung des Strahlenschutzes usw. die ersten
Vorkehrungen schon getroffen haben.
Ich möchte an dieser Stelle auch der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Frau Heinen-Esser und der Vize-
präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, Frau
Nöthel, danken, die uns beraten haben. Mein Dank gilt
auch den Beamtinnen und Beamten des BMU, die un-
sere Vorstellungen in Gesetzesform gebracht haben. Für
die Begleitgruppe war Herr Rechtsanwalt Gaßner dabei,
der immer wieder die Befindlichkeiten, aber auch die
Wünsche der Begleitgruppe hat einfließen lassen. So
war das von vornherein ein Unternehmen aus einem
Guss.
Ich möchte nicht so sehr in die Einzelheiten des Ge-
setzentwurfs gehen, vielmehr einige grundlegende As-
pekte aufgreifen. Es gibt nur einen Schacht, und es wird
ein neuer Schacht gebaut werden müssen. Das Abteufen
eines neuen Schachts 5 ist doch ein sehr großes Baupro-
jekt. Das wird jetzt sofort angegangen. Wir können die
Vorbereitungsmaßnahmen bereits jetzt beginnen, obwohl
die Genehmigung noch gar nicht vorliegt. Das spart eine
Menge Zeit. Wir können bei dem Genehmigungsverfah-
ren davon ausgehen – das ist ein gutes Signal –, dass die
Betreiberseite, nämlich das BfS, und die Genehmigungs-
seite, das NMU, intensiv zusammenarbeiten und gut mit-
einander kommunizieren.
In unserem Gesetzentwurf steht, dass über den Ge-
nehmigungsantrag unverzüglich, spätestens innerhalb
von sechs Monaten, entschieden werden soll.
Das heißt keinesfalls, dass es unbedingt sechs Monate
dauern sollte. Kern der Regelung ist vielmehr, zu ver-
meiden, dass man sich – wie bei anderen Genehmi-
gungsverfahren – im Vorfeld vielleicht über die Fristen
nicht einigt und nicht klar ist, ob schon alle Unterlagen
vollständig vorliegen. Daher haben wir gesagt: Wir wol-
len, dass Betreiberseite, Antragstellerseite und Genehmi-
gungsseite in sogenannten Antragskonferenzen den An-
tragsgegenstand schon in einer sehr frühen Phase
26346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Angelika Brunkhorst
(C)
(B)
erörtern, damit da keine Irritationen entstehen oder
Dinge vergessen werden können. Das war, glaube ich,
ein ganz wichtiger Punkt.
Die gute Kommunikation und Transparenz in die Re-
gion hinein ist ja auch von der Parlamentarischen Staats-
sekretärin Heinen-Esser immer wieder aktiv unterstützt
worden. Sie ist in die Region gefahren und hat sich dort
mit der Begleitgruppe getroffen. Es gab auch mehrere
Workshops, in denen einiges erörtert worden ist, also
technische Dinge und Genehmigungsfragen. Das hat
Frau Vogt hier schon ausreichend dargelegt.
Mir geht es auch darum, dass man versteht – das hat
Frau Nöthel immer wieder gesagt –, dass ungeachtet all
dessen, was wir, auch dringlich, voranbringen wollen,
Notfallpläne erstellt werden müssen. Das müssen wir
machen. Da kommt dann schnell die Frage auf: Wozu
brauchen wir die? Haben die schon wieder den Rück-
wärtsgang eingelegt? – Das ist nicht der Fall. Das
möchte ich nachdrücklich unterstreichen. Wir sind wirk-
lich willens, den Atommüll dort herauszuholen. Ich
denke, Notfallpläne sind einfach wichtig, um eine ge-
wisse Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter, die mit den Arbeiten betraut werden, aber auch für
die Region zu garantieren.
Ich finde, die Berichterstatterinnen haben hier heute
einen ganz guten Rundumschlag gemacht. Wir haben als
Parlamentarierinnen aus der Mitte des Parlaments heraus
gesagt, wir wollen von der Politikseite Verantwortung
übernehmen. Wir wollen dieses Gesetz mit auf den Weg
bringen. Wir sind dabei sehr unterstützt worden. Natür-
lich brauchen wir auch viel Glück und eine gute Konstel-
lation, damit es wirklich klappen kann; ganz ohne wird
es nicht gehen. Aber ich glaube – ich bin immer Opti-
mist –, wir werden, wenn wir uns auf den Weg begeben,
das Glück auf unserer Seite haben.
Danke schön.
Die Kollegin Dorothée Menzner hat nun für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Danke. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Notwendigkeit einer Lex Asse ist unstrit-
tig, unstrittig bei den Menschen in der Region und nun
auch bei allen Fraktionen hier im Haus. In den 60er- und
70er-Jahren herrschte im Umgang mit radioaktivem Ab-
fall eine gewisse Laisser-faire-Haltung, eine gewisse
Sorglosigkeit. Durch diese ist auch dieser Zustand in der
Asse zu erklären, ein von Menschen gemachtes Desaster.
Vergessen wir an dieser Stelle jedoch nicht: Es gab auch
schon früh Menschen, die davor gewarnt haben.
So ist der Zustand, der in der Asse eingetreten ist,
nach der heutigen Gesetzeslage durchaus als rechtswid-
rig zu bezeichnen. Unser gemeinsames Ziel, mit dem wir
uns auf den Weg gemacht haben, war, diesen Zustand zu
beheben und den Müll so schnell wie irgend möglich aus
der Asse zu bergen, und zwar ohne Abstriche bei der Si-
cherheit, in größtmöglicher Transparenz und ohne dass
dabei Kosten der Maßstab für Entscheidungen sein dür-
fen. Sicher war und ist es auch Aufgabe, das über Jahr-
zehnte verspielte Vertrauen in der Region zurückzuge-
winnen oder zumindest erste Schritte dafür zu tun.
Dennoch gibt es weiterhin offene Fragen, gerade bei
den Initiativen vor Ort. Wir sollten sie in dem weiteren
Verfahren sehr ernst nehmen, wir sollten diese Fragen
klären und diskutieren, zum Beispiel in der vom Um-
weltausschuss beschlossenen Anhörung am 20. Februar
2013, aber auch in weiterer Kommunikation mit Bürgerinnen
und Bürgern. Ich denke, das ist unsere gemeinsame Auf-
gabe, auch nach der heutigen Sitzung und bis zur Be-
schlussfassung.
Ich möchte kurz zwei der offenen Fragen benennen:
Erstens: die Frage des Gesetzeszweckes. Die BI kom-
muniziert mir immer wieder, sie möchte, dass im Ge-
setzentwurf klipp und klar steht: Gesetzeszweck ist die
Rückholung radioaktiver Abfälle.
Darin soll nicht stehen – wie es jetzt der Fall ist –, dass
diese Rückholung nur eine Vorzugsoption ist. Unser Si-
gnal erscheint ihr nicht vehement genug. Die Notwen-
digkeit der gewählten Formulierung ist gegenüber der BI
anscheinend noch nicht ausreichend geklärt. Es geht da-
rum, dass bei einem Gesetzeszweck „Rückholung“ sich
das Problem einer Rechtfertigungsprüfung für eine neue
Tätigkeit mit Strahlenexposition nach Art. 6 der entspre-
chenden Euratom-Richtlinie stellen würde und keiner
von uns abschätzen kann, wie lange das dauert, wie die
Möglichkeiten aussähen, wie der Zeitaufwand wäre.
Dies sollten wir dringend noch einmal diskutieren, auch
mit Juristen in der Anhörung. Wir sollten versuchen, die-
sen Dissens mit der BI aufzulösen.
Zweitens: die Frage des Vergaberechts. Ich bin ziem-
lich stolz darauf, dass wir es geschafft haben, in den Ge-
setzentwurf die Anhebung des Schwellenwertes für
europaweite Ausschreibungen aufzunehmen. Das ist ein
wichtiger Schritt, der wirklich für eine zeitliche Be-
schleunigung sorgt. Aber nach wie vor stellt sich die
Frage, ob die Begründung für so etwas der bestmögliche
Teil des Textes ist und ob der Erlass, der das regelt, uns
allen sicher genug ist – ein Erlass, dessen Formulierung
jederzeit änderbar wäre. Das sollten wir gemeinsam
noch einmal prüfen, um auch diese Bedenken aus dem
Weg zu räumen.
Fazit: Nutzen wir die Zeit bis zur Endabstimmung,
diese Fragen auch mit den Menschen vor Ort zu klären!
Vertrauen, das lange verspielt wurde, wird sich nicht
ganz schnell wieder einstellen. Nutzen wir auch die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26347
Dorothée Menzner
(C)
(B)
Möglichkeit, gegebenenfalls unseren gemeinsam vorge-
legten Gesetzentwurf zu verbessern!
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Be-
merkung machen. In der Presse heißt es überall: ein Ge-
setzentwurf von fünf Fraktionen. Jeder, der sich diesen
Gesetzentwurf anschaut, sieht: Es werden nur vier ein-
bringende Fraktionen genannt. Gut, okay.
Bei einer Fraktion, bei der CDU/CSU, haben, wie seit
20 Jahren, die ideologischen Scheuklappen funktioniert.
Ich gebe Ihnen als Tipp nur mit: Die Zeit der Blockkon-
frontation ist vorbei. Ich vermute, Sie schaden sich damit
mehr als uns. Wir sehen das sehr gelassen. Wir werden
den letztendlich vorliegenden Text sehr genau prüfen
und dann in der Sache entscheiden, wie wir uns bei der
Abstimmung verhalten, so wie wir es übrigens mit allen
Vorlagen in diesem Haus machen.
Ich danke.
Die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, auch ich bin dankbar, dass sich die fünf Frauen – mit
Frau Heinen-Esser waren es sechs – zusammengefunden
haben, um diesen Gesetzentwurf zu erarbeiten. In der Tat
gab es einen Antrag der SPD. Es gab auch einmal einen
ersten Entwurf aus dem BMU. Aber beides war nicht
dazu angetan, hier einen Konsens zu erreichen. Ich
glaube, es war gut, dass wir uns zusammengetan haben.
Ich danke Ihnen, dass Sie sich auf meinen Brief vom Fe-
bruar dieses Jahres ohne Eitelkeiten, ohne Konkurrenz-
gefühl unter den Fraktionen bereitgefunden haben, sich
zu treffen. Wir haben uns im Ganzen ungefähr 13-mal
getroffen und diesen Gesetzentwurf relativ zügig erar-
beitet.
In der Presseberichterstattung heute, nachdem wir den
Gesetzentwurf gestern vorgestellt haben, war viel davon
die Rede, dass es Frauen waren, und es wurde gefragt,
ob es vielleicht deshalb so gut geklappt hat.
Ich glaube, Sie, Frau Flachsbarth, sagten: Ja, das kann
schon daran liegen, dass wir vielleicht eine besondere
Sensibilität für die Menschen vor Ort haben, besser hi-
neinhören können und es uns nicht so wichtig ist, uns
selber zu profilieren.
– Sie sind jetzt gar nicht dran.
Es war davon die Rede, dass sich diese Frauen bei
Kaffee und Kuchen getroffen haben. Sie waren aber weit
davon entfernt, ein Kaffeekränzchen zu sein. Das ist ein
gutes Stichwort. In der Tat, es hat nichts damit zu tun,
dass wir uns zum Kaffeekränzchen getroffen haben.
Sie, Herr Altmaier, haben vorhin gesagt, die Asse sei
eine klaffende Wunde in der Natur. Ich will hinzufügen:
Die Asse ist auch eine klaffende Wunde im Vertrauen
der Menschen in Behörden. Diese Wunde zu schließen,
ist die Aufgabe, die wir angehen müssen und zu der wir
jetzt in dieser Gemeinsamkeit wirklich gut gefunden
haben.
Dass das Vertrauen der Menschen in die Behörden
verloren gegangen ist, hatte seinen guten Grund. Wenn
ich noch einmal rekapitulieren darf: Was ist da eigentlich
abgelaufen? Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe
– mein Wahlkreis – hat den Müll dorthin geschickt. Es
war wirklich eine organisierte Verantwortungslosigkeit
von WAK, Helmholtz-Gemeinschaft, Politik, einzelnen
Wissenschaftlern. Das ist der Grund dafür, dass es lange
dauern wird – die Arbeit ist auch noch nicht beendet –,
bis man dieses Vertrauen wieder aufgebaut hat. Wir ha-
ben einen guten ersten Schritt dazu gemacht.
Ich hätte mir nicht vorstellen können, als ich 2007 für
meine Fraktion hier zum ersten Mal einen Antrag ge-
stellt habe, die Asse unter Atomrecht zu stellen und den
Müll rückzuholen, dass es so kommt. Damals hat mir
Sigmar Gabriel heftigst widersprochen; es sei alles in
Ordnung, wie es sei. Eigentlich war hier eine große Geg-
nerschaft zur Rückholung. Ich finde es faszinierend, dass
wir uns jetzt zusammengefunden haben, natürlich auf
der Grundlage der Erfahrungen, die inzwischen offen da-
liegen, und sagen: Ja, obwohl es Zweifel gibt, obwohl es
kluge Menschen gibt, die immer noch sagen: „Lasst es
bleiben! Es hat keinen Sinn; es wird nicht gelingen!“,
obwohl wir wissen, wie lange es dauert, obwohl wir alle
wissen: „Wir können nicht mit hundertprozentiger
Sicherheit davon ausgehen, dass es gelingt“, gehen wir
gemeinsam diesen Weg und übernehmen gemeinsam die
Verantwortung, weil es der einzige Weg ist, um nachhal-
tig Sicherheit für die Menschen vor Ort und vor allem
für die zukünftigen Generationen zu generieren zu ver-
suchen. Mehr kann es nicht sein; aber dieser Versuch ist
es wert, dass wir uns anstrengen.
Die Rückholung als Ziel hineinzuschreiben, Dorothée
Menzner, hätte ein großes Defizit bedeutet; denn in dem
Moment, wo wir in eine Situation geraten, in der wir gel-
26348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Sylvia Kotting-Uhl
(C)
(B)
tendes Recht dort nicht mehr einhalten können, hätte al-
les abgebrochen werden müssen, das heißt, es wäre ge-
flutet worden. Mit den Formulierungen, die wir jetzt
gewählt haben – Vorzugsoption; Abwägung in dem Fall,
dass man die Gesetzeslage nicht einhalten kann –, haben
wir sichergestellt, dass die Rückholung nicht automa-
tisch abgebrochen wird, sondern in der Öffentlichkeit
und im Bundestag ein Nachdenken und eine Beratung
entstehen und dann entschieden wird: Wie machen wir
jetzt weiter? Das ist das Beste für die Menschen vor Ort.
Ich will zum Schluss sagen: Das, was wir jetzt geleis-
tet haben – im Moment sind wir alle glücklich darüber
und haben das Gefühl: eine Etappe ist geschafft –, ist der
kleinste Teil dessen, was dort zu tun ist. Die eigentliche
Arbeit fängt an, wenn dieses Gesetz beschlossen ist.
Wenn dort endlich schneller und stringenter auf die
Rückholung hingearbeitet werden kann, fängt die Arbeit
an. Dann müssen wir es auch vertreten, wenn wir even-
tuell unangenehme Entscheidungen zu treffen haben.
Die Verantwortung, die wir jetzt gemeinsam überneh-
men – dazu verpflichten wir uns –, müssen wir dann
auch tragen.
Die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth hat für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch meine Rede soll mit einem großen Dankeschön
beginnen, mit einem großen Dankeschön an die vier
Mitberichterstatterinnen, die sich auf Initiative der Kol-
legin Kotting-Uhl hin ab Februar dieses Jahres getroffen
haben, als wir das letzte Mal eine Asse-Debatte hatten;
solche Debatten gab es ja schon wiederholt.
Damals ging es um die Frage, wie schnell denn wohl
die Rückholung erfolgen kann. Es hatte gerade ein Gut-
achten aus dem Bundesamt für Strahlenschutz gegeben,
das signalisiert hatte, dass die Rückholung längst nicht
so schnell, so zügig vonstattengehen könnte, wie man
sich das vorgestellt hatte, sondern dass ein Zeitraum von
ungefähr 30 Jahren ins Auge zu fassen sei, was wiede-
rum zu großer Empörung und großer Verunsicherung in
der Bevölkerung geführt hat.
Die Geschichte der Asse ist tatsächlich eine Ge-
schichte, in der viel Vertrauen in der Region verspielt
worden ist. Die Asse ist von 1967 bis 1978 zur Einlage-
rung von 126 000 Fässern mit schwach- und mittelradio-
aktivem Atommüll genutzt worden. Keiner weiß so ganz
genau, was eigentlich darin ist. Es hat niemals ein atom-
rechtliches Planfeststellungsverfahren gegeben.
Wenn wir hier im Bundestag über diese Frage debat-
tiert haben – ich gehöre diesem Haus nun seit zehn
Jahren an –, war doch noch sehr lange von einem For-
schungsbergwerk die Rede, was die Sache überhaupt
nicht getroffen hat, und es war viel die Rede von politi-
scher Schuldzuweisung, was in der Sache auch nicht ge-
holfen hat. Ich glaube, da sind wir heute viel weiter. Wir
fassen die Probleme, die es ohne Zweifel gibt, an und
lassen die politischen Schuldzuweisungen weg, auch
weil wir wissen, dass sich in dieser Angelegenheit keine
Partei mit Ruhm bekleckert hat. Deshalb noch einmal
ganz herzlichen Dank an meine Mitberichterstatterin-
nen!
Herzlichen Dank aber auch an die Staatssekretärin
Heinen-Esser, die seit Monaten regelmäßigen Kontakt
zur Asse-Begleitgruppe hält! Das war übrigens ihr An-
gebot Anfang dieses Jahres. Sie hat gesagt: Ich bin im-
mer wieder vor Ort und stehe für Fragen zur Verfügung.
Ich stelle mich Ihren Fragen. Lassen Sie uns auf Augen-
höhe konstruktiv miteinander diskutieren! Lassen Sie
uns versuchen, gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu
finden! – Genau das war die Gesprächsatmosphäre, die
wir miteinander hatten. Wir haben alle Fraktionen einge-
bunden. Wir haben die Bürgerinitiative über den Rechts-
anwalt Gassner eingebunden. Das Bundesumweltminis-
terium hat uns in der ganzen Zeit mit Fachbeamten zur
Seite gestanden, wofür ich sehr dankbar bin. Das Land
Niedersachsen hat uns begleitet, zwar aus der Ferne,
aber dennoch sehr intensiv. Jetzt haben wir einen
Gesetzentwurf, von dem wir ausgehen können, dass er
nicht nur auf dem Papier existiert, sondern dass die Maß-
nahmen zur Beschleunigung des bürokratischen Verfah-
rens, das es zur Sicherung von Sicherheitsstandards im
Bereich des Atomrechts ohne Zweifel geben muss,
beitragen.
Ich bin froh, dass wir heute Abend zu dieser Stunde
diese Debatte führen können. In der Debatte am 10. Fe-
bruar hatten wir gefordert, dass es zügiger gehen muss.
Wir hatten einen neuen Schacht gefordert, den
Schacht 5. Von diesem reden wir jetzt selbstverständlich.
Wir haben erreichen können, dass die Planungen für die-
sen Schacht schon jetzt vonstattengehen können, ohne
dass alle notwendigen Vorarbeiten erledigt sind. Wir ha-
ben geschafft, dass die Vergabebedingungen erleichtert
worden sind; das ist ausgesprochen positiv. Wir haben
darüber hinaus bei den letzten Haushaltsverhandlungen
geschafft, dass dem Bundesamt für Strahlenschutz
50 Stellen mehr zugewiesen worden sind. Angesichts
unserer angespannten Haushaltssituation ist das ein
großer Erfolg. Das zeigt tatsächlich, wie interessiert wir
daran sind, dass die Arbeiten in der Asse zügig voran-
gehen.
Auch eines ist richtig: Es war vergleichsweise ein-
fach, diese gesetzgeberische Arbeit zu vollziehen. Nun
muss die Asse geräumt werden, mit allen notwendigen
Vorarbeiten. Wie kompliziert das ist, merken wir, weil
wir seit über sechs Monaten dabei sind, den ersten
Schritt zu einer sogenannten Faktenerhebung vorzuneh-
men. Eine Kammer soll probeweise angebohrt werden,
um festzustellen, was in dieser Kammer liegt und in wel-
chem Zustand die Fässer sind. Seit sechs Monaten gibt
es kein Ergebnis. Das liegt möglicherweise daran, dass
die Kammer zusammengesackt ist, dass das Salz zusam-
mengesintert ist und wir kein Lumen, keinen Hohlraum,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26349
Dr. Maria Flachsbarth
(C)
(B)
finden. Die Schritte, die wir mit der Vereinfachung der
Bürokratie im politischen Konsens erreicht haben, sind
wichtige Vorbedingungen. Damit sind wir ein gutes
Stück des Weges gegangen, aber längst noch nicht das
wichtigste.
Ich will zusagen, dass sich der Deutsche Bundestag,
die Berichterstatterinnen und die Fraktionen mit dieser
Thematik weiterhin intensiv beschäftigen werden. Wir
werden den Fortgang der Arbeiten in der Asse selbstver-
ständlich intensiv beobachten und uns immer wieder im
Umweltausschuss informieren lassen, um festzustellen,
dass Fortschritte gemacht werden. Ich will zusagen, dass
wir jederzeit ansprechbar sind für die Menschen vor Ort,
für die Bürgerinitiativen, die übrigens am 27. November
bei uns waren und mit unserem Berichterstatterinnen den
Gesetzentwurf diskutiert haben. Zu meiner großen
Freude konnte ich breite Zustimmung vernehmen. Ihnen
allen einen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11822 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für
Landwirtschaftsbetriebe ermöglichen
– Drucksachen 17/10099, 17/11381 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Lothar Binding
Dr. Barbara Höll
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11381, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10099 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion,
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch
– Drucksache 17/11726 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/11895 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu nehmen.2) – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11895, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/11726 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-
setzentwurf ist damit mit gleichen Stimmenverhältnissen
wie bei der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Katrin Göring-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des
Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit
Behinderung weiterentwickeln
– Drucksachen 17/7951, 17/10009 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gabriele Hiller-Ohm
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben.3) – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
1) Anlage 12
2) Anlage 13
3) Anlage 14
26350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/10009, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7951
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c sowie
den Zusatzpunkt 6 auf:
21 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines Zulassungsverfahrens
für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen
– Drucksache 17/10960 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11887 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Tobias Lindner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie zu dem Antrag der
Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf
gegen Piraterie zertifizieren und kontrollieren
– Drucksachen 17/9403, 17/11887 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Tobias Lindner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Keul, Marieluise Beck , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Private Sicherheitsfirmen umfassend regulie-
ren und zertifizieren
– Drucksachen 17/7640, 17/8972 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Hans-Christian Ströbele
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schäfer , Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens
und Verbot privater militärischer Dienstleis-
tungen aus Deutschland
– Drucksachen 17/4673, 17/5549 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Hans-Christian Ströbele
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Ich sehe, Sie sind auch hier damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewa-
chungsunternehmen auf Seeschiffen. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11887,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10960 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 17/11887 fort. Tagesordnungspunkt 21 b.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9403 mit dem Titel
„Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf gegen Pi-
raterie zertifizieren und kontrollieren“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 c. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Private Sicher-
heitsfirmen umfassend regulieren und zertifizieren“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8972, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7640 abzulehnen.
1) Anlage 15
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26351
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Internationale Ächtung des Söldnerwe-
sens und Verbot privater militärischer Dienstleistungen
aus Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5549, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4673 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian
Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Geschlechtergerechtigkeit im Lebensver-
lauf
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Marks, Christel Humme, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zeit zwischen den Geschlechtern gerecht
verteilen – Partnerschaftlichkeit stärken
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Erster Gleichstellungsbericht
Neue Wege – Gleiche Chancen
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf
– Drucksachen 17/8879, 17/6466, 17/6240,
17/11761 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön
Caren Marks
Nicole Bracht-Bendt
Heidrun Dittrich
Monika Lazar
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge-
ben.1) – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf der Drucksache 17/11761. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/8879 mit dem Titel „Geschlechtergerechtigkeit im
Lebensverlauf“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/6466 mit dem Titel „Zeit zwischen den Ge-
schlechtern gerecht verteilen – Partnerschaftlichkeit
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 17/6240 mit
dem Titel „Erster Gleichstellungsbericht; Neue Wege –
Gleiche Chancen; Gleichstellung von Frauen und Män-
nern im Lebensverlauf“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Paula, Gabriele Fograscher, Kerstin Griese, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Unterstützung für Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft
– Drucksachen 17/9577, 17/11808 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Heinz Paula
Jens Ackermann
Kornelia Möller
Markus Tressel
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Den Kampf gegen Rechtsextremismus und Frem-
denfeindlichkeit, gegen totalitäre Systeme, gegen
Geschichtsklitterung und dumpfe Gewalt, gegen
rassistisches Gedankengut und die Herabsetzung von
Mitmenschen, diesen wichtigen Kampf, den führen wir
alle gemeinsam und mit ganzer Kraft. Daran besteht in
diesem Haus unter den überzeugten Demokraten kein
Zweifel. 1) Anlage 16
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Dieser Geisteshaltung fühlt sich auch die christlich-
liberale Bundesregierung verpflichtet und lässt Worten
Taten folgen: Sie hat mehr Geld als jede andere Bun-
desregierung für den Kampf gegen Rechtsextremismus
zur Verfügung gestellt.
Beispielhaft möchte ich verweisen auf das Bundes-
programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“
des Bundesfamilienministeriums, das seit 1. Januar
2011 erfolgreich die Arbeit der beiden Vorgängerpro-
gramme „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. für Demo-
kratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“
fortsetzt. Bis einschließlich 2013 stehen im Rahmen
dieses Programms jährlich insgesamt 24 Millionen
Euro zur Verfügung. Die Mittel werden dafür einge-
setzt, ziviles Engagement, demokratisches Verhalten
und den Einsatz für Vielfalt und Toleranz zu fördern.
Auf breiter Basis sollen zum Mitmachen bewegt wer-
den: Kinder und Jugendliche, Eltern, Pädagoginnen
und Pädagogen, staatliche und zivilgesellschaftliche
Akteure sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren.
An ähnlicher Stelle setzt auch das Bündnis für
Demokratie und Toleranz an, gegründet von den Bun-
desministerien des Innern und der Justiz. Als Kernauf-
gabe versteht das Bündnis, „das zivilgesellschaftliche
Engagement für Demokratie und Toleranz – gegen
Extremismus und Gewalt zu sammeln, zu bündeln, zu
vernetzen und ihm eine größere Resonanz in der
Öffentlichkeit zu verschaffen“. Auf diese Weise fun-
giert das Bündnis als „zentraler Ansprechpartner und
Impulsgeber der Zivilgesellschaft in allen Feldern der
praktischen Demokratie- und Toleranzförderung“.
Darüber hinaus fördert das Innenministerium über
das Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teil-
habe“ Projekte zur demokratischen Teilhabe gegen
Rechtsextremismus. Ziel ist, insbesondere in ländli-
chen und strukturschwachen Gegenden eine selbst-
bewusste, lebendige und demokratische Gemein-
wesenkultur zu unterstützen und Demokratie an der
Basis zu fördern. Für dieses Programm stehen 6 Mil-
lionen Euro jährlich zu Verfügung; umgesetzt wird das
Programm durch die Bundeszentrale für politische
Bildung. Die einzelnen Projekte sollen präventiv vor
allem im Vorfeld möglicher extremistischer Gefähr-
dungen agieren und die grundlegenden Bedingungen
für ein gleichwertiges und gewaltfreies Zusammenle-
ben schaffen.
Diese Beispiele, die das entschiedene Handeln der
Bundesregierung belegen, seien vorangestellt – bevor
ich nun auf den uns heute zur Entscheidung vorliegen-
den Antrag „Mehr Unterstützung für Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft“ der SPD-Fraktion
eingehe.
Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD:
Hinter Ihrem Antrag stecken mit Sicherheit ehrenwerte
Ziele. Aber die Unterstützung von Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft, die Sie in Ihrem Antrag
fordern, findet längst statt, ist längst gelebte Realität
in der Branche – flankiert von den eingangs genannten
mannigfachen Initiativen der Bundesregierung.
So haben der Deutsche Hotel- und Gaststätten-
verband, DEHOGA, und das Bundesfamilienministe-
rium einen Ratgeber für die Gastronomie herausgege-
ben, der Gastwirten und Hotelbetreibern ganz konkret
Hilfestellung leistet. In diesem Ratgeber ist unter an-
derem nachzulesen, dass Gastwirte einen eindeutigen
veranstaltungsgebundenen Nutzungszweck im Miet-
vertrag festhalten sollen. Entsprechende Mustermiet-
verträge sind ebenfalls erhältlich. Der DEHOGA und
dessen Landesverbände bieten darüber hinaus umfas-
sende individuelle Beratungsmöglichkeiten.
Verehrte Kollegen von der SPD: Die in Ihrem
Antrag geforderte Informationsbroschüre liegt also
längst vor, bestens für die Bedürfnisse der Zielgruppe
aufbereitet.
Als ebenfalls überholt ist die Forderung des vorlie-
genden Antrags nach einem „Runden Tisch“ zu bewer-
ten: Die geforderte akteursübergreifende Kommunika-
tion ist bereits im vollen Gange – wenn auch offenbar
von der Opposition unbemerkt. Die betroffenen
Akteure haben sich mit den relevanten Entscheidungs-
trägern auf allen politischen Ebenen bereits erfolg-
reich vernetzt.
Noch einen weiteren Punkt kritisiere ich im SPD-
Antrag: Da die Branche aktiv ist und sich selber bes-
tens organisiert, müssen Gastwirte, wie im SPD-
Antrag gefordert, auch nicht erst sensibilisiert werden.
Es gibt – neben bundesweiten Initiativen wie „Ge-
meinsam für Toleranz“ vom DEHOGA-Bundes-
verband, von der Arbeitgebervereinigung Nahrung
und Genuss und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-
Gaststätten – in vielen Regionen zahlreiche Beispiele,
wo Hotelbetreiber und Gastwirte engagiert gegen
rechts auftreten.
„Das Gastgewerbe steht für Weltoffenheit und Tole-
ranz“, so der DEHOGA-Präsident Ernst Fischer.
Diese Aussage unterstütze ich voll und ganz. In keiner
anderen Branche wird das Wort „Gastfreundschaft“
so großgeschrieben, keine andere Branche ist so von
internationaler und kultureller Vielfalt geprägt wie das
Hotel- und Gaststättengewerbe. Das Engagement der
Branche gegen rechts ist genauso entschieden wie das
der christlich-liberalen Bundesregierung. Die Positio-
nierung der Branche gegen rechts erfolgt genauso ein-
deutig wie die der christlich-liberalen Bundesregie-
rung. Das ist gut so, denn gemeinsam sind wir stark
gegen Extremismus.
Während die Branche mit Unterstützung der Bun-
desregierung also längst aktiv geworden ist, stellt die
SPD Forderungen auf, die von der Realität längst
überholt wurden. Während der Antrag also seiner Zeit
hinterherläuft, registriert immerhin der tourismuspoli-
tische Sprecher der SPD-Fraktion, Hans-Joachim
Hacker, die vom Tourismusverband Mecklenburg-
Vorpommern und der DEHOGA gemeinsam gestartete
Initiative gegen rechts. Herr Hacker lobt diese Initia-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26353
Ingbert Liebing
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tive am 10. September 2012 in einer Pressemitteilung
als beispielhaft. Er tut dies zu Recht; bloß warum
findet dieses breite positive Engagement der Branche
keinerlei Erwähnung im Antrag seiner Fraktion?
Zusammenfassend bleibt zu sagen: Wir nehmen das
Thema ernst und haben deshalb viel Gutes auf den Weg
gebracht. Wir werden auch in Zukunft nicht nachlas-
sen, uns gegen Extremismus jeder Form einzusetzen –
in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Gastwirt-
schaft. Wir werden unsere Programme und Initiativen
weiterentwickeln, den Antrag der SPD benötigen wir
dazu nicht. Die SPD-Forderungen sind für uns nicht
nachvollziehbar, zum Teil längst überholt, und – das
gebe ich an dieser Stelle mit Nachdruck zu bedenken –
sie haben das Potenzial, einen falschen Eindruck zu
erzeugen: als ob das Gastgewerbe erst am Anfang
stünde und nur vereinzelt ein paar örtliche Initiativen
sich um die Thematik kümmern würden. Dieses Bild ist
falsch. Die Branche ist viel weiter, als die Antragstel-
ler mit ihrem Antrag suggerieren.
Auch aus diesem Grunde wird die Unionsfraktion
den Antrag der Fraktion der SPD ablehnen.
Fast ein Zehntel der Deutschen haben ein geschlos-
senes rechtsextremes Weltbild. Das ist kein Randpro-
blem mehr, und daher bestürzt es mich in besonderem
Maße, dass die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
eine wichtige Initiative zur Unterstützung der Gast-
wirte und Hoteliers gegen Rechtsextremismus im fe-
derführenden Tourismusausschuss blockiert haben.
Uns allen und damit auch der Regierungskoalition
sollte doch klar sein, dass der Kampf gegen Rechts-
extremismus allerorts, auf allen Ebenen und partei-
übergreifend geführt werden muss. Die Ablehnung die-
ser Initiative statt eines geschlossenen Vorgehens für
unsere freiheitliche Demokratie ist ein verheerendes
Signal an die Rechten und reiht sich ein in das unein-
heitliche Vorgehen der Regierungskoalition hinsicht-
lich des NPD-Verbots oder des Versäumnisses, die Fol-
gefinanzierung der Projekte gegen Rechtsextremismus
zu sichern.
An dieser Stelle möchte ich aber zunächst den ande-
ren Oppositionsparteien meinen Dank aussprechen,
die unsere Initiative befürwortet und mitgetragen ha-
ben. Klar ist, die Bekämpfung der Ursachen für die
weitverbreiteten antidemokratischen und rassistischen
Einstellungen in unserer Gesellschaft erfordert ein
breites Bündel von Maßnahmen. Die Umsetzung unse-
rer Initiative aber wäre ein wichtiger Baustein in dem
Maßnahmenbündel gegen die Verbreitung rechtsextre-
men Gedankenguts gewesen. Und ich möchte hier be-
tonen: Mit einem konzentrierten, bundesweiten Vorge-
hen hätte nicht nur ein klares Zeichen gesetzt, sondern
vor allem eine flächendeckende Wirkung erzielt und
Kosten eingespart werden können.
Worum geht es konkret? Uns geht es um den öffent-
lichen Raum, den rechtsextremistische Gruppen, Or-
ganisationen und Kameradschaften nutzen, um ihre
menschenverachtende Ideologie zu verbreiten und
neue Anhänger zu gewinnen. In öffentlichen Versamm-
lungen, bei Stammtischen, Konzerten oder Lieder-
abenden kann antidemokratisches, rechtsextremisti-
sches Gedankengut verbreitet werden. Es sind
Gastwirte, die ihre Räume zur Verfügung stellen, und
darum müssen sie sensibilisiert, bestmöglich beraten
und unterstützt werden. Oft wissen Gastwirte nicht,
wen sie beherbergen. Trotz bereits existierender unter-
stützender Beratungsnetzwerke in einigen Kommunen,
herrscht unter ihnen andernorts immer noch Unkennt-
nis und Unsicherheit darüber, wie man bereits im Vor-
feld eine Versammlung rechtsextremistischer Gruppen
in den eigenen Räumlichkeiten erkennen und verhin-
dern kann. Immer wieder werden Vorfälle publik, bei
denen rechtsextreme Organisationen unter dem Vor-
wand einer Jubiläums- oder Geburtstagsfeier Räum-
lichkeiten anmieteten und Gastwirte Opfer einer Täu-
schung wurden. Rechtsextreme aber dürfen keine
Gelegenheit mehr bekommen, die Veranstaltungs-
räume von Gaststätten und Hotels für ihre Zwecke zu
missbrauchen. Darum geht es uns in unserem Antrag.
Am 10. November 2012 wurde der diesjährige
Luther-Preis auf Vorschlag der Evangelisch-Lutheri-
schen Kirche in Bayern der Regensburger Initiative
„Keine Bedienung für Nazis“ verliehen. Mit dem
Luther-Preis werden Menschen geehrt, die wie einst
der Reformer unerschrocken gegen Widerstände
kämpfen und für ihre Überzeugungen einstehen. Ein
solch klares Bekenntnis hätte dem Deutschen Bundes-
tag sehr gut angestanden; denn die zivilgesellschaftli-
che Initiative Regensburger Gastwirte hat wahrlich
Vorbildcharakter. Wie wir wissen, hatte sie sich im
Sommer 2010 nach einem brutalen rassistisch moti-
vierten Überfall in einem Regensburger Café gegrün-
det. Bis heute haben an die 160 Gastronomen die Er-
klärung des Bündnisses unterschrieben: „Nazis und
Rassisten haben in unseren Räumen nichts zu suchen.
Wir dulden keine rassistischen, diskriminierenden Äu-
ßerungen in unserem Lokal.“
Einige bayerische Städte sind inzwischen dem Re-
gensburger Vorbild gefolgt. So hat beispielsweise auch
die Allianz gegen Rechtsextremismus in Kooperation
mit dem Menschenrechtsbüro und Integrationsrat der
Stadt Nürnberg in diesem Sommer eine Gastroinitia-
tive gestartet. Ähnlich wie in Regensburg wurden Auf-
kleber an Gastwirte verteilt, mit denen sie an der Tür
demonstrieren können, dass Rassisten in ihren Räum-
lichkeiten keinen Platz finden und nicht bedient wer-
den. Zusätzlich wurde eine Broschüre erstellt, die nicht
nur Tipps enthält, wie sich die Vermietung der eigenen
Räume an rechtsradikale Gruppen verhindern lässt,
sondern auch ausführlich über die Strukturen und ak-
tive Gruppierungen der rechtsextremen Szene in der
Region informiert. Bürgermeister und Landräte in der
Metropolregion sollen sensibilisiert, gastronomische
Betriebe angeschrieben werden.
Ja, es gibt sie, die gut informierten Gastwirte mit
Mut und Zivilcourage. Und es gibt bereits Initiativen,
Zu Protokoll gegebene Reden
26354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Heinz Paula
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um sie zu stärken. Aber es gibt sie längst noch nicht in
allen Städten, in allen Gemeinden oder kleinen Dör-
fern auf dem Lande. Und daher hinkt unser Antrag
auch nicht, wie von einzelnen Kollegen der Regie-
rungskoalition behauptet, der Entwicklung vor Ort
hinterher, sondern geht bereits den nächsten Schritt.
Dem Direktor des Hotels Seegarten in Grünheide
bei Berlin wäre beispielsweise viel Ärger erspart ge-
blieben, wäre er besser informiert gewesen und hätte
im Vorfeld erkannt, wen er sich ins Haus geholt hatte.
Anfang des Jahres hatte er 120 Neonazis bewirtet, die
getarnt als Reisegruppe seine Räumlichkeiten für ei-
nen „Neujahrsempfang“ anmieteten. Im Nachhinein
war der Protest groß, und das Hotel muss nun um sei-
nen guten Ruf kämpfen.
Solche Fälle dürfen sich nicht wiederholen! In kei-
nem Bundesland, in keiner Stadt und in keinem Gast-
hof auf dem Lande! Und daher gilt es, bereits existie-
rende Initiativen bekannter zu machen. Hier ist eine
bundesweite Aufklärungsarbeit und kontinuierliche
Unterstützung dringend erforderlich. Deswegen for-
dern wir eine bundesweite Informationsoffensive, ei-
nen Runden Tisch mit allen Beteiligten, um gezielt und
mit geringem finanziellen Aufwand Probleme zu erör-
tern und weitere Handlungsschritte vorzubereiten.
Es reicht nicht, sich auf den bereits existierenden
Initiativen auszuruhen und herauszustellen, dass kaum
eine Branche so von internationaler und kultureller
Vielfalt geprägt sei wie das Hotel- und Gaststättenge-
werbe. Es stimmt, die Verbände der Branche haben
sich längst gegen Rechtsextremismus in der Gastwirt-
schaft positioniert. In einigen Ländern und Kommunen
wurde im letzten Jahr in verschiedenen Auflagen die
mehr oder weniger gleiche Informationsbroschüre für
Gastwirte herausgebracht. Mobile Beratungsteams in
Berlin, Hamburg, Bremen, Köln oder Frankfurt an der
Oder haben diesen Ratgeber in Zusammenarbeit mit
den Landesverbänden der DEHOGA und/oder NGG
sowie Landeskoordinierungsbüros gegen Rechtsextre-
mismus erstellt. Nicht ohne Grund hat die Koordinie-
rungsstelle Tolerantes Brandenburg beispielsweise vor
wenigen Monaten auch in Brandenburg die Heraus-
gabe der Broschüre „Rechtsextremisten nicht auf den
Leim gehen“ in einer Auflage von 1 500 Stück geför-
dert.
Die Notwendigkeit wurde also erkannt, Gastwirte
mit Informationen zu sensibilisieren und Hilfestellun-
gen an die Hand zu geben. Aber diese Broschüre
wurde nicht in allen Bundesländern aufgelegt, nicht in
allen Städten und Kommunen an Gastwirte verteilt.
Wir fordern daher, dass Mittel und Kräfte gebündelt
und derartige Broschüren bundesweit herausgegeben
werden. Hier könnte die Bundesregierung ein wichti-
ges und bundesweit vernehmbares Signal setzen.
Ein anderes Beispiel aus Mecklenburg-Vorpom-
mern: Dort hat sich der Landestourismusverband zu-
sammen mit dem Landesverband der DEHOGA für die
Auflage der andernorts bereits bekannten Broschüre
stark gemacht. Zurecht betont Jürgen Seidel, der Prä-
sident des Tourismusverbandes, dass Rechtsextreme
potenzielle Gäste abschrecken. Einer Studie zufolge
verursacht der Rechtsextremismus in der Tourismus-
branche Mecklenburg-Vorpommerns einen Schaden in
dreistelliger Millionenhöhe. Auch aus anderen Bun-
desländern, zum Beispiel Sachsen, kennen wir reprä-
sentative Umfragen, die zeigen, dass potenzielle Ur-
lauber sehr wohl wegen rechtsextremer Präsenz,
Übergriffen und Gewalt oder Wahlerfolgen rechter
Parteien ihr Urlaubziel ändern. Ganze Regionen lei-
den unter einem negativen Image. Ein gemeinsames
Vorgehen von Gastwirten und Hoteliers gegen Rechts-
extremismus könnte auch hier ein deutliches Zeichen
setzen und helfen, betroffene Regionen von diesem
Image zu befreien. Daher gilt es, derartiges Engage-
ment flächendeckend, kontinuierlich und langfristig zu
unterstützen.
Und was tut unsere Bundesregierung? Das Bundes-
programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“,
aus dessen Töpfen in einigen Kommunen die Heraus-
gabe der bekannten Broschüre gefördert wurde, läuft
bekanntlich 2013 aus. Leider hat unsere Bundesminis-
terin es versäumt, eine künftige Bewilligung in den
Bundeshaushalt 2013 aufzunehmen und somit die
bruchlose Anschlussfinanzierung für Projekte gegen
Rechtsextremismus zu sichern. Anfang 2014 stehen
fast drei Viertel der Projekte vor dem Aus. Es ist unver-
zeihlich, dass die Bundesregierung Projekten gegen
Rechtsextremismus keine Perspektive bietet.
Wie wir alle wissen, haben aber antidemokratische
und rassistische Einstellungen die Mitte unserer Ge-
sellschaft längst erreicht. Sie gibt es in Städten und auf
dem Lande und, wie uns die jüngsten Ergebnisse der
Studie „Die Mitte im Umbruch“ der Friedrich-Ebert-
Stiftung zeigen, sie sind insbesondere in der jungen
Generation weit verbreitet. Wir alle müssen uns dies
bewusst machen und diesem menschenfeindlichen
Denken und Rassismus in ihren alltäglichen Ausprä-
gungen entgegentreten. Unsere Gastwirte tragen eine
große Verantwortung, denn sie entscheiden, wer ihre
Räume nutzen kann und wer nicht. Es ist nicht unmög-
lich, sich gegen Rechtsextremismus zu wehren.
Die Gastwirte verdienen unsere dauerhafte Unter-
stützung. Eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen
hätte ein starkes Signal für unsere Gastwirte und ge-
gen Rechtsextremismus ausgestrahlt. Schade, dass
diese wichtige Initiative dem parteipolitischen Taktie-
ren der CDU/CSU und FDP zum Opfer gefallen ist und
nicht gemeinsam, parteiübergreifend auf den Weg ge-
bracht werden konnte. Daher verlange ich von allen
Kolleginnen und Kollegen, die unseren Antrag ableh-
nen: Tragen Sie diese Initiative in Ihre Wahlkreise und
Regionen und diskutieren Sie dieses Thema vor Ort mit
Betroffenen, lokalen Akteuren, Netzwerken, Verbänden
und Gewerkschaften!
Rechtsextremisten dürfen Veranstaltungsräume von
Hotels und Gaststätten nicht für ihre Zwecke miss-
brauchen. Nazis müssen draußen bleiben!
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26355
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Dass der Rechtextremismus eine nicht zu unter-
schätzende Bedrohung in Deutschland ist, hat uns die
Geschichte – gerade auch in jüngster Vergangenheit –
immer wieder gezeigt. Daher ist es jetzt besonders
wichtig, in die Zukunft zu blicken und zu verhindern,
dass sich die Geschichte wiederholt.
Daher ist der Grundgedanke des Antrags der SPD
durchaus richtig: Rechtsextreme und rechtsextremisti-
sche Gruppierungen müssen daran gehindert werden,
ihre Ideologien zu verbreiten. Schade ist nur, dass in
dem Antrag nicht wirklich etwas steht, was hierbei hel-
fen würde. Die Frage ist nämlich, ob Gastwirte der ge-
eignete Adressat zur Unterbindung rechtextremer Ten-
denzen sind. Gehen wir von einem durchschnittlichen
Gastwirt in Deutschland aus, so wird dieser sich si-
cher selbst zu helfen wissen, wem er seine Räumlich-
keiten zur Verfügung stellt oder welche Veranstaltun-
gen er duldet. Da helfen ihm dann sicher auch keine
Infobroschüren aus Berlin. Das Geld für diese Maß-
nahmen ist sicher an anderer Stelle besser aufgehoben.
So ist es doch sinnvoller, Kinder und Jugendliche
frühstmöglich und vor allem gründlich aufzuklären,
damit es zukünftig gar keine rechtsextremen Veranstal-
tungen mehr in Deutschland geben wird.
Die Bunderegierung investiert bereits in Maßnah-
men und ist auch dabei, diese noch weiterzuentwickeln
und auszubauen. Runde Tische, wie im Antrag der
SPD gefordert, sind an sich sehr sinnvoll, aber dann
am effektivsten, wenn an diesen Tischen auch wirklich
die Menschen sitzen, die vor Ort betroffen sind. Ein
Alibitisch mit Vertretern aus Bund und Ländern ist
doch wieder nur ein riesiges, rein symbolisches Büro-
kratiemonster, das in der Praxis nichts ausrichtet und
nur sinnlose Kosten verursacht.
Auch gibt es bereits eine sehr hilfreiche Broschüre
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und
der DEHOGA, die genau diese Hinweise enthält und
zudem auch noch nützliche Tipps zum Gebrauch des
Hausrechts und der Gestaltung von Mietverträgen
gibt. Daher halte ich quasi einen Nachdruck dieser
Broschüre auf Kosten des Steuerzahlers für unsinnig.
Am Ende bleibt die Frage: Was möchte die SPD mit
diesem Antrag? Anstatt sich ernsthaft mit dem Pro-
blem, mit der Ursache des Rechtsextremismus zu be-
schäftigen und konstruktive Vorschläge zu machen,
verrennt sie sich, wie so oft, und möchte auf Biegen
und Brechen etwas vermeintlich Neues konstruieren,
indem sie bereits erfolgreiche Maßnahmen, die zum
Teil sogar aus der Bevölkerung selbst kommen, dop-
pelt und Vorschläge macht, die nicht weiterführen.
Nach Recherchen unabhängiger Journalisten sind
seit 1990 über 160 Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland von rechtsextremen Gewalttätern getötet
worden. Dabei stellt die Mord- und Gewaltserie des
NSU den traurigen Höhepunkt einer äußerst besorg-
niserregenden Entwicklung dar. Hier muss wesentlich
entschiedener eingegriffen werden – das sollte hoffent-
lich Konsens hier im Hause sein.
Doch gilt es auch zusammen und entschlossen auf
verschiedenen Ebenen gegen den alltäglichen Rassis-
mus und die Fremdenfeindlichkeit – laut einer im
November vorgestellten Studie der Friedrich-Ebert-
Stiftung betrifft das 25,1 Prozent der Bevölkerung, auf
ganz Deutschland bezogen – und deren Ausbreitung
bis in die Mitte der Gesellschaft vorzugehen. Und da
ist der heute hier zur abschließenden Beratung
stehende Antrag der SPD ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung. Ich finde es jedoch sehr bedauer-
lich, dass es nicht gelungen ist, ein gemeinsames Zei-
chen aller Fraktionen zu setzen und dieses auch in der
Öffentlichkeit zu dokumentieren.
Wir unterstützen diesen Antrag, auch wenn er aus
unserer Sicht noch die eine oder andere Schwachstelle
aufweist. Auf diese habe ich bereits in der ersten
Lesung des Antrags hingewiesen, sodass ich nicht wei-
ter darauf eingehen muss. Doch eine Sache möchte ich
trotzdem nochmals erwähnen, da dies ein ganz wesent-
licher Aspekt im Kampf gegen rechts im Bereich der
Gastronomie ist: Das ist der Umgang mit jenen
Gastwirten, die mit der rechtsextremen Szene sympa-
thisieren bzw. sich dieser zuordnen und ihre Veranstal-
tungsräume, Kneipen etc. gerne und oft für Veranstal-
tungen der rechten Szene zur Verfügung stellen. Hier
brauchen wir klare rechtliche Regelungen, um dage-
gen vorzugehen. Aufklärungsarbeit im Bereich der
Gastronomie und Runde Tische helfen in solchen
Fällen leider nicht weiter.
Es gibt aber auch gute Beispiele. Mich hat sehr ge-
freut, dass die Regensburger Initiative „Keine Bedie-
nung für Nazis“, an der ein Stadtrat der Linken maß-
geblich Anteil hat, sich mittlerweile fast zum
„Exportschlager“ entwickelt hat und inzwischen von
vielen anderen Wirten in Bayern aufgegriffen wurde.
Diese Initiative von 150 Gastronomen Regensburgs
– Reaktion auf einen rassistisch motivierten Übergriff –
wird 2013 den Preis „Das unerschrockene Wort“, der
alle zwei Jahre von den 16 Lutherstädten vergeben
wird, erhalten. Das ist ein deutliches Zeichen an die
Öffentlichkeit. Offensichtlich ist die evangelische Kir-
che hier viel weiter als eine christlich-liberale Koali-
tion, die keinen Handlungsbedarf für die Unterstüt-
zung für Initiativen gegen rechts in der Gastwirtschaft
sieht.
Zwar hat es im Regensburger Fall die Initiative
auch so geschafft, bekannt zu werden und sich zu eta-
blieren, ja sogar zu verbreitern. Jedoch wäre dies
durch eine Förderung und Unterstützung von staatli-
cher Seite sicherlich etwas einfacher und für die Öf-
fentlichkeit auch wirkungsvoller gewesen.
Der Regierungskoalition würde es gut zu Gesicht
stehen, wenn sie sich ein Beispiel an der evangelischen
Kirche nehmen würde und dementsprechend den
Antrag mittragen würde. Doch was tut sie? Sie geht
Zu Protokoll gegebene Reden
26356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Kornelia Möller
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(B)
wieder einmal den falschen Weg und lehnt den Antrag
ab!
Folgendes, meine sehr verehrten Damen und Herrn
von der Koalition, möchte ich Ihnen noch mitgeben:
Anlässlich des CDU-Parteitages hat Ihre Kanzlerin in
ihrer Rede sechsmal das Wort von der „erfolgreichsten
Bundesregierung seit der Wiedervereinigung“ ge-
braucht. Es ist nicht nur peinlich, sondern fahrlässig,
dass Rechtsextremismus als schlimme Bedrohung un-
serer Gesellschaft in dieser Rede überhaupt nicht vor-
kam. Denn Rassismus und Rechtsextremismus und das
Versagen des Sicherheitsapparates in dieser Bezie-
hung, die die gesamte Regierungszeit von Frau Merkel
überschatten, können nun wirklich in keine Erfolgsbi-
lanz gehören. Und dabei weiß niemand so recht, ob
das Wort „Pannenserie“, mit dem sich der Untersu-
chungsausschuss des Bundestages beschäftigen muss,
wirklich der richtige Begriff ist. So viele Zufälle bei
der Bekämpfung der mörderischen Umtriebe des NSU
kann es gar nicht geben.
Dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, den vorliegenden Antrag, der nun wahr-
lich keine großen Kosten verursacht, nicht mittragen
können, ist schon sehr peinlich. Es geht hier auch
darum, ein gemeinsames Zeichen gegen rechts und
dessen Verbreiterung zu setzen – und Sie entziehen sich
dem!
Was bei Ihnen scheinbar symptomatisch ist, wenn es
um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht, ist, dass
Sie diesen verdrehen und umzudeuten versuchen in
einen Kampf gegen „jeglichen Extremismus“, wie
beispielsweise Sie, verehrte Frau Pawelski, dies in
Ihrer Rede am 24. Mai 2012 getan haben. Damit rela-
tivieren Sie in fahrlässiger Weise die Gefahren und das
Gewaltpotenzial, das von rechts ausgeht.
Welche Ausmaße dies annehmen kann, haben wir ja
bei der Mord- und Gewaltserie des NSU in aller Deut-
lichkeit gesehen. Spätestens hieraus müsste sich die
Pflicht aller ergeben, entschieden und auf allen Ebe-
nen gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Und dazu
gehört auch, den Nazis jegliche Möglichkeit zu entzie-
hen, sich und ihr Gedankengut in Form von Veranstal-
tungen, Liederabenden oder sonst wie darzustellen.
Aus unserer Sicht ist ein neuer und verstetigter An-
satz der Auseinandersetzung mit den Gefahren durch
Rechtsextreme notwendig. Wichtigste Punkte dabei
sind eine Stärkung und dauerhafte Absicherung der zi-
vilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rechts-
extremisten, beispielsweise über die Bundespro-
gramme in diesem Bereich sowie die Stärkung der
Bildungsarbeit.
Und noch eines möchte ich Ihnen sagen, verehrte
CSU/CDU-Kolleginnen, die Sie gebetsmühlenartig im-
mer wieder betonen, dass diese Bundesregierung die
meisten Finanzmittel in die Hand nimmt im Kampf ge-
gen rechts: Offenbar reichen Ihre Finanzmittel doch
nicht aus, um einen dauerhaften und kontinuierlichen
Kampf gegen rechts zu gewährleisten. Gerade jene
Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und
Demokratie im Bereich der Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus
finden seit Jahren unter schwierigen finanziellen Be-
dingungen statt, eine langfristige Planung der Arbeit
auf diesem Gebiet wird somit unmöglich gemacht.
So haben die seit 2007 begonnenen Umstrukturie-
rungen der Bundesprogramme gegen rechts zu einer
deutlichen Schwächung der zivilgesellschaftlichen Ar-
beit in diesem Bereich geführt. Hier bedarf es einer
Umsteuerung und einer deutlichen finanziellen Aus-
weitung des staatlichen Engagements. Das ist eine von
uns immer wieder erhobene Forderung nach einer
langfristigen Absicherung der Programme gegen
rechts. Das ist die Basis für die Unterstützung des En-
gagements der Akteure und Initiativen vor Ort und für
einen kontinuierlichen Kampf gegen rechts.
Am 24. Mai diskutierten wir in erster Lesung da-
rüber, wie sich Rechtsextremismus in der Hotel- und
Gastwirtschaft darstellt und welche Gegenstrategien
es gibt. Seitdem haben sich weitere Vorfälle ereignet,
die zeigen: Wachsamkeit und Austausch bleiben not-
wendig, aber es gibt auch Erfolge zu verzeichnen.
So wurden beispielsweise im Juni die dubiosen
Pläne des Rechtsextremisten Christian Bärthel durch
eine gelungene Zusammenarbeit von Polizei und Gas-
tronomie rechtzeitig zerschlagen. Er wollte unter dem
fragwürdigen Motto „Der Holocaust aus biblischer
Sicht“ ein antisemitisches Treffen in Nürnberg abhal-
ten. Als Bärthel und seine Kumpane an der dafür ge-
mieteten Gaststätte eintrafen, waren die Polizisten
schon da und verwehrten den Zutritt. Die Wirtin hatte
die Reservierung zurückgenommen und berief sich auf
ihr Hausrecht. Es war der dritte fehlgeschlagene Ver-
such von Bärthel, eine Lokalität für seine volksverhet-
zenden Vorhaben zu finden.
Solche Erfolge sind auf das Engagement und die
fortschreitende Sensibilisierung in den letzten Jahren
zurückzuführen. Ebenso trugen informative Publika-
tionen und öffentlichkeitswirksame Aktionen dazu bei.
Deshalb ist es gut und wichtig, solche demokratiestär-
kenden Aktivitäten zu unterstützen.
Zu den sehr positiven Beispielen zählt auch der Zu-
sammenschluss von Gastwirten unter dem Motto
„Keine Bedienung für Neonazis“. In mehreren Städten
vernetzten sich engagierte Gastwirte und fördern auf
diese Weise zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen
Rechts. Die von Regensburger Wirten ins Leben geru-
fene Initiative erhält den Preis der Lutherstädte „Das
unerschrockene Wort“. Der mit 10 000 Euro dotierte
Preis wird 2013 in Eisleben verliehen. Die Jury hofft,
dass diese Entscheidung dazu beiträgt, viele andere
Städte zu ähnlichen Aktionen zu ermutigen.
Weitere Unterstützung für Gastwirte kommt von der
DeHoGa, der Gewerkschaft NGG und der Mobilen Be-
ratung gegen Rechtsextremismus Berlin.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26357
Monika Lazar
(C)
(B)
Ihr Ratgeber „Rechtsextremist/innen nicht auf den
Leim gehen. Ein Ratgeber für die Gastronomie und
Hotellerie“ ist in der Praxis eine große Unterstützung.
Auch weitere Publikationen sind verfügbar. So bezieht
beispielsweise die Stadt München in einer 40-seitigen
Broschüre Stellung gegen Nazis. Unter dem Titel „An-
mietungen durch Rechtsextreme“ mit dem Untertitel
„Schutz für Kommunen und Vermieter“ hat sie Rat-
schläge veröffentlicht, wie man unliebsamen Gästen
oder Mietinteressenten begegnet. Auch die „Allianz
gegen Rechtsextremismus“ in der Metropolregion
Nürnberg gibt in der Broschüre „Kein Platz für Ras-
sismus!“ Tipps für Gastronomen und Hoteliers und
stellt klar: Wir zeigen Zivilcourage.
Solche Aufklärung ist vonnöten, denn schon lange
sind Neonazis nicht mehr am äußeren Erscheinungs-
bild erkennbar. Viele Rechtsextreme verfolgen die Stra-
tegie der schleichenden Unterwanderung gesellschaft-
licher Bereiche. Um Kontakte zu knüpfen, in Vereinen
Fuß zu fassen oder in Elternvertretungen gewählt zu
werden, wollen sie sympathisch und unauffällig wir-
ken.
Da diese Verschleierungstaktik häufig zum Tragen
kommt, brauchen Gastwirte klare Hilfestellungen, wie
sie mit unliebsamen Gästen oder Mietinteressenten
umgehen können. Deshalb wurde bereits im Mai im
Plenum das Urteil des Bundesgerichtshofs vom
9. März 2012 mehrfach begrüßt. In dem Urteil wird
klargestellt, dass sowohl Privatleute als auch Unter-
nehmerinnen und Unternehmer ihr Hausrecht grund-
sätzlich frei ausüben dürfen.
Keine Einigkeit konnte jedoch erzielt werden in der
Frage, was unsere Demokratie am meisten bedroht. So
führte damals meine Kollegin Rita Pawelski für die
CDU/CSU aus, unsere freiheitliche demokratische
Grundordnung würde „durch Extremismus herausge-
fordert, von rechts und von links oder durch religiösen
Extremismus.“ Demensprechend müsse der Staat sich
„gegen jede Form des Extremismus starkmachen“. Sie
kritisierte sogar explizit den SPD-Antrag in seinem
klaren Fokus gegen „rechten Extremismus“ als „nicht
nachvollziehbar und gefährlich“.
Diese Position kann ich weder nachvollziehen noch
unterstützen. Ich finde die Verharmlosung der Gefahr
von rechts, die mit der undifferenzierten Nennung an-
derer „Extremismusformen“ einhergeht, unverant-
wortlich.
Gerade vor dem Hintergrund des NSU, aber auch
angesichts der häufigen rechten Musikkonzerte, die
nicht selten in Gewaltexzessen enden, würde ich mir
einen eindeutigen Konsens gegen Rechtsextremismus
und andere damit verbundene Formen gruppenbezo-
gener Menschenfeindlichkeit sehr wünschen.
Während der Haushaltsberatungen haben wir ein
50-Millionen-Programm gegen rechts gefordert. Eine
solide Struktur von zivilgesellschaftlichen Initiativen
vor Ort ist auch wichtig, um unter anderem Gastwirten
bei Fragen, Problemen und Beratungswünschen kom-
petente Anlaufstellen zu bieten.
Rechtsextremismus gefährdet Menschen und schä-
digt die regionale Tourismuswirtschaft. Studien ergaben
Verluste in Milliardenhöhe, weil ausländisch Ausse-
hende Reisen in „braune Angstzonen“ scheuen. Ge-
rade dort brauchen wir lokale Bündnisse, die gegen-
steuern.
Publikationen, Aktionen, runde Tische und ein Mit-
einander von Staat und Zivilgesellschaft auf Augen-
höhe schaffen ein Klima von Toleranz und Weltoffen-
heit. Wo dieses Klima herrscht, fühlen sich Nazis nicht
wohl und bleiben lieber fern – das muss das gemein-
same Ziel von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilge-
sellschaft sein. Der SPD-Antrag weist in diese Rich-
tung und wird deshalb von Bündnis 90/Die Grünen
unterstützt.
Um Rassismus, Rechtsextremismus und andere
menschenfeindliche Haltungen in ganz Deutschland
erfolgreich zurückzudrängen, brauchen wir jedoch
noch weit mehr: eine ausreichende Finanzierung von
Initiativen, eine ersatzlose Streichung der „Extremis-
musklausel“ und eine bundesweite, präventiv ange-
legte Demokratieoffensive.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11808, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9577 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes
– Drucksache 17/10572 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Undine Kurth , Renate
Künast, Bärbel Höhn, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
– Drucksache 17/9783 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
– Drucksache 17/11811 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Alexander Süßmair
Undine Kurth
26358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand der Entwicklung des
Tierschutzes 2011
– Drucksachen 17/6826, 17/11811 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Alexander Süßmair
Undine Kurth
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Än-
derung des Tierschutzgesetzes liegen ein Änderungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Die Linke vor. Über den Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD werden wir spä-
ter namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dieter Stier für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
verabschieden heute die dritte Novelle zum Tierschutz-
gesetz. Wir legen damit die Messlatte in Sachen Tier-
schutz
im internationalen Vergleich noch einmal ein ganzes
Stück höher.
– Lieber Herr Trittin, ich weiß gar nicht, warum Sie zu
später Stunde so schreien. – Derzeit gibt es kein anderes
Land in der Welt, das in Sachen Tierschutz, Tierzucht
und Tierhaltung höhere Standards umgesetzt hat als
Deutschland.
Entscheidend ist jedoch, dass wir innerhalb der Euro-
päischen Union einheitliche Tierschutzstandards errei-
chen wollen, damit die Wettbewerbsfähigkeit gewähr-
leistet ist.
Eine zu ehrgeizige Übererfüllung von EU-Tierschutz-
vorgaben würde eindeutig Wettbewerbsnachteile für
deutsche Tierhalter bewirken.
– Wissen Sie, lieber Herr Trittin, ich hatte eine gute Kin-
derstube. Mir wurde gesagt, ich solle einmal zuhören
und nicht ständig dazwischenrufen. –
Damit würden wir die Nutztierhaltung in Deutschland
gefährden. Ich sage Ihnen deutlich: Wir wollen das
nicht.
Die Union unterstützt weiter gehende, höhere Tier-
schutzstandards in Deutschland auf freiwilliger Ebene,
unter anderem durch Investitionsförderung. Wer freiwil-
lig Ställe unter Berücksichtigung höherer Tierschutz-
standards baut, der erhält höhere Fördersätze. Ich befür-
worte derartige Anreizsysteme auf freiwilliger Basis.
Ich darf Sie an die erst vor kurzem geführte Haus-
haltsdebatte erinnern. Mit der Förderung von Modell-
und Demonstrationsvorhaben in Höhe von 21 Millionen
Euro stellen wir bis zum Jahr 2016 die Weichen für die
Weiterentwicklung eines praktikablen, forschungsbasier-
ten Tierschutzes in der Landwirtschaft. Wir unterstützen
uneingeschränkt die Bemühungen der Bundesregierung
und der Wirtschaft, auf der Grundlage dieser For-
schungsprojekte praxistaugliche Alternativen, insbeson-
dere zur betäubungslosen Ferkelkastration, zu entwi-
ckeln.
Unsere hohen Standards in Deutschland möchten wir
auf den EU-Binnenmarkt übertragen, um damit unsere
europäischen Nachbarländer in Zugzwang zu bringen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26359
Dieter Stier
(C)
(B)
Ich sage ganz deutlich: Es bringt wenig, wenn wir in
Deutschland nur Insellösungen anstreben. Damit würden
wir die Tierhaltung aus Deutschland verbannen.
Lieber Herr Paula, zu Ihren Zwischenrufen: Wenn ich
die heutige Pressemitteilung des SPD-Landesverbandes
Niedersachsen zum Tierschutz lese, dann glaube ich per-
sönlich, dass sich die deutsche Sozialdemokratie von Ar-
beitsplätzen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung be-
reits völlig verabschiedet hat.
Ich jedenfalls setze große Erwartungen in die nächste
WTO-Runde,
damit wir auf dieser Ebene höhere Umwelt- und Tier-
schutzstandards international verankern können. Ich
bleibe auch dabei: Tierschutz verbessern geht nur mit
den Tierhaltern und nicht gegen sie.
– Lieber Herr Trittin, ich mache mir große Sorgen, wenn
wir in wesentlich kürzerer Zeit in diesem Haus die Be-
schneidung von kleinen Jungen ohne sachgemäße Betäu-
bung erlauben, aber eine seit Jahrhunderten bewährte
Kennzeichnungsmethode bei Pferden mit großem Ge-
töse der Opposition verbieten wollen.
Ich meine, hier stimmt irgendetwas in Deutschland
nicht.
Die teilweise emotional geführte Debatte im Tier-
schutzbereich ist in meinen Augen scheinheilig. Wir ha-
ben – Sie waren alle dabei – eine Anhörung zum Gesetz-
entwurf durchgeführt. Der Tierschutzbericht gibt die
Lage in diesem Bereich realitätsnah wieder. Vielen Dank
an die Ministerin, an die Bundesregierung und das
BMELV.
Allerdings zieht die Koalition andere Schlüsse daraus als
die Opposition.
Das ist auch gut so für Deutschland.
Ein wesentlicher Punkt der Tierschutznovelle ist die
Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in deutsches
Recht; ein hoher Schutz der Versuchstiere wird hier ver-
stetigt. Wir stärken zudem die betriebliche Eigenverant-
wortung der Tierhalter. Künftig sollen Landwirte Tier-
schutzindikatoren erheben können und bewerten, um
gegebenenfalls Verbesserungen im Stall vorzunehmen.
Die betäubungslose Ferkelkastration soll noch bis Ende
2018 Bestand haben. Ein Bericht über praxistaugliche
Alternativen soll von der Bundesregierung bis 2016 vor-
gelegt werden. Auch am bewährten Schenkelbrand zur
Kennzeichnung von Pferden halten wir fest.
Ab 2019 wollen wir weitere Verbesserungen durch die
Anwendung lokaler Betäubungsmittel,
die noch entwickelt werden müssen, erreichen. Wir än-
dern auch Regelungen zur Qualzucht. Wir ermöglichen
Verordnungsermächtigungen der Länder bezüglich der
Problematik wildlebender herrenloser Katzen und haben
damit Anregungen des Bundesrates aufgegriffen.
Seit vielen Jahren steht die Union in einem gesell-
schaftlichen Dialog mit den Bürgern und Landwirten,
um den deutschen Tierschutz stetig weiterzuentwickeln,
und zwar mit Erfolg. Mit dem heute zu verabschieden-
den Gesetzentwurf der Koalition haben wir den Spagat
geschafft, höhere Tierschutzstandards im Einklang mit
der gesamten Branche und der Wissenschaft durchzuset-
zen. Darauf können wir stolz sein. Ich bitte Sie deshalb
bei den anstehenden Abstimmungen um Zustimmung zu
unserem Entwurf. Den Gesetzentwurf vom Bündnis 90/
Die Grünen lehnen wir ab.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich konstatiere er-
freut, dass schon zu Beginn dieses Tagesordnungspunk-
tes, über den wir nachher namentlich abstimmen wollen,
so viele Kolleginnen und Kollegen hier im Raum sind.
Schon jetzt wird deutlich, dass in allen Fraktionen bisher
sehr viel Diskussionsbedarf bestand. Offensichtlich ist
auch heute, bis zur Abstimmung, noch Diskussionsbe-
darf vorhanden. Das ist erst einmal das Erfreuliche. Aber
ich bitte sowohl die Rednerinnen und Redner als auch
diejenigen, die sich zuhörend, zwischenrufend oder
sonst irgendwie beteiligend hier im Saal befinden,
einfach darauf zu achten, dass wir uns sowohl bei der
26360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Argumentation als auch bei den Zwischenrufen einer
parlamentarischen Wortwahl befleißigen. Ich will gar
nicht einzelne Dinge, die ich hier gerade identifiziert
habe, im gesamten Rund noch einmal nennen. Ich denke,
auf diesem Wege kommen wir nachher auch zu einer
sachgerechten Entscheidung.
Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Welchen Stellenwert die Regierungskoalition diesem
Thema beimisst, zeigt allein die Tatsache, dass ursprüng-
lich geplant war, diese Debatte um 1.30 Uhr zu führen.
Überdeutlich wurde das auch an den Äußerungen meines
Vorredners, auf die ich nicht weiter eingehen möchte.
Das hat sich erübrigt.
Wir können sehr gut nachvollziehen, dass Sie das
Tageslicht scheuen, bei dem Murks, den Sie uns hier
vorlegen.
Das, was Sie uns hier vorlegen, enthält kaum Verbesse-
rungen für den Tierschutz. Dabei hat die erste Lesung
Anlass zu Hoffnung gegeben, als Kollege Goldmann da-
von sprach, dass wir eine gemeinsame Lösung suchen
würden. Und dann dieses Ergebnis.
Die TZ aus München unterstreicht es deutlich und
klar: „Aigners kastrierte Tierschutzreform.“
Das steht in der gestrigen Ausgabe.
Man muss nur ein paar Punkte herausgreifen und etwas
näher beleuchten, zum Beispiel diesen: Aigner kündigt
ein Ausstellungsverbot von Qualzuchten an. Was macht
Ihre Koalition? Das Verbot wird gestrichen und die Ver-
antwortung an die Fachverbände weitergegeben. Dabei
hatten uns gerade die Fachverbände gebeten, hier klare
Regelungen auf den Weg zu bringen, ähnlich den Rege-
lungen in Österreich.
Zweitens. Aigner verkündet: Schluss mit dem Schen-
kelbrand bei Pferden. Die eigene Koalition sagt: Diese
Verbrennung dritten Grades bleibt.
Das ist angeblich ein Kulturgut. Dabei ist das nichts an-
deres als eine erhebliche Verletzung der Tiere. Letztlich
ist das nur billige Werbung für die Pferdezuchtverbände.
Kollege Goldmann, ich darf Sie zitieren. In der ersten
Lesung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Tier-
schutzgesetzes am 28. September 2012 sagten Sie:
Wenn es tierschutzrechtlich nicht möglich ist, den
Schenkelbrand weiter zu setzen, weil ein Chip das
erfüllt, was wir vom Schenkelbrand erwarten,
dann dürfen wir nicht mehr brennen.
Wenn wir das nicht hier im Parlament entscheiden,
– ich fahre mit dem Zitieren fort –
dann entscheidet es ein Gericht.
Sie bringen ein Gesetz auf den Weg, obwohl Sie schon
jetzt genau wissen, dass es in Kürze ein entsprechendes
Gerichtsurteil geben wird.
Dritter Punkt. Aigner verkündet: Schluss mit der be-
täubungslosen Ferkelkastration. Die Koalition sagt dazu,
Frau Aigner: Ferkel dürfen weiterhin ohne Betäubung
kastriert werden. Dabei gibt es längst zig Alternativme-
thoden: Ebermast, Improvac, Isofluran. Der Impfstoff
Improvac ist in über 50 Ländern zugelassen, wird dort
täglich angewendet und hat sich bestens bewährt.
Warum nehmen Sie nicht endlich die Wirklichkeit zur
Kenntnis? Warum leugnen Sie wider besseres Wissen?
Sie lassen weiterhin millionenfache Tierquälerei zu. Un-
erträglich!
Statt konstruktive Gespräche zu führen und gemein-
same Lösungen zu finden, geriet das gesamte Verfahren
zu einer einzigen peinlichen Farce. Es gab an den Haa-
ren herbeigezogene Pseudoargumente, und anerkannte
wissenschaftliche Studien gegen den Schenkelbrand
werden von Ihnen einfach nicht zur Kenntnis genom-
men. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir alle waren
fassungslos, dass selbst ein Kosmetikexperte für Sie her-
halten musste,
um Ihre speziellen Thesen zu untermauern. Dabei ist
doch offensichtlich, dass Sie mit dem Schenkelbrand
eindeutig gegen die EG-Verordnung 504/2008 versto-
ßen. Ungeniert macht sich die Union aus wahltaktischen
Gründen zum Sprachrohr einzelner Interessengruppen
und streicht aus dem Entwurf der Ministerin die wenigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26361
Heinz Paula
(C)
(B)
von ihr angedachten Verbesserungen. Frau Ministerin,
auf gut Bayrisch: Das war eine mordsdrum Watschn, die
Ihnen Ihre eigene Partei verpasst hat.
Frage an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU und der FDP: Wann kommen Sie endlich im
21. Jahrhundert an?
Merken Sie überhaupt nicht, dass die Menschen längst
eine bessere Tierhaltung einfordern? Sie wollen endlich
Taten statt billiger PR-Aktionen sehen. Kennen Sie ei-
gentlich die Umfrage, die Ihr eigenes Ministerium in
Auftrag gegeben hat, nicht? 89 Prozent der Bevölkerung
wollen mehr Tierwohl und nicht weniger, so wie Sie es
hier vorantreiben wollen.
Auch ist interessant, dass viele Landwirte – im Ge-
gensatz zu Ihnen – schon lange erkannt haben, dass tier-
gerechte Haltung ihre Zukunftsfähigkeit sichert. Aber
sie brauchen jetzt endlich auch wirksame Unterstützung
aus der Politik. Mit einem billigen Weiter-so erweisen
Sie den Bauern in unserem Land wahrlich einen Bären-
dienst. Auch Wirtschaft und Handel sind längst einen
Schritt weiter. Sie wissen es doch: Carrefour, Lidl und
Rewe bieten in Belgien nur noch Fleisch von nicht kas-
trierten Schweinen an. McDonald‘s geht ganz konkret
richtige Schritte. Selbst Wiesenhof führt inzwischen ein
Tierwohllabel ein.
Selbstverständlich ist da noch Luft nach oben, aber im-
mer mehr Anbieter erkennen – im Gegensatz zu Ihnen –
die Zeichen der Zeit.
Werfen Sie doch einmal einen Blick auf die katholi-
sche und die evangelische Kirche. Die 24. Landessynode
der evangelisch-lutherischen Kirche Hannover betont –
ich darf jetzt zitieren –:
Christliche Werte gehen einher mit unserer tiefen
Verantwortung und Verpflichtung für die Mitge-
schöpfe. Wir können die Schöpfung und die Würde
der Tiere nur bewahren, indem wir sie auch schüt-
zen.
– Herr Stier, hören Sie einmal zu; das würde Ihnen sehr
gut tun.
Ich zitiere weiter:
Unabdingbar ist es darum, bei Haltung, Transport
und Schlachtung von Tieren die Angst-, Schmerz-
und Leidfreiheit zu garantieren und alles mensch-
lich und technisch Mögliche dafür zu tun und
bereitzustellen.
Kolleginnen und Kollegen der Union, besinnen Sie
sich doch bitte einmal auf das C in Ihrem Parteinamen,
christlich, und handeln Sie vor allen Dingen entspre-
chend. Nehmen Sie doch endlich auch einmal den Auf-
trag des Grundgesetzes an: Der Staat schützt die Tiere.
Lassen Sie sich nicht ständig von einigen Wortführern
der Agrarlobby, auch in Ihren eigenen Reihen, verein-
nahmen. Sie haben hier und jetzt die große Chance, den
gesellschaftlichen Ansprüchen unserer Zeit gerecht zu
werden und zugleich Weichen für eine zukunftsorien-
tierte Landwirtschaft zu stellen.
Bisher haben Sie die Chance leider verpasst. Sie
haben sämtliche Anträge von uns zur Verbesserung des
Tierschutzes rigoros abgelehnt. Heute haben Sie wiede-
rum die Chance. Stimmen Sie unserem Entschließungs-
antrag zu. Er enthält eine Reihe von Punkten, die sowohl
die Kirchen als auch die Verbände, Ihre Bundesländer
und vor allen Dingen die Menschen im Lande fordern.
Machen Sie endlich Schluss mit überflüssiger Tierquäle-
rei.
Abschließend darf ich Ihnen allen eine schöne Weih-
nachtszeit wünschen. Manchen wünsche ich mehr und
bessere Einsicht im neuen Jahr.
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Paula hat im Hinblick darauf, dass wir
hier fast zu mitternächtlicher Zeit debattieren, gefragt,
ob wir bei diesem Thema irgendwie das Licht des Tages
vermeiden wollten. Ich kann Ihnen sagen: Ich war beim
Thema Tierschutz heute den ganzen Tag unterwegs.
26362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Hans-Michael Goldmann
(C)
(B)
Ich will im Folgenden an dem, was ich heute erlebt
habe, deutlich machen, dass wir gemeinsam dafür sorgen
müssen, Herr Paula, dass wir die Basis unserer Arbeit
– die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz; es
ist im Grunde genommen ein Tierschutzgesetz, um das
uns viele Länder in der Welt und auch viele Länder in
Europa beneiden – nicht verlieren.
Ich war heute Morgen in der Charité. Dort wurde der
31. Tierschutz-Forschungspreis verliehen, und zwar an
einen Forscher, Herrn Dr. Herwig, der sich im Bereich
der Tierversuche und der Tierschutzforschung insgesamt
mit dem Thema beschäftigte: Was kann man an Zellkul-
turen feststellen, um vorbeugend Leberkrebs zu erken-
nen? Die Ideen, die da entstanden sind, sind in besonde-
rer Weise geeignet, den Schutz des Verbrauchers vor
Chemikalien sicherzustellen. Das Verfahren ist darüber
hinaus sehr geeignet, Tierversuche zu ersetzen.
Der Auslöser für dieses Dritte Gesetz zur Änderung
des Tierschutzgesetzes war, dass wir die Tierversuchs-
richtlinie der EU in nationales Recht umsetzen mussten.
Wir sind da auf einem sehr guten Weg, der darauf ab-
zielt, dass möglichst wenig Tierversuche durchgeführt
werden, dass möglichst viele Tierversuche durch alterna-
tive Verfahren ersetzt werden.
Wir sind im Moment dabei, die Chemikalienrichtlinie
der EU umzusetzen; damit verbunden ist die Prüfung
von Tausenden von Chemikalienpräparaten. Heute fin-
den sich in den Produkten eines normalen Baumarktes
mindestens hunderttausend Chemikalien, die der Chemi-
kalienkontrolle unterliegen. Für diese Chemikalienkon-
trolle brauchen wir Tierversuche. Wir sollten uns daher
darauf verständigen, dass wir in diesem Bereich eine
sehr anspruchsvolle Situation haben, die wir durch die
Umsetzung der Richtlinie in diesem Gesetz einer guten
Lösung zuführen. Ich finde, diese Gemeinsamkeiten
sollten hier einmal zum Ausdruck gebracht werden, an-
statt dass Geplänkeldiskussionen geführt werden.
– Ich kann Sie leider nicht verstehen, Frau Roth; aber Sie
können sich gerne melden.
Ich möchte betonen, dass wir innerhalb dieses Dritten
Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes den einen
oder anderen Baustein zu einem guten Tierschutz hinzu-
fügen. Dass das dem einen oder anderen noch zu wenig
ist, akzeptiere ich hundertprozentig.
Ich muss aber ganz ehrlich sagen: Was die Grünen in
ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Tier-
schutzes an Vorstellungen eingebracht haben, ist fern
von jeder Lebensrealität und hat den Kardinalmangel,
dass die Rechte des Tieres, die aus der Verankerung im
Tierschutzgesetz erwachsen, den Rechten des Menschen
aus diesem Gesetz gleichgesetzt werden sollen. Wenn
Sie das machen, dann leitet sich daraus eine Folgeent-
wicklung ab, die nicht die meinige ist.
Ich bin ein Freund von Tieren; aber ich mache schon ei-
nen Unterschied zwischen dem Tier als Mitgeschöpf und
dem Menschen.
Ich finde, man sollte fairerweise sagen: Auch was Sie,
Herr Paula, und was die Linken an Vorstellungen haben,
ist schlicht und ergreifend nicht geeignet, eine vernünf-
tige Tierschutzpolitik in Deutschland fortzusetzen.
Im Ergebnis würde Tierhaltung verlagert in Länder, die
weniger gute Tierschutzansätze haben als wir.
Ich bin ein Liberaler. Deswegen bin ich stolz darauf,
dass in diesem Gesetz, wie es in den Koalitionsverhand-
lungen festgehalten wurde, der Gedanke der Eigen-
verantwortung gestärkt wird. Ich möchte nicht, dass der
Staat oder der Kontrolleur oder der Veterinär – mein
Berufsstand – darüber bestimmt, was Tierschutz ist. Ich
will, dass die Verantwortung bei dem liegt, der das Tier
hält.
– Ja, Frau Künast: Das gilt auch für die Heimtiere. Das
gilt beim kleinen Fifi und das gilt beim Kanarienvogel
genauso viel wie beim Schwein oder beim Rind in der
Nutztierhaltung. Ich finde, da sollten wir uns erst einmal
einig werden und sagen: Der Gedanke der Eigenverant-
wortung wird durch dieses Gesetz wesentlich gestärkt.
Der Gedanke der Eigenverantwortung wird bei den
Bestandskontrollen über Tierschutzindikatoren gesi-
chert. Lieber Herr Trittin, ich weiß, warum Sie vorhin
ein bisschen Tobeanfälle hatten: Das ist nämlich ein
Riesenthema bei der Landtagswahl in Niedersachsen am
20. Januar. Nur, die Tierschutzindikatoren, die in Nieder-
sachsen gelten und von Ihrer Fraktion, den Grünen, be-
grüßt werden, sind in diesem Gesetz verankert.
Lassen Sie mich jetzt noch einen anderen Punkt an-
sprechen, nämlich die sogenannte Qualzucht. Damit
überhaupt keine Diskussion entsteht: Qualzucht ist
verboten, und für qualgezüchtete Tiere gibt es deswegen
natürlich automatisch ein Ausstellungsverbot. Ich bin
aber der Meinung, dass es nicht richtig ist, sozusagen
erst am Ende den Ausschluss des Tieres herbeizuführen,
sondern richtiger wäre es, dass der Züchter darauf achtet,
dass überhaupt keine Qualzucht stattfindet. Das ist ein
anderer gedanklicher Ansatz, der wieder aus dem Ge-
danken der Eigenverantwortung kommt.
Nun noch einmal zur Kastration: Es ist in Ordnung,
wenn wir zu anderen Methoden als die kommen, die wir
im Gesetzentwurf verankert haben. Warum denn nicht?
Bitte schön! NEULAND praktiziert sie schon jetzt, aber
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26363
Hans-Michael Goldmann
(C)
(B)
NEULAND hat einen verschwindend geringen Markt-
anteil, weil der Verbraucher zum Teil nicht bereit ist, den
Preis zu zahlen, der notwendig ist.
– Ja, das stimmt doch.
– Herr Trittin, wenn Sie der Meinung sind, dass das Imp-
fen der Tiere mit Improvac als Kastrationsmethode
marktfähig ist, dann sorgen Sie mit dafür, dass das zum
Tragen kommt. Das können Sie durchaus auf den richti-
gen Weg bringen. Ich meine, beim Thema Kastration
sind wir auf einem guten Weg.
– Herr Trittin, ich weiß nicht, warum Sie jetzt lachen. Ich
bitte darum, dass der eine oder andere vielleicht auch
einmal ein bisschen Respekt hat.
Ich will noch ein Thema ansprechen, das wir bitte ge-
meinsam transportieren. In diesem Gesetzentwurf ist
verankert – –
– Herr Trittin, ich bitte Sie um die Freundlichkeit, mir
zuzuhören.
– Ja, ich finde, Sie sind ein ganz toller Hecht.
Sie haben sich vielleicht mit dem Thema Zoophilie
beschäftigt. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Sie sich mit
diesem Thema beschäftigt haben, aber wenn Sie sich auf
heute Abend vorbereitet haben, dann haben Sie den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgeset-
zes gelesen. Dieser Gesetzentwurf enthält ein Zoophilie-
verbot. Ich meine, wir sollten uns wenigstens dahin
gehend einig sein, dass derjenige, der ein Tier für seine
abartigen sexuellen Neigungen missbraucht und dabei
dem Tier Schmerzen zufügt, bestraft werden soll. Das
muss verboten sein. Das hat nichts mit der Liebe zu ei-
nem Tier zu tun,
sondern damit fügt man dem Tier Leid und Schmerzen
zu.
Deswegen bitte ich Sie auch in diesem Punkt dem Ge-
setzentwurf gegenüber um ein bisschen Fairness. Das ist
ein ordentlicher Gesetzentwurf, der richtige Akzente
setzt, und wir können auf der Basis dieses Gesetzent-
wurfs weiterhin gute Tierschutzarbeit in Deutschland
leisten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Auch ein Gruß an alle, die uns jetzt
noch live im Internet verfolgen.
– Ja, es gibt durchaus einige, die diese Debatte sehr wohl
interessiert, auch wenn sie zu so später Stunde statt-
findet. Den Gefallen, nicht zuzuhören, tun wir und die
Bevölkerung Ihnen nicht.
Wir befassen uns heute mit Ihrem Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes. Es ist schon
erwähnt worden: Anlass war eigentlich die Überführung
der EU-Tierversuchsrichtlinie in deutsches Recht. Aber
was haben Sie gemacht? Sie haben diese Richtlinie nicht
eins zu eins übernommen, sondern dazu benutzt, Ver-
schlechterungen über die Hintertüre einzuführen. Das ist
die Wahrheit!
Meine lieben Damen und Herren von der CDU/CSU und
FDP, dass eine Richtlinie, die zur Verbesserung des Tier-
schutzes gedacht ist, dazu missbraucht wird, Verschlech-
terungen einzuführen, halte ich nun wirklich für einen
absoluten Skandal. Das lehnen wir strikt ab, damit das
klar ist.
Man hätte die Chance nutzen können, eine umfas-
sende Novellierung, Anpassung, Aktualisierung und
Modernisierung des deutschen Tierschutzrechts vorzu-
nehmen. Dazu gibt es wahrlich ausreichend Bedarf.
Das ist ja auch das, was die Ministerin eigentlich tun
wollte. Vor über einem Jahr hat sie das angekündigt, und
im Sommer gab es den Gesetzentwurf. Der Bundesrat,
die Zivilgesellschaft und die Opposition haben dann Än-
derungsbedarf im Interesse des Tierwohls angemeldet.
Was ist dann passiert? Dann haben wir im Ausschuss
von CDU/CSU und FDP einen Änderungsantrag bekom-
men, mit dem letztlich alles gestrichen wurde, was zu ei-
ner entscheidenden Verbesserung des Tierschutzes hätte
beitragen können.
– Nein, ich rede kein dummes Zeug, Herr Goldmann.
26364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Alexander Süßmair
(C)
(B)
Das Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden – gestri-
chen; das Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration
bis 2017 – gestrichen und geschoben auf 2019; Verbot
von Wildtieren in Wanderzirkussen – nichts; eine klare
Definition von Qualzucht und Ausstellungsverbot –
nichts dergleichen.
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, das ist
wirklich ein Armutszeugnis. Nicht nur, dass Sie Ihrer ei-
genen Ministerin in den Rücken gefallen sind, nein, Sie
ignorieren die Erwartungen der Bevölkerung an mehr
Tierschutz, und Sie knicken vor der Agrarlobby, der
Pferdezüchterlobby und vor der Lebensmittelindustrie
ein. Das ist doch die Wahrheit.
Eine solche Politik können wir nur ablehnen.
Wir von der Linken haben einen eigenen Vorschlag
gemacht und einen Entschließungsantrag eingebracht.
Ich möchte hier sechs wichtige Punkte nennen, die für
uns im Zentrum stehen.
Erstens. Wir wollen, dass es keine Tierversuche mehr
mit schweren und langanhaltenden Schmerzen und Lei-
den für Tiere gibt.
Wir wollen, dass Alternativmethoden erforscht werden
und die Forschung verstärkt wird.
Zweitens. Wir wollen ein unverzügliches Verbot der
betäubungslosen Ferkelkastration, weil es geht, und der
Käfighaltung von Geflügel. Wir wollen keine Anbinde-
haltung bei Rindern und keine Verstümmelungen mehr
von Geflügel und Schweinen.
Drittens. Es muss Schluss sein mit den Billiglöhnen
und der Akkordarbeit in Schlachthöfen,
und zwar sowohl im Interesse der Beschäftigten als auch
im Interesse der Tiere.
Viertens. Wir fordern ein Verbot der Haltung von
Wildtieren in Wanderzirkussen und Privathaushalten.
Fünftens. Wir fordern, dass Tiertransporte auf vier
Stunden begrenzt werden.
– Das würde die kommunalen Schlachthöfe stärken und
die Wirtschaftskreisläufe sowie die Wertschöpfung vor
Ort stärken.
– Doch, genau so ist es.
Sechstens brauchen wir eine vernünftige Ausstattung
von Ämtern und Behörden, damit sie endlich dafür sor-
gen können, dass die Einhaltung der geltenden Gesetze
überwacht und durchgesetzt werden kann. Und wir brau-
chen ein Verbandsklagerecht für die Tierschutzverbände.
Meine Damen und Herren, eines möchte ich Ihnen
noch ganz klipp und klar sagen. Sie lehnen wahnsinnig
viele Initiativen zum Tierschutz mit dem Argument ab,
das könne am Markt nicht erzielt werden, das kann nicht
marktkonform umgesetzt werden.
Ja, verdammt noch mal, dann muss der Markt anders ge-
regelt werden.
Dann muss dafür gesorgt werden, dass tiergerechte Pro-
duktion unterstützt wird, dass die Förderpolitik geändert
wird. Dann muss der Markt für Soziales, Ökologie und
mehr Tierschutz verändert werden. Genau in diesem
Sinne haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Dem können Sie für mehr Tierschutz gern zustimmen.
Ihren Gesetzentwurf können Sie sich von mir aus zu
Weihnachten an die Wand hängen oder zu Silvester in
die Luft schießen.
Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Während die Kollegin Künast auf dem Weg zum
Redepult ist, mache ich darauf aufmerksam, dass wir
hier vorne im Präsidium fraktionsübergreifend zu der
Auffassung gelangt sind, dass für alle Kolleginnen und
Kollegen Sitzgelegenheiten im Saal vorhanden sind. Wir
sollten auch den beiden letzten Rednern in dieser De-
batte in der vorhin verabredeten Form folgen, sodass
dann nachher jeder nach bestem Wissen und Gewissen
seine Entscheidung treffen kann.
Kollegin Künast, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Aigner, im Februar 2011 haben Sie ein Tierschutzpaket
versprochen. Was Sie vorgelegt haben, worüber wir
heute abzustimmen haben, ist weder Paket, noch ist es
Tierschutz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26365
Renate Künast
(C)
(B)
Das ist eher ein schwarz-gelber Sarg für die Grundge-
setzbestimmung: Und die Tiere werden geschützt.
Sie haben wenig gewollt, Frau Aigner, und nicht ein-
mal das Wenige, das Sie gewollt haben, durchgesetzt.
Sie haben nicht einmal angefangen, zu kämpfen, Frau
Aigner. Das haben einige Tierschützer in diesem Land
erkannt.
In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sind die je-
weiligen Landesvorsitzenden der Tierschutzvereine aus
der CDU ausgetreten, und sie haben recht daran getan.
Sie, Frau Aigner, haben vor einem Jahr auf der Inter-
nationalen Grünen Woche in Berlin gesagt: „Tieren Leid
zuzufügen, ist nicht zulässig.“
Jetzt frage ich Sie: Und nun, Frau Aigner? – Sie sitzt
lächelnd auf ihrem Platz und lässt hier einen Herrn Stier
reden. Ich warte auf Ihre Entschuldigung für Ihr Niveau,
das mit der Beschneidungsdebatte zusammenzubringen,
Herr Stier. Das geht gar nicht.
Schämen Sie sich!
Er hat behauptet, man wolle jetzt Tierschutz machen,
zum Beispiel mit dem Satz: Wer freiwillig mehr für die
Haltung der Tiere tut, soll auch mehr öffentliches Geld
kriegen. – Falsch: Nur der soll öffentliches Geld kriegen,
der sich auch ans Grundgesetz hält und etwas für die
Tiere tut. Für die anderen wollen wir gar kein öffentli-
ches Geld ausgeben.
Wir stehen auf dem Boden des § 1 des Tierschutz-
gesetzes. Darin heißt es:
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwor-
tung des Menschen
– dafür brauche ich keine Goldmann’sche Philosophie –
für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und
Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem
Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden
oder Schäden zufügen.
Fakt ist: Täglich wird systematisch Leid zugefügt,
nämlich in der Massentierhaltung:
67 Millionen Hühner, 11 Millionen Puten, 35 Millionen
Schweine, 12 Millionen Rinder. Das ist die Wahrheit in
Deutschland.
Sie privilegieren das durch das Baugesetz und durch
Subventionen für Megaschlachthöfe.
– Sie können meinetwegen gleich umfallen, Herr
Goldmann. Ihre Koalition und Sie mit Ihren Bürger-
rechtshaltungen sind sogar noch – –
– Warten Sie mal. Werden eigentlich Dauerzwischenrufe
auf ihre Redezeit angerechnet? – Schade.
Eines muss ich noch sagen. Sie tun so, als würden Sie
als Bürgerrechtspartei oder auch die CDU viel tun. Fakt
ist aber: Herr Stier redet über Wettbewerbsfähigkeit.
Was ist das für eine Wettbewerbsfähigkeit, Herr Stier,
wenn Schwarz-Gelb Hermesbürgschaften für Hühner-
knäste vergibt, die hier verboten sind und dann in Weiß-
russland, einer Diktatur, aufgestellt werden?
Hat das mit wettbewerbsfähig zu tun? Dafür dürfen Sie
doch keine Steuergelder ausgeben! Sie verderben den
Bauern hier das Geschäft, weil dann die Eier aus Weiß-
russland in die Nudeln kommen.
Wo ist der Tierschutz, frage ich mich, wenn die Tiere
so lange zurechtgeschnitten werden, bis sie in die Ställe
und Käfige passen, wenn es Akkordschlachtungen gibt?
Wozu ist das Tierschutzgesetz gut, wenn es nicht einmal
vorschreibt, für die Millionen Tiere, die als landwirt-
schaftliche Nutztiere gehalten werden, eine Verordnung
über die der jeweiligen Tierart entsprechende artgerechte
Haltung zu erlassen?
Wo ist Ihre Strategie dafür, dass die Ställe nicht mehr
in einem Zustand sind, der quasi nach Antibiotikapro-
phylaxe für jedes Tier, ob krank oder nicht, schreit? Das
ist das System, das wir haben. Dazu kann ich Ihnen nur
sagen: Wir haben es satt, so mit den Tieren umzugehen.
26366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Renate Künast
(C)
(B)
Ich will nur noch kurz zwei Aspekte ansprechen, weil
Herr Süßmair und Herr Paula schon vieles genannt ha-
ben. Sie loben das Verbot der Ferkelkastration als toll.
Niedersachsen macht das 2016. Nicht einmal dazu haben
Sie den Mut und setzen ein paar Jahre drauf. Oder neh-
men wir den Schenkelbrand bei Pferden. Jeder Normale
würde einen Transponder implementieren, statt das
Pferd, als wären wir bei Bonanza im Wilden Westen, mit
einem glühenden Eisen zu verbrennen. Wo leben wir
denn?
Ihre Tierschutzgesetznovelle ist der Kniefall vor der
Agrarindustrie und den Pferdezüchtern. Wir wollen, dass
sich endlich die Ställe den Tieren anpassen.
Wir wollen das Ende der Akkordschlachtung. Wir wol-
len, dass Tierhaltung an Flächen und Futter angebunden
wird, und ein Label, damit die Verbraucher endlich an-
ders einkaufen können.
In Ihrem Paket ist kein Tierschutz enthalten. Deshalb
lehnen wir es ab.
Eines ist klar: Das Jahr 2013 wird den Weg für die
nächste Tierschutzgesetznovelle eröffnen, und die ist
den Namen dann auch wert.
Das Wort hat der Kollege Johannes Röring für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird
Zeit, dass wir die Temperatur wieder etwas herunterfah-
ren und die Debatte versachlichen.
Wir setzen heute die Tierversuchsrichtlinie um. Nein,
wir machen noch mehr: Wir verabschieden heute ein
sehr starkes Tierschutzgesetz. Heute ist ein guter Tag für
den Tierschutz in Deutschland.
Es ist wirklich gut, dass die Plenardebatten aufge-
zeichnet werden, insbesondere für die vielen Bäuerinnen
und Bauern in Deutschland.
So können sie ganz genau nachlesen, was heute von die-
ser Stelle aus im Deutschen Bundestag gesagt wurde. Ich
empfehle das auf jeden Fall.
Denn die Wortbeiträge der gesamten Opposition, ins-
besondere von Herrn Süßmair, Herrn Paula und Frau
Künast, waren im Grunde durchsetzt von großem Miss-
trauen gegenüber den 216 100 Tierhaltern in Deutsch-
land, den Bäuerinnen und Bauern,
Misstrauen, Herr Süßmair, gegenüber den Menschen, die
tagtäglich jeden Morgen in den Stall gehen, die ihren Be-
ruf erlernt haben und ihn mit Leidenschaft ausüben.
Ein Landwirt bekommt eine Ausbildung von sechs Jah-
ren, um am Ende ein Fachmann zu sein, der in der Lage
ist, Tiere Tag für Tag zu pflegen.
Sie haben Misstrauen gegenüber Menschen mit langer
Berufserfahrung und langer Tradition im Umgang mit
Tieren. Herr Süßmair, Sie haben auch Misstrauen gegen-
über Hobbytierhaltern geäußert.
Aber auch diese Menschen kümmern sich Tag für Tag
um ihre Tiere, um vielleicht einmal im Jahr mit großem
Stolz ihre Tiere auf Ausstellungen zeigen zu können. Ich
glaube, es ist sehr deutlich geworden, worauf die Oppo-
sition setzt: auf Misstrauen.
Wir setzen auf Vertrauen, also genau auf das Gegen-
teil. Wir trauen den Menschen, die das gelernt haben, die
tagtäglich jeden Morgen und jeden Abend in den Stall
gehen, um sich um ihre Tiere zu kümmern,
und – hören Sie einmal genau zu, Herr Paula! – die auch
leiden, wenn ein Tier krank ist. Ich kenne solche Fami-
lien. Sie sorgen sich um das Wohl ihrer Tiere. Aber Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, skandali-
sieren und emotionalisieren dieses Thema. Es tut den be-
treffenden Menschen nicht gut, wenn man so mit ihnen
umgeht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26367
Johannes Röring
(C)
(B)
Da Sie Ihr Misstrauen so deutlich zum Ausdruck ge-
bracht haben, sage ich Ihnen genauso deutlich: Wir von
der christlich-liberalen Koalition
lehnen ein Verbandsklagerecht eindeutig ab, weil dann
jeder – genau das haben Sie heute bestätigt – Misstrauen
gegenüber Menschen schüren kann, die sich täglich um
Tiere kümmern.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir heute ein mo-
dernes Tierschutzgesetz verabschieden. Frau Ministerin
Aigner hat sich sehr eingebracht und hat mit uns zusam-
men ein modernes Tierschutzgesetz auf den Weg ge-
bracht.
Es eröffnet den Behörden die Möglichkeit, Missstände
zu beseitigen. Genau das wollen wir.
Was mir noch viel wichtiger ist, ist das, was der Geist
dieses Gesetzes ausdrückt.
– Ich merke, dass hier viele anwesend sind, die noch nie
ein Tier im Stall hatten und trotzdem Experten sind.
Ich sage Ihnen noch einmal: Die Menschen, die täg-
lich mit Tieren zu tun haben, nehmen eine große Verant-
wortung wahr.
Es ist nicht so, dass das etwas mit starren Gesetzen zu
tun hat, Frau Künast.
In der Praxis wird Tag für Tag Neues zum Wohle der
Tiere entwickelt.
Ich habe sehr viele Stallanlagen, auch alte, kennenge-
lernt.
– Darf ich weitermachen?
Herr Goldmann, man kann den Eindruck haben, dass
sich der Redner von Ihnen gestört fühlt.
Ich möchte gerne meinen letzten Gedanken zu Ende
bringen. – Schauen Sie sich an, was täglich weiterentwi-
ckelt wird. Die Landwirtschaftsbranche insgesamt macht
sich zusammen mit dem Lebensmitteleinzelhandel Ge-
danken darüber, wie das Tierwohl am besten zu gewähr-
leisten ist.
Das machen sie freiwillig, ohne Vorschriften und Gänge-
lungen, wie Sie von den Grünen sie wollen. Diese Gän-
gelungen sind im Übrigen Ausdruck Ihrer Geisteshal-
tung. Sie trauen den Menschen nichts zu. Wir wissen,
dass diejenigen, die täglich ihre Arbeit machen, mit jeder
Neuinvestition einen Fortschritt erzielen.
Das ist der richtige Weg.
Ich glaube, wir haben ein modernes und gutes Tier-
schutzgesetz auf den Weg gebracht. Ich bitte alle, dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen und
den der Grünen abzulehnen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Tierschutzgesetzes. Der Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11811, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10572 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Än-
derungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Sie finden ihn auf Drucksache 17/11851. Über diesen
werden wir auf Verlangen der Antragsteller namentlich
abstimmen.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass gleich noch
eine weitere namentliche Abstimmung stattfindet.
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? –
Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das es
noch nicht geschafft hat, die Stimmkarte einzuwerfen? –
Das scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, das stringent
26368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
zu versuchen und direkt in Richtung Abstimmungsurne
zu gehen.
Ist immer noch jemand hier, der noch nicht abstim-
men konnte? – Das scheint mir nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die Abstimmung.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung bekannt: Abgegeben wurden 509 Stimmen.
Mit Ja haben gestimmt 210, mit Nein haben gestimmt
298. Es gibt 1 Enthaltung. Damit ist der Änderungsan-
trag abgelehnt.1)
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Ich
habe den Eindruck, dass der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei folgendem Stimmenverhältnis angenom-
men worden ist: Die Koalitionsfraktionen haben zu- und
die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Jetzt kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Das wird jetzt eine Herausfor-
derung, weil viele noch in der Nähe der Urne stehen.
Wer möchte zustimmen und erhebt sich deswegen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer will sich der Stimme enthal-
ten? – Das scheint mir fast niemand zu sein. Damit ist
der Gesetzentwurf bei einem ähnlichen Stimmenverhält-
nis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Zunächst kommen wir zum Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11852. Es ist na-
mentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die Urnen zu besetzen. –
Ist das geschehen? – Alle Urnen sind besetzt. Ich eröffne
die Abstimmung.
Ist denn noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das
die Stimmkarte nicht abgeben konnte? – Jetzt haben alle
ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zum
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/11853. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ab-
gelehnt. Zugestimmt hat die einbringende Fraktion;
enthalten haben sich SPD und Grüne; die Koalitionsfrak-
tionen haben dagegen gestimmt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Neurege-
lung des Tierschutzgesetzes. Der Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11811, den Gesetzentwurf auf Drucksa-
che 17/9783 abzulehnen. Wer möchte zustimmen?
– Entschuldigung. Wer möchte dem Gesetzentwurf zu-
stimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist abgelehnt. Zugestimmt hat die ein-
bringende Fraktion; Linke und SPD haben sich enthal-
ten; die Koalitionsfraktionen waren dagegen. Damit ent-
fällt die dritte Beratung.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/11811 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bun-
desregierung auf Drucksache 17/6826, den Tierschutz-
bericht 2011, zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Das war einstimmig.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Konstantin von
Notz, Volker Beck , Ingrid Hönlinger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängigkeit der Stiftung Datenschutz si-
cherstellen
– Drucksache 17/11825 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Die christlich-liberale Koalition hat mit der Stiftung
Datenschutz, die im ersten Quartal des kommenden
Jahres ihre Arbeit aufnehmen wird, einen äußerst
wichtigen Beitrag für einen modernen und zukunfts-
fähigen Datenschutz in Deutschland geleistet.
Die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt,
sind uns allen bewusst, können aber nicht oft genug
betont werden: eine rasante technische Entwicklung
mit nahezu wöchentlichen Veränderungen und Neue-
rungen, immer größer werdende Datenmengen, die
dank moderner Datenverarbeitung dennoch schnell
1) Die Ergebnisliste wird im Stenografischen Bericht der 215. Sitzung
abgedruckt.
2) Ergebnis Seite 26406 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26369
Stephan Mayer
(C)
(B)
ausgewertet und analysiert werden können, ein welt-
weiter Datenverkehr ohne territoriale Grenzen und
eine Vielzahl von Geschäftsmodellen, bei denen zuneh-
mend statt mit barer Münze mit den eigenen Daten be-
zahlt wird.
Der Schutz der personenbezogenen Daten in der
modernen Kommunikationsgesellschaft ist damit zu ei-
nem der zentralen Themen dieser Zeit geworden. Von
der heute im Vordergrund stehenden Stiftung Daten-
schutz bis hin zum großen Komplex der Novellierung
des EU-Datenschutzrechts verfolgen wir das Ziel eines
modernen, kohärenten und zukunftsfähigen Daten-
schutzes in Deutschland und Europa.
Die Grundpfeiler hierfür müssen meiner festen
Überzeugung nach folgende drei Säulen sein: erstens
Eigenverantwortung und Selbstdatenschutz der Bürge-
rinnen und Bürger; zweitens Selbstverpflichtungen
und Eigeninitiative der Wirtschaft und drittens flankie-
rende, technikneutrale gesetzliche Regelungen.
Die Stiftung Datenschutz wird mittelbar und unmit-
telbar für alle drei Bereiche wichtige Beiträge leisten:
Ein zentraler in der Stiftungssatzung verankerter
Zweck ist dabei die „Stärkung der Bildung im Bereich
des Datenschutzes“ sowie „die Verbesserung des
Selbstdatenschutzes“. Die Sensibilisierung der Bürge-
rinnen und Bürger für die Chancen und Gefahren im
Umgang mit ihren persönlichen Daten ist für mich eine
sehr wichtige und große Herausforderung, deren Be-
wältigung maßgeblich die zukünftige Datenschutzkul-
tur in Deutschland prägen wird. Ich bin daher froh um
jeden Beitrag, der den Bürgerinnen und Bürgern den
großen Wert ihrer personenbezogenen Daten aufzeigt
und zu einem umsichtigen Umgang mit ihnen führt.
Der zweite wesentliche Auftrag der Stiftung ist die
„Entwicklung eines Datenschutzaudits sowie eines
Datenschutzauditverfahrens“. Der Mehrwert eines
deutschlandweit einheitlichen, anerkannten und ver-
lässlichen Zertifizierungsverfahrens liegt auf der
Hand. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern kann
so leicht verständlich aufgezeigt werden, welche Un-
ternehmen auf den Schutz personenbezogener Daten
besonders Wert legen und sorgfältig mit den eigenen
Kundendaten umgehen.
Der Stiftung kommt zudem zugute, dass sie als un-
abhängiger Akteur über Vor- und Nachteile möglicher
Geschäftsmodelle informieren kann. Dass dies ein
langfristiges Erfolgsmodell sein kann, hat die Entwick-
lung der Stiftung Warentest eindrucksvoll belegt.
Die Unternehmen können durch den Nachweis und
das entsprechende Gütesiegel das Vertrauen in die ei-
gene Geschäftstätigkeit steigern und damit letztlich ei-
nen erheblichen Wettbewerbsvorteil erreichen. Ein
hoher Datenschutzstandard wird hier zu einem Stand-
ortfaktor.
Dass somit gleichermaßen Vertrauen und Innova-
tionsfreudigkeit gestärkt werden, ist ein äußerst viel-
versprechender Ansatz, der gemeinsam mit in diesem
Bereich bereits tätigen Institutionen umgesetzt werden
kann.
Auch im Beirat der Stiftung sind entsprechende
fachliche Kompetenzen gebündelt, sodass die Aufstel-
lung eines Kriterienkataloges für die Vergabe eines
Gütesiegels sichergestellt ist.
Der vielseitig besetzte Beirat spiegelt auch das
große Potenzial der Stiftung wider, sowohl für den Be-
reich der Sensibilisierung der Verbraucherinnen und
Verbraucher für den Selbstdatenschutz als auch für
den Bereich der Selbstverpflichtungen und Eigenini-
tiativen der Wirtschaft.
Aber auch für den dritten Bereich des Dreiklanges
– die flankierenden gesetzlichen Regelungen – wird
der Diskussionsprozess im Stiftungsbeirat sicher wich-
tige Impuls liefern können. Da im Beirat der Stiftung
Datenschutz Mitglieder aller Fraktionen des Deut-
schen Bundestages vertreten sind, erhoffe ich mir eine
enge Verzahnung der Aktivitäten der Stiftung auf der
einen und möglichen gesetzgeberischen Maßnahmen
unseres Hohen Hauses auf der anderen Seite.
Letztlich wird auch die sukzessive Fortentwicklung
der Stiftungsarbeit ein dynamischer Prozess sein, der
auch auf mögliche Impulse von innen wie von außen
angemessen reagieren wird.
In dem heute zu debattierenden Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion wird
offen unterstellt, dass der Beirat nicht unabhängig sei
und daher darin „einseitig Interessen vertreten“ wür-
den.
Ich habe während des Prozesses, als die Stiftungs-
satzung erarbeitet wurde, keinen Hehl daraus ge-
macht, dass mir ein kleinerer Beirat lieber gewesen
wäre, da ich der Ansicht bin, dass bei einem Beirat die-
ser Größe die Abstimmungsprozesse, Terminvereinba-
rungen und Sacharbeit durch die große Teilnehmer-
zahl erschwert werden können.
Auf der anderen Seite ist es allerdings durch die
Verteilung der Sitze im Stiftungsbeirat gelungen, das
Maximum an Sachverstand im Bereich des Daten-
schutzes einzubeziehen. Dazu gehören selbstverständ-
lich die Datenschutzaufsichtsbehörden, Verbraucher-
schützer, Vertreter aus der Wissenschaft und Vertreter
der politischen Parteien ebenso wie die datenverarbei-
tende Wirtschaft. Denn die erarbeiteten Konzepte müs-
sen gerade auch praxistauglich sein und nicht bloß
„theoretische Konstrukte“ bleiben.
Ihrer Ansicht nach – ich zitiere – „können seriöse
Unternehmen kein Interesse daran haben, in Fragen
des Datenschutzes und vor allem der Datensicherheit
hinter der guten fachlichen Praxis zurückzubleiben.
Bürgerinnen und Bürger sehen ihre Daten lieber in
den Händen seriöser Unternehmen.“ Diese Aussage
ist sicher zutreffend. Hohe Datenschutzstandards wer-
den sich meiner festen Überzeugung nach auch als
Wettbewerbsvorteil herausstellen. Aber genau deswe-
gen brauchen wir die Stiftung und ihren fachlich hoch-
Zu Protokoll gegebene Reden
26370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Stephan Mayer
(C)
(B)
rangig besetzten Beirat. Sie kann bei der Entwicklung
solcher Konzepte und Standards einen wichtigen Bei-
trag leisten.
Das im Antrag von Ihnen vorgeführte Rechenbei-
spiel, wonach die datenverarbeitende Wirtschaft mit
14 Sitzen von insgesamt 34 Mitgliedern eine „Be-
schlussmehrheit“ haben sollte, kann ich weder mathe-
matisch noch inhaltlich nachvollziehen. Hier werden
Sie wieder einmal zum Verschwörungstheoretiker.
Dies ist umso bedauerlicher, da Sie wissen müssten,
dass sich Datenschützer, Verbraucherschützer, Wissen-
schaftler und Vertreter der Politik mit Sicherheit nicht
zum Erfüllungsgehilfen Einzelner machen werden und
sicher nicht für eine Absenkung des Datenschutzni-
veaus in Deutschland eintreten werden.
Mit Ihren Ausführungen widersprechen Sie übri-
gens auch dem Bundesbeauftragten für den Daten-
schutz und die Informationsfreiheit. Dieser führte in
seinen Tätigkeitsberichten für die Jahre 2009 und
2010 aus, dass der Datenschutz in Deutschland durch
die Stiftung gestärkt werden würde.
Ich vermag daher nicht zu erkennen, wodurch die
Unabhängigkeit der Stiftung oder einzelner Mitglieder
des Beirates eingeschränkt wird. Vielmehr ist das Ge-
genteil der Fall. Der unterschiedliche Hintergrund der
Teilnehmer und ihre eigenen Erfahrungen führen zu ei-
nem vielseitigen und umfassenden Sachverstand im
Bereich des Datenschutzes. Nur mithilfe dieses koope-
rativen Ansatzes ist es überhaupt denkbar, einen um-
fassenden, praxistauglichen und vertrauenswürdigen
Kriterienkatalog für ein Datenschutzgütesiegel sinn-
voll zu erarbeiten.
Ich habe daher kein Verständnis dafür, dass sich
einzelne Akteure selbst der Chance der Mitarbeit und
Mitgestaltung berauben, indem sie die Mitarbeit boy-
kottieren wollen. Der Beirat bietet die Möglichkeit,
alle relevanten Stimmen zu Wort kommen zu lassen und
sollte sich daher nicht durch die unkooperative Ein-
stellung einiger beeinflussen lassen. Insbesondere die
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition fordere
ich eindringlich auf, ihre Verweigerungshaltung ernst-
haft zu überdenken und endlich Verantwortung zu
übernehmen.
In keinem der zahlreichen Gremien, in die der Deut-
sche Bundestag Mitglieder bzw. Beiräte entsendet, ha-
ben sich jemals einseitig die Oppositionsfraktionen
oder die Regierungsfraktionen der Mitarbeit verwei-
gert. Die besondere gesellschaftliche Relevanz des
Themas Datenschutz sowie der große Spielraum, der
in der Stiftung der Ausgestaltung des Beirates inne-
wohnt, stellen für alle Akteure meines Erachtens gera-
dezu eine Verpflichtung dar, sich der gemeinsamen
Verantwortung zu stellen und diese auch gemeinsam
wahrzunehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, es kann nur mitgestalten, wer dabei ist.
Hören Sie daher endlich damit auf, sich zu ärgern,
dass wir diesen wichtigen Baustein auf den Weg ge-
bracht haben! Kommen Sie aus der „Schmollecke“ he-
raus, und beteiligen Sie sich aktiv an dem Prozess zur
Stärkung des Datenschutzes in Deutschland, und neh-
men Sie so Ihre parlamentarische Verantwortung
wahr!
Und wieder einmal ist es der schwarz-gelben Koali-
tion nicht gelungen, ihren großen Ankündigungen im
Bereich des Datenschutzes auch Taten im Sinne der
Bürgerinnen und Bürger folgen zu lassen. Ich kann es
Ihnen nicht ersparen, all das erneut aufzuzählen, was
im Bereich des Datenschutzes während der schwarz-
gelben Regierungszeit passieren sollte und was vor al-
lem nicht passiert ist: Die nicht erfolgte Umsetzung
der E-Privacy-Richtlinie, das Dauerthema Beschäftig-
tendatenschutz, das niemals zustande gekommene
Rote-Linie-Gesetz, welches mit großem Medienrum-
mel angekündigt wurde, und dann sang- und klanglos
in der Versenkung verschwand, und jetzt ihre Verzöge-
rungs- und Blockadehaltung gegenüber einer fort-
schrittlichen EU-Datenschutzregelung. Um nur einige
aufzuzählen. Das alles wollten Sie nun durch ihr groß
angekündigtes Prestigeobjekt Stiftung Datenschutz
wettmachen. Was aber diese Koalition daraus gemacht
hat, ist ein schlechter Witz.
Das gelingt nur Merkels schwarz-gelber Chaos-
truppe: Eine Stiftung Datenschutz ohne Datenschützer
und Verbrauchervertreter!
Dabei sind die Probleme im Bereich Datenschutz
drängender denn je. Viele Menschen haben das Ver-
trauen in Unternehmen, die ihre Daten verarbeiten,
verloren. Und dies nicht zu Unrecht. Man erinnere sich
nur an die Datenskandale bei Telekom und Bahn, an
die immer wieder stattfindenden Verstöße von Google,
Facebook & Co. gegen den Datenschutz oder – wie zu-
letzt – das angekündigte Profiling in sozialen Netzwer-
ken nach der Kreditwürdigkeit durch die Schufa.
Eine Stiftung Datenschutz – richtig umgesetzt –
hätte dazu beitragen können, durch Aufklärungsmaß-
nahmen das Bewusstsein der Bevölkerung für die Sen-
sibilität ihrer Daten zu schärfen sowie einen Beitrag
zur Schaffung unabhängiger Zertifizierungsverfahren
für Qualitätsstandards zu leisten und damit für mehr
Vertrauen beizutragen.
Nicht nur die Fraktionen der SPD und der Grünen
und der Linkspartei haben ihre Mitarbeit im Beirat der
Stiftung aufgrund von fehlender Unabhängigkeit und
Neutralität der gegenwärtigen Stiftungskonstruktion
abgesagt, sondern auch die Datenschutzbeauftragten
des Bundes und der Länder sowie der Bundesverband
der Verbraucherzentralen. Und das zu Recht.
Denn mit ihrer kritiklosen Willfährigkeit gegenüber
der Wirtschaftslobby bei der Konstruktion der Stiftung
Datenschutz haben doch Sie deren Glaubwürdigkeit
und damit dem Datenschutz insgesamt einen „Bären-
dienst“ erwiesen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26371
Gerold Reichenbach
(C)
(B)
Ich erinnere noch einmal, im Vorstand sitzen nur
Regierungsvertreter, natürlich auch das Wirtschafts-
ministerium. Und der Beirat, der zudem noch völlig
überdimensioniert ist, wird erdrückend dominiert von
den Vertretern der Lobbyverbände, der entsprechen-
den datenverarbeitenden Wirtschaft, während den Ver-
braucherschützern nur ein und den Datenschutzbeauf-
tragten von Bund und Ländern lediglich drei Sitze
zugestanden wurden. Sie diskreditieren sich selbst,
wenn Sie nun die ernsthaften Bedenken dieser Organi-
sationen und der Opposition gegen die fehlende Unab-
hängigkeit und Glaubwürdigkeit dieser Stiftungskon-
struktion einfach als „politischen Klamauk“ abtun –
um Sie einmal zu zitieren, liebe Frau Kollegin Piltz.
Das zeugt von politischer „Bunkermentalität“.
Wenn Sie schon nicht auf die Opposition in diesem
Hause hören wollten, die von Anfang an vor der einsei-
tigen Ausrichtung der Stiftung gewarnt hat, dann
müsste es doch zu denken geben, dass genau auch die-
jenigen, die sich seit Jahren in diesem Lande für Fort-
schritte beim Daten- und Verbraucherschutz engagie-
ren, ihrer Form der Stiftung eine eindeutige und klare
Absage erteilt haben.
Das Vorhaben einer Stiftung Datenschutz ist sicher-
lich aller Ehren wert, aber es macht doch nur Sinn,
wenn die Stiftung unabhängig und neutral arbeitet.
Genau dies fordern wir nach ihrem faktisch geschei-
terten Versuch mit unserem Antrag von der Bundesre-
gierung! Dass Sie mit dieser Stiftung lediglich ein von
der Wirtschaft kontrolliertes Gremium geschaffen ha-
ben, ist offenkundig. Man muss nur Ihren eigenen An-
trag zur Stiftung Datenschutz vom 26. Juni dieses Jah-
res heranziehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP.
Dann sieht man genau, wo Sie Ihre Prioritäten set-
zen. Die Wirtschaft wird in ihrem Antrag insgesamt
neunmal erwähnt, die Gesellschaft bzw. Zivilgesell-
schaft insgesamt nur dreimal. Ich darf mit Erlaubnis
der Präsidenten und der Präsidentinnen aus ihrem An-
trag zitieren:
„Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die Er-
richtung einer Stiftung Datenschutz durch die Bundes-
regierung, die damit einen wesentlichen Beitrag zu
Datenschutz und Vertrauen in die Wirtschaft leistet.
Durch die Beteiligung der Wirtschaft trägt die Stiftung
Datenschutz dazu bei, bestmöglich Synergien von pri-
vater und hoheitlicher Betätigung für den Datenschutz
zu erreichen.“
Oder: Die Regierung freut sich über die „aktive
Mitwirkung der Wirtschaft“. Aber genau aus dieser
„Mitwirkung“ ist in Ihrer Stiftungskonstruktion die
Dominanz von Regierung und Wirtschaft geworden,
sodass das ganze Konstrukt der Stiftung gar nicht neu-
tral und unabhängig arbeiten kann.
Was von dem Gedanken einer unabhängigen Stif-
tung zur Förderung des Datenschutzes jetzt übrig
bleibt, ist ein mit Personal ausgestatteter Torso. Der
ist lediglich geeignet für Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
men auf Steuerzahlerkosten nach dem „System
Niebel“. Aber vielleicht reicht ihnen das ja? Zumal auf
den Gängen ja schon gehandelt wird, wer von FDP
und CDU dort mit Posten versorgt werden soll. Wir
werden das sehr genau im Auge behalten!
Und nun wollen Sie uns allen Ernstes vorwerfen,
dass wir uns gegen mehr Orientierung und Transpa-
renz durch ein Datenschutzgütesiegel für die Men-
schen in der Informationsgesellschaft wendeten. Aber
was bei Ihrer Stiftungskonstruktion nur noch heraus-
kommen kann, ist ein Selbstbelobigungssiegel der
selbst betroffenen Wirtschaft, das keinerlei Glaubwür-
digkeit und Vertrauen finden wird. Die Bundestags-
fraktionen von SPD und Grünen haben gefordert und
fordern weiter, ein wirklich unabhängiges, ein Auditie-
rungs- und Gütesiegelgesetz im Sinne von § 9 a BDSG,
um eine verlässliche, unabhängige und datenschutz-
konforme Prüfung und Zertifizierung im Bereich des
Datenschutzes zu schaffen. Das haben Sie abgelehnt,
sehr geehrten Damen und Herren Kollegen von der
Union und der FDP. Sie wollten dies mit Ihrer Stiftung
Datenschutz erreichen, so steht dies zumindest im Ko-
alitionsvertrag! Was dabei herausgekommen ist, sehen
wir jetzt. Genug Zeit dafür hatten Sie doch in den letz-
ten drei Jahren. Nun zu behaupten, dass wir die Ertei-
lung der Gütesiegel durch eine Stiftung nicht wollten
oder das Datenschutzsiegel in der Großen Koalition
auch nicht durchgesetzt hätten, zeugt nur von ihrer ar-
gumentativen Hilflosigkeit.
Dem trete ich entschieden entgegen. Wir befürwor-
ten die Einführung eines bundeseinheitlichen Siegels.
Die Vergabekriterien und Kontrollen müssen aber
eben von einem unabhängigen Gremium, welches qua-
lifiziert und zuverlässig arbeiten kann, erstellt werden.
Dies ist bei ihrer von der Wirtschaft dominierten Stif-
tung nicht der Fall.
Sie postulieren selbst in Ihrem Antrag, dass das so-
genannte Datenschutzgütesiegel nur noch in Abwä-
gung von Verbraucherschutz- und Marktinteressen er-
folgen soll. Schon mit dieser Bedingung nehmen sie
der Stiftung die ihr ursprünglich einmal zugedachte
Kernaufgabe der unabhängigen Gütesiegelerteilung.
Damit wird dem schon fast zahnlosen Tiger ein weite-
rer Zahn gezogen, sodass dieser nunmehr bald eine
Vollprothese braucht.
Die Idee einer Stiftung Datenschutz wird nur gelin-
gen, wenn die Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder bei der Entwicklung der Aufgabenstel-
lung der Stiftung auch entscheidenden Einfluss haben,
damit es nicht zu Kompetenzgerangel oder auch zu ei-
ner Instrumentalisierung der Stiftung gegen die unab-
hängigen Datenschutzaufsichtsbehörden kommen
kann.
Aber auch die Vertreter der Verbraucherschutzorga-
nisationen müssen größeres Gewicht erhalten, nicht
nur um einer sinnvollen Koordination mit deren Ar-
beit, sondern damit auch die Stimme der betroffenen
Verbraucher ein stärkeres Gewicht erhält. Dazu gehört
Zu Protokoll gegebene Reden
26372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Gerold Reichenbach
(C)
(B)
auch, dass die Zahl der Wirtschaftsvertreter deutlich
reduziert und weitere datenschutzkritische Vertreter
auch aus der Zivilgesellschaft eingebunden werden.
Die Finanzierung der weiteren Stiftungsarbeit darf
nicht vom Wohlwollen der betroffenen Wirtschaft ge-
genüber dem zu vergebenden Siegel und dessen Prüf-
kriterien abhängig sein.
Die Stiftung muss materiell in der Lage sein, ihrer
Aufklärungsaufgabe unabhängig und wirksam nachzu-
kommen. Dies darf nicht in Konkurrenz, sondern muss
in Zusammenarbeit mit den Verbraucherschutzorgani-
sationen und den Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder geschehen.
Die SPD ist bereit, eine Stiftung Datenschutz zu un-
terstützen; aber eine, die auch die Unterstützung der
Verbraucher- und Datenschützer und nicht nur der be-
troffenen Wirtschaft hat. Dies haben wir in unserem
Antrag dargelegt und fordern die Regierung auf, dafür
Schritte zu unternehmen. Gehen Sie mit uns den Weg
zu einer Stiftung Datenschutz, die diesen Namen wirk-
lich verdient.
Zunächst einmal muss ich zwei Feststellungen tref-
fen:
Erstens. SPD und Grüne können nicht rechnen. Ich
meine das jetzt ausnahmsweise einmal nicht in Bezug
auf den Haushalt – da wissen wir das ja schon –, ich
meine das jetzt auf eine ganz einfache Rechenopera-
tion bezogen: 34 minus 14. Was dabei herauskommt,
erkläre ich gleich noch ausführlich.
SPD und Grüne haben die Marktwirtschaft nicht
verstanden. Das ist ja jetzt auch nicht völlig neu; aber
es wird in diesem Antrag überdeutlich.
Bevor ich es vergesse: Ich habe noch eine dritte
Feststellung:
Drittens. SPD und Grüne leiden ersichtlich an par-
tieller Amnesie. Denn wer sich einmal anschaut, was
diese Parteien für den Datenschutz getan haben, als
sie selbst an der Regierung im Bund waren – oder auch
das, was sie tun in den Ländern, in denen sie derzeit an
der Regierung sind –, muss sich schon sehr wundern.
Dieser Antrag ist, mit Verlaub, kindisches Trotzge-
habe und zudem noch schlechter Stil. Weder zu rot-
grünen noch zu schwarz-roten Regierungszeiten haben
SPD und Grüne den Datenschutz in unserem Land ent-
scheidend vorangebracht. Keine Bundesregierung, an
der SPD und Grüne beteiligt waren, hat je ein Gütesie-
gel für den Datenschutz auf den Weg gebracht. Jetzt
ein neues Instrument für modernen Datenschutz zu
boykottieren, zeigt, dass es SPD und Grünen nicht um
die Sache geht.
Das ist besonders absurd, weil gerade in diesem
Jahr SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen im Koali-
tionsvertrag vereinbart haben:
„Um die Datenschutzstandards in den Unterneh-
men zu verbessern, wollen wir den Dialog zwi-
schen Wirtschaft, Behörden und dem Landesbeauf-
tragten für Datenschutz und Informationsfreiheit
in Form einer Landesdatenschutzkonferenz orga-
nisieren. Sie soll bei der Erarbeitung eines NRW-
Datenschutzsiegels helfen.“
In NRW also ist es rot-grünes Programm, in einem
kooperativen Ansatz zusammen mit der Wirtschaft den
Datenschutz voranzubringen. Im Bund aber lehnen
dieselben Parteien das ab.
Und schon im Koalitionsvertrag von 2002 zwischen
diesen Parteien wollten sie „prüfen“, ob zur Stärkung
„selbstregulativer Modelle“ beim Datenschutz bei mo-
derner Kommunikation eine „institutionalisierte Platt-
form zur Koordination“ geschaffen werden solle.
Jetzt gibt es nicht nur eine Plattform, sondern eine
mit 10 Millionen Euro Stiftungskapital ausgestattete
Stiftung Datenschutz – und SPD und Grüne haben
keine Lust mehr. Das ist schon ein einmaliger Vorgang.
Wenn es SPD und Grünen wirklich um den Daten-
schutz ginge, würden sie sich konstruktiv einbringen,
statt auf Verweigerungshaltung zu schalten und sich in
die Schmollecke zu stellen.
Es muss für SPD und Grüne wirklich schwer zu er-
tragen sein, dass sich die aktuelle, schwarz-gelbe Bun-
desregierung um den Datenschutz kümmert und mit
der Errichtung der Stiftung ein neues Instrument ge-
schaffen hat, mit dem wir den Herausforderungen der
Informationsgesellschaft beim Schutz persönlicher
Daten der Menschen begegnen. Den Erfolg dieses We-
ges werden SPD und Grüne nicht durch kleinlichen
Neid verhindern. Wir im Rheinland sagen: Man muss
auch mal gönne könne. SPD und Grüne sollten sich
das hinter die Ohren schreiben.
Umso erstaunlicher ist, dass der heute zu beratende
Antrag eigentlich ganz vielversprechend anfängt. Da
ist zu lesen:
„So unterschiedlich die Interessenlagen der Wirt-
schaft auf der einen und der Verbraucherinnen
und Verbraucher auf der anderen Seite in Bezug
auf den Umgang mit personenbezogenen Daten
vielfach sind, gibt es auch Gemeinsamkeiten. So
können seriöse Unternehmen kein Interesse daran
haben, in Fragen des Datenschutzes und vor al-
lem der Datensicherheit hinter der guten fach-
lichen Praxis zurückzubleiben. Bürgerinnen und
Bürger sehen ihre Daten lieber in den Händen se-
riöser Unternehmen als bei solchen, die auf Da-
tenschutz und Datensicherheit keinen Wert le-
gen.“
Genau: Datenschutz ist ein Qualitätsmerkmal für
die Wirtschaft. Die Firmen, die in den letzten Jahren
mit Datenschutzskandalen negativ aufgefallen sind,
haben das leidvoll erfahren. Deshalb ist die Entwick-
lung des Datenschutzgütesiegels ein wichtiger und
richtiger Schritt. Wichtig ist dabei, dass es um einen
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26373
Gisela Piltz
(C)
(B)
bundeseinheitlichen Standard geht. Der Weg von Rot-
Grün, ein NRW-Gütesiegel entwickeln zu wollen, ist in
der Informationsgesellschaft, in der die Menschen im
Internet nicht nur über die Grenzen der Bundesländer
hinweg, sondern über Staatengrenzen und Kontinente
hinweg über das Internet einkaufen oder sich in sozia-
len Netzwerken tummeln, nicht wirklich zielführend.
Aber dann sieht es in dem Antrag ein bisschen aus
wie Kraut und Rüben. Da passen die Feststellungen
nicht zu der Kritik, und erst recht nicht passen die
Schlussfolgerungen. Wenn es so ist, wie eben zitiert,
dann ist es doch gerade im Interesse der Wirtschaft,
dass ein erworbenes Datenschutzgütesiegel seinen
Namen auch verdient und wirklich für Qualität und
hohe Standards steht. Alles andere wäre – schon rein
betriebswirtschaftlich – eine ziemlich witzlose Investi-
tion.
Die Haltung von SPD und Grünen ist in Wirklich-
keit zutiefst wirtschaftsfeindlich und ebenso staats-
gläubig. Die Menschen und die Wirtschaft selbst ent-
scheiden zu lassen, das ist nicht das, was SPD und
Grüne im Sinne haben. Vielmehr meinen diese Par-
teien, dass man die Menschen vor sich selbst und erst
recht vor der Wirtschaft schützen und bewahren muss.
In einer Marktwirtschaft, die zu Wohlstand und sozia-
lem Frieden in unserem Land geführt hat, ist das eine
Haltung, die schlicht nicht einleuchtet.
Aber es geht SPD und Grünen auch nicht darum, et-
was zu machen, was einleuchtend ist oder vernünftig.
Es geht ihnen nur darum, krampfhaft Argumente zu-
sammenzuschreiben, warum sie die Stiftung schlecht
finden könnten. Da ist es dann auch egal, ob die Argu-
mente zusammenpassen oder nicht. Die schwarz-gelbe
Koalition hat hingegen Entscheidungen getroffen, die
zusammenpassen und die den Erfolg der Stiftung si-
chern: – so wird ein Schuh draus – mit einem Stiftungs-
kapital von 10 Millionen Euro und einem jährlichen
Zuschuss von 205 000 Euro.
Da müssen sich SPD und Grüne dann schon ent-
scheiden: Finden sie die Stiftung ohnehin schlecht?
Dann ist es wohl völlig unlogisch, zu beklagen, dass
die Stiftung zu wenig Geld hat. Oder wollen sie mehr
Geld für die Stiftung? Dann müssen sie aber erklären,
warum der Steuerzahler Geld geben sollte für eine In-
stitution, von der sie den Menschen gerade weisma-
chen wollen, dass sie nichts tauge. Beides gleichzeitig
zu kritisieren, passt hinten und vorne nicht zusammen.
Einmal werfen Sie der Stiftung vor, sie sei nicht un-
abhängig, weil sie zu staatsnah sei. Da muss man die
Frage stellen: Wieviel staatsnäher könnte es denn sein
als bei einer staatlichen Vollfinanzierung? Die wollen
Sie doch jetzt. Das heißt, SPD und Grüne wollen lieber
ein politisch steuerbares Institut und eben keine unab-
hängige Stiftung.
Die Möglichkeit der Stiftung, aus der Lizensierung
der zu entwickelnden Zertifizierung sowie aus Zustif-
tungen und Spenden Einnahmen zu generieren, stärkt
im Übrigen ihre Unabhängigkeit. Zumal die Satzung
zweifelsfrei vorschreibt, dass durch die Annahme von
Einnahmen keine Abhängigkeiten entstehen dürfen.
Ich verrate den Kollegen Reichenbach und von Notz
etwas: Sie dürfen jederzeit ihre Diäten ganz oder in
Teilen der Stiftung Datenschutz spenden – oder der
auch die Einnahmen, die Sie aus Ihrer Tätigkeit in Da-
tenschutzbeiräten von Wirtschaftsunternehmen erzie-
len.
Jetzt aber endlich zu den Grundrechenarten:
Der Beirat der Stiftung Datenschutz besteht laut
Satzung aus maximal 34 Mitgliedern. Davon sind 14
aus dem Bereich der datenverarbeitenden Branchen,
nicht nur der Wirtschaft im Übrigen, sondern zum Bei-
spiel auch der spendensammelnden Organisationen.
Wenn ich jetzt 34 minus 14 rechne, dann komme ich
auf 20, also 20 im Vergleich zu 14. Ich weiß jetzt nicht,
wie SPD und Grüne normalerweise Mehrheiten verste-
hen, aber ich erkläre das gerne einmal: 20 ist größer
als 14. Das heißt so viel wie: mehr. Es wird noch bes-
ser: Von diesen 20 gehen allein 3 Sitze an die Daten-
schutzbeauftragten: an ein Mitglied, das vom Bundes-
datenschutzbeauftragten entsandt wird, an ein
Mitglied, das von den Landesdatenschutzbeauftragten
benannt wird, an ein Mitglied, das von den Daten-
schutzaufsichtsbehörden der Länder – also nochmals
von den Landesdatenschutzbeauftragten – benannt
wird. Bleiben noch 17. Von diesen sind 9 vom Bundes-
tag zu benennen, und zwar je nach Fraktionsstärke,
sodass alle Fraktionen vertreten sind. Bleiben noch 6
übrig. Die verteilen sich auf den deutschen Anwaltver-
ein, die öffentliche Verwaltung, das Bundesamt für Si-
cherheit in der Informationstechnik, die Kultusminis-
terkonferenz, die Innenministerkonferenz und die
Kirchen.
Der Beirat ist – und zwar ganz bewusst und auch
richtigerweise – keine Eins-zu-Eins-Nachbildung der
Datenschutzkonferenz von Bund und Ländern: die ha-
ben wir schon, und der wollen wir mit der Stiftung
auch keine Konkurrenz machen. Das wäre weder der
Sache dienlich noch eine effektive Verwendung von
Mitteln und Ressourcen. Der Beirat besteht zu weniger
als der Hälfte der Mitglieder aus Vertretern von Bran-
chen, die mit Daten zu tun haben, darunter auch die
Wirtschaft, die ganz selbstverständlich, wie SPD und
Grüne ja selbst feststellen, kein Interesse daran hat „in
Fragen des Datenschutzes und vor allem der
Datensicherheit hinter der guten fachlichen Praxis
zurückzubleiben“.
Der Beirat ist im Übrigen ein beratendes Gremium.
In dem nach der Vorstellung der schwarz-gelben Ko-
alition eigentlich alle Interessen gehört werden soll-
ten. Dass wir die Interessen von SPD und Grünen dort
jetzt nicht hören werden – tja, ob das für den Daten-
schutz in Deutschland gut oder schlecht ist, diese Ent-
scheidung mag jeder selbst treffen.
Zu Protokoll gegebene Reden
26374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
(C)
(B)
Nachdem nach einer dreijährigen Hängepartie am
29. November, also vor genau zwei Wochen, die Bun-
desregierung und die sie tragende Koalition die von
ihr stets als „Leuchtturmprojekt“ gepriesene Stiftung
Datenschutz sehenden Auges an die Wand gefahren
haben, sind Union und FDP nun eingeschnappt und
spielen beleidigte Leberwurst.
Nur zur Erinnerung: Sie waren es, die mit Ihrer ver-
fehlten Konzeption dafür gesorgt haben, dass die Da-
tenschutzbeauftragten von Bund und Ländern und die
Oppositionsfraktionen beschlossen haben, auf ihre
Sitze im Beirat der Stiftung zu verzichten. Mittlerweile
sind auch der Verbraucherzentrale Bundesverband
und der TÜV ausgestiegen. Nur Sie haben offenbar
den Aufprall noch nicht gehört. Wenn jetzt die Kolle-
gen Mayer und Piltz erklären, schlechter Stil ersetze
keine guten Konzepte, dann kann ich nur sagen, das
trifft den Nagel auf den Kopf. Schlechter Stil war und
ist es, wenn Sie eine Stiftung zusammenzimmern, bei
der es vor Konstruktionsfehlern nur so kracht und von
Unabhängigkeit keine Rede sein kann, und dann von
den Datenschützern oder uns erwarten, wir würden bei
dieser Mogelpackung auch noch mitmachen.
Und von einem guten Konzept kann bei der Stiftung
Datenschutz erst recht keine Rede sein. Wenn über die
Hälfte des insgesamt 25-köpfigen Beirates vom BMI
bestellte Vertreter von Wirtschaftsverbänden sind, ist
die von allen Seiten immer wieder angemahnte not-
wendige Unabhängigkeit einfach nicht gegeben. Das
ist doch klar.
Und wenn Sie tatsächlich mehr Datensicherheit für
die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wür-
den, hätten Sie nicht nur für eine unabhängigere Be-
setzung dieses Gremiums, sondern auch für eine ganz
andere finanzielle Ausstattung sorgen müssen. Ein
Etat von knapp mehr als 250 000 Euro jährlich reicht
doch hinten und vorne nicht, um ernsthaft arbeiten zu
können. Was soll dieser politische Klamauk dann also?
Die Kritik der Datenschutzbehörden des Bundes
und der Länder legt den Kern des Problems frei: Ne-
ben der fehlenden Klärung der Zusammenarbeit der
Stiftung mit den Datenschutzaufsichtsbehörden ist Ihre
Stiftung strukturell auf Gelder der Privatwirtschaft an-
gewiesen. Eine unabhängige Aufgabenwahrnehmung
ist bei einer wirtschaftsfinanzierten Stiftung, von der
jeder annehmen muss, sie erstelle regelmäßig Gefäl-
ligkeitsgutachten für die Unternehmen, nicht möglich.
Das begreift jeder, der an einer Stärkung des Daten-
schutzes in dieser Gesellschaft interessiert ist. Sind Sie
beim Datenschutz schon so auf den neoliberalen Hund
gekommen, dass Sie das nicht mehr erkennen?
Warum auch immer Sie die von Beginn an aus allen
Ecken geäußerte Kritik am Konzept einer BMI-höri-
gen, einseitig Wirtschaftsinteressen zugeneigten und
viel zu dürftig ausgestatteten Veranstaltung stets igno-
riert haben, bleibt jedenfalls Ihr Geheimnis. Wenn Sie
ab und zu mal aus Ihrem ideologischen Elfenbeintürm-
chen hinausgeguckt hätten, wären selbst Ihnen viel-
leicht erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier Licht-
lein aufgegangen.
Viele hatten die Einrichtung einer Bundesstiftung
Datenschutz in Leipzig im Prinzip begrüßt, ihre Um-
setzung aber zu Recht kritisiert. Gegen das prokla-
mierte Ziel, Produkte und Dienstleistungen auf Daten-
sicherheit zu überprüfen und Internetnutzer zu
unterstützen, kann auch niemand ernsthaft etwas ein-
wenden. Eine solche Einrichtung kann, wenn man es
richtig anpackt, bei den Bürgern Wissen und Kompe-
tenz im Umgang mit ihren elektronischen Spuren im
Internet und öffentlichen Leben stärken. Und das ist
bitter notwendig.
Umso bedauerlicher, dass Sie es einfach nicht rich-
tig anpacken. Die ganze Geschichte der Stiftung Da-
tenschutz ist ein Lehrstück in Sachen Unfähigkeit die-
ser schwarz-gelben Bundesregierung. Denn dass Sie
es noch nicht einmal schaffen, Ihr letztes verbliebenes
Datenschutzprojekt umzusetzen, obwohl es von allen
politischen Akteuren im Prinzip unterstützt wird,
spricht Bände.
Nach dem vorläufigen Scheitern der Stiftung stellt
sich nun die Frage, wie es weitergehen soll. Bislang
sitzt die Bundesregierung in ihrem kaputten Spielzeug
und schmollt. Noch war jedenfalls nicht in Erfahrung
zu bringen, wie Sie aus der Nummer wieder heraus-
kommen wollen und welche Konsequenzen Sie bei-
spielsweise aus den bislang bekannt gewordenen Ab-
sagen für den Beirat der Stiftung ziehen.
Grüne und SPD versuchen nun mit dem vorliegen-
den Antrag, Ihnen auf die Sprünge zu helfen. Selbst-
verständlich haben die Kolleginnen und Kollegen es
auch diesmal versäumt, uns vorher zu fragen, ob wir
uns daran beteiligen wollen. Das ist zwar kein fairer
Zug, da Sie ja wissen, dass sich unsere Positionen in
dieser Frage ziemlich nahe sind; aber über Ihren par-
teipolitischen Schatten werden sie wohl bis zum Ende
dieser Legislaturperiode nicht mehr springen. Nichts-
destotrotz: Der Antrag ist inhaltlich sinnvoll. Vernünf-
tiger wäre es aber vielleicht gewesen, wenn man die
unabhängigen Datenschutzbeauftragten finanziell und
personell stärken würde. Jedenfalls besser, als zu ver-
suchen, dieser Bundesregierung zu helfen, ihr ver-
murkstes Spielzeug zu reparieren. Stärkung des Daten-
schutzes heißt eben in erster Linie nicht, zusätzliche
Datenschutzeinrichtungen zu schaffen, sondern es
heißt, die vorhandenen, also die unabhängigen Daten-
schutzbeauftragten effektiv und nachhaltig – und zwar
finanziell, personell und rechtlich – zu stärken.
Um es gleich am Anfang festzuhalten: Diese Regie-
rung war und ist eine Regierung des Nichtstuns im Be-
reich der Bürgerrechte und des Verbraucherschutzes.
Ja, sie ist sogar eine des Abbaus des Schutzniveaus in
diesen Politikfeldern! Zum sich erfreulicherweise ab-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26375
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
zeichnenden Ende ihrer unglücklichen Koalition muss
das mal protokollfest ausgesprochen werden.
Der Reformbedarf ist durch ständige Fortentwick-
lungen nicht nur der Technik, sondern auch durch lau-
fend veränderte Praktiken, etwa in Form von neuen
Geschäftsmodellen und Angeboten im Web, unverän-
dert hoch. Wer in diesen Feldern wenig oder gar nichts
tut, erfüllt einen Unterlassungstatbestand und handelt
schlicht fahrlässig.
Nehmen Sie etwa nur das Beispiel der Videoüber-
wachung. Wenn heute Kameras intelligent werden und
Bewegungsmuster als auch Gesichter automatisiert
erkennen, dann ist das unmittelbar datenschutzrele-
vant. Die bestehenden Normen haben die damit ver-
bundenen Probleme nicht im Blick und müssen inso-
weit dringend nachgebessert werden. Nur durch
proaktive gesetzgeberische Tätigkeiten kann ein eini-
germaßen adäquates Schutzniveau erhalten werden.
Es handelt sich deshalb um ein verbreitetes Missver-
ständnis, das bedauerlicherweise auch in Bürger-
rechtskreisen zum Teil noch anzutreffen ist: nämlich
dass es beim Datenschutz mit einer reinen Abwehrhal-
tung getan wäre. Das Gegenteil ist der Fall.
Und ich wiederhole zur Stiftung, was ich hier im
Plenum bereits im Juni feststellen musste: Niemand
will das von Ihnen vorgestellte Konzept, Sie sind ganz
allein zu Hause! Fast alle haben sich dagegen ge-
wandt, jüngst sogar der TÜV. Die Datenschutzbeauf-
tragten des Bundes und der Länder sehen nicht nur
keinen Mehrwert für den Datenschutz, sondern ver-
zichten gleich auch noch auf die ihnen angebotenen
Beiratssitze. Ähnlich eindeutig ist übrigens die Absage
des Verbraucherzentrale Bundesverbands.
Als Opposition haben wir die Stiftung Datenschutz
stets konstruktiv begleitet. Vor den jetzigen Entwick-
lungen haben wir Sie seit Monaten gewarnt. Sie haben
sämtliche Warnungen stets in den Wind geschlagen
und die Stiftung sehenden Auges an die Wand gefah-
ren. Nun stehen Sie vor einem einzigen Scherbenhau-
fen. Nicht nur haben Sie die Stiftung, trotz gutwilliger
Unterstützung von allen Seiten, nicht auf die politische
Bahn bekommen. Durch das jetzige Konstrukt nehmen
Sie sogar in Kauf, dass das bestehende, bewährte Da-
tenschutzsystem umgangen, ja hintertrieben wird. Wer
so agiert wie Sie, meine Damen und Herren von CDU/
CSU, aber ganz besonders auch von der FDP, darf
sich wirklich nicht wundern, dass ihn in diesem für un-
sere Bürgerrechte so wichtigen Bereich wirklich nie-
mand mehr ernst nimmt.
Und ich frage Sie angesichts dieses desaströsen Er-
gebnisses, wie eine solche Institution, neben allen an-
deren hier bereits ausführlich besprochenen Konstruk-
tionsmängeln, auch nur ansatzweise in der Lage sein
soll, die ihr zugewiesenen Aufgaben tatsächlich wahr-
zunehmen. In Opposition zu allen anderen anerkann-
ten Akteuren in diesem Feld?
Die Wahrheit lautet ganz schlicht und einfach: Sie
wissen es nicht, und Sie wollen es auch nicht mehr wis-
sen. Mit der Stiftung gehen Sie jetzt „mit dem Kopf
durch die Wand“, weil es das Einzige ist, was Ihnen
übrig bleibt, meine Damen und Herren von der Koali-
tion. Ihre Bilanz im Bereich des Datenschutzes weist
nämlich ansonsten nicht ein einziges fertiggestelltes
Projekt auf, und diese armselige Bilanz versuchen Sie
mit der Stiftung jetzt zu kaschieren.
Anstatt endlich alle Beteiligten an einen Tisch zu
bringen und auf ihre Wünsche und Ängste einzugehen,
anstatt endlich die Finanzierung der Stiftung und ihre
Unabhängigkeit sicherzustellen, anstatt endlich die
zahlreichen Absagen ernst zu nehmen und die massi-
ven Fehler, die Sie in Sachen Stiftung gemacht haben,
einzugestehen, anstatt dass Sie endlich das Ziel verfol-
gen, einen tatsächlichen Neustart in Sachen Stiftung zu
initiieren, machen Sie nun das genaue Gegenteil:
Sie sind offenbar tatsächlich entschlossen, so war es
zumindest den Medien dieser Tage zu entnehmen, die
Stiftung in dieser Form ihre Arbeit aufnehmen zu las-
sen. Dem Grundrechteschutz der Bürgerinnen und
Bürger erweisen Sie mit diesem Vorgehen nicht nur ei-
nen Bärendienst, Sie stellen sich darüber hinaus selbst
ein Zeugnis darüber aus, wie wichtig Ihnen als Koali-
tion der verfassungsrechtlich garantierte Schutz der
Bürgerrechte tatsächlich ist. An der derzeitigen
Zusammensetzung des Beirats kann man eindrücklich
erkennen, wer sich durchsetzt, wenn es bei Ihnen
darum geht, wem welcher Stellenwert zugesprochen
wird. Einmal mehr musste der Verbraucher- und
Datenschutz der Bürgerinnen und Bürger hinter ver-
meintlichen Wirtschaftsinteressen hinten anstehen. Ich
spreche an dieser Stelle explizit von „vermeintlichen“
Wirtschaftsinteressen, weil ich der festen Überzeugung
bin, dass Sie mit Ihrem Vorgehen auch der Wirtschaft
keineswegs helfen. Sie haben immer noch nicht ver-
standen, dass hohe Datenschutzstandards heute die
Grundvoraussetzung für die Akzeptanz der Nutzerin-
nen und Nutzer sind und die Implementierung hoher
Standards tatsächlich eine riesige Chance für die deut-
sche Wirtschaft darstellt.
Unser gemeinsam mit der SPD heute vorgelegter
Antrag zur Stiftung Datenschutz erläutert Ihnen noch
einmal die entscheidenden Zutaten für eine richtig ver-
standene Stiftung Datenschutz, die in der Lage ist, ih-
rem Namen auch tatsächlich gerecht zu werden. Das
alles ist zwar nicht neu, wir hatten es in zahlreichen
Debatten bereits dargelegt. Doch es erscheint sinnvoll,
jetzt, rechtzeitig vor Aufnahme der Arbeit der von der
Koalition gebastelten Stiftung, Sie noch einmal mit
Nachdruck daran zu erinnern, was die Stiftung eigent-
lich mal leisten sollte, was sie tatsächlich leisten
könnte.
Im Kern ging und geht es um die Etablierung eines
Gütesiegel- und Auditierungsmarktes für datenschutz-
rechtlich einwandfreie Produkte und Verfahren auch
auf Bundesebene. Der Mehrwert für Unternehmen als
auch Verbraucher ist bekannt und unstreitig. Einzelne
Bundesländer wie Schleswig-Holstein gehen ja bereits
mit gutem Beispiel voran. Der Gesetzgeber selbst ver-
Zu Protokoll gegebene Reden
26376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
weist in § 9 a Bundesdatenschutzgesetz ausdrücklich
auf die Schaffung entsprechender gesetzlicher Grund-
lagen. Sie sind die notwendige Voraussetzung dafür,
dass das Verhältnis entsprechender Angebote zum ord-
nungsrechtlichen Rahmen rechtssicher abgegrenzt
werden kann. Es ist insofern überhaupt nicht nachvoll-
ziehbar, weshalb die Bundesregierung hierzu nichts
vorlegen will.
Damit ein solches freiwilliges Angebot für die Un-
ternehmen als auch Verbraucher gleichermaßen wir-
ken kann, braucht es Vertrauen. Sonst wird es keine
Nachfrage geben. Die beste Art, dieses Vertrauen zu
bekommen, liegt in der unabhängigen Ausgestaltung
der Vergabestelle selbst. Auch soweit man dabei nicht
dem bestehenden unabhängigen Aufsichtssystem ins
Gehege kommen oder gar dahinter zurückfallen
möchte, gibt es keine überzeugende Alternative zur
Unabhängigkeit. Dies gilt sowohl gegenüber der Exe-
kutive als auch gegenüber der Privatwirtschaft selbst.
Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder verfügen bereits über umfängliche Erfahrun-
gen im Bereich von Siegeln und Auditierungen. Es
macht schlicht keinen Sinn, nun an diesen vorbei Stan-
dards etablieren zu wollen, die dann womöglich in ei-
nem aufsichtsbehördlichen Verfahren keinen Bestand
hätten. Damit würde man auch den Unternehmen
Steine statt Brot geben. Man kommt also gar nicht
drum herum, den bestehenden Datenschutzbehörden
einen ganz maßgeblichen Einfluss bei der Ausgestal-
tung einer entsprechenden Institution einzuräumen.
Neben dieser zentralen Aufgabe einer Stiftung Da-
tenschutz lassen sich weitere Aufgaben denken, wenn
diese einen echten Mehrwert mit Blick auf die laufende
Modernisierung des Datenschutzes bieten und nicht im
bestehenden Aufsichtssystem erfüllt werden können.
Hinsichtlich eines möglichen Bildungsauftrages ist
dies angesichts der parallelen Zuständigkeiten der
Aufsichtsbehörden, aber auch angesichts anderweiti-
ger bestehender Strukturen wie zum Beispiel der Bun-
deszentrale für politische Bildung nur sehr begrenzt
sinnvoll.
Bedeutsam hingegen könnte eine unterstützende
Funktion im Bereich der Forschung sein. Datenschutz
durch Technik ist und bleibt ein wichtiges Modernisie-
rungsziel. Hier fehlt es an einer die Projektlandschaft,
Fraunhofer etc., überblickenden und unabhängigen
Stelle, die auch gezielt selbst als Drittmittelgeber auf-
treten und selbst Impulse geben könnte.
Der Unterschied unseres Konzepts zu dem in Kürze
startenden Regierungskonzept dürfte summa summa-
rum recht einfach erklärbar sein: Uns geht es um den
Erhalt und die Effektivierung des durch unsere Grund-
rechtsordnung fest in unserer Gesellschaft verankerten
Datenschutzes. Der schwarz-gelben Bundesregierung
aber geht es allein um eine Alibi- und Feigenblattver-
anstaltung, weil sie zwar politisch den Handlungs-
druck im Feld des Datenschutzes wohl langsam er-
fasst, leider aber, durch ideologische Scheuklappen
beschränkt, den Datenschutz immer noch und allein in
den Kategorien von Wirtschaftshemmnis und Bürokra-
tiekosten zu denken imstande ist. Diese Politik belastet
nicht nur die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, son-
dern mittlerweile auch unseren auf Rechtssicherheit
und zeitgemäße rechtliche Rahmen angewiesenen
Wirtschaftsstandort. Das ist mehr als bedauerlich.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/11825 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Seehandelsrechts
– Drucksache 17/10309 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/11884 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Ingo Egloff
Marco Buschmann
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger
Wiederum sind die Reden zu Protokoll gegeben.
Das bisher geltende Seehandelsrecht basiert in wei-
ten Teilen auf überkommenen, aus dem 19. Jahrhun-
dert, mitunter sogar aus dem Mittelalter stammenden
Rechtsgrundlagen.
Rechtsinstitute wie Partenreederei oder das Verkla-
rungsverfahren haben im Laufe der Zeit an Bedeutung
verloren. Sie werden der Praxis der modernen mariti-
men Wirtschaft nicht mehr hinreichend gerecht. Aller-
dings waren bisher noch einige wichtige Fragen offen.
Im Rahmen des parlamentarischen Gesetzgebungsver-
fahrens fand am 24. Oktober 2012 eine öffentliche An-
hörung von Sachverständigen zu dem Gesetzentwurf
statt. Die überwiegende Zahl der Sachverständigen
sprach sich für die vorgelegte Reform des Seehandels-
rechts aus. Zahlreiche problematische Fragen des Ge-
setzesvorhabens wurden intensiv erörtert.
Mit dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten
Änderungsantrag – Bundestagsdrucksache 17/6224 –
haben wir notwendige Änderungen am Gesetzentwurf
vorgenommen, die sich aus dieser Anhörung ergeben
haben.
Im Einzelnen geht es bei der vorgesehenen Reform
darum, das deutsche Recht den Erfordernissen des
internationalen Wettbewerbs anzupassen. Der Gesetz-
entwurf soll maßgeblich die einschlägigen Vorschrif-
ten für die Frachtschifffahrt und die Personenschiff-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26377
Marco Wanderwitz
(C)
(B)
fahrt modernisieren und somit den Standort
Deutschland in seehandelsrechtlicher Hinsicht stärken.
Die Zahl seehandelsrechtlicher Vorschriften soll auf
etwa die Hälfte reduziert werden. Der Gesetzentwurf
trifft zugleich Vorsorge dafür, dass Entschädigungen im
Geltungsbereich dieses Gesetzes künftig verschuldens-
unabhängig gezahlt werden. Die Haftungshöchstbe-
träge sollen deutlich angehoben werden, von derzeit
164 000 Euro auf 468 000 Euro. Die Zahl der Unfälle
in der Schifffahrt ist indes sehr gering, was sich bei der
Berechnung von Versicherungsprämien auswirkt.
Mit den Anpassungen an die digitale Realität leisten
wir einen sehr wichtigen Beitrag zur Stärkung des
deutschen Seehandels.
Ich danke an dieser Stelle den Mitgliedern der vom
Bundesministerium der Justiz im Jahre 2004 einge-
setzten Sachverständigengruppe zur Reform des See-
handelsrechts für ihre guten und wichtigen Vorarbei-
ten, auf denen der Gesetzentwurf basiert.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz-
entwurf und dem Änderungsantrag der Regierungs-
koalition zu. Wir sind nach der Durchführung der
öffentlichen Sachverständigenanhörung im Rechtsaus-
schuss zu der Überzeugung gelangt, dass Vorarbeiten
der Sachverständigengruppe zu einer grundlegenden
Reform des Seehandelsrechts, die von der damaligen
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im Jahr 2004
eingesetzt wurde, unter Berücksichtigung vereinzelter
Änderungsvorschläge weitgehend erfolgreich zum
Abschluss gebracht werden konnten.
Der Änderungsantrag der Koalition enthält über-
wiegend redaktionelle Änderungen und Verbesserun-
gen, greift aber auch einzelne Anregungen aus der
Sachverständigenanhörung auf. Wir begrüßen hier
insbesondere die Umsetzung der Forderung, dass bin-
nenschifffahrtsrechtliche Verklarungsverfahren, also
die Beweisaufnahme nach einem Schiffsunfall, durch
einen Richter und nicht mehr durch einen Rechtspfle-
ger durchgeführt werden sollen.
Der Entwurf stößt auch bei den beteiligten Kreisen
grundsätzlich auf Zustimmung. Die Spediteure sehen
zwar Probleme mit der sogenannten Containerklausel
in § 504 Abs. 1 Satz 2 HGB-E: Die Haftungssumme
richtet sich danach nach der in den Begleitpapieren
angegebenen Verpackungseinheit. Pro Einheit gilt eine
gesetzlich festgelegte Haftungssumme. Da die Zoll-
bestimmungen inzwischen die Angabe der Palettenan-
zahl nicht mehr genügen lassen, sondern die kleinere
Einheit angegeben werden muss – 200 Kartons pro
Palette –, führt diese Stückhaftung zu einer Auswei-
tung der Haftung. Das ist unbefriedigend. Auch der
Änderungsantrag schafft hier keine Abhilfe. Wir wis-
sen, dass die Containerklausel nicht abänderbar ist,
ohne sich von den international üblichen Regelungen
zu entfernen, was zur Folge hätte, dass deutsches
Recht abbedungen wird. Weil dies nicht sinnvoll er-
scheint, kann eine Lösung des Problems nur außerhalb
des Handelsrechts gefunden werden, etwa im Zoll-
recht.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Reform
des Seehandelsrechts stellt die Weichen für ein moder-
nes und an der Praxis orientiertes Seehandelsrecht.
Das ist das Ergebnis der öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses: denn der Entwurf fand unter den
dort benannten Sachverständigen breiteste Zustim-
mung.
Der Gesetzentwurf fasst das Fünfte Buch des
Handelsgesetzbuches insgesamt neu. Er sieht zudem
eine deutliche Reduzierung der seehandelsrechtlichen
Vorschriften vor. So werden etwa die Partenreederei
als Gesellschaftsform des Seehandelsrechts und das
Verklarungsverfahren, das heißt die eidesstattliche Er-
klärung des Kapitäns nach einem Schiffsunfall, voll-
ständig abgeschafft. Diese Rechtsinstitute sind lange
überholt und haben im modernen Seehandelsrecht kei-
nen Platz mehr.
Lassen Sie mich einzelne Punkte herausgreifen:
Der Entwurf regelt erstmals den häufig genutzten
Seefrachtbrief und die Verwendung elektronischer Be-
förderungsdokumente für Stückgutfrachtverträge.
Die Beförderungsverträge, also Seefrachtverträge
und Personenbeförderungsverträge, sowie die Schiffs-
überlassungsverträge werden im zweiten und dritten
Abschnitt geregelt. Letztere stehen daher systematisch
gleichberechtigt neben den Beförderungsverträgen.
Neu geregelt werden hier vor allem die höchst praxis-
relevanten Schiffsmietverträge – Bareboat-Charter –
und der Zeitchartervertrag.
Die Haftung des Verfrachters richtet sich auch wei-
terhin nach dem Protokoll vom 23. Februar 1968 zur
Änderung der Haager Regeln – „Visby-Regeln“.
Abweichungen ergeben sich jedoch für nautisches
Verschulden, also die Haftung des Verfrachters für ei-
nen von der Schiffsbesatzung bei der Führung oder der
sonstigen Bedienung des Schiffes verschuldeten Scha-
den, sowie bei verschuldetem Feuer an Bord des Schif-
fes. Hier kann der gesetzliche Haftungsausschluss des
Verfrachters allerdings mit Blick auf das Übereinkom-
men der Vereinten Nationen von 2008 über Verträge
über die internationale Beförderung von Gütern ganz
oder teilweise auf See – „Rotterdam-Regeln“ – nicht
aufrechterhalten bleiben. Um im Wettbewerb der
Rechtsordnungen hier keinen Nachteil für das deut-
sche Recht zu begründen, ist es den Vertragsparteien
unbenommen, einen solchen Haftungsausschluss
untereinander, auch in Allgemeinen Geschäftsbedin-
gungen, zu vereinbaren.
Der Gesetzentwurf regelt erstmalig die Rechtsfigur
des „ausführenden Verfrachters“. Dazu zählt nach
§ 509 HGB-E jeder Dritte, der die Seebeförderung
ganz oder teilweise ausführt, wie etwa Hafenum-
schlagsbetriebe. Der ausführende Verfrachter haftet
Zu Protokoll gegebene Reden
26378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Marco Buschmann
(C)
(B)
wie der Verfrachter. Er haftet folglich künftig den
Ladungsbeteiligten nach §§ 509, 498 HGB-E, wobei
der Vorteil der Haftungsbegrenzung des Verfrachters
nach § 504 HGBE ebenfalls für ihn gilt.
Besonders tragische Vorfälle wie der Unfall der
„Costa Concordia“ verdeutlichen, wie wichtig eine
ausgewogene Haftung und eine schnelle und unbüro-
kratische Zahlung für Personenschäden ist. Der
Gesetzentwurf trägt dazu bei, indem er die Personen-
beförderungsverträge in den §§ 536 HGB-E ff. neu
regelt und für Personenschäden eine verschuldensun-
abhängige Haftung normiert. Zusätzlich steigen die
Haftungshöchstbeträge deutlich von 164 000 Euro auf
468 000 Euro. Insgesamt sind damit die Bestimmun-
gen über die Beförderung von Reisenden und ihrem
Gepäck auf See an die Verordnung Nr. 392/2009
über die Unfallhaftung von Beförderern von Reisenden
auf See angeglichen. Darüber hinaus stellt der Gesetz-
entwurf sicher, dass dieses hohe Schutzniveau auch auf
Schiffsbeförderungen Anwendung findet, die nicht un-
ter die EG-Verordnung fallen wie etwa die nationale
Küstenschifffahrt und die Binnenschifffahrt.
Daher empfehle ich dem Haus, dem Gesetzentwurf
zuzustimmen.
Das Seehandelsrecht wird endlich grundlegend re-
formiert und modernisiert. Das ist gut und richtig;
denn wie im Gesetzentwurf selbst erkannt, ist das deut-
sche Seehandelsrecht veraltet und schwer verständ-
lich. Die Novelle schafft unter anderem die rechtlichen
Voraussetzungen für elektronische Frachtdokumente
und regelt einige Haftungsfragen neu. Die Zahl see-
handelsrechtlicher Vorschriften sollte auf ungefähr die
Hälfte reduziert werden.
Nach der parlamentarischen Beratung und der öf-
fentlichen Anhörung zum 24. Oktober im Rechtsaus-
schuss wurde eines deutlich: Moderner wird unser
Seehandelsrecht, aber es bleibt genauso schwer ver-
ständlich. Der 248-seitige Gesetzentwurf, den Sie uns
im Mai diesen Jahres vorgelegt haben, wurde in der
parlamentarischen Beratung zwar auf 145 Seiten ein-
gedampft, aber vor sechs Tagen mit einem 119-seitigen
Änderungsantrag der Koalitionsfraktion zum eigenen
Regierungsentwurf wieder ergänzt. Seit gestern liegt
uns dazu auch der 130-seitige Bericht des Rechtsaus-
schusses vor.
Der Prozess der Überarbeitung des Seehandels-
rechts hat sich hingegen über acht Jahre hingezogen
und ist das Ergebnis der noch durch Bundesministerin
Zypries 2004 eingesetzten Sachverständigengruppe.
2009 war diese Gruppe fertig mit ihren Beratungen;
doch anscheinend hat die Regierung drei Jahre ge-
braucht, die Ergebnisse zu lesen. Dem Parlament blieb
für ihre 119-seitigen Änderungen nicht mal eine Wo-
che.
Doch wofür wird dieser Aufwand eigentlich betrie-
ben? Von den Regierungsfraktionen wird immer wie-
der betont, dass die deutsche Handelsflotte zu den
größten weltweit gehört, und die Wichtigkeit unterstri-
chen. In der Tat gehören aktuell 3 587 Schiffe deut-
schen Eignern, doch die wenigsten davon fahren unter
deutscher Flagge. Doch für die Haftungsfragen der
Frachtverträge ist nur wesentlich, welche Schiffe unter
deutscher Flagge und damit unter deutschem Recht
fahren. Dies gilt für maximal für 335 Frachter und 119
sonstige Handelsschiffe – Stand 30. November 2012 –,
sofern sie kein anderes Handelsrecht vereinbart ha-
ben. Es ist nämlich ein dispositives Recht. Es steht den
Vertragsparteien frei, auch etwas anderes zu vereinba-
ren. Davon wird auch häufig Gebrauch gemacht; denn
unser Seehandelsrecht ist so kompliziert, dass ein
Streitfall oft nur mit richterlicher Rechtsfortbildung
gelöst werden kann. Die praktische Bedeutung des
deutschen Seehandelsrechts ist dadurch minimal.
Wie schon in der ersten Lesung am 27. September
im Parlament betont, war man international wieder
einmal schneller als Deutschland und hat bereits Ende
2008 eine „UN-Konvention über Verträge über die in-
ternationale Beförderung von Gütern ganz oder teil-
weise auf See“ verabschiedet, die sogenannten Rotter-
dam-Regeln. Mit diesen Regeln sollte ein modernes
und international einheitliches Seefrachtrecht ermög-
licht werden. Doch dieses Abkommen ist nicht in Kraft,
weil die unterzeichneten Staaten das Abkommen nicht
ratifiziert haben. Deutschland aber hat diese Konven-
tion noch nicht einmal unterzeichnet.
In Ihrer Begründung heißt es: „Von einer vollstän-
digen Einarbeitung der Rotterdam-Regeln in das Han-
delsgesetzbuch soll dagegen abgesehen werden. …
Eine Entscheidung über eine Ratifikation macht aber
erst dann Sinn, wenn absehbar ist, dass sie völker-
rechtlich in Kraft treten und zu den Vertragsparteien
wichtige Seehandelsnationen der Welt zählen wer-
den.“ Die Regeln wurden zwar bereits von 24 Staaten
gezeichnet, aber bislang lediglich von zwei Staaten ra-
tifiziert. Sie können jedoch völkerrechtlich erst in Kraft
treten, wenn es mindestens 20 sind. Doch jeder wartet
auf den anderen, und niemand möchte den ersten
Schritt machen, nach dem Motto: Wer sich zuerst be-
wegt, hat verloren.
Die „Deutsche Verkehrs-Zeitung“, DVZ, kommen-
tierte, mit dem Entwurf des neuen Seehandelsgesetzes
gehe Deutschland einen Sonderweg und koppele sich
damit von der internationalen Rechtsentwicklung ab.
Stattdessen orientiert sich die Neufassung in Ihrer
Modernisierung an einem internationalen Abkommen
vom 25. August 1924 – die sogenannten Haager Re-
geln – sowie einer Änderung vom 23. Februar 1968
und bremst das Inkrafttreten neuer internationaler
Regeln wieder einmal aus. Darin enthalten sind zum
Beispiel Regelungen, nach der der Verfrachter eine
Haftung für nautisches Verschulden der Besatzung
oder Feuer an Bord einfach ausschließen kann. Dies
soll offiziell zwar abgeschafft werden, darf aber durch
die Hintertür in den Allgemeinen Geschäftsbedingun-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26379
Herbert Behrens
(C)
(B)
gen der Beförderer doch wieder ausgeschlossen wer-
den. Damit bleibt es faktisch beim Alten.
Wir hatten bereits bei der ersten Lesung darauf hin-
gewiesen, dass das neue Gesetz zum Seehandelsrecht
kein Verweis auf das Seearbeitsübereinkommen ent-
hält, obwohl beide Gesetzesgrundlagen gerade grund-
legend überarbeitet wurden. In §§ 476 bis 480 zu dem
Abschnitt „Personen der Schifffahrt“ gehört hier
zwingend der Verweis auf die geltenden Vorschriften
des Seearbeitsübereinkommens hinein. Wir hoffen, das
haben Sie zwischenzeitlich aufgenommen.
Abschließend möchte ich meinen Appell wiederho-
len, das Seehandelsrecht an den zukünftigen interna-
tionalen Regeln auszurichten. Ihr Zögern bei der
Übernahme der Rotterdamer Regeln haben Sie, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, wiederholt damit be-
gründet, dass Deutschland ja sonst internationale Ver-
pflichtungen eingehen würde, die andere erst etwas
später treffen, und unsere Reeder dann leichte Wettbe-
werbsnachteile hätten, bis sich das Abkommen durch-
setzt. Das ist keine inhaltliche Argumentation. Mit
dieser Logik könnten sich doch nie rechtliche Verbes-
serungen international durchsetzen. Wir erwarten von
der deutschen Bundesregierung bei einer grundlegen-
den Überarbeitung hier keine rückwärtsgewandte
Politik, sondern ein Voranschreiten. Daher werden wir
uns bei diesem Gesetzentwurf zur Neufassung des See-
handelsrechts der Stimme enthalten.
Abschließend wird heute über den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Reform des Seehandelsrechts
beraten. Der Gesetzentwurf macht viele alte Regelun-
gen im Handelsgesetzbuch hinfällig. Viele Regelungen
des bisher bestehenden deutschen Rechts gehen noch
auf das Zeitalter der Segelschifffahrt zurück. Es be-
steht dringender Handlungsbedarf. 2004 wurde vom
Justizministerium eine Sachverständigengruppe ein-
gesetzt, die ihre Arbeit 2009 beendet hatte. Erst 2012,
also nach acht Jahren, kam es endlich zur Vorlage ei-
nes Gesetzentwurfs.
Insgesamt waren die Beratungen in den Ausschüs-
sen konstruktiv und sachlich. Das kommt bei Gesetzes-
vorlagen von Schwarz-Gelb selten genug vor. Wir sind
der Auffassung, dass es sich bei dem Gesetzentwurf zur
Reform des Seehandelsrechts um einen zustimmungs-
werten Antrag handelt. Im Prinzip ist das Gesetzesvor-
haben gelungen und stellt einen Mehrwert für die ma-
ritime Wirtschaft und die Logistikbranche dar.
Auch mit dem Gesetzentwurf ist die dringend not-
wendige gesamte Neufassung des Bereichs Seehandel
im Handelsgesetzbuch noch nicht abgeschlossen. In
einigen Jahren, wenn die sogenannten Rotterdam Rules
ratifiziert sind, wird alles nochmals von vorne ange-
gangen werden müssen. Daher ist das Seehandelsrecht
in seiner heute beschlossenen Fassung nur eine Über-
gangslösung. Gerade die Rotterdam Rules stellen die
logische Konsequenz für die Seeschifffahrt dar; sie
sind in vielen Fällen konkreter und detaillierter.
Daher mein Appell an die Bundesregierung: Wer-
ben Sie auf internationaler Ebene für eine zügige Rati-
fizierung der Rotterdam Rules. In der global agieren-
den Seeschifffahrt müssen möglichst harmonisierte
Lösungen gesucht werden. Da die Seeschifffahrt rund
90 Prozent des interkontinentalen Warenverkehrs ab-
wickelt, sind harmonisierte rechtliche Rahmenbedin-
gungen vorteilhaft. Selbstverständlich muss gleichzei-
tig auf die regionalen Belange Rücksicht genommen
werden.
Wichtige Seefahrtsnationen haben die Zeichen der
Zeit erkannt und die Rotterdam Rules bereits unter-
zeichnet. Darunter sind die USA, Norwegen, Däne-
mark, Griechenland, Frankreich, die Niederlande und
Spanien. Es würde Deutschland gut anstehen, hier zü-
gig mit der Zeichnung und Ratifizierung nachzuziehen.
An dieser Stelle hätte ich von der Bundesregierung
schon etwas mehr Mumm erwartet!
Während der Beratungen hat der Gesetzentwurf
durch die Abgeordneten und Experten viel Lob erhal-
ten. Allerdings fielen auch einige Kritikpunkte, die die
Bundesregierung ignoriert hat.
So gab es noch vor einer Woche durch die Koalition
einen eilig eingereichten Änderungsantrag zum neuen
Seehandelsrecht. Ich dachte schon, jetzt zeigt sich die
Koalition sensibel und greift die Kritikpunkte der Op-
position oder der vom Rechtsausschuss eingeladenen
Experten nochmals auf. Doch stattdessen wurden le-
diglich redaktionelle Änderungen eingebaut. Wenn
schon ein Expertengespräch durchgeführt wird, sollten
die Beiträge wenigstens entsprechend ernst genommen
werden. Viele der Hinweise der geladenen Expertinnen
und Experten hätte man nutzen können, um weitere
Verbesserungen im Gesetz zu verankern.
Trotz dieser Mängel werden wir den Gesetzentwurf
in der nun vorliegenden Form mittragen, da er insge-
samt eine deutliche Verbesserung gegenüber dem bis-
herigen Recht darstellt.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11884, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10309 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der
möge das Handzeichen geben. – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
Zustimmung des übrigen Hauses ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, erhebe
sich bitte. – Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! –
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(C)
(B)
Jelpke, Jan Korte, Jens Petermann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Berichts- und Zustimmungspflicht für Amts-
hilfe- und Unterstützungsleistungen der Bun-
deswehr im Inneren
– Drucksachen 17/4884, 17/11214 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer
Fritz Rudolf Körper
Burkhardt Müller-Sönksen
Paul Schäfer
Omid Nouripour
Die Reden sind auch hier zu Protokoll genommen.
Bereits bei der Einbringung des Antrags der Linken
zur Schaffung einer Berichts- und Zustimmungspflicht
für Leistungen der Bundeswehr im Innern nach Art. 35
Grundgesetz gegenüber dem Bundestag haben Redner
aller anderen Fraktionen eingehend und in seltener
Eintracht die darin enthaltenen Unterstellungen, Un-
gereimtheiten und Unmöglichkeiten dieses Begehrens
dargestellt:
Unterstellungen wie die, dass mit solchen Einsätzen
die Öffentlichkeit an das Auftreten der Bundeswehr im
Innern gewöhnt werden solle – obwohl die Bundes-
wehr aufgrund von Truppenreduzierungen und Stand-
ortschließungen immer mehr aus der Öffentlichkeit
verschwindet, und die fraglichen Hilfeleistungen von
den Ländern und Landkreisen angefragt werden, nicht
von der Bundesregierung angeordnet.
Ungereimtheiten wie die, dass ein etwa verfassungs-
widriger Einsatz auch nicht durch Zustimmung des
Bundestages verfassungsgemäß würde – zumal die von
der Linken als Beispiel angeführte Amtshilfe beim
G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, die angeblich bei
Befassung des Bundestages nicht stattgefunden hätte,
vom Bundesverfassungsgericht gerade nicht gerügt
worden ist.
Und Unmöglichkeiten wie die, dass der Bundestag
beispielsweise das Hilfeersuchen eines Landkreises an
der Oder einem parlamentarischen Entscheidungs-
gang unterwerfen sollte, während Deiche brechen,
Dörfer überflutet werden, Hab und Gut und nicht zu-
letzt Menschenleben in Gefahr geraten.
An diesen Feststellungen hat sich seither nichts ge-
ändert. Geändert hat sich allerdings eines: Das Bun-
desverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 3. Juli
dieses Jahres grundsätzlich auch die Möglichkeit zur
Verwendung militärischer Waffen in Ausnahmesitua-
tionen nach Art. 35 eingeräumt, dies aber nur unter en-
gen Voraussetzungen, wie sie auch in Art. 87 a Abs. 4 des
Grundgesetzes für Inneneinsätze geregelt sind. Im Üb-
rigen gilt etwa im Hinblick auf die Bedrohung durch
entführte Flugzeuge weiterhin das Urteil des Verfas-
sungsgerichts vom Februar 2006, das die Regelungen
des rot-grünen Luftsicherheitsgesetzes zum Abschuss
vollbesetzter Passagiermaschinen für unzulässig er-
klärt hat.
Wir bewegen uns hier also in einem wohldefinierten
Bereich dessen, was die Bundeswehr im Innern darf
und nicht darf. Es ist bekannt, dass die CDU/CSU-
Fraktion dies gerade im Hinblick auf die Abwehr
schwerer terroristischer Bedrohungen lieber in der
Verfassung selbst geregelt hätte, um Klarheit zu schaf-
fen; auch was die Gefahr betrifft, die beispielsweise
von gekaperten Gefahrgutschiffen innerhalb der deut-
schen Hoheitsgewässer ausgehen könnte.
Fakt ist aber, dass es sicherlich kein Zuviel an Kom-
petenzen für den Inneneinsatz der Bundeswehr gibt,
die nun im Einzelfall vom Bundestag überwacht und
eingehegt werden müssten. Sofern im Fall des Art.35
Einspruchsmöglichkeiten der Legislative erforderlich
sind, liegen diese wie schon einmal dargestellt beim
Bundesrat als Vertretung der Länder. Im Falle des
Art. 87 sind die Rechte des Bundestags ohnehin schon
geregelt.
Soldaten der Bundeswehr haben in den vergange-
nen Jahrzehnten in ungezählten Fällen Hilfe im Innern
geleistet. Bei Flutkatastrophen, Waldbränden und
schweren Zugunglücken haben die Streitkräfte techni-
sche Mittel und Manpower zur Verfügung gestellt. Sie
haben mit den Wärmebildgeräten von Tornado-Aufklä-
rern nach Vermissten gesucht und auch sonst in vielen
Fällen Polizei und Hilfsorganisationen mit speziellen
Fähigkeiten unterstützt.
Ja, das sind keine originären Aufgaben der Bundes-
wehr, sondern zuerst die der zivilen Organisationen
des Katastrophenschutzes. Ich will auch keinesfalls die
hauptamtlichen und vielen, vielen ehrenamtlichen Hel-
fer von Polizei, Rettungsdiensten, Feuerwehren und
THW vergessen, für die dies ihr tägliches Geschäft: ist.
Wir können dankbar sein, dass sich so viele Menschen
in diesem Bereich engagieren und Deutschland damit
zu einem der besten Katastrophenschutzsysteme der
Welt verhelfen.
Das heißt aber nicht, dass wir die ohnehin vorhan-
denen Fähigkeiten der Bundeswehr nicht nutzen, wenn
in Ausnahmesituationen alle zur Verfügung stehenden
Mittel gebraucht werden. Deswegen sollte unser Dank
auch den Zehntausenden Soldaten gelten, die in den
vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik Men-
schen aus Gefahr für Leib und Leben gerettet haben.
Das die Linke diese Leistungen in ihrem Antrag mit
keiner Silbe zu erwähnen für nötig befunden hat, habe
ich bereits bei der Einbringung festgestellt. Ich habe
auch seither keine Silbe dazu gehört.
Es bleibt dabei, meine Damen und Herren von der
Linken, dieser Antrag ist allein motiviert von Ihrer Ab-
lehnung der Bundeswehr und all dessen, was sie tut,
selbst wenn es sich um Hilfe für ganz konkret bedrohte
Menschen handelt. Deswegen lehnen wir ihn, wie ich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26381
Anita Schäfer
(C)
(B)
denke, in breiter Übereinstimmung aller Fraktionen
außer Ihnen in diesem Haus, heute hier ab.
Aus den Zielen der deutschen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik leitet sich die Hilfeleistung der
Bundeswehr im In- und Ausland ab. Hilfeleistungen im
Inland sind integraler Bestandteil der territorialen
Aufgaben der Bundeswehr, die bereits im Frieden
wahrzunehmen sind.
Das Grundgesetz gibt den rechtlichen Rahmen für
Verwendungen der Streitkräfte vor. Die Bundeswehr
schützt danach Deutschland vor militärischen Angrif-
fen, die grundsätzlich von anderen Staaten ausgehen.
Dieser Verteidigungsauftrag ist aus verfassungsrecht-
licher Sicht der Primärauftrag der Streitkräfte und die
eigentliche „raison d’être“.
Für die innere Sicherheit, also für die Bekämpfung
jeder Form von Kriminalität, ist die Polizei von Bund
und Ländern zuständig. Diese Aufgabe obliegt grund-
sätzlich den Ländern. Auch die Abwehr terroristischer
und anderer asymmetrischer Bedrohungen innerhalb
Deutschlands ist zunächst Aufgabe der für die innere
Sicherheit zuständigen Behörden der Länder sowie des
Bundes.
Die Bundeswehr kann zu ihrer Unterstützung mit
den bei ihr verfügbaren Kräften und Mitteln technische
Amtshilfe leisten. Die Inanspruchnahme hoheitlicher
Zwangs- und Eingriffsbefugnisse ist hierbei ausge-
schlossen. Neben dieser technischen Amtshilfe ist
heute Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 des Grundgesetzes die
entscheidende Norm der Verfassung, die zwar keinen
eigenen Einsatz der Streitkräfte legitimiert, aber doch
Unterstützungsleistungen der Streitkräfte im Rahmen
der Amtshilfe erlaubt.
Danach dürfen die Streitkräfte zur Unterstützung
der Polizeikräfte der Länder eingesetzt werden, wenn
dies zur wirksamen Bekämpfung einer Naturkatastro-
phe unmittelbar erforderlich ist.
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz besagt:
„Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder einem
besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Poli-
zeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen
anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes
[jetzt Bundespolizei] und der Streitkräfte anfordern.“
Damit wirkt die Bundeswehr beim Schutz der Bür-
gerinnen und Bürger sowie der lebenswichtigen Infra-
struktur des Landes vor terroristischen Bedrohungen
genauso mit wie in der Hilfeleistung für die zuständi-
gen zivilen Stellen bei der Bewältigung von Naturkata-
strophen und besonders schweren Unglücksfällen.
Hinzu kommen Hilfeleistungen für die in Deutschland
stationierten Streitkräfte von Bündnispartnern, Hilfe-
leistungen im Zuge der dringenden Nothilfe und der
gegenseitigen Amtshilfe der Behörden des Bundes und
der Länder sowie Unterstützungen Dritter.
Die Bundeswehr stellt Hilfeleistungen in Form von
fähigkeitsbezogenen Kräften und Mitteln stets subsi-
diär insoweit und solange bereit, als zivile Ressourcen
nicht zur Verfügung stehen.
Unabhängig von der Art werden Anträge zur Hilfe-
leistung bei Naturkatastrophen und besonders schwe-
ren Unglücksfällen auf dem territorialen Führungs-
strang der Bundeswehr mindestens bis zur Ebene der
Landeskommandos geführt. Die Befehlshaber der
15 Landeskommandos stellen die erste Entscheidungs-
ebene bei den Verfahren zu Amtshilfe und zu Hilfeleis-
tungen bei Naturkatastrophen und besonders schweren
Unglücksfällen dar. Abhängig von der Art der jeweils
angeforderten Hilfeleistung kann sich die Entschei-
dungsebene des jeweiligen Antrags über das Kom-
mando für territoriale Aufgaben der Bundeswehr, neu
aufgestellt ab 1. Januar 2013, bisher Streitkräfteunter-
stützungskommando, bis hin zum Bundesministerium
der Verteidigung verschieben.
Fordert beispielsweise ein Landrat im Zuge eines
großflächigen Waldbrandes luftgebundene Löschkapa-
zität über sein zuständiges Kreis- oder Bezirksverbin-
dungskommando an, so wird der Antrag über das
Landeskommando bis zum Kommando für territoriale
Aufgaben hinauf geleitet, wo durch den Nationalen
Territorialen Befehlshaber über den Einsatz von
Luftfahrzeugen der Bundeswehr zur Hilfeleistung bei
Naturkatastrophen entschieden wird.
Die im Antrag der Fraktion Die Linke geforderte
gesetzliche Änderung ist aus Sicht der SPD-Bundes-
tagsfraktion angesichts der klaren und eindeutigen
Regelung, wie sie bisher vorgesehen ist, nicht not-
wendig. Die Trennung der Aufgaben zwischen Polizei
– innere Sicherheit – und Bundeswehr – äußere Sicher-
heit – ist gut geregelt. Dies gilt auch für das Amtshilfe-
verfahren bei Einsätzen der Bundeswehr im Innern.
Jederzeit zulässig sind Hilfsmaßnahmen der Streit-
kräfte zur Unterstützung der für die Gefahrenabwehr
zuständigen Behörden im Wege der Amtshilfe nach
Art. 35 Abs. 1 GG, bei der die Streitkräfte keine hoheit-
lichen Befugnisse ausüben.
Keine Amtshilfe erfolgt, wenn dienstliche Belange
unter angemessener Berücksichtigung des Anliegens
der ersuchenden Behörde entgegenstehen oder eine
andere Behörde die Hilfe wesentlich einfacher oder
mit wesentlich weniger Aufwand leisten kann. Amts-
hilfe wird als technisch-logistische Unterstützung ei-
ner Amtshandlung, das heißt einer hoheitlichen Ver-
waltungstätigkeit der anfordernden Behörde, geleistet.
Hilfeleistungen nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Rechts-,
Amts- und Katastrophenhilfe, bilden eine Ausnahme,
da diese mit hoheitlichen, polizeilichen, eingreifenden
Rechten in Verbindung stehen können. Die Streitkräfte
können daher nur auf Anforderung von Landesbehör-
den mit solchen Aufgaben betraut werden.
Das wesentliche Einschränkungsmerkmal in diesem
Zusammenhang ist, dass solche Befugnisse immer nur
Zu Protokoll gegebene Reden
26382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Fritz Rudolf Körper
(C)
(B)
dann ausgeübt werden dürfen, wenn es zur Durchfüh-
rung der Hilfeleistung erforderlich ist. Es darf sich nur
um solche Maßnahmen handeln, die allein der Beseiti-
gung der Gefahrenlage dienen, die unmittelbar auf das
Schadensereignis zurückzuführen ist.
Dazu gehören nicht die Bestreifung und der Objekt-
schutz zur Bekämpfung oder Verfolgung oder Abschre-
ckung von Plünderern oder anderen Straftätern.
Vielmehr kann darunter zum Beispiel die Verkehrsre-
gelung zugunsten von Hilfsfahrzeugen, Lkw mit Sand-
säcken, Tieflader mit schwerem Räumgerät und Ähnli-
ches, zu verstehen sein. Im Rahmen eines solchen
Notstandes können diese Befugnisse durch jeden An-
gehörigen der Streitkräfte ausgeübt werden
Die rechtliche Regelung der Amtshilfe ist in Art. 35
Grundgesetz sowie in den §§ 4 bis 8 des Verwaltungs-
verfahrensgesetzes aus Sicht der SPD-Bundestagsfrak-
tion umfassend und gut geregelt. Die darüber hinaus-
zielenden Vorschläge im Antrag der Fraktion Die
Linke sind daher insgesamt abzulehnen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke aus dem
Februar 2011 unterstellt der Bundesregierung, in den
letzten Jahren im Rahmen von Amtshilfe- und Unter-
stützungsleistungen die Bundeswehr über die in
Art. 35 Abs. 1 des Grundgesetzes definierten Grenzen
hinaus im Innern eingesetzt zu haben. Gefordert ist
vonseiten der Linken ein Gesetzentwurf, der eine
Information und Entscheidung des Bundestages über
jeden einzelnen Antrag auf Amtshilfe und Unterstüt-
zung vorsieht.
Quantitativ ist ein Anstieg der Einsätze in den
letzten Jahren zu verzeichnen. Es handelt sich jedoch
ausnahmslos um Einsätze gemäß Art. 35 Abs. 1 Grund-
gesetz. Bei der Mehrheit der Amtshilfe- und Unterstüt-
zungsleistungen erfolgt diese nur in einem geringen
Umfang und wird vonseiten der Bundeswehr lückenlos
dokumentiert.
Der Einsatz der Bundeswehr im Innern unterliegt
engen Grenzen. Mit dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 17. August dieses Jahres ist dieser
enge Rahmen erneut bestätigt und mit dem Hinweis auf
„Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“
genauer definiert worden. Ausschließlich bei Terror-
angriffen ist unter strengen Auflagen auch der Einsatz
von „militärischen Kampfmitteln“ möglich. Aber das
Gericht kann nicht dem Gesetzgeber die Entscheidung
abnehmen, wie und vor allem bis wohin die verfas-
sungsmäßigen Grenzen ausgefüllt werden. Wer sich für
den Einsatz militärischer Waffen im eigenen Land aus-
spricht, kann sich nicht hinter dem Bundesverfas-
sungsgericht verstecken. Ein Gerichtsbeschluss ersetzt
nicht die parlamentarische Mehrheit – die es in der
Vergangenheit nicht gab und mit der FDP-Bundes-
tagsfraktion auch nicht geben wird. Die Bundeswehr
kann und darf auch künftig nicht generell und willkür-
lich zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden.
Abzuwarten bleibt ohnehin zunächst das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts im Normenkontrollverfah-
ren zum Luftsicherheitsgesetz, in dessen Vorbereitung
der Zweite Senat die erfolgte Klärung der Rechtsauf-
fassung des Bundesverfassungsgerichts angestrebt
hatte.
Die bisherige Praxis der Amtshilfe- und Unterstüt-
zungsmaßnahmen der Bundeswehr hat sich als erfolg-
reich erwiesen und sollte unverändert fortgesetzt
werden.
Die Bundeswehr ist enger parlamentarischer Kon-
trolle unterworfen.
Die Argumentation der Fraktion Die Linke, die
unterstellt, die Einsätze der Bundeswehr im Innern
sollen nach der Bundeswehrreform den Streitkräften
zur Nachwuchsgewinnung und Werbung dienen, ist
absurd.
In Art. 35 des Grundgesetzes heißt es: „Zur Hilfe
bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders
schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte
anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer
Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der
Streitkräfte anfordern.“
Einfluss darauf, wann und wo sich Naturkatastro-
phen und Unglücksfälle ereignen, besitzt die Bundes-
regierung, anscheinend zum Erstaunen der Linken,
nicht. Hier einen Zusammenhang zur Nachwuchsge-
winnung herzustellen, ist infam.
Die bisherigen Regelungen zum Einsatz der
Bundeswehr im Innern sind durch das Grundgesetz
ausreichend eng gesteckt und haben sich in den letzten
Jahrzehnten bewährt. Der Antrag der Fraktion Die
Linke ist daher entschieden abzulehnen.
Die Bundeswehr ist der mit Abstand am stärksten
bewaffnete Apparat in Deutschland. Deswegen müssen
wir, wenn im Bereich der an sich harmlosen Amtshilfe-
maßnahmen die Bundeswehr ins Spiel kommt, schon
ein wenig genauer hinsehen.
Niemand hat etwas dagegen, wenn die Bundeswehr
bei Naturkatastrophen hilft. Wer uns etwas anderes un-
terstellt, hat unseren Antrag nicht gelesen. Die Linke
will Amtshilfe nicht generell verhindern, sondern wir
wollen die parlamentarische Kontrolle stärken. Denn
das Problem ist Folgendes: Amtshilfeleistungen der
Bundeswehr erschöpfen sich schon lange nicht mehr in
tatsächlichen Hilfeleistungen. In den letzten Jahren
kamen immer mehr Maßnahmen hinzu, die ganz
anderer Natur sind. Das spektakulärste Beispiel war
der G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, als Aufklä-
rungsflugzeuge vom Typ Tornado unterwegs waren
und Spähpanzer eingesetzt wurden, um die Demon-
strantinnen und Demonstranten zu überwachen bzw.
sie abzuschrecken. Solche Einsätze mit einem so ein-
deutig repressiven Charakter hätte sich früher nie-
mand unter Amtshilfe vorgestellt. Wenn die Bundes-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26383
Ulla Jelpke
(C)
(B)
wehr, die Bundesregierung und die zuständigen
Landesbehörden ihre Praxis in diese Richtung ändern,
dann muss die Gesetzgebung darauf reagieren.
Wir beobachten seit Jahren aufmerksam die Ent-
wicklungen in diesem Bereich. Dabei stellen wir fest,
dass die Einsatzzahlen rapide zunehmen. Ende der
1990er-Jahre hat es noch eine einzige Amtshilfemaß-
nahme pro Jahr gegeben; im Jahr 2010 waren es
schon 71, voriges Jahr 68. Es liegt ja auf der Hand,
dass es hierfür keine Sachzwänge gibt, sondern rein
politisch motivierte Entscheidungen.
Sieht man sich die einzelnen Maßnahmen an, dann
erkennt man: Bei maximal einem Drittel geht es tat-
sächlich um Hilfe bei Unglücksfällen, Überschwem-
mungen oder beim Entschärfen von Blindgängern aus
dem Zweiten Weltkrieg. Da muss man zwar danach
fragen, warum eigentlich der zivile Katastrophen-
schutz nicht mehr gefördert wird, aber mit den Maß-
nahmen als solche haben wir kein Problem. Kritisch
ist aber aus Sicht der Linken, dass die Bundeswehr fast
immer dabei ist, wenn viele Menschen Zusammenkom-
men – bei großen Volksfesten, beim Kirchentag, bei
internationalen Fußballspielen, bei großen Demon-
strationen. Dabei arbeiten Soldaten als Logistiker und
Planungshelfer für die Polizei.
Die Linke will nicht, dass die Bundeswehr institutio-
nell in den Bereich der inneren Sicherheit eingebunden
wird. Hilfe im Katastrophenfall ist das eine, aber an-
sonsten soll die Bundeswehr sich aus der Innenpolitik
heraushalten. Sonst droht nämlich genau das, was die
Bundesregierung nach unserer Meinung auch an-
strebt: ein Gewöhnungseffekt. Der Heiligendamm-Ein-
satz hat seinerzeit große Empörung ausgelöst, und nun
werden eben kleinere Schritte gegangen.
Die Kollegin Anita Schäfer von der CDU hat bei der
ersten Lesung zur Amtshilfe im März eingeräumt, die
Bundeswehr habe „jedes bisschen Öffentlichkeit drin-
gend nötig und verdient.“ In der Sozialwissenschaft
beschreibt das Konzept des „banalen Militarismus“,
wie die Akzeptanz, ja Dominanz des Militärs und mili-
tärischer Denkweisen dadurch gesteigert werden sol-
len, dass das Militärische nach und nach in die Gesell-
schaft eindringt. Eine Armee, die seit zehn Jahren
einen höchst unpopulären und blutigen Krieg in
Afghanistan führt und im Inland größte Schwierigkei-
ten hat, geeignete Rekruten zu finden, verspricht sich
natürlich von einer Militarisierung der Gesellschaft
erhebliche Vorteile, was gesellschaftlichen Rückhalt
angeht. Auch deswegen will die Linke diesem Treiben
nicht tatenlos zusehen.
Was ich noch gar nicht angesprochen habe, ist eine
Entwicklung, die erst nach Einreichung unseres Antra-
ges eingetreten ist: Das Urteil des Bundesverfassungs-
gerichtes vom August 2012, das einer Verfassungsän-
derung gleichkommt, sieht vor, dass in Fällen des Art. 35
Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes die Bundeswehr auch
schwere Waffen einsetzen darf. Wir sind mit dieser Ent-
scheidung alles andere als glücklich, schon weil sie
keine präzisen Kriterien nennt; aber es muss doch klar
sein: Wenn wir nicht nur über unbewaffnete Amtshilfe
reden, sondern über einen bewaffneten Militäreinsatz
im Inneren, dann kann doch niemand wollen, dass das
Parlament auf seine Kontrollfunktion verzichtet.
Ein Wort zu den Grünen: Der Kollege Wolfgang
Wieland hat in seiner Rede bei der ersten Lesung ei-
gentlich viele Punkte genannt, die unserem Antrag
recht geben. Amtshilfe werde zu häufig, an den fal-
schen Orten, in den falschen Formen geleistet, hat er
gesagt. Er lehnte dann aber unseren Antrag trotzdem
ab, und zwar mit der merkwürdigen Begründung, man
solle sich auf das „Anprangern“ der Regierung be-
schränken.
Nun hat bloßes Anprangern nicht unbedingt Folgen.
Wir haben den Heiligendamm-Einsatz angeprangert;
die Bundesregierung hingegen verteidigt ihn bis heute,
was auch bedeutet, dass sie sich eine Wiederholung
solcher Szenarien jederzeit vorbehält. Deswegen wol-
len wir Regeln aufstellen. Vereinfacht gesagt: Wir wol-
len nicht, dass die Bundeswehr Demonstranten ab-
schreckt, sondern wir wollen durch erweiterte
Parlamentskontrolle die Bundeswehr vor einer allzu
weiten Interpretation von Amtshilfe abschrecken.
Damit wird keine einzige Hilfsmaßnahme im Katastro-
phenfall verhindert oder auch nur verlangsamt. Wir
verlangen lediglich, dass schnellstmöglich Berichte
ans Parlament gehen und dass das Parlament, wenn es
denn einen Einsatz für rechtlich oder politisch frag-
würdig hält, diesen verhindern oder stoppen kann.
Damit ziehen wir die Konsequenz aus der veränderten
Amtshilfepraxis von Regierung und Bundeswehr.
Die Informationsrechte des Deutschen Bundestages
sind ein hohes Gut, insbesondere mit Blick auf polizei-
liche bzw. quasipolizeiliche Tätigkeiten im Rahmen
von Art. 35 des Grundgesetzes, also den möglichen
Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
Dabei gilt es aber Zweierlei zu berücksichtigen.
Zum einen sind Ex-ante-Berichte politisch nicht immer
hilfreich, weil sie die Kontrollfunktion auch einschrän-
ken könnten.
Wer vor einer Entscheidung im Geheimen am
Entscheidungsprozess beteiligt gewesen ist, kann
kaum noch ein glaubwürdiger Kontrolleur sein.
Zum anderen sind die verfassungsgemäßen Vorga-
ben zu beachten.
Eine Ex-ante-Unterrichtung des Deutschen
Bundestages bzw. der Obleute von Verteidigungs- und
Innenausschuss, wie sie im Antrag der Linkspartei
gefordert wird, würde eine Verwischung der Verant-
wortlichkeiten der Exekutive mit den Kompetenzen der
Legislative bedeuten.
Wir haben uns bei der Debatte um die Verbesserung
der parlamentarischen Kontrolle von Auslandseinsät-
zen der Bundeswehr im Rahmen des Antrags „Prüfkri-
Zu Protokoll gegebene Reden
26384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Omid Nouripour
(C)
(B)
terien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwi-
ckeln – Unterrichtung und Evaluation verbessern“
ebenfalls mit dieser Problematik beschäftigt. Dabei
haben wir uns entschieden, keine Ex-ante-Unterrich-
tung zu fordern und stattdessen auf eine umfassende
und hinreichende Ex-post-Unterrichtung des Deut-
schen Bundestages jeweils nach Abschluss einer Ope-
ration zu setzen.
Davon unbenommen bleibt die Zustimmungspflicht
des Parlaments für militärische Einsätze der Bundes-
wehr. Aber darum geht es in dem Antrag der Linkspar-
tei nicht; denn dafür gibt es schon ein Parlaments-
beteiligungsgesetz. Es geht in diesem Antrag um die
Amtshilfeeinsätze im Innern. Diese sind nicht militäri-
scher Natur; denn alles andere hat das Bundesverfas-
sungsgericht bereits grundsätzlich 2006 verboten.
Darauf folgende Rechtsprechungen haben daran seit-
dem nichts geändert.
Im vergangenen August hat das Verfassungsgericht
der Regierung für ihre andauernden Vorstöße eine
schallende Ohrfeige verpasst und dem Einsatz der
Bundeswehr im Innern enge Grenzen gesetzt.
Auch wenn völlig zu Recht die Anzahl und die Sinn-
haftigkeit einiger Einsätze im Rahmen der Amtshilfe
angezweifelt werden können, so ist die Konsequenz,
die von der Fraktion der Linken daraus gezogen wird,
schlicht falsch. Ist ein Einsatz der Bundeswehr nicht
legal, ist das ein Fall für ein Gericht. Und ist ein
Einsatz illegitim, dann muss die Regierung dafür gera-
destehen und sich verantworten. Dies ist ein bewährter
Weg.
Der ganze Antrag der Linken liest sich auf den ers-
ten Blick nicht schlecht. Doch schnell drängt sich die
Frage auf, wie ein mit Vetorecht ausgestatteter Bun-
destag Abhilfe schaffen soll. Niemand, vor allem nicht
in der Fraktion der Linkspartei, vermag dies schlüssig
zu erklären. Letztlich handelt es sich bei dem Antrag
um eine schicke Verpackung ohne Inhalt.
Daher teilen wir die richtige Einschätzung des
Antrags, nach der der Deutsche Bundestag wesentlich
besser über den Einsatz der Bundeswehr – im Innern
wie bei Auslandseinsätzen – informiert werden muss,
lehnen aber gleichzeitig die Schlussfolgerungen, die
der Antrag der Linken daraus zieht, ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11214, den Antrag auf Drucksache
17/4884 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Dagegen war
die Fraktion Die Linke. Enthalten hat sich niemand. Das
übrige Haus hat zugestimmt.
Tagesordnungspunkt 28:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung des Haager Überein-
kommens vom 23. November 2007 über die
internationale Geltendmachung der Unter-
haltsansprüche von Kindern und anderen Fa-
milienangehörigen sowie zur Änderung von
Vorschriften auf dem Gebiet des internationa-
len Unterhaltsverfahrensrechts
– Drucksache 17/10492 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/11885 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben.
Wir beraten heute abschließend über das Gesetz zur
Durchführung des Haager Übereinkommens vom
23. November 2007. Dabei geht es um die internatio-
nale Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen von
Kindern und anderen Familienangehörigen sowie um
die Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des
internationalen Unterhaltsverfahrensrechts und des
nationalen materiellen Unterhaltsrechts.
Mit Beschluss vom 9./10. Juni 2011 hat der Rat der
Europäischen Union das Haager Übereinkommen vom
23. November 2007 im Namen der Europäischen
Union genehmigt. Dies hat zur Folge, dass das Über-
einkommen nach Hinterlegung der Genehmigungs-
urkunde durch einen Vertreter der Europäischen
Union in Den Haag für Deutschland im Verhältnis zu
anderen Vertragsstaaten auch ohne eine eigenständige
Ratifikation verbindlich wird. Um die Verpflichtungen
aus dem Übereinkommen vollständig umsetzen zu kön-
nen, bedarf es allerdings einiger Durchführungsvor-
schriften im nationalen Recht, worum es heute geht.
Zur Vermeidung einer Rechtszersplitterung haben
wir uns entschieden, die erforderlichen Durchfüh-
rungsvorschriften in das am 18. Juni 2011 in Kraft
getretene Gesetz zur Geltendmachung von Unterhalts-
ansprüchen im Verkehr mit ausländischen Staaten,
Auslandsunterhaltsgesetz – AUG, einzufügen.
Seit dem 18. Juni 2011 ist für den Bereich der Euro-
päischen Union die Durchsetzung von Unterhaltsan-
sprüchen im Ausland bereits durch das Wirksamwer-
den der EG-Unterhaltsverordnung, Verordnung
Nr. 4/2009, wesentlich erleichtert worden. In nunmehr
einem einzigen Rechtsakt ist umfassend geregelt, wie
Unterhaltsansprüche gegen Schuldner, die sich im EU-
Ausland aufhalten, durchzusetzen sind. Hierbei kann
es beispielsweise um Unterhalt gehen, der nach einer
Scheidung für ein Kind oder einen früheren Ehegatten
zu zahlen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26385
Ute Granold
(C)
(B)
Die EG-Unterhaltsverordnung entspricht weitge-
hend den Regelungen des Haager Übereinkommens
und hat innerhalb der Europäischen Union Vorrang.
Das Haager Übereinkommen entfaltet folglich eine
unmittelbare Wirkung nur noch gegenüber Drittstaa-
ten.
Ziel des Haager Übereinkommens von 2007 ist es,
die wirksame internationale Geltendmachung von
Unterhaltsansprüchen von Kindern und anderen Fa-
milienangehörigen sicherzustellen. Dies erfolgt durch
die Festlegung eines Systems der effektiven Zusam-
menarbeit der Behörden der Vertragsstaaten. Darüber
hinaus wird den Antragstellern im Grundsatz kosten-
freie Verfahrenskostenhilfe gewährleistet und das An-
erkennungs- und Vollstreckungsverfahren rationali-
siert.
Bislang müssen bei der Durchsetzung von Unter-
haltsansprüchen im Ausland zwei verfahrensrechtliche
Haager Übereinkommen, ein UN-Übereinkommen von
1956 und mehrere EG-Verordnungen beachtet werden.
Diese werden – mit Ausnahme des Lugano-Überein-
kommens – durch das Haager Unterhaltsübereinkom-
men 2007 ersetzt, wodurch dem Rechtsuchenden die
Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen in Drittstaa-
ten erleichtert wird.
Durch das Übereinkommen wird die Grundlage für
eine effiziente Zusammenarbeit staatlicher zentraler
Behörden geschaffen. Ein Gläubiger oder sein Vertre-
ter kann sich demnach an die deutsche zentrale Be-
hörde – das Bundesamt für Justiz mit Sitz in Bonn –
wenden, um etwa ein Unterhaltsurteil im Ausland zu
erwirken bzw. ein deutsches Unterhaltsurteil in Dritt-
staaten zu vollstrecken.
Da Verfahren im Ausland für die Gläubiger meist
mit hohem Aufwand und Kosten verbunden sind, ge-
währleistet das Haager Unterhaltsübereinkommen
2007 in allen Verfahren, in denen es um die Durchset-
zung von Unterhaltsansprüchen von Kindern geht,
Verfahrenskostenhilfe. Gerichtliche Verfahren in
Bezug auf Kindesunterhalt sind daher grundsätzlich
kostenfrei.
In Art. 23 des Haager Übereinkommens 2007 wurde
das Verfahren der Anerkennung und Vollstreckbarer-
klärung geregelt. Dieses wurde dem Vorbild der
Brüssel-I-Verordnung nachempfunden. Unterhaltsent-
scheidungen aus anderen Vertragsstaaten werden
demnach grundsätzlich anerkannt oder für vollstreck-
bar erklärt, wenn sich der Schuldner nicht dagegen
wehrt. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf auch
eine Änderung des nationalen materiellen Unterhalts-
rechts vor. Diese erfolgt durch eine Klarstellung in
§ 1578 b BGB.
Hintergrund ist, dass mit dem im Rahmen der
Unterhaltsrechtsreform im Jahr 2008 neu geschaffe-
nen § 1578 b BGB eine grundsätzlich für alle Unter-
haltstatbestände geltende Billigkeitsregelung einge-
fügt wurde, die nach Maßgabe der darin aufgeführten
Kriterien eine Herabsetzung oder zeitliche Befristung
von Unterhaltsansprüchen ermöglicht.
Gemäß § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB richtet sich der
nacheheliche Unterhalt grundsätzlich nach den eheli-
chen Lebensverhältnissen. Er beschränkt sich dem-
nach weder auf eine bloße Kompensation ehebedingter
Nachteile, noch auf eine Teilhabe an dem während der
Ehezeit gemeinsam Erwirtschafteten. Die Vorschrift
berücksichtigt vielmehr auch eine darüber hinaus-
gehende nacheheliche Solidarität als Grundprinzip
des nachehelichen Unterhalts. Dies ist auch im Rah-
men der Billigkeitsentscheidung für eine Begrenzung
und Befristung des nachehelichen Unterhalts zu be-
achten. Indem der § 1578 b Abs. 1 Satz 2 BGB „insbe-
sondere“ auf das Vorliegen ehebedingter Nachteile
abstellt, wird die Berücksichtigung weiterer Gesichts-
punkte – zum Beispiel die Dauer der Ehe – im Rahmen
der Billigkeitsabwägung nicht ausgeschlossen.
Aufgrund einer Reihe instanzgerichtlicher Ent-
scheidungen zum Ehegattenunterhalt bei sogenannten
Altehen ist jedoch der Eindruck entstanden, dass der
Dauer der Ehe nicht genügend Gewicht bei der Beur-
teilung über die Herabsetzung oder Befristung von
Unterhalt beigemessen wird. Vielmehr erfolgt beim
Fehlen ehebedingter Nachteile häufig eine automati-
sche Befristung der nachehelichen Unterhaltsansprü-
che, ohne die weiteren Umstände des Einzelfalls und
dabei insbesondere die Dauer der Ehe bei der Billig-
keitsabwägung ausreichend zu berücksichtigen.
Dadurch werden diese Ehegatten besonders schwer
benachteiligt, da sie zum Teil lange vor 2008 geheira-
tet und daher keine Möglichkeit hatten, sich auf die ge-
änderte Rechtslage einzustellen.
Diese automatische Beschränkung entsprach je-
doch keineswegs der Intention des Reformgesetz-
gebers von 2007. Vielmehr wurde in der damaligen
Gesetzesbegründung explizit klargestellt, dass sich die
nach der Ehe fortwirkende Verantwortung nicht allein
im Ausgleich ehebedingter Nachteile erschöpft. Zwar
hatte auch der Bundesgerichtshof bereits im Jahr 2010
festgestellt, dass eine Befristung oder Begrenzung von
nachehelichem Unterhalt unzulässig sein kann, wenn
zwar keine ehebedingten Nachteile vorliegen, eine
Einschränkung aber im Hinblick auf die Dauer der
Ehe und damit verbundenen nachehelichen Solidarität
unbillig erschiene. Dennoch halten wir aufgrund der
entstandenen Unsicherheit eine gesetzliche Klarstel-
lung für erforderlich.
Mit ihr möchten wir sicherstellen, dass entspre-
chend der Intention des Reformgesetzgebers – dessen
Auffassung wir auch heute noch teilen –, das Vertrauen
der Geschiedenen in die nacheheliche Solidarität stär-
ker geschützt wird und die Gerichte bei künftigen Ent-
scheidungen über die Kürzung oder Befristung von
nachehelichem Unterhalt das Merkmal der Ehedauer
im jeweiligen Einzelfall endlich ausreichend berück-
sichtigen. Denn der Schutz der Langzeitehen war ein
besonderes Anliegen des Reformgesetzgebers, der sich
bewusst dazu entschieden hatte, diese Ehen zu privile-
Zu Protokoll gegebene Reden
26386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Ute Granold
(C)
(B)
gieren. Die Befristung und Begrenzungsvorschrift
sollte gerade nicht auf die Kompensation ehebedingter
Nachteile beschränkt werden, sondern auch die nach-
eheliche Solidarität und damit verbunden die Dauer
der Ehe berücksichtigen. Die konkrete Umsetzung er-
folgt durch die gleichwertige Nennung des Begriffs der
Ehedauer neben dem Merkmal der ehebedingten
Nachteile in 1578 b Abs. 1 Satz II BGB.
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass
wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen guten
Weg gefunden haben, das Haager Übereinkommen in
das nationale Recht zu integrieren, wodurch insbeson-
dere die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen von
Kindern im Ausland erleichtert wird. Zusätzlich wer-
den Unsicherheiten bei der Befristung oder Begren-
zung von Unterhalt bei den sogenannten Altehen aus-
geräumt. Ich hoffe daher auf breite Zustimmung.
In Zukunft können Unterhaltsansprüche von Kin-
dern und anderen Familienangehörigen international
noch wirksamer geltend gemacht werden.
Nach dem Haager Übereinkommen vom 23. Novem-
ber 2007 und dessen Genehmigung durch den Rat der
Europäischen Union im Juni 2011 bedarf es einiger
Durchführungsvorschriften im nationalen Recht, die
wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erlassen wol-
len. Wir kommen damit unserem Auftrag als Gesetzge-
ber nach, die Umsetzung des Übereinkommens zu er-
möglichen.
Befindet sich ein Elternteil im Ausland, erhält das
unterhaltsberechtigte Kind Unterstützung durch die
Behörden der beteiligten Länder, um seine Ansprüche
über die staatlichen Grenzen hinweg einzufordern. Ge-
rade Kinder und ihre alleinerziehenden Eltern sind auf
solche Hilfe angewiesen. Unterhaltsansprüche in ei-
nem fremden Land alleine und ohne staatliche Unter-
stützung durchzusetzen, ist extrem aufwendig und mit
hohen Kosten verbunden.
Mit dem Haager Übereinkommen wird die interna-
tionale Rechtshilfe zur Durchsetzung von Unterhalts-
forderungen geregelt. Es bündelt mehrere bisher gel-
tende Übereinkommen und erleichtert so die Durch-
setzung von Unterhaltsansprüchen in Drittstaaten.
Das Abkommen hilft den Unterhaltsbedürftigen, den
Schuldner aufzuspüren, seine wirtschaftlichen Verhält-
nisse aufzuklären und nötigenfalls den Unterhalt
zwangsweise zu erlangen. Hierfür wird das System der
Zusammenarbeit von zentralen staatlichen Behörden
weiter ausgebaut.
Die Zuständigkeiten der zentralen Behörde werden
in Deutschland dem Bundesamt für Justiz übertragen.
Das Bundesamt kann zum Beispiel zur Ermittlung des
Aufenthaltsortes des Schuldners im Ausland, das Füh-
ren von Vergleichsverhandlungen oder die Organisa-
tion juristischer Unterstützung eingeschaltet werden.
Für die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen von
Kindern wird zudem der kostenfreie Bezug von Verfah-
renskostenhilfe erweitert.
Über das Haager Übereinkommen hinaus regelt der
Gesetzentwurf eine unterhaltsrechtliche Klarstellung.
In § 1578 b BGB wird die Dauer der Ehe als Kriterium
für einen nachehelichen Unterhaltsanspruch einge-
fügt. Dies hat der Gesetzgeber bereits in der Unter-
haltsrechtsreform im Jahr 2008 berücksichtigen wol-
len. Ich zitiere aus der damaligen Gesetzesbegrün-
dung: „Im Spannungsverhältnis zwischen der fortwir-
kenden Verantwortung und dem Grundsatz der Eigen-
verantwortung muss auch hier in jedem Einzelfall eine
angemessene und für beide Seiten gerechte Lösung ge-
funden werden, bei der die Dauer der Ehe von beson-
derer Bedeutung sein wird.“ An anderer Stelle ist von
einer fortwirkenden Verantwortung die Rede, sodass
das Ausmaß des Unterhaltsanspruchs ganz wesentlich
von der Dauer der Ehe abhängen wird.
Der Bundesgerichtshof hat inzwischen verdeutlicht,
dass auch ohne das Vorliegen ehebedingter Nachteile
eine Befristung oder Begrenzung des nachehelichen
Unterhaltsanspruches unzulässig sein kann. Eine Ver-
pflichtung zur nachehelichen Solidarität ergibt sich
auch bei „fehlgeschlagener Lebensplanung der Ehe-
gatten“.
In den letzten vier Jahren ist dennoch in der bundes-
weiten Rechtsprechung eine Unsicherheit entstanden,
die mitunter dazu führte, dass die Gerichte beim Feh-
len ehebedingter Nachteile den nachehelichen Unter-
haltsanspruch befristeten oder sogar ausschlossen,
ohne die Umstände des Einzelfalles und insbesondere
auch die Dauer der Ehe weiter zu berücksichtigen.
Es ist richtig, den Gerichten hier durch eine Klar-
stellung ein deutliches Signal zu geben, damit der
Wille des Gesetzgebers in der Praxis zur Anwendung
kommt. Wir werden daher dem Gesetzentwurf heute
zustimmen.
In einer zunehmend globalisierten Welt entstehen
immer mehr Möglichkeiten, wo und wie der Einzelne
sein Leben gestalten will. Es wird immer selbstver-
ständlicher, dass die Menschen ihre Heimatländer ver-
lassen, um in einem anderen Staat zu arbeiten und zu
leben. Dies gilt sowohl innerhalb der Europäischen
Union als auch darüber hinaus.
Diese Entwicklung bedingt zugleich, dass Unter-
haltsansprüche in zunehmender Weise länderübergrei-
fend geltend gemacht werden müssen. Sobald aber ein
Rechtsverfahren einen grenzübergreifenden Bezug hat,
müssen die jeweiligen Rechtsordnungen der beteilig-
ten Staaten berücksichtigt werden. Dies macht die
Rechtsanwendung für die Bürger zum Teil sehr kompli-
ziert.
Vor diesem Hintergrund wurde das Haager Unter-
haltsübereinkommen vom 23. November 2007 verab-
schiedet. Es regelt das internationale Verfahrensrecht
neu und erleichtert die Durchsetzung von Unterhalts-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26387
Stephan Thomae
(C)
(B)
ansprüchen im Ausland. Zu diesem Zweck legt es ein
System der effektiven Zusammenarbeit staatlicher zen-
traler Behörden fest, mit deren Hilfe die Menschen ihre
Ansprüche im Ausland verfolgen bzw. bei Vorliegen
entsprechender Titel auch durchsetzen können.
Der Rat hat im Juni 2011 entschieden, dass das
Haager Unterhaltsübereinkommen 2007 durch die Ra-
tifikation der EU allein für alle Mitgliedstaaten – mit
Ausnahme Dänemarks – wirksam werden soll. Der
Deutsche Bundestag hat dies in einem Beschluss vom
24. März 2011 mitgetragen und darin gefordert, dass
die Konvention aber erst dann wirksam werden kann,
wenn alle Mitgliedstaaten die erforderlichen Ausfüh-
rungsgesetze verabschiedet haben. Die Verabschie-
dung des Gesetzes, über das wir heute debattieren, ist
mithin eine Voraussetzung dafür, dass die internatio-
nale Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen für
die Menschen erleichtert werden kann. Das Gesetz
passt im Wesentlichen das AUG, Gesetz zur Geltend-
machung von Unterhaltsansprüchen im Verkehr mit
ausländischen Staaten – Auslandsunterhaltsgesetz,
technisch an das Haager Unterhaltsübereinkommen
2007 an. In Deutschland wird das Bundesamt für Jus-
tiz die zentrale Behörde, an die sich die Bürgerinnen
und Bürger bei internationalen Unterhaltsansprüchen
wenden können. Die wesentlichen Aufgaben dieser
Stellen sind in den Art. 6 und 7 des Haager Unterhalts-
übereinkommens 2007 geregelt. Dazu zählt unter an-
derem, Unterhaltsanträge zu übermitteln und entge-
genzunehmen, entsprechende Verfahren einzuleiten,
juristische Unterstützung dort zu gewähren, wo die
Umstände es erfordern, aber auch Aufenthaltsorte von
berechtigten oder verpflichteten Personen ausfindig zu
machen.
Das Haager Unterhaltsübereinkommen 2007 ge-
währleistet darüber hinaus, dass in allen Verfahren, in
denen es um die Durchsetzung von Ansprüchen auf
Kindesunterhalt geht, kostenfreie Verfahrenskosten-
hilfe gestellt wird. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf tragen wir dazu bei, dass das Haager Unterhalts-
übereinkommen 2007 durch die EU ratifiziert werden
und für die EU-Mitgliedstaaten wirksam werden kann.
Dieses Ziel wird vor dem Hintergrund der geschilder-
ten Erleichterungen für die Menschen von der FDP-
Bundestagsfraktion unterstützt.
Die Fraktionen von FDP und CDU/CSU nutzen den
vorliegenden Gesetzentwurf zudem für eine klarstel-
lende Regelung im Unterhaltsrecht. Mit der letzten
Unterhaltsrechtsreform von 2008 wurde das Ziel ver-
folgt, den Gedanken der Eigenverantwortlichkeit im
Unterhaltsrecht wieder stärker zu betonen. Verheira-
tete sollten sich grundsätzlich nicht darauf verlassen
können, im Falle einer Scheidung durch die Unter-
haltspflicht des Ehegatten abgesichert zu sein.
Hierzu wurde in § 1578 b BGB eine Billigkeitsrege-
lung eingeführt, die nach bestimmten Kriterien eine
Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung von Unter-
haltsansprüchen ermöglicht. Bei der Billigkeitsabwä-
gung muss insbesondere erwogen werden, ob soge-
nannte ehebedingte Nachteile, wie zum Beispiel die
Pflege oder Erziehung eines Kindes oder die Haus-
haltsführung, vorlagen. Die instanzgerichtliche Recht-
sprechung hat gezeigt, dass aber bei Fehlen solcher
ehebedingter Nachteile in vielen Fällen automatisch
eine Reduzierung der Unterhaltsansprüche selbst dann
vorgenommen wird, wenn es sich um sogenannte Alte-
hen handelt. Dies sind Fälle, in denen die Ehe über
mehrere Jahrzehnte angedauert hat. Die Dauer der
Ehe wurde bei den entsprechenden Entscheidungen
nicht ausreichend berücksichtigt. Dies entspricht je-
doch nicht der Intention des Gesetzgebers. Dieser
hatte schon in der Begründung zur Unterhaltsrechtsre-
form 2008 deutlich gemacht, dass die Dauer der Ehe
im Spannungsverhältnis zwischen der fortwirkenden
Verantwortung der Eheleute füreinander und dem
Grundsatz der Eigenverantwortung im Einzelfall von
besonderer Bedeutung sein wird. Die genannte Ent-
wicklung in der Rechtsprechung hat jedoch gezeigt,
dass dieser Gedanke nicht in ausreichendem Maß be-
rücksichtigt wird.
Dem begegnen wir mit der vorgeschlagenen Ände-
rung von § 1578 b BGB. Dabei handelt es sich ledig-
lich um eine Klarstellung, nicht um eine Neuregelung.
Es kann nicht im Interesse unserer Gesellschaft sein,
dass Ehegatten, deren Ehe nach sehr langer Dauer ge-
schieden wird, sich in der Situation wiederfinden, ob
ihres Alters auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr
und gleichzeitig keine Unterhaltsansprüche mehr zu
haben. In solchen Konstellationen muss die Dauer der
Ehe bei der Billigkeitsabwägung nach § 1578 b BGB
stärker berücksichtigt werden.
Dies erreichen wir mit dem von FDP und CDU/CSU
eingebrachten Änderungsantrag. Ich bitte Sie daher,
dieses Gesetz in der Fassung des Änderungsantrages
zu unterstützen.
Da es sich um ein reines Umsetzungsgesetz handelt,
gibt es bei der Ausgestaltung aber – oder zum Glück –
kaum gesetzgeberischen Handlungsspielraum. Um die
Verpflichtungen aus dem Übereinkommen vollständig
umsetzen zu können, bedarf es einiger Durchführungs-
vorschriften im nationalen Recht. So werden die erfor-
derlichen Durchführungsvorschriften in das am
18. Juni 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Geltend-
machung von Unterhaltsansprüchen im Verkehr mit
ausländischen Staaten in-
tegriert, um eine Rechtszersplitterung zu vermeiden.
Dort ist bereits die Verordnung Nr. 4/2009 des
Rates über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht,
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidun-
gen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen um-
gesetzt, die inhaltlich weitgehend dem Haager Über-
einkommen entspricht.
Das zuständige Bundesamt für Justiz ist bereits zen-
trale Behörde, unter anderem nach der EG-Unter-
haltsverordnung, sodass sich im Tatsächlichen kaum
etwas ändern dürfte.
Zu Protokoll gegebene Reden
26388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Jörn Wunderlich
(C)
(B)
Das sieht die von mir hochgeschätzte Christel
Humme, welche im Übrigen auch gute Familienpolitik
macht, genauso.
Wird das Haager Übereinkommen vom 23. Novem-
ber 2007 ratifiziert, so tritt es an die Stelle der völker-
rechtlichen Vereinbarungen, ohne dass sich die
Zuständigkeit des Bundesamtes für Justiz erweitert.
Lediglich die Rechtsgrundlage für das Tätigwerden als
zentrale Behörde ändert sich.
Bis gegenwärtig müssen bei der Durchsetzung von
Unterhaltsansprüchen im Ausland zwei verfahrens-
rechtliche Haager Übereinkommen, ein UN-Überein-
kommen von 1956 und mehrere EG-Verordnungen be-
achtet werden. Im Einzelnen handelt es sich bei diesen
Übereinkommen um das Haager Übereinkommen vom
15. April 1958 über die Anerkennung und Vollstre-
ckung von Entscheidungen auf dem Gebiet der Unter-
haltspflicht gegenüber Kindern, das Haager Überein-
kommen vom 2. Oktober 1973 über die Anerkennung
und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen und
das New Yorker UN-Übereinkommen über die Gel-
tendmachung von Unterhaltsansprüchen im Ausland
vom 20. Juni 1956.
Hinzu tritt im Verhältnis zur Schweiz, zu Norwegen
und Island noch das Übereinkommen vom 30. Oktober
2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Aner-
kennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zi-
vil- und Handelssachen.
Das Haager Unterhaltsübereinkommen 2007 wird
allein dadurch, dass es perspektivisch alle zuvor ge-
nannten völkerrechtlichen Übereinkommen über die
Anerkennung oder Geltendmachung von Unterhalts-
ansprüchen ersetzt, dem Rechtsuchenden die Durch-
setzung von Unterhaltsansprüchen in Drittstaaten er-
leichtern.
Von daher kann dem Gesetz auch seitens der Linken
zugestimmt werden.
Unterhaltsansprüche von Kindern oder anderen Fa-
milienangehörigen machen nicht an Grenzen halt,
nicht an den Grenzen Deutschlands und nicht an den
Grenzen der Europäischen Union.
Dank des Haager Übereinkommens über die inter-
nationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche
von Kindern und anderen Familienangehörigen müs-
sen sie dies mittlerweile auch nicht mehr. Dieses Über-
einkommen hat die Durchsetzung von internationalen
Unterhaltsansprüchen ein großes Stück einfacher ge-
macht. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir heute
über das deutsche Durchführungsgesetz zu diesem
Haager Übereinkommen beraten.
Das neue internationale Unterhaltsverfahrensrecht
erleichtert die Durchsetzung von Unterhaltsansprü-
chen bei grenzüberschreitenden Konstellationen er-
heblich. Das Haager Übereinkommen steht damit im
Einklang mit der Kinderrechtskonvention der Verein-
ten Nationen. Dort heißt es in Art. 27 Abs. 4 Satz 1:
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnah-
men, um die Geltendmachung von Unterhaltsansprü-
chen des Kindes gegenüber den Eltern oder anderen fi-
nanziell für das Kind verantwortlichen Personen
sowohl innerhalb des Vertragsstaats als auch im Aus-
land sicherzustellen. Satz 2 ergänzt, dass die Vertrags-
staaten für Fälle, in denen das Kind in einem anderen
Staat lebt als die finanziell verantwortliche Person,
den Beitritt zu internationalen Übereinkünften oder
den Abschluss solcher Übereinkünfte fördern sollen.
Die große Bedeutung, die auch die UN-Kinder-
rechtskonvention der Durchsetzung von Unterhaltsan-
sprüchen beimisst, zeigt uns, wie wichtig dieses Thema
für Kinder ist. Denn Kinder sind für die Durchsetzung
ihrer Ansprüche darauf angewiesen, dass ihnen von
staatlicher Seite Hilfe an die Hand gegeben wird.
Das Übereinkommen sieht ein System der Zusam-
menarbeit staatlicher zentraler Behörden vor. Die je-
weilige nationale zentrale Behörde soll Kinder bei der
Einforderung ihres Unterhalts effektiv und umfänglich
unterstützen. In Deutschland wird das Bundesamt für
Justiz künftig diese Aufgabe wahrnehmen.
Das Haager Übereinkommen beinhaltet außerdem,
dass Unterhaltsentscheidungen aus anderen Vertrags-
staaten grundsätzlich anerkannt werden.
Besonders begrüße ich, dass Kinder und Jugendli-
che unter einfachen Voraussetzungen Verfahrenskos-
tenhilfe beziehen können. Hohe Gerichts- und An-
waltskosten sollen in der Zukunft Kinder nicht mehr
davon abhalten, ihre berechtigten Forderungen gel-
tend zu machen.
Mit der Ratifikation des Haager Übereinkommens
durch die Europäische Union sind wir einem grenz-
übergreifenden und globalen System der Durchsetzung
von Unterhaltsansprüchen ein gutes Stück näherge-
kommen. In absehbarer Zeit werden weitere Länder
diesem Beispiel folgen. Viele Kinder werden von den
neuen Regeln profitieren können.
Mit dem Gesetz, über das wir heute debattieren, soll
auch ein anderer Teil des Unterhaltsrechts geändert
werden, nämlich eine Regelung zum Nachehelichen-
unterhalt. Dem liegt folgendes zugrunde: Im Jahre
2008 wurde das Unterhaltsrechts reformiert. Unter an-
derem kann nun der nacheheliche Ehegattenunterhalt
erleichtert herabgesetzt oder zeitlich begrenzt werden.
Ziel war es, die nacheheliche Eigenverantwortung zu
stärken. Das war ein richtiger Ansatz.
Nicht ausreichend berücksichtigt wurden jedoch
hierbei die sogenannten „Altehen“. Das sind Ehen, die
lange vor der Neuregelung des Jahres 2008 geschlos-
sen wurden und in denen sich die Ehepartner nicht auf
die Unterhaltsrechtsreform einstellen konnten. Hier
wurde dem Vertrauensschutz nicht ausreichend Rech-
nung getragen. Die Dauer einer Ehe wurde nicht an-
gemessen berücksichtigt. So hat auch der Bundesge-
richtshof im Jahre 2010 entschieden, dass die Be-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26389
Ingrid Hönlinger
(C)
(B)
schränkung des Anspruchs auf nachehelichen Unter-
halt unzulässig sein kann, wenn die Beschränkung mit
Blick auf die insbesondere bei Ehen von langer Dauer
gebotene nacheheliche Solidarität unbillig erscheint.
Der Vertrauensschutz wird jetzt mit der Neu-regelung
wieder hergestellt.
Das Gesetz erfüllt damit einen doppelten Zweck: Ei-
nerseits erleichtert es Kindern, ihre Unterhaltsansprü-
che über Landesgrenzen hinweg durchzusetzen; ande-
rerseits ermöglicht es den Gerichten, die Dauer einer
Ehe bei der Entscheidung über den Nachehelichenun-
terhalt stärker zu berücksichtigen. Das sind Ziele, die
wir begrüßen. Deshalb stimmen wir Grünen diesem
Gesetz zu.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11885, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10492 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Wer den Gesetzentwurf so annehmen will, den
bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dafür ist, möge aufstehen. –
Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Beratung angenommen mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Partizipation an forschungsrelevanten Ent-
scheidungen verbessern
– Drucksache 17/11687 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Zu Beginn meiner Rede möchte ich Ihnen ein Zitat
aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
lands ins Gedächtnis rufen. Ich zitiere Art. 5 Abs. 3
Grundgesetz: „Kunst und Wissenschaft, Forschung
und Lehre sind frei.“ Besonderes Augenmerk möchte
ich auf den zweiten Halbsatz „Forschung und Lehre
sind frei“ lenken. Der hier vorliegende Antrag der
Grünen torpediert den Grundsatz dieser Aussage und
zielt auf eine Planwirtschaft der Forschung ab. Wohin
dies führen kann, haben wir 60 Jahre lang im Osten
Deutschlands erlebt.
Betrachtet man den Antrag genauer, werden die
wahren Beweggründe der Grünen deutlich. Der radi-
kale Vorstoß zur Aushebelung der Freiheit der For-
schung wird als eine „Verbesserung der Partizipa-
tion“ getarnt. Dass dieser Antrag darauf abzielt, den
Forschungsprozess, so wie wir ihn kennen, auszuhe-
beln, ist anfangs nicht ersichtlich. Die Grünen sugge-
rieren mit der Überschrift des Antrags, dass vorhan-
dene Partizipationsprojekte angepasst und verbessert
werden sollten, fordern dann aber im Antrag selbst
eine komplette Umstrukturierung.
Welche wahren Absichten sich hinter diesem Antrag
verstecken, wird jedem Leser spätestens nach dem
zweiten Absatz deutlich. Es fallen Sätze, in denen von
NGO-Beteiligung an Agendasettingprozessen, von der
Einflussnahme auf Forschungsthemen und -schwer-
punkte und der Integration von nichtwissenschaftli-
chen Akteuren in Forschungsprojekten die Rede ist.
Jeder verfassungstreue Leser müsste bei diesen For-
mulierungen an die Decke gehen, beinhalten diese
Aussagen nichts Geringeres als ein Ende der uns be-
kannten Forschungsfreiheit.
Um der Rolle des Heilsbringers der grünen Klientel
gerecht zu werden, werden im weiteren Verlauf des
Antrags Forderungen gestellt, die das ganze Ausmaß
dieser Forschungsrevolte zum Vorschein bringen. Die
erwähnte Einflussnahme bei Agendasettingprozes-
sen soll durch „multiperspektivische Diskurse im
Vorfeld der Entscheidungsfindung“ stattfinden, um als
„Voraussetzung für innovationsfördernde Forschungs-
agenden bzw. ihrer Operationalisierung in For-
schungsprogrammen“ aufzutreten. Um es auf den
Punkt zu bringen: Im Vorfeld von Forschungsvorhaben
sollen von nun an Runde Tische veranstaltet werden,
bei denen nichtwissenschaftliche Akteure ideologiege-
leitetes Agendasetting betreiben können. Dem würde
ein durch Rätekonsens entschiedener Beschluss über
die zu genehmigenden Forschungsvorhaben folgen.
Dem Antrag fehlt nur noch der Vorschlag zur Einrich-
tung eines ständigen „Komitees für Agendasetting“,
um der hier vorgeschlagenen Planungswut vollen Aus-
druck zu verleihen.
Lassen Sie mich kurz den derzeitigen Weg des Agen-
dasettings beispielhaft am Gesundheitsforschungspro-
gramm skizzieren, um Ihnen deutlich zu machen, wel-
che dramatischen Folgen die Zustimmung zum Antrag
der Grünen hätte.
Im Jahre 2004 wurde bereits unter Rot-Grün der Ge-
sundheitsforschungsrat eingerichtet, der einen Road-
Map-Prozess initiierte. Hierbei wurde fachgeleitet eva-
luiert, welche Themen von Interesse sein könnten und
welche Forschungsprojekte angestoßen werden soll-
ten. Dieser Austausch fand zwischen Wissenschaftlern
statt, die das nötige Fachwissen für das Thema auf-
bringen. Aus diesen Beratungen ging eine Publikation
des Road-Map-Prozesses hervor, die an das BMBF
weitergeleitet wurde. Dass Sie nun ihre eigens kreier-
ten Strukturen aufheben wollen, spricht einmal wieder
für Ihre Inkonsistenz.
Neben dem Input durch den Rat wurden noch wei-
tere Informationen, etwa von der Forschungsunion,
26390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Florian Hahn
(C)
(B)
bezogen. Als Ergebnis dieses Prozesses entstand das
Gesundheitsforschungsprogramm, in dem sich nun
Forschung und Wissenschaft frei entfalten können, ein
Bottom-up-Prozess aus der Wissenschaft für die Wis-
senschaft.
Die Grünen planen nun ein ideologisiertes Diskus-
sionsforum von NGOs, Forschern und Zivilpersonen,
um dort zu entscheiden, welche Forschung betrieben
werden darf. Die Kompetenzen der Forschungselite
würden dabei in einem Wirrwar von Einzelinteressen
und Gefälligkeiten untergehen. Es entstünde ein Kon-
trollgremium, das Agendasetting nach eigenem Ermes-
sen vornimmt und Gefälligkeitsforschung betreibt. Von
der Freiheit der Forschung kann dann keine Rede
mehr sein.
Lassen Sie mich kurz die Auffassung der CDU/CSU-
Fraktion zu diesem Thema wiedergeben, die diesem
Antrag mehr als konträr gegenübersteht. Nicht, dass
Sie mich falsch verstehen: Wir stehen der Partizipation
von Verbänden aus der Zivilgesellschaft grundsätzlich
positiv gegenüber und unterstützen diese sogar aus-
drücklich in bestimmten Bereichen. Bei ethisch rele-
vanten Fragen wie der Stammzellforschung oder Gen-
technik werden schon heute einschlägige
gesellschaftliche Akteure, etwa über den Deutschen
Ethikrat, DER, breit eingebunden. Hier findet ein sinn-
voller Austausch zwischen Forschung und Zivilgesell-
schaft statt. Dieses erfolgreiche Konzept wollen wir
auch beibehalten.
Dieser Antrag der Grünen will ein erfolgreiches be-
stehendes Konzept durch Planwirtschaft ersetzen. Er
könnte genauso gut von der Fraktion Die Linke formu-
liert sein. Er spiegelt eine Regelwut seitens der Grünen
wider, die sich mit diesem Antrag ein Gremium schaf-
fen wollen, um eine ideologisierte Forschung voranzu-
treiben. Sie wollen sich selbst ein Sprachrohr schaffen,
um ihre eigene Agenda durchzudrücken, und tarnen
dies unter dem Deckmantel der „Partizipation der Zi-
vilgesellschaft“. Dadurch würde nichts Geringeres als
der Grundsatz der Freiheit der Forschung geopfert.
Die CDU/CSU-Fraktion tritt diesem Antrag vehement
entgegen. Sozialistische Planforschung gab es schon
einmal in Deutschland. Wir bewahren die Freiheit der
Forschung.
Wir diskutieren heute einen druckfrischen Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema
„Partizipation an forschungsrelevanten Entscheidun-
gen verbessern“. Wir finden diesen Antrag der Grünen
grundsätzlich unterstützenswert, auch wenn erst im
Verlauf des Antrags klar wird, dass es sich – richtiger-
weise – um die Partizipation an forschungsrelevanten
Entscheidungen im politischen Raum handelt, also
zum Beispiel in Parlament und Regierung, und damit
nicht um die Entscheidung in der Wissenschaft. Der
Wille zu mehr Teilhabe und Mitbestimmung der Zivil-
gesellschaft an forschungsrelevanten Themenschwer-
punkten, wie zum Beispiel der Ausrichtung und
Schwerpunktlegung der staatlich geförderten For-
schungsförderung, ist grundsätzlich als legitim anzu-
erkennen. Zwar kann sich Wissenschaft und For-
schung in Deutschland grundsätzlich auf die in Art. 5
Abs. 3 des Grundgesetzes kodifizierte Wissenschafts-
und Forschungsfreiheit berufen. Doch dieses Grund-
recht entbindet weder das Forschungs- und Wissen-
schaftssystem noch deren Akteure von der Verant-
wortung der Forschung und Wissenschaft vor der
Gesellschaft. Zudem ist durch einschlägige Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit
zur Ausgestaltung der Rahmenbedingungen des For-
schungs- und Wissenschaftssystems durch den Gesetz-
geber mehrfach bestätigt worden. Diese Möglichkeit
zur Setzung von Rahmenbedingungen hat der Gesetz-
geber in der Geschichte der Bundesrepublik bereits
mehrfach und in vielfältiger Weise wahrgenommen.
Die Schaffung und Weiterentwicklung der außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen oder aber die
Programmförderung sind nur einzelne Beispiele für
die Anwendung und Durchsetzung des Gestaltungsan-
spruches des Gesetzgebers in dieser Hinsicht.
Wenn der Gesetzgeber seinen gestalterischen An-
spruch wahrnimmt, so begründet er dies meist mit
übergeordneten staatlichen und gesellschaftlichen In-
teressen und selten mit dem Argument, die Wissen-
schaftsfreiheit zu befördern. So tat er dies beim Aufbau
einer außeruniversitären Forschungsinfrastruktur in
den 1960er-Jahren oder aber wie jüngst mit einer Auf-
stockung der Mittel für die außeruniversitäre For-
schung im Rahmen des Paktes für Forschung und
Innovation.
Bei der Planung und Konzipierung dieser Politik-
und Förderprogramme hat sich der Gesetzgeber stets
mit Akteuren aus dem Wissenschafts- und Forschungs-
system selbst oder aber mit Akteuren außerhalb des
Systems abgestimmt und rückgekoppelt. In beiden Fäl-
len tat er dies zur Steuerung und Optimierung seiner
Förderaktivitäten im Sinne einer Bedarfsermittlung.
Die Innovationsforschung spricht in diesem Zusam-
menhang von einer sogenannten Push- bzw. Pull-
Funktion.
Dabei spielt hinsichtlich der Berücksichtigung der
Bedarfe von Akteuren außerhalb des Systems Wissen-
schaft die Bündelung von Interessen und die adressa-
tengerechte Kommunikation eine besondere Rolle. Sie
ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Partizipation
im Rahmen der staatlichen Schwerpunktsetzung bei
der Weiterentwicklung des Wissenschafts- und For-
schungssystems.
Der vorliegende Antrag analysiert in diesem Zu-
sammenhang richtig, dass es hinsichtlich der Möglich-
keiten der Mitsprache und Partizipation der Industrie
– im Vergleich zu anderen zivilgesellschaftlichen
Gruppen – ein Ungleichgewicht gibt. Dieses ist histo-
risch gewachsen, stellt aber kein ausschließliches Pri-
vileg der Industrie dar und bedeutet schon gar nicht,
dass das richtig ist und so bleiben muss. Dem An-
spruch der zivilgesellschaftlichen Gruppen, vor allem
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26391
René Röspel
(C)
(B)
aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen,
hinsichtlich einer stärkeren Konsultation und letztlich
Mitbestimmung bei der künftigen Ausrichtung des For-
schungs- und Wissenschaftssystems mitwirken zu dür-
fen, gilt es Rechnung zu tragen. Denn mit einer solchen
Form der Partizipation wird Neuland betreten – so-
wohl für die zivilgesellschaftlichen Akteure als auch
für den Staat selbst. Die im vorliegenden Antrag ge-
stellte Forderung, zunächst einmal eine ausgiebige Be-
standsaufnahme zu den Möglichkeiten der bestehen-
den oder zu schaffenden Partizipation zu machen,
halten wir demnach für zielführend. Nur mit einer um-
fassenden Bestandsaufnahme, die einen für alle Betei-
ligten akzeptierten Status quo schafft, werden sich
Möglichkeiten und Verfahren der Partizipation schaf-
fen lassen, die bei allen Betroffenen und zu beteiligen-
den Akteuren auf Akzeptanz stoßen.
Ohne dieser Bestandsaufnahme vorgreifen zu wol-
len, möchte ich an dieser Stelle noch auf die mehrfach
im Antrag genannte Ressortforschung eingehen. Da
diese der Exekutive nachgelagerten Einrichtungen
zwar in ihrer Forschung frei sind, in ihrer Themenaus-
wahl jedoch dem Regierungshandeln nachgelagert
sind, muss die grundsätzliche Frage gestellt werden,
ob sie für Partizipationsverfahren der oben genannten
Art geeignet sind. Zudem besteht bei diesen Einrich-
tungen durch die enge Anbindung an die Exekutive zu-
mindest mittelbar die Möglichkeit der Partizipation
des Bürgers.
Abschließend möchte ich noch auf Folgendes hin-
weisen: Sowohl den vorliegenden Antrag als auch dem
dahinter stehenden grundlegenden Interesse zur Parti-
zipation der Zivilgesellschaft stehen wir offen gegen-
über. Noch unklare Details, also zum Beispiel wer
nach welchen Kriterien als Vertreter welcher Gruppen
in Gremien entsandt werden soll, werden wir ja noch
im Ausschuss diskutieren können. Wir möchten aber
betonen, dass jede Form der tatsächlichen oder ver-
suchten Einflussnahme – sei sie institutionalisiert oder
offen – die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit grund-
sätzlich zu wahren hat. Wie die Wissenschaft Erkennt-
nis gewinnt, soll sie stets selbst bestimmen. Gleiches
gilt auch für die freie Verbreitung der Ergebnisse.
Wenn diese Interessen gewahrt bleiben, dann werden
die im Antrag genannten Bestrebungen auch künftig
unsere Unterstützung erfahren!
Forschungspolitik ist eine gemeinschaftliche Auf-
gabe von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Ge-
meinsam werden Forschungsschwerpunkte und För-
derprogramme erarbeitet. Weder die Politik noch die
Wissenschaft sind in der Lage, alleine und voneinan-
der losgelöst ein Forschungsprogramm auszugestal-
ten. Weder die Politik noch die Gesellschaft sind ohne
die Wissenschaft imstande, zukünftige Forschungs-
schwerpunkte zu identifizieren. Nur gemeinsam und im
ständigen Austausch aller Akteure können forschungs-
relevante Entscheidungen getroffen werden. Ein sol-
cher Dialog ist keine Utopie, wie der vorliegende
Antrag „Partizipation an forschungsrelevanten Ent-
scheidungen verbessern“ von Bündnis 90/Die Grünen
glauben machen will, sondern seit langem gängige
Praxis.
Forschungsprogramme und Forschungsschwer-
punkte werden im Vorfeld von einer Vielzahl unter-
schiedlicher Akteure beraten. Es finden mehrere Run-
den und Beratungen statt, bevor die Politik bzw. das
Parlament darüber befinden. Dieses Verfahren stellt
bereits mehrfach sicher, dass die Gesellschaft und
auch die von den Grünen geforderten und genannten
zivilgesellschaftlichen Akteure einbezogen sind und
dass nicht nur, wie von den Grünen verdächtigt, die
Mainstream-Meinung abgebildet wird, sondern auch
kritische Stimmen zu Wort kommen. Anders würde es
nicht gelingen, zielgerichtet Programme zu entwerfen
oder zukünftige Forschungsschwerpunkte in die För-
derung zu bringen.
Was die Grünen tatsächlich mit ihrem Antrag be-
zwecken, verbirgt sich hinter ihrem Lieblingswort:
Transparenz. In dem gesamten Antrag wird verdäch-
tigt, dass es keine Transparenz bei der Ausgestaltung
von Forschungsprogrammen gibt. Es wird unterstellt,
dass der Mangel an Transparenz zu einer Loslösung
der Forschungspolitik von der Gesellschaft geführt
hat. Tatsächlich ist die Kritik mangelnder Transparenz
aber nur ein ideologisches Schlagwort der Grünen, um
in Wahrheit neue Verbote und ein Klima des Verdachts
zu etablieren. Denn insbesondere in Verbindung mit
der Informationsfreiheit will Transparenz – nach dem
Autor und Philosophen Byung-Chul Han –, dass die
Handlungen sich dem berechen-, steuer- und kontrol-
lierbaren Prozess unterordnen. Mit Transparenz will
man die Überwachung, man bezweckt, das von einer
gewünschten Norm Abweichende zu eliminieren. Der
Philosoph Byung-Chul Han formuliert es treffend. Die
Forderung nach Transparenz hat sich heute als ein
systemischer Zwang etabliert, der sich über alle ge-
sellschaftlichen wie politischen Prozesse legt. Be-
zweckt wird, dass sich die Politik völlig entkleidet, da-
mit man so politisches Handeln leichter an den
Pranger stellen kann.
Für mich als Liberalen bedeutet deshalb die Forde-
rung der Grünen nach mehr Transparenz, auf die stän-
dig verwiesen wird, ein Warnsignal, nicht nur für die
Politik, sondern auch für die Gesellschaft – die durch
ein stetes Vorgaukeln von Partizipationsdefizit und
Transparenzmangel gegen etwas aufgestachelt wird.
Die Grünen sind aber nicht an der Freiheit und Selbst-
ständigkeit der Wissenschaft und Forschung interes-
siert, sondern an dem langfristigen Versuch, die For-
schung einer grünen Regie zu unterwerfen. Genannt
wird im Antrag auch gleich, wen man eigentlich beför-
dern will, wem man mehr Mitsprache geben will. Ge-
nannt wird im Antrag die Plattform „Forschungs-
wende“, hinter der sich grüne Verbände verbergen. Es
geht im Grunde um die Verstärkung eines grünen Lob-
byismus. Allein schon das Wort „Forschungswende“
Zu Protokoll gegebene Reden
26392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Martin Neumann
(C)
(B)
verdeutlicht die zweifelhafte Sicht auf die Forschung.
Es wird suggeriert, dass die Forschung in Deutschland
eine Wende braucht. Es macht glauben, dass sich die
Forschung in Deutschland auf einem falschen Weg be-
findet.
Ich kritisiere deshalb nicht nur, dass die Grünen
Schlechtes mit der Transparenz im Schilde führen. Ich
kritisiere auch den Lobbyismus und die Klientelpolitik,
denen sie mit ihrem Antrag Vorschub leisten. Denn sie
fordern die Bundesregierung einseitig dazu auf, orga-
nisierten Akteuren und Interessenvertretern ein stärke-
res Mitspracherecht bei der Gestaltung von For-
schungsprogrammen und Forschungsschwerpunkten
zu geben. Das Kuriose ist dabei – es wird auch gleich
proklamiert –, welchen Forschungsschwerpunkt man
befördern möchte. Die Nachhaltigkeitsforschung bzw.
die sozial-ökologische Forschung, für die die Grünen
werben, soll um jährlich 5 Prozent steigen. Warum und
aus welchen forschungspolitischen Gründen, wird
nicht genannt. Das ist pure Klientelpolitik und hat
nichts mit Redlichkeit zu tun.
Wir Liberale lehnen den Antrag ab, weil er nicht
unser Verständnis von Forschungspolitik trifft. Interes-
sengruppen werden bei der Ausgestaltung und Identifi-
kation von Forschungsprogrammen und Forschungs-
schwerpunkten einbezogen. Auch institutionalisierte
Beteiligung gibt es. Es werden keine Stellungnahmen
von Interessengruppen und Akteuren ausgeklammert
oder nicht berücksichtigt. Wer das glauben macht, hat
aufgehört, an die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland
zu glauben.
Wir Liberale erkennen aber an, dass wir den einzel-
nen Bürgern stärker als zuvor die Politik verständlich
machen müssen, welche Prozesse und Entscheidungen
im Hinblick auf Wissenschaft und Forschungspolitik
getroffen werden. Wir müssen Wissenschaftspolitik er-
klären. Dem stellen wir Liberale uns und werden dies
auch weiterhin tun. Einen ersten Ansatz haben wir be-
reits in dieser Legislaturperiode mit dem Bürgerdialog
geschaffen – daran gilt es nun anzuknüpfen, und es
gilt, das weiter zu stärken. Denn wir wissen, dass die
Forschung den Dialog mit der Gesellschaft braucht.
Deshalb werden wir zukünftig noch weitere Dialog-
plattformen einrichten und weiter den Dialog mit den
Bürgern zu den Themen Energietechnologien für die
Zukunft, Hightechmedizin oder zum demografischen
Wandel erfolgreich führen. Der Antrag von den Grü-
nen wird diesem Anspruch in keinster Weise gerecht.
Er will keine Partizipation schaffen, sondern Antizipa-
tion von forschungsrelevanten Entscheidungen.
Wir freuen uns, dass die Kolleginnen und Kollegen
der Grünen sich im vorliegenden Antrag der Frage an-
nehmen, wie mehr Partizipation in die Schwerpunkt-
setzung zur Forschungsförderung gebracht werden
kann. Auch meine Fraktion mahnt dies seit langem an.
Wir vermissen im Antrag jedoch erstens eine präzisere
Analyse der Probleme der aktuellen Beratungs-,
Foresight- und Entscheidungsprozesse und zweitens
effektive und überzeugende Lösungsansätze.
Denn die Einseitigkeit, mit der seit langem die Inno-
vationsförderung in diesem Land auf technologie-
basierte Exporterfolge getrimmt wird, wird den kom-
plexen Zukunftsproblemen nicht gerecht. Man muss
dabei gar nicht bis zu Heinz Riesenhubers Zeit als
Forschungsminister zurückgehen.
In Zeiten der rot-grünen Koalition hatte die dama-
lige Bundesregierung eine „Innovationsoffensive“ auf
den Weg gebracht und gemeinsam mit illustren
Partnern vom BDI, der BASF, der Telekom, EnBW,
Schering, Siemens, Roland Berger und anderen
„Leuchtturmprojekte“ für ein besseres Innovations-
klima entwickelt. Wir erinnern uns noch an die Kam-
pagne „Du bist Deutschland“, die in diesem Rahmen
entstanden ist. In Zeiten der Großen Koalition unter
Kanzlerin Merkel und Forschungsministerin Schavan
wurde das Label Hightech-Strategie entwickelt. Bis
heute finden sich in den Beratungsgremien zu den
Themen Forschung, Technologie und Innovation fast
ausschließlich Vertreter großer, exportstarker Unter-
nehmen, ihrer Verbände oder anwendungsnaher
Forschungsrichtungen.
Wir erinnern uns an den „Rat für Innovation und
Wachstum“, den die Kanzlerin kurz nach ihrem Amts-
antritt berief. Geleitet wurde er von Heinrich von
Pierer von Siemens, der später im Zuge von Schmier-
geldzahlungen in die Kritik geriet. Weitere Mitglieder
waren etwa die Vorstandschefs von ThyssenKrupp,
Bayer, SAP und DaimlerChrysler. Gewerkschaften,
Verbraucher- oder Umweltverbände? Fehlanzeige.
Von Geschlechtergerechtigkeit war ebenfalls nichts zu
sehen. Schon damals fragten wir, wie eine solche
Runde Lösungen zum Klimaschutz, zur Energiewende
oder für soziale Innovationen angemessen beraten
soll.
Zwischenzeitlich wurde auch eine Verkehrswende
notwendiger denn je, wenn unsere Städte lebenswert
bleiben, das Klima geschützt und die Mobilität aller
gesichert werden soll. Und wie lässt sich die Bundes-
regierung zu diesem Thema beraten? Die Automobil-
industrie und die Energieversorger, Hauptprofiteure
der Innovationsförderung, dürfen im Rahmen der
Nationalen Plattform Elektromobilität die neue „Leit-
technologie“ für die Exportmärkte bewerben. Von den
148 Mitgliedern, die in den Arbeitsgruppen der Platt-
form arbeiten, wurden 111 aus der Industrie entsandt.
Lediglich drei kommen von Umwelt-, Verkehrs- oder
Verbraucherverbänden. Die Subventionsforderungen
in dem 2011 übergebenen Bericht der Plattform sum-
mieren sich auf 4 Milliarden Euro. Die Bundesregie-
rung hat 1 Milliarde Euro jährlich zugesagt. Allein:
Die Ergebnisse der immensen staatlichen Förderung
ernüchtern.
Die deutschen Hersteller produzieren weiter Fahr-
zeuge mit starken Spritschluckmotoren. Von einer ech-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26393
Dr. Petra Sitte
(C)
(B)
ten Verkehrswende hin zu mehr kollektiver Mobilität in
Bahnen und Bussen war ohnehin nie die Rede.
Diese Einseitigkeit zeigt sich ebenfalls beim soge-
nannten Bioökonomierat, der sich mit den Themen
rund um die Verwertung von Tieren und Pflanzen
befasst und sich regelmäßig für industriefreundliche
Lösungen etwa bei der Zulassung von gentechnisch
veränderten Pflanzen oder der Patentierung von
Forschungsergebnissen und -methoden einsetzt.
Um es klar zu sagen: Wir kritisieren nicht, dass sich
Unternehmen an der Debatte um Förderprioritäten
beteiligen und natürlich ihre Interessen wahrnehmen.
Uns geht es darum, dass diese exklusive und direkte
Mitsprache anderen verwehrt wird, die diese Diskurse
bereichern und voranbringen könnten. Forschung,
Technologie und Innovation gestalten unsere Lebens-
welt von morgen, sie sollen komplexe Probleme lösen
helfen, die uns alle betreffen werden. Für die Lösung
reicht häufig die Schaffung neuer Produkte nicht aus.
Vielmehr müssen umfassende gesellschaftliche Verän-
derungsprozesse, soziale Innovationen entwickelt und
verabredet werden.
Wir halten es daher für richtig, dass Arbeitnehmer-
vertretungen und Gewerkschaften, dass Umwelt-,
Verbraucher- und Interessenverbände, dass auch kriti-
sche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und
Verwaltungen, Ressortforschungseinrichtungen und
Behörden einbezogen werden und ihre Expertise bei-
tragen können. Mit der zivilgesellschaftlichen Platt-
form „Forschungswende“ haben sich viele dieser
Verbände und sozial-ökologischen Forschungseinrich-
tungen bereits zusammengefunden und fordern ihre
Mitsprache ein.
Uns ist daher unverständlich, wieso der Antrag der
Grünen angesichts der drängenden Probleme vor al-
lem Prüfaufträge und Konzeptstudien verteilen will.
Aus unserer Sicht springt er damit zu kurz. Immerhin
werden bereits jetzt in Deutschland und Europa die
Forschungsagenden für die kommenden zehn Jahre
über 2020 hinaus entwickelt.
Meine Fraktion wird daher einen eigenen Antrag
zum Thema vorlegen. Zur Unterstützung der sozial-
ökologischen Forschung haben wir in den Haushalts-
verhandlungen einen starken Aufwuchs und ein umfas-
sendes Konzept für Nachhaltigkeitsinnovationen und
Transformationsforschung beantragt. Obwohl die
Regierungskoalition dies abgelehnt hat, werden wir
uns auch in den kommenden Verhandlungen weiter für
eine Forschungswende stark machen. Wir brauchen
mehr Transparenz, mehr Demokratie, eine echte For-
schungsfreiheit öffentlich finanzierter Wissenschaft
und einen klaren Fokus der Innovationsförderung auf
einen sozial-ökologischen Umbau unserer Gesell-
schaft.
Forderungen nach mehr Transparenz und Partizi-
pation in der Forschung erleben in letzter Zeit starken
Aufwind. Zu beobachten war dies zuletzt besonders
nachdrücklich auf vielen Veranstaltungen, die im Zu-
sammenhang mit dem nun zu Ende gehenden Wissen-
schaftsjahr 2012 standen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen forderten, an soge-
nannten Agendasettingprozessen stärker beteiligt zu
werden und damit Einfluss auf Forschungsthemen und
Forschungsschwerpunkte zu nehmen. Bürger und Bür-
gerinnen bekundeten ihre Bereitschaft und ihr Inte-
resse an dialogorientierter Kommunikation und ande-
ren bürgerpartizipativen Verfahren. Und schließlich
ging es um die Frage, wie nichtwissenschaftliche Ak-
teure und nichtwissenschaftliches Wissen bei konkre-
ten Forschungsprojekten stärker integriert werden
können.
Zivilgesellschaftliche Gruppen monierten auch,
dass Gremien und Expertengruppen, die maßgeblich
an der Prioritätensetzung in der Wissenschaftspolitik
beteiligt sind, einseitig besetzt sind.
Und es gibt die Kritik, dass die Verfahren, wie For-
schungsagenden entstehen, von außen kaum durch-
schaubar und von vielen informellen, intransparenten
Aushandlungsprozessen geprägt sind.
Meine Fraktion hat diese Diskussionen aufmerksam
verfolgt. Ich halte es für angezeigt, jetzt, am Ende des
Wissenschaftsjahrs, ein Resümee zu ziehen und ernst-
haft gemeinsam zu überlegen: Wie können diese Im-
pulse auf eine nachhaltige Basis gestellt werden? Was
kann Politik leisten, um Wissenschaft transparenter
und Agendasetting in der Forschungspolitik partizipa-
tiver zu gestalten?
Dass sich die Debatte um Partizipation und Trans-
parenz jetzt so vehement stellt, kommt nicht von unge-
fähr. Sie ist auch Ausdruck davon, dass Wissenschaft
heutzutage einen enormen Bedeutungszuwachs erfah-
ren hat. Zur Diskussion steht nicht mehr und nicht we-
niger als ein neues Verhältnis zwischen Wissenschaft,
Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Je mehr Ideologien und Weltanschauung in einer
pluralen Gesellschaft an Begründungskraft eingebüßt
haben, desto stärker richtet sich die öffentliche Auf-
merksamkeit auf Wissenschaft und Forschung. Legiti-
mation politischer Entscheidungen läuft immer stärker
über den Hinweis auf wissenschaftliche Expertise. Wis-
senschaftliche Erkenntnisse spielen im Ringen um die
beste politische Lösung eine entscheidende Rolle. Sie
werden nicht nur als wichtige Grundlage für Innova-
tion und Wohlstandsentwicklung gesehen. Es steigt
auch zunehmend der Erwartungsdruck gegenüber
Forschung und Wissenschaft, Lösungen für große ge-
sellschaftliche und globale Herausforderungen wie
Klimawandel, demografische Entwicklung, Finanz-
marktkrise oder Energiewende zu entwickeln.
Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass immer
mehr Akteure mitreden wollen, wenn es darum geht,
welche Fragen zukünftig vorrangig mit öffentlichen
Geldern erforscht werden sollen, wie Forschungsbe-
Zu Protokoll gegebene Reden
26394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Krista Sager
(C)
(B)
darfe identifiziert und welche Schwerpunkte gesetzt
werden. Der Impuls von Umweltverbänden, Kirchen,
Gewerkschaften, Verbraucherschutz- und entwick-
lungspolitischen Verbänden, sich in der zivilgesell-
schaftlichen Plattform „Forschungswende“ zusam-
menzutun, um Einfluss auf Forschungsagenden zu
nehmen, ist vor diesem Hintergrund völlig nachvoll-
ziehbar.
Wissenschafts- und Forschungspolitik kommt also
gar nicht darum herum, sich in Zukunft verstärkt kriti-
schen Fragen auszusetzen: Wie strukturiert ihr eigent-
lich eure Agendasettings, wenn es um Forschung geht?
Wer ist an diesen Prozessen beteiligt, wer ausgeschlos-
sen? In welchen Kreisen wird über Forschungspro-
gramme entschieden? Was wird in welcher Höhe von
wem warum mit öffentlichen Mitteln erforscht?
Meine Fraktion hat Ihnen nun verschiedene Vor-
schläge gemacht, um bei der Diskussion um Partizipa-
tion weiterzukommen.
Wir stellen fest: Einen systematischen Überblick da-
rüber, wo überall in der Forschungsförderung geeig-
nete Ansatzpunkte für mehr Partizipation liegen, gibt
es bislang nicht. Aus diesem Grund ist auch in vielen
Fällen unklar, an welchen Stellen partizipative Ele-
mente wie weit gehen können. Die Ansatzpunkte für
Partizipation dürften angesichts der unterschiedlichen
Formen öffentlicher Forschungsförderung – wie insti-
tutionelle Förderung, Projektförderung, personenbe-
zogene Förderung oder Ressortforschung – durchaus
unterschiedlich sein. Wir Grünen schlagen daher vor,
zuallererst eine Bestandsaufnahme zu erarbeiten. Auf
dieser Basis ist dann zu bewerten, wo partizipative
Elemente im Forschungs- und Forschungspolitikbe-
reich Sinn machen, wie weit sie reichen können und wo
zu ihrer Durchsetzung Politik gefragt ist.
Wir brauchen außerdem Grundlagen und Konzepte,
nicht nur wo, sondern auch wie in entsprechende Pro-
zesse partizipative Verfahren besser integriert werden
können. Das ist schon allein deshalb nötig, weil beste-
hende Bürgerbeteiligungsverfahren viel zu oft in Frus-
trationen enden. Beteiligungsverfahren, die bei den
Beteiligten als wirkungslos erfahren werden, machen
keinen Sinn. Denn wo es faktisch nichts zu entscheiden
gibt, wird Partizipation zur bloßen Scheinpartizipa-
tion. Um solchen Tendenzen vorzubeugen, können die
Erfahrungen mit Verfahren und Methoden partizipati-
ver Beteiligung hilfreich sein, wie sie in der Technik-
folgenabschätzung oder auch international aus Bür-
gerbeteiligungsprozessen vorliegen.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, Mittel
zur Verfügung zu stellen, damit Konzepte partizipati-
ver Governanceformen etabliert, weiterentwickelt und
mit Blick auf ihre Effekte und Nachhaltigkeit evaluiert
werden können.
Wir sollten uns aber auch die Frage stellen, wie zu-
künftig zum Beispiel in der Ressortforschung systema-
tisch Forschungsbedarfe und Forschungsfragen parti-
zipativ identifiziert werden können.
Und noch auf einen weiteren Einsatz, auf den ich im
Rahmen des Wissenschaftsjahrs gestoßen bin, möchte
ich hinweisen: Wie oft werden wir als Mitglieder des
Bundestages nicht mit interessanten forschungsbezoge-
nen Ideen aus der Mitte der Gesellschaft konfrontiert,
deren Güte wir schwer beurteilen können, deren Ideen
aber durchaus vielversprechend klingen? Deshalb
schlagen wir vor, ein Pilotprogramm für innovative,
originelle und pionierhafte Kleinstprojekte mit For-
schungsbezug aufzulegen, die von Bürgerinnen und
Bürgern beantragt werden können.
Wissenschaftspolitik täte auch gut daran, dort, wo
bislang forschungspolitische Agendasettingprozesse
stattfinden, die Basis der beteiligten Akteure breit und
heterogen aufzustellen. Ein Beitrag dazu wäre, ent-
scheidungsrelevante und beratende Foren und Gre-
mien aktiv für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilge-
sellschaft zu öffnen. Wir brauchen außerdem mehr
finanzielle Unterstützung von Kooperationsbeziehun-
gen zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Wäh-
rend es an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und
Wirtschaft nämlich bereits vielfältige öffentlich unter-
stützte Kooperationsformen und -mechanismen gibt,
ist dergleichen an der Schnittstelle zwischen Wissen-
schaft und Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt. Dies
sollte sich ändern.
Bei einer Auseinandersetzung mit dem Thema Par-
tizipation in der Forschung darf eine Würdigung der
Leistungen der sozial-ökologischen und Nachhaltig-
keitsforschung nicht fehlen. Die transdisziplinäre For-
schungspraxis verfügt hier über vielfältige Expertise
und Best-Practice-Erfahrung zu Beteiligungsverfah-
ren. Das konzeptionelle Know-how der transdiszipli-
nären Forschung gilt es zukünftig stärker zu nutzen.
Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, warum
die transdisziplinäre sozial-ökologischen Forschung
im Bundeshaushalt für 2013 eine Kürzung erfährt. Zur
Bewältigung hochkomplexer Problemlagen wie Klima-
wandel, demografischer Wandel oder Energiewende
bedarf es einer Verstetigung, Stärkung und Weiterent-
wicklung solcher Ansätze.
Der Anspruch, Wissenschaft und Forschungspolitik
stärker Prinzipien von Transparenz und Information,
Konsultation und Mitbestimmung zu verpflichten, ist
ambitioniert. In diesem Bereich gibt es keine Patentre-
zepte und keine schnellen Antworten. Wir sollten das
Ende des Wissenschaftsjahrs 2012 als Auftakt dafür
nehmen, um die Impulse für mehr Partizipation und
Transparenz aufzugreifen und weiterzuentwickeln.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11687 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-
gen. Sie sind damit einverstanden? – Dann geschieht das
so.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26395
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e:
30 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bundesbericht Forschung und Innovation
2012
– Drucksache 17/9680 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Gutachten zu Forschung, Innovation und
technologischer Leistungsfähigkeit 2012
– Drucksache 17/8872 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Starke Fachhochschulen für Innovationen in
Gesellschaft und Wirtschaft
– Drucksache 17/9574 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschen Innovationsfonds einrichten – Gra-
vierende Förderlücke im deutschen Innova-
tionssystem endlich schließen
– Drucksache 17/11826 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Soziale Innovationen und Dienstleistungsinno-
vationen erforschen und fördern
– Drucksache 17/8952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Wir haben eine Vision: Deutschland – ein Land ei-
ner starken Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die ge-
prägt wird von Bildung, Forschung und Innovationen,
von denen alle Teile der Gesellschaft profitieren.
Denn: Bildung, Forschung und Innovationen sichern
unseren Wohlstand und die Lebensqualität unserer
Kinder.
„Vertrauen ist für alle Unternehmungen das Be-
triebskapital, ohne welches kein nützliches Werk aus-
kommen kann.“ Das hat Albert Schweitzer einmal ge-
sagt, und er hatte recht. Vertrauen ist die Basis: Das
gilt für alle Unternehmungen, das gilt für die For-
schung, und das gilt natürlich ebenso für die Politik.
Woher kommt das Vertrauen? Vertrauen entsteht
durch Verlässlichkeit, durch Berechenbarkeit, durch
nachhaltiges, verantwortungsvolles Handeln. Es ist
selbstverständlich, dass wir als Politiker uns dieses
Vertrauen der Menschen immer wieder erarbeiten
müssen.
Was hat dies mit Forschung und Innovation zu tun –
das Thema, über das wir heute sprechen? Das Exper-
tengutachten für Forschung und Innovation zeigt wie-
der einmal ganz deutlich, dass dieses Politikfeld in der
christlich-liberalen Koalition von großem gegenseiti-
gem Vertrauen geprägt ist. Die Politik vertraut der
Wissenschaft, und die Wissenschaft vertraut der Poli-
tik. Denn: Wir sichern die notwendigen Mittel für die
Forschung; wir sichern Wissenschaftsfreiheit; wir si-
chern gute Rahmenbedingungen für Innovationen und
Unternehmensgründungen; wir machen dies aus tiefer
Überzeugung und aus Respekt vor den großartigen
Leistungen unserer Forscherinnen und Forscher in
Deutschland: in den Forschungseinrichtungen, in den
Hochschulen, in den vielen großen und kleinen Unter-
nehmen. Wir verlassen uns auf sie, und sie können sich
auch auf uns verlassen.
Dass sich Wissenschaftler, Forscher, Hochschulleh-
rer und Studierende auf uns verlassen können, das
beweist das vorliegende EFI-Gutachten. Es stellt der
christlich-liberalen Koalition ein hervorragendes
Zeugnis aus: Seitdem Bildungsministerin Annette
Schavan im Amt ist, haben sich die Investitionen in Bil-
dung und Forschung um mehr als 50 Prozent erhöht.
Mit der Exzellenzinitiative, der Hightech-Strategie,
dem Qualitätspakt Lehre, dem Hochschulpakt und dem
Pakt für Forschung und Innovation schaffen wir die
entscheidenden Voraussetzungen für die „Bildungsre-
publik Deutschland“. Niemals gab es weniger Schul-
abbrecher, nie gab es mehr Abiturienten und Studien-
anfänger, nie gab es mehr Hochschulabsolventen.
26396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Philipp Murmann
(C)
(B)
Unser Ziel, 3 Prozent in Forschung und Entwick-
lung zu investieren, haben wir mittlerweile schon fast
erreicht. Pro 1 Million Einwohner weist Deutschland
zudem etwa doppelt so viele weltmarktrelevante Pa-
tente auf wie die USA. Beides zeigt: Endlich gehört
Deutschland weltweit auch in der Forschung wieder
zu den Besten.
Natürlich gibt es immer Raum für Verbesserungen.
An diesen Verbesserungen arbeiten wir kontinuierlich.
Denn um weiterhin an der Spitze zu stehen, brauchen
wir noch mehr Offenheit für Neues, mehr Offenheit für
Unbekanntes. Wir brauchen an der einen oder anderen
Stelle mehr Wagemut.
Das gilt auch für Europa. Die EFI-Gutachter war-
nen hier zu Recht: Trotz hoher Ausgaben für die EU-
Strukturfonds liegen zu viele Länder weit hinter den
gemeinsamen Zielen zurück. Hier sind wir alle gefor-
dert!
Aber lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt
eingehen: Wissen in der Wissenschaft zu vermehren
– oder wie es so schön im Englischen heißt: „Research
for Library“ – das reicht nicht. Nein, die Anwendung
des Wissens in der praktischen Welt des Lebens ist
mindestens ebenso wichtig. Es geht um neue Produkte,
um neue Verfahren und um neue Arbeitsplätze – und
zwar solche mit Wissensvorsprung.
Davon haben wir in den letzten Jahren immerhin
schon mehr geschaffen als jede Regierung zuvor:
Mehr als eine halbe Million Menschen arbeiten heute
in Deutschland im Bereich Forschung und Entwick-
lung.
Aber – es müssen noch mehr Forschungsergebnisse
zu neuen Unternehmungen führen. Schon jetzt schaffen
Unternehmensgründer immerhin 500 000 Arbeits-
plätze pro Jahr, und zwar nachhaltig. Ich wiederhole:
500 000. Jedes Jahr. Hierauf müssen wir unser Augen-
merk richten.
Ich nehme die Anmerkungen der EFI-Gutachter
zum Thema Unternehmensgründungen daher gerne
auf.
Unternehmensgründungen sind das Herz der deut-
schen Wirtschaft. Sie sind gerade für die Standhaftig-
keit unserer Wirtschaft in den jüngsten Krisenjahren
ein positives Beispiel.
In neuen Unternehmen werden innovative Produkte,
Prozesse und Geschäftsmodelle entwickelt und umge-
setzt. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zum
notwendigen strukturellen Wandel in Deutschland.
Leider haben viele in der Opposition dieses noch
nicht erkannt und gehen diesen Weg nicht mit. Sie ver-
harren in ihren alten Denkmodellen – der Staat müsse
auch dieses richten und regulieren. Ich dagegen
glaube an den Ausspruch:
„Die Flucht vor dem Risiko des Wandels bedeutet
Flucht vor Selbstständigkeit und unternehmerischer
Freiheit.“
Wir fördern den Wandel, wir wollen mehr Selbst-
ständigkeit, wir wollen mehr Freiheit. Wir wollen den
Menschen den Raum und die Freiheit geben, Zukunft
verantwortlich zu gestalten.
Unser nächstes Ziel ist daher die weitere Verbesse-
rung gründungsfreundlicher Rahmenbedingungen.
Für Unternehmensgründer bietet der Standort
Deutschland schon jetzt eine Reihe von Vorteilen.
Dazu zählen unsere Infrastruktur, effektive öffentliche
Förderprogramme, der Schutz des geistigen Eigen-
tums und noch: ausreichend gute Fachkräfte.
In der Gründungs- wie auch in der Wachstumsphase
stellt gerade die Finanzierung für viele junge, innova-
tive Unternehmen eine zentrale Herausforderung dar.
„Business Angels“ können hierbei einen entscheiden-
den Beitrag leisten, weil sie eine Kombination aus fi-
nanziellen Unterstützern und erfahrenen Begleitern
darstellen. Sie vertrauen in die jungen Leute, in ihre
Ideen. Dieses Potenzial der Business Angels und ande-
rer Wagniskapitalgeber wollen wir noch stärken nut-
zen. Daran arbeiten wir.
Entsetzt bin ich dagegen vom Ansatz der SPD. Der
vorliegende Antrag der SPD fordert, die Konzentra-
tion von Bundesmitteln auf die MINT-Fächer an den
Fachhochschulen zu beenden.
Das ist doch der vollkommen falsche Weg! Der An-
trag ist nur so zu erklären, dass die SPD die Zahlen
nicht kennt: Der Bedarf der deutschen Wirtschaft an
Berufseinsteigern aus den MINT-Fächern wächst kon-
tinuierlich. Schon jetzt fehlen in den Bereichen Mathe-
matik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik
mehr als 200 000 Arbeitnehmer. Und um diesen Bedarf
zu decken, ist vor allem eine Förderung des Ausbaus
der MINT-Fächer an den Hochschulen von existentiel-
ler Bedeutung für den Forschungs- und Wirtschafts-
standort Deutschland. Eine Rücknahme der derzeiti-
gen Förderung wäre das falsche Signal.
Immerhin verteufelt der SPD-Antrag nicht mehr die
Drittmitteleinwerbung der Hochschulen. Ich freue
mich über den Erkenntnisgewinn der Sozialdemokra-
ten, dass Drittmittel einen wichtigen Beitrag zur For-
schung in Deutschland leisten. Durch die zunehmende
Drittmitteleinwerbung konnten die Hochschulen im
Jahr 2009 gut 6 Prozent mehr in Forschung und Ent-
wicklung investieren. Dadurch hat sich die Zahl der
Beschäftigten in diesem Bereich um mehr als 8 Prozent
erhöht. Auch diese Zahlen belegen den erfolgreichen
Weg, den wir eingeschlagen haben.
Seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, geht es
den Menschen und geht es unserem Land besser. Seit-
dem die CDU regiert, geht es auch den Forschern und
Wissenschaftlern in unserm Land besser. Dies belegt
das EFI-Gutachten sehr deutlich.
Die christlich-liberale Koalition im Bund investiert
massiv in Bildung und Forschung, weil wir an die Bil-
dungsrepublik Deutschland glauben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26397
Dr. Philipp Murmann
(C)
(B)
Die Bundesländer, in denen SPD, Grüne und Linke
regieren, rufen nach dem Geld des Bundes, weil sie
ihre Haushalte nicht in den Griff bekommen. Anstatt
ihr Geld in Bildung und Forschung zu investieren,
konsumieren sie es lieber im allgemeinen Regulie-
rungsdschungel oder in teuren Prestigeprojekten.
Ich appelliere daher an diese Bundesländer, endlich
der Grundgesetzänderung zuzustimmen, durch die
weitere Kooperationen zwischen Universitäten und
außeruniversitären Forschungseinrichtungen möglich
werden. Alle Experten sind sich einig, dass diese
Grundgesetzänderung sinnvoll und notwendig ist.
Sie schafft Planungssicherheit und Verlässlichkeit
für Hochschulen, die Ihre Länder, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren der Opposition, nicht bieten
können oder wollen.
Die Arbeitsplätze von morgen entstehen nicht mit
Antworten von gestern. Die Arbeitsplätze von morgen
entstehen durch Innovationen und kreative Ideen unse-
rer Forscher und Gründer in Deutschland.
Kommen Sie zur Vernunft, werden sie endlich Ihrer
Verantwortung gerecht und geben Sie Ihre wahlkampf-
bedingte Blockadehaltung im Bundesrat auf. Sie scha-
den damit Deutschland.
Deutschland ist der Fels in der Brandung im krisen-
geschüttelten Europa. Wir haben die Weltwirtschafts-
krise 2008 besser als andere Länder überstanden und
sind heute die Wirtschaftslokomotive Europas.
Dieser Erfolg hat viele Väter: die Konjunkturpro-
gramme, die Verbesserung der Rahmenbedingungen
auf dem Arbeitsmarkt, der Bürokratieabbau und vor
allem unsere große Innovationskraft und unsere nach-
haltige Wachstumsstrategie, die der Bundesbericht
Forschung und Innovation 2012 ausführlich be-
schreibt.
Unsere Stärken sind unsere vielfältige Forschungs-
landschaft mit exzellenten Universitäten und For-
schungseinrichtungen, die auf dem Weg in die Wis-
sensgesellschaft vorangehen, die gute Vernetzung
zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die exzellenten
Forschungsförderprogramme und unser hocheffizien-
tes Innovationssystem.
Mit fast 2,9 Prozent des BIP haben wir noch nie so-
viel in Forschung und Innovation investiert wie heute.
Allein die Bundesregierung gibt in diesem Jahr im
Rahmen ihrer Hightech-Strategie mit knapp 14 Mil-
liarden Euro über 50 Prozent mehr für Forschung aus
als 2005. Auch die Länder haben großartige neue For-
schungsprogramme aufgelegt und – wie Hessen mit
dem Programm LOEWE – ihre Forschungsausgaben
erhöht.
Unsere Wirtschaft, die ihre Forschungsausgaben
trotz Krisenzeiten seit 2005 ebenfalls erheblich gestei-
gert hat, gehört zu den innovationsstärksten der Welt.
Als eine der weltweit führenden Exportnationen sind
wir gerade bei Technologieexporten die Nummer eins.
Mit Hightech „made in Germany“ halten wir vor al-
lem in den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau,
Elektroindustrie, Automobilbau, Chemie, Medizintech-
nik, Umwelt- und Energietechnik eine Spitzenstellung
auf den Weltmärkten. Als Hidden Champions punkten
dabei gerade unsere mittelständischen Unternehmen.
Sie stellen rund 40 Prozent unserer Weltmarktführer
und sind mit rund 130 000 innovativen Firmen wesent-
liche Treiber des technischen Fortschritts.
Diese Stärken bleiben auch künftig die Basis für un-
sere Wirtschaftskraft, unsere Arbeitsplätze und unseren
Wohlstand. Und sie werden uns helfen, die Herausfor-
derungen der Zukunft zu meistern, von Klimawandel
und Energiewende bis zur alternden Gesellschaft und
Katastrophenvorsorge.
Das EFI-Gutachten und der BuFI 2012 bestätigen
erneut die Richtigkeit der zahlreichen Innovations-
maßnahmen, die wir mit der neuen Hightech-Strategie
2020 auf wichtige Zukunftsmärkte wie Gesundheit,
Energie und Mobilität fokussiert haben. Aber sie be-
stätigen auch erneut, dass wir uns noch mehr anstren-
gen müssen, um im globalen Innovationswettlauf auch
künftig ganz vorne mit dabei zu bleiben.
Die Konkurrenz ist groß und andere Länder sind
uns immer dichter auf den Fersen, nicht weil wir
schlechter werden, sondern weil andere immer schnel-
ler besser werden. Bei ihrer Aufholjagd investieren sie
zunehmend mehr Geld in Bildung, Forschung und
Entwicklung. So haben andere führende Wirtschafts-
nationen wie Japan und Südkorea mit Forschungsaus-
gaben von rund 3,5 Prozent die 3-Prozent-Marke
längst hinter sich gelassen, die auch die Europäische
Union bereits im Jahr 2000 als Ziel ausgerufen hat, um
ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Deutschland ist
mit seinen 2,9 Prozent zwar auf einem guten Weg, muss
aber seine Forschungsintensität noch erheblich stei-
gern, um mit der Spitzengruppe gleichzuziehen. Und
um als Innovationsmotor Europa als Ganzes voranzu-
bringen – denn wenn Europa 3 Prozent erreichen soll,
muss Deutschland als stärkste Industrienation wesent-
lich mehr anstreben.
Besondere Dynamik entwickeln zunehmend die
Schwellenländer, allen voran China, das zu einer der
führenden Wirtschaftsmächte aufgestiegen ist und mit
einer offensiven Innovationsstrategie an die Weltspitze
drängt. Die EFI-Gutachter haben China als eine unse-
rer größten Herausforderungen für die Zukunft be-
zeichnet. Und das zu Recht: China hat seine For-
schungsausgaben seit 1999 um 20 Prozent pro Jahr
gesteigert und investiert heute mit rund 2 Prozent des
BIP fast dreimal so viel in die Forschung wie 1999.
Absolut gesehen waren das 2010 rund 200 Milliarden
US-Dollar – schon halb so viel wie in den USA und nur
ein Viertel weniger als die EU. Davon kommt ein sehr
großer Teil aus der Wirtschaft, die konsequent auf neu-
este Technologien, auf Import von Know-how und den
Ausbau von Hightechsektoren setzt. Außerdem verlas-
sen jährlich rund 1,5 Millionen MINT-Absolventen,
Zu Protokoll gegebene Reden
26398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dr. Heinz Riesenhuber
(C)
(B)
das heißt Absolventen naturwissenschaftlich-techni-
scher Fächer die chinesischen Universitäten, in
Deutschland sind es nur rund 90 000.
Noch ist es bisher mehr Masse als Klasse, was in
China produziert wird, aber auch die Qualität steigt
stetig an, wie die zunehmende Zahl der wissenschaftli-
chen Zitate der chinesischen Fachartikel in anderen
Publikationen zeigt. Außerdem steht China inzwischen
auf Platz zwei weltweit bei der Produktion von Spitzen-
technologien. Wichtiges Beispiel hier ist die Photo-
voltaikindustrie. Was die chinesische Konkurrenz mit
den Solarunternehmen in Deutschland macht, sehen
wir an der steigenden Anzahl von Insolvenzen in die-
sem Bereich. Auch bei der Elektromobilität will China
Leitmarkt werden – ebenso wie wir. Und die Chinesen
erobern immer mehr Kompetenzfelder, in denen wir
traditionell auf dem Weltmarkt führend sind, vom
Automobil- und Maschinenbau bis zu Energie- und
Umwelttechnologien.
Gleichzeitig ist China – ebenso wie andere Schwel-
lenländer – ein gewaltiger Markt, den wir mit innova-
tiven Produkten und Anlagen „made in Germany“
noch weiter erobern können. Viele deutsche Unterneh-
men und Forschungsinstitute sind ja schon erfolgreich
in China tätig.
Damit wir diese Chancen durch Innovation auch
künftig nutzen und Konkurrenten wie China in Schach
halten können, brauchen wir nicht nur eine neue
China-Strategie einschließlich einer intensiven Inno-
vationspartnerschaft, wir müssen unsere Innovations-
kraft im Ganzen stärken.
Neben besseren Rahmenbedingungen für die For-
schung an Hochschulen und für die Ausbildung von
exzellenten Fachkräften brauchen wir hier – und das
betonen die EFI-Gutachter ausdrücklich – insbeson-
dere ein besseres Umfeld für die Gründung und das
Wachstum junger Technologieunternehmen. Denn das
ist der schnellste Weg, neues Wissen erfolgreich in die
Märkte zu bringen und neue Marktchancen zu er-
schließen. Der große Erfolg von Unternehmen wie
Microsoft, Apple, SAP und Google zeigt das Potenzial,
das in solchen Technologiegründungen stecken kann.
Deutschland hat hier Defizite, denn besonders in
dem für unseren Innovationsstandort so wichtigen Be-
reich der Spitzentechnologien wie Biotechnologie,
Pharmazie, Mess- und Steuertechnik nimmt die Grün-
dungstätigkeit seit Ende der 90er-Jahre kontinuierlich
ab. Einer der wesentlichen Gründe hierfür ist die man-
gelhafte Finanzierung von Hightechgründungen.
Staatliche Förderprogramme – von EXIST über be-
währte staatliche Fonds wie ERP-Startfonds, ERP/
EIF-Dachfonds, Hightechgründerfonds bis hin zu
neuen Instrumenten wie dem European Angels Fund
und dem Investitionszuschuss für Wagniskapital für
Business Angels ab 2013 – sind hier vorbildlich, aber
sie stoßen an Grenzen.
Was fehlt, ist ein ausreichendes Angebot an priva-
tem Wagniskapital, dass wir gerade im Hightech-
bereich brauchen, um das hohe Risiko, die hohen Kos-
ten in Millionenhöhe und die oft sehr langen Pro-
duktentwicklungszeiten von über 10 bis 15 Jahren, wie
sie zum Beispiel im Biotechnologie- und Pharmabe-
reich üblich sind, zu tragen. Außerdem ist erwiesen,
dass Hightechgründungen mit Wagniskapital schneller
wachsen, mehr Arbeitsplätze schaffen, intensiver
forschen und mehr Marktneuheiten einführen als ohne
Wagniskapital; denn die Investoren kämpfen mit
Sachverstand, Markterfahrung und Finanzkompetenz
für den Erfolg ihrer Investitionen.
Um aus Deutschland wieder ein Hightechgründer-
land zu machen und mehr Wachstum durch Innovation
zu schaffen, haben die EFI-Gutachter deshalb zum
wiederholten Male gefordert, als wichtigste Maß-
nahme den Wagniskapitalmarkt in Deutschland inter-
national attraktiv zu machen und Business Angels bes-
ser zu unterstützen. Dabei sollten wir uns an
erfolgreichen anderen europäischen Ländern wie
Frankreich und Großbritannien orientieren, die hier
viel weiter sind als wir, insbesondere im Hinblick auf
die steuerliche Unterstützung von privatem Wagnis-
kapital. Auch der Innovationsdialog beim Bundeskanz-
leramt hat dazu wichtige Diskussionen angestoßen,
deren Ausgang noch offen ist.
Der wichtigste Punkt ist der Erhalt von Verlustvor-
trägen beim Anteilseignerwechsel von innovativen
Start-ups, damit die Wachstumsfinanzierung gesichert
ist. Nachdem die Sanierungsklausel im Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz durch die EU ausgesetzt wurde,
hat die Bundesregierung dagegen beim EuGH geklagt
und erwartet das Urteil für die erste Jahreshälfte
2013. Falls das Urteil aus Brüssel positiv ausfällt,
wäre hier ein großes Problem gelöst. Anderenfalls ist
unsere Kreativität gefragt.
Ein weiterer offener Punkt ist die Umsatzsteuerfrei-
heit für Management Fees, die in anderen europäi-
schen Ländern üblich ist, und die wir auch bei uns
brauchen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
Dazu finden in Kürze Gespräche in Brüssel statt. Wir
brauchen darüber hinaus eine gesetzliche Regelung
für die Steuerfreiheit von vermögensverwaltenden
Fonds auf Fondsebene, nachdem die jetzige Regelung
auf der Grundlage eines BMF-Schreibens zu unsicher
ist, eine abschreckende Wirkung auf ausländische
Investoren entfaltet und die aktive Betreuung von
Unternehmen durch Wagniskapitalfonds erschwert.
Dieses Problem müssen wir auf jeden Fall bei der Um-
setzung der AIFM-Richtlinie und der Verordnung über
den Europäischen Risikokapitalfonds im nächsten
Jahr angehen.
Die Erfahrungen aus anderen europäischen Staaten
zeigen jedoch, dass entsprechende Verbesserungen der
Rahmenbedingungen für Wagniskapital auch mit
vergleichsweise geringen Mitteleinsätzen eine hohe
Wirkung erzielen können und dass mehr Wagniskapi-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26399
Dr. Heinz Riesenhuber
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(B)
talinvestitionen auch das Wirtschaftswachstum direkt
stimulieren.
Um insgesamt mehr Wagniskapital zu mobilisieren,
sollten wir auch über die Empfehlung der EFI-Gutach-
ter nachdenken, für Wagniskapital liquide Sekundär-
märkte in Europa zu schaffen, an denen Investoren
Anteile an Wagniskapitalfonds handeln könnten und
somit flexible Ausstiegs- bzw. Exit-Optionen hätten.
Um die Rahmenbedingungen für Innovationen noch
weiter zu verbessern, müssen wir auch neue Wege ge-
hen, um knappe staatliche Fördermittel effizienter ein-
zusetzen und eine größere Breitenwirkung der For-
schungsförderung erzielen. Die EFI-Gutachter werben
deshalb erneut für eine steuerliche Forschungsförde-
rung, wie sie in 21 von 30 OECD-Ländern längst üb-
lich ist – allen voran Großbritannien, Frankreich und
den USA.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Ein solcher For-
schungsbonus zum Beispiel in Form einer 10-prozenti-
gen Steuergutschaft für Forschungspersonalausgaben,
ist unbürokratisch, technologie- und branchenoffen
und könnte die bewährte Projektförderung passgenau
ergänzen. Er ist breit und schnell wirksam und
dadurch gerade für kleine und mittlere Unternehmen
attraktiv, die zusätzliche Forschungsimpulse brau-
chen. Er führt zu mehr Patentanmeldungen und besse-
rer Forschungsqualität. Er animiert in anderen Län-
dern die Unternehmen in der Regel zu eigenen
Forschungsinvestitionen mindestens in gleicher Höhe
wie die Steuerersparnis und leistet dadurch mittel- bis
langfristig einen wichtigen Beitrag für mehr Wachstum
und Arbeit. Maximal 1,5 Milliarden Euro wären dafür
nötig pro Jahr, entsprechend weniger, wenn wir zu-
nächst nur den Mittelstand einbeziehen würden.
Der Bundesbericht Forschung und Innovation und
das EFI-Gutachten zeigen eine beeindruckende Bilanz
unserer Innovationsstärke. Und sie beschreiben
ebenso eindrucksvoll die Maßnahmen, die wir ergrei-
fen müssen, um unsere Spitzenstellung im globalen In-
novationswettlauf auch künftig zu halten. Wir müssen
die Weichen für Verbesserungen heute stellen, um die
Zukunft zu gewinnen. Dafür brauchen wir Verbündete
auch in den Bundesländern. Lassen Sie uns alle ge-
meinsam intensiv daran arbeiten, das Umfeld für
Hightechgründer, für junge Technologieunternehmen
und für ihre Investoren weiter zu verbessern und noch
in dieser Legislaturperiode Fortschritte erzielen, da-
mit Deutschland auch künftig ein Hightechstandort
bleibt, der mit der Kreativität seiner Wissenschaftler
und mit der Gestaltungskraft seiner Unternehmer welt-
weit Maßstäbe setzt und Wachstum und Arbeit im eige-
nen Land sichert.
Da stehen nun endlich das seit März 2012 vorlie-
gende Gutachten der „Expertenkommission For-
schung und Innovation“, EFI, und der im Mai veröf-
fentlichte Bundesbericht Forschung und Innovation,
BuFi, auf der Tagesordnung der letzten Sitzungswoche
im auslaufenden Jahr – und die Debatte wird zu Proto-
koll geschickt. Dabei handelt es sich beim BuFi nicht
nur um eine Fleißarbeit des BMBF und eine gute
Übersicht, sondern beim EFI um ein für Wissenschafts-,
Bildungs- und Forschungspolitik in Deutschland wich-
tiges Gutachten. Aber vermutlich fürchtet die Bundes-
regierung ja die Kritik der EFI und eine offene Debatte
darüber im Bundestag.
Dabei findet sich auch Lob im Bericht. Wenn man
sich die Zahlen über Forschung und Entwicklung, FuE,
im EFI wie auch BuFI anschaut, zeigt sich für Deutsch-
land erst einmal ein gutes Bild. Im Jahre 2010 wurden
69,7 Milliarden Euro für FuE ausgegeben. Den aller-
größten Teil davon bringen Unternehmen auf. Wenn
man sich hingegen die Details anschaut, dann sieht das
Bild schon weniger rosig aus. Denn die hohen Steige-
rungsraten gehen zum größten Teil auf wenige Bran-
chen zurück, insbesondere auf die Automobilindustrie.
Bei den für Deutschland ebenso wichtigen Branchen
der pharmazeutischen und chemischen Industrie gin-
gen 2010 die FuE-Aufwendungen hingegen zurück.
Das Problem wird möglichweise noch größer, wenn
man bei der Automobilindustrie genau hinschaut, was
sich hinter FuE verbirgt. Handelt es sich wirklich um
„systematische, schöpferische Arbeit zur Erweiterung
des Kenntnisstandes – auch mit dem Ziel, neue Anwen-
dungen zu finden“, wie es die OECD definiert, oder
versteht die Automobilindustrie unter Entwicklung
auch die Konstruktion des neuen Kotflügeldesigns für
den Modellwechsel, der zwar Unsummen verschlingt,
aber keine Innovation darstellt?
In dem uns vorliegenden Bericht wird außerdem er-
neut darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland ins-
gesamt im wachsenden Feld der Spitzentechnologie
Defizite zu verzeichnen haben. Außerdem laufen Län-
der wie China, Indien oder Taiwan den bisherigen Spit-
zenreitern in diesem Industriebereich, welche meist
westliche FuE-intensive Länder waren, langsam den
Rang ab. Insbesondere China holt hier rasch auf. Der
EFI-Bericht widmet diesem Land deshalb zu Recht eine
ausführliche Analyse.
Intensiv setzen sich die Expertinnen und Experten
auch mit dem deutschen Wissenschaftssystem und da-
bei insbesondere den Hochschulen auseinander. Dabei
geht es, wie man in unserem Antrag nachlesen kann,
neben den Universitäten immer auch um die Fachhoch-
schulen. Bildung ist grundsätzlich Länderaufgabe. Und
genau dort fehlt es dafür, auch aufgrund steuerrechtli-
cher Dummheiten dieser Bundesregierung, am nötigen
Geld. Da Bildung, und das schließt natürlich die Schu-
len und Kitas mit ein, die Grundlage für Forschung und
Innovationen darstellt, sprechen sich die Expertinnen
und Experten der EFI-Kommission bereits seit länge-
rem für eine Grundgesetzänderung aus. Die SPD-Bun-
destagsfraktion unterstützt dieses Ansinnen.
Wenn die schwachgelbe Regierung schon nicht auf
die SPD hören will, sollte sie vielleicht die Mahnung
der EFI-Experten lesen: Die bemängeln ausdrücklich
Zu Protokoll gegebene Reden
26400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
René Röspel
(C)
(B)
die Finanzierungsstruktur unserer Hochschulen und
fordern die Stärkung der Grundfinanzierung der Hoch-
schulen und zwar – der – Hochschulen und nicht nur ei-
niger weniger exzellenter. Allerdings werden diese An-
regungen von der Bundesregierung genauso ignoriert
wie die Mahnungen der EFI in den letzten Jahren, dass
die Ungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem – in
keinem anderen Industrieland hängt Bildungserfolg
stärker von der sozialen Herkunft ab – beseitigt werden
muss.
Im Vergleich zu vielen unserer europäischen Freunde,
auch das zeigt das EFI-Gutachten, stehen wir im Be-
reich Forschung sehr gut da. Aber forschungspolitisch
messen lassen müssen wir uns gerechterweise an den
Stärksten weltweit. Wie die Expertenkommission
schreibt, ist es angesichts der massiven Anstrengungen
in anderen Ländern und der strukturellen Defizite
Deutschlands fraglich, ob Deutschland seine bisher
gute Position wird halten können.
Das EFI-Gutachten misst die Merkel-Regierung an
ihren Versprechen. So wird unter anderem darauf ver-
wiesen, dass CDU/CSU und FDP ihren Koalitionsver-
trag nicht einhalten. Das wäre in anderen Teilen ja
durchaus zu begrüßen. Aber hier geht es um die Einfüh-
rung einer steuerlichen Forschungsförderung. Immer
wieder hat die schwachgelbe Koalition diese steuerli-
che Förderung lauthals angekündigt, aber passiert ist
nichts.
Ebenfalls angeprangert wird die schlechte Koordi-
nierung der Energie-, Umwelt- und Innovationspolitik.
Sprich: Frau Schavan, Herr Altmaier und Herr Rösler
bekommen es einfach nicht hin, sich bei diesen Themen
abzusprechen. Hierdurch wird die Energiewende, zu
der diese schwachgelbe Bundesregierung erst nach Fu-
kushima getrieben wurde, gefährdet. Das können wir
uns nicht leisten, und das muss abgestellt werden. Die
EFI 2010 sieht die „Energiewende als Chance für
Innovationen“. Das sollte auch die Bundesregierung
sehen. Gern hätte ich diskutiert und eine Aussage von
Ihnen zu der Nachfrage von EFI zur Kernfusion und
den explodierenden Ausgaben für ITER gehört, aber
bei Reden zu Protokoll ist Dialog ja nicht möglich.
Aber es gibt auch noch deutliche Kritik von EFI am
letzten zentralen Projekt dieser Bundesregierung. Die
Expertinnen und Experten äußern sich nämlich auch
zum Thema Betreuungsgeld. Nach deren Meinung
– und auch diese teilen wir als SPD-Bundestagsfrak-
tion voll und ganz – wirkt sich das Betreuungsgeld
nämlich schädlich auf den Innovationsstandort
Deutschland aus. Wenn das mal keine Klatsche ist! Da
kann man fast verstehen, warum die Regierungskoali-
tion über solche Gutachten lieber nicht öffentlich de-
battieren will. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU und FDP, wenn Sie schon nicht auf Erziehe-
rinnen und Erzieher bzw. Sozialarbeiterinnen und So-
zialarbeiter hören: Verschließen Sie sich jetzt auch
noch den Volkswirtschaftlerinnen und Volkswirtschaft-
lern? So viel Taubheit aufseiten der Koalitionsfraktio-
nen ist nicht mehr zu ertragen und gehört abgewählt.
Zum Glück müssen wir darauf nicht mehr lange warten.
Die Gutachten der Expertenkommission Forschung
und Innovation sind jedes Jahr aufs Neue das sprich-
wörtliche Stammbuch, in das uns die Wissenschaft Auf-
gaben und Handlungsfelder in der Bildungs- und For-
schungspolitik schreibt. Es gehört zur Aufgabe der
Expertenkommission, sich nie mit dem Erreichten zu-
friedenzugeben – auch wenn positive Entwicklungen
am Rande genannt und gewürdigt werden. Denn der
Auftrag der Expertenkommission liegt darin, stetig
neue Probleme und Aufgaben zu analysieren und die
Politik auf Hürden und Stolpersteine in der For-
schungs- und Innovationspolitik hinzuweisen. Für
diese kritische Analyse danken wir der Expertenkom-
mission Forschung und Innovation.
Auch das EFI-Gutachten 2012 bietet wieder ein
Füllhorn an Empfehlungen und Maßnahmen. Wir als
regierungstragende Koalition werden das Gutachten
zum Ausgangspunkt unseres bildungs- und forschungs-
politischen Handelns machen. Wir werden nicht leicht-
fertig über die Themen hinweggehen, sondern das Gut-
achten als unseren Arbeitskatalog lesen; denn wir
wollen und werden uns nicht auf dem Erreichten aus-
ruhen. Das ist nicht der Anspruch von uns Liberalen.
Wenn wir in die Gutachten der vergangenen Jahre
blicken, stellen wir fest, dass diese christlich-liberale
Koalition stets die Empfehlungen und Forderungen
der Expertenkommission geachtet und umgesetzt hat.
Ich nenne beispielsweise das 3-Prozent-Ziel. Es waren
Bund und Länder die sich 2008 darauf verständigt ha-
ben, bis 2015 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für
Forschung und Entwicklung auszugeben. Die Exper-
tenkommission hat immer auf Einhaltung gedrungen.
Nun, wo diese christlich-liberale Koalition 2,83 Pro-
zent des BIP erreicht hat, fordert das EFI-Gutachten,
nicht stehen zu bleiben, sondern weitere Erhöhungen
zu avisieren. Wir Liberale nehmen diese Forderung an.
Ich nenne als ein weiteres Beispiel das Wissen-
schaftsfreiheitsgesetz. Nachdem die Expertenkommis-
sion eine Umsetzung der Wissenschaftsfreiheitsinitia-
tive gefordert hat, haben wir Liberale die
Gesetzesinitiative vorangetrieben und in diesem Jahr
das Wissenschaftsfreiheitsgesetz im Deutschen Bun-
destag beschlossen. Wir haben des Weiteren mit dem
Programm „Validierung des Innovationspotenzials
wissenschaftlicher Forschung – VIP“ die Validie-
rungsförderung erfolgreich auf den Weg gebracht. Mit
diesem Programm geben wir neue Impulse für den
Wissenschafts- und Technologietransfer und die Vali-
dierung von Forschungsergebnissen.
Wir haben in der christlich-liberalen Koalition
durch die Stärkung des Hochschulpaktes 2020 und den
Qualitätspakt Lehre, wie von der Expertenkommission
gefordert, die Hochschulen gefördert. Aufgrund des im
Grundgesetz verankerten Kooperationsverbotes mahnte
die Expertenkommission die Politik, eine grundgesetz-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26401
Dr. Martin Neumann
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liche Änderung herbeizuführen. Wir Liberale haben
die Initiative ergriffen und mit dem Gesetz zur Ände-
rung des Grundgesetzes in Art. 91 b einen Vorschlag in
dieser Koalition durchgesetzt. Gemeinsam haben wir
diese Grundgesetzänderung den Ländern vorgeschla-
gen – die bedauerlicherweise bis heute von den SPD-
geführten Ländern aufgrund fadenscheiniger Gründe
blockiert wird.
Wir werden in der christlich-liberalen Koalition
nicht aufhören, die Empfehlungen der Expertenkom-
mission Forschung und Innovation aufzunehmen und
umzusetzen. Gerne lassen wir uns die nächsten Jahre
weitere Handlungsfelder und Projekte in unser Stamm-
buch schreiben.
Zwei Motive prägen die Innovationspolitik dieser
Bundesregierung: Da ist zum einen die Rede von gro-
ßen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der
Knappheit fossiler Ressourcen, den demografischen
Veränderungen oder neuen Lebensbedingungen in ei-
ner globalisierten und digital vernetzten Welt. Auf
diese Herausforderungen sollten, so die Bundesregie-
rung, die Instrumente der staatlichen Förderung aus-
gerichtet sein. So weit, so richtig.
Das zweite Motiv ist die Wettbewerbsfähigkeit auf
sogenannten internationalen Leitmärkten. Auf der
Homepage des Forschungsministeriums prangt der
Satz: „Innovationen ‘made in Germany’ begeistern die
Welt“. Gemeint ist alleine die Technik.
Bringt man beide Leitmotive der deutschen Innova-
tionspolitik zusammen, zeigt sich der Denkfehler. Die
zukünftigen Herausforderungen unserer Gesellschaft
brauchen zu ihrer Lösung ganz sicher Innovationen.
Aber sind neue Technologien in erster Linie die ange-
messenen Problemlöser? Wir meinen, der Fokus auf
neue Autos, Maschinen, digitale Netzwerke und Bio-
technologien greift zu kurz, wenn wir die Zukunftspro-
bleme wirklich nachhaltig angehen wollen. Soziale,
also nichttechnische Innovationen tragen mindestens
eben-so zur Gestaltung der Zukunft bei.
Von der Bundesregierung werden Elektrofahrzeuge
in urbanen Räumen als Lösung für das Klima- und
Ressourcenproblem der Automobilgesellschaft gese-
hen. Längst ist aber klar, dass wir gerade in großstädti-
schen Räumen um eine Verschiebung vom privaten
Auto hin zu öffentlichen Verkehrsträgern nicht herum-
kommen. Man muss sich nur die täglichen Pend-
lerstaus in Ballungsräumen zu Gemüte führen, für die
die Bahn alleine oft keine Alternativen bereithält. Hier
nutzt auch kein Elektroauto. Vielmehr müssen Bahn,
Rad und Carsharing intelligent verknüpft werden und
als Dienstleistungen aus einer Hand, etwa über Smart-
phones, entwickelt werden. Diese notwendige Neuor-
ganisation der städtischen Mobilität ist ein Paradebei-
spiel für soziale Innovationen. Technik ist auch hier
ein Bestandteil, vor allem aber müssen Nutzerinnen
und Nutzer Anreize für ein anderes Mobilitätsverhal-
ten erhalten und Verkehrsträger auf neue Art und
Weise kooperieren. Wir brauchen Wissen und For-
schung, um solch eine Mammutaufgabe zu bewältigen.
Mein zweites Beispiel ist das Problem der Welter-
nährung. Die Bundesregierung setzt hier ganz auf Er-
forschung transgener Pflanzen, die als geradezu un-
vermeidbar zur Lösung der Mangelernährung verkauft
werden. Doch globale Mangelernährung, so der um-
fassende Bericht des Büros für Technikfolgenabschät-
zung, hängt in erster Linie mit der ungerechten Vertei-
lung der vorhandenen Nahrungsmittel sowie mit
Verlusten aufgrund falscher Lagerung und langer
Transportwege zusammen. Transgenes Saatgut als pa-
tentierte Importtechnologie kann diese Probleme so-
gar verschärfen. Hilfreicher sind Ansätze für eine bes-
sere Organisation der Warenströme oder für politische
Instrumente, die eine gerechtere Preispolitik vor Ort
durchsetzen.
Soziale Innovationen haben auch große Wirkung
auf unsere Wirtschaft. Sie setzen Impulse im öffentli-
chen Sektor oder in Dienstleistungsbranchen frei. In
den Letzteren sind drei Viertel der Beschäftigten tätig.
Weniger bekannt ist: Sie erwirtschaften auch fast drei
Viertel der Wertschöpfung.
Die Expertenkommission Forschung und Innova-
tion hat bereits 2008 empfohlen, Innovationen im
Dienstleistungssektor in der Breite stärker zu fördern.
Die Bundesregierung konzentriert sich im Rahmen der
Hightech-Strategie aber ungerührt auf die Klassiker
Fahrzeuge, Maschinen, Chemie und Pharma. Etwa
5 Milliarden Euro schwer ist die jährliche For-
schungsförderung allein des BMBF, das Programm für
Dienstleistungsinnovationen umfasst hingegen lächer-
liche 13,8 Millionen Euro. Das sind 0,3 Prozent.
Wir fordern in unserem Antrag, die Förderung von
Innovationen tatsächlich unter dem Vorzeichen der
großen gesellschaftlichen Herausforderungen anzuge-
hen. Wir brauchen eine stärker bedarfsorientiert moti-
vierte Innovationspolitik, die auch auf Lösungen durch
Dienstleistungen, Organisationskonzepte oder innova-
tive Instrumente der politischen Steuerung setzt. Dazu
müssen auch mehr Vertreter der Zivilgesellschaft mit
an den Tisch, wenn Förderkonzepte erdacht werden.
Wir wollen, dass die Bundesregierung die Positionen
ihrer Expertenkommission und vergleichbare Positio-
nen von Verdi, dem BUND und weiterer Verbände
ernst nimmt. Soziale Innovationen und innovative
Dienstleistungen gehören längst in den Förderkatalog
der Innovationspolitik.
Auch wenn die Erhöhung der Forschungsausgaben
der Bundesregierung erfreulich ist, so kann das nicht
darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel, bis 2010
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
und Entwicklung aufzuwenden, auch 2011 verfehlt
wurde. Es fehlten gesamtstaatlich 3 Milliarden Euro.
Fakt ist auch: Die Forschungsdynamik hat in den
vergangenen Jahren weltweit stark zugenommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
26402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Krista Sager
(C)
(B)
Selbst mit 3 Prozent spielt man inzwischen nicht mehr
in der Champions League. Südkorea, Schweden oder
Japan haben die 3-Prozent-Marke längst hinter sich
gelassen, Israel oder Kalifornien selbst die 4-Prozent-
Marke. Staaten wie Taiwan, Singapur oder auch
Österreich haben die Messlatte auf 3,5 Prozent und
mehr hochgeschraubt. Die Bundesregierung hält eine
Anpassung ihres Ziels bislang aber nicht für nötig.
Mehr noch: Die Chance, das 3-Prozent-Ziel euro-
paweit zu erreichen, besteht nur, wenn strukturstarke
Staaten wie Deutschland weit überdurchschnittliche
FuE-Quoten realisieren. Es ist völlig illusorisch, zu er-
warten, Mitgliedstaaten wie Rumänien, Griechenland,
Portugal oder Polen könnten ihre FuE-Quote binnen
kurzer Zeit vervier-, verfünf- und versechsfachen. Das
3-Prozent-Ziel muss daher schleunigst zum 3-plus-X-
Prozent-Ziel werden. Das sagen nicht nur wir, das
empfehlen ihnen auch die Experten. Die Expertenkom-
mission für Forschung und Innovation bezeichnet die
Zielsetzung der Bundesregierung als wenig ambitio-
niert.
Seit 2008 mahnt die Expertenkommission Jahr für
Jahr die Bundesregierung an, endlich die steuerliche
Forschungsförderung in Angriff zu nehmen. Diese Er-
gänzung zur Projektförderung ist längst überfällig.
Die finanziellen Spielräume gab es dafür durchaus,
wenn die Bundesregierung das Geld nicht für Hotel-
subventionen oder das Betreuungsgeld ausgegeben
hätte und wenn sie die steuerliche Forschungsförde-
rung auf kleine und mittlere Unternehmen konzentrie-
ren würde. Denn für kleine und mittlere Unternehmen
ist es ungleich schwerer als für große DAX-Konzerne,
an den Projektfördermitteln zu partizipieren. Weil die
Bundesregierung aber unbedingt auch die Großunter-
nehmen einbeziehen will, ist sie an diesem Vorhaben
nun gänzlich gescheitert. Bei Einbeziehung der Groß-
unternehmen wären die Steuerausfälle aber auch so
hoch, dass eine Akzeptanz durch die Bundesländer
nicht zu erreichen wäre.
Die Hauptprobleme unseres Wissenschaftssystems
liegen heute in der mangelhaften Grundfinanzierung
der Hochschulen, den unsicheren Karrierepfaden für
den wissenschaftlichen Nachwuchs und den ungünsti-
gen Personalstrukturen. Das hat Ihnen jetzt auch die
Expertenkommission in ihrem Gutachten vorgehalten.
Die Mehrausgaben des Bundes für Forschung haben
diese Probleme leider zum Teil sogar noch verschärft.
Denn die garantierten Aufwüchse bei den außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen und die höheren
Mittel für die Drittmittelprogramme der DFG und der
Exzellenzinitiative führten zu massiven Mitfinanzie-
rungspflichten bei den Ländern. Für die Grundfinan-
zierung der Hochschulen stand und steht dadurch noch
weniger Geld zur Verfügung.
Im nächsten Jahr wird über die Fortsetzung der Pa-
kete beraten werden. Dabei muss der Bund seiner Ver-
antwortung für das gesamte Wissenschaftssystem ge-
recht werden. Bei der gemeinsamen Bund-Länder-
Finanzierung des Hochschulpaktes brauchen wir drin-
gend eine Verstetigung und Planungssicherheit für die
Hochschulen, eine Masterkomponente und Vereinba-
rungen zur Verbesserung der Personalstrukturen.
Die Fortsetzung des Pakts für Forschung und Inno-
vation nach 2015 wird nur möglich sein, wenn der
Bund mehr Verantwortung bei der Finanzierung über-
nimmt, zum Beispiel durch veränderte Finanzierungs-
schlüssel bei der Max-Planck-Gesellschaft und der
Leibniz-Gemeinschaft. Auf diese Weise könnten in den
Wissenschaftsetats der Länder Spielräume entstehen,
die sie zur besseren Grundfinanzierung der Hochschu-
len einsetzen könnten.
Lassen Sie mich zuletzt noch die Energieforschung
aufgreifen, die aus gegebenem Anlass ebenfalls ein
Kernthema im diesjährigen EFI-Gutachten war. Wer
die Energiewende beschlossen hat, muss sie auch im
Forschungsbereich konsequent nachvollziehen. Davon
kann aber keine Rede sein. Noch immer gehen Jahr für
Jahr gewaltige Summen in die Atomenergie- und Fu-
sionsforschung. Jetzt mahnt auch die Expertenkom-
mission eine Überprüfung der Schwerpunktsetzung auf
Kernfusion an. Bis 2050 muss die Energiewende längst
vollzogen sein, wenn der Klimawandel aufgehalten
werden soll. Bis dahin wird aus der Fusionsforschung
aber keinerlei Beitrag für die Energiewende zu erwar-
ten sein.
Nur zustimmen kann man dem Gutachten der Ex-
pertinnen und Experten auch, dass die Ausgaben des
Bundes für die Atom- und Fusionsforschung völlig in-
transparent sind.
Das EFI-Gutachten liefert auch 2012 wieder wert-
volle Hinweise für die parlamentarische Arbeit und
Debatte. Ich wünsche den Gutachtern und Gutachte-
rinnen, dass sie zukünftig auch bei ihrem Auftragge-
ber, nämlich der Bundesregierung, mehr Aufmerksam-
keit erhalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9680, 17/8872, 17/9574, 17/11826
und 17/8952 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Fahrerlaubnis für Trikes – Gestaltungsspiel-
raum der EU-Richtlinie nutzen
– Drucksache 17/11827 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26403
(C)
(B)
Der vorliegende Antrag der Fraktion der SPD zielt
darauf ab, dass Inhaber des Pkw-Führerscheins ab
dem 21. Lebensjahr zum Führen eines Trikes berech-
tigt sein sollen. Derzeit ist dafür ein Motorradführer-
schein nötig. Begründet wird der Antrag damit, dass
die 3. EU-Führerscheinrichtlinie am 1. Januar 2013 in
Kraft tritt. Diese Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten
die Möglichkeit zu einer Ausnahmeregelung ein, die
für das Führen von Dreirädern über 15 Kilowatt ab
dem 21. Lebensjahr die Fahrerlaubnisklasse B
vorsieht.
Bevor ich in die Details Ihres Antrages einsteige,
möchte ich aufzeigen, über wie viele betroffene
Verkehrsteilnehmer wir heute diskutieren. Laut einer
Auskunft des Ministeriums für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung haben in den letzten Jahren in Deutsch-
land im Durchschnitt nur etwa 350 Personen pro Jahr
die Fahrerlaubnis für Dreiräder/Leichtkraftfahrzeuge
erworben.
Ihr Anliegen wäre berechtigt, wenn eine Steigerung
der Interessenten an diesem Verkehrsmittel vorhanden
wäre. Darauf lässt jedoch kein Trend schließen. Der zu
erwartende Verwaltungsaufwand bei einer Umsetzung
Ihrer Forderung wäre gegenüber den Menschen in un-
serem Land nur schwer zu rechtfertigen.
Die jetzige Regelung sieht vor, dass für Trikes die
Fahrerlaubnisklasse A erforderlich ist. Sie kritisieren,
dass die Prüfung auf dem Zweirad vorgenommen wer-
den muss, auch wenn beabsichtigt wird, lediglich ein
Dreirad zu führen. Hierbei gilt es aus meiner Sicht kri-
tisch anzumerken, dass dieses Thema mit allen Bun-
desländern und auch den betroffenen Verbänden in den
letzten Jahren im Rahmen der Umsetzung der 3. EU-
Führerscheinrichtlinie diskutiert wurde. Eine entspre-
chende Forderung, wie hier von der SPD vorgetragen,
wurde dabei von keiner Seite erhoben. Keiner der da-
mals beteiligten Vertreter der Landesregierungen hat
anscheinend einen entsprechenden Bedarf dafür ange-
zeigt. Selbstverständlich hatten in den Beratungen
auch die SPD-geführten Bundesländer die Möglich-
keit, ihre Anliegen vorzutragen. Derartige Bemühun-
gen seinerzeit seitens sozialdemokratisch regierter
Länder gab es jedoch nicht.
Ich beziehe in meine Betrachtung auch die betroffe-
nen Fahrschulen mit ein. Die deutschen Fahrschulen
sind bereits jetzt mit ihren zu erfüllenden technischen
Standards oft am finanziellen Limit angekommen. Die
Anschaffung eines Trikes, um auch diese Fahrzeug-
klasse unterrichten zu können, würde viele kleine
Fahrschulen finanziell überfordern.
Trikes sind von ihrer Beschaffenheit und Fahrzeug-
eigenschaften ohne Zweifel näher bei Motorrädern als
bei den PKW zu verorten. Das lässt sich nicht wegdis-
kutieren, auch wenn die hintere Achse zweispurig ist.
Ihr Argument, das Trike gleiche dem PKW mehr als
dem Motorrad, finde ich nicht überzeugend.
Von dieser nationalen Regelung dürfte im Ausland
kein Gebrauch gemacht werden. Ein deutscher Trike-
fahrer könnte somit nicht mit seinem Dreirad ins
benachbarte Ausland fahren, weil er den dort für diese
Vehikel geforderten Motorradführerschein nicht zwin-
gend hätte.
Zumindest aus Gründen der Verkehrssicherheit ist
eine zusätzliche Führerscheinausbildung der Klasse A
neben einer meist schon vorhandenen Klasse B beim
Führen von Trikes durchaus zu befürworten.
Grundsätzlich ist übrigens auch die Möglichkeit
gegeben, im Wege einer Ausnahme die Prüfung für ein
Trike auf einem Dreirad durchzuführen. Diese
Möglichkeit besteht auch zukünftig. Ist ein Verkehrs-
teilnehmer von einer besonderer Härte betroffen, das
heißt, er oder sie möchte gern ein Trike fahren, kann
aufgrund seiner physischen Konstitution jedoch nur
einen Führerschein für Pkw machen, dann ist auch für
solche Fälle bereits gesorgt, und das wird auch zukünf-
tig so sein.
Heute ist in Deutschland für das Fahren mit Trikes
über 15 Kilowatt Leistung die Fahrerlaubnis für Pkw
erforderlich – obwohl Trikes eher im Kreise von Mo-
torradgruppen zu finden sind als bei Autoausfahrten.
Aber die Erfahrungen zum Beispiel bei Fahrzeug-
vermietungen zeigen: Inhabende mit einem Führer-
schein Klasse B kommen besser mit einem Trike zu-
recht als Motorradfahrende. Das verwundert ange-
sichts der Fahrphysik nicht. Motorräder sind einspu-
rige Fahrzeuge. Trikes und Autos sind zweispurige
Fahrzeuge. Dieser Unterschied wird besonders in
Kurven deutlich. Für Motorradfahrende ist es schwie-
riger, sich auf drei Räder einzustellen.
Was will ich damit sagen? Ich will damit sagen: Es
hat sich in Deutschland bewährt, lnhaber des Autofüh-
rerscheins – also der Klasse B – ein Trike fahren zu
lassen.
Auch der Blick in die Unfallstatistik bestätigt dies!
Hier zeigt sich, dass bei Trikes keine besondere Un-
fallhäufung auftritt – trotz oder vielleicht weil Fahrer-
fahrung auf einem zweispurigen Fahrzeug erforderlich
ist. Im Punkt Verkehrssicherheit sind Trikes unauffäl-
lig. Die praktische Erfahrung, die die Fahrenden beim
Autofahren gewonnen haben, lässt sich ideal auf das
Führen eines Trikes anwenden.
Nun die schlechte Nachricht: Es steht die Änderung
unseres Führerscheinrechts durch die 3. EU-Führer-
scheinrichtlinie bevor. Ab 2013 müssen Trikefahrende
eine Fahrerlaubnis der Klasse A vorweisen, also eine
Prüfung auf dem Motorrad ablegen.
Welche Konsequenzen hat das? Menschen werden
ausgeschlossen, nämlich all jene, die ein Trike fahren
möchten, weil sie kein Motorrad fahren wollen oder
können.
Zu Protokoll gegebene Reden
26404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Kirsten Lühmann
(C)
(B)
Die gute Nachricht ist: Die EU räumt den Mitglied-
staaten die Möglichkeit für eine Ausnahmeregelung
ein. Daher sage ich: Nutzen wir diese Gelegenheit!
Wie gesagt, Trikefahren hat sich in Deutschland als
sicher erwiesen. Der Blick in die Unfallstatistik bestä-
tigt dies.
Wenn wir nichts machen und die EU-Regelungen
mit dem neuen Jahr in Kraft treten lassen, ist das ein
erheblicher Nachteil für die Menschen, die Trikes –
aber eben keine Motorräder – führen möchten,
genauso wie für Trikeverleihende und Trikeverkau-
fende.
Europa liefert uns mit der Ausnahmemöglichkeit,
zusätzlich zu Klasse A auch die Fahrerlaubnis der
Klasse B für das Trike-Fahren zuzulassen, die Lösung
für dieses Problem quasi auf dem Silbertablett. Diese
zu nutzen, bedeutet keinerlei bürokratischen oder fi-
nanziellen Mehraufwand. Denn wir können unser be-
währtes Recht fortschreiben.
Daher sage ich: Nutzen wir die Gelegenheit. Dann
können in Deutschland wie bisher Fahrende auch mit
dem Führerschein Klasse B ab 21 auf ein Trike steigen.
Das hat sich bewährt.
Der Antrag der SPD-Fraktion ist grundsätzlich dis-
kussionswürdig. Lassen Sie uns zum Thema Verkehrs-
sicherheit konstruktiv in diesem Haus debattieren;
dann können wir den erreichten hohen Standard in
Deutschland noch weiter verbessern.
Bisher durften Trikes von Besitzern der Fahrerlaub-
nisklasse B gelenkt werden. Dreirädrige Fahrzeuge
mit einer Leistung von mehr als 15 Kilowatt benötigen
entsprechend der EU-Richtlinie zur Neuregelung von
Führerscheinen zukünftig eine Fahrerlaubnisklasse A.
Das Mindestalter wird nach der Neuregelung auf
21 Jahre hochgesetzt.
Mit seinem offenen, ungeschützten Aufbau, der Sitz-
position oder der Lenkung ist das Trike dem Kraftrad
teilweise ähnlicher als dem Pkw. Aber auch vom Fahr-
verhalten und der Fahrdynamik mit seinem Kippmo-
ment und seinem Bremsverhalten ist ein Trike eher ei-
nem Zweirad gleichzustellen. Insbesondere das
Bremsverhalten mit nur einem Vorderrad erfordert
eine intensive Motorradausbildung, um schwerste
Unfälle zu vermeiden.
Der Ruf nach einer Ausnahmeregelung für das Fah-
ren von Trikes ist schnell ausgesprochen, zumal grund-
sätzlich künftig auch die Möglichkeit besteht, im Wege
einer Ausnahme die Prüfung für ein Trike auf einem
Dreirad durchzuführen. Viele Fragen sind im Antrag
der SPD zudem nach wie vor ungeklärt. Insbesondere
stellt sich mir die Frage nach dem Bestandsschutz.
Dürfen Besitzer mit Fahrerlaubnisklasse B künftig
keine Trikes mehr fahren, benötigen sie eine Fahrer-
laubnis der Klasse A? Dürfen unter 21-Jährige trotz
Fahrerlaubnisklasse B bzw. A keine Trikes mehr fah-
ren, bis sie 21 Jahre alt sind? Darüber hinaus würde
die Anwendung der Ausnahmeregelung nur nationalen
Charakter haben und daher nur in Deutschland gelten.
Zu guter Letzt haben auch die Bundesländer frühzeitig
von dieser Regelungsmöglichkeit Abstand genommen.
Aber auch im Sinne der Verkehrssicherheit kann
dem Antrag der SPD nur schwer gefolgt werden. Eine
zusätzliche Führerscheinausbildung der Fahrzeug-
klasse A neben einer in der Regel schon vorhandenen
Klasse B ist gerade der Verkehrssicherheit beim
Führen von dreirädrigen Fahrzügen zuträglich. Das
Unfallrisiko für Motorradfahrer und Trikefahrer ist
bekanntlich wesentlich höher als bei Pkw-Fahrern.
Nach bedauerlichen Statistiken kommen ungefähr
18 Getötete auf 100 000 Fahrzeuge pro Jahr. Mehr als
jeder dritte verunglückte Motorradfahrer ist im Alter
von 15 bis 24 Jahren. Aufgrund der technischen
Konzeption von Zweirädern ist auch der passive Un-
fallschutz stark eingeschränkt. Besonders häufig
kommt es zu Unfällen von Motorrädern mit Pkw.
Die Entwicklung der Verkehrssicherheit in Deutsch-
land ist eine Erfolgsgeschichte. Nach dem neuen Ver-
kehrsunfallbericht sank die Zahl der Getöteten von
über 21 300 Toten in Gesamtdeutschland 1970 auf
3 648 Tote im Jahr 2010. Im Jahr 2011 musste hinge-
gen erstmals ein Anstieg der Anzahl der Straßenver-
kehrstoten verzeichnet werden. Gerade dies zeigt, dass
die Verkehrssicherheitsarbeit konsequent fortgesetzt
werden muss. Weiterhin ist jeder Tote einer zu viel.
Leitendes Ziel einer erfolgreichen Verkehrspolitik
muss es sein, die Zahl der Getöteten und Schwerstver-
letzten im Straßenverkehr kontinuierlich zu senken.
Gründe, warum sich der Trend der Verkehrssicher-
heit so deutlich in den letzten Jahrzehnten verbessert
hat, ist überwiegend der Faktor Technik. Zu nennen
sind hier die Einführung von ESP, neue Fahrzeugtypen
mit Tagfahrleuchten, Reifendruckkontrollsysteme, er-
höhte Anforderungen an passive Fußgängerschutz-
maßnahmen für neue Pkw-Typen, ESP-Pflicht für neue
Lkw oder vorausschauende Notbrems- und Spurhalte-
assistenzsysteme. Wir müssen mittelfristig eher darauf
achten, dass die technischen Hilfsmittel nicht die
ganze Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich ziehen und
ihn in falscher Sicherheit wiegen.
Noch immer sind jedoch 90 Prozent der Unfälle auf
menschliches Fehlverhalten zurückzuführen. Daher ist
auch hier noch das meiste Potenzial zur Verbesserung,
insbesondere in der Fahrausbildung und der Erzie-
hung zu einem verantwortungsvollen Verkehrsteilneh-
mer. Genau hier muss unser gemeinsames Anliegen
ansetzen: eine qualitativ hochwertige Motorradausbil-
dung zur Vermeidung von schwersten Unfällen im
Motorradbereich. Die christlich-liberale Koalition
geht in ihrer Verkehrssicherheitsarbeit von einem zen-
tralen Grundgedanken aus: Wir werden bei der Ver-
kehrssicherheit nur weitere Erfolge erzielen, wenn wir
interdisziplinär denken und die Themenfelder Technik,
Infrastruktur und Mensch im Zusammenhang betrach-
ten. Gerade dies lässt der Antrag der SPD vermissen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26405
Oliver Luksic
(C)
(B)
Die christlich-liberale Koalition wird sich zur Ver-
besserung der Straßenverkehrssicherheit nicht auf den
Erfolgen ausruhen, sondern beispielsweise die erfolg-
reiche Kampagne „Runter vom Gas“ fortführen, das
Programm „FahrRad … aber sicher!“ weiter aus-
bauen, Fahranfängervorbereitung weiterentwickeln
oder neue Forschungsprojekte zur Steigerung der
Sicherheit im Radverkehr auf den Weg bringen.
In den letzten Jahren wurde das von der Opposition
vorgetragene Thema mehrfach mit den Verbänden und
den Bundesländern diskutiert. Die Forderung, von der
Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen, wurde von
keiner Seite vorgetragen.
Handelt es sich beim Trike um ein Motorrad mit ei-
nem Rad zu viel oder um ein Auto mit einem Rad zu
wenig? Führerscheintechnisch behandelte der Gesetz-
geber Trikes bisher als Autos; durchaus vernünftig;
denn ein dreirädriges Fahrzeug ähnelt im Fahrverhal-
ten einem Auto weit mehr als einem Motorrad.
Insofern ist es mehr als unglücklich, dass man für
das Trike künftig einen Motorradführerschein benö-
tigt. Es führt zu der absurden Situation, dass ein Inte-
ressent für ein Trike gezwungen wird, eine Fahrprü-
fung auf einem Motorrad abzulegen, obwohl er dieses
gar nicht führen wird. In der Praxis wird es daher wohl
so aussehen, dass niemand, der gerne Trike fahren
will, eigens dafür die Prüfung für das Führen eines
Motorrads auf sich nehmen wird. Denn das Fahren ei-
nes Trikes ist gerade für Menschen interessant, die
kein Motorrad fahren wollen, und nicht für Menschen,
die auch Motorrad fahren wollen.
Daher sollte die Bundesregierung den Spielraum
nutzen, den die EU-Richtlinie den nationalen Regie-
rungen an dieser Stelle lässt, und Personen mit Füh-
rerschein der Klasse B und einem Alter von über
21 Jahren das Führen eines Trikes ermöglichen. An-
dernfalls dürfte diese Fahrzeugklasse aufgrund einer
mehr als lebensfremden Regelung von den Straßen
Deutschlands verschwinden.
Wie die Zulassungszahlen zeigen, werden Trikes im-
mer beliebter. Waren es in den 1950er-Jahren die
Kleintransporter, die dreirädrig daherkamen, sind es
heute vor allem Chopper-Trikes, die fast ausschließ-
lich in der Freizeit genutzt werden. Trotzdem bewegt
sich die Gesamtzahl aller zugelassenen Trikes auf ver-
gleichsweise niedrigem Niveau.
Bisher ist für das Führen von Trikes eine praktische
Prüfung auf einem Zweirad notwendig. Die ab 1. Ja-
nuar 2013 gültige EU-Führerscheinrichtlinie lässt uns
den Spielraum, für das Führen von Dreirädern nur die
Fahrerlaubnisklasse B – also die übliche Pkw-Fahr-
erlaubnis – zur Voraussetzung zu machen.
Wir müssen aber auch feststellen, dass bisher keine
Führerscheinklasse die spezifischen Erfordernisse von
Trikes wirklich berücksichtigt. Eine individuelle Ein-
weisung ist daher eigentlich immer erforderlich. Lei-
der ist nicht sichergestellt, dass dies in der Praxis tat-
sächlich erfolgt.
Wir greifen den Vorschlag der SPD auf und wollen
den Gestaltungsspielraum, den uns die EU-Führer-
scheinrichtlinie hier lässt, gerne ausschöpfen. Aller-
dings sagen wir auch: Lassen Sie uns mit dieser groß-
zügigen Auslegung der Richtlinie einige Jahre
Erfahrungen sammeln. Die Ausnahmeregelung muss
nach unserer Auffassung also mit einer Befristung ver-
sehen werden. Danach sollten wir die Ergebnisse aus-
werten, und auf dieser Basis sollten wir dann entschei-
den, ob die Regelung dauerhaft beibehalten werden
kann. Wir sprechen uns daher für eine befristete Aus-
nahme für Trikes aus.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11827 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein-
verstanden? – Dann ist es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 32:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Stephan Mayer
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-
ten Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid
Wolff , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zum Schutz natürlicher Personen bei der
Verarbeitung personenbezogener Daten und
KOM(2012) 11 endg.; Ratsdok. 5853/12
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Satz 1 des
Grundgesetzes
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gerold
ter und der Fraktion der SPD
Europäische Harmonisierung im Daten-
schutz auf hohem Niveau sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,
26406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Datenschutzreform unterstützen
– Drucksachen 17/11325, 17/11144, 17/9166,
17/11810 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer
Gerold Reichenbach
Gisela Piltz
Jan Korte
Dr. Konstantin von Notz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, diese Reden
ebenfalls zu Protokoll zu geben. Sie sind einverstan-
den? – Dann wird das so geschehen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses auf Drucksache
17/11810. Er empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/11325 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz na-
türlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezoge-
ner Daten und zum freien Datenverkehr, hier: Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3
Satz 1 des Grundgesetzes“. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalition. Die Opposition hat dagegen ge-
stimmt.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/11144 mit dem Titel „Europäische Harmonisie-
rung im Datenschutz auf hohem Niveau sicherstellen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen. Die SPD-Fraktion und die Fraktion
Die Linke haben dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen hat sich enthalten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9166 mit dem Titel „EU-Datenschutzreform
unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Dagegen? – Enthaltungen gibt es offensichtlich
keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppo-
sition war geschlossen dagegen.
Jetzt gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung über den Entschließungsantrag der
SPD auf der Drucksache 17/11852 bekannt: Abgegeben
wurden 508 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 162, mit
Nein haben gestimmt 297, es gab 49 Enthaltungen. Da-
mit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.2)
Tagesordnungspunkt 33:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Sofortige humanitäre Hilfe für Syrien leisten –
Diplomatische Verhandlungslösung für den
Konflikt fördern
– Drucksache 17/11697 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Der heute zu beratende Antrag der Fraktion Die
Linke ist abzulehnen, da er nur unzureichend auf die
aktuelle Situation in Syrien eingeht und insbesondere
die besonderen Anstrengungen der Bundesregierung
auf dem humanitären Gebiet in dieser Krisenregion
negiert.
Seit März 2011 wurden nach Angaben syrischer
Menschenrechtsorganisationen mehr als 40 000 Men-
schen getötet, circa zwei Drittel davon Zivilisten.
Landesweit ist gegenwärtig eine Zunahme der Kampf-
handlungen zwischen regulärem Militär und bewaffne-
ten Oppositionskräften zu verzeichnen: Hauptgefechte
finden entlang der Bevölkerungs- und Wirtschaftszent-
ren und Hauptverkehrsadern statt.
Der am 11. November dieses Jahres in Doha gebil-
deten Nationalen Koalition der syrischen Revolutions-
und Oppositionskräfte ging ein langer Prozess der
Zerstrittenheit und Konkurrenz innerhalb der
syrischen Opposition voraus, wobei niemand mit
Bestimmtheit sagen kann, welche Kräfte neben denen,
die eine Veränderung zum Positiven bewirken wollen,
ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung in Syrien aus-
üben. Dies war der Grund, warum die Verhandlungen
der Gruppe der Freunde Syriens – bestehend aus mehr
als 100 Ländern und Nationen, darunter alle EU-Staa-
ten und die USA sowie die arabischen Nationen, die
zur Arabischen Liga zählen – über die Absetzung
Assads und die Neustrukturierung Syriens im Juli 2012
in Paris scheiterten. Die von der Gruppe der Freunde
Syriens gemachten Vorschläge konnten deshalb nicht
umgesetzt werden, da sich Russland und China wei-
gerten, die in den Verhandlungen geforderte irreale
Annahme eines Exilortes Assads in einem anderen
Land zu unterstützen. Des Weiteren ging Russland da-
von aus, dass Assad an den Friedensgesprächen betei-
ligt würde.
Mit der Bildung der Nationalen Koalition am
11. November 2012 in Doha hat die Opposition eine
lang erwartete Einigung untereinander gefunden.
Damit ergab sich erstmalig für die internationalen Ge-
1) Anlage 17
2) Die Ergebnisliste wird im Stenografischen Bericht der 215. Sitzung
abgedruckt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26407
Joachim Hörster
(C)
(B)
berländer ein konkreter Ansprechpartner. Die Eini-
gung kam angesichts von massivem Störfeuer seitens
des Syrian National Council, SNC, letztlich nur durch
massiven internationalen Druck zustande. Begleitet
wurde die Bildung der Nationalen Koalition von einem
schmerzhaften und streckenweise chaotischen Reform-
prozess des SNC, der nur mühsam seinen Alleinvertre-
tungsanspruch für die gesamte syrische Opposition
aufgegeben hatte. Die vielen unterschiedlichen Grup-
pierungen innerhalb der syrischen Opposition – ohne
ein einheitliches Auftreten nach außen – machten eine
koordinierte und strukturierte humanitäre Hilfe in
Syrien äußerst schwer. Im vergangenen Monat war die
Führung der Nationalen Koalition in Kairo versam-
melt, um Strukturen zu schaffen, die sowohl eine politi-
sche als auch eine humanitäre Zusammenarbeit mit
den Staaten der Freundesgruppe möglich machen
sollte. Jedoch hat die Nationale Koalition weiterhin
erhebliche Probleme, operative Strukturen anzubieten,
da die Ratifizierung der Vereinbarung über die Natio-
nale Koalition durch einzelne Gruppen, insbesondere
des SNC und der Kurden, noch nicht abschließend ge-
billigt ist.
Starke Flüchtlingsbewegungen in die Nachbarlän-
der – rund 450 000 registrierte Flüchtlinge, die ange-
nommene Dunkelziffer liegt weit höher; davon
120 000 in der Türkei, 125 000 im Libanon, 105 000 in
Jordanien; die jordanische Regierung selbst spricht
von mehr als 200 000, und 42 000 im Irak – veranlass-
ten die Bundesregierung zu weiteren Hilfestellungen.
Schon Anfang November 2012 wurden weitere 12 Mil-
lionen Euro für den Nothilfefonds der Vereinten Natio-
nen zum Zwecke der humanitären Hilfe für Flüchtlinge
in Syrien und den Nachbarländern bereitgestellt.
Mit diesen Mitteln erhöhte sich die Gesamtsumme
deutscher Hilfe im Rahmen der Syrien-Krise auf insge-
samt 67,3 Millionen Euro. Davon wurden 30,3 Millio-
nen Euro durch das Auswärtige Amt für humanitäre
Hilfe in Syrien und für die Versorgung der Flüchtlinge
in den Nachbarländern und 37 Millionen Euro für
strukturbildende Übergangshilfe und bilaterale Unter-
stützung über das Bundesministerium für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit finanziert.
Auf der großen Konferenz der sogenannten Gruppe
der Freunde des syrischen Volkes am gestrigen 12. De-
zember 2012 in Marrakesch, die mit dem Ziel zusam-
mengetreten war, den Weg für einen politischen Pro-
zess zur Beendigung der Kämpfe in Syrien zu bereiten,
wurde mit der Aufwertung der Nationalen Koalition
Syriens als legitime Vertretung des syrischen Volkes
ein wichtiges politisches Zeichen gesetzt und die Isola-
tion des Regimes Assad weiter vorangetrieben. Die
Freundesgruppe sprach in ihrem Abschlusspapier dem
Staatschef Baschar al-Assad zudem jede Legitimität ab
und fordert ihn zum Rücktritt auf, um einen politischen
Übergangsprozess einzuleiten. An dem Treffen in
Marrakesch nahmen Vertreter von 125 westlichen und
arabischen Staaten sowie von mehreren internationa-
len Organisationen und Anhänger der syrischen
Opposition teil.
Angesichts des bevorstehenden Winters in der Re-
gion stockte die Bundesregierung ihre humanitäre
Hilfe um weitere 22 Millionen Euro auf. Das Geld wird
vor allem dem Internationalen Komitee vom Roten
Kreuz, dem Welternährungsprogramm und dem
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zur
Verfügung gestellt. Damit beläuft sich die humanitäre
Hilfe Deutschlands für die syrischen Flüchtlinge auf
über 90 Millionen Euro. Deutschland gehört somit zu
den größten Geberländern. Das Geld kommt Opfern
und syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern
und zunehmend auch Menschen in Syrien zugute, die
in Gebieten leben, die unter Kontrolle von Opposi-
tionsgruppen stehen.
Die Genfer Vereinbarung vom Juni 2012 ist mit der
Anerkennung der Nationalen Koalition sowohl durch
die USA als auch durch die gesamte Freundesgruppe
obsolet geworden, da die Vereinbarung als wesentli-
chen Bestandteil den Dialog zwischen beiden Seiten
– Opposition und Assad-Regime – vorsah. Auch die im
Antrag geforderte Wiederaufnahme von diplomati-
schen Verhandlungslösungen mit dem Assad-Regime
sowie der Ausbau intensiver Kontakte zur demokrati-
schen, gewaltfreien Opposition in Syrien entbehren
zum einen durch die Tatsache, dass sich die Bundes-
regierung immer auf einen friedlichen Verhandlungs-
weg berufen und aus diesem Grund die syrische Ver-
tretung in Deutschland nicht gänzlich geschlossen hat,
und zum anderen durch das Ergebnis der Konferenz in
Marrakesch jeglicher realistischer Grundlage.
Jedoch darf – trotz aller aufkommender Hoffnung
auf ein baldiges Ende des Assad-Regimes – nicht au-
ßer Acht gelassen werden, dass völlig unklar ist, wie
sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
in Syrien nach dem Fall des Assad-Regimes entwickeln
werden. Die internationale Staatengemeinschaft unter-
stützt zwar die durch die Nationale Koalition vertre-
tene syrische Opposition in ihrem Streben nach einem
freien Syrien, jedoch gibt es innerhalb dieser Opposi-
tion Gruppen wie zum Beispiel die islamistische Al-
Nusra-Front, die von den USA als Terrororganisatio-
nen eingestuft wurden. Alle verschiedenen Strömungen
der syrischen Opposition verfolgen momentan ein
Ziel – den Sturz Baschar al-Assads. Doch inwieweit
sich diese einzelnen Gruppen nach dem Erreichen die-
ses Ziels über die Bildung eines demokratischen, frei-
heitlichen Systems verständigen, ist ebenfalls weitest-
gehend unklar und zwischen den Oppositionskräften
nicht geregelt. Die Al-Nusra-Front wurde zum Beispiel
wegen ihrer Verbindungen zum Terrornetzwerk al-
Qaida von den USA auf die Terrorliste gesetzt. Die
Gruppe hatte in der Vergangenheit die Verantwortung
für mehrere Selbstmordattentate in Syrien mit zahlrei-
chen Toten übernommen.
Viele weitere Unsicherheitsfaktoren spielen heute,
aber auch zukünftig eine Rolle bei der Entwicklung
Syriens, so zum Beispiel das Verhalten der Dschihadis-
Zu Protokoll gegebene Reden
26408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Joachim Hörster
(C)
(B)
ten, die im Ausland Kampferfahrungen gesammelt ha-
ben. Besondere Sorgen macht das Arsenal syrischer
Chemiewaffen, da niemand abzuschätzen weiß, ob
Assad als letztes Mittel von diesen Waffen Gebrauch
machen wird oder die Waffen nach dem Sturz Assads in
die Hände von Terrorgruppen fallen. In jedem Fall
wäre dies nicht nur eine Bedrohung für die eigene
syrische Bevölkerung, sondern auch für die angren-
zenden Staaten.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sowohl die
jetzige syrische Opposition als auch die Mehrzahl der
westlichen Staaten eine militärische Intervention in
das Krisengebiet strikt ablehnen. Die Europäische
Union hat am 28. November 2012 eine Verlängerung
des Waffenembargos für Syrien um drei Monate be-
schlossen.
Mit der Konferenz von Marrakesch erfuhr die syri-
sche Opposition eine internationale Aufwertung, die
sowohl die politischen Verhandlungen als auch die
Unterstützung für ein freies Syrien für die internatio-
nale Staatengemeinschaft erleichtern werden.
Wie sich die syrische Opposition – gerade vor dem
Hintergrund des Einflusses islamistischer Gruppen –
nach der Machtübernahme verhält, wird eine entschei-
dende Frage für den weiteren Weg Syriens sein. Wird
sie die Macht übernehmen, ohne diese zu teilen, ist ein
freies, demokratisches Syrien in weite Ferne gerückt.
Die deutsche Außenpolitik verfolgt mit Hinblick auf
die verheerenden Ausmaße der Gewalt in Syrien das
Ziel, eine rasche, friedliche Lösung herbeizuführen
und der Zivilbevölkerung, insbesondere den Flüchtlin-
gen, zu helfen. Durch unser Engagement sind wir zu
einem der größten Geber humanitärer Hilfe für syri-
sche Flüchtlinge geworden. Nichtsdestoweniger kann
die Hilfe nur ein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben,
solange die Gewalt unvermindert anhält.
Der Konflikt in Syrien hat sich längst zu einem blu-
tigen Bürgerkrieg ausgeweitet, dem täglich Hunderte
zum Opfer fallen. Immer mehr Menschen versuchen,
dieser Gewalt zu entfliehen. Nach Schätzungen der
Vereinten Nationen hat sich die Zahl der Flüchtlinge in
der letzten Zeit dramatisch erhöht. Das Flüchtlings-
hilfswerk UNHCR ging Anfang Dezember von mehr
als 3 Millionen betroffenen Menschen aus. Mehr als
450 000 Menschen sind bislang aus Syrien in die
Nachbarstaaten geflohen. Insbesondere Jordanien, Li-
banon, Irak und die Türkei haben einen außerordent-
lich wichtigen Beitrag geleistet, diese Flüchtlinge auf
ihrem Staatsgebiet so gut wie möglich aufzunehmen
und zu versorgen. Eine Verbesserung der Lage vor Ort
ist derzeit nicht absehbar. Im Gegenteil, mit fortschrei-
tender Dauer des Konflikts und dem anstehenden Win-
tereinbruch ist zu erwarten, dass die Flüchtlingspro-
blematik noch weiter zunimmt.
Wie Außenminister Westerwelle nach seinem Be-
such in dem jordanischen Flüchtlingslager al-Zaatari
im September dieses Jahres feststellte, sind von den
über 30 000 dort lebenden Flüchtlingen mehr als die
Hälfte Kinder, die besonders unter der Entwurzelung
und den Greueltaten leiden. Diese Schicksale beküm-
mern uns alle.
Zur Linderung der akuten Not syrischer Flüchtlinge
hat die Bundesregierung daher in den letzten Wochen
wiederholt eine Aufstockung der humanitären Hilfe für
Syrien auf nunmehr über 67 Millionen Euro beschlos-
sen. Davon werden circa 30 Millionen Euro durch das
Auswärtige Amt für humanitäre Hilfe in Syrien und für
die Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten
eingesetzt.
Wie Mitte Oktober beschlossen, gingen davon
5 Millionen Euro an Flüchtlinge aus Syrien, um warme
Kleidung, Decken und Öfen bereitzustellen. Am 7. No-
vember erhöhte Deutschland seine humanitäre Hilfe
für die Opfer des Syrien-Konflikts um weitere 12 Mil-
lionen Euro, die Deutschland dem Nothilfefonds der
Vereinten Nationen zur Verfügung stellte, um die
Flüchtlingsquartiere winterfest zu machen und die
Menschen mit Essen und warmer Kleidung zu versor-
gen.
Wie bereits Ende Oktober beschlossen, gingen au-
ßerdem 1,3 Millionen Euro an den Libanon, der über
100 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, um
diese zu unterstützen. Dieses Engagement ist auch un-
ter dem Aspekt wichtig, den Libanon zu stabilisieren
und ein Übergreifen der Syrien-Krise auf den Libanon
zu verhindern.
Auch die Europäische Kommission hat in den letz-
ten Wochen und Monaten eine Aufstockung ihrer So-
forthilfe für Syrien auf nunmehr 119 Millionen Euro
beschlossen. Damit stellt die EU die Hälfte der inter-
nationalen humanitären Hilfe in der Krise. Deutsch-
land leistet hierzu einen erheblichen Beitrag.
Ohne ein Ende der Gewalt ist auch ein Ende der
Flüchtlingsproblematik nicht absehbar.
International ist das syrische Regime nicht zuletzt
aufgrund der Sanktionen der internationalen Staaten-
gemeinschaft mehr und mehr isoliert. Jetzt gilt es, end-
lich die Bemühungen Deutschlands, der EU und der
USA erfolgreich voranzutreiben, Russland und China
von der Unterstützung des syrischen Regimes abzu-
bringen. Denn die Vereinten Nationen können nur
dann einen Waffenstillstand in Syrien unterstützen,
wenn alle ihre Mitglieder Seite an Seite darauf hinar-
beiten. Die gegenwärtige Blockade des Sicherheitsrats
geht auf Kosten der Menschen in Syrien und des Frie-
dens in der gesamten Region!
Sorge bereiten mir in diesem Zusammenhang insbe-
sondere Meldungen, wonach das syrische Regime mit
einem Einsatz chemischer Waffen drohe. Wie Anfang
Dezember Außenminister Westerwelle, US-Präsident
Obama und NATO-Generalsekretär Rasmussen klar-
stellten, wäre ein solcher Einsatz völlig inakzeptabel.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26409
Dr. Wolfgang Götzer
(C)
(B)
Zum Schluss möchte ich der Hoffnung Ausdruck ver-
leihen, dass die Einschätzung des Bundesnachrichten-
dienstes zutrifft, wonach ein Ende des Assad-Regimes
unausweichlich sei. Was allerdings danach kommt, ob
das Ende des Assad-Regimes auch der Beginn eines
Demokratisierungsprozesses sein wird, ist freilich ge-
rade mit Blick auf die aktuelle Entwicklung in Ägypten
fraglich.
Das Assad-Regime hat ausgespielt. Nach einein-
halb Jahren offenem Krieg gegen große Teile der eige-
nen Bevölkerung mit Zigtausenden Toten und Verletz-
ten sowie Hunderttausenden Flüchtlingen hat die
syrische Regierung jede Legitimation verloren. Assad
hat sich als unfähig und nicht willens erwiesen, die
friedlichen Proteste der Bevölkerung ernst zu nehmen
und den Ruf der Straße nach politischer Partizipation
und verantwortlichen Behörden in einen politischen
Reformprozess zu transformieren. Seine Zusagen für
mehr Pluralität löste er nicht ein, sondern antwortete
mit Folter, Willkür und Repression. Als Reaktion de-
sertierten immer mehr Soldaten, und die „Freie Syri-
sche Armee“ begann den bewaffneten Kampf gegen
die marodierenden Schabiha-Milizen – und die Zen-
tralarmee. Gleichzeitig gelangten immer mehr funda-
mentalistische Kämpfer aus dem Ausland nach Syrien,
und die Situation wurde zunehmend unübersichtlicher
und blutiger.
Diese Kette von Ereignissen ist wichtig, um den sy-
rischen Bürgerkrieg auch politisch einzuordnen. Hier
setzt der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke
ganz falsche Akzente. Der Protest der Bevölkerung sei
„unter vielfachem Einfluss in eine andere Richtung ge-
trieben“ und der Konflikt „von außen angeheizt und
militarisiert“ worden, liest man da. Die Linke begibt
sich hier auf sehr dünnes Eis. Möchte sie nicht in den
Chor der antiimperialistischen Verschwörungstheore-
tiker mit einstimmen, dann muss sie klare Position be-
ziehen und die Verantwortlichen für die syrische Tra-
gödie zweifelsfrei benennen. Assad wird lediglich
„erhebliche Verantwortung für die Gewalt in Syrien“
attestiert. Das ist nicht die klare Botschaft, die eine
Fraktion des Bundestages hier senden muss. Natürlich
ist die Situation in Syrien gerade deshalb so schwierig,
weil vielfache Bruchlinien das Land durchziehen. Der
soziale Konflikt um Teilhabe und Demokratisierung,
der im Kern der syrischen Auseinandersetzungen
steht, wurde im Verlauf der Auseinandersetzung zuneh-
mend konfessionalisiert. Dies ist das eigentliche Ver-
brechen des kompromisslosen Assad-Regimes. Dass zu
den widerstreitenden regionalen Interessen von Iran
und den Golfstaaten auch noch der globale Gegensatz
zwischen dem Westen und Russland kommt, macht die-
sen Konflikt extrem komplex. Einfache Lösungen sind
nicht zu haben.
Der richtige Ansatz ist es da, im ganz Kleinen die
lokale, gewaltfreie Opposition in Syrien zu unterstüt-
zen und im ganz Großen weiter massiv für eine Eini-
gung im VN-Sicherheitsrat zu werben. Das Rezept der
Linksfraktion ist es hingegen, die diplomatischen Kon-
takte zu Assad wiederherzustellen. Gleichzeitig fordert
sie, dass der VN-Sicherheitsrat keine Kapitel-VII-Re-
solution verabschieden darf. Das kann nicht die rich-
tige Antwort auf die schwierige Situation in Syrien
sein.
Eine gemeinsame Position der internationalen Ge-
meinschaft hat von Anfang an gefehlt. Das hat dazu
beigetragen, den Bürgerkrieg auszudehnen. In dieser
Situation Kapitel-VII-Resolutionen des VN-Sicher-
heitsrates kategorisch auszuschließen, halte ich für
falsch. Es gilt, klar Partei zu ergreifen für die syrische
Bevölkerung, Demokratie und einen zivilen Wandel.
Das ist das Signal, was nach Syrien gesendet werden
muss und nicht die Wiederaufnahme von diplomati-
schen Beziehungen mit Assad. In diesem Zusammen-
hang begrüße ich ausdrücklich die positiven Impulse,
die gestern in Marrakesch von der Gruppe der
Freunde Syriens an die Nationale Koalition in Syrien
gesendet wurden.
Über die politischen Entwicklungen darf aber eines
nicht vergessen werden – und darin sind wir uns einig –:
Angesichts des bevorstehenden Winters brauchen die
Flüchtlinge und Betroffenen mehr denn je humanitäre
Unterstützung.
Seit dem Beginn der gewaltsamen Unruhen in Sy-
rien hat sich diese Bundesregierung um die Belange
der dortigen Hilfebedürftigen gekümmert. Die Lage der
syrischen Flüchtlinge ist prekär, doch wir dürfen nicht
der Versuchung nachgeben, durch wohlgemeinte un-
überlegte Hilfsaktionen diese Situation noch zu ver-
schlimmern. Es ist verständlich, dass man aufgrund
der grausigen Bilder aus Syrien am liebsten alle Not-
leidenden in Sicherheit schaffen möchte. Aber: Gut ge-
meint ist nicht gleich gut gemacht. Unter diesem Stich-
wort sehe ich auch den vorliegenden Antrag.
Wir verfolgen das langfristige Ziel einer demokrati-
schen Stabilisierung des Landes nach dem Sturz des
Assad-Regimes. Dazu brauchen wir die Menschen vor
Ort. Es hilft nichts, wenn dieses brutale Regime über
kurz oder lang verjagt wird, nur damit im neuen Chaos
eine andere unterdrückende Clique an die Macht
kommt. Die Motive der Kämpfenden sind grundver-
schieden und für uns als Außenstehende sehr schwer
zu erkennen. Es kann uns nicht egal sein, wenn in Zu-
kunft zum Beispiel islamistische Fundamentalisten das
Land regieren wollen.
Daher müssen wir gewährleisten, dass wir keinen
künstlichen Braindrain verursachen und damit Syrien
dem Chaos überlassen. Gleichzeitig will diese Bundes-
regierung ihr Möglichstes tun, um den Flüchtlingen zu
helfen. Das tut sie seit fast zwei Jahren auf mannigfal-
tige Weise.
Um nur die jüngsten Hilfeleistungen zu nennen: Wir
sind der zweitgrößte Geldgeber nach den Vereinigten
Zu Protokoll gegebene Reden
26410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Bijan Djir-Sarai
(C)
(B)
Staaten in der Region. Bis jetzt hat Deutschland rund
67,3 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und struk-
turbildende Übergangshilfe ausgegeben. Das betrifft
sowohl bilaterale Soforthilfe über UNICEF als auch
zum Beispiel Unterstützung für Flüchtlinge in Jorda-
nien und im Libanon. Diese Hilfe wird auch in Zukunft
ausgebaut. Außerdem unterstützt das Auswärtige Amt
mit 500 000 Euro syrische Studenten in Deutschland,
die in finanzielle Engpässe gekommen sind. So sollen
sie befähigt werden, ihr Studium trotz der Kämpfe in
ihrem Heimatland fortsetzen zu können. Denn gerade
gebildete junge Syrer werden nach einem Sturz des
Assad-Regimes dringend vor Ort gebraucht.
Seit April 2011 wurde keine einzige Person mehr
nach Syrien abgeschoben. Weiterhin hat sich das Aus-
wärtige Amt zusammen mit dem Bundesministerium
des Innern auf eine Ausnahmeregelung geeinigt, die
den Ehegattennachzug aus Syrien betrifft. Das heißt,
dass syrischen Ehepartnern von deutschen Staatsbür-
gern unter erleichterten Bedingungen ein Visum erteilt
wird.
Damit erfüllt diese Bundesregierung schon die
meisten Forderungen der Opposition, ohne aber in ei-
nen kontraproduktiven Hilfewahn zu verfallen. Wir set-
zen gezielt dort Hilfe ein, wo sie den Syrern selbst am
meisten nützt. Wir wollen einen souveränen, demokra-
tischen und sicheren Staat Syrien, der von seinen eige-
nen Landsleuten getragen wird.
Interessanterweise hat bislang das Flüchtlingshilfs-
werk der Vereinten Nationen auf einen Aufruf zur all-
gemeinen Aufnahme von syrischen Flüchtlingen ver-
zichtet. Es betont stattdessen die Hilfe vor Ort – genau
wie die Bundesrepublik Deutschland. Daher ist der
wohl gut gemeinte, aber, wie eben erläutert, nicht hilf-
reiche Antrag der Opposition abzulehnen.
Es ist schon bezeichnend, dass es ausschließlich die
Linke ist, die dem Bundestag einen Antrag zu Syrien
vorgelegt hat: „Sofortige humanitäre Hilfe für Syrien
leisten – Diplomatische Verhandlungslösung für den
Konflikt fördern“. Die Linke hat von Anfang an und
auf das Engste mit der demokratischen Opposition in
Syrien zusammengearbeitet. Der Nationale Koordinie-
rungsrat für einen demokratischen Wandel in Syrien
hat eine klare politische Haltung für ein Syrien des
demokratischen Wandels, für Gewaltfreiheit. Wir
konnten uns diesem Teil der syrischen Opposition, der
gewaltfrei handelt, ein Auseinanderbrechen des syri-
schen Staates verhindern will und sich nicht einer reli-
giösen Richtung verpflichtet, anschließen. Die Linke
hat verschiedenste Gäste aus Syrien und aus der syri-
schen Emigration eingeladen. Unser Prinzip war und
ist: Wir wollen nicht in Berlin festlegen, was in Syrien
passieren müsse. Das unterscheidet uns von vielen an-
deren.
Die Bundesregierung hat einen anderen Weg einge-
schlagen. Ihre Zielsetzung war es nicht, zu einem Dia-
log in Syrien beizutragen, war nicht die Förderung ge-
waltfreier Positionen, sondern der Regime Change,
der mit aller Macht herbeigeführt werden soll. Die
Bundesregierung engagierte sich dafür, dass in Berlin
das Konzept „The Day after“ ausgearbeitet werden
konnte. Die Bundesregierung mischte aktiv unter den
„Freunden Syriens“ mit und verdrängt ihre Erkennt-
nisse über Waffenlieferungen nach Syrien. Die Bun-
desregierung hatte auch keine Skrupel, Saudi-Arabien
und Katar, die Golfemirate als Partner im Kampf um
Syrien zu akzeptieren. Ebenso wie diesen Diktaturen
war es der Bundesregierung recht, die Türkei als Part-
ner für den Kampf um „die Rechte der syrischen Kur-
dinnen und Kurden“ zu preisen. Die Politik der Bun-
desregierung war nicht doppelbödig, nein – sie war
eindeutig. Assad sollte gestürzt werden, koste es, was
es wolle, auch wenn das den säkularen Charakter des
Staates Syrien zerstört.
Damit das klar ist: Die Linke, auch ich selbst bin
entschieden dafür, dass Assad als Präsident Syriens
abgelöst wird. Wir wollen einen demokratischen Wan-
del in Syrien unterstützen, aber nicht vom Regen in die
Traufe kommen. Die Moslembrüder, Al Qaida und an-
dere islamistische Gruppen sind keine Alternative zu
Assad. Es gibt Alternativen in der syrischen Gesell-
schaft und auch in der syrischen Auslandsopposition.
Nur – hinter diesen Gruppen stehen keine mächtigen
Geldgeber, keine staatlichen Interessen. Ihre Macht
kommt nicht aus Gewehrläufen. Ihre Partner sind
nicht die Golfstaaten, ihr Syrien wird von unten wach-
sen, plural und demokratisch sein, und kann einen fö-
deralen Staatsaufbau haben. Ein autonomes kurdi-
sches Gebiet in Syrien wird mit Sicherheit zu diesem
Syrien gehören, davon habe ich mich in vielen Gesprä-
chen überzeugen können.
Die politische Konzeption für einen solchen syri-
schen Staat findet sich in der Genfer Vereinbarung, die
Lakhdar Brahimi auf den Weg gebracht hat, und war
bereits im Sechs-Punkte-Plan von Kofi Annan skiz-
ziert. Auch die Bundesregierung hatte sich verbal für
beide Dokumente ausgesprochen. Tatsächlich einge-
setzt hat sie sich dafür nie. Für die Linke bleibt der
zentrale Punkt, eine Vereinbarung über einen Waffen-
stillstand zu erreichen und effektiv Hilfe zur Abwen-
dung der humanitären Katastrophe zu leisten. Europa
muss seine Grenzen sofort für syrische Flüchtlinge öff-
nen und die in Deutschland lebenden Syrerinnen und
Syrer müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Familien
nachzuholen. Alle Initiativen des Roten Kreuzes bzw.
des Roten Halbmonds für direkte Hilfe in Syrien müs-
sen unterstützt werden. Das schlagen wir vor.
Von der Bundesregierung fordern wir, dass sie zu ei-
ner Politik der Zurückhaltung zurückkehrt. Es ist falsch
und skandalös, das Patriot-Raketensystem an der tür-
kisch-syrischen Grenze zu stationieren. Deutschland
begibt sich mit Waffen und Soldaten in einen hochex-
plosiven Gefahrenherd hinein. Deutsche Soldaten im
Nahen Osten, Deutschland an der Seite der Regierung
Erdogan, das ist in dieser Auseinandersetzung der fal-
sche politische Weg.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26411
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
Wenn die Bundesregierung jetzt argumentiert, man
müsse dem NATO-Partner Türkei den jahrzehntelan-
gen Schutz Deutschlands und des westlichen Bündnis-
ses vor dem Sowjetkommunismus gebührend honorie-
ren. Die Türkei hat uns geholfen, jetzt helfen wir der
Türkei, hört man aus dem Regierungslager. Ich habe
überhaupt nichts dagegen, den Demokratinnen und
Demokraten in der Türkei zu helfen. Die Linke im Bun-
destag und die Bewegung für Demokratie, BDP, in der
Türkei haben eine gemeinsame Erklärung gegen die
Stationierung der Patriot-Raketen abgegeben und sind
solidarisch mit der türkischen und deutschen Frie-
densbewegung. Die türkische und die deutsche Linke
treten für die Rechte der Kurdinnen und Kurden ein –
in Deutschland, in Syrien, im Irak und in der Türkei.
Seit 21 Monaten schlägt das syrische Regime jeden
Protest für Menschenrechte und Demokratie mit bruta-
ler Gewalt nieder. Mittlerweile wurde die Freiheits-
bewegung von einem Bürgerkrieg abgelöst. Die syste-
matische Gewalt gegen Zivilisten ist ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen.
Der syrische Präsident Baschar al-Assad befehligt die
Bombardierung von Wohngebieten, die Tötung von
unschuldigen Zivilisten, verhindert den Zugang zu hu-
manitärer Hilfe und billigt offenbar Folter, sexuelle
Gewalt und Misshandlungen, auch an Kindern.
Syrerinnen und Syrer zahlen einen hohen Preis für
ihren Wunsch nach Freiheit, Menschenrechten und
Demokratie. Bisher sind nach Angaben der Vereinten
Nationen mehr als 40 000 Menschen während des
gewaltsamen Konflikts in Syrien ums Leben gekom-
men. 2,5 Millionen Syrerinnen und Syrer benötigen hu-
manitäre Hilfe. 1,2 Millionen von ihnen sind innerhalb
Syriens auf der Flucht. Fast eine halbe Million Men-
schen mussten das Land verlassen. Das VN-Flücht-
lingshilfswerk UNHCR geht davon aus, dass bis zum
Ende dieses Jahres die Zahl von syrischen Flüchtlin-
gen auf 710 000 anwachsen wird.
Ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien ist in absehba-
rer Zeit leider nicht zu erwarten, auch wenn sich in den
letzten Wochen die Anzeichen dafür mehren, dass die
Macht des Assad-Regimes schwindet. Die Debatte
über Syrien aber auf das Militärische zu reduzieren,
wird der Situation vor Ort nicht gerecht; denn im Rah-
men der Aufnahme von Flüchtlingen und der humani-
tären Hilfe ist noch vieles möglich. Die Vereinten
Nationen, insbesondere UN OCHA und UNHCR, und
das Internationale Komitee des Roten Kreuzes benöti-
gen die tatkräftige Unterstützung der internationalen
Gemeinschaft.
Bisher sind nur 50 Prozent der von den Vereinten
Nationen für Syrien benötigten 348 Millionen US-
Dollar finanziert. Der Aufruf zur Versorgung von
Flüchtlingen ist nur zu 35 Prozent gedeckt. Finanziell
kann also noch viel getan werden.
Gleichzeitig müssen dauerhafte Lösungen für die
Flüchtlinge aus Syrien gefunden werden. Die Türkei,
Jordanien, der Libanon und Irak stoßen mit der Auf-
nahme und Versorgung der syrischen Flüchtlinge an
ihre Grenzen. Diese vier Staaten allein haben bisher
448 751 Flüchtlinge aufgenommen.
Daran sollten sich alle Staaten ein Beispiel nehmen
– auch Deutschland. Hunderttausende können nicht
auf Dauer in Lagern in der Türkei, Jordanien, dem
Libanon oder Irak bleiben. Der Winter erschwert ihre
ohnehin schon schwierige Situation weiter. Die
Bundesregierung sollte sich mit den aufnehmenden
Anrainerstaaten und mit den Flüchtlingen solidarisch
zeigen und großzügig Syrerinnen und Syrern in
Deutschland Schutz gewähren. Es gibt auch manche
von ihnen, die von ihren Freunden und Angehörigen
nach Deutschland eingeladen werden. Für sie muss
die Visumsvergabe deutlich erleichtert werden, damit
sie wenigstens für eine Zeit lang Schutz in Deutschland
finden. Dies hat jüngst auch die Integrationsbeauf-
tragte, Maria Böhmer, gefordert.
Lakhdar Brahimi, der Sonderbeauftragte der Ver-
einten Nationen und der Arabischen Liga für Syrien,
hat am 30. November 2012 vor der VN-Generalver-
sammlung betont, dass es letztendlich nur zwei Alter-
nativen für Syrien gibt. Eine verhandelte Lösung des
Konflikts oder einen Failed State, der mit seinem eth-
nisch-religiösen Konflikt nicht nur Syrien, sondern die
gesamte Region im Griff halten wird.
Der Syrienkonflikt ist ohne eine Zusammenarbeit
aller Mächte in der Region, einschließlich Iran – übri-
gens genau wie der Afghanistan-Konflikt, nicht lösbar.
Kofi Annan wusste das und wollte deshalb den Iran in
die Verhandlungen einbinden. Niemand in der Region
hat so viel Einfluss auf Baschar al-Assad wie das ira-
nische Regime. Die USA aber blockieren weiterhin die
Einbindung Irans. Doch geopolitische Interessen der
unterschiedlichen Konfliktparteien – USA, Saudi-
Arabien, Russland, Iran – dürfen nach all den Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit in Syrien die Blockade
von Verhandlungen nicht legitimieren. Alle Parteien
sind zu Kompromissen aufgefordert. Dazu gehört
auch, Iran und Irak mit an den Verhandlungstisch zu
holen.
Ein verhandelter Frieden ist letztendlich nur im
Rahmen der Vereinten Nationen denkbar. Die Verein-
ten Nationen haben die große Verantwortung, aber
auch die große Chance, intensive Beziehungen zu allen
Mitgliedstaaten zu unterhalten, die nicht von irgend-
welchen nationalen oder geopolitischen Interessen
geprägt sind. Sie sind die wichtigste Stimme für fried-
liche Konfliktlösungsstrategien, den Schutz der
Menschenrechte in aller Welt sowie in den einzelnen
Nationalstaaten.
Der Sechs-Punkte-Plan von Kofi Annan und das
Schlusskommuniqué der Action Group for Syria vom
30. Juni 2012 bieten immer noch eine Grundlage für
Zu Protokoll gegebene Reden
26412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Tom Koenigs
(C)
(B)
politische Verhandlungen. Was am Ende einer solchen
Verhandlung steht, ist noch eine Unbekannte.
Ein Ende des Bürgerkrieges ist noch nicht absehbar.
Absehbar ist aber: Sobald es einen Waffenstillstand
gibt, muss eine robuste VN-Mission die verschiedenen
religiösen, ethnischen und politischen Gruppen davon
abhalten, einen Krieg – jeder gegen jeden – zu führen;
darauf sollte man sich vorbereiten. Auch wenn jetzt je-
des militärische Eingreifen den Konflikt nur verschär-
fen und die Opferzahlen erhöhen würde, eine Kapitel-
VII-Mission der Vereinten Nationen in Syrien für alle
Zukunft und auch nach einem Waffenstillstand katego-
risch auszuschließen, wie es die Partei Die Linke tut,
ist auch nicht möglich.
Es stellt sich doch die Frage, ob die Friedens-
freunde der Linken nichts aus dem Völkermord in
Srebrenica gelernt haben. Sollen in Syrien dann etwa
Blauhelme wieder dabei zusehen, wie Verbrechen ge-
gen die Menschlichkeit oder Völkermord begangen
werden, nur weil die internationale Gemeinschaft die
VN-Mission nicht mit einem robusten, also Kapitel-
VII-Mandat ausgestattet hat? Haben wir aus der
Debatte um die Schutzverantwortung nichts gelernt?
Die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica haben
der internationalen Gemeinschaft eine Lektion erteilt.
Sobald in Syrien die Waffen schweigen, muss es ein
Kapitel-VII-Mandat für eine gut bewaffnete Mission
der Vereinten Nationen in Syrien geben, um konkurrie-
rende Gruppen auseinanderzuhalten und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Rachemorde zu verhin-
dern. Das sollten wir jetzt schon sagen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/11697 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsa-
nitäters sowie zur Änderung weiterer Vor-
schriften
– Drucksache 17/11689 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Hier wurden die Reden ebenfalls zu Protokoll gege-
ben.
Mit dem Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäte-
rin und des Notfallsanitäters sowie zur Änderung wei-
terer Vorschriften machen wir einen weiteren Schritt
zur Sicherstellung unserer Gesundheitsversorgung. Im
Rahmen der Gefahrenabwehr und der staatlichen
Daseinsvorsorge haben Patientinnen und Patienten
Anspruch auf adäquate medizinische Hilfe durch
adäquat geschultes Personal. Um dies auch weiterhin
in gewohntem Maße zu gewährleisten, geht es darum,
die sich verändernden Gegebenheiten zu berücksichti-
gen und Strukturen anzupassen. Deshalb ist die im
Gesetzentwurf vorgesehene Neustrukturierung der
Ausbildung von Notfallsanitätern – die oftmals als
Erste vor Ort sind – von sehr großer Bedeutung für das
Rettungswesen.
Bisher beruht die Ausbildung der Rettungsassisten-
ten auf einem Gesetz aus dem Jahre 1989, das mittler-
weile aus verschiedenen Gründen überholt ist. Durch
die Neugestaltung und Neugliederung der Ausbildung
sorgen wir für mehr Rechtsicherheit. Bisher standen
Sanitäter bei ihrer Arbeit oftmals quasi mit einem Bein
im Gefängnis, da sie weder eigenständig Medikamente
verabreichen noch lebenserhaltende Maßnahmen
durchführen durften, aus der Not heraus aber mussten.
Das Verabreichen von Medikamenten sowie die
Durchführung lebenserhaltender Maßnahmen waren
ausschließlich dem hinzugezogenen Notarzt vorbehal-
ten. Durch die Neuregelung der Ausbildung im
Rahmen des Gesetzes erhalten Sanitäter größeres
Fachwissen, aber auch größere Kompetenzen als zu-
vor.
Zentral ist dabei die Verlängerung der Ausbildungs-
dauer von zwei auf drei Jahre. Durch sie ist es mög-
lich, den Sanitätern das Erlernen der entsprechenden
Kompetenzen zu ermöglichen, um auch in extrem for-
dernden Situationen des Einsatzes das erforderliche
Fachwissen anwenden zu können und zu dürfen.
Diese erweiterten Kompetenzen für Sanitäter sind
gerade unter dem Aspekt des demografischen Wandels
– und hier vor allem im ländlichen Raum – dringend
geboten. Bisher ist es rechtlich zwingend vorgeschrie-
ben, selbst grundlegende Behandlungen durch einen
Notarzt durchführen zu lassen – auch wenn dies oft gar
nicht unbedingt notwendig wäre. Aus diesem Grund
erachte ich die geplante Neuregelung für notwendig,
und zwar nicht nur aus Sicht der Sanitäter, sondern
auch aus Sicht der Notärzte. Durch das neue Gesetz
und die erweiterte Ausbildung der Sanitäter wird nun
sichergestellt, dass bereits vor der Aufnahme in eine
Klinik qualifizierte Behandlungsstandards – auch bei
den Notfallsanitätern – eingehalten werden.
Voraussetzung für die Durchführung der Notfall-
maßnahmen ohne Notarzt ist, dass sich die Patientin
bzw. der Patient in einem lebensgefährlichen Zustand
befindet oder dass massive Folgeschäden zu befürch-
ten sind, wenn keine unmittelbare Versorgung erfolgt.
Um neben der Politik auch die direkt betroffenen
Interessengruppen mit in den Gesetzgebungsprozess
einzubeziehen, wurde vonseiten des Gesundheitsminis-
teriums zur Klärung einiger zentraler Fragen eine
Expertengruppe, bestehend aus Vertretern dieser
Gruppen, eingerichtet. Der nun vorliegende Gesetz-
entwurf basiert zu großen Teilen auf den Ergebnissen
der Beratungen dieser Expertengruppe und greift
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26413
Lothar Riebsamen
(C)
(B)
neben der Anpassung der Ausbildung zahlreiche For-
derungen der Experten auf, was zu deutlichen Verbes-
serungen in verschiedenen Bereichen führt.
So wird beispielsweise, um die Situation der Aus-
zubildenden zu verbessern, Notfallsanitäteranwärtern
durch das neue Gesetz eine Ausbildungsvergütung
gewährt. Dies ist allein schon deshalb geboten, da die
Ausbildung zum Notfallsanitäter in Konkurrenz zu
anderen Ausbildungsberufen steht.
Zudem wird, um eine Lücke in der Versorgung mit
frisch ausgebildeten Sanitätskräften zu vermeiden, die
bisher geltende Regelung bis Ende des Jahres 2014 in
Kraft bleiben. Hier wurde auf Verbesserungs-
vorschläge vonseiten der Verbände reagiert.
Auch für Rettungssanitäter, die nach dem bisher
geltenden Gesetz ausgebildet wurden, ist es nun mög-
lich, sich – je nach Vor- und Fachwissen – innerhalb
eines Viertel- oder eines halben Jahres unbürokratisch
und schnell zum Notfallsanitäter fortbilden zu lassen.
Mit dem neuen Notfallsanitätergesetz regelt der
Bund die Ausbildung zum Notfallsanitäter neu. Die
Umsetzung der Vorgaben des Gesetzes liegt nun in den
Händen der Länder. Ich appelliere an diese, ihrer
Verantwortung gerecht zu werden.
Die Expertinnen und Experten des Rettungsdienstes
leisten als Bestandteil der Daseinsvorsorge Nacht für
Nacht und Tag für Tag eine anspruchsvolle, hochqua-
lifizierte Arbeit. Viele verdanken ihnen ihr Leben. Viele
verdanken ihnen ihre Gesundheit. Dafür gilt allen eh-
renamtlichen und hauptberuflichen Fachkräften des
Rettungsdienstes mein ganz herzlicher Dank.
Zu Recht wird im Entwurf eines Gesetzes über den
Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters
sowie zur Änderung des Hebammengesetzes darauf
verwiesen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger „ei-
nen gesetzlichen Anspruch auf eine qualifizierte, be-
darfsgerechte, hilfsfristorientierte und flächende-
ckende notfallmedizinische Hilfe auf dem aktuellen
Stand von Wissen und Technik“ haben.
Dieser „Stand von Wissen und Technik“ ist sowohl
im wissenschaftlichen als auch im technologischen Be-
reich in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen. So
hat sich die Medizin rasant weiterentwickelt und mit
ihr die Möglichkeiten der Notfallmedizin.
Deshalb begrüßen wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten grundsätzlich die mit diesem Gesetz
geplanten Neuregelungen der Ausbildungsstrukturen
im Rettungswesen. Die Notwendigkeit der Modernisie-
rung des 23 Jahre alten Rettungsassistentengesetzes,
RettAssG, von 1989 wird von allen – auch von den
Fachverbänden – gesehen. Bisher sind in diesem Feld
sowohl Rettungshelfer und Rettungshelferinnen, Ret-
tungssanitäter und Rettungssanitäterinnen wie auch
Rettungsassistenten und Rettungsassistentinnen im
Einsatz. Die Ausbildungen sind bis auf die zur Ret-
tungsassistentin oder zum Rettungsassistenten nicht
bundeseinheitlich geregelt.
Wir begrüßen die Aufwertung des Berufsbildes und
der dazugehörigen Ausbildung sowie die zukünftig
dann bundesweit einheitlichen Ausbildungsregelungen
zum neuen Notfallsanitäter, zur Notfallsanitäterin.
Wir begrüßen die Intention, das Ausbildungsziel zu
erneuern und die Ausbildung von zwei auf drei Jahre
zu verlängern. So erhalten Notfallsanitäter und Not-
fallsanitäterinnen mehr Kompetenzen bei der Aus-
übung ihres Berufes.
Die SPD-Bundestagsfraktion plädiert grundsätzlich
für eine stärkere Durchlässigkeit von Ausbildungsbe-
rufen und Studium; nicht nur bei den Notfallsanitätern
und den Notfallsanitäterinnen. Bei der von uns unter-
stützen Aufwertung ist darauf zu achten, dass keine un-
nötig hohen Hürden für den Berufszugang geschaffen
werden. Berufszugänge müssen tendenziell erleichtert
und Chancen zur Weiterqualifizierung gewährleistet
sein.
Für uns ist auch bei dieser Ausbildungsneuregelung
wichtig, dass es in der Praxis zu keiner Zwei-Klassen-
oder gar Dreiklassenbesetzung auf den Einsatzfahr-
zeugen kommt.
In der Übergangsphase der Neuregelung der Aus-
bildung der Rettungsassistentinnen und Rettungsassis-
tenten zum Notfallsanitäter und zur Notfallsanitäterin
ist dringend darauf zu achten, dass es zu keinen inak-
zeptablen Verwerfungen bei den Vergütungen kommt.
Gezielte, nur aus Kostenersparnisgründen vorgenom-
mene Verlagerungen von Tätigkeiten auf geringer qua-
lifizierte Rettungshelfer und Rettungshelferinnen oder
Rettungssanitäter und Rettungssanitäterinnen sind in-
akzeptabel.
Jedem heutigen Rettungsassistenten muss die nied-
rigschwellige Möglichkeit zum Erwerb des neuen
Berufsbildes gegeben werden. Ihre im Beruf erwor-
bene praxisbezogene Erfahrung muss eine angemes-
sene Berücksichtigung bei Weiterbildungsmöglichkei-
ten finden.
Die SPD-Bundestagsfraktion befürwortet grund-
sätzlich Regelungen zur Delegation von ärztlichen Tä-
tigkeiten. Trotz der Letztverantwortung des Arztes/der
Ärztin müssen im Interesse der Hilfesuchenden und der
interdisziplinären Kooperation Möglichkeiten zur Ent-
lastung der Mediziner und Medizinerinnen evaluiert
und in die Praxis überführt werden. Auf diese Weise
gewinnt der Beruf der Notfallsanitäterin, des Notfall-
sanitäters an weiterem Ansehen und die Notfallpatien-
tinnen und -patienten erhalten eine noch bessere Ver-
sorgung.
Kritik am bislang geltenden Rettungsassistenten-
gesetz gibt es in der Frage der bestehenden Rechtsun-
sicherheit bei der Anwendung von invasiven Maßnah-
men im Rahmen der sogenannten Notkompetenz. Der
dazu nun im Gesetzentwurf verankerte Regelungsvor-
schlag und die Ausführungen in der Begründung zum
Zu Protokoll gegebene Reden
26414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Mechthild Rawert
(C)
(B)
Gesetzentwurf müssen in einer hoffentlich stattfinden-
den Anhörung intensiv diskutiert werden, um für Not-
fallsanitäterinnen und Notfallsanitäter Handlungsfä-
higkeit und Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Die geplante Einführung einer Ausbildungsvergü-
tung und die Schaffung eines Ausbildungsrahmens
wird von der SPD-Bundestagsfraktion begrüßt. Si-
cherzustellen ist dabei die Finanzierung der zukünfti-
gen Ausbildung. Die Träger selbst, als Arbeitgeber der
künftigen Notfallsanitäter und Notfallsanitäterinnen,
müssen für die Ausbildung ihrer späteren Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter finanziell aufkommen. Wir So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten lehnen Re-
gelungen ab, nach denen Auszubildende für ihre
Ausbildungen selbst zahlen und unter anderem Schul-
geld zahlen müssen.
Folgende Fragen sind noch ungeklärt und sind in
einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deut-
schen Bundestages mit den Fachverbänden zu disku-
(C)
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– Drucksachen 17/11671, 17/11744 Nr. 2,
17/11886 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Die Reden wurden wiederum zu Protokoll gegeben.
Die Verordnung zu abschaltbaren Lasten ist ein wei-
terer wichtiger Schritt, den wir in Richtung Energie-
wende gehen. Die Energiewende braucht intelligente
Lösungen, damit erneuerbare Energien besser inte-
griert werden und die Netzstabilität aufrechterhalten
werden kann. Dazu gehört nicht nur die Angebotsseite,
wie neue Gaskraftwerke, sondern auch die Nach-
frageseite, nämlich Stromabnehmer, die kurzfristig ei-
nen Teil ihrer Nachfrage zurückfahren können. Diese
adressieren wir mit der Verordnung.
Der Beitrag der Industrie zur Netzstabilität ist nicht
nur seit mehreren Jahren ein Thema in unserer natio-
nalen energiepolitischen Diskussion, sondern wird
auch in vielen Staaten Europas praktiziert, wie bei-
spielsweise in Italien, Spanien, in den Niederlanden
oder in Slowenien. Die Erfahrung in diesen Ländern
hat gezeigt, dass die Industrie einen entscheidenden
Beitrag zur Netzstabilität leisten kann.
Netzstabilität ist das A und O einer sicheren und zu-
verlässigen Stromversorgung. Der stark zunehmende
Ausbau der fluktuierenden erneuerbaren Energien,
beispielsweise Wind- und Sonnenenergie, macht in Zu-
kunft die Versorgungssicherheit zu einer noch größe-
ren Herausforderung. Deshalb ist es richtig, dass wir
Vorsorge treffen. Zwar ist die Versorgungsqualität der
Stromversorgung laut dem Monitoringbericht 2012
der Bundesnetzagentur weiterhin auf relativ hohem
Niveau. Jedoch hat der Bericht auch gezeigt, dass die
Netzstabilität zunehmend unter Druck gerät.
Wir müssen also Vorsorge treffen, insbesondere
auch für die Industrie. Denn für unseren Industrie-
standort Deutschland ist die hohe Stromversorgungs-
qualität ein entscheidender Standortvorteil. Wir sind
in Europa bei der Versorgungssicherheit Spitzenreiter
und wollen das auch bleiben. Ein Blackout würde nicht
nur unmittelbar Kosten im mehrstelligen Milliarden-
bereich auslösen, sondern auch die Attraktivität des
Industriestandorts gefährden. Dies gilt es zu vermei-
den! Das hat für die CDU/CSU-Fraktion oberste Prio-
rität.
Aus diesem Grund haben wir neben einer Reihe von
Maßnahmen, wie zum Beispiel dem Netzausbau-
beschleunigungsgesetz oder der Netzreserve ein weite-
res Instrument zur Sicherung der Versorgungsqualität
auf den Weg gebracht: die Verordnung zu abschalt-
baren Lasten – ein bisher weitestgehend ungenutztes
Potenzial.
Sie setzt einen Rahmen für Großabnehmer, wie bei-
spielsweise Aluminium- und Zinkhütten, die kurzfristig
ihre Nachfrage drosseln, um Ungleichgewichte inner-
halb der Netze wieder auszugleichen. Dazu sollen die
Übertragungsnetzbetreiber über eine Internetplatt-
form 3 000 Megawatt Abschaltleistung monatlich
ausschreiben, davon jeweils 1 500 Megawatt für Ab-
schaltleistung innerhalb weniger Sekunden sowie
1 500 Megawatt für Abschaltleistung innerhalb von
15 Minuten. An den Ausschreibungen können sich
Verbrauchseinheiten beteiligen, die an das Hoch- und
Höchstspannungsnetz angeschlossen sind und einen
durchgehend hohen Verbrauch haben.
Die abschaltbaren Lasten werden dabei aus einer
Kombination von Leistungs- bzw. Bereitstellungspreis
und Arbeitspreis vergütet. Die vorgesehene Kompen-
sation ist angemessen, da es hier um Strommengen in
der Größenordnung mittelgroßer Städte geht, die von
den Unternehmen kurzfristig zur Verfügung gestellt
werden, um das Netz zu entlasten. Andere netzstabili-
sierende Maßnahmen wie Kapazitätsmechanismen
oder auch neue Netze sind weitaus teurere Optionen.
Auch wenn mit dem Instrument schon im Ausland
Erfahrungen gemacht wurden, ist es dennoch gut, dass
eine Überprüfung der Verordnung nach 27 Monaten
durch die Bundesnetzagentur vorgesehen ist und die
Verordnung zunächst für drei Jahre gilt. Dies ermög-
licht, dass wir nach drei Jahren den Mechanismus ge-
gebenenfalls optimieren können.
Auch kann ich mir vorstellen, dass diese oder ähnli-
che Demand-Response-Instrumente in ein neues
Marktdesign integriert werden können; denn zukünftig
müssen Angebot und Nachfrage noch enger aufeinan-
der abgestimmt werden. Deshalb ist es richtig, dass
wir schon heute mit der Einführung einer Verordnung
einen ersten Schritt in diese Richtung gehen.
Ich freue mich, dass wir mit der Verordnung auch
den Forderungen des Bundesrates, der SPD und sogar
der Grünen nachkommen. Wir haben uns deshalb auch
im Vorfeld mit der SPD und den Grünen an einen Tisch
gesetzt und mit ihnen über Details der Verordnung ver-
handelt.
Deshalb finde ich es unglaubwürdig, dass die Grü-
nen jetzt plötzlich dagegen stimmen. Wenn es konkret
wird, muss man auch einmal dafür geradestehen und
einer Sache zustimmen. Dieser Grundsatz ist mal wie-
der verletzt worden, was leider kein Einzelfall ist. So
kann man beispielsweise nicht mehr Energieeffizienz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26423
Thomas Bareiß
(C)
(B)
fordern, jedoch entscheidende Projekte, wie die steuer-
liche Förderung der Gebäudesanierung, im Bundesrat
blockieren. Das ist unglaubwürdig!
Mit großen Schritten sind wir unterwegs in das Zeit-
alter der erneuerbaren Energien. Dabei hat es für uns
höchste Priorität, dass Energie auch in Zukunft sicher
und bezahlbar bleibt. Versorgungssicherheit und Be-
zahlbarkeit wollen wir für alle Verbraucher – für un-
sere Bürger genauso wie für unsere Wirtschaft – ge-
währleisten. Das ist notwendig, wenn Deutschland
künftig ein attraktiver Lebens- und Wirtschaftsstandort
bleiben soll. Ich gehe stark davon aus, dass wir alle
das wollen – auch Sie von der SPD, den Grünen und
der Linkspartei.
Energieintensive Industrien. Wenn wir uns über die
Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit bei Energie
unterhalten, kommen wir an den energieintensiven
Industrien nicht vorbei. Diese Industrien sind für unse-
ren Wohlstand unverzichtbar. Sie tragen ganz erheb-
lich zu unserer jährlichen Wirtschaftsleistung und Be-
schäftigung bei. Insbesondere im Grundstoffbereich
wie Aluminium und Stahl sind sie für viele Wertschöp-
fungsketten unerlässlich. Wichtig ist deshalb, dass die
energieintensiven Industrien ihre Wettbewerbsfähig-
keit erhalten können.
Wenn man sich in Europa umsieht, so stellt man
aber fest, dass Deutschland bei der Höhe des Strom-
preises deutlich über dem Durchschnitt aller 27 EU-
Staaten liegt. Das ist für unsere energieintensiven In-
dustrien fatal. Sie erleiden einen Wettbewerbsnachteil,
der im Wesentlichen staatlich begründet ist und für den
sie somit nichts können. Es ist wichtig, dass wir die
energieintensiven Industrien unterstützen, damit sie
auch in Zukunft eine tragende Säule unserer Wert-
schöpfung bleiben. Jetzt müssen Sie von der SPD und
den Grünen nicht wieder aufschreien. Schließlich wa-
ren Sie es, die bestimmte Ausnahmen eingeführt
haben – ich darf an diejenigen bei der EEG-Umlage
erinnern.
Energieintensive Industrien leisten aber nicht nur
einen wichtigen Beitrag zu Wachstum und Beschäfti-
gung, sondern auch zu Netzstabilität und Versorgungs-
sicherheit. Das gilt vor allem dann, wenn sie ihre
Lasten zur Abschaltung bereitstellen und den Übertra-
gungsnetzbetreibern so die Möglichkeit geben, bei
Netzengpässen flexibel zu reagieren. Die Abschaltbar-
keit von Lasten stellt einen energiewirtschaftlichen
Wert dar. Deshalb muss dieser Wert adäquat vergütet
werden.
Mit der vorliegenden Abschaltverordnung schlagen
wir zwei, wenn nicht sogar drei Fliegen mit einer
Klappe. Erstens leisten wir einen Beitrag zur Ver-
sorgungssicherheit. Zweitens unterstützen wir die
energieintensiven Industrien durch die finanzielle Ho-
norierung der Abschaltbarkeit dabei, ihre Wettbe-
werbsfähigkeit erhalten zu können. Drittens belasten
die Regelungen die Verbraucher nur minimal mehr.
Die maximale Belastung würde bei circa 4 Euro pro
Jahr liegen, erwartet wird aber eine tatsächliche Be-
lastung von 1 bis 2 Euro. Ich denke, dieses Ergebnis
gibt Anlass zur Zufriedenheit.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der
mir in der laufenden Diskussion besonders aufgefallen
ist. Es ist doch interessant, dass jetzt diejenigen, die
sonst immer gegen staatliche, feste Vergütungen wie
zum Beispiel die EEG-Einspeisevergütung sind, plötz-
lich keinen Laut mehr von sich geben.
Keine Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, ausnahmsweise meine ich einmal
nicht Sie! Diejenigen, die ich meine, werden sich schon
angesprochen fühlen.
Das zeigt uns einmal mehr: Ob eine Regelung für
gut oder schlecht befunden wird, hängt offenbar
entscheidend davon ab, wer die Hand aufhalten und
Geld einstreichen darf.
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien
so schnell wie möglich erreichen. Wir wollen die
Sicherheit und Bezahlbarkeit der Energieversorgung
auch in Zukunft sicherstellen. Wir wollen, dass
Deutschland ein guter Standort auch für die energie-
intensiven Industrien bleibt. Wir sind die Koalition, die
all das erreichen kann. Mit der vorliegenden Verord-
nung leisten wir einen weiteren Beitrag dazu. Mit un-
serer Energiepolitik sind wir auf dem richtigen Weg.
Lassen Sie uns den Weg in das Zeitalter der regenera-
tiven Energie konsequent weitergehen!
Mit der vorliegenden Abschaltverordnung beraten
wir ein wichtiges Instrument für eine erfolgreiche Um-
setzung der Energiewende: Die Schaffung von Flexibi-
litäten auf der Nachfrageseite. Die mit dem starken
Ausbau erneuerbarer Energien zunehmende volatile
Einspeisung von Strom aus Wind und Sonne und die
gleichzeitige Reduktion der gesicherten Einspeisung
von konventionellen Strommengen sind eine große He-
rausforderung für die Aufrechterhaltung der System-
stabilität und der Versorgungssicherheit.
Diese Herausforderungen können wir nur in einem
Energiesystem bewältigen, in dem Angebot und Nach-
frage besser aufeinander abgestimmt werden. Hierbei
spielen die zu- und abschaltbaren industriellen Lasten
eine zentrale Rolle. Denn die Nutzung solcher Lasten
ermöglicht es den Übertragungsnetzbetreibern, kurz-
fristig auftretende Schwankungen von Strommengen
im Netz auszugleichen und somit die Stromversorgung
sicherzustellen.
Dabei kommt es uns darauf an, dass sich nicht nur
Unternehmen mit einem besonders großen Stromver-
brauch am Lastmanagement beteiligen, sondern im
Rahmen des sogenannten Poolings auch mehrere
kleine Unternehmen einbezogen werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
26424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Rolf Hempelmann
(C)
(B)
Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Bedeutung des
Lastmanagements seit langem erkannt und auch hier
im Bundestag mehrfach an die Bundesregierung ap-
pelliert, entsprechende Rahmenbedingungen für die
Bewirtschaftung der industriellen Lasten zu schaffen.
Hierbei haben wir stets gefordert, den Wert der Bereit-
stellung der Lasten durch die Unternehmen mit einer
angemessenen Vergütung anzuerkennen. Denn spätes-
tens seit die Bundesregierung sich in Reaktion auf die
Ereignisse in Fukushima an die Seite des rot-grünen
Atomausstiegs gestellt hat, ist erkennbar, dass die zü-
gige Nutzbarmachung der Flexibilitäten auf der Nach-
frageseite eine wichtige Säule der Energiewende ist.
Bereits im Frühjahr hat das Bundeswirtschafts-
ministerium einen ersten Versuch unternommen, eine
Abschaltverordnung auf den Weg zu bringen. Leider
war dieser Entwurf ungeeignet, das im Grundsatz
richtig erkannte Ziel, nämlich die industriellen Lasten
zur Sicherung der Versorgungssicherheit heranzuzie-
hen, auch zu erreichen. Diesem Fehlversuch folgte ein
monatelanges Gezerre zwischen Wirtschafts- und Um-
weltministerium, wodurch wertvolle Zeit verschenkt
wurde. Aber das Verschenken von wertvoller Zeit hat
bei Union und FDP ja schon eine lange Tradition.
Denn Ihr Unterlaufen des Atomkonsenses aus dem
Jahr 2000 und die ohne Zeitnot hektische und ohne
ausreichende parlamentarische Beteiligung verab-
schiedeten zentralen Änderung des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes und des Energiewirtschaftsgesetzes im
letzten Sommer haben dazu geführt, dass die schwarz-
gelbe Energiepolitik sich zu einem reinen Reparatur-
betrieb entwickelt hat.
Nach langem Hin und Her haben die Bundesregie-
rung und die Koalitionsfraktionen jetzt eine Abschalt-
verordnung vorgelegt, die aus unserer Sicht im Ver-
gleich zum ersten Entwurf wesentliche Verbesserungen
enthält. Besonders wichtig ist hierbei, dass die Verord-
nung ein ausgewogenes Verhältnis für eine Vergütung
der Bereitstellung der Lasten – einen Leistungspreis
und der tatsächlichen Abschaltung – den sogenannten
Arbeitspreis vorsieht. Ein Leistungspreis ist deshalb
notwendig, da allein die Bereitstellung der Lasten für
die betroffenen Unternehmen mit Investitionen in ihre
betriebliche Infrastruktur verbunden ist. Wenn die Las-
ten dann tatsächlich abgeschaltet werden, entstehen
durch die Störungen im Produktionsprozess zusätzli-
che Kosten, die einen Arbeitspreis nötig machen. All
dies ist auch volkswirtschaftlich begründbar, da die
Abdeckung der Jahreshöchstlast allein durch konven-
tionelle Kraftwerke nicht sinnvoll und vor dem Hinter-
grund der aktuellen Entwicklungen auf dem Strom-
markt, die eine Wirtschaftlichkeit vieler Kraftwerke
infrage stellen, höchst unsicher ist.
Die Befristung der Regelungen auf drei Jahre unter-
stützen wir ebenfalls. Aus Sicht der SPD-Fraktion ist
ein detailliertes Monitoring der Wirkungen der
Abschaltverordnung unerlässlich. Die hieraus gewon-
nenen Erfahrungen müssen Grundlage für eine Wei-
terentwicklung der Rahmenbedingungen für die
Bewirtschaftung zu- und abschaltbarer industrieller
Lasten sein.
Gern hätten wir die Ausgestaltung der Verordnung
und auch die Grundlage im Energiewirtschaftsgesetz
mit mehr Ruhe und Gründlichkeit im Parlament, aber
auch mit den betroffenen Akteuren beraten; auch eine
Anhörung von Experten wäre aus unserer Sicht sinn-
voll gewesen. Doch da die Bundesregierung – wieder
einmal – aufgrund unterlassenen Handelns unnötigen
Zeitdruck erzeugt hat, werden wir uns heute einer Ver-
abschiedung nicht entgegenstellen. Darüber hinaus
sorgt die Tatsache, dass die Regierung sowie die Frak-
tionen von Union und FDP sich nach langer Zeit die
vernünftigen Argumente der SPD-Fraktion zu eigen
gemacht haben, dafür, dass die vorliegende Fassung
der Verordnung aus unserer Sicht zustimmungsfähig
ist.
Doch industrielle Lasten sind nur ein Teil der Nach-
frageseite. Schon die Große Koalition hat die gesetzli-
chen Grundlagen zur Einführung intelligenter Zähler
sowie last- und zeitvariabler Tarife für private Haus-
halte verabschiedet. Leider hat die schwarz-gelbe
Bundesregierung bisher keine weiteren notwendigen
Schritte zur konkreten Umsetzung dieser Möglichkei-
ten unternommen. Deshalb appelliere ich hier zum
wiederholten Mal an die Bundesregierung, endlich die
notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um
auch den privaten Haushalten die Möglichkeiten zur
Flexibilisierung ihrer Stromnachfrage zu geben. Hier-
durch lassen sich aus unserer Sicht zwei positive
Effekte erzielen: Zum einen können die Menschen
durch die Nutzung eines Angebots variabler Tarife ba-
res Geld sparen. Und wenn man den Bürgerinnen und
Bürgern die Zusammenhänge und Hintergründe dieser
Flexibilisierungsnotwendigkeiten verständlich erklärt,
begreifen sie sich selbst und ihren Umgang mit Ener-
gie als Teil der Energiewende. Somit kann aus einer
energiewirtschaftlichen Notwendigkeit gleichzeitig ein
wichtiger Beitrag zur Steigerung der Akzeptanz der
Energiewende bei den Menschen werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich auch künftig
sinnvollen Instrumenten zur Umsetzung der Energie-
wende nicht verschließen. Wir erwarten von dieser
Bundesregierung aber eine andere Diskussionskultur,
eine Diskussionskultur, die Raum lässt für Argumente
der verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Akteure. Denn die Energiewende ist
ein gesamtgesellschaftliches Mammutprojekt, das nur
unter Einbeziehung aller erfolgreich umgesetzt werden
kann.
Es ist schon eine ganze Zeit her, dass es in der Ener-
giepolitik eine Debatte gab, die selbst große Teile der
Opposition unkritisch sehen. In diesem Geiste beraten
wir heute über die Verordnung zu abschaltbaren Las-
ten.
Schon seit einiger Zeit wollen wir Unternehmen mit
diesem Instrument die Möglichkeit geben, ihren Bei-
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26425
Klaus Breil
(C)
(B)
trag zur Stabilität unseres Stromnetzes zu leisten, und
die Wissenschaft bestätigt uns diesen Schritt: Sie hält
eine solche Verordnung für ein probates Mittel zur
Steigerung der Netzstabilität. Wir schaffen mit dieser
Verordnung in einem ersten Schritt ein Demand-Side-
Management-System, das zunächst noch auf eine be-
stimmte Kapazität begrenzt ist.
Das heißt: Mit diesen Rahmenbedingungen für ei-
nen Markt für die Drosselung oder Abschaltung von
Produktionsprozessen in Zeiten hoher Stromnachfrage
heben wir sogenannte Lastmanagementpotenziale bei
Großstromverbrauchern.
Damit wollen wir über die kommenden drei Jahre
hinweg einen Überblick über das praktische Markt-
und Systemsicherheitspotenzial dieses Instrumenta-
riums bekommen.
Dabei sehen wir das nur als einen ersten Schritt an.
Denn es muss uns klar sein: Diese Verordnung ist ein
Übergangsinstrument, und sie ist auch nicht beliebig
ausweitbar.
Gemäß der Verordnungsermächtigung, die wir ver-
gangene Woche mit dem EnWG auf den Weg gebracht
haben, liegt die Obergrenze für die Verordnung bei
3 500 Megawatt. Mit 3 000 Megawatt starten wir jetzt
mal das Projekt. Langfristig wollen wir diese System-
dienstleistung ohnehin in ein marktwirtschaftliches
System überführen.
Eines Tages – wenn unsere Netze alle smart sind –
können von den hier zu sammelnden Erfahrungen hof-
fentlich auch kleinere Anbieter profitieren.
Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg zu gehen:
Zum Beispiel kann ich mir auch einen Markt für meh-
rere in einem Verbund zusammengeschlossene kleinere
Anlagen vorstellen. Damit würde die Basis der Teil-
nehmer an einem solchen Markt noch erweitert. Die
Grundlagen dafür haben wir auch in der jetzigen Ver-
sion schon gelegt. Jetzt ist es an den Unternehmen, zu
zeigen, was sie daraus machen können.
Seit mehreren Wochen herrscht bei der Bevölkerung
große Aufregung wegen steigender Strompreise. Die
Linke betont bereits seit dem Frühjahr, dass wir eine
eklatante unsoziale Verteilung bei den Strompreisen
haben. Die energieintensiven Industrien genießen Aus-
nahmen und Subventionen bei den Strompreisen in
Höhe von 9 Milliarden Euro. Ein Drittel davon tragen
die Verbraucherinnen und Verbraucher direkt mit über
höhere EEG-Umlagen und höhere Netzentgelte, der
Rest fehlt durch Steuerausfälle im Staatshaushalt. Als
wir im Frühjahr dieses Jahres auf diesen Umstand auf-
merksam gemacht haben und forderten, die Ausnah-
metatbestände auf ein moderates Maß zurückzufahren,
um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu entlas-
ten, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen
zu gefährden, entbrannte ein Sturm der Entrüstung
aufseiten der Koalition. Mitte Oktober war es dann so
weit: Im Angesicht der öffentlichen Diskussion über
die zu hohen Strompreise und der Hunderttausenden
Stromsperren bei zahlungsunfähigen Haushalten jedes
Jahr haben außer der FDP Vertreter aller Fraktionen,
ja selbst die Bundeskanzlerin Angela Merkel, immer-
hin angekündigt, die Ausnahmetatbestände der Indus-
trie überprüfen zu wollen.
Nun haben wir eine Verordnung über abschaltbare
Lasten vorliegen, die wiederum nichts anderes ist als
ein Subventionsgeschenk an die Industrie. Das ist an
Ironie kaum zu überbieten. Wenn die Bundesregierung
in das Lastmanagement der Stromnetze eingreifen will,
dann soll sie es auch sozial vernünftig machen.
Es ist unstrittig, dass das gezielte Eingreifen durch
Übertragungsnetzbetreiber nicht nur in die Stromer-
zeugungsmenge, sondern auch in die Stromver-
brauchsmenge im Interesse der Versorgungssicherheit
und des Lastmanagements sinnvoll ist. Der Geist die-
ser Verordnung richtet sich allein auf die Situation,
dass zu wenig Stromerzeugungsanlagen am Netz sind.
Abschaltbare Lasten sind nach dieser Verordnung
einzig produzierende Betriebe mit einer gewissen
Energieintensität, die sich aufgrund dieser Verordnung
vom Regelenergiemarkt verabschieden dürfen. Kleine
Unternehmen des Handwerks und Gewerbes werden
aber von vornherein von diesem „Abschaltmarkt“, der
somit ein Exklusivmarkt wird, ausgenommen. Es ist
auch deswegen ein Exklusivmarkt, weil die Höhe der
Entschädigungen nach dem Auktionsprinzip ermittelt
wird. Da kann und wird es passieren, dass die Vergü-
tung der Abschaltleistung höher wird als der Preis,
den eine vergleichbare Leistung des Unternehmens
ihm am Regelenergiemarkt gebracht hätte. Die Konse-
quenz ist, dass Unternehmen, die sich bislang am Re-
gelenergiemarkt beteiligt haben, sich bequem aus die-
sem zurückziehen können und zukünftig einfach auf die
höhere staatlich verordnete Vergütung zurückgreifen.
Was hier also verordnet werden soll, führt zu Mitnah-
meeffekten einzig und allein bei der energieintensiven
Industrie. Aber es geht noch weiter. Diejenigen Unter-
nehmen, die am Abschaltmarkt beteiligt werden, sollen
pauschal – nur für ihre Bereitschaft zum Abschalten –
den Leistungspreis für die Abschaltleistung erhalten,
auch wenn gar keine Abschaltung vorgenommen
wurde.
Diese ganzen Kosten, zuzüglich entstandener Be-
triebsausfälle, legen die Übertragungsnetzbetreiber
dann auf die Netzentgelte, also auf die Verbraucherin-
nen und Verbraucher um. Zwar soll die Umlage maxi-
mal mit rund 0,1 Cent pro Kilowattstunde bei Privat-
haushalten zu Buche schlagen. In Zeiten
explodierender Strompreise und der offenen Debatte
über eine Übersubventionierung der Industrie bei den
Energiepreisen ist das aber gelinde gesagt eine Frech-
heit.
Um die Absurdität des Ganzen zu verdeutlichen,
hilft das Gedankenspiel, diesen Mechanismus mal auf
den Kopf zu stellen: Denn nach dem gleichen Verord-
nungsprinzip müsste ein Privathaushalt seine komplet-
Zu Protokoll gegebene Reden
26426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Dorothée Menzner
(C)
(B)
ten Netzentgelte und gegebenenfalls den eingesparten
Stromlieferpreis plus Auktionszulagen samt Mehrwert-
steuer von der Industrie zurückbezahlt bekommen,
wenn er nur bereit ist, bei Netzengpässen einen
Lastabwurf, sprich Stromausfall, zu akzeptieren, damit
dafür irgendwo ein Betrieb seine Leistung nicht redu-
zieren müsste.
Die Verordnung krankt aber noch an anderer Stelle.
Die Regelzonen, über die die Netzbertreiber die Auk-
tionen für Abschaltlasten ausschreiben sollen, sind
völlig unterschiedlich. Die Regelzone des Netzbetrei-
bers 50 Hertz beispielsweise, die vorwiegend in den
östlichen Bundesländern liegt, hat von solch einer Re-
gelung kaum Nutzen. Denn hier kommt es durch den
richtungsweisend starken Ausbau der erneuerbaren
Energien bei einer Überversorgung mit Braunkohle-
strom eher zu Überkapazitäten. Zur Netzstabilisierung
müssten also theoretisch eher Stromverbraucher zu-
als abgeschaltet werden. Deswegen kommt es in dieser
Regelzone ständig zu kostenaufwendigen sogenannten
Redispatch-Maßnahmen, um überschüssigen Strom
umzuleiten. Außerdem kommt es gerade auch in dieser
Regelzone im Osten des Landes vermehrt zu Leitungs-
ausbau für den Anschluss Erneuerbare-Energie-Anla-
gen, deren Kosten nur regional auf die Verbraucherin-
nen und Verbraucher innerhalb der Regelzone
abgewälzt werden, obwohl der erneuerbare Strom dem
gesamtdeutschen Strommix zugutekommt. Deshalb
sind Netzentgelte im Osten Deutschlands bis zu
50 Prozent höher als andernorts, was per se ungerecht
ist. Die Kosten der abschaltbaren Lasten, also Netz-
kosten, die eher im westlichen Bundesgebiet entstehen,
sollen aber bundesweit gleichmäßig umgelegt werden.
Das bedeutet für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher im Osten: Sie zahlen doppelt. Nochmal: Lastma-
nagement wegen Überkapazität im Osten, die in den
Westen umgeleitet wird und zum erneuerbaren Strom-
mix beiträgt, zahlen nur die Verbraucherinnen und
Verbraucher im Osten. Lastmanagement wegen Un-
terkapazität im Westen zahlen alle. Dieser eklatanten
Ungleichbehandlung muss zuerst mit einheitlichen
Netzentgelten und der Überwindung der regionalisier-
ten Regelzonen und Übertragungsnetze begegnet wer-
den.
Unser Fazit ist, dass ein Eingriff in den Regelener-
giemarkt, den diese Verordnung darstellt, nur in Rich-
tung sozialerer Strompreise und gerechterer Kosten-
verteilung bei Verbesserung der Versorgungssicherheit
gehen kann. Die Verordnung bewirkt genau das Ge-
genteil und wird daher von uns abgelehnt.
Wir beraten heute über die Verordnung der Bundes-
regierung über Vereinbarungen zu abschaltbaren Leis-
tungen und den von den Regierungsfraktionen einge-
brachten Änderungsantrag. Es ist zweifelsfrei klar: Bei
der Energiewende spielen große Stromverbraucher in
der Industrie eine entscheidende Rolle. Deshalb gibt
es schon seit langem die Überlegung, energieintensive
Unternehmen gegen eine angemessene Entschädigung
am Lastmanagement zu beteiligen. Durch die minuten-
oder stundenweise Abschaltung von großen Strom-
verbrauchern bei Industrie und Gewerbe kann das
Stromnetz gerade in Zeiten der Höchstlast im Winter
und bei schwierigen Situationen stabil gehalten
werden. Doch bisher gab es für Unternehmen keine
wirklichen finanziellen Anreize, ihre Kapazitäten für
netzstabilisierende Maßnahmen zur Verfügung zu stel-
len. Dabei ist Lastmanagement eine Win-win-Situation
für die Unternehmen und die Netzstabilität.
Doch das Thema scheint für Schwarz-Gelb sehr
schwierig zu sein: Seit drei Jahren doktert die Bundes-
regierung an einer sogenannten Lastabschaltverord-
nung und brauchte mehrere Referentenentwürfe, die
aufgrund der Uneinigkeit in der Regierung nach und
nach wieder eingestampft wurden. Einmal war sich die
Bundesregierung nicht über die Vergütungshöhe für
abschaltbare Lasten einig, ein anderes Mal wurde
über den Sinn und Unsinn von Arbeits- und Leistungs-
preis gestritten.
Drei Jahre wurde innerhalb der Bundesregierung
gestritten. Nun soll die Lastabschaltverordnung in
Windeseile durch das Parlament gepeitscht werden,
obwohl sie für diesen Winter viel zu spät kommt. Denn
klar ist: Auch wenn die Verordnung am 1. Janunar
2013 in Kraft treten kann, braucht es wahrscheinlich
Monate, bis das Lastmanagement organisatorisch von
den Netzbetreibern und den Unternehmen umgesetzt
ist.
Ohne Sachverständigenanhörung wird heute ent-
schieden, obwohl aus der Fachwelt, von Wissenschaft-
lern, Verbänden und Unternehmen deutliche Kritik
kommt. Es werden Fragen aufgeworfen, und es wird
auf Probleme hingewiesen, auf die die Bundesregie-
rung und Koalition keine Antwort haben. So sind uns
Union und FDP bis heute die Antwort schuldig geblie-
ben, anhand welcher Kriterien der Leistungspreis
– also für die mögliche Bereitstellung von abschaltba-
ren Lasten – in Höhe von 2 500 Euro im Monat bzw.
30 000 Euro im Jahr pro Megawatt zustande kommt
und auf welcher konkreten Grundlage er errechnet
wird. Ebenso ist es beim Arbeitspreis, also der Vergü-
tung, die die Unternehmen pro Megawatt bei Abschal-
tung ihrer Leistung durch den Übertragungsnetzbe-
treiber erhalten. Hier ist bisher eine Spannbreite von
200 bis 400 Euro pro Megawatt vorgesehen. Die Zah-
len scheinen völlig wahllos gegriffen zu sein und eher
das Ergebnis eines koalitionsinternen Verhandlungs-
prozesses anstelle einer sachlichen Notwendigkeit.
Einzig und allein klar ist, dass durch die Lastab-
schalt-Verordnung die Stromverbraucher mit einer
neuen Umlage mit – so die Darstellung der
Bundesregierung – über 320 Millionen Euro jährlich
zusätzlich belastet werden. Überhaupt nicht klar
– aber wie im Ausschuss schon angedeutet – ist, ob die
über 320 Millionen Euro im Jahr als Umlage über-
haupt ausreichen werden. Hier haben wir erhebliche
Zweifel.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26427
Oliver Krischer
(C)
(B)
Zudem: Die Rahmenbedingungen, um an der Last-
abschalt-Verordnung teilzunehmen, sind so zuge-
schnitten, dass nur wenige Unternehmen aus der
Großindustrie, vor allem Metallhütten, sie erfüllen
können. Es besteht damit die Gefahr, dass hier einzelne
Unternehmen einen klaren Wettbewerbsvorteil gegen-
über kleineren Betrieben, die ebenfalls energieintensiv
produzieren und Lasten anbieten könnten, bekommen.
Außerdem gibt es die aus unserer Sicht nicht ausge-
räumte Kritik, dass die Lastabschalt-Verordnung die
Regelenergiemärkte verzerrt und Anbieter von Regel-
energie aus dem Markt gedrängt werden. Solche
Wettbewerbsverzerrungen können nicht in unser aller
Interesse sein! Leider haben Sie nicht die Chance er-
griffen, über solche Fragen in eine Sachverständigen-
anhörung mit Fachleuten zu diskutieren. So verwun-
dert es nicht, dass der Vorwurf geäußert wird, es gehe
bei der Lastabschalt-Verordnung weniger um Lastma-
nagement und Stromnetzstabilität als vielmehr darum,
einigen Metallhütten finanziell was Gutes zu tun.
Ich will das nicht unterstellen, aber die Verordnung
ist bürokratisch, und vor allem ist sie das Gegenteil
von Marktwirtschaft. Warum werden die Preise für die
Bereitstellung von Lasten nicht marktwirtschaftlich
über eine Ausschreibung ermittelt, sondern per Ver-
ordnung festgelegt? Diejenigen Unternehmen, die den
geringsten Preis bieten, erhalten den Zuschlag. Das ist
viel effizienter und wäre für die Verbraucherinnen und
Verbraucher, die ja alles über eine Umlage zahlen
müssen, mit Sicherheit billiger. Schließlich werden
über die Umlage von über 320 Millionen Euro jährlich
vor allem wieder die privaten Stromverbraucher belas-
tet, während die Industrie in Form von Prämienzah-
lungen und Netzstabilität profitiert.
Wir bedauern, dass Sie heute mit der Lastabschalt-
Verordnung keinen marktwirtschaftlichen, sondern
wieder einen planwirtschaftlichen Ansatz wählen und
damit die Chance für den Einstieg in einen umfassen-
den Markt für Lastmanagement in Deutschland ver-
passen. Da ist es auch nur ein kleiner Trost, dass Sie
die Verordnung bis 2015 befristet haben. Nach dreijäh-
riger interner Diskussion in der Bundesregierung wäre
eigentlich mehr als genug Zeit gewesen, einen solchen
Ansatz zu entwickeln. Aber dazu scheinen Sie nicht
mehr die Kraft zu haben und wahrscheinlich auch nie-
mals gehabt zu haben. So bleibt es leider wieder bei
Stückwerk und Flickschusterei, statt dass Sie mit ganz-
heitlichem Ansatz die Energiewende vorantreiben.
Deshalb können wir dieser Verordnung nicht zustim-
men.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11886, der Ver-
ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/11671
in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung von CDU/CSU, FDP und SPD;
Bündnis 90/Die Grünen und Linke waren dagegen.
Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zum Eu-
ropäischen Hilfsfonds für die am stärksten von
Armut betroffenen Personen
KOM(2012) 617 endg.; Ratsdok. 15865/12
hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2
– Drucksachen 17/11617 Nr. A.9, 17/11882 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß
Die Reden wurden zu Protokoll genommen. – Damit
sind Sie einverstanden.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ar-
beit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11882, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum
Vertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Integra-
tionsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es handelt
sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen; SPD und
Linke waren dagegen; Bündnis 90/Die Grünen haben
sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 37:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zwei-
ten Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen
Stellung von Urhebern und ausübenden
Künstlern
– Drucksache 17/11040 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Seit einigen Jahren steht das Urheberrecht nun be-
reits im Zentrum der politischen Diskussion. Während
es lange Zeit eine Spezialmaterie für einige wenige
Kenner war und die beteiligten Akteure ihre Regelun-
gen untereinander getroffen haben, haben die fort-
1) Anlage 18
26428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Ansgar Heveling
(C)
(B)
schreitende Digitalisierung und das Internet als neues
Medium dazu geführt, dass immer mehr Menschen in
Berührung mit urheberrechtsrelevanten Sachverhalten
kommen. Im Fokus der Diskussion steht dabei vor al-
lem das Verhältnis zwischen Werknutzern auf der einen
und Urhebern, Verwertern und Rechteinhabern auf der
anderen Seite. Hier wird heftig gerungen, und es geht
oftmals um die Frage der Durchsetzung der berechtig-
ten Ansprüche der Rechteinhaber gegenüber Werknut-
zern und darum, welche Nutzungen frei sein sollen –
ein weites Feld.
Ein wenig im Windschatten dieser Diskussion be-
wegt sich das Urhebervertragsrecht, das durch das
Gesetz zur Stärkung der vertraglichen Stellung von
Urhebern und ausübenden Künstlern vor zehn Jahren
zuletzt reformiert wurde.
Dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke kommen
sicherlich wenig Verdienste zu. Ein Verdienst ist aller-
dings, dass aufgezeigt wird, dass es jenseits des Ver-
hältnisses zwischen Werknutzern und Rechteinhabern
auch noch weitere Vertragsverhältnisse gibt, die einen
urheberrechtlichen Inhalt haben. Natürlich geht es
auch bei diesen Verhältnissen um die ökonomische
Nutzung geistiger Leistungen. Auch hier gibt es ohne
Frage viele streitbehaftete und diskussions- sowie klä-
rungswürdige Punkte.
Ziel muss es hierbei wie im gesamten Urheberrecht
sein, dass gesetzliche Regelungen darauf ausgerichtet
sind, die Interessen der unterschiedlichen Beteiligten
unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Gebote
des Art. 14 GG sorgsam gegeneinander abzuwägen
und zu gewichten. So selektiv, wie dies durch den Ge-
setzentwurf der Fraktion Die Linke geschieht, ist es in-
dessen sicher nicht zielführend. Eine Abwägung der
genannten Interessen ist hier nicht vorgesehen. Die
Politik soll nach den Vorstellungen der Fraktion Die
Linke ihrer Aufgabe, für ausgewogene rechtliche
Grundlagen für die Interessenverhandlungen zuguns-
ten der öffentlichen Nutzung und Zugänglichmachung
von Kulturgut und geistigen Leistungen zu sorgen, of-
fensichtlich nicht mehr nachkommen.
Außerdem hat es in den letzten Jahren mannigfal-
tige Rechtsprechung zu urhebervertragsrechtlichen
Fragen gegeben, die erkennbar im Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke keinen Niederschlag gefunden hat.
Immerhin wird ein Mal eine konkrete Entscheidung des
Bundesgerichtshofs zitiert.
Wenn man das Urhebervertragsrecht – und ich will
nicht in Abrede stellen, dass dies auch angezeigt ist –
genauer beleuchten möchte, so ist es dringend erfor-
derlich, dass man sehr genau die Situation in den un-
terschiedlichen Bereichen analysiert. Das hat der Ge-
setzentwurf der Fraktion Die Linke erkennbar zu
wenig getan. Wir werden ihn daher ablehnen. Das
heißt indessen nicht, dass das Thema Urheberver-
tragsrecht nicht auf die Tagesordnung gehört. Aller-
dings ist bei alledem eines zu beachten: Ohne eine
wirksame Durchsetzung des Urheberrechts nutzt das
beste Urhebervertragsrecht nichts. Denn ohne Inhalt
bleibt der Bildschirm bekanntlich leer. Und wenn den
Content niemand mehr bezahlen möchte oder einfach
nicht bezahlt, dann sind Verträge für die Urheber und
ausübenden Künstler das Papier nicht wert, auf dem
sie geschrieben sind.
Meine Fraktion begrüßt außerordentlich, dass sich
der Deutsche Bundestag mit dem Urhebervertrags-
recht befasst. Auf die anstehenden Beratungen in den
Ausschüssen bin ich sehr gespannt. Warum? Weil das
Urhebervertragsrecht eines der zentralen Instrumente
im Urheberrecht ist, um den Urhebern eine angemes-
sene Vergütung zu ermöglichen, und weil das Urheber-
vertragsrecht aus Sicht der SPD eine wichtige Stell-
schraube ist, um die in vielen Zusammenhängen
– sicherlich auch von Abgeordneten der Koalition –
immer wieder festgestellte prekäre Situation vieler
Kultur- und Kreativschaffender gezielt zu verbessern.
In unserem Antrag „Die soziale und wirtschaftliche
Lage der Kultur- und Kreativschaffenden verbessern“,
der ebenfalls heute eingebracht wird, beschreiben wir,
wie notwendig es ist, dass Kultur- und Kreativschaf-
fende über ein faires Einkommen verfügen, auch damit
sie sich hinreichend gegen soziale Risiken wie Krank-
heit, Alter, Pflege, aber auch Arbeitslosigkeit absi-
chern können. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger
Zusammenhang. Im Vordergrund muss stehen, dass
Kultur- und Kreativschaffende von ihrer Arbeit leben
können; erst im zweiten Schritt geht es darum, sie hin-
reichend sozial abzusichern. Dabei ist das Urheber-
vertragsrecht ein zentrales Element, weswegen wir in
unserem Antrag die Bundesregierung auffordern,
Vorschläge für Anpassungen des Urheberrechts und
des Urhebervertragsrechts vorzulegen mit dem Ziel,
eine angemessene Vergütung für die Verwertung künst-
lerischer und kreativer Arbeit zu ermöglichen. Auch in
unserem Antrag „Freiheit und Unabhängigkeit der
Medien sichern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken“, Bundes-
tagsdrucksache 17/10787, weisen wir darauf hin, dass
das Urhebervertragsrecht wirksamer ausgestaltet
werden muss.
Die sozialdemokratische Justizministerin Herta
Däubler-Gmelin war es, die mit der Reform des Urhe-
berrechts 2002 entschieden dafür eintrat, die Stellung
der Urheber und ausübenden Künstler insbesondere
gegenüber den sogenannten Verwertern zu verbessern.
Insbesondere die Frage der Honorierung, aber auch
andere Nutzungsbedingungen für Urheberrechte un-
terlagen bis dahin dem freien Spiel der wirtschaftli-
chen Kräfte. Dabei musste von einem strukturellen Un-
gleichgewicht in der Verhandlungssituation zwischen
beiden Seiten über die Vergütung der von den Urhe-
bern erbrachten Leistungen ausgegangen werden. Mit
dem Urhebervertragsrecht – verankert in § 31 ff. UrhG
– wurde erstmals ein Anspruch auf eine angemessene
Vergütung gesetzlich verankert. Das war ein großer
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26429
Siegmund Ehrmann
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(B)
Fortschritt. Bis dahin galt uneingeschränkt die Ver-
tragsfreiheit. Es gab keinerlei verbindliche gesetzliche
Regelungen für Verträge zwischen Urhebern und Ver-
wertern, und es gab aufgrund der weitverbreiteten
„Buy-Out“-Regelungen in vielen Verträgen keine
nachträgliche Beteiligung der Urheber am Erfolg ih-
rer Werke.
Gleichwohl wissen wir, dass das Gesetz insbeson-
dere aufgrund der massiven Proteste großer Verleger
nicht in der ursprünglich geplanten Form verabschie-
det wurde. Gleichwohl waren die erzielten Neurege-
lungen auch aus Sicht der Urheber – unter anderem
der Verband Deutscher Schriftsteller in Verdi, VS,
hatte sich jahrelang dafür eingesetzt – ein Erfolg. Nun
gab es einen gesetzlichen Anspruch jedes Urhebers
und ausübenden Künstlers auf angemessene Vergü-
tung, der auch gerichtlich durchgesetzt werden konnte.
Was als angemessen zu gelten hat, sollte zwischen den
Verbänden von Urhebern/ausübenden Künstlern und
den Verwerterverbänden bzw. einzelnen Verwertungs-
unternehmen verbindlich ausgehandelt werden kön-
nen. Kommt keine Einigung zustande, kann jede Seite
ein Schlichtungsverfahren einleiten, dem sich die
andere Seite nicht entziehen kann. Nun, mit dem Ab-
stand von knapp zehn Jahren des Geltens dieser Rege-
lungen, lässt sich feststellen, dass diese nicht zu den
gewünschten Ergebnissen geführt haben. Bislang
konnten in zwei Fällen gemeinsame Vergütungsregeln
nach § 36 UrhG geschlossen werden: im Bereich der
Belletristik zwischen dem Verband Deutscher Schrift-
steller in Verdi, VS, und einigen Belletristikverlagen
sowie für freie hauptberufliche Journalistinnen und
Journalisten an Tageszeitungen zwischen dem Deut-
schen Journalisten-Verband e. V. und Verdi mit dem
Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e. V.
Bereits die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ hat in ihrem Abschlussbericht 2005 dem
Deutschen Bundestag und der Bundesregierung emp-
fohlen, „erneut zu prüfen, mit welchen Regelungen
und Maßnahmen im Urhebervertragsrecht eine ange-
messene, an die wirtschaftlichen Verhältnisse ange-
passte Vergütung für alle Urheber und ausübenden
Künstler erreicht werden kann, da die bisherigen
Regelungen im Urhebervertragsgesetz unzureichend
sind“; Bundestagsdrucksache 16/7000. Die SPD hat
diesen Prüfbedarf in ihrer Kleinen Anfrage „Moder-
nes und zukunftsfähiges Urheberrecht – Stand Dritter
Korb Urheberrecht“ aufgegriffen, worauf die Bundes-
regierung antwortete, dass „nicht beabsichtigt [sei],
mit dem Dritten Korb der Urheberrechtsreform eine
erneute Überarbeitung des Urhebervertragsrechts
vorzuschlagen“, Bundestagsdrucksache 17/6678.
Abgesehen davon, dass ein Dritter Korb zur Reform
des Urheberrechts von dieser Bundesregierung ohne-
hin nicht mehr erwartet werden kann, besteht hier of-
fenkundig eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung.
Auf der einen Seite wird Handlungsbedarf gesehen,
der seitens der Koalition komplett verneint wird.
Darüber werden wir uns in den Ausschussberatungen
verständigen müssen. Die SPD jedenfalls sieht einen
massiven Handlungsbedarf und hat dazu in ihren
„12 Thesen für ein faires und zeitgemäßes Urheber-
recht“ unter anderem darauf hingewiesen, dass die im
Gesetz vorgesehenen Konfliktlösungsmechanismen
wirksamer gestaltet und um effektive Kontroll- und
Sanktionsinstrumente ergänzt werden müssen. Wir
werden unsere Vorschläge dazu weiter konkretisieren,
so wie es die Linke mit ihrem Gesetzentwurf getan hat.
Zunächst freut es mich zu hören, dass auch Die
Linke ihren Sinn für geistiges Eigentum entdeckt hat
und sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für eine
Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und
ausübenden Künstlern einsetzt.
Gleichwohl werde ich im Nachstehenden ausführen,
warum die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der
Linken ablehnen wird. Er ist zum Teil widersprüchlich
oder enthält Passagen, die mit einer liberalen Politik
nicht in Einklang zu bringen sind.
So schlägt Die Linke vor, § 31 UrhG einen neuen
Absatz 6 anzufügen. Darin soll dem Urheber, der ein
ausschließliches Nutzungsrecht für mehr als fünf Jahre
eingeräumt hat, unter bestimmten Voraussetzungen die
Möglichkeit gegeben werden, dieses Vertragsverhält-
nis zu kündigen. Die Linke will damit erreichen, dass
der Urheber durch Nachverhandlungen besser von
dem unerwarteten Erfolg seines Werkes profitieren
kann. Dieses Ziel ist durchaus nachvollziehbar. Aller-
dings kann ich den Weg, mit dem dies erreicht werden
soll, nicht nachvollziehen. Nach den Vorstellungen der
Linken soll nämlich der Urheber, der einen Vertrag,
mit dem ein ausschließliches Nutzungsrecht einge-
räumt wurde, wirksam gekündigt hat und sein Werk
anschließend erneut verwerten will, verpflichtet wer-
den, dem früheren Inhaber des Nutzungsrechts ein ent-
sprechendes Nutzungsrecht zu angemessenen Be-
dingungen anzubieten. Der Grund für diese Pflicht
erschließt sich mir nicht. Wenn man dem Urheber die
Möglichkeit einräumt, sich nach einer gewissen Zeit
von seinem Vertragspartner zu trennen, muss dies auch
gelten. An dieser Stelle muss dann ein Schnitt gemacht
werden. Will der Urheber sein Werk anschließend er-
neut verwerten, muss es ihm freistehen, mit wem und
unter welchen Bedingungen er einen entsprechenden
Vertrag eingehen will.
Die Linke will § 32 Abs. 1 Satz. 2 UrhG wie folgt
formulieren:
Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt oder ist
die vereinbarte Vergütung nicht angemessen, gilt die
angemessene Vergütung als vereinbart.
Auch diesem Vorschlag vermag ich nicht zu folgen.
Wenn eine Vergütung zwischen den Parteien vereinbart
wurde, kann sich grundsätzlich keine Partei über das
erzielte Ergebnis beklagen, denn es besteht in diesem
Bereich kein Kontrahierungszwang. Auch der Schutz
vor Übervorteilungen ist durch das bestehende Recht
Zu Protokoll gegebene Reden
26430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Stephan Thomae
(C)
(B)
bereits gegeben. Hier sei nur auf den § 138 BGB hin-
gewiesen.
Schließlich gebietet es der Vorschlag der Linken für
einen neuen Abs. 6 des § 36 UrhG, diesen Antrag abzu-
lehnen. Dort heißt es wie folgt:
Wird dem Einigungsvorschlag der Schlichtungs-
stelle nach Abs. 4 widersprochen, ist das Bundes-
ministerium der Justiz nach Ablauf von sechs
Monaten ermächtigt, auf dessen Grundlage ge-
meinsame Vergütungsregeln durch Rechtsverord-
nung festzulegen, sofern die Parteien zu keiner an-
deren Einigung gefunden haben.
Genau dies widerspricht aber liberaler Politik. Die
Bestimmung der angemessenen Vergütung muss Auf-
gabe der beteiligten Parteien sein und bleiben. Würde
man die vorgeschlagene Regelung installieren, würde
den Parteien jeglicher Anreiz genommen, selbst eine
Einigung herbeizuführen. Vielmehr könnten diese sich
auf die Haltung zurückziehen „Der Staat wird es schon
richten“. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Die Marktteilnehmer sind viel besser in der Lage zu
beurteilen, welcher Tarif angemessen ist. Der Staat
wäre dazu gar nicht in der Lage.
Aus den genannten Gründen lehnt die FDP-Bundes-
tagsfraktion den vorliegenden Antrag ab.
Wenn über das Urheberrecht gesprochen wird, geht
es häufig um einen Konflikt zwischen Urhebern und
Nutzern. Angeblich wollen Rezipientinnen und Rezi-
pienten für kreative Leistungen möglichst wenig zah-
len, und deshalb können Künstlerinnen und Künstler
von ihrer Arbeit nicht ordentlich leben.
Mit der prekären Lage der Kreativen wird dann die
Notwendigkeit begründet, das Schutzniveau im Urhe-
berrecht immer weiter hochzuschrauben. Ob eine Ver-
längerung der Schutzfristen oder eine Ausdehnung des
Schutzbereichs auf immer kleinere Werkteile – Ver-
schärfungen des Urheberrechts kamen in den letzten
Jahren stets im Namen der Kreativen daher. Ein höhe-
res Schutzniveau, so glaubte man, würde auch zu höhe-
ren Einnahmen der Kreativen führen.
Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Die
Umsätze der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft
sind kräftig gestiegen, nicht jedoch die Einkommen der
Urheberinnen und Urheber, der ausübenden Künstle-
rinnen und Künstler. Ein Großteil des Geldes, das mit
kreativer Arbeit verdient wird, kommt nicht bei den
Kreativen an.
Kreative profitieren nicht automatisch davon, wenn
der Urheberrechtsschutz verstärkt wird, sondern nur,
wenn ihre Vertragspartner, also die Medienunterneh-
men, ihre Einnahmen auch mit den Kreativen teilen.
Was Urheberinnen und Urheber verdienen, hängt nicht
in erster Linie davon ab, was im Urheberrechtsgesetz
steht, sondern davon, was in den Verträgen steht, die
sie mit Verlagen, Musikwirtschaftsunternehmen oder
sonstigen Vertragspartnern schließen.
Vor genau zehn Jahren, 2002, hat der Bundestag
deshalb ein Gesetz zur „Stärkung der vertraglichen
Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern“
verabschiedet, das sogenannte Stärkungsgesetz. Kern
dieses Gesetzes war der Anspruch auf eine „angemes-
sene Vergütung“, der zwischen den Verbänden beider
Seiten ausgehandelt werden sollte.
Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Stärkungsgeset-
zes ziehen sich die Verhandlungen über solche gemein-
samen Vergütungsregeln immer noch hin, von wenigen
Ausnahmen abgesehen. Hingegen sind die Ansprüche
der Urheber schon nach drei Jahren verjährt. Die Ver-
werter verschleppen die Verhandlungen systematisch,
um die angemessene Vergütung auch nachträglich
nicht zahlen zu müssen. Und die Urheberinnen und
Urheber müssen ihr Recht individuell bis vor den Bun-
desgerichtshof einklagen. Zu dem gesetzlich vorgese-
henen Schlichtungsverfahren kommt es meist gar nicht
erst, weil die Verwerter, wenn es ernst wird, gern be-
haupten, zu offiziellen Verhandlungen nicht legitimiert
zu sein.
Wir schlagen mit unserem Gesetzentwurf vor, das
Stärkungsgesetz so umzuschreiben, dass Urheberinnen
und Urheber ihre Rechte auch tatsächlich durchsetzen
können. Wir fordern Verbesserungen beim Schlich-
tungsverfahren sowie beim Rückruf nichtgenutzter
Rechte, und wir wollen sittenwidrigen Buy-out-Verträ-
gen einen Riegel vorschieben.
Wenn Sie weitere Vorschläge haben, her damit. Wir
arbeiten gern mit allen zusammen, die sich ebenfalls
für eine Reform des Stärkungsgesetzes einsetzen. Las-
sen Sie uns aus diesem Papiertiger ein Gesetz machen,
das seine selbstgesteckten Ziele erreicht.
Zehn Jahre nach dem ersten Anlauf, die vertragli-
che Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern
zu stärken, ist es an der Zeit, die Wirkungen des Geset-
zes aus dem Jahr 2002 sorgfältig und objektiv zu ana-
lysieren und daraus gesetzgeberische Konsequenzen
zu ziehen. Erste und tiefgehende Analysen liegen mit
dem Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“ vom 11. Dezember 2007 vor. Sie und
auch die ernüchternden Erfahrungen vieler Vereini-
gungen von Urheberinnen und Urhebern sollten jetzt
aufgegriffen werden.
Welche Grundannahmen haben die Reform des Jah-
res 2002 geprägt, und welche sind heute noch gültig?
Urheber sind auch heute noch nur in den seltensten
Fällen – mag ihre Anzahl auch durch die Möglichkei-
ten der Digitalisierung und des Internets in Zukunft
wachsen – in der Lage und gewillt, ihre Werke selbst zu
verwerten. Ihre notwendige wirtschaftliche Symbiose
mit kommerziellen Verwertern, seien es Verlage, Film-
produzenten oder Medienträgerhersteller, ist ein Fakt.
Weil die Verbindung zwischen den Kreativen und den
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26431
Jerzy Montag
(C)
(B)
Verwertern zwangsläufig eine vertragliche ist, ist das
Urhebervertragsrecht in seiner Bedeutung für die Kul-
turwirtschaft und darüber hinaus für die Gesellschaft
gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Würden sich auf dem Markt annähernd gleich
starke und durchsetzungsfähige Partner treffen, wäre
für den Gesetzgeber wenig zu tun. Das Gegenteil ist
aber – dieser Befund ist evident – der Fall. Deshalb
hat schon der Reformentwurf aus dem Jahr 2002 fest-
gestellt, dass die damals zur Diskussion vorgelegten
Regelungen der Kultur, der demokratischen Willens-
bildung und der Volkswirtschaft dienen und den Aus-
gleich der durch das wirtschaftliche Ungleichgewicht
der Vertragsparteien gestörten Vertragsparität bezwe-
cken.
Angesichts nationaler und internationaler Konzen-
trationsprozesse im Bereich der Medien und der Kul-
turproduktion ist die Absicherung und auch die Besser-
stellung der Urheber sozialpolitisch, kulturpolitisch,
aber auch wirtschaftspolitisch notwendig. Dem Urhe-
bervertragsrecht fällt deshalb rechtspolitisch eine Be-
deutung zu, die über den Persönlichkeitsschutz, den
Schutz der Berufsfreiheit und des Eigentums sowie der
Vertragsfreiheit weit hinausreicht.
Rückblickend ist der damaligen Justizministerin
Däubler-Gmelin und den Verfassern des sogenannten
Professorenentwurfs Dietz, Loewenheim, Nordemann,
Schricker und Vogel zu danken, dass sie den ersten
Schritt gewagt und die Debatte angestoßen haben.
Die Kritik an dem Versuch, die Privatautonomie
auch der Urheber zu schützen und deren Vertragsfrei-
heit gegen das Übergewicht ihrer Vertragspartner
überhaupt erst herzustellen, war brachial, demago-
gisch und wirkungsvoll. Im Standardkommentar von
Loewenheim zum Urheberrecht heißt es in nicht zu
überbietender Klarheit: „Der Einbruch sozialstaatli-
cher Prinzipien in eine seit Jahrhunderten zugunsten
der Verwerterseite abgeschirmte Oase der Vertrags-
freiheit stieß auf Missbehagen und löste düstere Zu-
kunftsvisionen aus“.
Drei Elemente prägten die Reformvorstellungen des
Jahres 2002: Dem Urheber sollte ein die gesamte
Werknutzung umfassender gesetzlicher Anspruch auf
eine angemessene Vergütung zustehen; die vorrangige
Schaffung gemeinsamer Vergütungsregeln sollte er-
zwingbar sein, und Nutzungsverträge sollten unab-
dingbar kündbar sein.
Die Verwerterindustrie und ihre Verbände erhoben
jedoch ihr Haupt und starteten eine Medienkampagne
gegen die Reform, die an eine Erpressung der Gesetz-
gebungsorgane heranreichte. Und dies zeigte Wir-
kung: Das Bundesjustizministerium legte – mehr ge-
zwungen als freiwillig – einen Änderungsvorschlag
zum eigenen Gesetzentwurf vor, der dem couragierten
Vorschlag des sogenannten Professorenentwurfs und
der darauf fußenden Entwürfe der Regierungsfraktio-
nen wie der Bundesregierung den Schneid abkaufte.
Aus einem gesetzlichen Anspruch auf eine angemes-
sene Vergütung wurde ein Individualanspruch auf eine
gerichtliche Anpassung unangemessener Vergütungen
für erlaubte Nutzungen und eingeräumter Rechte; die
Vergütungsregeln wurden der Disposition der Kollek-
tivvertragspartner unterstellt, und das Kündigungs-
recht wurde insgesamt gestrichen.
Heute, nach zehn Jahren, treten die Mängel der Re-
form mehr als deutlich hervor.
Richtig bleibt der Vorrang tarifvertraglicher Rege-
lungen, wobei mit der Tariffähigkeit arbeitnehmerähn-
licher Personen nach § 12 a TVG der Tarifabschluss
auch für Urheber und ihre Rechte an Bedeutung zu-
nimmt.
Danach kommt der Vorrang gemeinsamer Vergü-
tungsregeln, die die angemessene Vergütung durch
Vereinigungen von Urhebern und Werknutzern über-
einzelvertraglich festlegen. Das Verfahren hierzu muss
jedoch grundlegend verändert werden. Die Parteien
dürfen sich nicht mit Tricks und geradezu heimtückisch
um den Abschluss der Vergütungsregeln herummogeln
dürfen. Das Verfahren muss so oder so in einer ver-
bindlichen Entscheidung enden, von der sich die Par-
teien nicht mehr einseitig lossagen können dürfen.
Und, zu guter Letzt, sollte den Urhebern ein gesetz-
licher Anspruch auf eine angemessene Vergütung zu-
stehen. Die Durchsetzung dieses Anspruchs sollte auch
in kollektiven Formen möglich sein, weil der einzelne
Urheber in der Regel – die von Ausnahmen nicht wi-
derlegt, sondern bestätigt wird – wegen wirtschaftli-
cher Abhängigkeit zur Durchsetzung seiner Ansprüche
faktisch nicht in der Lage ist.
Der Gesetzentwurf der Linken benennt etliche rich-
tige Punkte und gibt auch einige richtige Antworten.
Trotzdem sage ich unter Hinweis auf die Zeit und die
derzeitigen Machtverhältnisse in diesem Hause:
Eine durchgreifende Reform des Urhebervertrags-
rechts bedarf des politischen Willens einer neuen Re-
gierungsmehrheit. Bis zur Neuwahl des Bundestags
spätestens im September 2013 kann eine solche Re-
form nicht mehr gelingen. Die schwarz-gelbe Koali-
tion ist eine Koalition der internationalen Verwerter-
lobby. Nicht die Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage der Urheber und ausübenden Künstler ist ihr ein
Anliegen, sondern bestenfalls die Beibehaltung des
Status quo.
Deshalb wird es für eine neue Mehrheit in diesem
Hause notwendig sein, aus der Mitte des Parlaments
und mithilfe einer neuen Bundesregierung eine Kom-
mission zu bilden, mit dem Auftrag, einen sozialstaat-
lich ambitionierten, kulturpolitisch ausgerichteten und
demokratisch vorbildlichen Reformvorschlag für ein
modernes Urhebervertragsrecht vorzulegen. Darin
werden sicher die guten Vorschläge der Linken, ge-
nauso wie Vorschläge aus anderen Fraktionen, der
Wissenschaft und der Verbände der Urheber wie der
Verwerter einfließen.
Zu Protokoll gegebene Reden
26432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Jerzy Montag
(C)
(B)
Schon jetzt kann ich sagen, was uns Grünen neben
verschiedenen Klarstellungen und punktuellen Verbes-
serungen der Reformen von 2002 ein Hauptanliegen
sein wird: das Verfahren zur Festlegung gemeinsamer
Vergütungsregeln wirkmächtig zu machen. Dazu ge-
hörten die eindeutige rechtliche Einordnung der Ver-
gütungsregeln als auf Verbände delegierter staatlicher
Akt der Vergütungsfestsetzung; die Beseitigung der
Unsicherheiten und Fluchttendenzen bei der Legitima-
tion der Vereinigungen und die Verbindlichkeit der im
Schiedsverfahren festgelegten Vergütungsregeln sowie
die Einführung von Rechtsbehelfen.
Nur eines darf und wird nicht nochmals passieren:
dass mit Lobbydruck und regelrechten Kampagnen auf
den Gesetzgeber eingewirkt wird und Gespräche im
Bundeskanzleramt die Debatte im Bundestag ersetzen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11040 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung jedoch ist strittig. Die Fraktionen von CDU/
CSU und FDP wünschen sich Federführung beim
Rechtsausschuss, die Linke wünscht Federführung beim
Ausschuss für Kultur und Medien.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim
Ausschuss für Kultur und Medien. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist abgelehnt bei Zu-
stimmung durch die einbringende Fraktion; alle anderen
waren dagegen.
Jetzt lasse ich abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, Feder-
führung beim Rechtsausschuss. Wer ist dafür? – Wer ist
dagegen? – Enthaltungen? – Das ist so angenommen.
Dagegen war die Fraktion Die Linke; alle anderen waren
dafür.
Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer , Christine Buchholz, Inge Höger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Angriffskrieg verfassungs- und völkerrechts-
konform unter Strafe stellen
– Drucksache 17/11698 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Hier wurden wiederum die Reden zu Protokoll ge-
nommen.
Die Fraktion Die Linke hat den Antrag „Angriffs-
krieg verfassungs- und völkerrechtskonform unter
Strafe stellen“ in den Deutschen Bundestag einge-
bracht, und wir dürfen uns nun mit der Frage aus-
einandersetzen, ob es dieses Antrags bedarf. Wir als
CDU/CSU-Fraktion sind der Auffassung, dass die be-
stehenden Regelungen des Strafrechts im Bereich des
Friedensverrates ausreichen. §§ 80 f. StGB bedürfen
keiner Änderung. Wir werden den Antrag der Fraktion
Die Linke daher auch ablehnen.
In Wahrheit geht es der Fraktion Die Linke ja auch
gar nicht um die Frage der strafrechtlichen Normie-
rung. Zum einen geht es ihr darum, sich als vermeint-
liche Friedenspartei zu stilisieren. Das aber ist schon
allein aus der Historie der Vorgängerinnen der Partei
Die Linke mehr als fragwürdig. Zum anderen soll der
Antrag aber wohl im Wesentlichen dazu dienen, Vor-
gänge der Vergangenheit aufzuwärmen und politisch
aufzukochen. Das mag für altlinke Stammtische das
Richtige sein; für eine ernsthafte Auseinandersetzung
im Parlament taugt es allerdings nicht.
Wenn es der Fraktion Die Linke wirklich ernsthaft
um eine gesetzliche Regelung ginge, hätte sie einen
Gesetzentwurf einbringen müssen, statt einen Antrag
zu stellen. Dann hätte sie sich aber auch den Schwie-
rigkeiten, die mit der Umsetzung des Verfassungsge-
botes aus Art. 26 des Grundgesetzes einhergehen, stel-
len müssen. Das aber wollte sie offenbar selbst nicht.
So ist und bleibt der Antrag nur eines: ein durchsichti-
ges Manöver.
Der bestehende § 80 StGB ist in seiner Formulie-
rung eng an Art. 26 des Grundgesetzes angelehnt.
Damit wird der durch Art. 26 konstituierte Verfas-
sungsauftrag ausreichend umgesetzt. § 80 StGB ist
mithin verfassungskonform. Einer Ergänzung bedarf
es nicht. Der erste Teil des Anliegens der Fraktion Die
Linke ist also schon bestehendes Recht.
Wie schwierig es dabei war, diesen Verfassungsauf-
trag des Art. 26 Grundgesetz in eine gesetzliche Norm
umzusetzen, zeigt sich schon an der Entwicklungsge-
schichte dieser Vorschrift. Eingefügt wurde sie 1968
durch das achte Strafrechtsänderungsgesetz. Man
hatte sich bereits 1950 an einer Normierung versucht,
die aber an definitorischen Schwierigkeiten scheiterte.
Auch konnte nicht auf Vorgängerbestimmungen zu-
rückgegriffen werden, da das dem Art. 26 des Grund-
gesetzes zugrunde liegende völkerrechtliche Gewalt-
verbot erst aus dem Jahr 1928 stammt.
Das alles zeigt, wie schwer es ohnehin schon war,
das Verfassungsgebot aus Art. 26 Grundgesetz in eine
handhabbare Strafvorschrift umzusetzen. Ohne Zwei-
fel ist die praktische Relevanz der Norm auch nur be-
grenzt. Das Hauptgewicht liegt allerdings auch
schlicht in ihrer generalpräventiven Wirkung durch
ihre bloße Existenz. Dann bedarf es aber keiner weite-
ren Ausdehnung der Vorschrift.
Ebenfalls ist die völkerrechtliche Komponente, die
der Antrag der Fraktion Die Linke fordert, unter straf-
rechtlichen Gesichtspunkten ein schwieriges Terrain.
Völkerrecht ist aus der Natur der Sache heraus dyna-
misch. Das aber ist in Teilen nur schwer mit dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26433
Ansgar Heveling
(C)
(B)
Verfassungsgebot der Bestimmtheit von Strafnormen
zu vereinbaren. Hier bleibt zwangsläufig ein Span-
nungsfeld, das in Teilen nur die Rechtsprechung auflö-
sen kann. Die Gefahr, zu unbestimmte Vorschriften zu
erlassen, ist jedenfalls im Kontext des Völkerrechts
ausgesprochen groß. Auch deshalb wird die Fraktion
Die Linke es wahrscheinlich bei einem Antrag belas-
sen haben, statt einen eigenen Gesetzentwurf vorzule-
gen.
Das alles zeigt: Der Antrag der Fraktion Die Linke
ist nichts als ein durchsichtiges Manöver. Wir werden
ihn ablehnen. Unsere Vorschriften reichen vollkommen
aus.
Schließlich sollten wir auch nicht vergessen: Wir
befinden uns in einer historisch einmaligen Situation.
Seit fast 70 Jahren leben wir ohne kriegerische Aus-
einandersetzung. Ohne Frage erwächst aus unserer
Geschichte eine besondere Verpflichtung für die Erhal-
tung des Friedens. So ist das Zusammenwachsen
Europas ein Garant für fortwährenden Frieden. Des-
halb ist der europäische Einigungs- und Friedens-
prozess nicht hoch genug zu würdigen. Das sind wich-
tige Zeichen, nicht aber eine Änderung von § 80 StGB.
Schließen möchte ich mit einem Zitat zur Funktion
des § 80 StGB aus dem Strafrechtskommentar von
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen zur Funktion der
Vorschriften des Friedensverrats im Strafgesetzbuch
schließen: „Hoffen darf man allenfalls … dass Kriegs-
verbrecher, die eine Gefahr eines Angriffskrieges he-
raufbeschworen haben, sich nirgends mehr sicher sein
dürfen, wegen dieser Taten nicht doch vor ein deut-
sches Gericht gebracht zu werden.“
Dazu dient der § 80 StGB; er ist verfassungs-
konform, und es bedarf keiner Änderung.
„Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg aus-
gehen“, so zitierte Bundespräsident Rau Bundeskanz-
ler Willy Brandt 1995 beim Gedenken an das Ende des
Zweiten Weltkrieges. Das ist und bleibt die Verantwor-
tung Deutschlands.
In der letzten Sitzungswoche haben wir im Rahmen
einer menschenrechtlichen Debatte über die Änderun-
gen des Römischen Statuts des Internationalen Straf-
gerichtshofes, die auf der Überprüfungskonferenz in
Kampala 2010 beschlossen wurden, beraten und den
Gesetzentwurf der Bundesregierung angenommen, der
die Voraussetzungen nach Art. 59 GG für die Ratifika-
tion schafft.
Wir werden also in Zukunft über eine Implementie-
rung des Aggressionstatbestandes in die deutsche
Rechtsordnung zu beraten haben. Es gibt zwar keine
völkerrechtliche Pflicht, das nationale Strafrecht anzu-
passen, wohl aber drängen sich solche Überlegungen
auf – auch vor dem Hintergrund des deutschen Enga-
gements und der deutschen Verantwortung in diesen
Fragen.
Dieses Jahr feierte das Völkerstrafgesetzbuch sein
10-jähriges Jubiläum. Es regelt die strafrechtliche
Verantwortung bei Völkermord, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Nun geht es
auch beim Aggressionstatbestand einen Schritt weiter.
Die Änderungen des Römischen Statuts könnten in mo-
difizierter Form auch in das deutsche Recht einfließen –
wo und wie bleibt zu diskutieren.
§ 80 StGB regelt das Verbot der Vorbereitung eines
Angriffskrieges. Bislang hat die Vorschrift keine ge-
steigerte praktische Bedeutung erlangt. Einige Stim-
men in der Literatur sprechen deshalb etwas abfällig
von „symbolischem Strafrecht“, andere etwas positi-
ver formuliert von der generalpräventiven Funktion
der Norm durch ihre bloße Existenz. In der Gesamt-
schau des sich entwickelnden Völkerstrafrechts ist es
aber nicht unwichtig, sich in gebührendem Maße auch
§ 80 StGB zu widmen.
Deshalb lohnt auch ein Blick auf die historische Ge-
nese der Strafvorschrift. Der Tatbestand des Friedens-
verrats bzw. das Verbot eines Angriffskrieges wurde
zur Ausführung des Verfassungsauftrages aus Art. 26
Abs. 1 GG im Jahr 1968 durch das 8. StrÄndG in das
Strafgesetzbuch eingeführt. Fast 20 Jahre blieb der
Verfassungsauftrag des Art. 26 GG unerfüllt, und auch
heute ist er nur im Wesentlichen, aber nicht vollständig
umgesetzt.
Schon in der 1. Legislaturperiode gab es einen Ge-
setzentwurf der SPD – Bundestagsdrucksache 1/653 –
und einen der Bundesregierung – Bundestagsdruck-
sache 1/102 –, die eine Einführung forderten. Letztlich
entschied man sich gegen die Einführung. Das Pro-
blem lag in der Unbestimmtheit des Begriffs „An-
griffskrieg“, dem eine allgemein akzeptierte völker-
rechtliche Definition fehlte. Vor dem Hintergrund des
Bestimmtheitsgebots im Strafrecht ergaben sich Be-
denken, einen solchen unbestimmten Straftatbestand
aufzunehmen.
Auch der Gesetzgeber des Jahres 1968 stand vor
den gleichen Schwierigkeiten. Zunächst sah es nicht
nach einer Einführung aus. Nach 53 Sitzungen des
Sonderausschusses entschloss man sich dann doch für
die Aufnahme des neuen Straftatbestandes.
Es waren die Professoren, die auf die Umsetzung ih-
rer Vorschläge einer Einführung drängten und unter-
strichen, dass keine Reform des Staatsschutzrechtes
erfolgen dürfe, ohne dass wenigstens teilweise den
Mahnungen des Art. 26 GG Rechnung getragen würde.
Es seien gewisse Auslegungsschwierigkeiten in Kauf
zu nehmen, als weiterhin mit der Umsetzung des Ver-
fassungsauftrages zu warten. Man könne nicht warten,
bis es eine internationale Definition gebe. So wurde
der Begriff des Angriffskrieges unter Verweis auf
Art. 26 Abs. 1 GG ohne nähere Konkretisierung über-
nommen und dessen Auslegung der Rechtsprechung
überlassen.
Der Gesetzgeber fügte in § 80 StGB aber einen
Deutschland-Bezug ein, den das Grundgesetz so nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
26434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Christoph Strässer
(C)
(B)
vorsieht. Nur so könne realpolitisch sichergestellt wer-
den, dass ausländische Staatsoberhäupter nicht vor
deutschen Gerichten verklagt werden und in Deutsch-
land eine Art internationale Gerichtsbarkeit entsteht,
die zu problematischen internationalen Verwicklungen
führen könne.
In der Plenardebatte vom 29. Mai 1968 zum
8. Strafrechtsänderungsgesetz unterstrich Frau Diemer-
Nicolaus von der FDP zu Recht, dass der Bundestag
sich zur Einführung des § 80 StGB entschlossen habe,
sei ein gutes Beginnen. Soweit es § 80 StGB betreffe,
sei die weitere Entwicklung abzuwarten.
Vor dem Hintergrund der Verfassungslage, der in-
ternationalen Bestimmungen und Entwicklungen wer-
den wir beurteilen müssen, ob sich Anpassungsbedarf
ergibt oder die Norm ihre Funktion ausreichend erfül-
len kann. Darüber können und sollten wir gerne ergeb-
nisoffen diskutieren.
Noch heute sprechen die wichtigen Standardkom-
mentare davon, dass Art. 26 Abs. 1 GG nur im Wesent-
lichen umgesetzt ist. Im Jahr 2006 räumte auch Gene-
ralbundesanwalt Nehm ein, dass § 80 StGB den
Verfassungsauftrag nicht in vollem Umfang erfülle.
Die Fraktion Die Linke hat in der 16. Legislaturpe-
riode schon einmal einen ähnlichen Antrag gestellt –
Bundestagsdrucksache 16/6379. Allerdings war der
Antrag weniger weitgehend, aber auch weniger sub-
stanziell, dafür plakativ und situationsbezogen popu-
listisch.
Der neuerliche Antrag nimmt Bezug auf die Rati-
fikation der Änderungen des Römischen Statuts und
stellt berechtigte Fragen. Ob man zum gleichen Ergeb-
nis und den gleichen Forderungen kommen muss, ist
eine andere Frage.
Es stellt sich die Frage, ob der Durchbruch in Kam-
pala und die Einführung des Aggressionstatbestandes
Einfluss auf eine mögliche Definition des Angriffskrie-
ges nach deutschem Recht hat. Unmittelbar übernom-
men werden kann das Ergebnis sicher nicht. Diploma-
tische Ergebnisse sind immer Kompromisse, die offen
formuliert sind, verschiedene Positionen berücksichti-
gen und – aus juristischer Sicht nicht immer hilfreich –
der Interpretation zugänglich sind. Spannungen mit
dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot sind vorpro-
grammiert. Wenn, dann müsste der nationale Gesetz-
geber die Definition selbst inhaltlich ausfüllen, wenn
auch unter dem Eindruck der internationalen Ergeb-
nisse.
Außerdem möchte der Antrag § 80 StGB erweitern
und die Androhung, Auslösung, Durchführung und
Unterstützung eines Angriffskrieges unter Strafe stel-
len. Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes wird aus-
schließlich die Vorbereitung eines Angriffskrieges als
verfassungswidrig angesehen. Wenn aber schon die
Vorbereitung verboten ist, so erst recht die Durchfüh-
rung. Diese Analogie kann im Verfassungsrecht ohne
Zweifel gezogen werden.
Im Strafrecht verbieten sich Analogien. Zwar steht
in der Gesetzesbegründung, dass § 80 StGB nicht nur,
wie der Wortlaut annehmen lasse, den Fall der Vorbe-
reitung eines Angriffskrieges, sondern erst recht die
Auslösung eines Krieges umfasse – Bundestagsdruck-
sache 5/2860, Seite 2. Schon das ist aber strittig. So-
wohl namhafte Kommentare als auch der ehemalige
Generalbundesanwalt stehen auf dem Standpunkt: Wer
sich erst ab Beginn eines Angriffskrieges beteiligt,
handelte nicht tatbestandsmäßig.
Auch die Beteiligung und Beihilfe will der Antrag
sanktionieren. Bisher lehnte die Generalbundesan-
waltschaft bloße Duldungs- und Unterlassungshand-
lungen als tatbestandmäßige Handlungen ab. Letztlich
reiche auch die Gewährung von Überflugs- und Trans-
portrechten nicht aus, da diese keinen ausreichenden
Tatbeitrag darstellten. Der Begriff der Beteiligung
wird zumeist in der Beteiligung von Streitkräften gese-
hen.
Ich unterstütze als Rechts- und Menschenrechts-
politiker eine Diskussion über alle diese Fragen. Ich
gehe davon aus, dass auch die Regierung und die Ko-
alition an diesen Fragen interessiert sind.
In diesem Zusammenhang verweise ich deshalb
gerne und ausdrücklich auch auf einen Vortrag, den
Frau Staatssekretärin Dr. Birgit Grundmann am
10. Mai 2012 in Hamburg auf dem Symposium der
Universität Hamburg „Zehn Jahre Völkerstrafgesetz-
buch – Bilanz und Perspektiven eines deutschen Völ-
kerstrafrechts“ gehalten hat. Darin sagte sie – ich zi-
tiere –:
Außerdem können die Überlegungen zur Umset-
zung der Beschlüsse von Kampala dazu genutzt
werden, sich mit Kritik an der Regelung zur Vor-
bereitung eines Angriffskrieges in § 80 Strafge-
setzbuch auseinander zu setzen. Es stellt sich ins-
besondere die Frage, ob weiterhin lediglich die
Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe
gestellt werden soll oder auch dessen Versuch und
Durchführung.
Und außerdem:
Damit einhergehend stellt sich die Frage, ob beim
Verbrechen der Aggression der Bezug zur Bun-
desrepublik Deutschland beibehalten werden soll,
wie es die Vorbereitung eines Angriffskrieges
nach § 80 StGB vorsieht, oder ob hierauf verzich-
tet werden kann.
Gerne schließe ich mich diesen Fragen an. Wir
müssen uns die Frage stellen, welche Reichweite eine
solche Regelung haben soll. Gleichzeitig muss darauf
geachtet werden, dass kein falscher Anschein erweckt
wird, den eine Regelung nicht erfüllen kann, sei es zum
Beispiel durch Ermittlungsbehörden oder Gerichte,
die an ihre Grenzen stoßen.
Nationales Strafrecht kann auch mal symbolisch
sein. Es sollte aber auch realistisch und pragmatisch
den Notwendigkeiten, den aktuellen gesellschaftlichen,
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26435
Christoph Strässer
(C)
(B)
und gegebenenfalls auch den internationalen völker-
rechtlichen Entwicklungen folgen.
Gerne würde ich dazu im Ausschuss die Meinung
der Regierung hören. Wir sollten auch darüber nach-
denken, ob eine Anhörung zum jetzigen oder zu einem
späteren Zeitpunkt für diese Fragestellungen hilfreich
sein könnte.
Es liegt uns heute von den Kollegen der Linksfrak-
tion ein weiterer Antrag vor, der in eine ganze Reihe
von Anträgen passt und sich unter dem Sammelbegriff
„Gutmenschentum“ subsumieren lässt: „Keine Rüs-
tungsforschung an öffentlichen Hochschulen“, „Liefe-
rung von U-Booten an Israel stoppen“, „Globale Ge-
rechtigkeit“, „Mit dem Abzug aus Afghanistan die
Voraussetzung für Frieden schaffen“, „Iran: Sankti-
onsspirale beenden – Kriegsgefahr stoppen“, „Kein
Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Kriegswaf-
fen“, „Militärischen Missbrauch von Minderjährigen
beenden“ und „Keine gezielten Tötungen“, um nur ei-
nige Beispiele der letzten Zeit zu nennen.
Und all diese Anträge haben eines gemeinsam: Sie
erschrecken am Anfang und lassen vermuten, dass in
unserem Land etwas im Argen liegt. Da macht der
heute zu beratende Antrag keine Ausnahme. Er liest
sich anfangs so, als sei das Führen von Angriffskrie-
gen in Deutschland nicht nur erlaubt, sondern an der
Tagesordnung. Als würde die Bundesregierung, und
nicht nur die gegenwärtige, sondern auch alle frühe-
ren, gegen Verfassung und Völkerrecht verstoßen.
Dieser erste Eindruck erschreckt. Da ging es mir
nicht anders als sicherlich vielen Menschen draußen
in unserem Land. Schließlich besteht in Deutschland
der große gesellschaftliche Konsens, dass nie wieder
von uns ein Krieg ausgehen darf.
Nur auf den zweiten Blick erkennt man dann
schnell, dass es sich bei diesem Antrag mal wieder, um
im militärischen Fachjargon zu bleiben, nur um einen
Täuschkörper handelt, und auch noch um einen
schlechten und billigen.
Lassen Sie mich hier deutlich und nachdrücklich
feststellen, dass entgegen dem Eindruck, den die
Linksfraktion hier versucht zu erwecken, und entgegen
der bewussten Panikmache, die sie mit diesem Antrag
unternimmt, Angriffskriege in Deutschland natürlich
und selbstverständlich unter Strafe stehen, und das
schon, solange es die BRD gibt, und dies natürlich
auch in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz
und dem Völkerrecht.
Erlauben Sie mir, Ihnen daher eine kurze Nach-
hilfestunde in Straf- und Verfassungsrecht zu geben
– Details können wir dann im Ausschuss in Form eines
Repetitoriums nachholen –: Art. 26 Abs. 1 GG und
auch Art. 2 des Zwei-plus-vier-Vertrags erklären einen
Angriffskrieg als verfassungswidrig und strafbar. Der
§ 80 StGB führt diese Strafbarkeit dann aus. Art. 2 der
Charta der Vereinten Nationen und das Rom-Statut
nehmen die entsprechenden Regelungen im Völker-
recht wahr.
Damit ist Ihr Antrag eigentlich hinfällig; denn das,
was Sie fordern, ist schon längst Recht und Gesetz in
Deutschland. Ziehen Sie diesen Antrag einfach zurück!
Tarnen und Täuschen funktioniert bei diesem Thema
nicht. Aber Sie lieben ja die Spitzfindigkeiten und spin-
nen darum herum ein Netz aus Mythen und Ängsten.
Lassen Sie mich im Folgenden kurz aufzeigen, wie
sehr Sie sich selbst etwas vorzumachen versuchen: So
bemängeln Sie, dass nur die Vorbereitung, nicht aber
die Durchführung eines Angriffskrieges unter Strafe
gestellt sei. Empfinden Sie dies nicht selber als irrwit-
zig? Wie sollte denn ein Krieg ohne Vorbereitung
durchgeführt werden? Das eine bedingt doch das an-
dere. Keiner kann so einen einfachen Vorgang wie
seine Wohnungsrenovierung durchführen, ohne diese
vorher vorbereitet zu haben. Da soll Ihrer Ansicht
nach ein gezielter Krieg auf einen anderen Staat ohne
eine Vorbereitung möglich sein? Das ist doch nun
selbst für Sie sehr fantasiereich.
Oder ein anderes Beispiel: Sie formulieren, dass
das Strafgesetzbuch den Straftatbestand des § 80 „un-
gerechtfertigter Weise erheblich einschränkt“, weil es
für einen Krieg den Einsatz von Streitkräften, also Sol-
daten, voraussetzt. Diese Logik müssen Sie mir dann
im Ausschuss wirklich einmal erklären. Nach allen mir
bekannten Definitionen von Krieg, und das durch alle
Zeitalter und Kulturen hinweg, wurden Kriege immer
mit bewaffneten Kräften geführt. Soldaten, Krieger,
Söldner und Streitkräfte sind alles unterschiedliche
Begriffe, die dasselbe meinen.
Und aus diesen absurden Feststellungen leiten Sie
dann ebenso abstruse Forderungen ab. Lassen Sie
mich hier auch zwei Beispiele benennen: Sie wollen
„jegliche direkten und indirekten“ Formen der Beteili-
gung „unabhängig von ihrer Quantität oder Qualität“
als Angriffskrieg definieren und unter Strafe stellen.
Nach Ihrer Vorstellung würde Deutschland einen An-
griffskrieg auch dann führen, wenn ein anderer Staat
diesen führt und dabei zum Beispiel eine nachrichten-
dienstliche Information aus Deutschland verwertet.
Hier ließen sich viele weitere unsinnige Beispiele fin-
den. So schlimm es auch ist, aber Krieg ist und bleibt
ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel
mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt und
nichts anderes.
Zum Ende Ihres Antrags haben mich die Kollegen
der Linksfraktion noch einmal besonders amüsiert. Sie
fordern die Bundesregierung auf, zu prüfen, welche
Handlungen noch unter Strafe zu stellen wären, weil
sie „geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der
Völker zu stören“. Mir fiel dabei sofort das Jahr 1961
mit dem Mauerbau ein. Auch dieses Bauvorhaben
störte das friedliche Zusammenleben der Völker, ei-
gentlich nur eines Volkes, nämlich des unseren. Dieses
Unrecht wurde erst 28 Jahre später beseitigt.
Zu Protokoll gegebene Reden
26436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Jörg van Essen
(C)
(B)
Wir sind uns sicherlich alle einig, dass von deut-
schem Boden nie wieder ein Angriffskrieg ausgehen
darf. Zwei Weltkriege und deren Folgen haben uns dies
nachdrücklich gelehrt. Diesen Grundsatz haben wir in
unserer Verfassung und unserem Einigungsvertrag
festgeschrieben und im Strafgesetzbuch verankert.
Durch völkerrechtliche Vereinbarungen haben wir
diese Auffassung mehrfach untermauert. Das Handeln
jeder deutschen Bundesregierung hat sich an diesem
Grundsatz orientiert und wird es auch in Zukunft tun.
Von daher haben wir alles, was wir zu diesem Thema
brauchen, schon, und nicht erst, seit es die Linke gibt.
Deutschland braucht diesen Schaufensterantrag
nicht.
Ende November hat der Bundestag einstimmig der
im Juni 2010 in Kampala vereinbarten Änderung des
Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichts-
hofs zugestimmt. Damit haben die Mitgliedstaaten ei-
nen wichtigen Schritt getan, den Tatbestand der Ag-
gression im Völkerstrafrecht tatsächlich strafbar zu
machen. Leider haben immer noch nicht alle Staaten
der Welt die Statuten des Internationalen Strafge-
richtshofs unterzeichnet und ratifiziert. Und wann und
ob die Ratifizierung der jüngsten Änderungen durch
30 der Unterzeichnerstaaten erfolgen wird, ist noch
offen. Das heißt, frühestens 2017 werden die Änderun-
gen in Kraft treten.
Dies soll uns hier im Bundestag nicht davon abhal-
ten, zumindest für Deutschland den nächsten Schritt zu
gehen. Wir waren uns alle einig – sogar bis hin zur
CDU/CSU –, dass Angriffskriege zu ächten sind und
dass die Verantwortlichen für Angriffskriege zur Re-
chenschaft gezogen werden müssen. Das ist schließlich
auch ein Vermächtnis der deutschen Geschichte, der
Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und
der Erfahrungen in den Nürnberger Prozessen. Unser
Grundgesetz hat in Art. 26 Abs. 1 klare Vorgaben ge-
macht: „Handlungen, die geeignet sind und in der Ab-
sicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammen-
leben der Völker zu stören, insbesondere die Führung
eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungs-
widrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Willy Brandt
– zumindest wird ihm das von vielen zugeschrieben –
hat diese Überzeugung noch umfassender auf den
Punkt gebracht: „Von deutschem Boden soll nie wie-
der Krieg ausgehen“. Das ist leider noch eine Utopie.
Zumindest bezogen auf den Angriffskrieg könnte man
jetzt Nägel mit Köpfen machen, und die jüngere Ge-
schichte hat leider gezeigt, wie notwendig dies immer
noch ist. Die NATO hatte 1999 ohne Mandat des
UN-Sicherheitsrats Jugoslawien angegriffen. 2003 er-
folgte mit passiver Unterstützung der Bundesregierung
der Angriff der USA auf den Irak.
Bislang nehmen wir hier in Deutschland eine Lücke
hin: Im § 80 des Strafgesetzbuchs steht zwar immerhin,
dass die Vorbereitung von Angriffskriegen verboten ist.
Dort steht aber nicht, dass auch das Führen von An-
griffskriegen von Deutschland aus verboten ist.
Dabei handelt es sich nicht um Sophisterei, sondern
um eine nüchterne Zusammenfassung. Das zeigt eine
Episode aus dem Jahr 2006: In Reaktion auf eine
Strafanzeige gegen Mitglieder der rot-grünen Bundes-
regierung wegen Beihilfe zum von den USA angeführ-
ten Angriffskrieg gegen den Irak 2003 teilte der dama-
lige Generalbundesanwalt Nehm, also die oberste
Strafverfolgungsbehörde in Deutschland, mit – ich zi-
tiere aus seinem Schreiben vom 21. Januar 2006 –,
dass „nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und
nicht der Angriffskrieg selbst strafbar“ sei, „sodass
auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereite-
ten Angriffskrieg nicht strafbar ist“. Demgegenüber
hatte das Bundesverwaltungsgericht im Fall der Ge-
horsamsverweigerung eines Bundeswehrmajors im
Urteil vom 21. Mai 2005 klargestellt, dass „wenn ein
Angriffskrieg jedoch von Verfassung wegen bereits
nicht ‚vorbereitet‘ werden darf, so darf er nach dem
offenkundigen Sinn und Zweck der Regelung erst recht
nicht geführt oder unterstützt werden“. Es besteht also
immer noch eine Differenz zwischen der Auslegung des
Art. 26 Grundgesetz und der entsprechenden Passage
im Strafgesetzbuch.
Es sollte eine Selbstverständlichkeit für uns alle
sein, diese Lücke zu schließen. Aus diesem Grund brin-
gen wir heute einen entsprechenden Antrag ein. Unser
Ansatzpunkt ist klar:
Erstens. Auch wenn die Vereinbarung von Kampala
ein wichtiger Schritt war, sollte Grundlage für die
strafrechtliche Ausformulierung in Deutschland die
umfassende Angriffsdefinition sein, die von der Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen 1974 festge-
legt worden ist. Sie beruht auf einer breiteren demo-
kratischen Legitimationsbasis, und sie ermöglicht eine
kontinuierliche Weiterentwicklung der Definition des
Angriffskriegs – was insbesondere im Zeitalter des
„Kriegs gegen den Terrorismus“ und der „humanitä-
ren bewaffneten Interventionen“ dringend geboten
scheint.
Zweitens. Ist es wichtig, dass die strafrechtliche
Verfolgung nicht auf die oberste Führungsebene be-
schränkt wird, sondern auch die unteren Ebenen zur
Rechenschaft gezogen werden können. Das entspricht
dem Leitbild des mündigen Staatsbürgers in Uniform
und den Vorgaben der §§ 10 und 11 des Soldatengeset-
zes zu Pflicht, Recht und Gehorsam.
Lassen Sie uns in den Ausschüssen gemeinsam und
konstruktiv darüber beraten. Eine positive Einigung
würde dem Bundestag gut anstehen.
Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
In der Nacht zum 12. Juni 2010 haben die damals
111 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts bei einer
Konferenz in Ugandas Hauptstadt Kampala verein-
bart, dass der Internationale Strafgerichtshof, IStGH,
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26437
Volker Beck
(C)
(B)
künftig auch über das Verbrechen des Angriffskrieges
urteilen soll. Zu diesem Zwecke fügten sie einen neuen
Art. 8 bis in das Römische Statut des IStGH ein. Dem-
nach können der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen, die Vertragsstaaten des Römischen Statuts sowie
die Chefanklägerin in Zukunft Ermittlungen wegen
Aggressionsverbrechen einleiten. Nun müssen Präsi-
denten oder Armeeführer damit rechnen, wegen völ-
kerrechtswidriger Invasionen, Bombardements oder
Blockaden anderer Länder persönlich zur Verantwor-
tung gezogen zu werden. Dies ist grade für uns
Deutsche ein wesentlicher Meilenstein in der völker-
rechtlichen Entwicklung. Es geht beim Verbrechen der
Aggression um nicht weniger als um das Erbe der
Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Wir Grüne hat-
ten die deutsche Delegation in Kampala durch einen
Antrag unterstützt, Bundestagsdrucksache 17/1767.
Im Nachhinein ist es umso bedauerlicher und unver-
ständlicher, dass sowohl die schwarz-gelbe Koalition
als auch die SPD diesen Antrag einst abgelehnt haben.
Der in Kampala gefundene Kompromiss ist nicht
perfekt. Darüber, dass wir Grünen und vermutlich
auch die Bundesregierung sich ein noch schöneres Er-
gebnis gewünscht hätten, brauchen wir uns jedoch
nicht lange zu unterhalten. In erster Linie sollten wir
uns über den in Kampala erzielten Durchbruch
freuen – Minimalkonsens hin oder her. Der Sinn der
neuen Einigung besteht vor allem darin, eine gefährli-
che Lücke im Recht der Staatenwelt zu schließen. Zwar
können bislang Verbrechen innerhalb des Kriegs ver-
folgt werden, auch Verbrechen gegen die Menschlich-
keit und Völkermord. Nur beim Angriffskrieg selbst
war das bisher nicht möglich. Dabei gilt er seit den
Nürnberger Prozessen gegen die NS-Führung als „das
schwerste internationale Verbrechen“.
Es war ein gutes Zeichen und der herausragenden
Wichtigkeit des Themas angemessen, dass der Bundes-
tag das Gesetz zur Ratifizierung der in Kampala ge-
troffenen Beschlüsse, also zur Umsetzung der Straftat
des Aggressionsverbrechens in deutsches Recht,
einstimmig zugestimmt hat. Die große Aufgabe, die in
naher Zukunft zu bewältigen sein wird, ist die Imple-
mentierung des Tatbestands des Aggressionsverbre-
chens in die deutsche Rechtsordnung. Für die Umset-
zung des Art. 8 bis des Römischen Statuts ins deutsche
Recht gibt es verschiedene denkbare Varianten. Auf ei-
nem Symposium im Bundesministerium für Justiz im
Frühjahr dieses Jahres wurden diese Möglichkeiten
von den eingeladenen Sachverständigen aus der
Wissenschaft und der Praxis diskutiert. Gerade die
Vielzahl der Möglichkeiten eröffnen ein spannendes,
wenngleich auch schwieriges Betätigungsfeld bei der
Ausgestaltung des Aggressionsverbrechens im deut-
schen Recht.
Die vermeintlich einfachste, zugleich aber auch
unambitionierteste Möglichkeit ist wohl, keine Ände-
rungen im deutschen Recht vorzunehmen und mit dem
bestehenden § 80 StGB weiter zu operieren. Die Mate-
rialien zu Art. 8 bis des Römischen Statuts könnten
dann als reine Auslegungshilfe herangezogen werden.
Dafür spricht, dass es keine völkerrechtliche Pflicht
gibt, das Verbrechen der Aggression ins deutsche
Recht zu implementieren. Gegen diese Variante ist je-
doch einzuwenden, dass die Bundesrepublik ihrer
Vorreiterrolle im Völkerstrafrecht, die sie in Kampala
erneut unter Beweis gestellt hat, und auch ihrer histo-
rischen Verpflichtung nur unzureichend Rechnung tra-
gen würde. Die zweite genau gegensätzliche Lösung
wäre wohl, Art. 8 bis des Römischen Statuts vollum-
fänglich in einer ins Deutsche übersetzten Form im
deutschen Recht abzubilden. Hier stellt sich jedoch die
Frage des Bestimmtheitsgrundsatzes im deutschen
Recht, im Strafrecht zumal. Dem wird Art. 8 bis nicht
gerecht. Insbesondere die soeben dargestellte Entste-
hungsgeschichte des Kompromisses zum Tatbestand
des Agressionsverbrechens hatte es erforderlich ge-
macht, auf Formulierungen zurückzugreifen, die wohl
erst im Zuge der Rechtsauslegung und -anwendung
näher definiert werden, ein Umstand zwar, der in
vielen nationalen Gesetzgebungsverfahren ebenfalls
vorkommt. Dort aber wird im Regelfall mit bereits
bekannten Rechtsbegriffen jongliert, die die Verfas-
sungsmäßigkeit zumindest in der Regel nicht überstra-
pazieren. So bleibt als dritte Möglichkeit wohl nur ein
Mittelweg. Aufbauend auf § 80 StGB müsste Art. 8 bis
des Römischen Statuts in modifizierter Form ins deut-
sche Recht übernommen werden, wenn auch nicht un-
bedingt im StGB. § 80 StGB ist anerkannt verfassungs-
gemäß und hinreichend bestimmt, auch im Hinblick
auf die Definition des Tatbestandsmerkmals des
Angriffskrieges. Natürlich müsste die Norm jedoch
verändert werden. Zum einen im Hinblick auf den
Täterkreis; denn klar ist, dass das Aggressionsverbre-
chen im Römischen Statut ein Führungsdelikt, nach
deutscher Wertung also ein absolutes Sonderdelikt
darstellt. Insbesondere aber ist die Klärung der Frage
notwendig, ob der Bezug zu Deutschland in der Norm
erhalten bleiben solle.
Ob der Bezug zu Deutschland, wie ihn derzeit § 80
StGB vorsieht, aufrechterhalten bleiben oder zuguns-
ten eines echten Weltrechtsprinzips aufgehoben wer-
den soll, ist eine der beiden schwierigsten Fragen bei
der Implementierung des Verbrechens der Aggression
in die deutsche Rechtsordnung. Der Ständige Interna-
tionale Gerichtshof hatte im Jahr 1927 im Lotus-Fall
geurteilt, dass die Ausdehnung nationaler Strafge-
richtsbarkeit nur dann unzulässig sei, wenn ein aus-
drückliches völkerrechtliches Verbot nachweisbar
wäre. Dieses wegweisende Urteil hat das Welt-
rechtsprinzip begründet und gilt bis heute. Diese
Lotus-Entscheidung konsequent umzusetzen, hieße,
den Deutschland-Bezug aus dem neu zu schaffenden
Tatbestand zu streichen. Damit infolgedessen jedoch
nicht wegen jeder weltweiten Aggression vor deut-
schen Gerichten verhandelt werden müsste, wäre
jedoch eine strafprozessuale Einschränkung über
§ 153 f. StPO zwingend erforderlich. Wir müssen uns
daher fragen, ob wir so eine weite Regelung im mate-
riellen Strafrecht tatsächlich haben möchten, ob es
Zu Protokoll gegebene Reden
26438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Volker Beck
(C)
(B)
wirklich sinnvoll wäre, den Anschein eines weltweit für
alle Aggressionsverbrechen zuständigen materiellen
Strafrechts zu erwecken, wenn doch klar ist, dass die
Ermittlungsbehörden und auch die Gerichte in der
Vielzahl dieser Fälle an ihre Grenzen stoßen würden.
Die große Mehrzahl der Strafanzeigen nach einem
neuen, auf dem Weltrechtsprinzip basierenden Tat-
bestand des Aggressionsverbrechens würde aufgrund
berechtigter strafprozessualer Erwägungen einge-
stellt. Dies würde in erster Linie Enttäuschung hervor-
rufen und das Bestreben um eine Stärkung des Völker-
strafrechts vermutlich eher behindern als fördern. Es
ist daher notwendig, den neuen Tatbestand realistisch
und auch pragmatisch zu fassen. Der Bezug zur Bun-
desrepublik Deutschland – ähnlich wie er derzeit in
§ 80 StGB steht – sollte daher nicht pauschal aufgege-
ben werden. Denn neben dem Argument, dass die mög-
liche Überfrachtung der Gerichte und Ermittlungsbe-
hörden Enttäuschung produzieren würde, stellt sich
zusätzlich die Frage, ob ein Weltrechtsprinzip im Falle
der Aggression völkerrechtlich überhaupt möglich
wäre. Im Gegensatz zu anderen Völkerrechtsverbre-
chen gibt es im Hinblick auf die Aggression keine dies-
bezügliche Staatenpraxis. Mit diesem Argument das
Weltrechtsprinzip beim Aggressionsverbrechen aber
nun abzulehnen, wäre zu vorschnell. Jede Form des
Völkergewohnheitsrechts nimmt aus irgendeinem An-
lass und durch irgendeine Norm ihren Anfang. Das
Völkerstrafrecht weiter voranbringen zu wollen, hieße
also bei der Umsetzung des Aggressionsverbrechens
ins deutsche Recht, nicht gänzlich auf einen weltrecht-
lichen Anspruch zu verzichten. Zumal andernfalls eine
nicht zu erklärende Ungleichbehandlung zwischen den
einzelnen Völkerrechtsverbrechen die Folge wäre.
Eine vermittelnde Lösung wäre also auch hier ange-
bracht. Nicht alle Aggressionsverbrechen sind per se
vom Weltrechtsprinzip erfasst. Nichtstaatliche Akteure
schließt beispielsweise auch Art. 8 bis des Römischen
Statuts aus. Zwar muss bei der Fassung des Tatbestan-
des der Gefahr entgegengewirkt werden, dass An-
griffskriege in zwei Kategorien unterteilt würden; in
solche, die von deutschen Behörden verfolgt oder nicht
verfolgt werden. Doch dies kann durch eine
geschickte, sich am Sinn und Zweck der Norm orientie-
rende Formulierung des Tatbestandes und der
Tathandlung vermieden werden.
Dies leitet zu der zweiten aus meiner Sicht wesentli-
chen Frage bei der Implementierung des Verbrechens
der Aggression in die deutsche Rechtsordnung über;
der Frage nach der Definition des Angriffskrieges. Es
erscheint charmant, die Definition aus Art. 8 bis Abs. 2
des Römischen Statuts zu übernehmen. Dies hieße je-
doch zum einen, sich erneut an bislang im deutschen
Recht undefinierte Rechtsbegriffe heranwagen zu müs-
sen – mit allen Schwierigkeiten im Hinblick auf das
Bestimmtheitsgebot und die Verfassungsmäßigkeit –
und zum anderen, den in Art. 8 bis enthaltenen Verweis
auf die Resolution 3314 der Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen zu übernehmen. Zu Recht
wird der in Kampala gefundene Kompromiss für den
Tatbestand des Aggressionsverbrechens für diesen
Verweis kritisiert. Denn die Bezugnahme auf die Reso-
lution 3314 kontaminiert den Aggressionsbe-
griff mit politischen Erwägungen der Sicherheitsrats-
mitglieder. Im deutschen Strafrecht wäre es ein
einmaliger Fremdkörper, würde die Einschätzung des
UN-Sicherheitsrates zur Tatbestandsvoraussetzung ei-
ner strafbaren Handlung. Zur Lösung dieses Problems
böte es sich an, die Angriffshandlung im deutschen
Recht gesondert und ohne eine Bezugnahme auf die
Resolution zu definieren. Art. 3 der Resolution könnte
hierfür aus seinem Kontext herausgehoben und ver-
wendet werden. Er ist progressiv und wird internatio-
nal besonders von den kleineren Staaten begrüßt. Auch
angesichts anderer Probleme bietet es sich aus meiner
Sicht nicht an, die Definition aus Art. 8 bis Abs. 2 des
Römischen Statuts einfach zu übernehmen. Etwa die
aus unserer Sicht unscharf formulierte Tathandlung
der „Anwendung von Waffengewalt“. Oder den Buch-
staben f, der Handlungen unter Strafe stellt, durch die
ein Staat erlaubt, dass sein Hoheitsgebiet mit Erlaub-
nis von einem anderen Staat dazu genutzt wird, eine
Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu bege-
hen. Die Flugbasen der USA in der Bundesrepublik
sind hierfür ein klassisches Beispiel. Wann immer ein
von den USA geführter Krieg, bei dem in Deutschland
stationierte amerikanische Soldaten eingreifen, mit
dem Vorwurf der Aggression belegt wird, würden ver-
mutlich sogleich zahlreiche Strafanzeigen gegen deut-
sche Verantwortliche eingehen, die die Stationierung
US-amerikanischer Truppen gestatten, und zwar unab-
hängig von der Frage, ob der Bezug zu Deutschland
im Aggressionsverbrechen aufrechterhalten bleibt
oder nicht. Angesichts dieser und vermutlich noch
vieler weiterer Fallstricke sollte sich der Gesetzgeber
daher die Mühe machen, den Angriffskrieg selber zu
definieren. Unbenommen davon bleibt ja die Möglich-
keit, in der Begründung des Gesetzentwurfes darauf zu
verweisen, dass Art. 8 bis des Römischen Statuts zur
weiteren Auslegung des Begriffs herangezogen werden
soll.
Der Antrag der Linken hat eine zu verengte Sicht-
weise auf die möglichen Lösungsansätze. Er be-
schränkt sich darauf, § 80 StGB verändern zu wollen.
Angesichts der bereits angesprochenen Vorreiterrolle,
die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten
Jahrzehnten im Völkerstrafrecht eingenommen hat und
auch weiterhin einnehmen sollte, bin ich der Meinung,
dass eine Platzierung des neuen Tatbestandes des
Aggressionsverbrechens im StGB unzureichend wäre.
Anstatt § 80 StGB neu zu fassen, sollte eine neue Norm
im Völkerstrafgesetzbuch geschaffen werden. Nur so
könnte Deutschland eine international mustergültige
Regelung schaffen. Die Bundesrepublik würde hier-
durch ihren Willen sichtbar bekräftigen, das Aggres-
sionsverbrechen zu ächten. Denn bei aller notwendi-
gen Begrenzung des Weltrechtsprinzips und bei allem
verständlichen Wunsch, die deutschen Gerichte nicht
zu überfrachten, müssen wir doch auch zugleich die
Stärkung des IStGH als Institution im Blick behalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26439
Volker Beck
(C)
(B)
Es hilft dem Gerichtshof nicht, wenn wir verhältnismä-
ßig unambitionierte nationale Normen kreieren, die
die wesentlichen Problemfälle dann auf den IStGH
verlagern. Der IStGH ist ein Gericht nur für jenen Not-
fall, in dem die nationalen Gerichte und Rechtsord-
nungen versagen. Daher plädiere ich für eine mutige
Lösung und die Schaffung eines neuen Tatbestandes im
VStGB. Ein Beharren auf § 80 StGB in einer modifi-
zierten Form, wie es die Linke in ihrem Antrag vor-
schlägt, wäre der Größe des Projektes nicht angemes-
sen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11698 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Tagesordnungspunkt 40:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das System der Verwertungsgesellschaften
grundlegend modernisieren
– Drucksache 17/11043 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute
beraten, ist mit der Überschrift „Das System der Ver-
wertungsgesellschaften grundlegend modernisieren“
überschrieben. Das klingt geradezu charmant und er-
weckt den Eindruck, die Fraktion Die Linke wolle der
kollektiven Rechtewahrnehmung in Deutschland nur
Gutes. Angesichts ihrer Geschichte möchte man der
Fraktion Die Linke auch geradezu zugutehalten, dass
sie es mit Kollektiven besonders gut meint. Das ist
aber mitnichten so. Wer sich mit dem Inhalt des An-
trags näher befasst, der kommt eindeutig zu der Auf-
fassung, dass die Überschrift besser gelautet hätte:
Das System der Verwertungsgesellschaften grundle-
gend auf den Prüfstand stellen. Offensichtlich hat es
sich die Fraktion Die Linke zum Ziel gesetzt, das Prin-
zip der kollektiven Rechtewahrnehmung Schritt für
Schritt auszuhöhlen und preiszugeben.
Aus Sicht unserer Fraktion wäre dies aber ein lang-
fristig verhängnisvoller Weg – für Urheber ebenso wie
für Verbraucher, um einmal einen etwas anderen Be-
griff als „Nutzer“ zu wählen. Denn auch darum geht
es bei der kollektiven Rechtewahrnehmung: um den
Verbraucherschutz.
Aber natürlich war es zu erwarten, dass die Frak-
tion Die Linke dem durch die Diskussion um die ak-
tuelle GEMA-Tarifreform ausgelösten populistischen
Drang nicht würde widerstehen können. Also musste
ein Antrag her, der möglichst undifferenziert zusam-
menträgt, was man so gegen Verwertungsgesellschaf-
ten vorbringen könnte. Voilà, ein solcher liegt vor. Um
sich die Mühen der Ebene zu sparen, wird auch nicht
ein konkreter Regelungsvorschlag eingebracht – damit
würde vermutlich offensichtlich, dass es im Detail al-
les etwas komplizierter ist, als uns die Fraktion Die
Linke suggerieren möchte –, sondern nur in möglichst
unkonkreten Forderungen wolkig das eine oder andere
von der Bundesregierung gefordert. Seriöse Politik
sieht anders aus. Wir werden den Antrag der Fraktion
Die Linke daher auch ablehnen.
Zunächst einmal steht für die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion fest, dass sich das System der kollektiven
Rechtewahrnehmung in Deutschland bewährt hat und
wir daran auf jeden Fall festhalten sollten. Verwer-
tungsgesellschaften sind ein unverzichtbarer und inte-
graler Bestandteil eines modernen funktionierenden
Urheberrechtssystems, in dem geistiges Eigentum ge-
schützt wird und zum Schutz des Urhebers und des
Nutzers rechtmäßig geordnet verwertet werden kann
und darf. Ohne Verwertungsgesellschaften wäre es ei-
nerseits den Urhebern nicht möglich, ihre urheber-
rechtlichen Ansprüche gegenüber jedem Nutzer auf-
grund ihrer großen Zahl durchsetzen zu können.
Andererseits wäre es Werknutzern praktisch nicht
möglich, alle betroffenen Urheber bei einer Nutzung
zu vergüten, sodass ständig das Risiko einer Inan-
spruchnahme im Einzelnen bestünde. Die kollektive
Rechtewahrnehmung dient damit also nicht nur den
berechtigten Interessen der Urheber; sie ist im Kern
auch praktizierter Verbraucherschutz: Mit einer Lizen-
zierung durch die jeweilige Verwertungsgesellschaft
werden die entsprechenden Rechte samt und sonders
eingeräumt.
Durch die Digitalisierung ist die Urheberrechtswelt
ohne Zweifel ohnehin schon komplizierter geworden.
Heute haben viel mehr Menschen unmittelbar Berüh-
rung mit urheberrechtlich relevanten Sachverhalten.
Das empfinden wir bereits jetzt als unübersichtlich.
Wie unübersichtlich mag es erst dann sein, wenn wir
das System der kollektiven Rechtewahrnehmung
schleifen würden? Das jedenfalls ist nicht das Ziel der
Politik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Das bedeutet nicht, dass es im System der Verwer-
tungsgesellschaften Optimierungs- und Veränderungs-
potenzial gibt. Die unterschiedlichen Verwertungsge-
sellschaften haben eine unterschiedliche historische
Genese und haben sich in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten unterschiedlich entwickelt. Teilweise
stammen sie aus Zeiten weit vor Einführung des Urhe-
berrechtswahrnehmungsgesetzes. Das muss man
einerseits respektieren. Andererseits sind aufgrund der
faktischen Monopolstellung der Verwertungsgesell-
schaften besondere Anforderungen an Transparenz
und Binnenstruktur zu stellen. Aber hierzu ist auch
festzuhalten, dass sich in diesen Bereichen – nicht zu-
26440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Ansgar Heveling
(C)
(B)
letzt durch die Feststellungen der Enquete-Kommis-
sion „Kultur in Deutschland“ – eine Menge getan hat
und Veränderungs- und Weiterentwicklungsprozesse in
Gang gesetzt sind. Wir sollten uns aber davor hüten,
die aktuelle Diskussion um einen Gesamtvertrag einer
Verwertungsgesellschaft zum Anlass zu nehmen, das
gesamte System und viele Verwertungsgesellschaften
infrage zu stellen.
Wir sollten insbesondere nicht außer Acht lassen,
dass die Verwertungsgesellschaften zumeist als Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung oder Vereine bür-
gerlichen Rechts organisiert sind. Dementsprechend
muss es ihnen auch grundsätzlich gestattet sein, die
durch das Zivilrecht eingeräumte Organisationsfrei-
heit in ihrem Sinne zu nutzen. Verwertungsgesellschaf-
ten sind keine staatlichen Zwangseinrichtungen. Auch
das ist für uns als CDU/CSU-Fraktion von grundle-
gender Bedeutung.
Dementsprechend brauchen wir einerseits eine
starke Aufsicht durch das Deutsche Patent- und
Markenamt. Das ist eine Forderung, die auch wir ver-
treten. Aber andererseits kann es nicht sein, dass wir
eine Aufsicht mit praktisch unbegrenzten staatlichen
Eingriffsbefugnissen etablieren. Kern des Systems der
kollektiven Rechtewahrnehmung ist und bleibt der
Abschluss von Verträgen, so wie es in unserer Markt-
wirtschaft üblich ist. Das muss das Ziel bei jeglichen
Reformansätzen sein: dafür zu sorgen, dass die Verein-
barung von Gesamtverträgen gestärkt wird.
Schließlich: Auf der Ebene der Europäischen Union
beginnt derzeit die Diskussion um eine Richtlinie zur
kollektiven Rechtewahrnehmung. Die EU will das
Recht der Verwertungsgesellschaft europäisch harmo-
nisieren. Das wird zwangsläufig Auswirkungen auf das
deutsche System der Verwertungsgesellschaften ha-
ben. Noch ist nicht absehbar, wohin genau dabei die
Reise geht. Interessanterweise zeigt sich, dass etwa im
Bereich der Aufsicht Deutschland im europäischen
Vergleich vergleichsweise stark ist. Sofern wir auf-
grund der europäischen Entwicklung also hinter unse-
ren deutschen Standards zurückbleiben sollten, wäre
das – wieder sowohl aus Urheber- als auch aus Werk-
nutzersicht – ein kritischer Weg.
Wir sollten uns also daher vorrangig darauf
konzentrieren, die europäische Entwicklung genau zu
beobachten, und den Versuch unternehmen, dort
möglichst viel Einfluss zu nehmen. Populistische
Schauanträge wie der von der Fraktion Die Linke
helfen da nicht weiter. Wir werden den Antrag der
Fraktion Die Linke daher ablehnen.
Die öffentliche Diskussion um die Rolle der Verwer-
tungsgesellschaften in Deutschland kommt nicht zur
Ruhe. Beispielhaft für den auch im vorliegenden
Antrag reklamierten Reformbedarf stehen die Aus-
einandersetzungen um die Tariferhöhungen der GEMA
für Musikveranstaltungen und der VG Wort für die so-
genannte Betreiberabgabe. Die Debatte wird heftig
und emotional geführt; dem Bundestag liegt eine Viel-
zahl von Petitionen zum Thema Verwertungsgesell-
schaft vor. Auch die Existenzberechtigung von Verwer-
tungsgesellschaften bisheriger Prägung wird infrage
gestellt. Diese Kritik zeigt, dass es richtig ist, die
Debatte jetzt auch im Parlament zu führen. Die SPD
begrüßt das ausdrücklich.
Gefordert werden eine umfassende Reform der Ver-
wertungsgesellschaften und mehr staatliche Regulie-
rung. Einige der in diesem Zusammenhang erhobenen
Forderungen hat die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ schon 2007 als Handlungsempfehlun-
gen an den Gesetzgeber formuliert. Ich will drei
Punkte herausgreifen.
Ein zentraler Kritikpunkt ist die undemokratische
Organisation vieler Verwertungsgesellschaften, die, so
die Kritiker, mit Intransparenz und mangelnder Vertei-
lungsgerechtigkeit einhergehe. Hier lässt sich in der
Tat manches verbessern, zum Beispiel die Repräsen-
tanz der außerordentlichen und angeschlossenen
Mitglieder der GEMA und deren Einfluss auf die Ent-
scheidungsprozesse der Mitgliederversammlung über
die Aufstellung von Verteilungsplänen etc.
Ein zweiter Aspekt betrifft die durch den Bundes-
gerichtshof entwickelte GEMA-Vermutung und die
Frage, ob wir diese heute noch benötigen. Es gibt zu-
nehmend Genres, in denen die Rechte nicht mehr
durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht
werden. Stattdessen werden die Werke unter freien
Lizenzen aufgeführt. In diesen Fällen zwingt die
GEMA-Vermutung dazu, in jedem Einzelfall nachzu-
weisen, dass das Werk nicht zu dem von der GEMA
verwalteten Repertoire gehört. Die Vermutung entfal-
len zu lassen, hieße aber, der GEMA den Nachweis
aufzuerlegen, dass GEMA-pflichtiges Repertoire ge-
spielt worden ist. Der Verwaltungsaufwand würde da-
mit stark steigen und der Gewinn der von der GEMA
vertretenen Künstler sinken. Einer einfachen Abwick-
lung im Sinne der Künstler würde dies zuwiderlaufen.
Und abschließend zu der Frage, ob die Staatsauf-
sicht den an sie gestellten Anforderungen gerecht wird.
Ich meine grundsätzlich: Ja. Gleichwohl sind wir der
Ansicht, dass weitere Möglichkeiten zur Intensivierung
der Aufsicht geprüft werden sollten. Ob die Aufsicht
besser bei einer Regulierungsbehörde des Bundes auf-
gehoben wäre, erscheint allerdings fraglich. Die Auf-
sicht ist beim Deutschen Patent- und Markenamt
grundsätzlich richtig angesiedelt; die Mitarbeiter ver-
fügen über den notwendigen Sachverstand, und den
Beteiligten entstehen durch die Aufsicht des Deutschen
Patent- und Markenamts bislang keine Kosten. Im
Falle der Ansiedlung der Aufsicht bei einer Regulie-
rungsbehörde des Bundes müssten die Beteiligten
Verfahrenskosten tragen, die letztlich aus dem Vergü-
tungsaufkommen zu zahlen wären und das für die Ur-
heber verfügbare Aufkommen reduzierten. Eine Stär-
kung der Aufsicht über die Verwertungsgesellschaften
ist jedoch zu befürworten. Diese könnte durch eine
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26441
Burkhard Lischka
(C)
(B)
Verstärkung des Personalbestands im Deutschen Pa-
tent- und Markenamt erreicht werden.
Das Urheberrecht hat uns in dieser Legislaturpe-
riode schon mehrfach beschäftigt und wird uns auch in
den kommenden Jahren und Legislaturperioden immer
weiter beschäftigen. Dabei handelt es sich um ein
Rechtsgebiet, in dem immer wieder überprüft werden
muss, ob das bestehende Recht dem neuesten Stand der
Technik und den daraus resultierenden Möglichkeiten
für die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke
noch gerecht wird.
Dies gilt auch für den Bereich des Urheberrechts,
mit dem wir uns heute befassen, das Urheberrechts-
wahrnehmungsgesetz. Dieses regelt, nach welchen
Vorschriften Verwertungsgesellschaften die ihnen von
Urhebern übertragenen Rechte verwerten und wahr-
nehmen dürfen. Die Linke vertritt in ihrem Antrag auf
Bundestagsdrucksache 17/11043 die Ansicht, das
System der Verwertungsgesellschaften sei grundlegend
modernisierungsbedürftig. Lassen Sie mich nun erläu-
tern, warum ich diese apodiktische Einschätzung nicht
teile.
Erstens. Die Linke fordert unter anderem, dass
Verwertungsgesellschaften über eine Reform des
Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes grundlegende
demokratische Binnenstrukturen verpflichtend vor-
zuschreiben seien. Sie kritisiert, dass Verwertungsge-
sellschaften zum Teil zwischen ordentlichen, außeror-
dentlichen und angeschlossenen Mitgliedern
differenzieren und diesen unterschiedliche Stimm-
rechte bei internen Abstimmungen einräumen. Eine
solche Vorgehensweise entspräche „in Logik und
Demokratieauslassung den Bedingungen des Drei-
klassenwahlrechts in Preußen“, was überkommen und
undemokratisch sei. Dieser Vergleich hinkt allerdings
erheblich. Beim Wahlrecht geht es um Rechte, die dem
Einzelnen durch das Grundgesetz vom Staat zugespro-
chen werden. Hier darf es keine Differenzierung bei
der Wertigkeit von Stimmen geben. Eine Verwertungs-
gesellschaft ist aber keine staatliche Institution. Kein
Urheber wird verpflichtet, sich einer Verwertungsge-
sellschaft anzuschließen. Diese sind nach § 6 Abs. 1
UrhWahrnG verpflichtet, Rechte und Ansprüche der
Berechtigten auf deren Verlangen zu angemessenen
Bedingungen wahrzunehmen. Hält der einzelne Urhe-
ber die Bedingungen, die ihm von einer Verwertungs-
gesellschaft angeboten werden, für nicht angemessen,
steht es ihm frei, kein Mitglied der Verwertungsgesell-
schaft zu werden und seine Rechte selber zu verwerten.
Diese Möglichkeit wird in Zeiten des Internet auch
immer häufiger genutzt.
Zweitens. In diesem Zusammenhang kritisiert die
Linke auch pauschal, dass 3 414 ordentliche Mitglie-
der der GEMA zwei Drittel der Ausschüttungen erhiel-
ten, während bei den 61 364 außerordentlichen und
angeschlossenen Mitgliedern der GEMA lediglich ein
Drittel der Ausschüttungen ankäme. Dies sei durch
den fehlenden Einfluss der außerordentlichen und an-
geschlossenen Mitglieder auf Fragen über Tarife und
Verteilung zu erklären. Allerdings verschweigt die
Linke, dass die von ihr beschriebenen Unterschiede
bei der Ausschüttung von Einnahmen nur dann proble-
matisch wären, wenn ihnen nicht entsprechende Ver-
hältnisse bei den Einnahmen gegenüberständen. Die
Praxis der GEMA wäre nur dann zu kritisieren, wenn
den ordentlichen Mitgliedern Einnahmen zuflössen,
die sie gar nicht generiert haben. Entsprechende Be-
lege liefert die Linke aber nicht. Wenn aber eine kleine
Gruppe von Mitgliedern für zwei Drittel der Einnah-
men einer Verwertungsgesellschaft verantwortlich ist,
so ist es aus liberaler Sicht nicht zu beanstanden, wenn
diese kleine Gruppe auch entsprechend an der
Ausschüttung der Einnahmen beteiligt wird. Darüber
hinaus ist es den Verwertungsgesellschaften bereits
jetzt durch § 7 Satz 1 UrhWahrnG untersagt, bei der
Verteilung der Einnahmen willkürlich vorzugehen.
Drittens. Die Linke fordert weiter, der staatlichen
Aufsicht über Verwertungsgesellschaften sei verbind-
lich vorzuschreiben, sich nicht auf Evidenzkontrollen
zu beschränken, sondern auch im Einzelfall zu kontrol-
lieren, dass die Verwertungsgesellschaften ihren
gesetzlichen Verpflichtungen ordnungsgemäß nach-
kommen. Die Aufsichtsbehörde soll die Höhe von Ver-
gütungsforderungen noch vor Aufstellung und Veröf-
fentlichung der Tarife im Bundesanzeiger überprüfen
müssen. Genau dies ist aber vom Gesetzgeber nicht
gewollt. Die Tarife sollen zwischen den Verwertungs-
gesellschaften und den Nutzervereinigungen ausge-
handelt werden. Der Staat soll sich in diesen Prozess
grundsätzlich nicht einmischen. Würde die Aufsichts-
behörde die Tarife schon im Vorfeld überprüfen, käme
dies der Situation gleich, dass der Staat die Tarife
vorschreibt. Dies kann aber aus liberaler Sicht nicht
gewollt sein. Vielmehr obliegt es den Marktteilneh-
mern, sich auf angemessene Tarife zu verständigen.
Nur wenn eine Einigung zwischen den Parteien nicht
möglich ist, kann die Schiedsstelle beim Deutschen
Patent- und Markenamt, DPMA, angerufen werden.
Viertens. Die Linke setzt sich dafür ein, dass die
Verwertungsgesellschaften sowie ihre Tochtergesell-
schaften und Zusammenschlüsse dazu verpflichtet
werden sollen, die einzelnen Rechteinhaber mindes-
tens einmal jährlich in elektronischer Form über an sie
entrichtete Beiträge und mögliche Abzüge zu informie-
ren. Hier stellt sich die Frage, ob den Rechteinhabern
mit dieser Forderung im Ergebnis nicht Steine statt
Brot gegeben werden. Denn diese Informationspflicht
wäre zwangsläufig mit Kosten verbunden. Diese
Kosten könnten die Verwertungsgesellschaften aber
nur aus den Einnahmen bestreiten, die sie an die
Rechteinhaber weitergeben wollen. Letztlich würde die
Forderung der Linken also dazu führen, dass die
Rechteinhaber weniger verdienen.
Fünftens. Die Linke will, dass im Urheberrechts-
wahrnehmungsgesetz verbindlich festgeschrieben
wird, dass die Möglichkeit, Rechte für nichtgewerbli-
Zu Protokoll gegebene Reden
26442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Stephan Thomae
(C)
(B)
che Zwecke selbst wahrzunehmen, durch die Verwer-
tungsgesellschaften nicht ausgeschlossen werden darf.
Eine solche Regelung würde einen Eingriff in die Ver-
tragsautonomie darstellen. Der Urheber wird nicht ge-
zwungen, Mitglied einer Verwertungsgesellschaft zu
werden. Wenn er für sich bessere Chancen sieht, indem
er seine Werke selber vermarktet, steht es ihm frei, die-
sen Schritt zu gehen und auf eine Mitgliedschaft in der
Verwertungsgesellschaft zu verzichten. Will er aber die
Dienste einer Verwertungsgesellschaft in Anspruch
nehmen, muss er sich auch mit dieser über die Bedin-
gungen, unter denen die Verwertungsgesellschaft seine
Rechte wahrnehmen soll, in Vertragsverhandlungen
verständigen. Es ist nicht Aufgabe der Politik, in die-
ses Verhältnis grundlos einzugreifen.
Sechstens. Abschließend will die Linke im Urheber-
rechtswahrnehmungsgesetz festschreiben, dass eine
regelmäßige und unabhängige Überprüfung der
wahrgenommenen Repertoires einzelner Verwertungs-
gesellschaften vorgenommen wird. Dadurch soll die
Berechtigung der GEMA-Vermutung überprüft wer-
den. Allerdings ist auch hier ein gesetzgeberisches
Handeln nicht erforderlich. Die GEMA-Vermutung
wurde von der Rechtsprechung entwickelt. Wer als
Musikveranstalter GEMA-freie Musik verwendet, kann
der GEMA anhand von Listen nachweisen, dass er für
seine Veranstaltung keine oder nur begrenzt Abgaben
entrichten muss. Die GEMA-Vermutung erleichtert es
letztlich, den Urhebern die ihnen zustehende angemes-
sene Vergütung zukommen zu lassen. Dies sollte nicht
pauschal zugunsten von Musikveranstaltern, die ja ihr
Geschäft nur mit den Inhalten der Urheber betreiben
können, aufgeweicht werden.
Aus den genannten Gründen wird die FDP-Bundes-
tagsfraktion den Antrag der Linken ablehnen.
Vor genau einer Woche ereilte uns eine gute
Nachricht: Die GEMA verkündete, die geplante Tarif-
erhöhung aufzuschieben. Das zeigt: Die zahlreichen
Proteste haben gewirkt. Nun ist es am Marken- und
Patentamt, eine Lösung zu finden, mit der alle Seiten
zufrieden sind. Ich hoffe, dass dies gelingt. Denn eine
angemessene Vergütung von Urheberinnen und Ur-
hebern ist genauso wichtig wie ein Entlohnungs-
modell, das der realen, nicht einer angenommenen
Nutzung entspricht. Ich wünsche der Schiedsstelle viel
Erfolg bei diesem Vorhaben!
Doch heute soll es nicht nur um die GEMA gehen.
Auch nicht um den Konflikt um die neuen GEMA-
Tarife. Denn dieser ist allenfalls ein Symptom für die
Probleme, an denen die Verwertungsgesellschaften ge-
nerell kranken. Es geht um Mitbestimmung. Es geht um
Transparenz. Es geht um faire Verteilung von Geldern.
All dies ist im bisherigen System der Verwertungs-
gesellschaften nicht ausreichend gewährleistet. Ich
gehe sogar so weit, zu sagen: All dies ist im Rahmen
des bisherigen Systems gar nicht möglich.
Dass in der GEMA nur die finanziell erfolgreichen
Musikproduzentinnen und -produzenten über die
Verteilung der Gelder bestimmen, dürfte sich inzwi-
schen herumgesprochen haben, genauso wie die Tatsa-
che, dass deshalb genau diese Musikproduzentinnen
und -produzenten einen Großteil der verteilten Gelder
erhalten. Weniger bekannt dürfte sein, dass ähnliche
Methoden auch in anderen Verwertungsgesellschaften
gang und gäbe sind, zum Beispiel in der Verwertungs-
gesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten, VFF.
So stellte Professor Dr. Thomas Hoeren in einer Stel-
lungnahme für die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ fest, dass faktisch mehr als 90 Prozent
der Mitglieder der VFF von der Mitwirkung ausge-
schlossen sind. Bestimmen dürfen nur die Fernsehsen-
der und großen Produktionsfirmen. Wie sich das auf
die Erlösverteilung auswirkt, brauche ich Ihnen sicher
nicht zu sagen. Es sind zumindest nicht die kleinen
Produktionsfirmen, die davon profitieren.
Dies zeigt, dass das bisherige System der Verwer-
tungsgesellschaften seine eigentliche Aufgabe nicht
erfüllt. Anstatt die tatsächlichen Urheberinnen und
Urheber angemessen zu entlohnen, sorgt es dafür, dass
diejenigen, die eh schon das große Geld verdienen, nur
noch weiter abkassieren. Urheberinnen und Urheber,
die kaum in der Lage sind, mit ihren eigenen Werken
ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, gehen leer aus.
Damit sich das auch ja nicht ändert, sorgen die meis-
ten Verwertungsgesellschaften dafür, dass nur jene, die
mit ihren Werken viel Geld verdienen, auch darüber
bestimmen dürfen, was mit dem Geld passiert, das die
Verwertungsgesellschaft verteilen soll. Das alles erin-
nert an das Dreiklassenwahlrecht in Preußen. Wer das
Geld hat, darf wählen, wer kein Geld hat, halt nicht.
Ich lehne mich einmal sehr weit aus dem Fenster und
behaupte, dass niemand hier auf die Idee käme, ein
solches Wahlrecht in Deutschland wieder einzuführen.
Und ich frage mich, warum wir so etwas dann bei Ver-
wertungsgesellschaften akzeptieren sollten.
Die Linke akzeptiert das nicht und findet, es ist an
der Zeit, das System der Verwertungsgesellschaften
grundlegend zu reformieren. Wir haben deshalb einen
Antrag eingebracht, der konkrete Vorschläge für eine
solche Reform unterbreitet.
Wir fordern, dass eine Regulierungsbehörde gebil-
det wird, die Tarife vor deren Inkrafttreten überprüft
und billigt und darüber hinaus kontrolliert, dass Aus-
schüttungen den tatsächlichen Rechteinhaberinnen
und Rechteinhabern zugewiesen werden. Damit würde
die Monopolstellung des Systems Verwertungsgesell-
schaften aufgebrochen, die seltsame Blüten treibt.
Wir fordern, dass Verwertungsgesellschaften erst
dann als solche anerkannt werden, wenn sie demo-
kratische Strukturen vorweisen können und sicherstel-
len, dass alle Mitglieder gleichermaßen mitbestimmen
dürfen. Dass dies funktioniert und nicht, wie gerne
behauptet, bei großen Verwertungsgesellschaften zu
Handlungsunfähigkeit führt, zeigt die VG Bild-Kunst,
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012 26443
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
die jedem ihrer knapp 51 000 Mitglieder gleiches
Stimmrecht einräumt.
Wir fordern, dass Minderheitenrechte gewahrt wer-
den. Sobald mindestens 10 Prozent der Mitglieder dies
fordern, soll die Regulierungsbehörde kontrollieren,
ob die Verwertungsgesellschaft ihrem gesetzlichen
Auftrag angemessen nachkommt, sprich: die Gelder
fair verteilt.
Wir fordern, dass die GEMA-Vermutung, wonach
Veranstalter nachweisen müssen, dass die gespielte
Musik nicht GEMA-pflichtig ist, dann nicht gilt, wenn
statistisch gesehen mehr als 5 Prozent der gespielten
Werke nicht GEMA-pflichtig sind. Das ist besonders in
Bereichen der elektronischen Musik und des improvi-
sierten Jazz der Fall. Eine generelle Aufhebung der
GEMA-Vermutung halten wir für wenig praktikabel. In
sehr vielen Fällen erleichtert diese nämlich die Ab-
rechnung von Veranstaltungen.
Die Linke hat einen Vorschlag für transparente und
faire Verwertungsgesellschaften vorgelegt. Sie müssen
nur zustimmen.
Wir sind uns alle einig, dass es Probleme gibt bei
den Verwertungsgesellschaften. Die Ursachen sind
komplex und liegen auch in teilweise verkrusteten
Strukturen, einem durch das Internet vergrößerten Ver-
breitungsradius und einem sensiblen Geflecht diffiziler
Einzelinteressen begründet.
Seit Monaten steht die GEMA im Kreuzfeuer der
Kritik: Auslöser war der von vielen Clubs und Disko-
theken als ruinös beurteilte Tarifvorschlag zur Neu-
ordnung der Bezahlung von öffentlichen Musikvorfüh-
rungen. Vergeblich haben wir in den letzten Monaten
darauf gewartet, dass die Bundesregierung im Tarif-
streit vermittelnd tätig wird. Schon viel früher hätte
das dem BMJ unterstehende Deutsche Patent- und
Markenamt seine Aufsichtspflicht wahrnehmen müs-
sen. Stattdessen hat die Bundesregierung tatenlos zu-
gesehen, wie der Konflikt zwischen der GEMA, den
Diskotheken und Clubbesitzern immer weiter eska-
lierte, die Gräben zwischen „Musiknutzern“ und Ur-
heberinnen und Urhebern immer tiefer wurden und die
Verbalaggressionen gegenüber der GEMA auf allen
Kommunikationskanälen Dimensionen erreichten, für
die die Bezeichnung Shitstorm zu harmlos ist.
Zu Recht fordern die Linken in ihrem Antrag eine
Stärkung der Aufsicht seitens des Bundes. Diese bei ei-
ner Regulierungsbehörde anzusiedelnde Aufsicht
sollte in ihrer Funktion über eine Evidenzkontrolle hi-
nausgehen und mit ausreichend Personal ausgestattet
sein. Eine detaillierte Überprüfung von Tarifverände-
rungen beispielsweise – und zwar bevor diese im
Bundesanzeiger veröffentlicht werden – wäre ein
geeigneter Weg, um verfrühte Verunsicherung bei Ver-
anstaltern zukünftig zu vermeiden. Eine solch unab-
hängige Vorabprüfung würde sicherlich auch die Ak-
zeptanz von Tarifen erhöhen.
Nicht nur die Betroffenen der Tarifstreitigkeiten der
GEMA, auch Leistungsberechtigte der Gesellschaft
zur Verwertung von Leistungsschutzrechten benötigen
Unterstützung durch die Politik: Vor einem Jahr wurde
das System der GVL vollständig umgebaut. GVL-Mit-
glieder aus den Bereichen Schauspiel und Synchron-
schauspiel bekamen kaum noch Ausschüttungen, teil-
weise nur ein Hundertstel des Vorjahres oder weniger.
Hauptgrund dafür waren massive Einnahmeverluste
für die GVL, weil einige Gerätehersteller seit länge-
rem keine Zahlungen leisten. Das DPMA als zustän-
dige Aufsichtsbehörde offenbarte einmal mehr Hand-
lungsunfähigkeit und ließ Hunderte Künstlerinnen und
Künstler mangels Übergangsregelung im Regen
stehen. Diese Pleite hätte man vonseiten des BMJ ver-
hindern müssen. Im Antrag der Linken kommt das Pro-
blem schleppender Einzahlungen seitens der Geräte-
hersteller zu kurz. Es wird zwar konstatiert, dass die
Ermangelung einer Hinterlegungspflicht bei einer
Insolvenz Zahlungsausfälle zur Folge hat. Entspre-
chende Forderungen nach Konsequenzen – beispiels-
weise nach einer gesetzlichen Regelung für die
Geräte- und Leermedienabgabe sowie nach einer Hin-
terlegungspflicht für Gerätehersteller– fehlen jedoch
im Antrag der Linken.
Die Forderung der Linken nach mehr Demokratie
in den Binnenstrukturen der Verwertungsgesellschaf-
ten begrüßen wir grundsätzlich. Aus mangelnden Mit-
bestimmungsrechten für angeschlossene GEMA-Mit-
glieder jedoch automatisch eine ungerechte Verteilung
zu begründen, greift zu kurz. Die GEMA hätte schon
massenhaft Klagen vor Gericht verloren, würde sie tat-
sächlich jenen, die ohnehin mehr Geld mit ihrer Musik
verdienen, durch Begünstigungen im Verteilungssys-
tem zu höheren Ausschüttungen verhelfen.
Der Verteilungsplan der GEMA ist so kompliziert
wie die Musikwelt selbst. Werke unterschiedlicher
Musiksparten, Dauer und musikalischer Komplexität
lassen sich nicht ohne Weiteres über einen Verteilungs-
kamm scheren. Oder sollte beispielsweise der Kompo-
nist einer mehrstündigen Oper für die Aufführung sei-
nes Werkes etwa dasselbe bekommen wie der Urheber
eines fünfminütigen Songs? Nicht mit kleinteiligen
Korrekturen an bestimmten Gewichtungen verschiede-
ner Nutzungsarten, Sparten und Spielstätten können
mehr Transparenz und zielgenauere Künstlerförde-
rung erreicht werden.
Dringend notwendig sind vielmehr verlässliche Da-
ten darüber, welche Werke wo, wann und wie oft ge-
nutzt werden. Momentan beruhen Messungen darüber,
wie oft beispielsweise Musikwerke von Tonträgern auf
kleinen Konzerten gespielt werden, in erster Linie auf
Schätzungen und Stichproben – dass dabei Werke noch
unbekannter Musikurheberinnen und -urheber tenden-
ziell benachteiligt sind, leuchtet ein. Ein Schritt in die
richtige Richtung und gleichermaßen im Sinne der
Nutzerinnen und Nutzer wie Rechteinhaberinnen und
Rechteinhaber ist die Forderung im Antrag der Linken
nach verbindlichen Transparenzpflichten. Diese sollen
Zu Protokoll gegebene Reden
26444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2012
Agnes Krumwiede
(C)
(B)
Verwertungsgesellschaften verpflichten, einmal jähr-
lich alle Auskünfte über Werknutzungen und das Zu-
standekommen von Gebühren und Ausschüttungen of-
fenzulegen. Mehr Informationen an Urheberinnen und
Urheber über Erträge und Nutzungen ihrer Werke sind
darüber hinaus wichtige Voraussetzung für mehr Ver-
teilungsgerechtigkeit. Zur systematischen und flächen-
deckenden Erhebung dieser Zuordnungen und Meta-
daten fehlt den Verwertungsgesellschaften das Geld,
und die Bundesregierung sieht für diese Investitionen
scheinbar keine Notwendigkeit.
Für überbewertet – auch im Antrag der Linken –
halten wir den Protest gegen die sogenannte GEMA-
Vermutung. Werden Werke veröffentlicht und verbreitet
– auch unter Pseudonym –, greift die sogenannte
GEMA-Vermutung, die gesetzlich in §13 c UrhWG ge-
regelt ist: Die GEMA muss davon ausgehen, dass der
Urheber Mitglied der GEMA ist, bis anderslautende
Informationen vorliegen. Im Veranstaltungsbereich ist
die GEMA-Vermutung auf Basis empirischer Daten le-
gitimiert worden und hat sich bewährt: Wer Musik ei-
nes Nicht-GEMA-Mitglieds öffentlich einspielt oder
interpretiert, muss die GEMA schriftlich darüber in-
formieren. Zahlungen fallen dann nicht an. Im Bereich
von Rechten an digitalen Veröffentlichungen, die über
kommerzielle Anbieter verkauft werden, ist die GEMA-
Vermutung dagegen tatsächlich überflüssig, denn die
Lizenzpartner sind ja darüber informiert, ob ein Werk
GEMA-pflichtig ist oder nicht. Für den digitalen Be-
reich sollte daher eine Lösung gefunden werden, die
der zunehmenden Zahl der nicht über die GEMA regis-
trierten Urheberinnen und Urheber gerecht wird.
Als positiv bewerten wir die Forderung nach der
Implementierung von freien Lizenzen in die Verwer-
tungsgesellschaften – dies könnte die Selbstbestim-
mung von Urheberinnen und Urhebern über die Ver-
wendung ihre Werke bedeutend verbessern. Und die
transformative Nutzung von Werken durch Kreative
könnte dadurch unbürokratischer erfolgen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11043 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 14. Dezember 2012,
9 Uhr, ein.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonne-
nen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.